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Guſtav Rümelin,

Kanzler der Univerſität Tübingen.

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Tübingen, 1875. Verlag der H. Laupp'ſchen Buchhandlung.

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Vorrede.

An der Univerſität Tübingen beſteht zufolge einer Stiftung des Königs Friedrich die Einrichtung, daß jedes Jahr in allen Fakultäten für wiſſenſchaftliche Arbeiten und Leiſtungen der Studierenden Preiſe ausgeſezt und am sten November als dem Geburtstag des Stifters vertheilt werden. Es gehört zu den Obliegenheiten des Kanzlers, dieſen Act vorzunehmen und durch eine öffentliche Rede über ein frei und ohne Rückſicht auf den Anlaß wählbares Thema ein— zuleiten. Hieraus iſt eine Reihe von Vorträgen entſtanden, welche auch einem größeren Publikum vorzulegen den Ver— faſſer vielſeitig geäußerte Wünſche aufmuntern konnten.

Dieſen Vorträgen iſt eine ſchon in der Staatswiſſen— ſchaftlichen Zeitſchrift abgedruckte akademiſche Antrittsrede vorausgeſchickt und ein correſpondirendes, wenn auch um 25 Jahre auseinanderliegendes, Paar politiſcher Reden aus den am betreffenden Ort näher bezeichneten Gründen ange— fügt worden. l

Es folgen ſodann einige Abhandlungen, theils über die vielerörterte Frage nach dem Begriff der Statiſtik, theils über einige praktiſche Themata aus derſelben, bei welchen

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der Verfaſſer noch unbeachtete Geſichtspunkte geltend machen zu können glaubte. Der erſte dieſer Aufſätze iſt ein ge— kürzter Abdruck einer ebenfalls ſchon in der Staatswiſſen— ſchaftlichen Zeitſchrift erſchienenen Unterſuchung.

Dieſe Theile des Buches mögen ſich ſelbſt rechtfertigen, ſo gut ſie es vermögen. Dagegen ſcheint der lezte Abſchnitt ſchon um der Buntheit ſeines Inhalts willen ein entſchul— digendes Fürwort zu bedürfen. Es iſt eine Auswahl und Ueberarbeitung von kleineren Aufzeichnungen, die im Lauf der Jahre aus Anlaß von Geſprächen, Lectüre oder ſon— ſtigen Studien entſtanden ſind.

Dem Schriftſteller auf dem Gebiet des Wiſſens und Denkens kommt nicht wie dem Dichter der Spruch zu gute: wer Vieles bringt, wird jedem Etwas bringen. Während Dieſem die Mannigfaltigkeit ſeiner Stoffe zur Empfehlung dient, erregt ſie bei Jenem Mißtrauen und den Verdacht des Dilettantenthums. Man verzeiht heutzutag weit lieber große Bücher über kleine Gegenſtände als kurzgefaßte Ur-

theile über große Fragen. Gleichwohl wagt es der Ver—

faſſer die kleine, aber wenigſtens nicht leichtfertige, Waare vom Stapel laufen und ihr Glück verſuchen zu laſſen.

Der Verfaſſer.

Tübingen, 20. Februar 1875.

Inhalts-Verzeichniß.

J. Reden.

Ueber den Begriff eines ſocialen Geſezes. 1867 Ueber Hegel. 1870 ; Ueber das Rechtsgefühl. 1871

2 4. Ueber den Begriff des Volkes. 1872 >

Ueber die Lehre von den Seelenvermögen. 1873 Ueber das Verhältniß der Politik zur Moral. 1874 Ueber die Reichsoberhauptsfrage. Frankfurt 1849.

Rede zur Feier des Geburtstags des deutſchen Kai—

ſers. 1874

II. Aufſätze.

1. Zur Theorie der Statiſtik I. 1863

2. Zur Theorie der Statiſtik II. 1874 u

3. Ueber den Begriff und die Dauer einer Generation

4. Ueber die Malthus'ſchen Lehren

5. Stadt und Land D III. Kleine Betrachtungen und Bekenntniſſe vermiſchten Inhalts.

1. Allerlei. Nro. 1—8 8

2. Wider den neuen Glauben. Nro. 9—13

3. Wider die Formeln des alten Glaubens. Nro. 14—16

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Ueber den Begriff eines ſocialen Geſezes.

Eine akademiſche Antrittsrede. 1867.

Ich glaube dem Wiſſenszweig der Statiſtik, welchem ich an dieſer Hochſchule Freunde zu gewinnen bemüht ſein werde, nichts zu vergeben, wenn ich, abweichend von dem ſonſtigen Brauch, bei ſolchem Anlaſſe den Umfang und die Bedeutung ſeines Faches in ein möglichſt glänzendes Licht zu ſtellen, dießmal lieber von den Grenzen und Schranken ſpreche, welche daſſelbe ungeſtraft nicht überſchreiten darf.

Ich möchte nemlich über den Begriff eines ſocialen Geſezes reden, wobei Sie mir freilich werden geſtatten müſſen, das weitgreifende Thema nur in leichteren Umriſſen zu behandeln.

Die Frage: was iſt ein ſociales Geſez? wäre leichter zu beantworten, wenn für die Vorfrage: was iſt überhaupt ein Geſez? eine anerkannte Löſung feſtſtünde. Dieß iſt aber keineswegs der Fall. Ganz abgeſehen von jenen Geſezen, die nicht ein Sein, ſondern nur ein Sollen ausdrücken, wie die Staats- und Sittengeſeze, wird das Wort nicht nur im populären, ſondern auch im gelehrten Sprachgebrauch in dem allerverſchiedenſten, bald im vagſten, bald im ſtricteſten Sinne

Rümelin, Reden u. Aufſätze. 1

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angewendet. Ich will und kann es nun Niemand verwehren und möchte ſelbſt nicht darauf verzichten, dem Ausdruck, wie es der Zuſammenhang der Rede fordert oder zuläßt, bald eine weitere, bald eine engere Bedeutung zu leihen, aber ich meine, jeder Denker und Forſcher, was auch immer der Gegenſtand ſeiner Unterſuchungen ſein mag, ſollte ſich wenigſtens des ſtrengeren Wortſinns ſtets bewußt bleiben, in welchem die Sprache der wiſſenſchaftlichen Technik von Geſezen allein zu reden geſtattet. Dieſen zunächſt zu er— mitteln erſcheint mir weder überflüſſig noch allzuſchwierig. Es iſt nicht jede allgemeine Wahrheit von ausnahms- loſer Geltung ein Geſetz, alſo z. B. daß Gleiches zu Gleichem addirt gleiche Summen ergiebt, daß die Winkel des Dreiecks zuſammen gleich zwei Rechten ſind. Man liest und hört zwar unzähligemal von den Geſezen der Mathematik; die Mathematiker ſelbſt aber bezeichnen ihre Wahrheiten nur als Sätze, in dem richtigen Gefühl, daß das Wort Geſez nur auf die Ordnungen der realen Welt und nicht auf Theoreme anwendbar ſei, die im Wege der Deduction aus Axiomen und ſelbſtgeſezten Prämiſſen abgeleitet werden. Und doch iſt auch nicht ſchon jede in den Erſcheinungen der Wirklichkeit ausnahmslos wahrgenommene Gleihmäßig- keit als Geſez zu bezeichnen. Denn es iſt kein Geſez, daß das Gold dehnbar und 19 mal ſo ſchwer iſt als das gleiche Volumen Waſſer, daß die Vögel Eier legen, die Fiſche mit Kiemen athmen, die Schafe und Rinder wiederkäuen. Es ſind dieß nur ſtabile Bildungsformen, feſte Typen der ſchaffenden Natur, Eigenſchaften, charakteriſtiſche Merkmale

von Gattungen und Arten. Jene Sätze ſind ſchon logiſch genommen nur analytiſche Urtheile, weil wir im Namen des Subjects die weſentlichen Prädikate ſchon mitdenken. Geſeze beziehen wir aber nicht auf das Seiende, ruhig im Raum neben einander Liegende, ſondern auf Vorgänge in der Zeit, auf ein Geſchehen, eine Veränderung von Zu— ſtänden.

Und doch trifft auch die regelmäßige Succeſſion der gleichen Erſcheinungen noch nicht das Rechte. Denn es iſt kein Geſez, daß Tag und Nacht, Sommer und Winter, Ebbe und Fluth einander alternirend folgen. Es ſind dieß nur thatſächliche Vorgänge, abzuleiten aus anderen, cosmiſchen und telluriſchen Thatſachen und aus eigentlichen Geſezen, für deren Wirkungen ſie nur ein vereinzeltes, beliebiges Beiſpiel bieten. Tag und Nacht, Ebbe und Fluth ſtehen nicht zu einander im Verhältniß von Urſache und Wirkung.

Und nun ſollte man denken: wenn wir ſagen, Geſez ſei der Ausdruck für conſtante Verbindungen von Urſache und Wirkung, ſo ſeien wir damit zu dem Kern der Frage gelangt. Wenigſtens wird das Wort tauſendfältig, alltäg— lich, vielleicht überwiegend in dieſem Sinne gebraucht und mehrere Schriftſteller erklären geradezu conſtante Cauſal— verknüpfungen und Geſeze für ſynonyme Begriffe. Und doch welche Conſequenzen ergeben ſich, wenn man mit dieſer Definition Ernſt zu machen verſucht! Kann man es denn ein Geſez nennen, daß das Waſſer bei einem beſtimmten Punkt der Erkaltung zu Eis erſtarrt, bei einem beſtimmten Grad von Erwärmung ſich zu Dampf verflüchtigt, daß die

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Flamme erliſcht, wenn man jie mit Waſſer übergießt oder den Luftzutritt abſchneidet, daß der Abſud von Zweigen der Indigopflanze einen blauen Farbſtoff giebt, daß der Menſch ſtirbt, wenn man ihm Luft oder Nahrung entzieht, den Kopf abſchneidet oder eine gewiſſe Doſis von Arſenik oder Blau— ſäure in den Magen bringt? Es ſind dieß lauter unzweifel— hafte Fälle einer unausbleiblichen Verknüpfung von Urſache und Wirkung, aber wenn das Geſeze wären, ſo beſäßen wir deren ſchon viele Millionen. Das Conſtante des Cauſal— zuſammenhangs kommt hier offenbar nur von der oben ſchon erwähnten Conſtanz der Eigenſchaften. Weil die Natur in feſten Typen ſchafft und bildet, weil Dinge der gleichen Gattung ſtets von gleicher chemiſcher Zuſammenſetzung und mechaniſcher Struktur ſind, ſo reagiren ſie auf den gleichen äußeren Anſtoß auch ſtets in gleicher Weiſe. Oder mit anderen Worten: es giebt zweierlei Eigenſchaften der Dinge, ſolche, welche ruhig an ihnen zu haften ſcheinen, unſerer ſtändigen Wahrnehmung blos gelegt ſind, und ſolche, welche ſich erſt auf einen beſtimmten Anlaß von außen hin be— merklich machen; die leztern äußern ſich als conſtante Cauſal— zuſammenhänge der ſecundären Art. Alle jene Beiſpiele ſind nur ſo oder ſo combinirte, mehr oder weniger com— plicirte Einzelfälle für die Wirkung einer weit kleineren Zahl allgemeinerer Urſachen.

Eben dieſe allgemeineren primären Urſachen aber ſind es, welche das Geſez ſuchen will. Denn wenn ich nun ſage: die Erwärmung eines Körpers verurſacht eine Ver— mehrung, die Erkaltung eine Verminderung ſeines Volumens,

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jo fühlen wir alsbald, daß wir damit wenigſtens den rich— tigen Boden der Frage betreten haben, und zwar darum, weil jezt nicht mehr von conereten Naturerzeugniſſen, von Waſſer und Feuer, von Steinen, Pflanzen und Thieren die Rede iſt, ſondern von Kräften, dieſem Schlußſtein der ſinnlichen Weltbetrachtung, dem ebenſo räthſelhaften als unentbehrlichen Grenzbegriff von Phyſik und Metaphyſik. Das Object der Geſeze ſind die conſtanten Wirkungen von Kräften. Und doch kann uns eben das gewählte Beiſpiel zeigen, daß auch dieſe Faſſung immer noch nicht beſtimmt genug iſt. Denn der Phyſiker wird uns ſagen, für die Ausdehnung durch Wärme fehle gerade noch das Geſez. Wohl werden alle Körper durch Wärme ausgedehnt, aber es läßt ſich von keiner Art von Körpern zum voraus und ohne beſondere Beobachtung feſtſtellen, wie ein beſtimmter Grad von Erwärmung auf ihr Volumen wirken wird. Erſt wenn wir ſagen könnten: ein beſtimmtes Maß von Stei— gerung der Wärme hat bei einem beſtimmten Grad von Dichtigkeit oder Cohäſion der Theile ꝛc. eine Ausdehnung des Volumens um ſo und fo viel Procent zur Folge, jo beſäßen wir ein Geſez. Das Geſez iſt hienach der Ausdruck für die elementare, conſtante, in allen einzelnen Fällen als Grundform erkennbare Wirkungsweiſe von Kräften. Es iſt nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit üblich geworden, auch da, wo wir nur das Daß, noch nicht das Wie der Wir— kungen von Kräften feſtſtellen können, von Geſezen zu reden, dieſe aber im Unterſchied von den ächten nur empiriſche, d. h. hier unvollkommene, gleichſam proviſoriſche zu nennen.

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Beiſpiele von ächten Geſezen ſind ſomit, daß alle Körper ſich im Verhältniß ihrer Maſſe und im umgekehrten Ver— hältniß der Quadrate ihrer Entfernung anziehen, daß die Elemente ſich nur in beſtimmten Gewichtsmengen, nur in ihren Aequivalenten oder deren Vielfachen mit einander chemiſch verbinden, daß ſich Wärme und Bewegung mit einem ſtets gleichen Aequivalent von Wärme und mechani— ſcher Kraft in einander umſezen. Im Geſez erſcheint die Kraft als eine begrenzte, an eine beſtimmte, conſtante Wir— kungsweiſe gebundene. Das Geſez iſt die Definition von Kräften.

Es fragt ſich nun, ob dieſer zunächſt den Vorgängen der lebloſen Natur entnommene Begriff von Geſezen auch auf die der belebten anwendbar iſt. Von den Wiſſenſchaften, die ſich mit den organiſchen Weſen beſchäftigen, iſt es die Phyſiologie, die nach Geſezen ſucht, von Geſezen redet. Sie ſezt die anatomiſche Seite ihrer Objecte, die typiſchen Gat— tungsformen, den Körper mit ſeinen Theilen als gegeben

voraus wenigſtens ſind die Lehren von der Entſtehung der Typen und Gattungen ſelbſt von noch allzujungem Datum ſie betrachtet die Theile des Körpers in ihrer Eigenſchaft als Organe, in ihrer Thätigkeit, ihren Func— tionen; ſie löst die mannigfaltigen Erſcheinungen, die wir mit dem Geſammtnamen „Leben“ bezeichnen, in einzelne Gruppen näher unter ſich verbundener Vorgänge auf. Sie glaubt ein Geſez gefunden zu haben, wenn ſie mit Aus⸗ ſcheidung des Wandelbaren, Zufälligen, Individuellen die conſtante Grundform für die Folge der Erſcheinungen nach—

weist, wenn es ihr zu zeigen gelungen ift, wie ein unbe— kanntes Agens, das auch die Gegner einer beſonderen Lebenskraft ſtets wieder irgendwie vorausſezen, vermittelſt der in einander greifenden Functionen beſtimmter Organe eine Folge von phyſikaliſch-chemiſchen Vorgängen erzeugt, deren Effekt dem Lebenszweck dieſer beſonderen Gattung ſelbſt zu dienen ſcheint. Die Phyſiologie ſpricht in dieſem Sinne von Geſezen der Ernährung, des Wachsthums, der Fortpflanzung und Zeugung, des Blutumlaufs, des Ath— mungsproceſſes und läßt dabei allerdings noch einen ge— wiſſen Spielraum dafür offen, wie viele und welche ſolcher beſonderer Gruppen von Lebenserſcheinungen man unter— ſcheiden will. Wie abweichend aber auch dieſe Geſeze ſchon nach ihrer Faſſung von den früheren Beiſpielen erſcheinen müſſen, und wie man auch immer den Unterſchied von phyſikaliſchen und organiſchen Kräften beſtimmen mag; das’ phyſiologiſche Geſez iſt dem phyſikaliſchen darin durchaus gleichartig, daß es nicht von coexiſtirenden Erſcheinungen, nicht von Eigenſchaften, nicht von ſecundären Cauſalver— knüpfungen handelt, ſondern uns Kräfte darſtellt in der elementaren Grundform ihrer Wirkungsweiſe, daß es die Urphänomene aufſucht, aus deren Combinationen ſich die Fülle und Mannigfaltigkeit der concreten Wirklichkeit zu— ſammenfügt.

Wenn ich nun aber mit dieſer Forderung an ein Geſez hinübertrete in das Reich der pſychiſchen Erſcheinungen, jo geſchieht es nicht ohne ein bängliches Gefühl des Zweifels, ob auch dieß ſchwankende und ungreifbare Element ein ſo

feſtes Anfaſſen geſtatten wird. Ein pſychiſches Geſez müßte uns hiernach pſychiſche Kräfte darſtellen in der einfachen, ſtets gleichen Grundform ihrer Wirkungsweiſe. Giebt es nun ſolche Geſeze? Die Pſpychologie ſcheint erſt noch mit den Vorfragen ſolcher Unterſuchungen beſchäftigt. Sie hat die alte Lehre von den Seelenvermögen umgeſtoßen, ohne dem unabweisbaren Bedürfniß der Wiſſenſchaft nach Unter— ſcheidung, nach Auflöſung verwickelter Vorgänge in ein— fachere auf anderem Wege Erſaz zu leiſten. Man iſt noch im Zweifel darüber, ob es geſonderte pſychiſche Kräfte giebt, die unter ſich nur dadurch zuſammenhängen, daß ſich ihre Wirkungen in demſelben Brennpunkt des Selbſtbewußtſeins ſammeln, oder ob ein lebendiges Etwas anzunehmen iſt, mit verſchiedenen Functionen, Attributen, Eigenſchaften. Und doch hat ſchon vor 2000 Jahren ein großer Denker des Alterthums den rechten Weg gefunden, indem er eine einzelne Klaſſe unter ſich näher verbundener pſychiſcher Er— ſcheinungen, die Denkthätigkeit, herausgriff, allen Inhalt dabei, alles Veränderliche und Zufällige ausſchied und nur auf die ſtabile Grundform der Thätigkeit ſelbſt achtete. Er gelangte ſo zu jenen ſogenannten logiſchen Grundgeſezen der Identität und des Widerſpruchs, des ausgeſchloſſenen Dritten, der Cauſalität, Sätzen, von welchen man zwar zweifeln kann, ob ſie das Weſen des Denkens erſchöpfend beſtimmen, die aber offenbar unſerem Begriff von Geſez vollkommen entſprechen, indem ſie eine pſychiſche Kraft in den conſtanten Grundformen ihrer Wirkungsweiſe erkennen laſſen. Das Gleiche würde von den Geſezen der Ideenaſſociation gelten,

wenn ihre Faſſung ebenſo feſtſtünde, und wenn es der Philoſophie gelingen würde, eine Kategorientafel aufzuſtellen, alſo z. B. zu beweiſen, daß unſer Denken vermöge der Urfunctionen ſeiner Organe jede neue Vorſtellung unter den Geſichtspunkten der Qualität und Quantität, der Relation und Modalität in unſer Bewußtſein einzureihen gebunden ſei, ſo ergäbe dieß pſychiſche Geſeze im ſtricteſten Sinne des Worts. Die Aufgabe der Pſychologie ſcheint demnach darin zu liegen, daß, was für Eine pſychiſche Kraft, die des Denkens, längſt unternommen wurde, auch bei anderen einer ähnlichen Iſolirung fähig ſcheinenden Klaſſen von Vor— gängen, wie z. B. dem Selbſtbewußtſein, der Phantaſie, dem Gewiſſen, den einzelnen, gewöhnlich nur in einem un— beſtimmten Pluralis zuſammengefaßten oder mit einem Und ſo weiter aufgezählten Grundtrieben unſerer Natur verſucht werde. In der Biychologie ſind aber freilich die einfachſten Probleme noch die ſchwerſten und gemiedenſten.

Nach dieſem langen Eingang nun, von dem ich hoffe, daß er ſich nicht als ein Um- und Abweg erweiſen wird, kehre ich zu der erſten Frage zurück: was iſt ein ſociales Geſez? was kann es ſein? Es ergaben ſich uns drei Arten von Kräften, phyſiſche, organiſche, pſychiſche; und es iſt keine vierte Art von coordinirter Stellung denkbar. Die ſocialen Erſcheinungen ſind eine Unterart der pſpychiſchen. Es giebt zwei Arten von pſychiſchen Geſezen, die pſycho— logiſchen und die ſocialen. Die Pſychologie betrachtet die Seelen-Kräfte am typiſchen Individuum als Merkmale der Gattung; die ſocialen Wiſſenſchaften betrachten dieſelben

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Kräfte in ihrer Maſſenwirkung, und zwar beſchäftigen ſie ſich gerade mit den Effekten, Veränderungen und Modifi— cationen, welche ſich aus dem Moment der Maſſenwirkung ſelbſt ergeben. Ein ſociales Geſez müßte hiernach der Aus— druck ſein für die elementare Grundform der Maſſenwirkung pſychiſcher Kräfte.

Dieſer Auffaſſung ſtellt ſich zunächſt die Einrede ent— gegen: wie ſoll man zu ſocialen Geſezen gelangen, wenn man außer jenen logiſchen Grundgeſezen faſt noch keine pſychiſchen hat; wie will man Maſſenwirkungen erklären ohne Kenntniß der Factoren, deren Product ſie ſind? Dieſe Einwendung enthält zwar eine große und, wie ich glaube, wenig beachtete Wahrheit, aber doch überſieht ſie auch we— ſentliche Momente der Sache.

In der pſychiſchen Welt it das Individuelle das Com— plicirteſte, Unentwirrbarſte. Die beſonderen pſpchiſchen Kräfte treten uns deutlicher entgegen, wenn wir ihre Wir— kungen im Großen, gleichſam aus der Vogelperſpective be— trachten. Oder wer wollte die pſpychiſchen Einflüſſe der Altersſtufen, des Geſchlechts, der Abſtammung, des Klimas und Bodens, der Staatseinrichtungen, an einzelnen Indi— viduen erkennen und nachweiſen? Die Pſychologie und auch ſchon die Phyſiologie verdanken einer Beobachtung der Maſſenwirkungen die wichtigſten Aufſchlüſſe und Beweis— mittel. Die ſocialen Wiſſenſchaften ſind daher keineswegs blos abhängig von der Pſychologie, ſondern ſie wirken in gleichem Maaße auf dieſe fördernd und befruchtend zurück.

Aber eine noch wichtigere Seite der Sache iſt dieſe.

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Wie uns der Geograph von Meeren und Strömen Vieles zu ſagen hat, worauf uns die phyſikaliſch-chemiſche Unter— ſuchung des Waſſers niemals führen würde, wie der Wald zu vielen Betrachtungen Anlaß giebt, die dem Botaniker ganz ferne liegen, jo entſtehen aus der Maſſenwirkung pſy— chiſcher Kräfte Erſcheinungen, zu welchen zwar wohl die Keime und Anſätze immer auch von der Pſychologie nach— weisbar ſein werden, die aber doch über deren ganzen Ge— ſichtskreis hinausliegen. Der Unterſchied von Geſchlecht und Alter, von dem der Einzelne nur disjunctiv oder ſucceſſiv betroffen wird, iſt in der Geſellſchaft gleichzeitig und in allen Combinationen vertreten. Der Geſammteffect vieler Individualkräfte iſt nicht, wie in der Mechanik, eine Summe oder ein Produkt. Dieſe wirken bald vereinigt auf den— ſelben Punkt, bald neutraliſiren und ergänzen ſie ſich. Der menſchliche Grundtrieb, ſeinen Einzelwillen rückſichtslos und unbegrenzt geltend zu machen, findet in der gleichen Eigen— ſchaft des Nachbarn jene mächtige Schranke, in welcher die Keime aller höheren Entwicklung der Menſchheit zu ſuchen ſind.

Giebt es nun ſolche ſociale Geſeze, welche für die Maſſenwirkung pſychiſcher Kräfte die conſtante Grundform ausdrücken? Die Gruppe der ſocialen Wiſſenszweige iſt bekanntlich noch ſehr jung und unfertig; von vielen Seiten wird ihr das wiſſenſchaftliche Zunftrecht überhaupt beſtritten. Von den ſocialen Erſcheinungen ſind ganze Strecken noch unbekanntes Land oder nur von einzelnen Forſchern flüchtig berührt worden. Eine dieſer Wiſſenſchaften aber iſt den

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Schweſtern weit vorausgeeilt und längſt von allen als eben- bürtig anerkannt. Sie hat einen Grundſtock feſter Säze, die nicht jeder neue Forſcher wieder in Frage ſtellt; ſie befaßt ſich nicht mit bloßen Theorien, ſondern ſtellt Geſeze auf und vermag ſich bereits in weitem Umfang eines de— ductiven Verfahrens zu bedienen. Es iſt die Nationalöco— nomie. Sie verdankt, wie ich glaube, ihre raſchen und großen Erfolge nicht allein dem praktiſchen Intereſſe, das ſich an den Gegenſtand ihrer Unterſuchungen knüpft, ſondern noch mehr der Richtigkeit des von ihr eingeſchlagenen Ver— fahrens. Ihre Gründer bedienten ſich nemlich ebenfalls des Vortheils, ihr Object ſo viel als möglich zu iſoliren; ſie giengen auf eine einfache pſychologiſche Thatſache zurück und verfolgten ſie in ihren Conſequenzen. Die National- öconomie geht ausdrücklich oder ſtillſchweigend von der Vor— ausſetzung aus, daß die Menſchen von Natur eine ausge— ſprochene Neigung haben, ſich die zu Befriedigung ihres Trieblebens dienlichen äußeren Mittel möglichſt reichlich und mit der möglichſt kleinen Gegenleiſtung zu verſchaffen, ſowie daß vermöge der Gleichartigkeit der menſchlichen Natur dieſelben Arten von Gütern ſtets vielen zumal begehrens— werth, einige davon allen gleich unentbehrlich ſind. Ob jener Trieb, Güter zu erwerben, eine einfache pſychiſche Kraft oder ſchon ein Complex, eine chemiſche Verbindung von Kräften ſein mag, kann dabei immerhin außer Betracht gelaſſen werden, ſo lang die Thatſache ſelbſt von Niemand in Zweifel gezogen wird. Indem die Wiſſenſchaft nun die Maſſenwirkung dieſes Triebes beobachtet und zuſieht, wie

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fich derſelbe auf dem Boden der Rechtsordnung bethätigt, d. h. unter der weiteren Vorausſezung, daß man ſich der fremden Güter nicht mit Liſt und Gewalt, ſondern nur mit der freien Zuſtimmung des Beſitzers bemächtigen darf, indem ſie ſodann empiriſch gegebene Unterſchiede, wie der von der Natur dargebotenen und durch menſchliche Arbeit hervorgebrachten, der nur in beſchränktem Maaß vorhandenen und der einer beliebigen Vervielfältigung fähigen Güter u.ſ.w. beachtet, ergeben ſich ihr eine ganze Reihe einfacher Grund— begriffe von Werthen, Preiſen, Löhnen, Arbeit, Kapital, Rente, Geld, Kredit und ein förmliches Syſtem wohlge— gliederter Lehrſäze. Ja die Nationalöconomie ſcheint mir in ihrem vollſten Recht, wenn ſie ihre Fundamentalſäze von der Bewegung der Preiſe und Arbeitslöhne, von der Con— currenz, dem Geldumlauf geradezu Geſeze nennt; denn ſie entſprechen genau der obigen Forderung, indem ſie uns die conſtanten Grundformen für die Maſſenwirkung pſpychiſcher Kräfte aufzeigen. Die Säze ergeben ſich mit der Sicherheit der Deduction aus ganz wenigen Prämiſſen.

Allein dieſe Präciſion und Bündigkeit der wiſſenſchaft— lichen Entwicklung beruht auf einer Abſtraction, auf einer abſichtlichen Iſolirung des Objects. In Wahrheit wird der Menſch auch in ſeinem wirthſchaftlichen Leben nicht aus— ſchließlich durch das Motiv, Güter zu erwerben, beſtimmt; es wirken noch mancherlei andere pſychiſche Kräfte und Triebe, z. B. ethiſche, politiſche, religiöſe Motive herein. Für die Gütergemeinſchaft der erſten Chriſten galt das Geſez der Preiſe nicht, und durch das ganze Mittelalter

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glaubte man, daß Bedürfnißloſigkeit und freiwillige Armuth eine Staffel zum Himmel ſei. In demſelben Maaße, in welchem ſich der Nationalöconom von jener Abſtraction los— macht und die Einwirkungen aller übrigen pſychiſchen Kräfte. in ſein Syſtem einzufügen ſucht, giebt er die eigenthüm— lichen Vortheile ſeiner Methode Preis. Er bedarf nun Lehn— ſäze aus andern ſocialen Wiſſenſchaften, zum Theil aus ſolchen, die noch gar nicht exiſtiren. Er holt und ſchafft ſich dieſe Lehnſäze auf eigene Fauſt; er kann dabei immer noch anregend, fruchtbar, geiſtvoll ſein, aber das feſte lo— giſche Gefüge ſeiner Säze fällt ihm auseinander.

Ich komme nun zu einer mir näher liegenden Wiſſen— ſchaft, die ebenfalls Geſeze ſucht und gefunden zu haben glaubt, der Statiſtik. Ja nach der Auffaſſung vieler ihrer namhafteſten Vertreter iſt fie eigentlich eine ſociale Ency⸗ clopädie und Univerſalwiſſenſchaft, und die Auffindung ſo— cialer Geſeze ihre Domäne, ihr Monopol. Aber auch wer ihr, was ich für das Richtigere und praktiſch Zweckmäßigere halte, die beſcheidenere Aufgabe ſtellt, durch methodiſche Maſſenbeobachtung ſociale Thatſachen feſtzuſtellen und auf— zuhellen und hiedurch einer ganzen Gruppe anderer Disci— plinen als ihre gemeinſame Hülfswiſſenſchaft empiriſches Material und Beweismittel zu bieten, der wird zugeſtehen müſſen, daß der Begriff eines ſocialen Geſezes zu der Auf— gabe der Statiſtik in einer ſehr innigen Beziehung ſteht und daß jedes ſociale Geſez, mag es gefunden ſein, wie und von wem es will, eine Art Probe und Legitimation vor dem Richterſtuhl der Statiſtik zu erſtehen hat.

Die ſeitherige Entwicklung der Statiſtik hat mir nun immer den Eindruck von der Beſizergreifung eines neuent— deckten fruchtbaren Landes gemacht. Die erſten Anſiedler, überraſcht von dem Reichthum an neuen und werthvollen Producten, haben alle Hände voll zu thun, nur die reifen Früchte zu pflücken, die offen liegenden Schäze einzuſammeln. Sie werden nicht auch gleich dazu Muße finden, das Land auszumeſſen, ſeine Grenzen gegen die Nachbarn auszuſtecken, die geographiſche Lage feſtzuſtellen, ihm ſeinen beſtimmten Plaz auf der allgemeinen Weltkarte anzuweiſen. In ähn— licher Weiſe hat die Statiſtitk bereits ein reichhaltiges und werthvolles Material in allen Richtungen zuſammengetragen, aber es iſt nicht das gleiche Maaß von Fleiß, Talent und Scharfſinn darauf verwendet worden, die allgemeinen Grund— begriffe feſtzuſtellen, die eigenthümliche Aufgabe gegenüber von andern verwandten Wiſſenszweigen ſcharf abzugrenzen. Jener goldene Faden einer gemeinſamen logiſchen Gliede— rung und Technik, der alle Wiſſenſchaften zu einem bunten, geſchloſſenen Kranze verbinden ſoll, iſt noch keineswegs in alle Theile der Statiſtik eingeflochten. Dieſer Mangel tritt an keinem Punkte ſo deutlich und ſtörend hervor, als an dem Begriff eines Geſezes. Die Statiſtik handhabt dieſen Begriff nicht nur, wie mir ſcheint, in einem von den übrigen Wiſſenſchaften nicht zugelaſſenen Sinne, ſondern ſie glaubt ſogar eine ihr eigenthümliche Theorie darüber aufſtellen zu können. Sie vindicirt ſich eine von den übrigen Geſezen abweichende neue Art von Geſez und nennt ſie das Geſez der großen Zahl. Hiernach ſoll es auch ſolche Geſeze geben,

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welche an wenigen Fällen überhaupt nicht erkennbar ſeien, ſondern erſt für die Maſſenbeobachtung, bei einer großen Zahl von Fällen hervortreten, und dann in einer numeri— ſchen Faſſung, als vorherrſchende, durchſchnittliche, procentale Erſcheinungen auszudrücken ſeien. Dieſes Geſez der großen Zahl ſcheint mir nun ein unglücklicher Ausdruck für einen an ſich richtigen Gedanken. Er erweckt die Vorſtellung, als ob es neben den Geſezen, die für alle Fälle gelten, auch noch ſolche geben könnte, die nur 23, % u. ſ. w. der Fälle beherrſchen. Die Ausnahmsloſigkeit it aber für den wiſſen— ſchaftlichen Denker das erſte und unerläßlichſte Merkmal eines Geſezes. Wenn er auf einen einzigen Fall ſtößt, in dem ſein Geſez nicht wirkt, obgleich ihn deſſen Formel trifft, ſo wird ihm ſtets nur der Schluß auf die Falſchheit dieſer Formel übrig bleiben. Nur der populären und unwiſſen— ſchaftlichen Auffaſſung erſcheint es als eine Ausnahme, wenn die Wirkung einer Kraft in dem Schlußeffect einer Erſcheinung darum nicht in gewohnter Weiſe zu Tage tritt, weil ſie von einer hinzukommenden zweiten Kraft neutrali— ſirt wurde. Die erſte hat hier ganz ihrem Geſez gemäß gewirkt in dem Widerſtand, den die zweite zu überwinden fand, und hat auch den ſchließlichen Effect mitbeſtimmt, da dieſer ein anderer hätte werden müſſen, wenn die zweite Kraft allein Plaz gegriffen hätte. Die Gründe, mit denen man das Geſez der großen Zahl gegen dieſen Einwurf zu ſchüzen geſucht hat, ſind mir immer als unklare und uner— weisbare Poſtulate erſchienen.

Gleichwohl weist dieſer Ausdruck auf einen wahren

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und richtigen Gedanken, auf das charakteriſtiſche Merkmal der Statiſtik hin. Dieſe bedient ſich nemlich gleich den andern ſocialen Wiſſenſchaften der Fiction, einen Collectiv— begriff, eine Gruppe vieler und verſchiedenartiger Individuen, alſo ein Volk, ein Geſchlecht, eine Altersklaſſe, einen Stand wie ein einheitliches Ding oder Weſen zu behandeln. Um von dieſem Gollectivjubject Prädikate, Merkmale, Eigen— ſchaften auf correcte Weiſe und nicht auf unbeſtimmte Total— eindrücke und unzureichende Einzelerfahrungen hin auszu— ſagen, iſt es erforderlich, die Gruppe in ihre Individuen wieder aufzulöſen und dieſe nach beſtimmten gleichartigen Geſichtspunkten einzeln durchzuzählen. So entſtehen die großen Zahlen, die zunächſt lediglich nichts ausdrücken, als eine geſellſchaftliche, hiſtoriſche Thatſache. Indem man die— ſelbe Durchzählung bei andern ähnlichen Gruppen und in verſchiedenen Zeiten wiederholt, erweitern ſich die Thatſachen zu charakteriſtiſchen Merkmalen von Gruppen und Zeiten; indem ſich die Zählungen über die verſchiedenartigſten Le— bensverhältniſſe allmälig ausbreiten, entſteht das reichhal— tigſte Material vergleichender Combination. Es zeigen ſich Aehnlichkeiten, Unterſchiede, Regelmäßigkeiten jeder Art; zwei Zahlenreihen ſteigen und fallen immer mit einander; bei zwei andern findet das Umgekehrte Statt; die eine ſteigt, wenn die andere fällt; wieder andere zeigen keinerlei Re— lation zu einander. Es ergeben ſich neben Merkmalen, Eigenſchaften und coexiſtirenden Prädikaten auch Cauſal— zuſammenhänge, einmalige, wiederkehrende, conſtante. Es erſchließt ſich ſo das innere Spiel und Getriebe des ſocialen

Rümelin, Reden u. Aufſätze. 2

18 Lebens; es treten die Maſſenwirkungen pſychiſcher Kräfte hervor, deren Zuſammenhänge unter ſich ſelbſt, deren actives und paſſives Verhalten zu phyſikaliſchen und ſomatiſchen Einflüſſen. Man kann und wird auf dieſem Wege ſchließ— lich auch zu Geſezen gelangen; die Methode iſt zwar nicht die einzige, aber vielleicht eine der fruchtbarſten, allein das Geſez, das ſo gewonnen wird, wird keine ſtatiſtiſche Form, feine numeriſche Faſſung mehr haben, es wird ausnahms— los und allgemein ſein, wie jedes andere; mit der großen Zahl hat es lediglich nichts zu ſchaffen, als daß dieſe zu den Mitteln ſeiner Entdeckung gehört hat und zu ſeiner Beweisführung noch Dienſte leiſten kann. Es ſcheint mir nun, wie wenn viele Statiſtiker und zwar gerade die Gründer und Vertreter der thätigſten und verdienteſten Schule dieſen natürlichen Stufengang wiſſenſchaftlicher Erkenntniß über— ſprungen und den lezten und höchſten Begriff des Geſezes auch ſchon auf die Vorſtufen, die bloßen Regelmäßigkeiten, Merkmale, Eigenſchaften, Cauſalverknüpfungen angewendet hätten. Die franzöſiſchen Statiſtiker namentlich, den hoch— verehrten Meiſter Quetelet nicht ausgenommen, ſind allzu⸗ geneigt geweſen, da, wo ſich nur die Zahlen conſtant um einen gewiſſen Schwerpunkt gruppiren, gleich auch eine loi sociale zu verkündigen. Es wird wie von einem Gejez oder einer conſtanten Urſache, die auch in der Erſcheinung der Rieſen und Zwerge noch mitwirken ſoll, geſprochen, daß im mittleren Europa der Mann durchſchnittlich bis zu einer Körpergröße von etwa 168 Centimetern, zu einem Gewicht von 127 Zollpfunden wachſe und die mittlere Ziffer

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des Weibes um 10 Gentimeter und 14 Pfund übertreffe. Der Phyſiolog wird dem Statiſtiker ſehr dankbar ſein für ſolche Unterſuchungen; eine Tabelle, welche uns in ähnlicher Weiſe den Wuchs und das Gewicht aller Hauptvölker an— gäbe, wäre für wiſſenſchaftliche und praktiſche Zwecke höchſt werthvoll; aber nach ihrem formellen und logiſchen Cha— racter muß ich dieſe Ergebniſſe der verdienſtlichſten For— ſchung ganz in die gleiche Linie ſtellen, wie wenn ich in einer Naturgeſchichte meiner Kinder leſe: „der indiſche Ele— phant erreicht eine Höhe von 14 Fuß und ein Gewicht von 70 Centnern; das Weibchen iſt etwas kleiner.“ Es iſt eine von den unzähligen Eigenſchaften der unzähligen Gat— tungen und Arten von Naturgeſchöpfen, und es führt zu unabſehbarer Verwirrung in der Wiſſenſchaft, Geſez und Eigenſchaft nicht aus einander zu halten.

Es gehört zu den intereſſanteſten, das Nachdenken ſtets von Neuem anreizenden Ergebniſſen ſtatiſtiſcher Unterſuch— ungen, daß nach Beobachtungen, die ſich bereits über 70 Mill. Geburten aus faſt allen europäiſchen Ländern und vielen Jahrzehenden erſtrecken, jedes Jahr im großen Durchſchnitt auf je 16 Mädchen 17 Knaben geboren werden, daß dieſer Knabenüberſchuß kleiner iſt bei unehelichen Geburten als bei ehelichen, größer bei ländlichen als bei ſtädtiſchen, daß er verſchwindet und in das Gegentheil umſchlägt, wenn die Mutter des Kindes den Vater im Alter erreicht oder über— trifft. Allein gleichwohl haben wir darin weder, wie der erſte Entdecker der Sache meint, eine ganz beſondere gött— liche Anordnung, noch, wie die neueren Statiſtiker ſagen,

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ein Naturgeſez zu erkennen; es find nicht megr und nicht weniger als Thatſachen, zu welchen wir noch den Schlüſſel des Verſtändniſſes ſuchen. Das was dabei fehlt, iſt viel— mehr gerade das Geſez. Dieſes könnte nur das der Zeu— gung ſein und könnte nur von der Phyſiologie gefunden werden, nicht von der Statiſtik.

Ebenſo redet man allgemein von Mortalitätsgeſezen und verſteht darunter den großen Durchſchnitt der Abſterbe— ordnung einer Bevölkerung. Es kann beinahe komiſch her— auskommen, aber die Conſequenz gebietet mir, ſelbſt der beſtbeglaubigten und ſicherſten aller empiriſchen Thatſachen, dem Saz, daß alle Menſchen ſterben müſſen, den Namen eines wiſſenſchaftlichen Geſezes zu beſtreiten, um wie viel mehr jenen Tabellen, nach welchen beſtimmte Procente gleich bei und nach der Geburt, andere im Greiſenalter, andere zwiſchen dieſen beiden Grenzen in verſchiedenen Abſtufungen dem Tod verfallen ſein, der Menſch aber im Geſammtdurch— ſchnitt etliche und dreißig Jahre alt werden ſoll. Wenn ſich hierüber etwas Geſezmäßiges und Normales aufſtellen läßt, ſo dürfte man noch mit dem meiſten Recht ſagen, der menſchliche Organismus ſei von der Natur darauf angelegt, daß alle im Alter von 100 und ungeraden Jahren der Euthanaſia verfallen, ſo daß die Sterbetafeln der verſchie— denen Zeitalter und Völker nur die Sproſſe der Leiter an— geben, auf welcher die Menſchheit in ihrem Weg zu jenem idealen Ziele angelangt iſt.

Es giebt ſodann eine Menge conſtanter Cauſalver— knüpfungen im ſocialen Leben, die ſich ſtatiſtiſch beweiſen

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laſſen, z. B. daß Alter und Geſchlecht die Diſpoſition für gewiſſe Arten von Handlungen verſtärken oder abſchwächen, daß Erſchwerung des Nahrungsſtands eine Verminderung und Verſpätung der Heirathen, und dieſe wieder eine Ver— mehrung unehelicher Geburten zur Folge hat, daß Miß— ernten die Geburten und Ehen vermindern, die Krankheits— und Sterbefälle vermehren, daß die Errichtung von neuen Verkehrswegen den Handel befördert, die Preiſe ausgleicht, den Werth der anliegenden Grundſtücke erhöht u. ſ. w. Der Cauſalzuſammenhang liegt bei dieſen Erſcheinungen in der Regel auf der Hand und war ſchon lange, bevor es methodiſche Maſſenbeobachtungen ſocialer Vorgänge gab, ge— kannt. Die Statiſtik hat nur das große Verdienſt, ſolche Säze, die in vager Allgemeinheit wenig Werth haben, genau feſtzuſtellen und zu begrenzen, die Bedingungen nachzuweiſen, unter welchen die Wirkungen ſtärker oder ſchwächer hervor— treten und ſie dadurch erſt zu einem brauchbaren Material wiſſenſchaftlicher Erkenntniß zu erheben. Aber von ſocialen Geſezen dürfen dabei nur diejenigen reden, die nach den obigen Beiſpielen es auch ein Naturgeſez nennen, daß der Indigo eine blaue Farbe giebt, und Arſenik den menſch— lichen Organismus zerſtört. Auch hier folgt die Conſtanz der Wirkungen nur aus der Conſtanz der Begriffe und ihrer Merkmale; und wenn die Statiſtik Erfahrungsſäzen, die ſo alt ſind als die menſchliche Erinnerung überhaupt, blos um der genaueren Beobachtung und Begründung willen, den anſpruchsvollen Titel wiſſenſchaftlicher Geſeze beilegt, ſo ſezt ſie ſich der Gefahr aus, dem Spott zu verfallen,

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mit dem der Dichter die Philoſophen trifft, wenn er an bekannter Stelle ſagt:

Der Schnee macht kalt, das Feuer brennt,

Der Menſch geht auf zwei Füßen;

Das kann, wer auch nicht Logik kennt,

Durch ſeine Sinne wiſſen;

Doch wer Metaphyſik ſtudiert,

Der weiß, daß wer verbrennt, nicht friert,

Weiß, daß das Naſſe feuchtet,

Und daß das Helle leuchtet.

Den kühnſten Anlauf hat jedoch die Statiſtik genommen, als ſie ihre Begriffe von Geſez und Geſezmäßigkeit auch auf ein Gebiet übertrug, in welchem wir von Geſez nur in ganz anderem Sinne zu reden gewöhnt ſind, auf das der willkürlichen menſchlichen Handlungen. Um nur Eines der Beiſpiele, die Statiſtik der Verbrechen, anzuführen, ſo wird zwar Jedermann bei verſtändiger Ueberlegung zum voraus vermuthen, daß in einem größeren Staat bei gleichen Geſezen, Sitten und Einrichtungen die Zahl aller zur ge— richtlichen Behandlung gelangenden Verbrechen und Ver— gehen in gewöhnlichen Zeiten von einem Jahr zum andern nicht ſehr bedeutend differiren müßte; er wird auch erwarten, daß jedes Jahr die leichteren Vergehen zahlreicher ſein werden, als die ſchwereren, die Verbrechen gegen Perſonen ſeltener, als die Eingriffe in fremdes Eigenthum; er wird wahrſcheinlich finden, daß ſtets mehr Männer vor den Schranken der Gerichte ſtehen werden, als Weiber, und mehr jüngere Perſonen als ältere u. ſ. w. Wenn man dann nun aber dieſe franzöſiſchen und belgiſchen Tabellen der Kriminalſtatiſtik zur Hand nimmt, ſo wird man doch

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immer noch lebhaft überrascht ſein von dem Grad der Regel— mäßigkeit in Bewegung und Vertheilung der Ziffern. Die Schwankungen ſind, wo nicht beſondere äußere Ereigniſſe, wie Mißernten, Krieg, Revolution dazwiſchentreten, in der That kleiner, als bei Geburten und Sterbfällen, und weit kleiner als z. B. die der durchſchnittlichen Monatswärme in unſerem Klima. Einige unſerer bedeutendſten Statiſtiker, die ſich um dieſe Art von Unterſuchungen beſonders ver— dient gemacht haben, waren von dieſen Gleichmäßigkeiten im Großen wie im Kleinen ſo überraſcht, daß ſie die weit— gehendſten Folgerungen daran anknüpften. Bei dem Stand— punkt der Vogelperſpective, der der Statiſtik eigenthümlich iſt, erſchien ihnen die Geſellſchaft als Ein Ganzes ein be— ſtimmtes Maaß von Diſpoſition zu Verbrechen in ſich zu ſchließen, das an ihre einzelnen Glieder, an Alter und Ge— ſchlecht, an Stadt und Land, an Stände, Beſizklaſſen, Pro— vinzen, in feſten Proportionen ausgetheilt, in gleichen Ge— ſammtergebniſſen mit unerheblichen Schwankungen Jahr für Jahr zur Verwirklichung gelangt. Der Antheil der Ein— zelnen, die individuelle Freiheit tritt dabei ganz in den Hintergrund; der Einzelne iſt für die Statiſtik nur eine Nummer, und ſie fragt nicht darnach, ob der Hans oder Kunz, der & oder die Y ſich zu ihren Contingenten ſtellt. Eine menſchliche Willensfreiheit, vermöge welcher die Hand— lungen rein aus dem innerſten, aller Beobachtung entzogenen, keiner Nöthigung der Motive unterworfenen Centrum des Ichs hervorgehen, möge dabei immerhin noch beſtehen, aber ſie gehöre, wie es Quetelet ausdrückt, für den Statiſtiker

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zu den zufälligen Urſachen, die bei erweitertem Umfang der Beobachtungen gegen die conſtanten Urſachen ganz ver— ſchwinden. Jene ſtabilen Zahlen und Proportionen, wie— wohl ſie von Haus aus nichts ſind als ein Product aus thatſächlich gegebenen Faktoren, verwandeln ſich bei dieſer Betrachtung allmälig in etwas Reales, in herrſchende Mächte, in ſociale Geſeze, die nun das ſittliche Leben der Menſchen mit gleicher Gewalt regieren, wie Geburt und Tod, wie Preiſe und Arbeitslöhne.

Es mag ſchwer ſein, bedeutende Wahrheiten mit leich— teren und gröberen Mißverſtändniſſen in einen dichteren Knäuel zu verſchlingen, als in dieſer Gedankenreihe ge— ſchehen iſt.

Man kann dieſem Raiſonnement zwar unbedenklich ein— räumen, daß derjenige Begriff von Willensfreiheit, der darin vorausgeſezt und bekämpft wird, in der That unvereinbar iſt mit den Ergebniſſen der Kriminalſtatiſtik. Denn wenn die freie Handlung ſo viel iſt, als die nicht motivirte, gleich— ſam dem Cauſalitätsgeſez entrückte, aus einem unerforſchten Urgrunde wie Schöpfungsacte hervorquellende, dann müßte, wofern überhaupt Jemand im Stande iſt, dieſe Vorſtellung auszudenken, jede beliebige Zahl freier Handlungen nur einen ungeordneten Haufen unbekannter und unter ſich un— vergleichbarer Dinge darſtellen und von einer conſtanten Gruppirung der Ziffern könnte wirklich keine Rede ſein. Ich glaube aber nicht, daß auch der Extremſte der Inde— terminiſten heute noch ſich zu einem Freiheitsbegriff dieſer Art bekennen wird. Durch das Gewicht der ſtärkſten Motive

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beſtimmt zu jein, voraus erkannt und gejagt werden zu können, widerſpricht ſo wenig der freien Handlung, daß es vielmehr zu ihren weſentlichſten Attributen gehört. Die innere Erfahrung ſagt es uns jeden Tag, daß unſere freieſten Handlungen die motivirteſten ſind; wir beſinnen uns keinen Augenblick, von Perſonen, die wir genau zu kennen glauben, vorauszuſagen, wie ſie im gegebenen Fall handeln werden. Beim Blick auf die ungewiſſen Wechſelfälle der Zukunft iſt die Conſtanz der Charaktere der einzige feſte Anhaltspunkt unſerer Entwürfe. Wenn mir die Statiſtik ſagt, daß ich im Lauf des nächſten Jahres mit einer Wahrſcheinlichkeit von 1 zu 49 ſterben, mit einer noch größeren Wahrſchein— lichkeit ſchmerzliche Lücken in dem Kreis mir theurer Per— ſonen zu beklagen haben werde, ſo muß ich mich unter den Ernſt dieſer Wahrheit in Demuth beugen; wenn ſie aber, auf ähnliche Durchſchnittszahlen geſtützt, mir ſagen wollte, daß mit einer Wahrſcheinlichkeit von ! zu ſo und ſo viel eine Handlung von mir der Gegenſtand eines ſtrafgericht— lichen Erkenntniſſes ſein werde, ſo dürfte ich ihr unbedenk— lich antworten: ne sutor ultra crepidam! Nachdem man erkannt hat, daß Freiheit und Nothwendigkeit ſchon logiſch nicht richtig geſtellte Gegenſäze ſind, daß dem Nothwendigen nur das Zufällige gegenüberſteht, der Freiheit aber der Zwang oder die äußerliche Nothwendigkeit, während die innere Nothwendigkeit mit ihr verwandt wo nicht identiſch iſt, iſt das große Myſterium, das ſich an die Frage der menſchlichen Willensfreiheit knüpft, zwar keineswegs ge— löst, aber es iſt wenigſtens in eine Sphäre gerückt wor—

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den, zu welcher die Tabellen der Statiſtik nicht hinüber— greifen.

Man hat aber überhaupt die Tragweite ſolcher Regel— mäßigkeiten, wie ſie ſich für die Maſſenbeobachtung der Verbrechen nach Zahl und Unterarten ergeben, weit über— ſchäzt, ſchon darum, weil ſich die Zählungen bis jezt nur auf wenige Jahrzehende und Länder erſtrecken, während die Reſultate nicht nur möglicher, ſondern wahrſcheinlicher Weiſe ganz andere ſein müßten, wenn ſich die Beobach— tungen über eben ſo viele Jahrhunderte und alle civiliſirten Völker ausbreiten würden. Alle jene Zahlen, man mag ſie ſtellen und ordnen wie man will, werden niemals etwas Anderes ſein, als der Ausdruck von Thatſachen, als ein werthvolles Material zur Charakteriſtik von Völkern, Staaten und Zeiten, als hiſtoriſche Zeugniſſe der ſchäzbarſten Art, als reichhaltige Aufſchlüſſe für den Geſezgeber und Staats— mann, für alle ſocialen Wiſſenſchaften, für jeden Denkenden. Unwiderſprechlich zeigen ſie freilich, daß der Einzelne auch in ſeinem ſittlichen Handeln ſich vielfältig bedingt findet durch die Geſellſchaft, durch religiöſe Vorſtellungen und po— litiſche Einrichtungen, durch Bildung, Beſiz, Stand, Ab— ſtammung, Geſchlecht und Alter; aber wer hat daran jemals zweifeln können, wenn er mit unbefangenem Blick in das Buch der Geſchichte, in Welt und Leben blickt, und wer hat aus der Mannigfaltigkeit der Motive, die auf uns ein— wirken, ſchließen dürfen, daß nicht doch eine Kraft in uns wohne, jedem einzelnen unter ihnen Widerſtand zu leiſten?

Ich will dieſe Rundſchau nach ſocialen Geſezen nicht

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weiter fortführen; die Ausbeute war nicht groß. Ich läugne aber, daß dieß dem Zweig der ſocialen Fächer zum Vor— wurf dienen kann. Die jüngſten Wiſſenſchaften ſind immer die ſchwerſten; denn ſie behandeln Probleme, welche man früher ganz überſah oder gar nicht die Mittel hatte in An— griff zu nehmen. Ich habe von der Zukunft der Statiſtik, von dem wiſſenſchaftlichen Werth, den eine fortgeführte und immer weiter ausgebreitete methodische Beobachtung ſocialer Thatſachen haben wird, die höchſte Meinung; ja ich glaube, daß die Natur der Verhältniſſe ihr für jezt eine Art Führer— ſchaft unter den ſocialen Wiſſenszweigen, obgleich ſie nur deren Hilfswiſſenſchaft iſt, zugewieſen hat, um nach allen Richtungen das Material beizubringen, ohne deſſen Grund— lage überall nur Luftſchlöſſer gebaut werden können. Aber gerade, weil es eine ſo lohnende Aufgabe iſt, die großen ſocialen Thatſachen feſtzuſtellen und aufzuhellen, Völker, Staaten, Gruppen und Gemeinſchaften jeder Art in prä— ciſer Weile zu charakteriſiren, eine Menge ganz neuer oder nie beachteter Cauſalverknüpfungen aufzudecken, ſo möge ſie die Hände auch nicht vorſchnell nach den lezten Kränzen ausſtrecken, welche die Wiſſenſchaft ihren Meiſtern bietet, der Entdeckung neuer Geſeze. Die Natur liebt es, mit wenigen Kräften und Stoffen das Wunderwerk der Schöpf— ung zu bilden. In andern Wiſſenſchaften iſt die Entdeckung eines neuen Geſezes ein ſeltenes und ſtets Epoche machendes Ereigniß. Die Statiſtik ſoll ſich nicht als das Sonntags— kind unter ihren Schweſtern betrachten, das die neuen Ge— ſeze duzendweiſe am Wege aufliest.

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Jener Forderung an ein jociales Geſez, daß es die conſtante Grundform angebe für die Maſſenwirkung pſychi— ſcher Kräfte, ſchienen nur einige allgemeine Säze der Na— tionalöconomie über die Ordnung und Gliederung des wirth— ſchaftlichen Lebens zu genügen; aber auch dieſen ſchien keine unbedingte Geltung zuzukommen, ſondern ſie waren auf die Vorausſezung gegründet, daß die wirthſchaftlichen Verhält— niſſe nur unter dem Einfluß der auf ſie unmittelbar be— züglichen Triebe ſtehen, und kein Herübergreifen der übrigen pſychiſchen Kräfte Statt finde. Sollte dieſer hypothetiſche Charakter vielleicht mehr als ein blos zufälliges, ſollte er ein allgemeines Merkmal aller ſocialen Geſeze ſein? Sollte das Ineinandergreifen aller pſychiſchen Kräfte ſich vielleicht immer und überall einer wiſſenſchaftlichen Feſtſtellung ent— ziehen, und ſich die pſychiſchen Kräfte gerade darin von den phyſikaliſchen und organiſchen weſentlich unterſcheiden, daß dieſen ein ewig unwandelbares Maaß der Leiſtungsfähig— keit zukommt, jene aber bei aller Beharrlichkeit ihrer Grund— form hinſichtlich ihres Stärkegrads einer allmählichen inneren Umbildung unterworfen ſind? So klein auch das Bruch— ſtück iſt, das wir von der Geſchichte unſerer Gattung kennen, ſo ſcheint es doch zu dem Schluſſe zu berechtigen, daß dabei ein allmähliges Sichheraufarbeiten der höheren pſychiſchen Kräfte über die niedrigen, der humanen über die animali— ſchen Statt findet. Die geiſtigen Errungenſchaften eines Zeitalters in Geſez und Sitte, in Religion, Wiſſenſchaft und Kunſt ſind Dämmen und Bollwerken zu vergleichen, die hundertmal zerriſſen, wieder erneuert und weiter ge—

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führt, ein den Fluthen wilder Begierden abgewonnenes Land ſchützen und ausbreiten. Das nachfolgende Geſchlecht hat immer den Vortheil, mit größerem Grundkapital zu arbeiten; wenn der Einzelne auch ſtets wieder mit gleichen Trieben und Anlagen zur Welt kommt, ſo bietet ihm doch der ſchon geſammelte Bildungsſchaz der Geſellſchaft eine ſtets wachſende Hilfe und Förderung für die Entwicklung ſeiner höheren Seelenkräfte. Und wenn dem ſo wäre, dann könnten in der That alle ſocialen Geſeze, die ſich nur mit der Maſſenwirkung einzelner pſychiſcher Kräfte befaſſen, auch blos eine bedingte Geltung anſprechen, und es gäbe nur Eine Art von großen und abſoluten Geſezen, die Ent— wicklungsgeſeze der Menſchheit, die noch für ungemeſſene Fernen der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß verſchloſſen und nur einem ahnungsvollen Glauben zugänglich ſein werden.

Laſſen Sie mich an dieſe vorgreifenden Fragen und Vermuthungen eine lezte Betrachtung anknüpfen.

Ich habe bisher von allen möglichen Arten von Geſez geſprochen, aber Eine Art als eine ganz heterogene und unvergleichbare Sache bei Seite gelaſſen, die Geſeze des Sollens, das Sittengeſez und deſſen wandelbare, ſociale Verwirklichung in den Staatsgeſezen. Natur und Sitten— geſez erſcheinen in ihrem innerſten Weſen ſo grundverſchieden, daß man ſich wundern muß, wie die Sprache nur dazu kommen konnte, Etwas, was mit unfehlbarer Sicherheit und ſtets gleichmäßiger Kraft die reale Welt beherrſcht und eine tauſendmal unbeachtete, nie ganz befriedigte Forderung, alſo z. B. zwei Dinge wie die Pflicht der Elternliebe und das

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Parallelogramm der Kräfte, mit Einem Namen zu bezeichnen. Allein das verbindende Mittelglied, der vage Gegenſaz gegen das Willkührliche und Ungeordnete, iſt wohl nicht der einzige Rechtfertigungsgrund des anſcheinend befremdlichen Sprach— gebrauchs; es liegen ihm, wie ſo oft, noch tiefere und ah— nungsreichere Beziehungen zu Grunde. Das Sittengeſez iſt auch ein Naturgeſez; es iſt kein ideales Phantom, kein leeres Gedankending, ſondern die Aeußerung einer realen lebendigen Kraft. Und zwar ſind es die höchſten pſychiſchen Kräfte, die darin ihren Ausdruck finden, jener unbeſtimmte Drang, für unſer Ich und das Ganze unſerer Erfahrung ein leztes und höchſtes Centrum zu ſuchen, das Bruchſtück unſeres individuellen Lebens einer harmoniſchen Weltord— nung, einem Reich der höchſten Zwecke einzufügen. Der categoriſche Imperativ, das in ſeinem Inhalt ſo wandelbare und ſo oft fehlgreifende Gefühl eines unbedingten Sollens iſt nur eine der eigenthümlichen Grundformen für die Wir— kungsweiſe der edelſten unſerer pſychiſchen Kräfte. Das Sittengeſez iſt ſo ganz ein Geſez im Sinne der obigen De— finition, und es iſt nicht unberechtigt, das, was die Wirkungs— weiſe der höchſten Kräfte ausdrückt, das Geſez ſchlechtweg zu nennen. Die Kraft, die ein ideales Ziel ſtets äußerlich vor unſern Weg hinzuſtellen ſcheint, die, von keiner Lebens— form dauernd befriedigt, ſtets mit der Deviſe: plus ultra vorwärts ſchreitet, ſie iſt ſelbſt von durchaus realer Natur. In ihrer Maſſenwirkung ruht das Geſez des Fortſchritts. Die Menſchheit gleicht nicht jenem Tantalus, der einſt zu den Tafeln der Götter zugelaſſen, dann die Arme ewig

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vergeblich ausſtreckt nach den labenden Früchten, ſondern dem Sohn der Alkmene, der aus niedrigem Knechtesdienſt, nach langen und gefahrvollen Kämpfen, in Schmerzen und Flammen geläutert, emporſteigt zu den Sizen der Himm— liſchen. Das Sittengeſez iſt ein wahres Naturgeſez als das Geſez unſerer wahren Natur; es iſt in ſeiner Maſſenwirkung nur ein ſcheinbar unkräftiges, auf die Dauer aber das mächtigſte und höchſte aller ſocialen Geſeze.

Ueber Hegel.

6. Nov. 1870.

Das Jahr 1870, in deſſen Neige wir jezt ſtehen, ſchien bei ſeinem Eintritt wie der Welt im Großen ſo unſerer Hoch— ſchule im Kleinen gerade nichts Beſonderes und Ungewöhn— liches zu verſprechen. Nur eine einzige, den ſtillen und ge— meſſenen Gang unſeres akademiſchen Lebens unterbrechende Feier durften wir in ſichere Ausſicht nehmen. Am 27. Aug. 1770 war der Philoſoph Hegel geboren, und nachdem wir in den lezten Jahren mehreren anderen unter den geiſtigen Heroen unſerer Nation bei ihrer Säcularfeier durch beſon— dere akademiſche Feſtreden den Tribut der Dankbarkeit er— ſtattet hatten, konnte es nicht zweifelhaft ſein, daß wir das gleiche Gedächtniß dem geiſtvollen Landsmann nicht verſagen werden, der nicht nur hier ſeine Bildung empfieng, ſondern deſſen Lehre an unſerer Hochſchule durch einen Kreis hoch— begabter Schüler eine eigenthümliche, in der Geſchichte der deutſchen Wiſſenſchaft bedeutungsvolle Aufnahme und Fort— bildung gefunden hat. Es war daher auch bereits die Ein— leitung getroffen, daß am 27. Auguſt das Gedächtniß Hegel's durch einen der ordentlichen Vertreter des Faches in einer beſonderen akademiſchen Feſtrede gefeiert werden ſolle.

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Allein das Jahr 1870, reicher als irgend einer ſeiner Vorgänger ſowohl an getäuſchten als an überbotenen Hoff— nungen, hat uns gar Vieles gebracht, was die kühnſten Träume überflog, aber das Eine, was wir mit Sicherheit hätten erwarten dürfen, eine ordentliche und rechtzeitige akademiſche Hegelfeier hat es uns nicht gegönnt. Die großen Schlachtentage des Auguſts ließen uns nicht an die Ge— burtstage von Philoſophen denken. Dieß Jahr iſt vor unſerm ſtaunenden Blick zu einem jener großen Markſteine, zu einer der Leuchtfackeln der Weltgeſchichte geworden, welche die dunkeln und verſchlungenen Pfade der Vergangenheit mit Einem Male erhellen und uns für die Zukunft eine breite, weithin ſichtbare Hochſtraße zeigen. Wenn die Ge— ſchichtsauffaſſung Hegel's in ihrem Rechte iſt, daß der Reihe nach führende Volksgeiſter auf und wieder abtreten, welche als die Träger der herrſchenden Weltanſchauung den Zeit— altern das eigenthümliche Gepräge ihres Weſens aufdrücken, ſo kann es in der Geſchichte nicht wohl ein wichtigeres Er— eigniß geben, als einen ſolchen Scenenwechſel auf dem Welt— theater, wenn das bisher führende Volk hinter die Bühne tritt und ein anderes, das bis dahin zur Seite geſtellt war, den Vordergrund in Beſiz nimmt. Doppelt großartig aber wird der Eindruck ſein, wenn dieſer Wechſel mit ſo glän— zendem dramatiſchem Effekt erfolgt, in ſo gewaltigen Schlägen, als die Strafe unerhörter Anmaaßung und Verblendung, als ein Sieg der ſtillen und verkannten Kraft, als ein Gottes— gericht wie kaum je ein zweites mit deutlicherer Flammen ſchrift in die Tafeln der Geſchichte eingezeichnet worden.

* er > Rümelin, Reden u. Aufjäße. >

Die deutſche Wiſſenſchaft und auch das Leben der deut— ſchen Hochſchulen ſteht dieſen großen Weltereigniſſen nicht ſo fern, als es dem erſten Anblick ſcheinen mag. Ich denke dabei nicht blos an die Tauſende von Jünglingen, welche die Hörſäle verlaſſen haben, um ſich in die Reihen der deutſchen Krieger einzuſtellen, an die akademiſchen Lehrer, die in den mannigfaltigſten Formen ihre Kräfte der Sache des Vaterlandes zur Verfügung geſtellt haben. Ich will es auch nur flüchtig und fragend erwähnen, ob nicht jene überlegene Kunſt der deutſchen Heeresordnung und Krieg— führung, deren Erfolge die Welt jezt mit Staunen erfüllen, auch ein Stück deutſcher Wiſſenſchaft iſt und in der ſoliden Methode der Forſchung wurzelt, welche, allen Phraſen und allem Schwindel feind, immer wieder die Fragen trennt und vereinfacht und die allgemeinen Sätze nur aus einer Menge der gründlichſten Detailunterſuchungen abzuleiten geſtattet. Noch weit näher zeigt ſich jener Zuſammenhang bei einer allgemeineren Betrachtung. Dem Zeitalter der Staats— männer und Feldherrn iſt das der Dichter und Denker voran— gegangen; noch lange bevor das deutſche Volk auch nur das Bedürfniß einer ſtaatlichen Einigung empfand, hat es aus tiefem Verfall, aus confeſſioneller und politiſcher Spal— tung heraus in der Gemeinſchaft ſeines geiſtigen Beſizthums ein nationales Band gefunden; die deutſchen Hochſchulen bildeten längſt troz aller Schlagbäume an den Landesgrenzen Einen deutſchen Bundeskörper. Allein wenn wir bisher auf die Gründer unſerer claſſiſchen Epoche, auf jene Meiſter blickten, welche in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

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gewirkt oder die maßgebenden Keime ihrer Bildung em— pfangen haben, ſo konnten wir noch ſehr im Zweifel ſein, ob dieſe glänzende Erſcheinung in der Entwicklung unſeres Volks nach rückwärts zu deuten ſei oder nach vorwärts, ob ſie dem Abendroth eines ſinkenden Tages oder dem Morgen— roth eines aufſteigenden zu vergleichen ſei. Man hatte ja aus den Beiſpielen der antiken Völker die Regel abgeleitet, daß das Zeitalter der geiſtigen Blüthe eines Volks nie mit dem Höhepunkt ſeiner politiſchen Macht zuſammenfallen, auch ihm nicht vorausgehen könne, ſondern nachfolgen müſſe. Erſt in der Dämmerung beginnt der Vogel der Minerva ſeinen Flug, ſo lautet eines von jenen geiſtreichen Schlag— wörtern Hegel's. Das deutſche Volk ſollte ſeine politiſche Machtperiode ſchon im Mittelalter unter ſeinen großen Kaiſern gehabt haben; jezt ſollte ihm nur wie einſt dem Griechenvolke die Miſſion übrig geblieben ſein, als geiſtiges Ferment, aber machtlos und zerſplittert, das europäiſche Völkerleben zu befruchten. Es ließ ſich Vieles für und wider dieſe Meinung ſagen und auf dem Weg der Theorie war zu keiner Entſcheidung darüber zu kommen. Das Jahr 1870 hat uns dieſe Entſcheidung gebracht. Die großen Geiſter unſerer claſſiſchen Kulturepoche ſind nicht die ſpäten Nachzügler und Grabredner, ſondern die Boten und Vor— läufer unſerer politiſchen Größe geworden; ihre Leiſtungen erinnern uns nicht mehr an den Dämmerungsflug des Vogels der Weisheit, ſondern ſie waren der herzerhebende Lerchen— ſchlag, der unſerm Volke einen neuen Frühlingstag an— kündigte. Und ſo ſcheint es mir, fällt von den neueſten

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Großthaten unſeres Volkes auch ein neues verklärendes Licht auf jene Männer einer früheren Generation zurück, die einſt aus der ſtillen Tiefe ihres eigenen Gemüthes und Geiſtes heraus dem deutſchen Volk ſein wahres Weſen auf— geſchloſſen und die lang verhaltenen Siegel ſeines Genius gelöst haben. Wir wollen ihrer mit verdoppelter Dank— barkeit gedenken; wir wollen keinen vergeſſen und Jedem ſeine Ehre gönnen. Und ſo wollen Sie mir erlauben, nach— dem der erſte Sturm des Kriegs die rechtzeitige volle und würdigere Gedächtnißfeier Hegel's, wie ſie von berufenerer Seite beabſichtigt war, vereitelt hat, daß ich die lezte für dieß Jahr noch gebotene Gelegenheit benütze, um wenigſtens noch als Laie und Dilettant von dem Philoſophen Hegel zu reden und das Verſäumte ſei es auch nothdürftig noch nachzuholen. Ich denke dabei nicht daran, Ihnen das Leben und die Perſönlichkeit des Philoſophen zu ſchildern, noch weniger, Ihnen die Grundzüge ſeines Syſtems und die Stel— lung, die daſſelbe in der Reihe ſolcher Syſteme einnimmt, zu ſchildern. Gleichwohl glaube ich von einem andern Ge— ſichtspunkt aus doch auch einen gewiſſen Beruf zu haben von der Sache zu reden. Meine eigene Studienzeit fiel nemlich gerade in die Periode, in welcher die Hegel'ſche Philoſophie an unſerer Univerſität durch junge Docenten der glänzendſten Begabung eingeführt und in den raſcheſten Aufſchwung gebracht wurde. Ich kann wohl ſagen: meine ganze Studienzeit ſtand förmlich unter dem Bann des Hegel— thums; wer ſich überhaupt mit Philoſophie zu befaſſen hatte, der mußte entweder ſelbſt ein Hegelianer ſein oder zu dieſem

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Syſtem wenigſtens eine bewußte und feſte Stellung ein— nehmen, und dieſe Herrſchaftsperiode mag etwa vom Anfang der dreißiger bis in die Mitte der vierziger Jahre gedauert haben.

Wie bekannt nahm aber der Tübinger Zweig der Hegel'— ſchen Schule bald eine eigenthümliche und oppoſitionelle Hal— tung in derſelben ein. In Berlin ſtand dieſe Philoſophie zu den herrſchenden Gewalten in Staat und Kirche in dem Verhältniß der entente cordiale, des herzlichen Einverſtänd— niſſes. Insbeſondere lebten Philoſophie und Religion auf dem beſten Fuß mit einander. Die Metaphyſik und die chriſt— liche Dogmatik hätten, ſo ſagte man, den gleichen Inhalt; nur werde, was im Dogma in der Form der Vorſtellung, für die Stufe der Einbildungskraft gefaßt ſei, in der Philoſophie in das Element des Begriffes, des reinen Gedankens er— hoben. In der Geſchichte wurde aller Accent auf die Ent— wicklung und Bewegung von Ideen gelegt, woneben der pragmatiſche Zuſammenhang, die realiſtiſche Wahrheit der einzelnen Begebenheit als durchaus bedeutungslos angeſehen wurde. Die jungen Führer der Tübinger Abzweigung waren darüber ganz anderer Anſicht. Einmal vermochten ſie wohl überhaupt nicht in dem Grade, in welchem es die ſtrenge Schule verlangte, die damals ſogenannte Verſtandesauffaſ— ſung der Dinge in ſich über Bord zu werfen; ſodann mußten ſie bald finden, daß das große Arcanum und Zauber— mittel des Syſtems, die dialektiſche Methode, ſich ohne be— ſondere Schwierigkeiten auch zu ganz andern Dienſten und in ganz andern Richtungen verwenden ließe, als wozu der

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Meiſter fie gebraucht hatte. Und ſo entwickelte ſich auf dem Boden der hieſigen Univerſität jener linke Flügel des Hegel'— ſchen Syſtems, der zuerſt die Fahne der hiſtoriſchen Kritik wieder entfaltet, der durch die damalige Vertrauensſeligkeit über den Einklang von Wiſſen und Glauben einen dicken und groben Strich gemacht hat und der durch den hiemit gegebenen Anſtoß, wie durch eine Reihe bedeutender Schrift— werke in der Kulturgeſchichte des deutſchen Volks für immer einen angeſehenen Plaz behaupten wird. Und da nun in meine eigene Studienzeit gerade ſowohl das erſte Aufkommen der Hegel'ſchen Philoſophie an unſerer Univerſität als jener erſte Abfall von der alten Schule trifft (der durch das Er— ſcheinen des Strauß'ſchen Lebens Jeſu bezeichnet wird) und da ich dieſen Dingen wenn auch nicht mit vollem Verſtändniß, doch wenigſtens mit vollem Intereſſe gefolgt bin, ſo erlaube ich mir aus meinen Erinnerungen Ihnen zu berichten, nicht was die Hegel'ſche Philoſophie war und lehrte, ſondern wie ſie auf uns wirkte. Ich wünſche kurz zu ſagen, einmal was uns daran anziehend, beſtechend, imponirend erſchien, ſodann was daran für uns unverſtändlich, unwirkſam, be— fremdlich oder gar abſtoßend war, und ſchließlich was nach Abwägung des Einen und Andern als bleibende Frucht jener Studien etwa in uns zurückgeblieben iſt.

Wir kamen damals vielleicht mit einem idealiſtiſcheren Zug auf die Hochſchule, als es heutzutag durchſchnittlich der Fall ſein mag, mit einem unklaren ahnungsvollen En— thuſiasmus für eine unbekannte Weisheit; etwa wie der Schüler im Fauſt wenn er ſagt:

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Ich wünſchte recht gelehrt zu werden Und möchte gern, was auf der Erden Und in dem Himmel iſt, erfaſſen, Die Wiſſenſchaft und die Natur.

Wir hegten noch den harmloſen Glauben, daß es eine volle und unverhüllte Wahrheit gebe, daß die Lehrer an den Hochſchulen ſie wüßten und vortrügen und daß es nur an uns hänge, ſie in uns aufzunehmen und zu begreifen.

Dieſem Verlangen nach einer aus dem Vollen geſchöpf— ten Wahrheit konnte nun nichts Willkommeneres, nichts Imponirenderes begegnen als die Hegel'ſche Philoſophie. Denn ſie iſt ein Syſtem im eminenteſten Sinne des Worts, von der univerſellſten Anlage und Conſtruction; ſie zieht alle Gebiete menſchlicher Erfahrung in ihren Kreis; ſie giebt Antwort auf alle Fragen. Ich glaube, daß man für alle Zeiten in der Hegel'ſchen Encyclopädie der philoſophiſchen Wiſſenſchaften das Werk eines großartig angelegten Geiſtes, einen logiſchen Aufbau des Kosmos von grandioſer Archi— tectonik und Symmetrie bewundern wird.

Und dieſer das geſammte Weltall umfaſſende Gedanken— bau war ein Werk aus Einem Guß wie kaum irgend ein zweites Syſtem. Faſt alle andern Syſteme ſehen ſich ge— nöthigt, dem Denken irgend eine unüberſteigliche, äußerlich gegebene Schranke gegenüberzuſtellen, die nicht aus dem Gedanken ſelbſt abzuleiten iſt, ſei es eine ewige Materie, ein Chaos blinder Naturkräfte, oder ein Ding an ſich, ein Wille, ein ewiger vorzeitlicher Ungrund oder was ſonſt, und das Denken war nur das formgebende, geſtaltende Princip ohne eigene Schöpferkraft. Das Hegel'ſche Syſtem hat allen

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Dualismus beſeitigt; es it der reinſte Monismus des Ge— dankens. Es eriftirt lediglich nichts als Geiſt, als das Abſolute, die Idee, die ewige Vernunft in den verſchiedenen Stufen und Momenten ihrer Selbſtentfaltung. Selbſt die ſtarren, unlebendigen, Zeit und Raum erfüllenden Geſtalten der Natur, die den ſchärfſten Gegenſaz zu allem Geiſtigen zu bilden ſcheinen, ſind doch auch nichts anderes als eine beſondere Art von Gedankenformen, die der Geiſt aus der Bewegung ſeines innerſten Weſens hervorgehen läßt. Man hat daher mit Recht die Hegel'ſche Lehre als das Syſtem des Panlogismus bezeichnet. Rein aus eigenen Mitteln, und ſcheinbar wenigſtens, ohne nach rechts und links auf die empiriſch gegebene Wirklichkeit hinüberzublicken, baut Hegel in einer unendlichen Reihenfolge von Denkbeſtim— mungen, deren jede einzelne mit Nothwendigkeit aus der vorangehenden folgen ſoll, die concrete Wirklichkeit vor un— ſerm ſtaunenden Blick auf. Das Wunder, wie einſt Gott die Welt aus Nichts geſchaffen hat, wiederholt ſich vor un— ſern Augen. Denn in der That nimmt auch der Hegel'ſche Gedankenbau ſeinen Ausgang von dem reinen Nichts und erzeugt durch die angeblich immanente Bewegung des Den— kens ſelbſt immer höhere und beziehungsreichere Begriffe, die aber zunächſt alle immer noch in dem ätheriſchen Ele— mente des reinen und abſtracten Denkens liegen. Es ſind dieß gleichſam die Gedanken des in ſich brütenden Gottes, die dem Akte der Weltſchöpfung vorausgehen. Denn nun, nachdem die Idee jene Reihe der allgemeinen nothwendigen Denkformen in ſich durchlaufen hat, da tritt ſie durch

einen wunderbar kühnen Sprung ihres Auslegers aus jenem luftigen Element der Abſtraction, das ihr nicht mehr genügt, heraus, entläßt ihre eigenen Denkmomente aus ſich zu geſondertem, ihr ſelbſt entfremdetem Daſein; ſie wird zur Natur. Die Natur iſt der verhüllte Geiſt, der Gedanke in ſeiner Selbſtentäußerung. Die Natur iſt auch Gedanke, aber ſie weiß es nicht. Sie ſpielt in einer un— endlichen Fülle der mannigfaltigſten Geſtalten, aber ihr Schaffen durchdringt ein Zug nach vorwärts, nach dem Lichte des Bewußtſeins und der Erkenntniß. Von den blinden und lebloſen Kräften ſteigt ſie zu den organiſchen Weſen auf, von einer Stufe zur andern, dabei ſpielend, variirend, oft ſcheinbar rückſchreitend, bis endlich in dem Bewußtſein des Menſchen der Durchbruch gelingt. Damit beginnt die Philoſophie des Geiſtes. Die ewige Vernunft kehrt aus ihrer Entfremdung im Naturleben zu ſich ſelbſt zurück; ſie findet ſich wieder, bereichert und verklärt, zur Stufe der Freiheit durchgedrungen. Aber alsbald beginnt wieder die neue Gliederung von Stufe zu Stufe; das in— dividuelle ſubjective Seelenleben iſt nur eine erſte, mangel— hafte Geſtalt der Idee, die ſich ſelbſt wieder gefunden hat; reicher iſt der Gedanke der Freiheit verwirklicht auf der Stufe des objectiven Geiſtes in den ſocialen Formen von Recht und Sitte, von Familie, Geſellſchaft und Staat, wie in der ſtetigen fortſchrittlichen Entwicklung der Weltge— ſchichte. Zur vollen Rückkehr in ſich ſelbſt, zum Abſchluß ihres unendlichen Kreislaufes gelangt die Idee in den Stufen des abſoluten Geiſtes, der Kunſt, der Religion, der

Philoſophie; hier beſchaut der Geiſt in ſeliger Freiheit fein eigenes ewiges Thun in verklärten Formen der Anſchauung, der Vorſtellung, des Begriffs.

So viel Dunkles, Anfechtbares und Unzulängliches dieſer Gedankengang auch im Einzelnen enthalten mag, daß er auf jugendliche, erkenntnißdurſtige Gemüther anregend, beſtechend, überwältigend zu wirken vermochte, daß wir glauben konnten, jener Iſisſchleier, der das Götterbild der Wahrheit verhüllt, ſei hier wenn auch nicht weggezogen doch gelüftet und aufgedeckt, iſt wohl begreiflich. Freilich blieb uns Vieles nur halb verſtändlich und oft genug mochte der Spruch Mephiſto's anwendbar ſein: Im Ganzen haltet euch an Worte.

Auf der andern Seite ſchien uns für die Wahrheit der Grundgedanken der Hegel'ſchen Lehre ihre Zuſammen— ſtimmung mit der unmittelbaren Erfahrung und Wirklich— keit ein ſtarkes Zeugniß zu ſein. Im Ganzen liegt ja bei allen philoſophiſchen Syſtemen ihre eigentliche Ueberzeugungs— kraft weniger in dem logiſchen Zwang, mit dem ſie uns ge— fangen nehmen, als in ihrer Bewährung im Gro

zen und Ganzen, in der Rechnungsprobe, die ſchließlich im Vergleich mit dem unmittelbaren Eindruck des Weltlaufes und der Geſammterfahrung herauszukommen ſcheint, in der Kleinheit des Reſtes, der am Ende als unerklärt übrig zu bleiben pflegt.

Eine ſolche Bewährung durch die praktiſche Rechnungs— probe ſchien nun der Hegel'ſchen Lehre in zwei wichtigen Beziehungen zu Statten zu kommen.

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Faſt alle andern Philoſophen waren zunächſt nur dar— auf bedacht geweſen, in dem ſteten Wechſel und der Flucht aller Erſcheinung das Beharrende und Bleibende aufzu— ſuchen, die feſten Pfeiler und Bögen zu bauen, zwiſchen welchen der ruheloſe Strom des Weltlaufes unaufhaltſam hindurchbraust. Die Flucht der Erſcheinungen ſelbſt wußten ſie nicht zu deuten; ſie nahmen ſie als eine gegebene That— ſache und Schranke hin, die gegenüber von der ruhig be— harrenden Idee oder Wahrheit nur als ein Scheinbares, Unweſentliches, oder wie Plato ſagt als das Nicht Seiende galt. Für Hegel dagegen gab es, wie für ſeinen Vor— gänger im grauen Alterthum Herakleitos den Dunkeln, überhaupt kein Sein, ſondern nur ein unendliches Werden. Nichts iſt bleibend als die Bewegung ſelbſt. Alles iſt Proceß und Entwicklung, das Glied einer Reihe, die Stufe einer Treppe, die nach oben führt. Unaufhörlich und nach allen Richtungen wiederholt ſich der Gang, daß ein Moment geſezt wird, dieſem ein Zweites entgegentritt und es auf— hebt, und daß aus dieſem Conflict ein Drittes, bereichert und vertieft hervorgeht. Alles Einzelne iſt einſeitig, relativ, mangelhaft, vorübereilend; die Wahrheit liegt nie im Ein— zelnen für ſich, ſondern immer erſt in der Reihe.

Wir waren damals gewöhnt, uns neben den Werken der Philoſophen, die wir ſtudiren ſollten, eines kleinen me taphyſiſchen Handbüchleins oder Catechismus zu bedienen, deſſen Sprüche uns weit verſtändlicher und geläufiger waren als die oft abſtruſen Formeln der Schule. Es war Göthes Fauſt. Und ſo überſezten wir uns die Hegel'ſchen Sätze,

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daß das Abſolute nicht Subſtanz ſondern Subject ſei, und in einem unendlichen dialectiſchen Proceß ſeine Momente ſetze und aufhebe, leichter in die Worte des Erdgeiſtes, der Fauſt zuruft:

In Lebensfluthen, im Thatenſturm

Wall' ich auf und ab, webe hin und her. Geburt und Grab ein ewiges Meer,

Ein wechſelnd Weben, Ein glühend Leben,

So ſchaff' ich am ſauſenden Webſtuhl der Zeit Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.

Daß Hegel dieſe Flucht und Vergänglichkeit aller Er— ſcheinungen nicht als einen irrationellen und unerklärt blei— benden Reſt bei Seite ſtehen ließ, ſondern gerade hierin die nothwendige Form und Methode der Wahrheit, das Weſen aller Entwicklung erkannte, durfte uns als ein un— beſtreitbarer Vorzug vor andern Syſtemen erſcheinen und war mit dem Eindruck, den eine unbefangene Betrachtung des Weltlaufes machte, weit leichter in Uebereinſtimmung zu bringen.

Noch in einer andern Beziehung ſchien dieſem Syſtem der Vorzug der praktiſchen Bewährung zuzukommen. Andere Philoſophen beſchäftigten ſich mit den allgemeinſten, ſublim— ſten Fragen der Erkenntnißlehre, der Logik, der Metaphyſik, der Ethik, welche, man mochte ſie ſo oder anders löſen, auf die unmittelbaren Forderungen und Probleme der Gegen— wart, auf die concrete Wirklichkeit, in der wir zu leben und zu handeln haben, nur durch Einſchaltung vieler Zwi— ſchenglieder Anwendung finden konnten. Sie legten gleich— ſam die Schätze ihrer Weisheit weit von unſern Wohn—

45 pläzen an abgelegenen Stellen nieder, wohin nur wenige, ungangbare und ſchwer findbare Wege führten. Hegel führte, um bei dieſem Bilde ſtehen zu bleiben, ſeine geiſtigen Errungenſchaften bis unmittelbar vor die Thüre unſeres Hauſes. Er geht zwar auch immer von abſträcten Denkbe— ſtimmungen aus, aber er kommt ſtets, oft in überraſchender Weiſe und nach wenigen Zwiſchengliedern bei den Aufgaben und Intereſſen des modernen Lebens, der gegenwärtigen Geſellſchaft an. Die Erſcheinungen der Gegenwart waren ihm überall nicht Zufälligkeiten, die dem Philoſophen ferne liegen, ſondern nach ſeiner ganzen Grundauffaſſung der Geſchichte der Höhepunkt, der momentane Schlußſtein einer fortſchrittlichen Entwicklung. Alles was wirklich iſt, iſt ver— nünftig, alles was vernünftig iſt, iſt wirklich; ſo lautet jener vielberufene und vielgeſchmähte Satz, der in Ver— bindung mit dem zweiten, vorhin erwähnten, daß jede ein— zelne Erſcheinung einſeitig und nur als Glied einer Ent— wicklungsreihe zu beurtheilen ſei, gegen die nächſtliegenden Einwände gedeckt, jedenfalls der prägnanteſte Ausdruck von Hegels tiefſinniger Originalität iſt. Für Hegel war die Gegenwart, wenn auch nicht die lezte, doch die neueſte, re— lativ höchſte Offenbarungsſtufe des Weltgeiſtes; wenn Alles Geiſt iſt und außer ihm nichts exiſtirt, ſo muß ja ein Glanz der Verklärung auf die Wirklichkeit fallen. Das Ideal iſt nicht in weiter Ferne, das Gute nicht in einem ewig uner— füllten Sollen zu ſuchen; ſondern es iſt da, als Errungen— ſchaft der weltgeſchichtlichen Entwicklung, als Geſez und Sitte, als Familie, Geſellſchaft und Staat. In dieſe gött—

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liche gegenwärtige Ordnung ſich einzuleben, an ihrer Fort— bildung mitzuwirken, den nächſten Forderungen des Tages, des Berufs, dem man ſich widmet, dem Kreis, in dem man lebt, dem Staat, deſſen Bürger man iſt, volles Genüge zu thun, das ft für Hegel der Kern aller Ethik. Was man uns in dem Religionsunterricht der Schule gelehrt, daß die Welt mit Allem, was darinnen ſei, ein Werk und Spiegel göttlicher Güte und Weisheit ſei, daß Alles was geſchieht nach Gottes Willen und weiſem Rathſchluß geſchehe, das ſchien uns jener Hegel'ſchen Lehre von der Vernünftigkeit alles Wirklichen und der Wirklichkeit alles Vernünftigen gar nicht ſo ferne zu ſtehen; es ſchien ja vielmehr hier nur ein Ernſt mit dieſer Anſchauung gemacht, den man ſonſt nicht zu machen pflege; es ſchien blos der Widerſpruch aus ihr entfernt, daß der Menſch fortwährend im Stande ſein ſoll, einen Strich durch die Rechnung Gottes zu machen und die Erfüllung der göttlichen Plane zu vereiteln.

Man hat der Hegel'ſchen Philoſophie den doppelten Vor— wurf gemacht, daß ſie das Subject, den Einzelnen zu hoch und zu niedrig ſtelle; zu hoch, nicht nur, weil ſie, wie alle pantheiſtiſchen Syſteme, dem Menſchen einen Antheil an dem unmittelbaren göttlichen Leben leiht, ſondern noch mehr, weil ſie in menſchlichen Thätigkeiten, in Kunſt, Religion, Philoſophie die höchſte Wirkungsform des abſoluten Geiſtes findet; zu niedrig dagegen, weil ſie rückſichtsloſer als irgend eine andere Theorie, die Individualität mit ihrem jubjec- tiven Fühlen, Meinen und Wollen den allgemeinen ſocialen und kosmiſchen Mächten unterordnet. Ich will hier nicht

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unterſuchen, was an dem einen und dem andern Vorwurf wahr und begründet iſt; aber das kann ich ſagen, daß uns jenes angebliche ſchwellende Gefühl eigenen Götterthums völlig unbekannt war; eine Eigenſchaft, die man nicht nur mit allen andern Menſchen, ſondern am Ende auch mit den Thieren, Pflanzen, Metallen zu theilen hat, könnte ja Nie— mand hochmüthig machen; und von unſerem eigenen philo— ſophiſchen Denken bildeten wir uns entfernt nicht ein, daß wir damit dem ewigen Weltgeiſt zu ſeinem Selbſtbewußt— ſein behilflich wären. Weit wirkſamer und hervortretender war die andere Seite der Sache, daß der Einzelne nur die flüchtige Welle, das verſchwindende Atom in dem unend— lichen Weltproceß ſei, ohne den Anſpruch auf eine ſelb— ſtändige Geltendmachung ſeiner Individualität, ohne Bürg— ſchaft für ihre Erhaltung und ihr Fortſchreiten zu höheren Offenbarungen. Dieſe Forderung einer unbedingten Re— ſignation hat für den jugendlichen Geiſt einen verführeri— ſchen Reiz, der ſich für das gereifte Lebens- und Ichgefühl wieder verliert. Es mag dieß dieſelbe pſychologiſche Urſache haben, aus welcher der Jüngling die von Kraft und Ge— ſundheit ſchwellenden Glieder, alle Hoffnungsträume einer reichen Zukunft leichter und williger der Gefahr und dem Kugelregen ausſezt, als der Gebrechliche, dem Gegenwart und Zukunft nur Trübes bietet. Der Stolz der Entſagung und opferwilligen Hingabe verleiht bei ſicherem Beſiz eine angenehme Schwellung des Selbſtgefühls.

Ich komme zu der unerquicklichſten und peinlichſten Seite des Studiums der Hegel'ſchen Schriften und Lehren,

zu der eigenthümlichen Form der Beweisführung und Ge— dankenentwicklung oder zu der ſogenannten dialectiſchen Me— thode. Wenn man ſich nemlich etwa vermaß, an einen ſtrikten Hegelianer die Frage zu ſtellen: aber womit beweist Ihr denn die Wahrheit Eurer Behauptungen, ſo erhielt man eine vornehm abweiſende, mit tiefen und dunkeln Orakelſprüchen verſezte Antwort, etwa folgenden Inhalts: was man ſo gemeinhin unter Beweiſen verſteht, jenes Hin— und Herwägen von Gründen und Gegengründen, jenes Zurückführen der Sätze auf gemeinſame bereits erwieſene oder anerkannte Ausgangspunkte, das gehört nur in die niedrige Sphäre des verſtandesmäßigen Erkennens. Für das philoſophiſche Denken hat es keine Berechtigung. Die Wahrheit erweist ſich durch die Darlegung ihrer ſelbſt; dem Begriff kommt eine eigene, immanente Bewegung zu, welcher ſich das Subject nur darbieten und aufſchließen kann, indem es ſeine eigenen willkührlichen Einfälle zurück— hält, und dieſe Bewegung wird ihrem inneren Weſen nach immer eine dreigliedrige ſein. Die erſte Stufe bildet dabei ſtets die unmittelbare, der gemeinen Vorſtellung entnommene Auffaſſung eines Gegenſtandes, wie er ſich aus der Wahr— nehmung, durch Aneinanderreihung verſchiedener Eigenſchaf— ten oder Merkmale ergiebt. Dieſe Stufe gehört noch der Verſtandesſphäre an. Nun bemächtigt ſich aber ein höheres Organ dieſes Stoffs, die Vernunft, und übt daran eine doppelte Function, einmal eine critiſche, negative, dialectiſche, indem ſie in jenen vom Verſtand angenommenen Merkmalen innere Widerſprüche entdeckt und heraushebt und damit den

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Begriff in ſein Gegentheil verkehrt, jo daß das was man feſt zu haben glaubt, wie zwiſchen den Händen zerrinnt, ſodann aber auch eine poſitive, ſpeculative Thätigkeit, indem ſie es bei dieſem negativen Reſultat nicht bewenden läßt, ſondern zu einem neuen Begriff, der höheren Einheit oder Vermittlung jener Gegenſätze fortſchreitet, mit welchem nun zugleich der Ausgangspunkt für eine Wiederholung ganz derſelben dreigliedrigen Bewegung gegeben iſt; wie ſich denn in der That das ganze Syſtem von A bis Z durch un— zählige Paragraphen in ſtets wiederkehrendem triadiſchem Rythmus fortwindet.

Ich kann nicht ſagen, wie viel Mühe und Kopfzer— brechen es uns gekoſtet hat, dieſe ſogenannte ſpeculative Methode Hegels auch nur ſoweit in uns aufzunehmen, um zu begreifen, wie ſie denn eigentlich von ihrem Urheber gemeint war. Es fragte einer den andern kopfſchüttelnd: verſtehſt du es denn? bewegt ſich der Begriff in dir von ſelbſt und ohne dein Zuthun? ſchlägt er in ſein Gegentheil um und ſpringt daraus die höhere Einheit der Gegenſätze hervor? Wem man dieß zutraute, der galt für einen ſpe— culativen Kopf. Wir andern ſtanden nur auf der Stufe des Denkens in endlichen Verſtandescategorieen. Denn das Prädicat verſtändigen Denkens, durch welches ſich jezt Jeder— mann geehrt findet, galt damals ſonderbarer Weiſe für einen Tadel. Wir ſuchten den Grund, warum wir dieſe Methode nicht recht verſtehen konnten, in der Stumpfheit unſerer eigenen Begabung und waren nicht ſo keck, ihn in der Unklarheit und den Mängeln der Methode ſelbſt zu

Rümelin, Reden u. Aufſätze. 4

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vermuthen. Immerhin aber war es nicht allzuſchwer, ſich jenen dreigliedrigen Schematismus anzueignen; und es fehlte in keinem der philoſophiſchen oder theologiſchen Aufſätze, die wir zu fertigen hatten, die obligate Dreitheilung, wobei gewöhnlich der erſte Theil die herkömmliche Auffaſſung, z. B. das kirchliche Dogma, darlegte, der zweite daran allerhand Bedenkliches und Widerſprechendes nachwies, der dritte oder ſpeculative Theil aber, ſo gut es gehen mochte, die ſoge— nannte höhere Einheit oder Vermittlung der Gegenſätze vortrug.

Hätten wir damals ſchon jene „logiſchen Unterſuchungen“ eines neueren Forſchers gekannt, die der dialectiſchen Me— thode Hegels den Todesſtoß verſezt haben, ſie hätten uns vielleicht einen großen Dienſt erwieſen. Ich kann aber freilich nur ſagen, vielleicht. Denn es lebte und wirkte ja damals in Tübingen ſelbſt ein Vertreter der alten und guten Logik, der das Blendwerk der neuen Dialectik, das Spiel mit dem Sein, Nichts und Werden, klar durchſchaute und darlegte, der aber den jungen Adepten der neuen Weis— heit einer veralteten Schule anzugehören ſchien, zumal da er ſeine ſcharf gedachten Sätze in ſchmuckloſer, von Schema— tismus nicht ganz freien Weiſe vorzutragen pflegte.

Außer einem kleinen Häuflein von dem alten Stamm der Schule befaßt ſich heute Niemand mehr mit dieſer dia— lectiſchen Methode; ſie gilt als eine Verirrung, als ein mit allzugroßer Zuverſicht-und Kühnheit unternommenes Atten— tat gegen die alte, weltgiltige, ewige Logik. Niemand glaubt mehr, daß der menſchliche Intelleet in zwei Vermögen,

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Verſtand und Vernunft, zerfalle, von denen das eine für wahr halten kann und muß, was dem andern als falſch erſcheint. Seit Jahrtauſenden hatte die Menſchheit nach dem erſten aller Geſeze gedacht, daß Widerſprechendes nicht ſein und nicht gedacht werden könne, daß niemals ein Ur— theil und das ihm entgegengeſezte zugleich wahr ſeien. Sie wird auch nach und troz Hegel darnach die weiteren Jahr— tauſende fort denken, die ihr noch beſchieden ſein mögen. Was Hegel gegen die Sätze des Widerſpruchs und des ausgeſchloſſenen Dritten vorbringt, ſind Mißverſtändniſſe oder bereits Verlezungen derſelben. Faſt auf jeder Seite der Hegel'ſchen Schriften iſt zu leſen, daß A auch non A ſei. Faſt auf jeder Seite werden verwandte, aber ſcharf zu ſcheidende Begriffe, wie Gleichheit, Einheit, Identität auf der einen, Ungleichheit, Gegenſaz, Gegentheil, Wider— ſpruch auf der andern Seite unter ſich verwechſelt und ver— ſchoben. Niemand wird ferner daran glauben, daß die Begriffe ſelbſt in ihm denken, daß es überhaupt ein Denken oder ein Gedachtes geben könne, ohne ein Etwas, was denkt.

Wenn wir es uns begreiflich machen wollen, wie ein ſo großer Denker dazu kam, an einer ſo eigenthümlichen Verirrung ſein Leben lang feſtzuhalten, ſo müſſen wir uns in die geiſtige Atmoſphäre jener claſſiſchen Periode zurück— verſetzen. Unſere großen Philoſophen von Kant an glänzen wohl überhaupt mehr durch die Tiefe, den Scharfſinn, die Kühnheit, als durch die Klarheit und Präciſion ihres Den— kens. Sie griffen gleich nach den höchſten Problemen, ſie tauchten in die unterſten Tiefen der Metaphyſik; den Unter—

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ſchied von Verſtand und Vernunft ſteigerte man allgemein in einer Weiſe, die wir nicht mehr verſtehen. Auch Kant hatte in den Antinomieen widerſprechende Sätze als gleich wahr nachzuweiſen geſucht. Der verführeriſche Reiz der myſtiſchen Dreizahl, des Spiels mit Eins und Drei und Drei und Eins macht ſich vielfach geltend. Auch Kant liebte die dreigliedrige Eintheilung. Fichte hat auf Theſis, Antitheſis und Syntheſis ſein ganzes Syſtem aufgebaut. Die Philoſophen waren faſt alle ehemalige Theologen; die eracten Wiſſenſchaften und ihre Methoden ſtanden weit nicht ſo hoch wie jezt. Dazu war man ohne viel Bedenken ſtets bereit, die Merkmale des Seins auch auf das Denken zu übertragen, ſogar von einer Einheit des Seins und Denkens zu reden. In der realen Welt, der phyſiſchen und ſo— cialen, iſt es ja ſo, daß Alles fließt, daß Extreme in ein— ander übergehen, daß polare Kräfte ſich bekämpfen und aus ihrem Streit ein neues Drittes hervorgeht. Dem Welt— gang ſelbſt läßt ſich in der That ein Analogon jener dia— lectiſchen Methode beilegen. Beim Uebertragen auf den Denkproceß konnte man dann leichter überſehen, daß Ge— danken fixirte Bilder ſind, und daß, wenn man dem Denken, den Begriffen, die Flüſſigkeit der realen Dinge beilegt, man denſelben Fehler begeht, wie wenn man ſagt, daß die gemalte Roſe mit der wirklichen verwelke, das Porträt mit dem Original alt werde und ſterbe.

Hegel hatte geglaubt, mit ſeiner dialectiſchen Methode dem menſchlichen Denken einen feſten Gang von innerer Nothwendigkeit zu leihen und hat ſich darin gewaltig ge—

täuſcht. Sie erwies ſich vielmehr als ein Hauptſchlüſſel, ein Paſſepartout, der ſich beliebig nach jeder Richtung ver— wenden ließ. Der eine ſeiner Schüler hatte vermittelſt derſelben die lutheriſche Dogmatik ſtreng nach dem Richt— ſcheit der ſymboliſchen Bücher conſtruirt; andere warfen damit das Chriſtenthum und alle Religion über Bord. Hegel hatte in politiſchen Dingen eine ſtreng conſervative Rich— tung eingehalten, manche ſeiner Schüler huldigten den de— ſtructivſten Anſichten. Es ging zulezt Alles aus den Fugen und keine Schule hat ſich in ſo radicale Gegenſätze geſpalten.

Auch für die Streitfrage über Hegel's Stil und Dar— ſtellung bildet dieſe Methode das entſcheidende Moment. Niemand wird läugnen können, daß ſich in Hegel's Schriften Stellen von großer Sprachgewalt finden, weittragende Ge— danken in ſchlichtem monumentalem Ausdruck, die über— raſchendſten und geiſtvollſten Vergleichungen. Aber man wird ſolche Stellen doch faſt nur da finden, wo ſein Geiſt ſich frei und ausgeſpannt von dem Joch der Methode be— wegen kann, in den Vorreden, den Zuſätzen und Excurſen ſeiner Paragraphen. Wo das monotone Einerlei des drei— taktigen Stechſchrittes beginnt, wird es dem Leſer ſelten ſo wohl und wir vermiſſen oft ſchmerzlich genug jenes Luſtge— fühl, mit dem wir einer klaren, beflügelten, überwältigenden Gedankenentwicklung zu folgen pflegen.

Und ſo iſt es auch zu wenig geſagt, wenn man die dialectiſche Methode nur die Achillesferſe des Syſtems ge— nannt hat. Dieß Bild ſezt einen ſonſt makelloſen und un— verwundbaren Körper voraus, der nur eine einzige ſchwache

Stelle hat. Die Hegel'ſche Methode gleicht aber mehr einem ſchädlichen Stoff oder Ausſaz, der den ganzen Körper bis in die innerſten Poren durchzieht und durchdringt, und allen Theilen ein krankes Element beimiſcht. Die Nach— welt wird Hegel's Schriften um dieſer Methode willen un— lesbar finden.

Dieß führt zu der lezten Frage: was bleibt überhaupt demjenigen aus dem Studium der Hegel'ſchen Werke als feſte Errungenſchaft übrig, der in jener dialectiſchen Me— thode ein Blendwerk, ja eine Verlezung der unvergänglichen logiſchen Grundgeſeze erkannt zu haben glaubt, der dem ganzen Syſtem jede Beweiskraft abſprechen muß? Erlauben Sie mir, darüber ein individuelles Votum noch in der Kürze auszuſprechen. Man kann die Aufgabe des menſch— lichen Denkens nicht großartiger und univerſaler auffaſſen, als es Hegel gethan. Denn ein höheres Ziel können wir uns nicht vorſtellen, als im Weltall die gegliederte Offen— barung der ewigen Vernunft, des Einen und höchſten Geiſtes darzulegen, wenn wir auch nie den Zweifel bewältigen werden, daß ſich Wirklichkeit niemals aus rein intellectuellen Vorgängen erklären laſſe; und wenn irgendwo möchte hier der Spruch gelten: in magnis voluisse sat est. Der Stufengang dieſer Offenbarungen durch die verſchiedenen Gebiete und Ordnungen des unbewußten und bewußten Lebens iſt von keinem Denker beſſer und eingehender nach— gewieſen worden. Der Gedanke, daß nichts ſtarr und feſt, ſondern Alles in ſtetem Fluß und Werden begriffen iſt, war nicht neu, aber die Idee der Entwicklung wurde von keinem

der früheren Philoſophen tiefer und fruchtbarer erfaßt. Ebenſo hat Hegel in einer Reihe einzelner Zweige der Philoſophie ſchöpferiſch und bahnbrechend gewirkt. Seine Leiſtungen ſind hier allerdings von ſehr ungleichem Werth. Seine Logik wird nur als ein intereſſanter aber mißlungener Verſuch gelten, die alten Denkgeſeze umzugeſtalten, die all— gemeinen Begriffe und Denkformen, welche ſich uns theils aus der Natur unſerer eigenen Denkorgane, theils aus dem Stoff der Wahrnehmungen ergeben, ſo an einander aufzu— reihen, daß von dem einfachſten zum reichſten Begriffe fort— gegangen und jede neue Stufe rein aus den vorangegange— nen abgeleitet wird. Hegel's Naturphiloſophie ſteht den heutigen Methoden der Naturforſchung am fremdeſten gegen— über; ſie zeigte, wie gefährlich alles Conſtruiren realer Er— ſcheinungen aus allgemeinen Begriffen iſt; denn Hegel hat die falſchen und die richtigen Anſichten ſeiner Zeit in gleicher Weiſe als Dentnothwendigkeiten deducirt. Gleichwohl hat der Grundgedanke, die Natur als erſtarrten, nach dem Licht des Bewußtſeins emporringenden Geiſt zu betrachten, eine tiefere Berechtigung, die durch die Unvollkommenheiten der einzelnen Deutungen nicht in Frage geſtellt wird. Die Pſychologie iſt das Feld, in welchem Hegel's Leiſtungen am wenigſten original und ſchöpferiſch ſind. Sein Geiſt bewegte ſich zu ausſchließlich in den ätheriſchen Schichten der allgemeinen Begriffe, als daß er für die verſchlungenen Windungen und Regungen der individuellen Seele das rechte Intereſſe und Verſtändniß hätte finden können. Er ſah hier nur die Sphäre des Zufälligen und warnt davor,

die Eigenthümlichteiten des Menſchen zu hoch anzuſchlagen. Es bleiben drei Gebiete übrig, in welchen Hegel's Leiſtungen Epoche machend und von unvergänglicher Geltung ſind, die Aeſthetik, die Rechtsphiloſophie, die Philoſophie der Geſchichte.

Seine Aeſthetik iſt ein bahnbrechendes Werk, das zum erſtenmal den ganzen Stoff geſtaltend und ordnend bewältigt hat. Die dialectiſche Methode war hier bei rein intellec— tuellen Vorgängen, „in den heitern Regionen, wo die reinen Formen wohnen,“ fruchtbarer und berechtigter als anderswo. Man wird heutzutag kaum irgend ein äſthetiſches Buch oder Urtheil finden, in welchem nicht Hegel'ſche Gedanken offen oder verſteckt eine Hauptrolle ſpielten. Dieß Verdienſt wird dadurch nicht geſchädigt, daß die Gegenwart das Bedürfniß hat, die äſthetiſchen Begriffe nicht mehr aus den fernen Wolken der Idee herunterzuholen, ſondern von unten, auf der Grundlage phyſiologiſcher und pſychologiſcher Thatſachen aufzubauen.

Hegel's Rechtsphiloſophie iſt in formeller Beziehung nach Gliederung und Anordnung des Stoffs das ſchwächſte unter ſeinen Werken, aber zugleich das reichſte an neuen und fruchtbaren Gedanken. Man hatte das Gute bis dahin nur entweder aus dem Gewiſſen der Einzelnen oder aus einem nicht weiter erklärlichen göttlichen Gebote, den Staat ebenſo nur entweder durch ein Zuſammentreten vieler Einzel— willen oder durch beſondere göttliche Anordnung zu erklären gewußt. Hegel ſtellte den neuen Begriff des objectiven Geiſtes, der ſubſtantiellen Sittlichkeit auf. Das Gute iſt ihm nicht ein bloßes Ideal, das nie und nirgends zu er—

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faſſen iſt, ſondern es iſt da, es iſt realiſirt in den ſocialen Mächten und Ordnungen, die, nicht von menſchlicher Will— kühr abhängig, auf ſich ſelbſt ruhen und als die höheren Offenbarungsſtufen des Weltgeiſtes über der niedrigeren Sphäre des ſubjectiven Geiſtes aufgelagert ſind. Familie, Geſellſchaft und Staat ſind die realiſirte Sittlichkeit; der Staatsidee ſelbſt insbeſondere hat Hegel die verlorene und vergeſſene Hoheit und Majeſtät wieder zurückgegeben; er unterwirft nicht den Staat dem Menſchen, ſondern den Menſchen dem Staat. Der Staat iſt nicht, wie nach mo— dernen Theorieen, einem in periodiſchen Abſtimmungen be— ſtehenden allgemeinen Volks- oder Mehrheitswillen unter die Füße geworfen, ſondern ruht auf ſeiner eigenen Au— torität, die ihm Niemand leihen oder nehmen kann. Die Freiheit iſt nicht Willkühr und Belieben des Einzelnen, ſondern die Verwirklichung der ſittlichen ſocialen Ordnung. Auch wem dieſe Anſchauungen Hegel's ganz aus dem Herzen genommen ſind, der wird doch immer noch etwas Weſent— liches darin vermiſſen. Die ſocialen Ordnungen ſind bei Hegel über der Sphäre des individuellen Lebens wie ein höheres Stockwerk ausgebreitet, ungefähr wie die Thierwelt über der Pflanze, das Menſchliche über dem Thieriſchen. Unſer moderner Naturalismus verlangt wenigſtens, daß ihm die Treppen aufgezeigt werden, die von einem Stock— werk zum andern führen. Jener objective Geiſt, jene ſitt— lichen Subſtanzen ſind uns nur verſtändlich als die Maſſen— wirkungen der ſocialen und metaphyſiſchen Triebe, welche

neben den animaliſchen und egoiſtiſchen zur natürlichen Aus— ſtattung der individuellen Seele gehören.

Noch größer vielleicht iſt das Verdienſt Hegel's um ein philoſophiſches Verſtändniß der Geſchichte. Seine ganze Methode, die Grundanſchauung, überall Entwicklung, Pro— ceß, Fortſchritt zu ſehen, hatte hier ihre eigentliche Hei— math und Berechtigung. Die Aufgabe, in dem Gang der Univerſalgeſchichte feſten Plan und Sinn zu finden, war zuvor nur als ein Poſtulat behandelt oder in allge— meinen Phraſen abgefertigt worden. Hegel's Philoſophie der Geſchichte, eine kleine, nur ſkizzenhafte Arbeit und in der Deutung des Einzelnen vielfach nicht genügend, iſt doch der erſte bedeutende Verſuch, auch dieß unabſehbare, un— faßbare Gebiet dem menſchlichen Erkennen zu erobern. Der Grundgedanke, in der Völkergeſchichte eine Reihe von Welt— anſchauungen von ſteigender Vertiefung, von ſtetem Fort— ſchritt im Sinn der Freiheit, der Herrſchaft des Geiſtes über das Natürliche, ſodann die führenden Volksgeiſter als die Träger und Darſteller dieſer Weltanſchauungen zu be— trachten, iſt bewußt und unbewußt in die ganze ſeitherige Geſchichtsbehandlung übergegangen. Der größte Hiſtoriker unſers Volks und Zeitalters mag zwar mit Recht ſpotten über alle philoſophiſchen Conſtructionen von Thatſachen, doch beſteht ſeine eigene größte Leiſtung eben darin, dem Welt— gang ſeine dialectiſche Methode abzulauſchen und uns in künſtleriſcher Darſtellung vorzuführen.

Der Sinn für politiſche und hiſtoriſche Erſcheinungen war überhaupt nächſt der immenſen Befähigung zu abſtrac—

tem Denken das ſtärkſte Element in Hegel's geiftiger Aus— ſtattung. Er ſteht hierin über allen neueren Philoſophen. Vor Fichte's überfliegendem Idealismus hat er den Um— fang und die Gründlichkeit empiriſchen Wiſſens voraus. Es kam ihm darin vielleicht auch die praktiſche Schule zu Statten, die dem Altwürtemberger unſere damals ſehr be— wegten Verfaſſungskämpfe boten. Am Anfang dieſes Jahr— hunderts hat Hegel den Entwurf einer deutſchen Reichs— verfaſſung ausgearbeitet, in welchem die militäriſch-diplo— matiſche Einheit und die Gemeinſamkeit des Rechts- und Verkehrslebens für die unerläßlichen Hauptpunkte erklärt werden, freilich mit dem Zuſaz, daß etwas derartiges in Deutſchland mit friedlichen Mitteln niemals zu erreichen ſein werde. Dem preußiſchen Staat, in deſſen jähem Sturz durch die Jenaer Schlacht er eine gerechte Strafe politischer Unfähigkeit erkannte, wendete er ſich nach ſeiner Wieder— geburt mit voller Wärme und einſichtsvoller Würdigung zu; er ſah in ihm die Keime und Elemente des Staats, welcher der Idee entſpräche. Ja ich ſage nicht zu viel, wenn ich in den großen Ereigniſſen unſerer Tage auch einen Triumph, eine Bewährung Hegel'ſcher Staatsweisheit ſehe. Das Volk, dem die Hoheit und Autorität der Staatsidee ganz abhanden gekommen, das ſeit zwei Generationen den Staat zum Spielball der Parteien und Leidenſchaften machte, das mal ſeine Staatsform erneuert hat, und nie anders als durch Gewalt und Meineid von oben oder unten, das in den wechſelnden Stimmungen haltloſer Maſſen noch die einzige Quelle aller öffentlichen Ordnung ſieht, warf in

frevelhaftem Uebermuth dem Staate den Handſchuh hin, der vor Allem auf das Pflichtgefühl und die Hingabe Aller an das Gemeinweſen aufgebaut iſt, der allein ſich das koſt— bare Gut eines ächten, nicht ungebundenen aber ſelbſtän— digen Königthums zu bewahren wußte, deſſen größter König ſich nur des Staates erſten Diener nannte, deſſen Fürſten— haus, wie kein anderes, von dem Bewußtſein eines Berufes, einer geſchichtlichen Miſſion durchdrungen blieb. Der Kampf bot der erſtaunten Welt das Schauſpiel, wie wenn der ei— ſerne Topf mit dem thönernen zuſammenſtößt; das eine Volk liegt in Scherben zerſchmettert am Boden, mit Einem Schlage des höchſten ſocialen Gutes, des Staates ſelbſt ver— luſtig, das Chaos, den Abgrund der Anarchie vor Augen; das andere ſteht aufrecht, mit Siegeskränzen ohne gleichen überdeckt, eine glänzende Epoche ſeiner Geſchichte abſchließend, eine noch glänzendere eröffnend.

Noch in anderer Weiſe iſt gerade jezt die Erinnerung an Hegel eine beziehungsreiche. Er iſt ein Vermittler zwi— ſchen Nord und Süd unſeres Vaterlandes. Bei uns ge— boren und gebildet, hat er dort gelehrt und gewirkt. Dem Norden hat er die neue Lehre von der ſelbſtändigen Hoheit der Staatsidee verkündigt; Tauſenden, die im öffentlichen Dienſt des preußiſchen Staates ſtanden oder noch ſtehen, hat er die ſelbſtloſe Hingabe an die Allgemeinheit, an die ſittlichen Subſtanzen, und den Maßſtab der höchſten Ge— ſichtspunkte für alles Wirken im Staat gelehrt. Ein ſchwä— biſcher Denker hat früh und zuerſt in dem preußiſchen Staat die Anlage zu einem höheren weltgeſchichtlichen Beruf ge—

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ahnt, hat über ihn gleichſam die Weihe und den Segen des deutſchen Gedankens ausgeſprochen. Es handelt ſich heute um neue und dauernde Bande zwiſchen Süd und Nord. Wozu unſer großer Landsmann uns rathen würde, womit wir ſein 100jähriges Gedächtniß am würdigſten feiern und ehren könnten ich brauche es nicht auszuſprechen.

Ueber das Redtsgefühl.

6. Nov. 1871.

Wenn uns Jemand auf die Frage: was iſt das Recht? die Antwort giebt: was im Staat geſezliche Geltung hat, jus est quod jussum est, ſo mag dieſe Auskunft immerhin für den Hausbrauch zureichen und der praktiſche Juriſt, wofern er überhaupt ein Bedürfniß nach einer ſolchen all— gemeinen Begriffserklärung empfindet, wird vielleicht mit dieſer ſein Lebenlang auskommen können. Gleichwohl zeigt ſchon ein kurzes Nachdenken, daß jene Definition an dem ſchlimmſten Fehler leidet, ſich im Kreis zu drehen, und uns kaum etwas Weiteres ſagt, als wenn ſie einfach hieße: Das Recht iſt das Recht. Denn die Geſeze fallen ja nicht vom Himmel herab, ſondern die Menſchen müſſen ſie machen, und, damit die Geſeze das Recht enthalten können, es vor— her in ſie hineinlegen, alſo ſonſt woher nehmen. Da wir uns auch niemals bedenken, manche Geſeze als ſchlechte und ungerechte zu bezeichnen, ſo müſſen wir offenbar in uns ſelbſt einen Maßſtab haben, um das Recht von dem, was nicht Recht iſt, zu unterſcheiden. Und wenn wir weiter nach dieſem Maßſtab fragen, ſo ſpricht man uns von einem ungeſchriebenen Natur- oder Vernunftrecht, das wir in uns

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tragen, von einer Rechtsidee, einem Rechtsſinn, Rechtstrieb, Rechtsbewußtſein, Rechtsgefühl. Und von einer ſolchen in dem Innern des Menſchen enthaltenen Wurzel oder Quelle des Rechts ſprechen nicht nur die Laien und die Philoſophen, ſondern auch die Juriſten ſelbſt können ſich dieſer Hypotheſe nicht entſchlagen.

Einer der größten Meiſter des Fachs, der Stifter der hiſtoriſchen Rechtsſchule, führt alles Recht in lezter Inſtanz auf das in einem Volk lebende gleiche Gefühl einer inneren Nothwendigkeit zurück, das ſich nicht weiter erklären laſſe; und es zeigt ſich damit, daß dieſelbe Wiſſenſchaft, die ſich ihrer logiſchen Stärke, ihrer klaren und präciſen Begriffe mit beſonderem, nicht unberechtigtem Stolze zu rühmen pflegt, ihre letzte Stütze und Beglaubigung aus dem nebel— hafteſten Elemente unſeres Seelenlebens, aus einem Gefühle, welches ſich einer weiteren Erklärung entziehe, ableiten ſoll.

Um alſo zu erfahren, was das Recht ſei, werden wir von den Juriſten weiter gewieſen an die Pſychologen, um dieſen die Fragen vorzulegen: was iſt und wo ſteckt jenes eigenthümliche Etwas in uns, aus dem wir das Recht ſchöpfen und bemeſſen? iſt es ein Gefühl oder ein Gedanke, ein Sinn oder ein Trieb, ein Einfaches oder ein Zuſam— mengeſeztes? was ſagt es aus und wieweit reicht ſeine Wirkung und Bedeutung für Leben und Wiſſenſchaft? Allein wenn wir nun die pſychologiſchen Lehrbücher nachſchlagen, ſo werden wir in den meiſten gar keine, in den andern theils unzulängliche, theils unter ſich verſchiedene Antworten auf jene Fragen finden; insbeſondere werden wir uns bald

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in die Lehre von den Erkenntnißkräften, bald in die vom Willen, bald in die von den Gefühlen verwieſen ſehen.

Erlauben Sie mir, daß ich es in der Kürze verſuche, eine Antwort auf jene Frage zu geben, daß ich dabei fremde Anſichten unerwähnt laſſe, ſowohl die, denen ich beipflichte, als die, denen ich abgeneigt bin, und daß ich dabei einige allgemeine Sätze als Poſtulate oder Lehrſätze vorausſchicke. Denn es iſt unvermeidlich, etwas weiter aus— zuholen. Ich wüßte aus der ganzen Pſychologie keinen einzigen hieher bezüglichen Saz zu nennen, auf welchen man ſich als auf einen allgemein zugeſtandenen berufen dürfte.

Spinoza ſagt einmal: der Menſch erſtrebt, will, ver— langt oder begehrt nichts deßwegen, weil er es für gut hält, ſondern umgekehrt, weil er es erſtrebt, will, verlangt oder begehrt, hält er es für gut. Ich möchte dieſem Saz eine weit größere Tragweite zuſchreiben, als die ſein Autor ſelbſt ihm gab, und ihn gerade heutzutage, wo es eine ſo vorherrſchende Uebung iſt, alle pſychiſchen Vorgänge von den Vorſtellungen aus zu conſtruiren und die Seele als einen paſſiven Tummelplaz innerer Bilder zu deuten, an die Spitze aller pſychologiſchen Lehrbücher ſchreiben. Alſo: der Menſch will nicht etwas, weil er es für gut hält, jon- dern weil er es will, nennt er es gut.

Der Intellect, um dieſen neuerlichen und bequemen Ausdruck für das Ganze unſerer Erkenntnißkräfte zu ge— brauchen, iſt nicht das Primäre und Leitende in uns, ſon— dern er nimmt nur eine ſecundäre und dienende Stellung ein. Alle ſeine Thätigkeiten ſind nur formeller Art, und

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beſtehen in einem fortwährenden Bilden und Umbilden, Verknüpfen und Unterſcheiden nach ſtets gleichen Formen und Geſezen. Seine Richtung, ſein Stoff wird ihm durch den Willen, oder wie ich lieber ſage, da es kein Wollen im Allgemeinen geben kann, durch die Triebe geſezt. Er iſt für ſich intereſſelos und keines urſprünglichen Werthurtheils fähig; und ſo wenig er uns von einem Wein oder einer Speiſe zu ſagen wüßte, ob ſie wohlſchmeckend ſind, wenn ſich nicht an die Reize unſerer Zungen- und Gaumennerven eine angenehme Empfindung anknüpfte, eben ſo wenig ver— möchte er uns anzugeben, was gut oder ſchön, ja ſelbſt nicht was wahr iſt, wenn ſeinen Gebilden nicht eine Scala von eigenthümlichen Gefühlen der Luſt oder Unluſt zur Seite gienge. Die Triebe, die als organiſche Reize oder nach Art derſelben wirken und durch einen ununterbrochenen Strom von Gefühlen ihrer Befriedigung oder Nichtbefrie— digung mit einem Centralpunkt unſeres pſychiſchen Lebens in Verbindung ſtehen, find die Directiven des Intellects und die Kräfte, die das ganze, bunte und verworrene Spiel unſerer inneren Vorgänge wie an unſichtbaren Fäden leiten und beherrſchen.

Daß es ſich bei den Thieren ſo verhält, die Triebe das Leitende, die intellectuellen Kräfte das Dienende ſind, giebt Jedermann zu. Und auch für jene Millionen, die ſich nach des Dichters Wort nur beſchäftigen, daß die Gat— tung beſtehe, die ihr Lebenlang über die Motive von Hunger und Liebe, von Erwerb und Bequemlichkeit nicht hinaus— kommen, dürfte es nicht allzuſchwer ſein, dieß Zugeſtändniß

Rümelin, Reden u. Aufſätze. »

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zu erlangen. Aber für die höheren Gebiete menschlicher Beſtrebungen, wie Religion und Moral, Kunſt und Wiſſen— ſchaft, iſt, obgleich es dem Sprachgebrauch ganz geläufig iſt, von ſittlichen Trieben, von einem Wiſſens- und Erkenntniß⸗ trieb, von einem religiöſen Trieb zu reden, doch die Neigung vorherrſchend, ſie aus intellectuellen Vorgängen oder, als ob damit etwas erklärt wäre, aus der Erfahrung und ge— ſchichtlichen Entwicklung abzuleiten, gleichſam wie wenn die Form eines Triebs für dieſe Dinge nur eine trübe und unwürdige Quelle wäre. Ich muß geſtehen, daß ich die Einſicht in das Weſen der Triebe, in den Primat des Willens als den eigentlichen Schlüſſel zum Verſtändniß der einzelnen Menſchenſeele wie der Geſchichte unſeres Geſchlechts betrachte, und daß mir jene höchſten Güter der Menſchheit

wie in die Luft geſtellt und der beſtändigen Gefahr ihres

Untergangs ausgeſezt erſcheinen würden, wenn ich ihre Wurzel nur in dem ſchwankenden Elemente wechſelnder Vor— ſtellungen und zerfahrener Meinungen, nicht in feſten An— ſätzen unſeres Willens, in unabweisbaren und unverlierbaren

Forderungen unſeres Gemüthes ſuchen dürfte. Und wenn

dem ſo wäre, wenn Triebreize von höherer Natur zur menſchlichen Mitgift gehörten, dann wären uns diejenigen, welche nur eine beliebige Anzahl von Jahrtauſenden zur Verfügung fordern, um die Menſchenſeele aus der des Affen und des Protamnion allmälig herauswachſen zu laſſen,

vor Allem einen Beweis dafür ſchuldig, wie jemals durch

den Kampf ums Daſein und das Mittel der Zuchtwahl der Trieb des Mitleids, das Gewiſſen, die Luſt am Schönen,

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der Drang nach Wahrheit, das Suchen der Gottheit habe ent— ſtehen können; ſie müßten uns begreiflich machen, wie über— haupt in ein Geſchöpf ganz neue Triebe, neue Quellen von Luſt— und Unluſtgefühlen hereinkommen können, ohne von Anfang an wenigſtens in ſtillem Keim darin verborgen zu liegen.

Der Vorzug des Menſchen vor dem Thier beſteht für dieſe Auffaſſung weit weniger in einer ſchon urſprünglich höheren Intelligenz, als in dem reicheren, vielgeſtaltigeren Triebleben, deſſen mannigfache Combinationen und Conflicte dem Intellect zahlreichere und ſchwierigere Aufgaben ſtellen, ihn zu immer höheren Leiſtungen anſpornen und durch Feſt— halten und allmäliges Anſammeln ſeiner Errungenſchaften im Lauf der Jahrhunderte weit über ſeine erſte Stufe hin— ausheben. Denn der Intellect iſt das Element der Bildung und des Fortſchritts; während jede Generation wieder mit den gleichen Trieben geboren wird, verfeinern ſich nur die Befriedigungsmittel des Trieblebens, weil der Intellect mit jedem Geſchlecht an einer neuen und höheren Stufe einſezt und ſeine Arbeit beginnt. Im Menſchen ſind aber nicht nur die animaliſchen Triebreize der Selbſterhaltung und Selbſterweiterung, des Geſchlechts- und Gattungslebens, der geſelligen Gruppirung in reichſter Gliederung vereinigt, ſon— dern zu dieſem Complexe elementarer Grundkräfte geſellen ſich nun noch einige weitere Triebreize hinzu, die wir als dem Menſchen eigenthümliche die humanen zu nennen pflegen. Sie treten nicht wie jene animaliſchen Triebe als unge— ſtümme Forderungen unſerer Natur auf, die ſich bis zur brennenden Leidenſchaft ſteigern laſſen, ſondern als ſanftere

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und mildere Reize. Aber als Erſaz für ihr fchwächer: ſinnliche Triebgewalt haben ſie ein von ihrem Auftreten unzertrennliches begleitendes Gefühl, daß pie Luſtempfin dungen, die ſie bieten, von anderer, reinerer, höherer Ar: ſeien, und ſich den übrigen Luſtreizen als die vornehmeren, als die Werthgefühle gegenüberſtellen. Ich glaube, daß win drei ſolcher höheren Klaſſen von humanen Trieben unter— ſcheiden müſſen, die ſich über den animaliſchen Grundſtoch unſerer Kräfte noch wie höhere Stockwerke, die eine freiere Aus- und Rundſicht geſtatten, erheben. Die erſte davon iſt das Mitgefühl, die Theilnahme an fremdem Wohl und Wehe und das Bedürfniß dieſer Theilnahme von anderen, die Luſt zu lieben und geliebt zu ſein. Indem die Sprache dieſen Zug unſerer Seele den der Menſchlichkeit nennt und von dem Mitleidloſen jagt, er ſei kein Menſch und babe kein menſchliches Herz, ſpricht ſie es ſelber aus, daß an dieſem Punkte das Grenzmerkmal unſerer Gattung liegt. Den zweiten dieſer humanen Triebe möchte ich den intellec⸗ tuellen Functionstrieb oder auch den Erkenntnißtrieb, den Trieb der Beſchaulichkeit nennen. Beim Thier iſt der In— tellect nur der ſtumme Diener, deſſen Thätigkeit ganz in den Objecten der Begierden aufgeht; der Menſch aber be— trachtet die Dinge auch um der Luſt willen, die ihm das Betrachten ſelbſt gewährt, ohne alle weiteren ſachlichen Zwecke; an die Function, an das Spiel des Intellectes ſelbſt knüpfen ſich gewiſſe Reize, und zwar an den leichten, unge⸗ hemmten, normalen Gang ſeiner Bewegungen, an die Klar

heit und Genauigkeit, an die Uebereinſtimmung und den

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Einklang der Vorſtellungen Gefühle der Luſt, an die Stö—

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rungen ſeines Verlaufs, an das Verworrene, Dunkle, Wider— ſprechende Gefühle der Unluſt. Das glänzendſte Erzeugniß dieſes intellectuellen Spieltriebs iſt die Sprache, die dem Thier nur darum fehlt, weil ſein Intellect in der Dienſt— barkeit aufgeht und die Betrachtung nicht um ihrer ſelbſt willen begehrt wird. Dieſe beiden zu den animaliſchen Luſtquellen hinzutretenden neuen Elemente würden, wenn ſie allein ſtünden, den Menſchen in einen unverſöhnlichen hoffnungsloſen Zwieſpalt mit ſich ſelber ſetzen; das Mitge— fühl und die Selbſtliebe würden immer Entgegengeſeztes begehren und der Intellect könnte ſeiner Dienſtbarkeit und jenem freien Spiel ſeiner Kräfte nie zugleich gerecht werden. Vor dieſer Gefahr eines unſeligen Dualismus bewahrt uns die dritte und lezte Klaſſe der humanen Triebe, die Krone und der Abſchluß unſerer natürlichen Ausſtattung. Sie gibt ſich kund in einem Verlangen nach Harmonie und Ein— klang unſeres Lebens, nach Uebereinſtimmung und Ordnung in dem bunten Chaos unſerer inneren Vorgänge, in dem wechſelnden Spiel von widerſtrebenden Motiven. In der Idee der Ordnung, der Harmonie treffen Wille und In— telleet von verſchiedenen Wegen aus wie in ihrem gemein— ſamen Ziel und Brennpunkt zuſammen. Denn wie ſchon bei dem rein theoretiſchen Spiel unſerer intellectuellen Kräfte die höchſten Luſtgefühle ſich daran knüpfen, wenn das Viele und Mannigfaltige, das iſolirt Auseinanderliegende durch Gliederung, zugleich geſondert und verknüpft, ſich zu einem Ganzen verbindet und in eine einheitliche Spitze ausläuft,

ebenſo ergreift das Centrum unſers Seelenlebens, auf wel— ches die Mannigfaltigkeit und der Gegenſaz der Impulſe ſtörend und ſchmerzlich wirkt, die Idee des Einklangs und inneren Friedens als das höchſte und lezte Mittel, ſeinen heißen Drang nach Glückſeligkeit zu ſtillen und einen Schluß— punkt aller Lebenszwecke zu finden. Ich möchte dieſe lezte Forderung unſeres Willens den Ordnungstrieb, den Trieb der Lebensharmonie nennen oder auch die Bezeichnung als Vernunfttrieb zulaſſen. Denn indem der Intellect dieſe lezte und höchſte ſeiner Functionen übt, bei welcher ſeine Dienſtbarkeit zur Freiheit wird, legt er auch den niedrigeren Namen des Verſtandes ab und nimmt, obgleich die Form ſeiner Thätigkeit ſich nicht verändert, den höheren Namen der Vernunft an.

Dieſer Ordnungstrieb gliedert ſich nun aber wieder in verſchiedene Triebformen, je nachdem er auf die Sphäre des Willens oder des Intelleets oder auf den Einigungs— punkt beider, auf das Centrum der Seele gerichtet iſt. Als contemplativer Ordnungstrieb ſucht er die Einheit und Har— monie für die Weltbetrachtung; er erzeugt die Idee des Schönen und des Wahren, die Kunſt und Wiſſenſchaft. Als praktiſcher, auf den Willen bezogener Trieb ſucht er die Einheit und Harmonie für die Bethätigung des Trieb— lebens; er erzeugt die Idee des Guten mit der Unterſchei— dung einer jubjectiven und einer ſocialen Form, die Sitt— lichkeit und das Recht. Seine lezte Geſtalt erreicht dieſer Ordnungstrieb, wenn er Intelleet und Wille, das Ich und die Welt zuſammenfaſſend, unſer ganzes individuelles Daſein

71 in eine lebendige Harmonie und Einheit mit dem Höchſten und Beſten, was wir noch zu denken und zu ahnen ver— mögen, zu ſezen ſucht; er erzeugt die Idee Gottes und die Formen des religiöſen Lebens.

Ich habe von einem ſittlichen Ordnungstrieb geſprochen und bin damit nach langem, wie ich hoffe, nicht vergeblichem Umweg an die Stelle gekommen, die wieder zu unſerem Thema führt. Es iſt ein Treibendes, eine Kraft in uns, die gegenüber von dem bunten und wilden Spiel mannig— faltiger und widerſtrebender Begierden in uns und um uns etwas Feſtes und Ordnendes fordert, die neben den vielen Dingen, die wir Güter nennen, weil ſie einem unſrer Trieb— reize entſprechen, Ein Gutes, das Gute ergreift und allen übrigen Motiven als das allein Berechtigte mit dem Gefühl eines unbedingten Sollens entgegenſtellt. Was dieß Gute ſei, darüber gehen zwar Völker und Zeitalter weit ausein— ander; aber überall iſt es eine Ordnung und feſte Norm; überall enthält es eine Werthunterſcheidung unſerer Triebe, bei welcher die humanen Triebe höher geſchäzt werden, als die animaliſchen, die ſocialen höher als die egoiſtiſchen. Im Eſſen und Trinken, in der Feigheit, dem Wankelmuth, der Lüge, in der Unempfindlichkeit für Ehre iſt es niemals gefunden worden.

Dieſer ſittliche Ordnungstrieb iſt nun auch wieder in zwei getrennte Formen gegliedert. Die eine derſelben be— zeichnen wir mit dem Namen des Gewiſſens. Es fordert den Einklang und die Harmonie unſeres inneren indivi— duellen Wollens; es ſtellt jene Idee des Guten, wie es

72 dieſe ſelbſt gebildet oder durch Autorität und Ueberlieferung empfangen hat, allen andern Motiven als das zur Herr— ſchaft Beſtimmte, als das Geſollte gegenüber, und hält daran auch unterliegend feſt. Neben dieſer bekannten und unbeſtrittenen Erſcheinung ſteht noch eine zweite Geſtalt jenes ſittlichen Ordnungstriebs, in welcher ſich dieſer, mit unſeren ſocialen Trieben verſchmolzen, nach Außen kehrt und die Idee des Guten als die beherrſchende Macht des geſellſchaftlichen Lebens vertritt. In ihren einfachſten und elementarſten Aeußerungen erkennen wir dieſe Triebform, wenn wir den Schwächeren mißhandelt ſehen von dem Stärkeren, wenn Rache genommen wird an dem Schuld— loſen, wenn eine Macht nach Laune und Willkühr ausgeübt wird. Das Gefühl, das uns bei ſolchem Anblick ergreift, iſt von der paſſiven Form des Mitleids deutlich unterſchieden; es äußert ſich als Entrüſtung und Empörung des Gemüths und iſt von dem unmittelbaren Drang nach einer einſchrei— tenden Handlung begleitet. Wir gewinnen dieß Gefühl nicht erſt aus der Erfahrung, bei reiferer Ausbildung unſerer Verſtandeskräfte, ſondern es tritt mit friſcher und voller Energie ſchon in den erſten Lebensjahren auf, wenn der Vater die Kinder, der Lehrer die Schüler ungleich behandelt, den leichten Fehler ſchwer, den ſchweren leicht oder gar nicht rügt und den gleichen Fall heute ſo und morgen anders entſcheidet. Wiewohl dieſer Zug unſers Seelen— lebens alle Merkmale eines Triebs, eines conſtanten Willens— anſazes, einer drängenden inneren Kraft hat, ſo iſt es doch üblich, ihn, da er ſich als eine eigenthümliche Form von

Luſt und Unluſtgefühlen äußert, ein Gefühl und zwar nach dem Object, das er ins Leben ruft, das Rechts gefühl zu nennen.

Gewiſſen und Rechtsgefühl ſind die zwei einander coordinirten, verſchwiſterten Geſtalten, in welche ſich der ſittliche Ordnungstrieb ausprägt. Beide äußern ſich wie alle Triebe als ein dunkler unbeſtimmter Drang nach einer eigenthümlichen Art von Luſt und Werthgefühlen, ſie wirken als Druck auf den Intellect, dazu führende Vorſtellungen zu erzeugen und leiten ihn hiebei durch die ſein Thun, ſeine Annäherung oder Entfernung von ſeinem Ziel begleitenden Nuancen von Luſt und Unluſtgefühlen. Gewiſſen und Rechtsgefühl haben die Idee des Guten zu ihrem gemein— ſamen Inhalt und Ziel; ſie faſſen es als ordnende Norm des Willens und wollen es zur Macht und Herrſchaft bringen; ſie ſind Forderungen an das Gemüth, das Gute zu ver— wirklichen. Aber von dieſer gemeinſamen ethiſchen Wurzel aus treiben ſie verſchiedene, deutlich geſonderte Zweige. Das Gewiſſen kehrt ſeine Forderung nur nach Innen; es wirkt auf das Gemüth der einzelnen individuellen Seele; das Rechtsgefühl wendet ſich nach Außen; es will eine ſitt— liche Ordnung verwirklicht ſehen, nicht als ein ohnmächtiges inneres Wollen von zweifelhaftem Erfolg, ſondern als eine herrſchende, die Willkühr des Einzelnen überwältigende Macht, als eine ſichtbare reale Erſcheinung. Während das Gewiſſen nur die inneren Regungen und Vorgänge des Ge— müths richtet und ordnet, ſieht das Rechtsgefühl nur auf die That, die auf Andere Bezug hat und beachtet die Ge—

ſinnung nur, ſoweit ſie zum Verſtändniß der gegebenen äußern That dient. Während das Gewiſſen den einzelnen Fall für ſich in ſeiner concreten Beſonderheit prüft und ordnet, ſieht das Rechtsgefühl in der einzelnen That nur die Gat— tung; es muß jeden Fall als einen allgemeinen denken und fordert Normen von genereller Geltung. Und zwar liegt in dieſem characteriſtiſchen Zug des Rechtsgefühls nach All— gemeinheit ſowohl ein ethiſches als ein logiſches Moment. Wie würde Dir der Fall erſcheinen, wenn Du an der Stelle des andern wärſt und wie wäre es, wenn Alle ſo handeln wollten; das ſind die ſpecifiſchen und erſten Fragen, die das Rechtsgefühl ſtellt. Jener erſte unter den humanen Trieben, das Mitgefühl, welches uns fremdes Wohl und fremden Schmerz ſympathiſch mitempfinden heißt, verdichtet und verklärt ſich im Rechtsgefühl zu einem allgemeinen Princip, zu dem Saz von der Gleichwerthigkeit aller In— dividuen; wenn der Fall der gleiche iſt, ſo iſt zwiſchen dem A und B, zwiſchen mir und dem andern kein Unter— ſchied. Gleiche Fälle trifft die gleiche Regel. Dieß iſt das eigentliche Grundaxiom des Rechtsgefühls und der erſte fundamentalſte aller Rechtsſäze. Er enthält ſowohl die logiſche Allgemeinheit als die ethiſche Gleichheit vor dem Geſez; er entſpricht gleichmäßig der Forderung des Mit— gefühls und des Denkgeſezes. Hierin liegt nun aber auch, daß das Rechtsgefühl nicht, wie das Gewiſſen, auf die Verwirklichung der Idee des Guten in ihrem ganzen Um— fang gerichtet iſt, daß es die höchſten Ziele der Ethik zur Seite läßt und nur diejenigen Theile des Guten ergreift,

die ſich in allgemeine, für Gleiches gleiche, auf äußere Hand— lung bezügliche und erzwingbare Normen faſſen laſſen; es ſtrebt nicht nach dem idealen Ziel voller Verwirklichung der individuellen und geſelligen Lebenszwecke, ſondern es will nur die Grundlagen, den Unterbau ſchaffen und ſichern, auf dem dieſe zarteren und beweglicheren Gebilde ſich ent— wickeln mögen, aber dieſe Beſtandtheile des Guten will es dann auch den Schwankungen des individuellen Meinens und Beliebens entrückt und in unantaſtbarer Kraft und Majeſtät feſtgeſtellt ſehen. Die Gerechtigkeit erſchöpft den Kreis des Guten nicht, aber ſie iſt die erſte aller Tugenden. Das Recht iſt nicht eine bloße Vorbedingung, ſondern ein Theil und Stück des Guten ſelbſt, und zwar ſein Funda— ment. In dieſer Stellung von Recht und Sittlichkeit liegt es nun auch, daß zwar in der Seele des Einzelnen Ge— wiſſen und Rechtsgefühl niemals in Colliſion kommen, weil das Gewiſſen den ganzen Inhalt des Rechtsgefühls in ſich aufnimmt und nur nicht volles Genüge daran findet, daß aber in der Geſellſchaft Recht und Moral wohl zeitweiſe auseinandertreten und in Widerſpruch gerathen können, ſei es, daß das Recht oder die Sitte einen Vorſprung in ſeiner— Entwicklung hat. In dieſer Weiſe läßt ſich, wie ich meine, aus einer bloßen Beobachtung und Beſchreibung des Rechts— gefühls oder aus der Zuſammenſtellung der erſten und elemen— tarſten Gebilde, die der Intellect unter ſeiner Leitung her— vorbringt, auch das Weſen des Rechtes ſelbſt entwickeln. Denn ich möchte glauben, daß eine bloße Zuſammenfaſſung der bezeichneten Merkmale des Rechtsgefühls zu einer Defi—

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nition des Rechtes führt, wenn ich ſage: das Recht iſt eine geſellſchaftliche Lebensordnung, durch welche die Idee des Guten zur äußeren Macht geſtaltet wird, um nach allge— meinen, für das Gleiche gleichen Normen der menſchlichen Handlungen die Grundlagen für die Erfüllung der menſch— lichen Lebenszwecke ſicherzuſtellen.

Um das Weſen des Rechtsgefühls noch einen Schritt weiter zu verfolgen und vom Recht zum Staat zu gelangen, kann vielleicht eine Vergleichung einige Dienſte leiſten. Wenn wir einen Bienenſtock betrachten, ſo macht er un— verkennbar den Eindruck eines einheitlichen gegliederten Ganzen. Gleichwohl denken wir nicht daran, die Entſtehung dieſes Ganzen auf den Akt eines intelligenten Willens zurückzuführen, und auch das halten wir nicht für geboten, in die Seele der einzelnen Bienen, ſei es als unbewußte Vorſtellung oder in der Form eines inſtinctartigen Thuns den Plan oder Entwurf jenes Ganzen voraus zu verlegen. Wir begnügen uns dem einzelnen Thier die Triebe beizu— legen, mit ſeinesgleichen zuſammen und um ein die Fort— pflanzung verbürgendes Individuum geſchaart zu leben, eine Zelle von beſtimmter Art und Conſtrüction zu bauen, die Zuckerſäfte aus den Blüthen zu ſaugen, Vorräthe für den Winter zu ſammeln und Aehnliches, aber das Ganze des Stocks entſteht uns nun einfach aus der Maſſenwirkung dieſer individuellen Triebe; das gleichartige Thun der Einzelnen ſcheint ſich uns von ſelbſt zu dieſem gegliederten Ganzen zuſammenzuſchließen, und zufällige Momente, wie die Geſtalt des Baumes oder Korbes ſpielen ihre Rolle

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mit; wenn dieß Ganze nun aber einmal vorhanden iſt, dann wirkt es auf die einzelne Biene, die es hat machen helfen, doch wieder als ein neuer Factor zurück, beſtimmt und modificirt im Einzelnen vielfach ihr Thun, giebt jenen Trieben eine beſondere Form und Richtung und kann ſo ſchließlich faſt als das Primäre erſcheinen, obgleich es ur— ſprünglich nur das Product vieler kleiner aber gleichartiger Kräfte war. Oder ich könnte an den Wald erinnern, der nichts iſt als eine Vielheit beiſammenſtehender Bäume und doch ein Ganzes von eigenthümlichen Merkmalen wird und das Wachsthum des einzelnen Baumes mitbeſtimmt.

In gleicher Weiſe möchte ich nun behaupten, entſteht der Staat durch die natürliche Maſſenwirkung, als das ſpontane Geſammtproduct des in den einzelnen Gliedern einer geſellſchaftltchen Gruppe vorhandenen Rechtsgefühls. Jener ſociale Ordnungstrieb, der die Idee des Guten zur Rgeſellſchaftlichen Macht zu geſtalten ſtrebt, ruft, ohne daß in irgend einem Kopf ſchon die Vorſtellung eines geſell— ſchaftlichen Centralinſtituts ausgebildet wäre, von ſelbſt ein ſolches, wie durch den Maſſendruck vieler kleiner Kräfte nach Einem Punkte, ins Leben; es kann nun ein durch Zufall, ja durch Frevel entſtandenes Gewaltverhältniß der Kriſtalliſationspunkt einer ſittlichen Ordnung werden, dem ein allgemeines Verlangen ein höheres Mandat von ſelbſt entgegenbringt. Wenn dann aber dieſe ſociale Macht ein— mal vorhanden iſt und in einem individuellen oder collec— tiven Willen ihre einheitliche Spitze gefunden hat, dann löst ſie ſich von ihrer Entſtehungsform ab; ſie geſtaltet

ſich zu einem ſelbſtändigen jocialen Eigenweſen und wirkt ihrer eigenen Natur gemäß auf die Einzelnen zurück; und jenem Rechtsgefühl, das in der Seele des Einzelnen gleich dem Gewiſſen nur ein zartes Gebilde iſt und ſtets einen ſchweren Stand gegen den Andrang brennender Begierden hat, ſtellt ſich nun in der öffentlichen Ordnung eine ſicht— bare Verkörperung ſeiner Zwecke gegenüber, an deren feſten Pfeilern ſich die Willkühr der Einzelnen bricht; und es iſt in dieſem Sinn berechtigt, von einem objectiv gewordenen Geiſt zu reden. Aber jener Maſſendruck des Rechtsgefühls iſt nur die Wurzel der Staatenbildung; die Verwirklichung des Rechts iſt nur die erſte und weſentliche Function der Staatsgewalt. Die im Staat zum Volk geeinigte Menge führt ihm noch mancherlei geiſtige Intereſſen und Forde— rungen zur Beachtung zu; der Staat erweitert ſich zu einem Träger und Organ des Volksgeiſtes, zu einem Univerſal— inſtitut für die Sicherung und Förderung aller Lebens- zwecke. Damit tritt zu jenem primären Zweck der Rechts— verwirklichung ein weiteres Element von beweglichem, un— begrenztem, zufälligem Charakter hinzu, das nach der Ver— ſchiedenheit der Zeiten und Völker von engerem oder weiterem Umfang werden kann. Ich halte es für verwirrend, dieſe beiden Gebiete des Rechts und des Wohls zuſammenzu— werfen, dem Rechtsbegriff einen ſo weiten Umfang zu leihen, daß er auch die ganze Wohlfahrtspflege in ſich ſchließt, und zu dieſem Zwecke Rechte auf Arbeit und Muße, auf Bildung, Geſundheit, Familienleben aufzuſtellen, die der Staat durch Hilfe und poſitive Veranſtaltungen zu ver—

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bürgen verpflichtet ſein ſoll. Es fehlt bei dieſem Gebiet der ſtaatlichen Thätigkeit jenes Gefühl der inneren Noth— wendigkeit, das alle Erſcheinungen des Rechtslebens zu be— gleiten pflegt. Mein Rechtsgefühl fordert nicht, daß der Staat eine Univerſität gründet, oder daß er an derſelben akademiſche Preiſe für wiſſenſchaftliche Arbeiten der Stu— dierenden ausſezt, wohl aber fordert es, wenn er dieß ein— mal thut, daß er die Preiſe denen, welche die von ihm aufgeſtellten Bedingungen erfüllen, auch wirklich ertheilt, daß er den Verfaſſer einer vreiswürdigen Arbeit, wenn er nach dem Statut zur Bewerbung nicht befugt war, zurück— weiſt, daß er die Preiſe der beſten Arbeit ohne jede Neben— rückſicht zuerkennt. Alles, was im Staat geſchieht, ſoll mit Gerechtigkeit aber nicht aus Gerechtigkeit geſchehen. Wohl fällt alles Recht ſchließlich unter den Begriff des Zweck— mäßigen und einer Wohlfahrtspflege, ſchon weil es unter den Begriff des Guten fällt und das Gute nur als das wahrhaft Zweckmäßige, mit dem Ganzen der menſchlichen Lebenszwecke im Einklang Stehende gedacht werden kann. Aber darum hat der Rechtsbegriff doch wieder innerhalb dieſer weiten Sphäre ſeine engere ſpeeifiſche Begrenzung an jenen Aeußerungsformen des Rechtsgefühls, an der ethiſch-logiſchen Forderung der Allgemeinheit und Gleichheit.

Wenn nun die hier vorgetragene Auffaſſung Wahrheit enthalten ſollte, ſo würde das Recht mit den andern höchſten Gütern der Menſchheit, Religion und Moral, Kunſt und Wiſſenſchaft in Einer Reihe ſtehen, aus Einer Quelle fließen, nemlich aus einem an die Spitze unſeres geſammten Trieb—

lebens ſtehenden höchſten Trieb, der auf den Einklang aller unſerer Seelenvorgänge, auf die Harmonie unſeres Lebens und der Welt gerichtet iſt, und zwar würde das Recht in einem beſtimmten Zweig dieſer Ordnungstriebe wurzeln, den wir das Rechtsgefühl nennen, der mit dem Gewiſſen zuſammen die ſittliche Anlage der menſchlichen Natur bildet und die Idee des Guten zu realer Geſtaltung führt. Das Recht iſt hiernach wohl in ſeiner concreten Erſcheinung etwas empiriſch und geſchichtlich Gewordenes, aber es ſtammt aus einem urfprünglichen Trieb und feſten Willensanſaz der menſchlichen Natur, der ſich, wie die anderen höheren An— lagen, erſt allmälig im Lauf der Jahrtauſende zur vollen und ſelbſtändigen Entwicklung ſeines Weſens heraufarbeitet.

Eine ſolche ideale Auffaſſung des Rechts liegt nun allerdings weit ab von dem gemeinen und populären Be— wußtſein. Dieſem erſcheint das Recht als etwas, was die Juriſten erfunden oder gemacht hätten und heute noch machen können, als verkörpert in der Geſtalt eines Proceſſes, der ſich mit Hilfe von Advokaten vor dem Richter abſpielt, eines Schrift- und Redeſtreites, in welchem es ſich um die Ermittlung oder Vertuſchung gewiſſer Thatſachen, um die Anwendbarkeit oder Auslegung von dieſem oder jenem Paragraphen einer Vorſchrift oder Urkunde handelt, bei welchem der ſchlauere und ſachkundigere Theil zu ſiegen ſcheint, wo von ſittlichen Zwecken, von einer Verwirklichung der Idee des Guten kaum ein Anklang an den Tag tritt, wo jenes Rechtsgefühl, das die Wurzel alles Rechtes ſein ſoll, um ſeine Meinung gar nicht gefragt wird, und auch,

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wenn es gefragt würde, vielleicht nichts Brauchbares zu ſagen wüßte.

Man kann im Hinblick auf die praktiſche Geſtaltung des Rechtslebens wohl zu der Frage kommen, welchen Werth und welche Stellung denn jenes Rechtsgefühl noch für die Rechtswiſſenſchaft hat, ob es ihr nur den erſten Anſtoß giebt, von dem im weiteren Verlauf der Sache nicht mehr die Rede iſt, oder ob es der leitende beſtimmende Faktor, der Führer auf dem ganzen Wege, die wirkliche und einzige Quelle der Rechtsbegriffe ſein könne? Hierüber ſcheinen mir Mißverſtändniſſe zu beſtehen, bei welchen jenem pſychologiſchen Ausgangspunkt bald ein zu großer, bald ein zu kleiner Spielraum überlaſſen wird.

Niemand wird, wie ich glaube, aus dem bloßen Rechts— gefühl oder, was ich hier für gleichbedeutend halte, aus der Idee, dem Begriff des Rechts auch nur einen einzigen concreten Rechtsſaz abzuleiten vermögen, und die Verſuche, im Wege der Begriffsentwicklung, der Deduction aus Axiomen und elementaren Säzen ein Rechtsſyſtem, ein ſogenanntes Natur- oder Vernunftrecht herauszuſpinnen, ſind mit Grund ſtets ein Gegenſtand des Spottes von Seiten der Rechts— gelehrten gegen die Philoſophen geweſen. Das Recht iſt ein Ordnungsbegriff; zu einer Ordnung gehören aber immer zwei Dinge, etwas, was ordnet und etwas was geordnet wird; dieß Leztere iſt die Subſtanz der Sache, der Stoff, der durch ſeine Natur das Thun des Ordnenden beſtimmt. Der Stoff des Rechtes aber iſt nichts weniger als die ganze unabſehbare Fülle aller menſchlichen Lebensverhältniſſe.

Rümelin, Reden u. Aufſätze. 6

82 Das Recht erzeugt und ſchafft nicht etwa aus ſeinen Mitteln die perſönliche Freiheit, das Eigenthum, die Familie, den Vertrag, ſondern es findet dieſe Verhältniſſe als Wirkungen des natürlichen Trieblebens vor; es zeichnet nur ſeine ordnenden Linien hinein; es regelt ſie nach dem Princip der Coexiſtenz, nach den Bedürfniſſen und ſittlichen Grund— anſchauungen der Geſellſchaft, und auch dieſen lezteren Faktor ſchöpft es nicht aus ſich ſelbſt. So liegt für alles Familien— recht der Ausgangspunkt in phyſiologiſchen Thatſachen, wie dem Unterſchiede der Geſchlechter, den Geſezen der Fort— pflanzung, der Hilfloſigkeit und dem allmäligen Wachsthum des Kindes. Dieſe phyſiſchen Grundlagen unterliegen nun einer ſittlichen Geſammtauffaſſung, die durch die Geſittungs— ſtufe des Zeitalters und Volkes bedingt iſt, über die Stel— lung des Weibes, über den Umfang der väterlichen Gewalt, den Charakter der Ehe, die Grenze des Verwandtſchafts— bands, die Beweglichkeit des Grundeigenthums u. ſ. w. Erſt als drittes Element tritt nun das Recht hinzu, um dieſe Grundanſchauung gegebener Thatſachen in die Geſtalt feſter, zwingender, allgemeiner Normen auszuprägen, die— ſelben nach allen Richtungen im Einzelnen durchzudenken, unter ſich und mit den andern hereingreifenden Lebens— verhältniſſen in Einklang zu ſezen, an den Kreuzungspunkten verſchiedener Normen einen Ausgleich zu finden und ſo das geſammte Familienleben in die ſociale Ordnung als ein homogenes Glied einzufügen. Das Rechtsgefühl wird nun zwar auf dieſem ganzen Wege leitend oder begleitend, zu— ſtimmend oder abwehrend mitgehen, aber jene Kreuzungen

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der Rechtsſäze ſind jo mannigfaltig, die Verſchlingungen der Lebensverhältniſſe jo unabſehbar, zumal auf den höheren Geſittungsſtufen, das Bedürfniß haarſcharfer und präciſer Unterſcheidungen wird ein ſo dringendes, daß dem Rechts— gefühl auf dieſer langen Bahn bald der Athem ausgeht und es von einem logiſch-techniſchen Element abgelöst werden muß. Das geſammte Rechtsleben entwickelt ſich zu einem Specialfach, in welchem der rothe Faden des Rechtsgefühls zwar nie ganz abreißen kann, aber in den dichtverſchlungenen Knoten der Caſuiſtik ſchwer noch herauszufinden ſein mag. Noch weit mehr tritt dieß bei dem hiſtoriſchen Theil der Rechtskunde hervor. Mit der Frage: was iſt oder war thatſächlich geltendes Recht, hat das Rechtsgefühl nichts mehr zu ſchaffen; ſie ſteht ganz unter dem Bann einer wiſſenſchaftlichen Technik, unter dem Geſez der Hermeneutik und hiſtoriſchen Kritik, wiewohl ſich behaupten läßt, daß auch hier noch ein ſympathiſches Nachempfinden der Recht ſchaffenden Abſicht des Geſezgebers die grammatikaliſch— logiſche Deutung der Worte ergänzen kann.

Wenn aber ſo die Rechtswiſſenſchaft ſich im Verlauf ihrer Entwicklung von der erſten pſychologiſchen Wurzel alles Rechtes ablöſen mußte, wenn ſich jenes einfache Rechts— gefühl, wo es doch den Verſuch macht, mitzuſprechen, ge— fallen laſſen muß mit einem taceat mulier in ecelesia (das Weib ſoll ſchweigen in der Gemeinde) abgewieſen zu werden, ſo ſind doch auch die Mißſtände und Gefahren des anderen Extremes nicht zu unterſchäzen. Wenn das Recht, wie kaum irgend etwas Anderes, Alle angeht und den Wollenden

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wie den Widerſtrebenden berührt und erfaßt, wenn unſer landsmänniſcher Dichter, der doch ſelbſt zur Zunft der Rechtsgelehrten gehörte, ſagen durfte: „das Recht iſt ein gemeines Gut, Es lebt in jedem Erdenſohne; Es quillt in uns wie Herzensblut“, ſo ſollte man erwarten dürfen, daß die Wiſſenſchaft und Verwaltung des Rechts ſich in ſtetiger Fühlung mit dem Rechtsgefühl des Volkes hielte und wenig— ſtens nicht bis zur Unverſtändlichkeit davon entfernte. Eine noch nicht lange, ja kaum vergangene Zeit zeigt uns in einem abſtoßenden Bild, wieweit hier die Verirrung gehen konnte, wie ſich die Rechtsverſtändigen zu einer Gelehrten— zunft mit einem der übrigen Welt unzugänglichen Apparat von Formeln und Diſtinctionen, ſchlimmer als die altrömi— ſchen Pontifices, abſondern durften. Die Gegenwart iſt auf dem Wege, auch hier Wünſchen, die lange vergeblich gehegt wurden, entgegenzukommen und jene verlorene Füh— lung mit dem Rechtsbewußtſein des Volkes wieder zu ge— winnen. Hiebei betrachte ich es nur als zweifelhaften Ge— winn, wenn die Laien in einem die Entſcheidung einſchlie— ßenden Umfang zur praktiſchen Rechtspflege berufen werden, da es immer ein Widerſpruch und ein Mißtrauensvotum gegen die Wiſſenſchaft bleiben wird, das unentwickelte und naive Rechtsgefühl dem geübten und ausgebildeten gleich— zuſtellen, und doch die Verwaltung des Rechts nicht zum pädagogiſchen Mittel der Volkserziehung dienen darf. Von ungleich größerem Werth iſt die Oeffnung der Gerichtsſäle, die Mündlichkeit und Vereinfachung des Verfahrens, die Fertigung zuſammenfaſſender Geſezbücher in gemeinverſtänd—

85 licher Sprache, die Beſeitigung eines verwirrenden Wuſtes von Land- und Sonderrechten. Ein großer Schritt bleibt aber in dieſer Richtung zu thun übrig. Es muß jedem unbefangenen Sinn im höchſten Grad unnatürlich erſcheinen, daß der praktiſch eingreifendſte, den Einzelnen am nächſten berührende Theil des Rechts in einer fremden, nur dem Gelehrten zugänglichen Sprache abgefaßt, einem längſt hinter uns liegenden Volk und Zeitalter entnommen, auf durch— aus abweichende geſellſchaftliche Verhältniſſe berechnet iſt. Noch unbegreiflicher iſt es aber, wenn gerade diejenigen, welche das im Volk thatſächlich lebende Gefühl einer inneren Nothwendigkeit zur Quelle und beſten Stüze alles Rechts machten, nur allein der Gegenwart den Beruf und die Be— fugniß abſprechen, ein verſtändliches und ihren Bedürf— niſſen entſprechendes Recht zu ſuchen. Es war ein unend— lich großer Fortſchritt, als zu einer Zeit, da das Latein noch eine allgemeine Welt- und Kulturſprache war, an die Stelle zahlreicher, unzulänglicher Volksrechte, die auf viel— deutigen Symbolen und Sprüchen, auf wandelbarem Ge— brauche ruhten, das römiſche Recht trat, das ſeinen uni— verſalen Charakter als ahatjächliches Weltrecht ſchon durch Jahrhunderte bewährt hatte, das Meiſterwerk eines Volkes, in welchem jenes der menſchlichen Natur inwohnende Rechts— gefühl zuerſt in der Welt einen ſelbſtändigen, von Religion, Politik und Moral abgelösten Ausdruck gefunden, das die Grundbegriffe des Rechts und deſſen eigenthümliche Metho— dik für alle Zeiten feſtgeſtellt hat, das von nationaler Be— ſchränktheit aus in ſicherem und ſtetigem Gang, und mit

86 unvergleichlicher Schärfe und Conſequenz zu einem Syſtem weltgiltiger Sätze hindurchgedrungen iſt. Trozdem konnte die Aneignung eines fremden und fremdſprachigen Rechts nur eine Nothhilfe, ein vorübergehendes Auskunftsmittel ſein, das in dem Grade unhaltbar werden mußte, in wel— chem die lateiniſche Sprache ſelbſt eine todte wurde und eine neue Zeit neue Lebens- und Wirthſchaftsverhältniſſe und eine neue Geſittungsſtufe erzeugte. Wenn nicht alle Zeichen trügen, ſo iſt der Zeitpunkt für den Abſchluß dieſer Lehrjahre herangekommen; die Wiſſenſchaft vermag die bleibenden und die vergänglichen Elemente jener werth— vollen Ueberlieferung zu unterſcheiden und die neuen Be— dürfniſſe und Anſchauungen haben den alten Bau ſchon von Innen und Außen nach allen Richtungen durchbrochen und umgeſtaltet. Das deutſche Volk iſt ſeit den Römer— tagen das erſte, in welchem das Rechtsgefühl einen neuen Ausdruck von eigenthümlicher Kraft und Tiefe gefunden hat; nachdem es ſeiner Art gemäß zuerſt bei Fremden in die Schule gegangen iſt, mag es berufen ſein, den Weg von einem nationalen zu einem univerſalen Recht zum zweitenmal zu finden, das innige Band von Recht und Moral, von Humanität und Logik noch feſter zu knüpfen, als es einſt dem römiſchen Volk gelungen war. Unſer Volt hat in unerreichter Waffenthat dem romaniſchen Ueber— gewicht ein Ziel geſezt; es iſt ſtill und, wie wenn nichts geſchehen wäre, zu den Werken des Friedens zurückgekehrt; nach verſchiedenen Richtungen findet es hier die Aufgabe, an römiſchen Ueberlieferungen das Bewährte und das ſeinem

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Geiſte Fremde zu ſcheiden; ich ſchließe mit der Hoffnung, eine nicht ferne Zukunft werde Urſache finden, nicht blos das deutſche Schwert, den deutſchen Fleiß, die deutſche Wiſſenſchaft zu preiſen, ſondern auch das deutſche Rechts— gefühl und das deutſche Recht.

Ueber den Begriff des Volkes.

6. Nov. 1872.

Wer das Bedürfniß hat, in klaren und einfachen Grund— begriffen zu denken und dabei durch Beruf und Neigung darauf hingewieſen iſt, ſich mit den ſogenannten ſocialen oder Geſellſchaftswiſſenſchaften zu beſchäftigen, dem werden bei ſeinen Studien auch trübe und unerquickliche Stunden ſchwerlich ganz erſpart bleiben. Denn dieſe Fächer, wie— wohl ſie weder an theoretiſchem Reiz noch in ihrer prak— tiſchen Tragweite hinter anderen zurückſtehen, haben doch noch immer, ſei es nun blos in Folge ihrer Jugend oder auch anderer Umſtände, an einer eigenthümlichen Unſicher— heit und Verſchwommenheit ihrer erſten Begriffe zu leiden. Schon der Begriff der Geſellſchaft ſelbſt will ſich ſchwer feſt anfaſſen und ſcharf umgrenzen laſſen; noch mehr ſcheint mir dieß bei dem vieldeutigen Worte „Volk“ zuzutreffen, das uns doch auf Schritt und Tritt im Leben, wie in der Wiſſenſchaft entgegentritt. Denn gleich die erſten und elementarſten Fragen der Logik und Grammatik, zu welcher Art und Klaſſe von Begriffen der des Volkes zu ſtellen ſei, führen auf Schwierigkeiten. Iſt es ein Gattungsbe— griff, ſo daß der Einzelne ſich zu ſeinem Volke verhielte

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wie ein beliebiges Beiſpiel einer beſtimmten typiſchen Form und dem Ganzen keinerlei Merkmale und Wirklichkeit für ſich, ſondern nur in den Einzelnen zukämen? Oder iſt das Wort zu den Collectivnamen, zu jenen bloßen Summirbe— griffen zu ſtellen, wo unter ſich ſelbſtändige und verſchiedene Dinge um Einer gemeinſamen Beziehung willen in eine numeriſche Einheit zuſammengefaßt werden, wie etwa die Menge, der Haufen, das Publikum, die Zuhörerſchaft? Oder iſt ein Volk als ein Ganzes zu denken, zu dem ſich die Einzelnen als ſeine Theile verhalten? und iſt dieß Ganze vielleicht, nach der jezt ſo beliebten Analogie als ein Organismus zu faſſen, deſſen einzelne Glieder, für ſich unfähig zu exiſtiren, erſt in der unendlichen Wechſelwirkung unter ſich und mit dem Ganzen ſich zur lebendigen Einheit ergänzen? Und iſt ſo ſchließlich nicht das Volk, ſtatt eine Gattung zu bezeichnen, vielmehr ſelbſt ein Individualbegriff, ein Einzelweſen von einer höheren Ordnung, wie wir all— täglich vorauszuſezen ſcheinen, wenn wir vom Charakter, vom Geiſt, ja von einer Seele des Volkes reden? Jede von dieſen Deutungen ſcheint etwas Richtiges zu ſagen, keine eine einfache Zuſtimmung zuzulaſſen, keine das Weſen der Sache erſchöpfend zu treffen. Aehnlich wie in früheren Jahrhunderten ein langer Streit darüber war, ob die all— gemeinen Begriffe etwas wirklich Seiendes, Reales be— zeichnen, oder bloße Namen, bloße Gebilde der menſchlichen Denkproceſſe ſeien, ſo ſcheinen ſich jezt auf dem Gebiet der ſocialen Wiſſenſchaften die Anſichten über die Frage zu ſpalten, ob die Gemeinſchaften das eigentlich Reale und

90 > Wirkende jeien, oder die Einzelnen. Machen wir das Volk oder macht das Volk uns? ſind wir, indem Jeder der Mittelpunkt des Weltalls zu ſein glaubt, nicht vielmehr nur die flüchtigen Producte eines ſocialen Einzelweſens, eines Geſammtgeiſtes, der unabhängig von uns die Geſeze ſeines Blühens, Reifens und Abſterbens in ſich ſelber trägt? Und iſt es in dieſem Sinne berechtigt, wie man neuerlich verſucht hat, neben die alte Seelenlehre, die von dem indi— viduellen Geiſte handelt, die Völkerpſychologie als eine neue und unabhängige Wiſſenſchaft zu ſtellen?

Aber noch von einer zweiten, ganz anderen Seite her führt uns der Begriff des Volkes in Zweifel und Uns ſicherheit. Man hat es ſchon oft als einen Mangel der deutſchen Sprache bezeichnet, daß ſie für zwei ſo grund— verſchiedene Dinge, wie die Gemeinſchaft der Abſtammung und die des Staatsverbandes nur das Eine Wort, Volk, beſizt, während die anderen Sprachen beides genau aus— einander zu halten wiſſen, und ſchon die Griechen das Eine 8908, das andere cs, die Römer jenes natio und dieſes populus genannt haben. Wenn wir die Juden ein Volk nennen, obgleich ihnen die Gemeinſchaft des Staats, der Sprache, ja ſelbſt der Wohnräume fehlt, nur um der Stammes- und Glaubenseinheit willen, die Schweizer, ob— gleich ſie ganz verſchiedener Abſtammung und Sprache ſind, nur um des Staatsverbandes willen, und dann wieder die Polen, bei denen ſich alles dieß gerade umgekehrt verhält, was bleibt denn noch als gemeinſamer Grundgedanke des Ausdrucks übrig? Und doch iſt wenigſtens die feinere und

91 beſonnenere Redeweiſe auch wieder ſpröder und zurückhalten— der in dem Gebrauch dieſes Ausdrucks als andere Sprachen mit den ihrigen. Jene Haufen von Individuen, welche die Steppen Aſiens, die libyſchen Wüſten, die americaniſchen Prairien weidend, raubend, jagend durchziehen, jene Ge— noſſenſchaften von Negern und Polyneſiern, deren Zuſam— menleben uns nur den Wechſel zwiſchen dumpf brütender Trägheit und wilden Ausbrüchen der Sinnenluſt und Leiden— ſchaft zeigt, jene Barbarennamen, welche, ohne eine Spur ihres Daſeins zurückzulaſſen, in dem Dunkel der Jahr— hunderte begraben liegen: wir nennen ſie Horden, Stämme, ja auch noch Völkerſchaften; aber das Wort Volk ſcheint uns zu gut für dieſen Zweck, obgleich weder die Einheit des Stammes noch der Staatsgewalt fehlt, und wir ge— brauchen es nur widerwillig und durch den Mangel unſerer Sprache gezwungen. Denn das Wort geht uns nun ein— mal in jener trockenen, ethnographiſchen und politiſchen Bedeutung nicht auf; wir fühlen bei demſelben einen warmen, herzſchwellenden Oberton mitklingen, als ob von einem Vaterlande, einer geiſtigen Heimath die Rede wäre. Am liebſten würden wir den Schmuck dieſes Namens ganz jenen Gruppen der Menſchheit vorbehalten, welche eine eigen— thümliche Anlage an Geiſt und Gemüth in feſten und blei— benden Formen auszuprägen vermochten und in dem Drama der Weltgeſchichte als Träger und Vertreter einer beſtimm— ten und unvergeßlichen Art, die Räthſel des Menſchen— lebens auszulegen, einen beſondern Act oder Auftritt aus— füllen. Wenn wir aber ſo eine gewiſſe Zuthat von geiſtiger

Bildung und Entwicklung mitdenken, jo hat es doch das freie Spiel des Sprachgeiſtes auch wieder gefügt, daß wir das Volk in einen Gegenſaz zu den höher gebildeten Klaſſen der Geſellſchaft ſtellen und in dieſem Sinne von Volks— ſchulen, Volksbüchern, Volksſchriften reden. Noch weiter und bedenklicher aber entfernt ſich die Redeweiſe von den Ausgangspunkten des Begriffs, wenn dieſe Unterſcheidung auf das politiſche Gebiet übergetragen und die numeriſche Maſſe als das vorgeblich wahre und eigentliche Volk den Trägern und Organen der Staatsgewalt, den Vertretern beſonderer Lebenskreiſe und geſellſchaftlicher Intereſſen ent— gegengeſtellt und in ſolcher Richtung von Volkswohl, Volks— willen, einer Volksparthei geſprochen wird.

Dieſer flüchtige Ueberblick hat wohl gezeigt, daß der Begriff des Volkes, den die Wiſſenſchaft ſo gut wie der tägliche Sprachgebrauch ſtets nach allen Richtungen hin verwendet, keineswegs jo einfach und ſcharf umgrenzt iſt, als er dem erſten Anblick erſcheinen mag, daß er vielmehr jenem Chamäleon gleich in die verſchiedenſten Farben ſchillert, je nachdem man von der einen oder andern Seite her an ihn herantritt.

Ich beabſichtige nun nicht und wäre es wohl auch nicht im Stande, alle die Fragen und Räthſel, die ich hier angeregt habe, jezt der Reihe nach zu löſen, aber ich darf vielleicht Ihre Aufmerkſamkeit für einige Bemerkungen in Anſpruch nehmen, mit welchen ich verſuche einige Klarheit in die Sache zu bringen.

Die Entſtehung der meiſten Völker fällt in dunkle,

unſerer Forſchung entrückte Vorzeit, aber auch wo fie durch geſchichtliche Zeugniſſe aufgehellt werden kann, zeigt man uns nur, wie dieſe beſtimmte Verhältniſſe geworden ſind und pflegt den Grund, auf welchem alle Völkerbildung beruht, ſtillſchweigend vorauszuſezen. Dieſer kann nur in der natürlichen Anlage und Ausſtattung der menſchlichen Gattung liegen und iſt nicht von dem Hiſtoriker, ſondern von dem Pſychologen nachzuweiſen. Ich glaube mir nun, wie in einem früheren Fall, auch dießmal als Poſtulat das Zugeſtändniß erbitten zu müſſen, daß alle weſentlichen Richtungen und Ziele menſchlichen Denkens und Thuns ihre Wurzel nicht in intellectuellen Vorgängen, ſondern in dunkeln Reizen und Trieben haben, welche als Quellen ſpecifiſcher Gefühle von Luſt und Unluſt auf uns wirken und unſern Intellect nach beſtimmten Richtungen hin in Bewegung ſezen. So iſt es denn auch von jeher üblich geweſen, den Menſchen ſchon ſeiner urſprünglichen Anlage nach zu den geſelligen Geſchöpfen zu rechnen und ihm ausdrückliche Triebe der Geſelligkeit beizulegen. Nur pflegt man es dabei zu unterlaſſen, dieſe geſelligen Triebe einzeln zu nennen und nach Richtung und Wirkung genauer zu umgrenzen. Wie es unter den Thierarten ſolche giebt, die immer einzeln oder ſtets paarweiſe leben, ſolche, welche in kleinen Truppen oder Rudeln, oder welche in großen Heerden und Schwärmen zuſammen ſind, ſolche, welche ſich nur für beſtimmte Zwecke der Jagd oder Wanderung, oder welche ſich bleibend zu einander geſellen, endlich ſolche, welche alle Lebenszwecke in gemeinſamer Ordnung und ineinandergreifender Arbeit

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verfolgen, ſo kommt auch der menſchlichen Gattung ſchon von Natur eine ganz beſtimmte Form des geſellſchaftlichen Zuſammenſeins zu. Es iſt nicht richtig und wenigſtens ungenau, dieſe einfach als einen Trieb der Geſelligkeit zu bezeichnen. Läge in uns nur das Verlangen, uns an andere anzuſchließen und folgerichtig an den größten Haufen am liebſten, ſo müßte wohl die Weltgeſchichte ein ganz anderes Anſehen zeigen. Die menſchlichen Wohnſitze wären möglichſt nahe zuſammen gerückt und würden ſich gleichmäßig nach der Peripherie hin ausbreiten; es würde wohl Eine Sprache und Eine Kultur, jedoch von niedriger Entwicklung, herrſchen. Es iſt vielmehr ein Trieb der Gruppirung, der uns beſeelt, nicht der Geſelligkeit. Unſer Drang geht nicht dahin, uns ins Unbegrenzte anzuſchließen, ſondern einer Gruppe an— zugehören, in einen beſtimmten Kreis einzutreten, der ſich geſchloſſen und abgegrenzt gegen andere zu behaupten ſtrebt. Dem Sich anſchließen wollen iſt untrennbar gleich das Sich abſchließen wollen beigeſellt. Unſer Selbſtgefühl zu dem einer Gruppe zu erweitern, in ihr aufzugehen, mit ihren Intereſſen die unſrigen zu verſchlingen, das iſt der Inhalt und die beſtimmtere Form des menſchlichen Geſelligkeits— triebs. Ihr iſt es zuzuſchreiben, daß die Menſchheit nicht Eine gleichförmige Heerde bildet, ſondern in ſich gegliedert und abgegrenzt ein- Ganzes von unabſehbarer Mannig— faltigkeit und Abſtufung darbietet, daß die fließend immer gleiche Reihe belebend abgetheilt iſt, daß beſtimmte Vor— ſtellungskreiſe ſich in ihrer vollen Kraft und Selbſtändig— keit zu feſten und widerſtandsfähigen Geſtalten ausprägen.

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In dem reichen Apparat von großen und kleinen Mitteln, durch welche die Weltordnung den Menſchengeiſt ruhelos vorwärts drängt, nimmt dieſe Neigung, ſich in eine Gruppe zu ſtellen, einen der erſten Pläze ein. Neue Ideen müßten ſich in dem unabſehbaren Wogenſchlag der Meinungen wie eine flüchtige Wellenfurche wieder verlieren, wenn dieſer Drang nicht wäre, uns um ein aufgerichtetes Banner zu ſchaaren, und mit dem Aufgebot aller Kräfte für das gemeinſam ergriffene Ziel einzuſtehen, ja zulezt den urſprünglichen Zweck faſt vergeſſend, nur darum, weil das Panier einmal aufgepflanzt iſt und wir zu ihm ſtehen, noch fortzukämpfen. Wir treten damit faſt blind und unbewußt in die Dienſt— barkeit allgemeiner Gedanken. Von jenen Tauſenden, die einſt auf Tod und Leben darum gekämpft haben, ob in Chriſtus zwei Naturen waren oder eine und ob ſein Weſen dem des Vaters gleich oder nur ähnlich war, wie Wenige mochten auch nur die Streitfrage näher kennen und wie noch wenigere ſich von dem Intereſſe Rechenſchaft zu geben im Stande geweſen ſein, das es für ſie haben könne, ob die Frage ſo oder anders gelöſt würde? Auf allen Blättern der Geſchichte und in allen Geſtalten, erhebenden und ab— ſtoßenden, tritt uns dieſer Eifer um die Gruppe entgegen, als Vaterlandsliebe wie als politiſcher Partheigeiſt, als Glaubenseifer wie als Religionshaß, als Martyrthum und Sektengeiſt, als Standesehre wie als Kaſtenſtolz, als Fa— milienſinn und als Geſchlechterhaß. Auch ſpielend noch ſehen wir ſolchen Corpsgeiſt ſeine Ranken treiben, wenn die Jugend ohne ſonſt erkennbare Zwecke für den Namen ihrer

96 Gruppe, für em farbiges Band mit ritterlicher Hingabe des Leibes und des Geiſtes Gaben einſezt.

Denn das iſt eben das Beſondere und Folgenreiche, daß uns die Natur zwar die Neigung ins Herz gelegt hat, uns in eine geſchloſſene Gruppe unſerer Mitgeſchöpfe hinein— zuſtellen, daß ſie aber dieſen Kreis ſelbſt nicht in feſter und unabänderlicher Weiſe uns vorgezeichnet hat. Die Gruppirungsmotive ſind uns offen gelaſſen und wir ſehen ſie wechſeln durch alle Zeitalter: ja man könnte denken, der Faden der Weltgeſchichte wickle ſich eben in der Reihe jener wechſelnden zur Herrſchaft gelangenden Motive für die menſchliche Gruppirung ab. Es giebt wohl Eine Ge— meinſchaft, die als eine grundlegende, als die unerläßliche Vorbedingung für jede andere betrachtet werden kann; es iſt das räumliche Zuſammenſein, die Möglichkeit des ſprach— lichen Verkehrs und der nächſten Hilfeleiſtung, ohne welche keine Gruppirung wohl denkbar iſt. Wir finden uns durch die Geburt einem beſtimmten Kreis zugewieſen, in welchem wir die erſten Eindrücke und Vorſtellungsreihen, die erſte Entwicklung unſerer Kräfte empfangen. Dieß Band iſt jedoch keineswegs ein zwingendes; es begründet zunächſt weit mehr ein Verhältniß der Abhängigkeit als der An— hänglichkeit. Die Familie iſt gar nicht für ſich ſchon, wie man ſo oft preiſen hört, ſondern erſt durch Hinzutritt einer höheren allgemeinen Geſittung, der Heerd und die Quelle ſittlicher Empfindungen; ſie begründet bei allen roheren Völkern nur ein Verhältniß brutaler Herrſchaft, der Männer über die Weiber, der Eltern über die Kinder, gegen welches

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uns das Familienleben der Thiere leicht als das Reinere und Höhere erſcheinen kann. Und was iſt für den Unter— drückten, den Leibeigenen, den Sclaven der Boden der Heimath, das Land der Väter, die Sprache des Gebieters, die er zu erlernen hat? Der Trieb der Gruppirung greift frei und nach allen Richtungen über die Grenzlinien dieſer erſten Naturbande hinaus; wir haben noch weitere Be— dürfniſſe als das, in einer beſtimmten Heerde heranzu— wachſen.

Und hier iſt eine andere Betrachtung einzureihen. Jene Neigung, einer geſchloſſenen Gruppe anzugehören, iſt nicht die einzige Form unſerer ſocialen Triebe. Es reiht ſich ihr noch eine zweite an, die für unſer Thema von gleich großer Bedeutung iſt.

Es giebt eine ſehr einfache und unſcheinbare pjycholo- giſche Thatſache, welche in ihren Wirkungen für das Ver— ſtändniß aller geſellſchaftlichen Erſcheinungen von entſchei— dender Wichtigkeit iſt. Wenn ich irgend einen Gedanken, eine Meinung, ein Urtheil gegen einen Andern ausſpreche und ſich hiebei die Uebereinſtimmung dieſes zweiten mit meiner Meinung ergiebt, ſei es, daß er dieſelbe ſchon un— abhängig von mir in ſich ausgebildet, oder auf meine Anregung willig in ſich aufgenommen hat, ſo tritt in dem Vorſtellungskreis von mir und von dieſem Andern etwas Neues ein; es wird nicht blos eine Gleichheit und Ueber— einſtimmung conſtatirt, nicht blos für die Formel & = B und A+B= 2 A ein neues Beiſpiel ermittelt, ſondern durch das bloße Bewußtſein der Uebereinſtimmung tritt

Rümelin, Reden u. Aufſätze.

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für beide Theile eine Verſtärkung und Befeſtigung jener Vorſtellungen ein. Der Akt erſcheint uns nicht wie eine bloße Addition, ſondern könnte uns eher an ein Multipli— eiren oder Potenziren erinnern; wir empfinden einen Zu— wachs von Intenſität, Klarheit und Sicherheit der Vor— ſtellung, den wir zwar jo wenig wie andere pſpchiſche Erſcheinungen unter einen numeriſchen Ausdruck bringen können, aber deutlich genug im Bewußtſein als einen Grad— unterſchied empfinden. Mit der Zahl der Zuſtimmenden wächst in jedem derſelben, wenn auch nicht in ſtetigem Verhältniß, die Zuverſicht der gemeinſamen Gedanten. Wenn wir uns etwa als Bild und Veranſchaulichungsmittel denten wollten, daß jeder unſerer Vorſtellungen und Vor— ſtellungsgruppen auch ein beſtimmtes Gebilde in unſerem Gehirne, ſei es eine jener zarten Faſern oder eine Win— dung und Verſchlingung von ſolchen entſpräche, ſo würden wohl die iſolirten Vorſtellungen dünnere und lösbarere, die gemeinſamen aber ſtärkere und widerſtandsfähigere Ge— bilde hervorbringen und die herrſchenden und allgemeinen Vorſtellungen könnten wie feſte und bleibende Geflechte heraustreten. Die Köpfe der Einzelnen wären Inſtrumen— ten zu vergleichen, auf welchen gewiſſe Saiten gleich ge— ſtimmt ſind und die Luftſchwingung, die gerade dieſer Saitenſtimmung entſpräche, mit dem gleichen vollen Ton beantworten würden. a

Ich glaube, daß man es als einen der elementaren Grundſäze für die Maſſenwirkung pſychiſcher Kräfte be— zeichnen darf, daß die Vorſtellungen des Einzelnen durch

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das bloße Bewußtſein der Uebereinſtimmung mit Andern eine Verſtärkung und Befeſtigung erleiden, welche dem iſo— lirten Bewußtſein fehlt.

Bei näherem Hinſehen findet man jedoch noch eine Einſchränkung oder Ergänzung dieſer Regel geboten. Sie wirkt weit ſchwächer in der Sphäre des niederen Trieb— lebens als in der des höheren. Ob die Luft warm oder kalt, ob eine Speiſe wohlſchmeckend iſt oder nicht, darüber bedarf unſer unmittelbares Gefühl keiner Beſtätigung und würde auch durch fremden Widerſpruch nicht irre gemacht. Auch über Fragen perſönlicher Vortheile und Intereſſen fehlt uns die Zuverſicht des eigenen Urtheils nicht. Wir fühlen uns hier von Andern nur inſoweit abhängig, als uns ihr Urtheil über unſere Geſinnung und Handlungs— weiſe nicht gleichgiltig läßt und unſer Selbſtgefühl ihren Haß oder ihre Mißachtung nicht leicht zu ertragen vermag, ſondern ſich erſt in dem Wiederſchein fremder Meinung ſelbſt beſizt und genießt. Anders iſt es auf dem Boden der idealen Güter, im Streben nach Wahrheit und Schön— heit, nach Recht und Sitte, nach Gottesgemeinſchaft. Hier trifft unſer Blick nicht mit dem ſicheren Inſtinct, wie bei jenen niedrigeren Intereſſen, das was unſer Herz ſucht und will; unſicheren Tritts ſteht der Einzelne vor den tauſend Möglichkeiten, die ſich vor ihm ausbreiten, und ſucht zagend und meiſt vergeblich in ſich ſelbſt den ſicheren Wegweiſer. Wir empfinden einen Trieb nach Ergänzung und Aner— kennung, nach einer geiſtigen Anlehnung; wir möchten für unſere Gefühle und Gedanken einen feſten Halt ſuchen in

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der Zuſtimmung derer, die mit uns leben und vor uns gelebt haben. Je größer der Kreis der Zuſtimmenden iſt und jemehr der Inhalt zugleich den beſonderen Bedürfniſſen und Richtungen des Einzelgeiſtes entgegenkommt, deſto feſter, ſicherer, ausgeprägter werden jene Vorſtellungsreihen, deſto dominirender, um bei dem obigen Bild zu bleiben, die ihnen entſprechenden Stränge oder Knoten der Gehirnfaſern. Und hier iſt es denn, wo der Genius ſeine Stätte findet, der einem weiten Kreis vorfühlt und vordenkt, der das, was alle ſuchen und vermiſſen aber nicht finden, tiefer und klarer empfindet und ihm den typiſchen Ausdruck zu leihen weiß, in welchem alle die Löſung des Räthſels willig hinnehmen. Zwar können ſich auch dieſe lichtbringenden und bahn— brechenden Geiſter jenes allgemeinen Triebs nach geiſtiger Anlehnung nicht entſchlagen; auch ſie müßten an ſich ſelbſt irre werden, wenn ſie Niemandes Zuſtimmung fänden, aber was ihnen die Gegenwart verſagt, ſuchen ſie in der Ver— gangenheit oder erwarten von der Zukunft den Wiederklang gleichgeſtimmter Geiſter.

Sollte es nun nicht aus einer einfachen Maſſenwirkung dieſes individuellen Triebes nach geiſtiger Anlehnung er— klärbar ſein, wie jene allgemeinen Ideen des Wahren und Schönen, des Rechts und des Guten und der Gottheit in allen den wechſelnden, beſonderen Geſtalten, welche ſie in verſchiedenen Kreiſen und Zeiten angenommen haben, ent— ſtehen konnten, wie insbeſondere der Anſchein erwachſen mußte, als ob dieſe Ideen, obgleich ſie ihren Urſprung nur Einzelnen und einer unendlichen Wechſelwirkung zwiſchen

Einzelnen verdanken, dennoch ihre Realität nicht in den Köpfen dieſer Einzelnen hätten, ſondern zwiſchen und über den— ſelben ſelbſtändig in den Regionen einer höheren Geiſtes— welt ſchwebten? Wie bei optiſchen Vorgängen und Viſionen löſen wir die feſten Gebilde unſeres Innern von uns ab

und projiciren ſie nach Außen, daß ſie uns wie Autoritäten und geiſtige Mächte gegenübertreten. Man könnte das Bild von einem großen See gebrauchen, der obgleich ihn nur die tauſend kleinen Quellen, die ſich aus Regen, Schnee und Gletſcherwaſſer bilden, urſprünglich gefüllt haben und fortwährend ſpeiſen müſſen, dennoch uns als ein ſelbſtändiges gewaltiges Phänomen von eigener Kraft und Schönheit gegenübertritt, zu dem ſich jene Bäche und Flüßchen, die in ihn einmünden, nur wie ein ſchmückendes Anhängſel ver— halten. Und doch würde dieß Bild zu wenig ſagen, da jene Bäche doch immer nur gebend und nicht empfangend ſind, während jene idealen Güter dem Einzelnen wie Offen— barungen geboten zu werden ſcheinen, die ihren ſubjectiven Urſprung abgelegt und vergeſſen haben. Die große Lehre vom objectiven Geiſt, welche die Wiſſenſchaft als ein un— verlierbares Gut betrachten darf, wird in dieſer Deutung vielleicht verſtändlicher als bei ihrem Urheber ſelbſt, welcher jene geiſtigen Mächte ganz abgelöst von allem ſubjectiven Thun und ohne Vermittlung nur als höhere Offenbarungs— ſtufen in der dialectiſchen Selbſtentwicklung des abſoluten Geiſtes erſcheinen läßt und ihnen damit allen realiſtiſchen Zuſammenhang entzieht. Ebenſo läßt aber auch dieſe Ent— ſtehungsweiſe begreifen, wie jene idealen Güter, Wiſſenſchaft

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und Kunſt, Recht, Moral und Religion ihre Selbſtändigkeit unter einander entwickeln und behaupten können, wie Eines dem Andern vorauseilen oder von ihm überholt und zurück— gedrängt werden kann, wie dieſe Colliſionen zwiſchen Religion und Staat, Recht und Sitte, Wiſſenſchaft und Glauben, Er die Unluſt und den Zwieſpalt, den ſie dem einzelnen nach Har monie und Einheit verlangenden Gemüthe bereiten müſſen, ie Menſchheit in fortwährende unruhige Bewegung verſezen und zu den wichtigſten Reizmitteln ihres Fortſchritts gehören. Wenn wir uns nun neben dieſem Verlangen nach geiſtiger Anlehnung noch jenes Triebes der Gruppirung erinnern und als Drittes oder eigentlich Erſtes die natür— lichen Unterlagen aller menſchlichen Geſelligkeit, das räum— liche Zuſammenſein, den ſprachlichen Verkehr, den Aus— tauſch der Bedürfniſſe und Genußmittel nebſt den geogra— phiſchen Einflüſſen und der Vererbung der Eigenſchaften hinzudenken, welche zwar für ſich kein Band der Gemüther, aber eine Verflechtung der Intereſſen und Gewöhnungen bewirken, an die ſich leicht höhere Beziehungen anlehnen, ſo haben wir, wie ich glaube, die Elemente beiſammen, welche die Pſychologie als die erſten uud wirkſamſten Keime der Völkerbildung aufzuzeigen vermag. Wir ſehen wie vielerlei zuſammentreffen muß, um alle Vorbedingungen des vollen Begriffes zu vereinigen, wie dieſer aber auch Abſtufungen in ſich zuläßt, je nachdem das eine oder andere jener Elemente noch fehlt. Nicht jeder Ort, wo man ge— boren iſt, iſt eine Heimath, nicht jedes Land der Väter auch ein Vaterland. Ich kann durch die Gemeinſchaft von

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Staat und Recht an ſolche gekettet jein, deren Sprache ich nicht verſtehe, deren Sitte, Bildung und Glauben mir fremd iſt. Die menſchliche Freiheit ſteht wieder über allen dieſen einzelnen Anziehungskräften; ich kann mich von Allem los— reißen, zu den Fremden gehen und mit König Davids Ahn— frau ſprechen: Dein Volk ſei mein Volk und dein Gott ſei mein Gott. Der Begriff des Volks iſt nicht durch rein objective Merkmale feſt umgrenzt, ſondern er erfordert auch die ſubjective Empfindung. Mein Volk ſind diejenigen, die ich als mein Volk anſehe, die ich die Meinen nenne, denen ich mich verbunden weiß durch unlösbare Bande. Und hier iſt eine Theiluug, ein Zwieſpalt der Empfindungen möglich; das eine Motiv kann mich zu dieſem, das andere zu jenem Kreiſe hinziehen; der Glaube kann mich einer Gruppe zuweiſen, von der mich der Verband der Gemeinde, des Staats, der Sprache, der Abſtammung trennt. Aber unſer Gemüth wird jede ſolche Theilung und Gebrochenheit ſeiner Stimmung als eine Störung empfinden und beklagen; es wird ſtets von einer ſtillen Sehnſucht begleitet ſein nach einer vollen einheitlichen Lebensgemeinſchaft. Es wird ihm als ein ideales Ziel die centrale, alle Lebensziele umſchlie— ßende Gruppe vorſchweben, in welcher alle die einzelnen Gruppirungsmotive ihren Halt- und Sammelpunkt finden, in der wir das volle Bewußtſein haben: dieß ſind die Unſern, die Angehörigen, zu denen wir ſtehen, mit denen wir ausharren, deren Geſchick wir theilen, von denen zu ſcheiden ein unerträglicher Gedanke wäre.

Dieß ideale Ziel der Univerſal-Gruppe, der vollen

104 Lebensgemeinſchaft iſt es nun, was unſer deutſches Wort Volk in ſeinem tieferen Sinn bezeichnen will, ohne ſich darum auch jenen unvollkommeneren Formen, die durch die einzelnen Hauptmerkmale beſtimmt werden, zu verſchließen. f Und jo mögen wir es uns immerhin gefallen laſſen, wenn im natur— geſchichtlichen Sinn jede durch einen auf Abſtammung und Sprache gegründeten Typus ſich von ihren Nachbarn abgren— zende Gruppe, und im politiſchen Sinn jede durch Eine Staatsgewalt beherrſchte Menge ein Volk genannt wird. Wir müſſen dann, wenn auch mit widerſtrebendem Gefühl, die ver— wirrenden Folgerungen dieſes Sprachgebrauchs hinnehmen, daß der Einzelne zu zwei oder drei Völkern gehört und ge— ſagt werden kann: das belgiſche Volk beſteht aus zwei, das engliſche und ſchweizeriſche aus drei, das öſtreichiſche und

ruſſiſche aus ich weiß nicht wie vielen Völkern. In jenem volleren Sinn kann Niemand zu mehr als Einem Volk gehören, wohl aber auch zu gar keinem. Nicht jede natio, nicht jeder populus begründet in ihren Gliedern das Gefühl der vollen Zuſammengehörigkeit; die einen werden nie zu einem Volk, die andern erſt nach langen inneren und äußeren Kämpfen; die einen entſchwinden aus der Erinnerung der Menſchheit, wie wenn ſie nie geweſen wären; die andern graben auch über die Dauer ihres phyſiſchen Beſtandes hinaus das Gedächtniß ihres Wirkens für alle Zeiten in die Tafeln der Geſchichte ein.

Es iſt Vieles, was zuſammentreffen muß, um jenem Ideal zu entſprechen und die Wirklichkeit bietet uns immer nur eine annähernde Löſung. Ein Land, groß und frucht—

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bar genug, um eine dichte, zahlreiche, zum Selbſtſchuz gegen alle Nachbarn befähigte Menge zu ernähren, von mannigfal— tiger Gliederung, um eine vielſeitigere Entwicklung des wirth— ſchaftlichen und intellectuellen Lebens zu geſtatten; auf dieſem Boden eine ſprachgeeinigte Bevölkerung, die ihn bebaut und erkämpft hat und ſich durch gemeinſame Thaten und Leiden verbunden weiß; dieſe Menge geſchüzt und geordnet durch eine einheitliche Staatsgewalt, die ihrem Schooß entſprungen, mit ihren Intereſſen und Erinnerungen verwachſen iſt, und nun auf der Grundlage dieſer geſicherten Staatsordnung die Blüthe und Pflege aller jener idealen Güter der Menſch— heit, des intellectuellen, ſittlichen und religiöſen Lebens in freien und mannigfachen Formen, auch in Gegenſäzen und Kämpfen, übek welche ſich das befeſtigte Gemeingefühl über— legen und verſöhnend ausbreitet dieß heißt, ein Volk ſein. Es iſt ein Ziel, des Schweißes der Edlen werth, die Sehnſucht von Jahrhunderten, von allen jenen bloßen Stamm-, Sprach- und Staatsgenoſſenſchaften geſucht und erſtrebt, von wenigen und meiſt nur auf kürzere Dauer erreicht; ein Urbild menſchlichen Daſeins, das den Dichtern und Denkern aller Zeiten vor der Seele ſtand. Mit kühnem und vielleicht die Bedingungen der Wirklichkeit überfliegen— dem Geiſtesſchwung hat ein deutſcher Denker, Fichte, ein ſolches Ideal gezeichnet, in jener achten ſeiner Reden an die deutſche Nation, welche die Ueberſchrift trägt: was ein Volk ſei in des Wortes höherer Bedeutung, und worin er Volk und Vaterland als Träger und Unterpfand der irdiſchen Ewigkeit darſtellt. Und der Dichter, dem der Vorwurf ge—

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macht werden will, daß er nur dem individuellen Gefühl und Geiſtesleben, nicht auch dem der Gemeinſchaften ein volles Verſtändniß entgegengebracht habe, läßt denjenigen ſeiner poetiſchen Helden, welchem er am meiſten den Hauch des eigenen Geiſtes geliehen hat, ſich vermeſſen, daß er niemals ruhen und ewig raſtlos fortſtreben, ja ewig verloren ſein wolle, wenn er zum Augenblick ſprechen würde: ver— weile doch, du biſt ſo ſchön, und er läßt Fauſt ſeinen Einſaz verlieren, als er in gemeinnüziger That der Weisheit höchſten Schluß erkennt und jenen Augenblick als eingetreten erklärt bei dem Gedanken: Solch ein Gewimmel möcht ich ſehen, Auf freiem Grund mit freiem Volke ſtehen.

Von dieſer Unterſcheidung niedrigerer und höherer Formen des Volksthums aus kann es nun vielleicht auch gelingen, auf jene am Eingang erwähnten Fragen über die logiſche und grammaticaliſche Natur dieſes Begriffes eine Antwort zu finden. Jene ungeſchichtlichen Horden und Stammgenoſſenſchaften, denen jede innere Entwicklung zu fehlen ſcheint, wo ſeit Jahrhunderten bei ſtets gleicher Beſchäftigung und engſtem Vorſtellungskreis jeder Einzelne in gleicher Weiſe als Typus des Ganzen dienen kann, mögen wir immerhin als bloße Varietäten einer Race oder Species betrachten, bei welchen das Ganze keinen weiteren Zweck erkennen läßt, als das ſtets gleiche Beiſpiel der Gattung immer von Neuem zu erzeugen, zumal da wir kleine Abweichungen und langſame Umbildungen ja auch bei den Organismen der Thier- und Pflanzenwelt nicht mehr als ausgeſchloſſen anſehen ſollen. Eine Schilderung

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der Eigenschaften, Sitten und Gebräuche von Kamtſchadalen und Papuanegern, von Karaiben und Irokeſen macht uns einen ſehr verwandten Eindruck, wie wenn wir in der Naturgeſchichte von Bibern, Känguruhs und Gorillas leſen, wenigſtens inſoweit als jeder Einzelne den Typus ſeiner Art in gleicher Weiſe vertritt. Wenn ſodann in ganzen Staaten und Reichen ein auf rohe Gewalt und Willkühr geſtütztes Regiment über eine träge, paſſive, auf die engen Beziehungen eines ſtabilen Privatlebens beſchränkte Maſſe geführt wird, ſo wüßte ich nicht zu ſagen, warum auf eine ſolche Volksmenge ein höherer Begriff als der eines Col— lectivnamens angewendet werden ſollte. Wo dagegen ein Kulturvolk alle Kräfte und Anlagen der menſchlichen Natur in eigenthümlichen Formen und in der lebendigſten Wechſel— wirkung der Theile und des Ganzen fortentwickelt, da könnte ſich zwar vielleicht eine nüchternere Auffaſſung noch mit der Analogie eines Stromes, eines Waldes, eines Ge— birges begnügen, wo auch dem Ganzen Eigenſchaften zu— kommen, die das Einzelne nicht hat, und das Einzelne ſich ebenſo gebend als empfangend verhält, doch mag man, wenn man die Unähnlichkeiten dabei nicht ganz vergeſſen will, auch das höhere und in einzelnen Beziehungen zu— treffendere Bild eines Organismus gebrauchen. Wenn man aber mit dieſem Bild nun vollends ſoweit Ernſt machen will, daß man das Volk zu einem Individualbegriff, zu einem beſeelten Einzelweſen von einer höheren Ordnung der Geiſteswelt ſteigert, dem gegenüber von den atomiſti— ſchen wechſelnden Individuen die wahre und eigentliche

108 Realität zukomme, dann geſtehe ich mit meinen Gedanken zu ſolcher Höhe nicht mehr nachfolgen zu können. Von einem Volksgeiſt, Volkscharacter, einer Volksſeele können wir nur in demſelben Sinn reden, in welchem wir dieß auch vom Geiſt eines Zeitalters, vom Charakter einer Gegend, Verſammlung, von der Seele eines Gedichtes thun. Der Gedanke, eine Völkerpſychologie als eine beſondere und coordinirte Wiſſenſchaft neben die ſeitherige Seelenlehre zu ſtellen, iſt zwar von geiſtvollen Männern erfaßt und zu begründen verſucht worden, er wird ſich aber ſchwerlich auf die Dauer zu behaupten vermögen. Die Characteriſtik der Kulturvölker wird der Hiſtoriker auch in Zukunft unter ſeine Aufgaben ſtellen; die der ungeſchichtlichen Horden und Stämme wird er dem Anthropologen und Geographen abtreten; die eigenthümliche Wechſel- und Maſſenwirkung der pſychiſchen Individualkräfte in der Geſellſchaft iſt das beſondere Gebiet, ja das Grundthema der ſocialen Wiſſen— ſchaften. Pſychologie wird es immer nur Eine geben. Ein geiſtiges Einzelweſen ohne die einheitliche Spitze eines Selbſtbewußtſeins wird aber allen denen ein phantaſtiſcher Begriff bleiben, welche ſich einen Willen ohne ein Wollen— des, Gedanken ohne ein Denkendes nicht vorzuſtellen im Stande ſind. Wohl giebt es eine Form, in welcher ſich ein Volk zum lebendigen, denkenden und wollenden Einzel— weſen zu entwickeln vermag; es iſt dies die Inſtitution des Staats, in welcher ein einheitlicher, ordnender, intelligenter Wille die Kräfte, Anlagen und Richtungen eines Volks zur realen äußeren Geſtaltung bringt, und das Volk zu einem

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bejeelten, perſönlichen Weſen wird. Darüber hinaus liegt nichts Faßbares mehr.

Geſtatten Sie mir dieſe Bemerkungen über mein Thema noch mit einigen flüchtigen Bildern aus dem Buch der Ge— ſchichte zu beleben. Der Gedanke, ein Volk zu ſein in des Wortes höherer Bedeutung, als geſchloſſene Gruppe ſich die höchſten Aufgaben vor Augen zu ſtellen und mit Unter— ordnung aller andern Zwecke zu verfolgen, iſt niemals ernſter und großartiger erfaßt und ausgeführt worden, als von den Kindern Iſraels. Hier war, wie Fichte will, Volk und Vaterland Träger und Unterpfand einer irdiſchen Ewigkeit, und das Volksleben wie ein permanenter Dienſt im Heiligthum betrachtet. Wenn es dieſem Volk gleichwohl zu keiner Epoche ſeiner Geſchichte gelungen iſt, ſein theore— tiſches Ideal auch nur annähernd in die Gegenwart ein— zuführen, wenn ſich die Hoffnung dieſer Verwirklichung früh genug auf die unbeſtimmte Zukunft, auf die Erſcheinung eines Retters und Geſalbten des Herrn zurückzog, ſo lag der Grund hievon wohl auch in äußeren Dingen, in der Lage und Kleinheit des Gebiets, der Nähe mächtiger Nach— barn, in der allen Prieſterſtaaten eigenthümlichen Vernach— läßigung kriegeriſcher Eigenſchaften, aber doch noch weit mehr in den inneren Mängeln jenes Ideals ſelbſt, in der Enge des Geſichtskreiſes, in der Unmöglichkeit, bei Ver— achtung oder Unkenntniß von Wiſſen und Kunſt, von höherer Geſelligkeit, von Mannigfaltigkeit der Beſchäftigung, dem Leben noch irgend einen conereten Inhalt zu geben, an dem ſich jene ſtetige Beziehung auf das Göttliche lebendig

beweiſen konnte, jo daß nach Befolgung all der vielen Ge— bote und Verbote dem Einzelnen kein weiteres Ziel vor Augen geſtellt werden konnte, als ruhig unter ſeinem Feigen— baum zu ſizen und dereinſt zu ſeinen Vätern verſammelt zu werden oder in Abrahams Schooße zu liegen. Den— noch hat dieß Volk noch vor ſeiner Auflöſung als Staat der Welt die vollendetſte Frucht menſchlichen Gemüths und Geiſtes zurückgelaſſen und bewährt nun ſeit langen Jahr— hunderten der Zerſtreuung die wunderbare Gruppirungs— kraft ſeiner Stammes- und Glaubenseinheit.

In anderer Weiſe, mit helleren Augen, mit freierem Geiſte haben die Hellenen, der intelligenteſte unter allen Zweigen der Menſchheit, die Aufgabe ergriffen, in den Sammelpunkt des geſchloſſenen Volksſtaats die Erfüllung aller menſchlichen Lebenszwecke zu verlegen. Niemals iſt der Einzelne mehr im Ganzen aufgegangen und nie hat er von dieſem Ganzen einen reicheren Gehalt und Schmuck ſeines eigenen Lebens zurückempfangen als in jenen Städterepu— bliken an den Ufern des Eurotas und Ilyſſus. In dauer— hafteren, aber gebundeneren Formen bewegte ſich dieſe Hingebung in Sparta, wo die Aufgabe nur ſchien, einer Kriegerkaſte die bleibende Herrſchaft im eroberten Land und die politiſche Leitung der Nachbarſtaaten zu ſichern. In flüchtigeren, aber reicheren und glanzvolleren Geſtalten drängte ſich die atheniſche Volksherrſchaft von raſch erſtie— gener Höhe noch raſcher dem Abgrund ihrer inneren Wider— ſprüche entgegen, wußte aber im Sinken und Erlöſchen noch 8 mehr zündende und leuchtende Funken des Geiſtes in die

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Welt hinauszuſprühen, als andere Völker in langen Jahr— tauſenden zu erzeugen vermocht haben.

Wenn bei den Juden die Stammeseinheit Alles, bei den Griechen noch Vieles galt, ſo war ſie bei den Römern ſchon von Anfang an nicht vorhanden; hier iſt der Staat nicht aus dem Weſen des Volkes, ſondern das Volk erſt aus der Entwicklung des Staates herausgewachſen; ſie ſind das erſte Beiſpiel eines nicht ethnographiſcheu, ſondern politiſchen Volks. Bei gleicher Bürgertugend aber größerer Achtung vor der geſchichtlich gewordenen und ſelbſtgeſchaf— fenen Ordnung, wußten ſie zuerſt das Privatleben von dem öffentlichen als eine Sphäre gleicher perſönlicher Freiheit ſcharf und ſtreng abzugrenzen und der Logik allgemein an— wendbarer Principien zu unterwerfen, aber troz dieſer Scheidung und durch dieſelbe ihrem Staatsgebäude eine Stärke uud Dauer zu geben, die niemals wieder erreicht worden iſt. Das Weltreich aber, das ſie durch die kluge und rückſichtloſe Verwendung dieſer gewaltigen Mittel grün— deten, iſt das Grab ihrer eigenen und aller Völkerfreiheit geworden, und Jahrhunderte hindurch mußte ſich jener un— ausrottbare Trieb der Gruppirung auf die localen und geſelligen Zwecke, die Philoſophenſchulen, die geheimen und offenen Kulte und Secten zurückziehen und hier um ſo tiefere Wirkungen üben, je mehr ihm bei reichen Schätzen der Bildung der natürliche Spielraum entzogen war.

Das Meiſte und Beſte aber von Allem, was unſere bildungsſtolze Gegenwart aufzuweiſen hat, ſtammt immer

112 noch aus der Erbſchaft jener drei Völker des Alterthums, Juden, Griechen und Römer.

Das dunkle Jahrtauſend, deſſen vieldeutigen Inhalt wir unter dem unbeſtimmten Namen des Mittelalters zu- ſammenzufaſſen uns gewöhnt haben, führt zwar ganz neue Völter auf die Weltbühne, aber doch zunächſt nur, um ſie zu miſchen, zu zerſezen und in die Dienſtbarkeit der alten Ueberlieferungen zu bringen. Wenn wir uns an den Menſchen jener Zeit die Frage gerichtet denken: wer biſt Du und zu wem gehörſt Du, ſo würde er wohl zuerſt mit den Worten des lutheriſchen Catechismus geantwortet haben: ich bin ein Chriſt, und hätte, wenn man noch weiter fragte, hinzugefügt: ich bin der Dienſt- und Lehens— mann des Grafen oder Abtes So und So. Das weiteſte und allgemeinſte Band der Religion, und wieder das engſte und nächſte der localen Beziehungen waren die herrſchenden Motive der Gruppirung; in der großen Mitte zwiſchen beiden lag nichts. Hiefür fehlte ſchon die nöthige Vielſeitigkeit unmittelbarer Berührungen. Für die meiſten Menſchen war der Beſuch des nächſten Jahrmarkts oder Wallfahrtsortes das größte Reiſeziel und bedeutendſte Er— lebniß. Nicht blos Sprachen, ſondern ſchon Dialekte bildeten die Grenzen des Verſtändniſſes. Für die leitenden Klaſſen war das Latein lebende und Welt-Sprache.

Aber langſam und in der Stille bereiteten ſich neue Anſchauungen vor; gegen Ende des Mittelalters treten die neueuropäiſchen Kulturvölker aus der verworrenen Maſſe als geſchloſſene Gruppen heraus, zunächſt die Spanier, die

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Franzoſen, die Engländer. Bei ihnen allen gieng die Bil- dung eines neuen Volkes aus zuvor getrennten Stämmen und Provinzen Hand in Hand mit der Ueberwindung äußerer oder innerer Feinde und der Erſtarkung einer ein— heitlichen Staatsgewalt; die Grenzlinien der Stämme ver— ſchwanden hinter der politiſchen Einheit. Aus dem weiten Hintergrund gleichartiger Bildung hebt ſich zuerſt wieder das beſondere Volksthum in kräftiger Schattirung ab.

Auch die Deutſchen, die damals an Macht, Wohlſtand und Bildung hinter keinem der Nachbarn zurückſtanden, nahmen um dieſelbe Zeit, nachdem ſie ſo lange bei äußerer Herrſchaft doch in allen geiſtigen Dingen die Schüler der romaniſchen Völker geblieben, den Anlauf, dieſe Lehrjahre abzuſchließen und eine Geſtaltung ihres religiöſen und poli— tiſchen Lebens zu ſuchen, die ihrem jezt entwickelteren Eigen— weſen entſpräche. Welchen Erfolg dieſer Verſuch hatte, wie wir uns daran verbluteten, wie wir in zwei große Lager geſpalten, zerriſſen in Hunderte von Territorien, deren meiſte man nicht Staaten, ſondern Zerrbilder von Staaten nennen konnte, den Hohn und frechen Uebermuth des nur durch ſeine Einigung ſtärkeren Nachbars ertragen mußten, wie wir an uns ſelbſt zu verzweifeln anfiengen, wie dann langſam ein Stern der Hoffnung aufgieng, ein geiſtiges Band der Sprache, Litteratur und Wiſſenſchaft die getheilten Stämme umflocht, wie das Verlangen, endlich ein Volk zu werden und ein Vaterland zu haben, allgemeiner und bren— nender wurde, wie zulezt die Erfüllung eintrat in Formen und Wegen, die Manchen unerwünſcht, für Alle überraſchend

Rümelin, Reden u. Aufſätze. 8

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und überwältigend waren, wem brauche ich alles dieß zu ſagen? Ein Volk für den Ethnographen ſind wir ja ſchon längſt und immer geweſen, ſogar wenn man darauf Werth legen wollte, reiner und weniger gemiſcht, als die andern alle; ein politiſches Volk hätte uns Jemand in den Zeiten unſerer großen Kaiſer auch nennen können, nur fehlte das Bewußtſein davon und die geiſtige Selbſtändig— keit; ein Volk im ächten wahren Sinn des Worts, dem wir uns angehörig wiſſen und empfinden, das uns ein Vaterland giebt, ſind wir erſt durch die neueſten Ereigniſſe geworden; es ſind dafür nicht alle, aber die entſcheidenden Bedingungen erfüllt worden.

Man ſollte denken, daß unſere ganze bisherige Ge— ſchichte nur eine Einleitung, nur Wander- und Lehrzeit war und jezt erſt die Meiſterjahre angebrochen wären. Wir haben nicht Zeit rückwärts zu ſchauen und ſehen uns gleich vor die größten Aufgaben geſtellt. Vieles könnte uns hiebei ängſtlich machen, aber Eine Bürgſchaft des Er— folges muß ich nennen, da ihre Erwähnung zugleich den Abſchluß meines Themas bildet.

Wie der Einzelne nichts Großes vollbringt ohne Ver— trauen auf ſich ſelbſt und ein gewiſſes Gefühl ſeines Werthes, der Werth ſeiner Leiſtungen aber keineswegs von dem Maaß dieſes Selbſtgefühls abhängt, ſo iſt auch bei den Völkern der Nationalſtolz, das Hochgefühl der eigenen Größe nur ein unentbehrliches Mittel, aber nicht der Zweck der Sache. Nicht darin beſteht die Bedeutung eines Volkes in der Entwicklung der Menſchheit, daß es für ſich etwas ganz

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Beſonderes und Unvergleichliches zu fein glaubt, ſondern daß es für eine beſtimmte Seite und Form des allgemeinen Menſchenideales einen vollen und für alle Zeiten muſter— giltigen Ausdruck findet und den in der Natur unſerer Gattung begründeten Reichthum vielfacher und gleichwerthi— ger Geſtalten menſchlichen Daſeins zur Anſchauung bringt. Die Idee der Menſchheit ſteht noch höher als alles Volks— thum; in dem Geiſterreigen ahnender Völker breitet die Menſchheit die Fülle ihres Inhaltes aus. Nun hat aber noch nie die eigenthümliche Gemüthsart eines Volkes zu dieſer Idee der Menſchheit eine directere Beziehung gehabt als die der Deutſchen. Andere Völker dienten ihr ohne es zu wiſſen und zu wollen. Uns aber hat der beſondere Gang unſerer Geſchicke dahin geleitet, jenes Ziel unmittelbar und mit Bewußtſein als unſer Wahrzeichen aufzuſtellen. Man hat uns jo oft geſcholten, daß wir das Eigene nicht zu ſchätzen wiſſen und das Fremde bewundern; eine rechte Doſis von Nationalſtolz uns einzuimpfen, hat niemals gelingen wollen, und nachdem wir die größten Thaten fertig gebracht, laſſen wir uns kaum für eine Erinnerungs— feier daran erwärmen. Mit dem beſten Willen bringen wir es nicht dahin, das Fremde zu verachten, den Haß der Feinde mit der gleichen Erregung zu erwiedern; wir können nicht davon laſſen, das Gute zu ſuchen und anzu— erkennen, wo es auch ſei. Vom Weltbürgerthum, von einer Weltlitteratur aus ſind wir zum Bewußtſein unſerer natio— nalen Aufgabe geführt worden. Die Poeſie keines Volkes hat jo direct nach den Höhen der Menſchheit den Blick ge— 8 *

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richtet; die Wiſſenſchaft keines andern hat einen ſo uni— verſellen und internationalen Charakter. Zur Nation euch zu bilden, hat uns Schiller geſagt, ihr hofft es, Deutſche, vergebens; bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menſchen euch aus. Manche unſerer Eigenſchaften halten uns auf oder ziehen uns vom Ziele ab, aber dieſer ideale Zug, die Liebe zur Wahrheit und Gerechtigkeit und Humanität wird uns immer wieder auf die rechte Straße weiſen. Und bei dieſem eigenthümlichen Zug nach dem allgemein Menſch— lichen hin dürfen wir vielleicht hoffen, daß wir in den ſchweren Kämpfen und Aufgaben, die unſerer warten, nicht allein ſein werden, ja daß der Genius der Menſchheit als ſtiller Bundesgenoſſe an unſerer Seite ſtehen wird.

Ueber die Lehre von den Seelenvermögen.

6. Nov. 1873.

Man ſollte denken, die Pſychologie könnte und müßte die Königin aller Wiſſenſchaften ſein, und wer die höchſte irdiſche Erſcheinung, den Menſchengeiſt zu deuten wüßte, für den würde auch Natur und Welt kein Räthſel mehr bieten. In Wirklichkeit aber iſt bekanntlich die Seelenlehre noch gar weit entfernt, einen ſo hervorragenden Plaz unter ihren Schweſtern einzunehmen. Wiewohl ſie auch in dieſem Stand der Erniedrigung noch allen andern Wiſſenszweigen die Ausgangspunkte und lezten Bürgſchaften ihrer Erkennt— niß zu bieten hat, ſo iſt ſie doch im Ganzen unter dieſen wie der ſchwerſte, ſo auch der unvollkommenſte. Ich wüßte wenigſtens keine Wiſſenſchaft, die noch ärmer wäre an feſten, allgemein anerkannten, und von jedem neuen Forſcher ohne Weiteres vorausgeſezten Wahrheiten. Und zwar trifft die Unſicherheit vielleicht noch weniger die ein— zelnen empiriſchen Erſcheinungen, die uns im praktiſchen Leben vorkommen, als die Anfänge und die allgemeinſten grundlegenden Begriffe. Nicht nur die Fragen über das Weſen der Seele ſind beſtritten, ob überhaupt eine Seele als ein Ding und reales Etwas anzunehmen ſei oder ob

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dieſer Begriff nur als ein zuſammenfaſſender Name für eine Reihe von Vorgängen und Erſcheinungen einer inneren Wahrnehmung gebraucht werde, ſondern ſchon die allererſten, auch nur ſummariſchen Unterſcheidungen und Eintheilungen dieſer inneren Vorgänge machen uns die größten Schwierig— keiten. Ich denke hier an die bekannte Lehre von den Seelenvermögen. Die Meiſten von uns haben wohl in der Schule gelernt oder in Büchern geleſen, daß der menſch— lichen Seele drei Grundvermögen beizulegen ſeien, die wir am häufigſten mit den drei kurzen Worten, Denken, Fühlen, Wollen bezeichnet hören, wobei jedoch für Denken auch Vor— ſtellen oder Erkennen, für Wollen auch Streben oder Be— gehren, ſeltener für Fühlen auch Empfinden geſagt wird. Dieſe Lehre macht den Anſpruch, daß durch ſie für alle Vorgänge unſeres pſychiſchen Lebens eine erſchöpfende Ein— theilung geboten ſei, ſo daß, was auch immer unſer Be— wußtſein als einen Act innerer Erfahrung zu unterſcheiden vermag, entweder ein Vorſtellen oder ein Begehren oder ein Fühlen oder ein aus zwei oder allen drei ſolchen Ele— menten Gemiſchtes ſein müßte. Sie will aber noch weiter damit ſagen, daß jene drei Thätigkeiten einander gleichge— ordnet, daß ſomit keines aus dem andern abgeleitet ſei, ſondern alle drei auf einen gemeinſamen Urſprung, nemlich eben die Seele zurückweiſen.

Es wäre nun in der That ein großer Schritt in der Entwicklung einer noch ſo unfertigen Wiſſenſchaft, wenn dieſe Unterſcheidung von drei Grundvermögen der Seele wirklich feſtſtünde. Sie hätte dann wenigſtens einmal feſten Boden

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unter den Füßen, es wären die erſten Pfeiler eingeſchlagen, das Fundament, auf dem ſich weiter bauen ließe und die pſychologiſchen Begriffe ſchwebten nicht mehr jo haltlos und zerfahren in der Luft. Allein es fehlt noch gar viel daran, daß jener Saz von den drei Seelenvermögen bereits als ein ſicheres Beſizthum der Wiſſenſchaft anzuſehen wäre und es ſtehen ihr noch mancherlei und erhebliche Einwürfe gegen— über. Befremdlich iſt es ſchon, daß er noch von ſo jungem Datum, kaum 100 Jahre alt und nach kurzer Herrſchaft ſchon wieder lebhaft beſtritten iſt. Man ſollte denken, daß eine einfache Grundwahrheit früher und allgemeiner erkannt und einmal erkannt nicht wieder beſtritten worden wäre. Die Philoſophen des Alterthums ſprechen bald von zwei, bald von drei oder vier Grundkräften der Seele, wobei ſie zwar wohl theilweiſe an das eine oder andere jener drei Vermögen anſtreifen, aber doch im Weſentlichen von andern Geſichtspunkten ausgehen. Beſonders beliebt und dem po— pulären Verſtändniß naheliegend erſchienen immer Zwei— theilungen, ſei es, daß man in der Erinnerung an den Gegenſaz von Körper und Geiſt oder von Thieriſchem und Menſchlichem die Sinnlichkeit und Vernunft unterſchied und dabei zur Sinnlichkeit nicht blos die Wahrnehmungen, ſon— dern auch die Empfindungen und Begierden, zur Vernunft auch das vernünftige Wollen rechnete, oder daß man nur animus und mens, Sinn und Trieb, Verſtand und Charak— ter, Herz und Kopf, Wille und Vorſtellung auseinanderhielt. Das Gefühl wurde lange nicht als eine beſondere eben— bürtige Seelenthätigkeit anerkannt, ſondern lief wie ein

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blinder Paſſagier, ein zufälliges und beiläufiges Anhängſel, das einer beſonderen Beachtung weder fähig noch werth erſchien, mit nebenher.

Wenn auch nicht ohne anſtreifende Vorläufer, war es zuerſt Kant, der jene Trias von Seelenvermögen feſtgeſtellt und zur Anerkennung in den pſychologiſchen Lehrbüchern ge— bracht hat, und ſie liegt ſeinen drei Hauptwerken in der Weiſe zu Grunde, daß er in der Kritik der reinen Vernunft das Er— kenntnißvermögen, in der Kritik der praktiſchen Vernunft das Begehrungsvermögen, in der Kritik der Urtheilskraft das Ge— fühlsvermögen darauf hin unterſucht hat, welche unter den jedem dieſer Vermögen zukommenden Begriffen der Erfahrung entnommen und welche als ein eigener, urſprünglicher, aprio- riſcher Beſiz des Menſchengeiſtes zu der Erfahrung hinzuge— bracht und in ſie hineingelegt werden. Während nun dieſe Kantiſche Theorie im Allgemeinen ſowohl in die deutſche Wiſſenſchaft als in den Begriffsvorrath der gebildeten Klaſſen Eingang gefunden hat, begegnete ſie auch mancherlei Anfech— tungen, beſonders einer ſcharfen und einſchneidenden Kritik von Seiten Herbarts und ſeiner Schule. Der Widerſpruch kehrte ſich hiebei weniger dagegen, daß man überhaupt die verſchiedenen Vorgänge des Seelenlebens in jenen drei Klaſſen zur Ueberſicht und für den praktiſchen Gebrauch unterbringen könne, als daß an die Stelle der einheitlichen und einfachen Seele drei von einander unabhängige Grundkräfte geſezt werden, deren ineinandergreifendes Zuſammenwirken nur wieder durch die Annahme weiterer, eben hiezu dienender Vermögen begreiflich gemacht werden könnte. Die poſitive

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Deutung des Seelenlebens, wie fie in dieſer Schule üblich ift, ſtellt ſodann die Vorſtellungen und deren Bewegungen an die Spize der Pſychologie, ſo daß auch alles Fühlen und Begehren nur als ein abgeleiteter, durch Druck und Spannung, durch Steigen und Sinken von Vorſtellungen veranlaßter Zuſtand der Seele erſcheint.

Da nun dieſe Auffaſſung eine weite Verbreitung und großes Anſehen in der deutſchen Philoſophie der Gegenwart gewonnen hat, und jedenfalls der kritiſche Theil der Herbart— ſchen Sätze noch Beachtung finden wird, wenn das, was an die Stelle der alten Lehre geſezt werden ſoll, als Ganzes wenige Anhänger mehr zählen dürfte, ſo erſcheint die frühere Theorie immerhin nicht mehr als eine ſichere Errungenſchaft, wofür ſie eine Zeitlang gelten konnte, ſondern als ein frag— licher und erſchütterter Beſiz der Wiſſenſchaft, und es iſt weder eine überflüſſige, noch, wie ich glaube, eines allgemeineren Intereſſes entbehrende Aufgabe, die Berechtigung der Lehre von den drei Seelenvermögen zu prüfen und zu beſprechen. Erlauben Sie, daß ich ohne jeglichen Anſpruch, etwas Er— ſchöpfendes oder Abſchließendes über ein ſo weitgreifendes Thema zu ſagen, Ihnen einige Anſichten darüber vorlege.

Es ſchien mir immer für mancherlei pſychologiſche Fragen lehrreich und fruchtbar, darauf zu achten, welche Methode wir anzuwenden und welcher Ausdrücke wir uns zu bedienen pflegen, wenn wir ein menſchliches Individuum in Worten beſchreiben und von andern unterſcheiden wollen. Wenn es ſich nur um eine Schilderung der körperlichen Eigenſchaften handelt, ſo erſcheint das Verfahren ſehr ein—

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fach. Jeder Steckbrief, den wir in der Zeitung leſen, jedes Signalement in einem Reiſepaß giebt uns darüber Aus— kunft. Es werden, wie Sie wiſſen, dabei eine mäßige Zahl von Rubriken ſchablonenhaft aufgeſtellt, neben Geſchlecht und Alter in der Regel die Größe, die Figur, die Haare nach Farbe und Fülle, Stirne, Naſe, Augen, Wangen, Mund, Zähne und in jeder dieſer Rubriken wird ein kurzes Prädikat beigefügt, das ein quantitatives Verhältniß, eine Dimenſion, eine Farbe oder Aehnliches ausdrückt, wie z. B. groß, dicht, breit, ſchwarz u. ſ. f. So grob nun auch die Umriſſe eines ſo gezeichneten Bildes ſind, ſo iſt es doch überraſchend, daß es durch ſo einfache Mittel mit einem Duzend Worte gelingt, ein Individuum von Hundert Tau— ſenden, ja Millionen auszuſondern. Man ſieht daran wie alle Individualität nur darin liegt, daß Merkmale, welche Allen zukommen, nur in verſchiedenen Maaßen und Graden, ſich bei dem Einzelnen in einer beſtimmten Miſchung und Combination dieſer Maaße zuſammenfinden. Unzählige junge Männer mögen eine unterſezte Figur und dabei blaue Augen haben; wenn aber hinzugefügt wird, blonde und krauſe Haare, ſo ſind es ſchon nur Wenige, die dieſe vier Merkmale theilen; und ſo geht es fort, wenn ein fünftes, ſechstes, ſiebentes Kennzeichen hinzutritt; der Kreis wird immer kleiner, die Möglichkeit der Combination immer größer; jeder einzelne Zug für ſich kommt Unzähligen zu, aber dieſer beſtimmte Complex von Zügen iſt ein Unicum.

Sollte nun dieſe Methode, die für die körperliche Cha— racteriſtik ſo praktiſche Dienſte leiſtet, nicht auch für die

123 pſychiſche oder geiſtige Seite anwendbar ſein? Sollte die Einzigkeit des Individuums hier in etwas Anderem be— ſtehen als daß Gattungsmerkmale ſich in dieſer beſtimmten Miſchung ihrer Arten und Maaße doch nur dieß Einemal begegnen? Allein wenn wir dieß verſuchen, ſo ſtoßen wir gleich auf die Schwierigkeiten: wie heißen denn die Rubriken, die in die Schablone einzutragen wären, die Prädikamente, die jenen Signalements der Steckbriefe entſprechen würden? Die Sprache bietet uns zwar eine Unzahl von pſycholo— giſchen Begriffen, aber ſie decken oder durchkreuzen oder widerſprechen ſich und jede Auswahl erſcheint willkührlich und mangelhaft. Machen wir nun die Probe mit den drei Grundkräften oder Seelenvermögen, ſo ſehen wir uns ſofort enttäuſcht. Wenn ich von irgend Jemand fragen wollte, was hat er für ein Vorſtellungs- oder Gefühls- oder Be— gehrungsvermögen, ſo muß ich die Fragſtellung als eine falſche, wo nicht alberne erkennen. Denn welche Art von Prädikaten ich auch gebrauchen will, groß oder klein, ſchwach oder ſtark, eng oder weit, ſtill oder bewegt, oder was ſonſt, ſo entſteht ein Widerſinn. Denn Niemand hat ja ein Be— gehrungsvermögen nur im Allgemeinen, ſondern Alle be— gehren, aber der eine dieſes, der andere jenes und Jeder von dem, was er begehrt, das Eine wieder lebhafter und heftiger als das Andere. Den Einen freut es, wie uns der Dichter ſagt, den Staub von Olympia aufzuwirbeln, den Andern das Korn von der libyſchen Tenne in ſeine Scheune zu ſammeln. Niemand begehrt Alles, Jedermann Etwas und Vieles. Ebenſo iſt es mit dem Vorſtellen und

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Fühlen. Alle ſtellen vor, alle fühlen, aber ihr Vorſtellen und Fühlen iſt ein in ſo mannigfaltiger Weiſe abweichen— des, daß wenn ich das Ganze mit einem einzigen Prädikat verbinden wollte, es ungefähr lauten müßte, wie wenn Jemand ſagte: das Pflanzenreich iſt gut oder es iſt ſchlecht, es iſt giftig oder wohlſchmeckend, groß oder klein.

Um nun feſtere und brauchbarere Anhaltspunkte zu gewinnen, verſuchte ich eine rein empiriſche, oder wenn man will, ſtatiſtiſche Methode anzuwenden. Ich bemerkte mir alle Formeln und ſprachlichen Ausdrücke, durch welche wir einzelne Menſchen zu characteriſiren pflegen, mochten ſie nun in Büchern oder im Leben, bei Dichtern oder Geſchicht— ſchreibern, für hervorragende oder alltägliche Perſönlich— keiten, in deutſchen oder in anderen mir bekannten Sprachen begegnen, und ich ſah jedes der Merkmale darauf an, was eigentlich damit geſagt, welche Seite des Seelenlebens da— durch beſtimmt werden wolle. Man hat auf dieſem Wege raſch Hunderte von Prädikaten zuſammen, aber man iſt bald überraſcht zu bemerken, daß ſie ſich doch in nur wenige Klaſſen oder Gruppen ordnen laſſen, denen auch die ver— einzelten Nachzügler, auf die man ſpäter noch ſtößt, un— ſchwer einzureihen ſind.

Wenn wir von Jemand ausſagen, daß er von den Gegenſtänden ſeiner ſinnlichen Wahrnehmung ſich die Ge— ſtalt, Größe und Farbe leicht und ſicher einpräge, den Ort dieſer Wahrnehmung oder einen einmal zurückgelegten Weg nicht wieder vergeſſe, oder daß er Sinn für mechaniſche Cauſalität habe, jede Maſchine ſchnell begreife, oder daß

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er gut erzähle oder ſeine Meinungen überzeugend darzu— legen und gegen Einwürfe zu begründen wiſſe, daß er leicht Sprachen lerne, daß er ſeine Vorſtellungen vielfältig unter einander in immer neue Combinationen bringe, oder daß er Anlage für Mathematik habe, aber einer abſtracten Gedankenbewegung nur ſchwer zu folgen vermöge, ſo iſt leicht zu erkennen, daß wir mit dieſen und hundert ähn— lichen Prädikaten den Intellect eines Menſchen kennzeichnen, ſeine intellectuellen Anlagen und Kräfte, die Vorſtellungs— reihen, die ſein Bewußtſein erfüllen, aber nicht nach ihrem Inhalt, ſondern nach ihren formalen Seiten, ihrem Fluß, dem Grad ihrer Beſtimmtheit, der Art ihrer Bewegungen und Verknüpfungen.

Von einer ganz andern Art ſind dagegen Prädikate wie die folgenden. Wir hören von Jemand, daß es ihm eine wichtige Herzensangelegenheit ſei, gut und viel zu eſſen, eine noch wichtigere, gut und viel zu trinken, oder daß er für die Triebreize des ſexuellen Lebens in hohem Grade empfänglich ſei, oder er ſei ſehr ſparſam und auf Nichts ſo ſehr, wie auf die Vermehrung ſeines Vermögens bedacht; er ſei geſellig und könne keine Stunde allein ſein;

für ſeine Handlungsweiſe ſei es ein entſcheidender Punkt, was die Leute darüber ſagen. Eben dahin gehören aber auch die Urtheile, es ſei Jemand gutherzig, mitleidig und könne keine Fliege leiden ſehen, oder er ſei wißbegierig und intereſſire ſich für wiſſenſchaftliche Fragen auf dieſem oder jenem Gebiet; er liebe die Muſik und die Gaben der Poeſie, während ihn die bildenden Künſte kalt laſſen; ſein

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Rechtsgefühl ſei ſtärker entwickelt als die Empfänglichkeit für die Regungen des Gewiſſens, ſociale und politiſche Fragen beſchäftigen ihn lebhafter als kirchliche und religiöſe Dinge. Alle dieſe und ähnliche Prädikate, ſo buntſcheckig und fremdartig ſie ſich neben einander ausnehmen, haben doch den gemeinſamen Ausgangs- und Sammelpunkt, daß ſie angeben, auf was ein Menſch ſein Intereſſe und ſeine Aufmerkſamkeit richtet, welche Motive ihn beſtimmen, was er für Güter hält, die er erſtrebt, was für Uebel, die er vor anderen vermeidet, oder mit andern Worten, ſie ſagen uns, welche unter den verſchiedenen in die menſchliche Natur eingepflanzten Triebreizen, auf denen alle unſere Vorſtel— lungen von Gütern des Lebens ruhen, auf ein Individuum eine ſtärkere, und welche eine ſchwächere Wirkung ausüben; ſie bieten uns zuſammen die Scala des menſchlichen Trieb— lebens mit Angabe der den einzelnen Trieben zukommenden Stärkegrade; ſie geben den Inhalt, die Ziele und Zwecke, in welche wir den Werth des Menſchenlebens zu ſezen pflegen.

Es giebt nun aber noch eine dritte Art von Unter— ſcheidungsmerkmalen der Perſönlichkeiten. Der eine er— ſcheint uns lebhaft und leicht erregbar, der andere ruhig und ſtill, bei jenem wie bei dieſem können die einzelnen Eindrücke und Regungen flüchtig oder nachhaltig ſein. Auch die Empfänglichkeit für Luſt und Unluſtgefühle hat ſehr verſchiedene Grade; und wie wir den Körpern eine ver— ſchiedene Wärmecapacität beilegen, indem das gleiche Maaß zugeführter Wärme bei dem einen Körper eine ſchwächere,

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bei dem andern eine ſtärkere Erwärmung hervorbringt, To gelangt bei gleichem Anlaß der eine leichter, der andere ſchwerer zu einem Gefühl der Luſt; der eine hofft immer das Beſte und ſieht den Weltlauf in roſigem Lichte; der andere fürchtet immer das Schlimmſte und blickt in die Welt wie durch ein getrübtes Glas. Ebenſo kann der Eine den vollen Schwerpunkt aller ſeiner pſychiſchen Kräfte in ſein momentanes Thun verlegen; er tritt muthig, mit geſam— melter Gegenwart des Geiſtes für das ein, was ihn bewegt; der andere iſt verzagt, unſchlüſſig, zerſtreut oder zerfahren. Der eine giebt ſich immer wie er iſt und trägt ſein Herz auf der Zunge; der andere iſt verſchloſſen und ſchwer zu enträthſeln. Dieſe und eine Menge ähnlicher Bezeichnungen mit allen dazwiſchenliegenden Nuancen des Maaßes drehen ſich alle um Einen Punkt; ſie drücken die Grade, die Formen und Arten jener inneren Erregungen aus, von welchen alle übrigen pſychiſchen Vorgänge begleitet ſind und durch welche ſie erſt die unſrigen, auf ein innerſtes Centrum, das Ich, bezogen werden und die entweder angenehmen oder unan— genehmen Zuſtände dieſes Ichs bilden. Einen Theil dieſer Prädikate pflegen wir unter dem ſchwankenden Begriff des Temperaments zuſammenzufaſſen, den ganzen Complex der Eigenſchaften aber, die ſich auf die Art beziehen, in welcher das Centrum unſeres inneren Lebens, das Ich, von den Vorgängen deſſelben berührt und afficirt wird, bezeichnen wir mit dem Namen der Gemüthsart oder des Naturells.

Neben dieſen drei Grundformen von Bezeichnungen, durch welche wir Menſchen zu characteriſiren gewöhnt ſind,

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giebt es zwar noch mancherlei andere Prädikate, die in praktiſche Anwendung kommen; ſie ſind aber alle entweder Miſchformen und Zuſammenſezungen aus jenen drei Klaſſen, oder ſind es überhaupt nicht rein pſychologiſche Merkmale. Wenn wir Jemand muſicaliſch nennen, ſo legen wir ihm zweierlei bei, eine Neigung und eine Fähigkeit, die Freude an der Muſik und einen entwickelten Tonſinn, d. h. die Fähigkeit, Töne und ihre Intervalle zu unterſcheiden und eine Reihe derſelben zu einem Ganzen zuſammenzufaſſen. Wenn ich Jemanden das Prädikat eines Philoſophen er— theile, ſo ſeze ich bei ihm, was der Name beſagt, Liebe zur Weisheit und Befähigung für abjtractes Denken voraus. Im Ehrgeiz liegt Beides, ein hervortretender Trieb nach Auszeichnung und eine Gemüthsart von tiefer Erregbarkeit. Wenn wir Jemand einen tüchtigen, brauchbaren, ausge— zeichneten Menſchen, einen Andern einen Schlingel oder Taugenichts nennen, ſo meſſen wir dabei das Ganze ſeiner pſychiſchen Eigenſchaften an den allgemeinen oder beſonderen Zwecken des praktiſchen Lebens und ziehen nur das Schluß— facit aus einer nicht näher ausgeführten, aber vorausge— ſezten Prüfung derſelben. Wenn wir dagegen Jemand als Orthodoxen oder Freigeiſt, abs conſervativ oder Democraten bezeichnen, ſo wollen wir ihn damit überhaupt nicht im pſychologiſchen Sinn characteriſiren, ſondern wir drücken damit nur ſeine Stellung zu allgemeinen Zeitfragen aus, die noch durch ganz andere Factoren bedingt ſein kann. Im Uebrigen habe ich noch kein menſchliches Prädikat finden

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können, das nicht einem jener drei Elemente oder einer Combination derſelben zuzutheilen wäre.

Wir hatten vorhin geſehen, daß ſich die Lehre von den drei Seelenvermögen ganz unbrauchbar erwies, um durch irgend eine Art von Attributen derſelben Individuen zu characteriſiren, was dieſelbe doch unzweifelhaft leiſten müßte, wenn die menſchliche Seele aus dieſen drei Grund— kräften zuſammengeſezt wäre. Dagegen hat ſich uns eine andere Dreiheit ergeben, die ich mit den Namen Intellect, Triebleben und Gemüthsart bezeichnet habe, und ich brauche

wohl kaum noch darauf aufmerkſam zu machen, daß uns

hier unter abweichender Form doch nichts Anderes als jene Trias von Vorſtellen, Wollen und Fühlen entgegentritt, daß der Intellect dem Vorſtellen, die Triebe dem Begehren, die Gemüthsart dem Fühlen entſprechen. Der Unterſchied liegt nur darin, daß wir nicht auf drei Vermögen oder einheitliche Grundkräfte, ſondern auf drei Gruppen unter ſich gleichartiger Erſcheinungen geführt wurden, auf drei Klaſſen von pſychiſchen Vorgängen, Functionen, Lebens— äußerungen, die zuſammen unſer Seelenleben ausmachen. Der Hauptgedanke jener alten Lehre, die Unterſcheidung der drei Seelenthätigkeiten des Vorſtellens, Wollens und Fühlens ſchien ſich zu bewähren und nur eine etwas ver— änderte Geſtalt anzunehmen.

Man kann nun zwar gegen die hier angewendete Me— thode den Einwurf erheben, daß ſich auf dieſem Wege eine vollſtändige Aufzählung der pſychiſchen Thatſachen und Merkmale gar nicht gewinnen laſſe und es ſich in der

FM . w Ü Rümelin, Reden u. Aufſätze. 9

130 Piyhologie überhaupt nicht um dasjenige handeln könne, wodurch ſich ein Menſch vom andern unterſcheide, ſondern was allen gemeinſam ſei. Und in der That giebt es man— cherlei Prädikate, welche wir niemals für menſchliche Cha— rakteriſtik anwenden, obgleich ſie nur etwas vollkommen Zutreffendes beſagen würden. Denn wir werden wohl niemals über Jemanden bemerken hören, daß ihm der Schnee weiß, das Eiſen hart, das Feuer heiß, der Himmel blau erſcheine, oder daß er ein und daſſelbe Urtheil nicht zugleich zu bejahen und zu verneinen vermöge, daß er die Geſundheit der Krankheit, die Luſt dem Schmerz vorziehe, daß ihm die Befriedigung ſeiner Wünſche angenehm, deren Vereitlung unangenehm ſei, daß für ihn ſein Ich den Mittel— punkt ſeines inneren Lebens bilde. Dieß würde uns vor— kommen, wie wenn in einem körperlichen Signalement von Jemand angegeben würde, daß ſich ſeine Naſe unterhalb der Augenlinie aber oberhalb des Mundes befinde. Es kann nun allerdings ſehr lehrreich für den Pſychologen ſein, ſich auch eine Sammlung von ſolchen menſchlichen Prädikaten anzulegen, die wir niemals zu denken, zu leſen oder zu hören pflegen, weil die Sprache uns nicht dazu dient, das Selbſtverſtändliche zu ſagen. Er wird jedoch dabei im günſtigſten Fall nicht mehr erreichen als durch die Sammlung der Unterſcheidungsmerkmale. Denn eine nähere Betrachtung von dieſen ergiebt, daß ſie die gemein— ſamen Merkmale der Gattung oder Art immer ſchon voraus— ſezen und mit andeuten. Alle geiſtigen Signalements, wie ſie auch lauten mögen, drücken immer ein Plus oder Minus

von einem allgemein menſchlichen Merkmal aus und denken ein Mittleres als den Nullpunkt hinzu, von dem aus die Stärkegrade nach zwei Seiten hin beſtimmt werden. Mögen wir Jemand dumm oder geſcheidt, lebhaft oder ſtill, offen oder verſchloſſen, geizig oder verſchwenderiſch, muthig oder feig nennen, ſo denken wir immer einen Durchſchnitt als Maßſtab mit und eine Liſte aller Abweichungen enthält daher zugleich auch alle pſychiſchen Merkmale des typiſchen, mittleren Menſchen, deſſen Seelenleben der Pſycholog zu— nächſt im Auge hat. Kein einzelner Menſch kann Eigen— ſchaften haben, die nicht in der Gattung liegen, wozu ein Keim und Anſaz nicht in Jedem zu treffen wäre, ſei es auch nur ſo, wie der Taube wenigſtens Ohren, der Blinde wenigſtens eine Augenhöhle, Brauen und Lider hat.

Auch unter denjenigen, welche in der Anerkennung jener drei Grundfunctionen übereinſtimmen, beſtehen übri— gens noch große Meinungsverſchiedenheiten über die weiteren daran ſich knüpfenden Fragen. Verhält ſich die Seele in jedem Augenblick vorſtellend, ſtrebend und fühlend zugleich, oder thut ſie bald das Eine bald das Andere, ſo daß jede dieſer Functionen auch unterbrochen werden und ruhen kann. Wenn die Pſychologen hierauf je nach ihrer Selbſtbeobach— tung verſchiedene Antworten geben, ſo kann ich nicht glauben, daß in einem Punkte von ſolcher Bedeutung ein Unterſchied zwiſchen dem einen und andern Individuum Statt findet, ſondern nur daß die Frage ſelbſt verſchieden aufgefaßt und namentlich der Begriff des Wollens oder Begehrens bald in einem engeren bald in einem weiteren Sinn ver—

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ftanden worden iſt. Wenn uns ein ſcharfer und beſonnener Denker, wie Bona Meyer, verſichert, daß nach ſeiner Selbſt— beobachtung er viele Vorſtellungen habe, denen weder ein Begehren noch ein Gefühl von Luſt oder Unluſt zur Seite gehe, und ebenſo Gefühle und Empfindungen, die von keinem Vorſtellen begleitet ſeien, ſo wird dieß in dem Sinne, wie es gemeint iſt, wohl Jeder beſtätigen. Wir ſehen täglich Perſonen und Sachen und nehmen Vorſtellungen davon in uns auf, die uns völlig gleichgiltig laſſen, keine Spur von Streben, von Luſt oder Unluſt in uns erregen. Auch kann ich füglich in meinem Zimmer eine behagliche Empfindung von Wärme haben, ohne mir den Ofen oder das Feuer oder den Thermometer oder irgend etwas damit Zuſammenhän— gendes vorzuſtellen. Allein das trifft nicht die Frage, die eigentlich gemeint iſt. Nicht darum handelt es ſich, ob ein einzelnes Vorſtellen ohne ein ebendarauf bezügliches Streben oder Fühlen vorkommt, ſondern ob ein Zuſtand der Seele nachweisbar iſt, in welchem ſie nur vorſtellt oder nur be— gehrt oder nur fühlt ohne irgend ein Mitklingen oder Wirken der andern Functionen. Und dieß, glaube ich, iſt zu verneinen. Wenn ich ein Haus, die Wieſe, den Wald gleichgiltig anſehe, ſo geſchieht dieß nur, wenn und ſolange ich dieſen Dingen nur eine ſchwache und getheilte Aufmerk— ſamkeit ſchenke und zugleich an andere Dinge denke; ſobald ich die volle, geſammelte Aufmerkſamkeit dahin lenken würde, ſo könnte dieß nur in Folge eines Motivs, eines Intereſſes, alſo eines Strebens geſchehen, und es würde dieſem Streben ein ſeinem Erfolg oder Nichterfolg entſprechendes Gefühl

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zur Seite gehen. Man ſpricht von der Seele als einem einfachen Weſen und von der Enge des Bewußtſeins, welche die Fixirung der Aufmerkſamkeit ſtets nur auf Einen Punkt geſtatte; ich will darüber hier keine Meinung ausſprechen, aber jede unbefangene Selbſtbeobachtung ſcheint mir zu be— zeugen, daß wenigſtens auf unſere normalen und alltäg— lichen Seelenzuſtände das Prädikat der Einfachheit nicht anwendbar, daß vielmehr ſtets Verſchiedenes gleichzeitig nebeneinander in uns vorgeht und auch die Richtung der Aufmerkſamkeit nur ausnahmsweiſe eine ganz ungetheilte iſt. Wenn ich mich entſchließe einen Spaziergang zu machen, um friſche Luft zu ſchöpfen, ſo begleitet dieß Wollen, ohne noch weiter ins Bewußtſein zu treten, die ganze Ausführung des Vorſazes, und die Beine vollziehen dieſen, zwar ohne beſondere Weiſung hiefür zu bedürfen, aber doch unter dem ſtetigen Druck jenes Wollens, da ſie ſonſt ſofort ſtille ſtehen müßten. Auf dem Wege drängen ſich mancherlei Sinnes— wahrnehmungen auf von Flur, Waſſer, Wald, von Men— ſchen und Thieren; dabei iſt Luft, Boden, Temperatur theils angenehm theils unerfreulich. All dieß wird vorge— ſtellt und empfunden, aber doch nur nebenbei, mit ſchwacher Betonung. Die Gedanken ſelbſt ſind ganz wo anders; ſie bewegen ſich entweder um eine perſönliche oder berufliche Angelegenheit oder um die Arbeit des Tages, oder gehen ſie auch ihrerſeits ſpazieren in freiem Spiel von Erinne— rungen, Planen, Betrachtungen leichterer oder ernſterer Natur; die ganze Reihe dieſer Vorſtellungen iſt begleitet von leichten Modulationen angenehmer oder unangenehmer

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Gefühle, die von dem Inhalt und Verlauf dieſer Vorſtellungen erregt werden. Dieſe wechſelnden Gefühle ſelbſt aber haben wieder zu ihrer Unterlage eine mitgebrachte, ſei es behag— liche oder unbehagliche Grundſtimmung des Gemüths, die ihrerſeits wieder theils durch dauernde Urſachen, theils durch beſondere Anläße, Tageserlebniſſe, körperliches Befinden ꝛc. bedingt iſt. Alles dieß tritt nicht zuſammen in Eine Be— leuchtung des Bewußtſeins, kann aber durch nachträgliche Reflexion und Analyſe aufgedeckt werden; als Niederſchlag des ganzen Complexes von inneren Vorgängen bleibt viel— leicht nur eine leichte Modification der mitgebrachten Stim— mung zurück, aber Vorſtellen, Fühlen und Wollen laufen immer gleichzeitig neben einander her, und ich muß glauben, hiemit nicht eine blos individuelle Erfahrung gezeichnet zu haben. Wenn meine Zuhörer meinen Worten folgen und die durch dieſelben angeregte Reihe von Vorſtellungen an ſich vorübergleiten laſſen, ſo ſcheint es, wie wenn hiebei nur von einer rein intellectuellen Thätigkeit die Rede ſein könnte; aber es war ein Motiv, ein Intereſſe erforderlich, um Sie in dieſen Saal zu führen, ſei es der Wißbegierde oder der Unterhaltung oder um zu ſehen oder geſehen zu werden oder was ſonſt. Dieß Motiv bedingt Ihre Auf— merkſamkeit und kann ſie allein feſthalten; ſobald es ent— ſchwindet oder nachläßt, ſo werden auch die Gedanken ſo— fort eine andere Richtung einſchlagen. Dieſem Streben und Vorſtellen geht nun aber eine Scala von Gefühlen, angenehmen oder unangenehmen oder gemiſchten zur Seite, je nachdem Sie meine Anſichten einleuchtend oder unklar

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und zweifelhaft fanden, Sie leichter oder ſchwerer hören und folgen können u. ſ. f. Die Trias kehrt ſo überall wieder. Das Gefühl kann niemals pauſiren, denn es iſt das eigentliche und innerſte Leben, die centralſte unter den Functionen der Seele. Es hat eine unabſehbare Mannig— faltigkeit je nach dem Stärkegrad und den Quellen ſeiner Erregung, ſowie durch das Zuſammenwirken und die Miſchung verſchiedener Reize, aber es gewinnt bei jedem Menſchen einen Grundaccord, den wir die Gemüthſtimmung nennen, welcher als der gewohnte Mittelzuſtand mit dem Bewußtſein ſo verſchmilzt, daß nur die größeren Abwei— chungen nach der einen oder andern Seite deutlicher heraus— treten und ſpeciell von uns bemerkt werden. Ebenſo muß immer ein Intereſſe, ein Trieb in uns wirken, wäre es auch nur, wenn alle anderen Reize ruhen, der horror vacui, der Trieb, der Langeweile zu entgehen, die Leere des Da— ſeins auszufüllen und ſich den Intellect etwas vorträumen oder aufſpielen zu laſſen. Denn auch dieſer kann nie zur Ruhe kommen; bald in Sinneswahrnehmungen, bald in Reproductionen, in Umbildung und Verknüpfung derſelben zu inneren Bildern oder abſtracten Zeichen und Formen zieht eine ununterbrochene Reihe von hellen oder trüben, beſtimmten oder verſchwommenen, einfachen oder combinirten Vorſtellungen wie in einem Schattenſpiel an der Leuchte des Bewußtſeins vorüber; und ich weiß nur die einzige Ausnahme von der allgemeinen Regel, daß bei hoch ge— ſteigerten Empfindungen von Schmerz oder Luſt die intel— lectuelle Thätigkeit für Augenblicke wie gelähmt erſcheint

136 und bei den heftigſten Erregungen das Bewußtſein ganz entſchwinden kann.

Wenn aber das beſtändige Zuſammenſein dieſer drei Seelenthätigkeiten die normale Grundthatſache iſt, ſo muß auch in der gewöhnlichen Lehre der Ausdruck „Seelenver— mögen“ ſchon darum unhaltbar erſcheinen, weil es ſich nicht um bloße Möglichkeiten oder Fähigkeiten handelt, die der Menſch ausüben und auch wieder nicht ausüben kann, je nachdem es ihm beliebt, etwa wie wir ein Sehvermögen haben, deſſen Thätigkeit wir ſiſtiren können, wenn wir die Augen ſchließen. Der Menſch kann nicht blos in jedem Augenblick vorſtellen, fühlen und wollen, ſondern er muß es thun; es iſt ihm gar nicht möglich, das Eine oder Andere zu unterlaſſen, und jeder Verſuch, den wir hiezu machen, iſt ſofort wieder ein Streben, ein Vorſtellen und ein Fühlen.

Den Vorwurf der Herbartſchen Schule gegen die Lehre von den Seelenvermögen, daß ſie an die Spize einer Wiſſen— ſchaft eine Dreiheit ſeze, ohne von derſelben einen Weg zu der Einheit der Seele, die doch vorausgeſezt werden muß, angeben zu können, müſſen wir nun freilich bei dieſer Auf— faſſung in verſtärktem Grade auf uns nehmen. Denn nicht nur drei, ſondern eine viel größere Zahl von Kräften oder Eigenſchaften, deren keine auf die andere zurückzuführen iſt, mußten wir gelten laſſen. Denn gerade wie im körper— lichen Leben die blauen Augen neben ſcharfem oder ſchwachem Sehvermögen, neben dichten oder dünnen, hellen oder dunkeln, ſchlichten oder krauſen Haaren, neben guten oder ſchlechten Zähnen u. ſ. f. vorkommen, ſo zeigt uns auch die Erfah—

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rung eine Reihe von Eigenschaften pſychiſcher Art, bei welchen jeder Stärkegrad mit jedem Stärkegrad aller andern vereinbar iſt. Mit einem guten Ortsgedächtniß oder ſtark entwickelten Tonſinn kann viel oder wenig Einbildungskraft, ein ſcharfes oder ſtumpfes Denkvermögen, kann jede Art von Begierden oder von Gemüthseigenſchaften verbunden ſein. Die zarteſte Mutterliebe kann mit Bosheit oder Herzensgüte, mit Geiz oder Verſchwendung, mit Muth oder Verzagtheit, mit jedem Maaße von intellectueller Begabung zuſammenbeſtehen. Zwei Erſcheinungen aber, deren Steigen oder Sinken keinerlei Rapport zu einander zeigt, können auch in keinem Cauſalzuſammenhang mit einander ſtehen und auf keine einheitliche Quelle zurückgeführt werden. Wenn in einer Wiſſenſchaft die Forſchung auf eine Mehrheit oder Vielheit von Kräften oder Erſcheinungen führt, die weder auseinander noch aus einer gemeinſamen Wurzel abzuleiten ſind, ſo iſt dieß Ergebniß zwar immer ein un vollkommenes, da es der Forderung einer ſyſtema— tiſchen Einheit nicht entſpricht, aber es iſt darum noch kein falſches. Denn alle Erkenntniß beginnt mit dem Unter— ſcheiden. Willſt im Unendlichen dich finden, mußt unter— ſcheiden und dann verbinden, ſo mahnt uns der Dichter. So lange es uns nicht gelungen iſt, das Unterſchiedene auch wieder zu verknüpfen, müſſen wir uns zwar beſcheiden, dem Ziele noch fern zu ſein, aber doch können wir, ſobald nur die Unterſcheidung eine richtige war, der Wahrheit näher ſtehen, als alle jene Verſuche, von allgemeinen Be— griffen und Principien aus im Wege einer Conſtruction,

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die doch immer nur durch verſtohlenen Seitenblick auf die empiriſchen Thatſachen zu Stande kommt, zu dem Reichthum und der Mannigfaltigkeit der Erſcheinungen, des wirklichen Seelenlebens gelangen zu wollen.

Uebrigens iſt es ja gar nicht einmal ſo, daß um jener Vielheit von Kräften willen unſer ganzes Wiſſen von der Menſchenſeele in Stücke auseinanderfallen müßte. Das Athmen und Verdauen, das Sehen, Hören, Riechen und Schmecken gehen auch nebeneinander her, ohne daß wir ſie auseinander oder von einem dritten herzuleiten wüßten und doch erſcheint es uns nicht als ein Widerſpruch, dabei den einheitlichen Organismus des Menſchenkörpers feſtzu— halten. Ebenſo wenig hindert uns eine Mehrheit von coordi— nirten Kräften und Thätigkeiten, die Seele des Menſchen als Einheit, als ein reales Etwas zu denken, und ich wüßte nicht, warum ich, etwa aus theoretiſchen Serupeln über den Begriff des Dings und ſeiner Eigenſchaften, mir die Seele nicht als eine lebendige Monade denken dürfte, die ihr Weſen in verſchiedenen, von einander geſonderten aber in einander wirkenden Functionen bethätigt und ausein— anderlegt. Ein Ich, das Glückſeligkeit fordert, das nach dem höchſten Luſtgefühl der Selbſtbethätigung unabläßig hindrängt darin ſcheint mir der innerſte Kern und das Weſen der individuellen Seele zu liegen, das iſt ihre cen— trale, alles Andere beherrſchende Function. Worin aber dieß Glück, dieſe geforderte Luſt zu ſuchen iſt, das iſt in dieſem erſten aller Merkmale noch nicht enthalten. Es iſt eine Reihe von Trieben, von angeborenen Willensanſäzen

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und Strebungen, in welchen dieß geſuchte Glück beſtimmte Formen und Geſtalten gewinnt. Die Triebe ſind die ge— ſonderten, ſpecifiſchen Quellen der Luſtgefühle und des Be— griffs von Lebensgütern; ſie ſind von der mannigfaltigſten Art, ſie erſtrecken ſich auf das animaliſche, geſellige und geiſtige Leben und können durch dieſe Mannigfaltigkeit unter ſich in Spannung und Zwieſpalt gerathen; ſie wirken als organiſche Reize; dunkel und unbewußt kennen ſie ſelbſt die Objecte nicht, auf welche ſie gerichtet ſind, aber ſie üben einen Druck nach der Richtung hin, in welcher dieſe zu ſuchen wären und kommen nicht zur Ruhe, bis ſie ge— funden ſind. Der Intellect iſt das Vollzugsorgan für dieß Wollen; durch ihn tritt das Ich in Rapport mit der Außen— welt, erkennt und beleuchtet ſeine eigenen Zuſtände und verwirklicht alle Lebensziele. Die Erfolge und Nichterfolge dieſes Wollens und Vorſtellens werden von dem Glück und Luſt fordernden Centrum als ſeine Zuſtände empfunden, durch eine fortwährende, wechſelnde, innere Erregung, die wir Gefühl nennen, aber nicht näher beſchreiben können, begleitet und geleitet. Dieſe Gefühle ſind das innerſte Leben der Seelenmonade ſelbſt; ſie vergleicht die Arten und Grade der Luſt und Unluſt, die aus den verſchiedenen Trieben fließt, und giebt im Fall ihrer Colliſion den Aus— ſchlag dahin, wo ſie das höchſte Gefühl von Luſt und Werth des Lebens erwartet. Im Trieb und Intellect tritt die Seele in Beziehung zur Außenwelt und gewinnt den In— halt des Glücks, das ſie ſucht; im Gefühl iſt ſie genießend und leidend bei ſich ſelbſt. An der Spize des Ganzen

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ſteht die Centralkraft des luſtwollenden Ichs. Streben, Vorſtellen und Fühlen aber ſind die ineinandergreifenden Formen, in denen die Grundkraft ſich bethätigt. Eine Lo— cation derſelben iſt widerſinnig, da jedes todt iſt ohne das andere, aber das Fühlen ſteht dem Centrum am nächſten, das Vorſtellen am fernſten, obgleich dieß erſt Licht, Leben und Wirklichkeit ſchafft und das Band zum Weltganzen knüpft. Die Gefühle ſind darum auch nichts weniger als

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bloße Nebenproducte des Vorſtellens und Wollens; viel— mehr liegen in ihnen die feinſten und lezten Entſcheidungen, die Abmeſſung des Werths der Güter des Lebens; ja ſelbſt die Erkenntniß der Wahrheit, die zwingende Kraft einer logiſchen Beweisführung hängt in lezter Inſtanz an einem Gefühl von Befriedigung über den leichten und normalen Ablauf einer Vorſtellungsreihe.

Eine ſolche Auffaſſung des allgemeinſten Charakters unſers Seelenlebens, ſo mangelhaft ſie noch ſein mag, ſcheint doch dem Bilde, das Jedem die unbefangene innere Erfahrung bietet, näher zu liegen als jene kunſtvollen Schultheorieen, bei welchen wir das Gefühl nicht loswerden können, daß hier Nebendinge zur Hauptſache gemacht werden und umgekehrt, und daß an die Stelle all der lebens— warmen Empfindungen, in denen wir unſer Selbſt mit ſeinem Wohl und Wehe und den Sinn und Zweck unſers Daſeins zu genießen glauben, ausgebeinte und abgeblaßte Schemen und mechaniſche Bewegungen, die unſerem Be— wußtſein ganz fremd und gleichgiltig ſind, geſezt werden. Die Philoſophen haben mit einer eigenthümlichen Schwierig—

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keit bei der Beobachtung ihrer Seelenzuſtände zu thun; fie ſind ja gerade dadurch Philoſophen, daß bei ihnen die auf die intellectuellen Functionen ſelbſt gerichteten Strebungen, wie der Erkenntnißtrieb, der bei den meiſten Menſchen hinter die praktiſchen Begierden ganz zurücktritt, in hervor— ragender Weiſe zur Entwicklung gelangt ſind und jedenfalls ſtehen ſie während der philoſophiſchen Thätigkeit ſelbſt ganz unter der Herrſchaft dieſes Motivs und alle andern Triebe bleiben ſolange im Hintergrund. Die Gefühle aber, welche den Functionen der höheren und geiſtigen, namentlich der beſchaulichen Triebe zur Seite gehen, ſind ihrer Natur nach nicht ſtürmiſch und lebhaft bewegt, ſondern haben nur den Charakter von zarten und ſanften Modulationen der Stim— mung, die den Gang der Meditation in kaum merklicher Weiſe afficiren. Die Seele erſcheint daher dem Philoſophen leichter als dem Dichter oder dem gewöhnlichen Bewußtſein als ein erkennendes Weſen, in welchem die Vorſtellungen frei und nur nach ihren inneren logiſchen Beziehungen ihr Spiel treiben. Es iſt dieß aber ungefähr, wie wenn wir das Leben und Treiben auf den Straßen einer Stadt nach der Stille eines Sonntagsmorgens, oder das Klima eines nörd— lichen Küſtenſtriches nach den halcyoniſchen Tagen beurtheilen wollten. So nur kann ich es verſtehen, wie ein ſo ſcharfer und tiefſinniger Denker wie Herbart in der kühlen Stim— mung der abſtracteſten Gedanken darauf verfallen konnte, Fühlen und Wollen nur als beiläufige Nebenerfolge von Stößen und Püffen, von Klemmungen und Verſchmelzungen, vom Steigen und Sinken ſeiner Vorſtellungen anzuſehen.

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Es ſieht nun zwar nur wie eine harmloſe, theoretiſche Frage aus, ob Wollen und Fühlen ſelbſtändigen Urſprungs oder nur Folge von Bewegungen der Vorſtellungen ſind, ob dem Denken der Primat in unſerem Seelenleben zu— komme, oder ob es andere gleichgeordnete oder ſtärkere Kräfte neben ſich gelten laſſen muß, aber ſie iſt vielmehr von eminenter praktiſcher Bedeutung und Tragweite. Die ganze Lebensauffaſſung, die Frage, wie der Menſch auf den Menſchen wirken kann, in der Erziehung, in der Ge— ſellſchaft, in der Leitung des Völkerlebens wird dadurch eine andere. Es würde, wie ich glaube, bedenklich aus— ſehen um Moral und Religion und alle höhere Bildung, wenn ihre Macht über die Gemüther nur auf logiſchen Argumenten, auf der Unanfechtbarkeit des Zuſammenhangs in einer Reihenfolge von Vorſtellungen beruhte, wenn ſie nicht ihre eigenen ſelbſtändigen Wurzeln in unſerer Seele tiefſtem Grunde hätten. Glücklicher Weiſe verhält es ſich ſo und der Irrthum iſt nicht ſo gefährlich, wie er ſcheint; aber ein Geſchlecht und Zeitalter, das von der Voraus— ſezung ausgeht, daß Wollen und Fühlen vom Vorſtellen ſtammt und von ihm aus zu leiten iſt, kann dabei immer— hin manche wunderſame Irrfahrten und unerfreuliche Er— fahrungen machen.

Ich wünſche Sie nun davon überzeugt zu haben, daß, was Sie in der Schule oder ſonſt von den drei Seelen— vermögen gehört haben, keine Irrlehre war, daß zwar der Name eines Vermögens und die Vorſtellung von drei ein— heitlichen Grundkräften daraus fernzuhalten iſt, unſer

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Seelenleben aber in Wahrheit ſich beſtändig und aus— ſchließlich in den drei Grundformen von Fühlen, Wollen und Vorſtellen bewegt, auch daß die Zumuthung, neben dieſer Dreiheit die Einheit der Seele feſtzuhalten, noch keineswegs die Schwierigkeiten einer Trinitätslehre in ſich ſchließt. Es müßte nur die Mangelhaftigkeit meiner eigenen Darſtellung Schuld ſein, wenn meine Polemik gegen den Primat des Vorſtellens den Eindruck gemacht hätte, als ob ich überhaupt den Werth des Denkens herabdrücken wollte, aber das glaube ich ſchließlich vor einer Zuhörer— ſchaft, deren größter Theil mehr, als es in andern Lebens— kreiſen gefordert wird, auf die Pflege der intellectuellen Thätigkeit hingewieſen iſt, noch betonen zu dürfen, daß ſelbſt am Suchen und Finden der Wahrheit, die doch ſo ganz im Reich der Vorſtellungen zu liegen ſcheint, ein richtiges Denken keinen größeren Antheil hat als ein rich— tiges Fühlen und Wollen.

Ueber das Verhältniß der Politik zur Moral.

6. Nov. 1874.

Ueber das, was wir zu thun und zu laſſen haben, ſind wir bekannter und glücklicher Weiſe nicht ausſchließlich auf die Schärfe und Klarheit unſers Denkvermögens an— gewieſen, ſondern wir haben einen inneren Führer an jenen natürlichen Gefühlen, die unbewußt ſofort nach der einen oder andern Seite hindrängen, die, obwohl keines— wegs unfehlbar, doch nicht leicht gänzlich irre gehen und nicht ſelten auch auf ſchwierige und verwickelte Fragen, lange bevor der Verſtand der Verſtändigen eine Löſung gefunden hat, mit blindem Takt eine Antwort geben. Aber anders iſt es, wenn man dieſe Gefühle dann zur Rede ſtellt und Rechenſchaft verlangt über ihr Thun; da ergeht es ihnen wie dem Nachtwandler, der zuvor mit ſicherem Tritt auf dunkeln und gefahrvollen Wegen geſchritten iſt, aber dann plözlich aufgeweckt, verwirrt und rathlos vor uns ſteht und nicht zu ſagen weiß, wie er hieher gekommen iſt. Etwas Aehnliches widerfährt uns bei dem Thema, für welches ich heute Ihre Aufmerkſamkeit in Anſpruch nehmen möchte. Iſt die Politik, d. h. die freie Leitung des Staatsganzen dem Sittengeſez untergeordnet oder hat

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ſie eigenen und unabhängigen Gejezen zu folgen und giebt es demnach Handlungen, die in der Politik erlaubt, in der Moral verboten ſind und umgekehrt?

Unſer natürliches Gefühl, wie es ſich in den geläufigen und vorherrſchenden Meinungen und Anſchauungen kund— giebt, wird die erſte Frage von der Unterordnung der Po— litik unter das Sittengeſez, ohne auch nur einen Augenblick zu ſchwanken, mit einem entſchiedenen Ja beantworten. Aber es wird dann auch, ſei es mit wirklichem oder nur ſcheinbarem Widerſpruch, die zweite Frage von den hier er— laubten und dort verbotenen Handlungen zu bejahen ge— neigt ſein. Wenigſtens preiſen und verehren wir die Männer, welche ihr Volk aus der Knechtſchaft, aus Zer— riſſenheit und Ohnmacht befreit, und auf eine höhere Stufe der Wohlfarth, Macht und Freiheit gehoben haben, ohne zu verkennen und dadurch beirrt zu werden, daß es dabei nicht ohne Liſt und Gewalt, ohne Blut und Eiſen, ohne Mittel, die wir ſonſt verwerfen, abgegangen iſt. Umge— kehrt tadeln wir den Fürſten, der voll von Geiſt, edlem Streben und ſittlichem Zartgefühl, die Aufgaben, die ſein Volk und Zeitalter ihm zu ſtellen ſchienen, unerkannt und unerfüllt gelaſſen hat. Wenn wir nun aber jene Gefühle zur Rede ſtellen und befragen: wie kommt ihr dazu, die unbedingte Verbindlichkeit des Sittengeſezes zwar im All: gemeinen zu behaupten, aber im Beſonderen nicht gelten zu laſſen oder den Saz, daß der Zweck die Mittel heilige, zwar als Princip zu verabſcheuen, aber im Einzelnen dar— nach zu verfahren, dann werden ſie antworten: das wiſſen

Rümelin, Reden u. Aufſätze. 10

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wir nicht, das müßt ihr uns nicht fragen; wenn ihr Theorie haben wollt, ſo wendet euch an eure Gelehrten, ſchlagt in euren vielen Büchern nach, was ſie davon ſagen.

Wenn wir aber dieſem Rathe nun folgen und bei den Theoretikern Umfrage halten, da zeigt ſich, daß die Schwierig— keiten nun erſt recht wachjen, ſtatt abzunehmen und wir gerathen in ein Labyrinth der widerſprechendſten Meinun— gen und Deutungen. Es iſt dabei auch keineswegs ſo, wie man vermuthen möchte, daß auf der einen Seite die Poli— tiker und Staatsrechtslehrer, auf der andern die Philo— ſophen und Moraliſten ſtünden, daß jene für die Sonder— rechte der Staatskunſt, dieſe für den Primat des Sitten— geſezes ſtritten, ſondern es verhält ſich eben ſo oft umgekehrt. Ein unübertroffener Meiſter der praktiſchen Politik, Friedrich der Große, hat mit dem wärmſten ſittlichen Eifer gegen die Lehren Macchiavells und für die Alleinherrſchaft der Moral gekämpft; freilich hat er dieß Buch noch als Kron— prinz geſchrieben und die Politik des Königs iſt, wenn auch nicht in den Fußſtapfen Macchiavells, doch dunklere und verwickeltere Pfade gegangen, als der jugendliche Autor von Schloß Rheinsberg ſich mochte träumen laſſen; wobei wir uns nicht verhehlen können, daß Mit- und Nachwelt den Büchern des Königs geringere Bewunderung zollt als ſeinen Thaten. Um dieſelbe Zeit hat ein edler Denker von unantaſtbarer ſittlicher Reinheit, Chriſtian Garve, von ſeinem Studier- und Krankenzimmer aus das unabhängige Recht der Politik mit Kühnheit und Scharfſinn verfochten und ſich in ſeinen geſchichtlichen Belegen am liebſten und

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häufigſten auf die Thaten ſeines großen Königs berufen. Auf der andern Seite iſt einer der erſten Staatsrechts— lehrer unſerer Zeit, einſt eine Zierde unſerer Hochſchule, erſt vor Kurzem noch mit der größten Entſchiedenheit für die Unterordnung der Politik unter die Moral eingetreten. Auch unter den Geſchichtſchreibern alter und neuer Zeiten finden wir die doppelte Richtung vertreten; die einen lieben es, ihre Erzählungen mit einer fortlaufenden ſittlichen Kritik und mürriſchen Strafpredigt zu begleiten; bei andern ſcheint uns der ſittliche Maßſtab oft ganz zu entſchwinden und ſie wiſſen auch für unverantwortliche Handlungen mehr und beſſere Motive aufzufinden, als die Handelnden ſelbſt viel— leicht ſich nur gedacht haben mögen.

Ich will mich nun auf den Verſuch beſchränken, die Fragen richtig zu ſtellen, jene Ausſagen unſers natürlichen ſittlichen Gefühls näher zu deuten und zu prüfen und die Mittelglieder aufzuſuchen, die zwiſchen deren ſcheinbaren Widerſprüchen vielleicht eine Verbindung herſtellen.

Die erſten Schritte auf dieſem Wege ſind nicht ſchwer. Außer Frage ſteht wohl vor Allem die univerſelle Geltung der ſittlichen Anforderungen. Es kann überhaupt Niemand und auch keine Gattung freier menſchlicher Handlungen geben, welche außerhalb oder gar über dem Sittengeſez ſtünde. Das Gewiſſen, jenes Gefühl eines unbedingten Sollens begleitet ſchlechthin unſer geſammtes Wollen und unſer Inneres kann an keiner Stelle einen blinden Fleck bergen, der ſeiner Leuchte verſchloſſen bleiben könnte. Wenn alſo alle Politik von Menſchen gemacht wird und aus

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deren freien Entſchließungen hervorgeht, jo muß ſie auch in ihrem ganzen Umfang unter die Controle des Gewiſſens und unter die Herrſchaft ſittlicher Geſeze fallen. Der Staatsmann kann nicht in zwei Menſchen zerlegt werden, von denen der Nichtpolitiker ein Gewiſſen hätte, der Poli— tiker aber nicht. Vielmehr iſt ſehr leicht das gerade Gegen— theil nachzuweiſen. Wir halten in allen Dingen den für ſtärker verpflichtet, der für Andere zu handeln hat, als der nur ſeine eigene Sache führt. Meinen eigenen Vor— theil außer Acht zu laſſen, gereicht mir nicht zum Vorwurf; als Vormund oder Verwalter fremden Gutes werde ich im gleichen Fall ſtrafbar. An den Entſchließungen der Staats- lenker hängt das Wohl von Millionen; wie ihr Mandat das höchſte iſt, ſo iſt auch ihre ſittliche Verantwortung die größte und ſchwerſte. |

Hiemit ift jedoch nur der Politiker unter das Sitten— geſez geſtellt, nicht auch ſeine Politik. Dem Staatsmann wird nur der höchſte Grad von Pflichtgefühl auferlegt, aber der Inhalt ſeiner Pflichten iſt ihm damit nicht be— zeichnet. Es ſchließt ſich an jenen erſten Saz ſogleich ein zweiter an, der nicht ebenſo allgemein erkannt und zuge— ſtanden, aber im Grunde gleich unanfechtbar iſt.

Wir pflegen in der Regel unter dem Sittengeſez nichts anders zu verſtehen, als den Inhalt der Pflicht- und Tugendlehre, den Inbegriff der Normen, nach denen der Einzelne ſowohl ſeine eigenen inneren Gemüthszuſtände, als ſein Verhalten gegen ſeine Nebenmenſchen zu ordnen hat. Du ſollſt Gott lieben von ganzem Herzen und deinen

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Nächſten wie dich ſelbſt, das iſt der Inbegriff des chriſt— lichen Sittengeſezes nach des Meiſters eigenen Worten. Aber auch alle philoſophiſchen Syſteme, auf welchen Wegen immer ſie die ſittlichen Grundbegriffe finden und begrenzen, kommen doch ſchließlich dahin, in irgend einer Form dem natürlichen, egoiſtiſchen Willen des Einzelnen Schranken zu ſezen und ihm ſeine Stellung in der menſchlichen Ge— ſellſchaft als einem dienenden Glied eines Gemeinweſens anzuweiſen. Das Sittengeſez iſt, ſei es in reinerer oder trüberer Geſtalt, für den Einzelnen ein Geſez der Liebe.

Es wäre nun aber ebenſo unlogiſch als unausführbar, an das Gemeinweſen ſelbſt die gleichen Anforderungen zu ſtellen, wie an deſſen dienende Glieder. Jenes „Du ſollſt“ und „Du ſollſt nicht“ in den zehn Geboten und in aller Geſezesſprache hat ſeinen guten Sinn nur, wenn der Staat der gebietende, der Einzelne der angeredete Theil iſt. Der Staat ſelbſt hat ja keine Eltern, die er ehren müßte; er lebt in keiner Ehe, die er brechen könnte. Das „Du ſollſt nicht tödten“ kann nicht an den gerichtet ſein, der ſelbſt und allein das Schwerdt zu führen hat, um den Mörder zu ſtrafen, der Millionen dafür aufwenden muß, um die wirkſamſten Mordinſtrumente für den Fall der Selbſthilfe vorzubereiten. Ebenſo muß der Staat, um ſeine Aufgaben zu erfüllen, ſich gelüſten laſſen nach unſern Häuſern und Aeckern, nach Ochs und Eſel und all unſerer Habe, ohne den Einzelnen zu fragen, wie ihm dieß gefalle.

Und wie ſollte das, was von der Nächſtenliebe gilt, auch auf das Verhältniß des Staats zu andern Staaten

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anwendbar ſein? Keines von allen den Banden, welche die Einzelnen unter einander umſchließen, verknüpft die Staaten unter ſich. Wenn hier auch idealere Ziele offen zu halten und zu erſtreben ſind, ſo ſtehen jene einander doch thatſächlich wie im Naturzuſtand gegenüber, fremd, zur Vorſicht und zum Mißtrauen genöthigt, wie Wanderer, die ſich in der Einſamkeit begegnen; ſie haben keine höhere ordnende und richtende Gewalt über ſich. Der Spruch, den andern zu lieben, wie ſich ſelbſt, kann hier gar keine Anwendung finden. Demjenigen, der ihm einen Streich giebt auf den rechten Backen, den linken auch darzubieten, iſt der Staat ſo weit entfernt, daß er vielmehr bemüht ſein wird und muß, auch ſchon dem nur drohenden Streich mit einem möglichſt energiſchen Gegenſchlag zuvorzukommen. Der Nachbarſtaat kann in die äußerſte Bedrängniß verſezt werden, durch Elementarereigniſſe, feindlichen Einfall, innere Zerrüttung; ob unſer Staat ihm beiſtehen wird, hängt gar nicht von dem Grad jener Hilfsbedürftigkeit, ſondern einzig davon ab, ob wir dieß unſerem Intereſſe entſprechend finden; nach Umſtänden haben wir ſogar Urſache, uns über deſſen Schwächung zu freuen oder daraus Vortheile zu ziehen, wo nicht gar über ihn herzufallen. Mit Einem Worte, das ganze Kapitel von den Liebespflichten und damit das Hauptſtück aller Moral fällt für die Staaten aus. Nicht auf Liebe Anderer, ſondern auf die Selbſtliebe, auf die Erhaltung und Entwicklung der eigenen Macht und Wohlfarth ſind ſie angewieſen, und wenn man hie— für den freilich wenig paſſenden Namen „Egoismus“ ge—

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brauchen will, nun jo iſt Egoismus das Grundprincip aller Politik.

Wenn wir aber ſo den Staat von allen Liebespflichten entbinden mußten, ſo ſollte man denken, daß er um ſo ſtrenger und unverbrüchlicher ſeinen Rechtspflichten nach— zukommen habe. Wenn er Niemanden Wohlthaten zu er— zeigen ſchuldig iſt, ſo müßte er um ſo ſicherer ſich aller Rechtsverlezungen zu enthalten, ſeine Verträge, Zuſagen und Verbindlichkeiten zu erfüllen, ſich als Glied einer großen über ihm ſtehenden Rechtsordnung zu betrachten und ver— halten haben. Und in der That, wer ſollte die Geltung des Rechtsprincips nicht als die oberſte Norm alles Staats— lebens anerkennen? Das Recht iſt ja das Element, in dem der Staat ſich bewegt, das Rechtsgefühl iſt die lezte Wurzel ſeiner Exiſtenz; die Mißachtung des Rechts iſt die Untergrabung ſeines eigenen Fundaments.

Gleichwohl iſt das Verhältniß des Staats zum Recht ein weſentlich anderes, als das des Einzelnen, des Staats— bürgers. Ueber dieſem ſteht das Recht als eine ihn be— herrſchende Macht, der er ſich unter allen Umſtänden zu fügen hat. Es liegt unvergleichlich mehr daran, daß das Recht, auch das unvollkommene, Geltung habe als daß der Einzelne Schaden leide oder gar zu Grunde gehe. In dieſem Sinn müſſen wir uns jogar das fiat justitia, pereat mundus gefallen laſſen. Der Staat aber ſteht wohl unter der Rechtsidee, die er als ein Höheres über ſich anzuer— kennen und zu verehren hat, aber das concrete, beſondere Recht der jeweiligen Gegenwart ſteht nicht über ihm; dieſes

hat er überkommen oder gemacht; es iſt ſein Werk und Product. Es iſt auch nicht fertig und abgeſchloſſen, ſondern der Entwicklung und Vervollkommnung ebenſo fähig als bedürftig. Er hat das mangelhafte Recht zu ändern und das beſſere an ſeine Stelle zu ſezen. Allerdings ſoll auch dieſe Aenderung nur in den Formen erfolgen, welche im Recht ſelbſt hiefür vorgeſehen ſind, und wohl dem Staate, deſſen innere Einrichtungen ſo einſichtig und glücklich ge— ordnet ſind, um jede unabweisbar gewordene Veränderung in den legalen Formen zu ermöglichen oder deſſen Verträge mit andern Staaten ihrer Form nach kündbar, in ihrem Inhalt erträglich ſind. Wie aber, wenn das Eine oder Andere nicht der Fall iſt, wenn eben diejenigen, deren Vortheile bei der nothwendig gewordenen Aenderung eine Einſchränkung erleiden ſollen, auch das Recht haben dieſe Aenderung zu verhindern? Soll dann der Staat in ruhiger Ergebung zuſehen, wie ſich die Uebel und Mißſtände, um deren Beſeitigung es ſich handelt, von Tag zu Tag dro— hender und unerträglicher geſtalten? Wenn der deutſche Bund den veränderten Bedürfniſſen eines anderen Ge— ſchlechts, den Forderungen eines geſteigerten Nationalge— fühls nicht mehr genügte, der Bundesvertrag aber auf ewige Zeiten abgeſchloſſen und unkündbar, zu ſeiner Ver— änderung Einſtimmigkeit erforderlich, ein einſtimmiger Be— ſchluß aber niemals zu erwarten war, weil jeder denkbare und wirkſame Vorſchlag dem Intereſſe irgend eines Theiles zu nahe treten mußte, wie war da herauszukommen, was ſollte geſchehen? Bei dem gordiſchen Knoten wäre für

Alexander neben der kunſtmäßigen und der gewaltſamen Löſung noch die dritte Möglichkeit geblieben, ihn ungelöst liegen zu laſſen wo er lag. Aber die politiſchen Verwick— lungen laſſen ſich nicht bis auf Weiteres zu den Akten legen, ſondern ſie drängen wie lebendige Kräfte auf eine Entſcheidung hin, die, wenn der friedliche Weg abgeſchnitten iſt, auf dem der Gewalt, durch Blut und Eiſen erfolgen muß. Die tiefe Kränkung und Entrüſtung, mit welcher die Verlezten, noch mehr das ſchmerzliche Gefühl, mit welchem auch die Zuſtimmenden und Gewinnenden einen ſolchen Act des Rechtsbruches begleiten, zeigen deutlicher als alles Andere, daß der Staat im Recht wurzelt und es zu den traurigſten Colliſionen der Pflichten gehört, wenn das Nothrecht der Politik das anerkannte und gegenwärtige Recht auf die Seite drängt, aber an der Sache ſelbſt wird mit allem Bedauern nichts geändert.

Die Begriffe und Grenzen von Nothſtand und Nothwehr ſind ſchon im gemeinen Recht ſchwer genug genau zu be— ſtimmen, doch bildet hier wenigſtens die unmittelbare, drän— gende Gefahr des Augenblicks ein feſtes Merkmal. Der Staat aber hat nicht blos der gegenwärtigen, ſondern auch ſchon der drohenden Gefahr zuvorzukommen. Nur ſelten handelt es ſich für ihn gleich um Sein oder Nichtſein, ſehr oft aber um Schwächung ſeiner Macht oder Unabhängigkeit, um die Wahrung von Intereſſen, deren Preisgebung ſeine ganze künftige Entwicklung untergraben müßte. Für ihn kann ein Nothſtand vorliegen, wo es uns gar nicht einfiele, ihn für den Privaten gelten zu laſſen. Der überſchuldete,

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zahlungsunfähig gewordene Staat, dem eine weitere Stei— gerung der Steuerlaſt ſeiner Unterthanen als unmöglich erſcheint, kann ſich nicht wie der Bürger verganten laſſen, er kann nicht ſeine Feſtungen, Arſenale und Flotten, ſeine Sammlungen und öffentlichen Gebäude, ja nicht einmal ſeine Wälder und Eiſenbahnen unter den Hammer bringen; er kann ſich auch nicht in das Armenhaus weiſen und auf ſeine Competenz beſchränken laſſen, ſondern er muß im Weg der Selbſthilfe die Forderungen auf das Maaß ſeines Könnens nach eigenem Ermeſſen herabſezen, wobei faſt nie— mals die Theilfragen eine zweifelloſe Entſcheidung zulaſſen werden.

Oder, um ein anderes Beiſpiel zu wählen, wenn die ſüddeutſchen Staaten am Anfang dieſes Jahrhunderts, nach— dem ſie zehn Jahre lang für Kaiſer und Reich gekämpft und ſeit dem preußiſchen Separatfrieden ihre Länder als einzigen Schauplaz des Kriegs allen Drangſalen von Freund und Feind preisgegeben hatten ſehen müſſen, dem ſiegreich vordringenden, übermächtigen Gegner, der nur zwiſchen Bündniß und Verderben die Wahl ließ, Heerfolge leiſteten, wenn ſie ſodann acht Jahre ſpäter, als der Glücksſtern des neuen Attila erbleicht war, wieder von ihm ab— fielen und dabei noch den Gewinn des alten Bündniſſes in das neue hinüberzuretten vermocht haben, ſo war dieß Verhalten zwar nicht ſchön und hochherzig zu nennen, die Geſchichtſchreiber werden es nicht preiſen, die Dichter können es nicht verherrlichen, aber ſchön und edel ſind auch die Prädikate nicht, um welche die Staatskunſt zu buhlen hat;

155 dafür war es richtig und pflichtgemäß, der Nothlage eines zu eigenem Widerſtand unfähigen Staates entſprechend; und jene Fürſten oder ihre Rathgeber hätten eine weit ſchwerere ſittliche Verantwortung auf ſich gezogen, wenn ſie, um für ſich das Hochgefühl ritterlicher Treue und Standhaftigkeit davon zu tragen, ihre Länder dem Ver— derben, ihre Staaten der Zerſtücklung oder dem Untergang ausgeſezt hätten.

Eine unbedingte Pflicht des Staats, die von ihm ein— gegangenen oder anerkannten Verträge zu halten, läßt ſich nicht behaupten. Wer kann läugnen, daß das Recht und der Beſizſtand, wie ihn die in Geltung ſtehenden europäi— ſchen Verträge und Friedensſchlüſſe geſchaffen haben, in nicht wenigen Fällen nur verjährten Raub und ungerechten Gewinn darſtellt und jedenfalls in den Augen der Beſiegten niemals für Recht gelten wird? Der ſonſt übliche Begriff der Verjährung iſt überhaupt im Völker- und Staaten— leben gar nicht zu brauchen. Es giebt Rechtsverlezungen, die faſt ſofort, andere die niemals verjähren. Daß die ſchönſten Länder des Erdkreiſes, die Wiege des chriſt— lichen Glaubens, die erſten Size und Pflanzſtätten einer edleren Menſchlichkeit von einem Barbarenvolk, unter deſſen Roſſeshufen das Gras verdorrt, unterjocht ſind, daß zehn Millionen Chriſten der edelſten Stämme als rechtloſe Rajas dem Uebermuth und der Habſucht türkiſcher Paſchas ver— fallen ſind, das iſt für uns nach vier Jahrhunderten und troz zahlreicher Verträge und Bürgſchaften der Großmächte immer noch nichts anders als eine brutale Thatſache ge—

worden und wird es bleiben, bis der Tag der Abrechnung gekommen ſein wird. Dagegen war es auch eine unzweifel— hafte Rechtsverlezung, daß und wie den geiſtlichen Souve— rainetäten in und außer Deutſchland ein Ende gemacht worden iſt, aber die Verjährung hatte begonnen, noch be— vor die Tinte aufgetrocknet war, deren die Dekrete bedurften. Ja es giebt ein Vernunftrecht neben dem geſchriebenen, ein Recht der Zukunft neben dem der Vergangenheit, mögen nun auch dieſe Säze jo gefährlich lauten, als ſie wollen. Es iſt die Aufgabe der Staatskunſt, das geſchichtlich gegebene Recht in das vernünftige überzubilden, wenn es ſein kann, in den Formen des Rechts, wenn nicht, auch ohne ſie. Und ſo ſind wir denn ſchließlich für die Rechtspflichten zu demſelben Ergebniß gelangt, wie für die Liebespflichten. Wohl ſteht die Politik, wie alles menſchliche Handeln, unter der Herrſchaft eines ſittlichen Sollens, aber die Moral, welche dem Einzelnen ſeine Tugenden und Pflichten vor— zeichnet, iſt für die Lenkung des Staatsganzen nicht zu ge— brauchen. Dieſe Moral und die Politik gehen ſchon in der Wurzel auseinander. Für den Einzelnen im Staat gilt das Princip der Selbſthingabe, für den Staat das der Selbſtbehauptung. Der Einzelne dient dem Recht; der Staat handhabt, leitet und ſchafft daſſelbe. Der Einzelne iſt nur ein flüchtiges Glied in dem ſittlichen Ganzen; der Staat iſt, wenn nicht dieſes Ganze ſelbſt, doch deſſen reale ordnende Macht; er iſt unſterblich und ſich ſelbſt genug. Wir müſſen in dieſem Sinne die erſte Frage, ob die Politik der Moral untergeordnet ſei, mit Nein, die andere, ob ſie

ein ſelbſtändiges und unabhängiges Princip ihres Handelns in ſich trage, mit Ja beantworten, und wir wiederholen damit nur den wahren Sinn des alten Sazes: salus pub- lica suprema lex esto, der Erhaltung und Wohlfarth des Gemeinweſens iſt jede andere Rückſicht untergeordnet.

Nun aber, wenn wir ſo die Politik von der Privat— moral völlig abgelöst haben, iſt damit nicht überhaupt jeder ſittliche Halt und Boden verloren und ſtehen wir nicht ſchon ganz auf der ſchiefen Ebene, die uns unaufhaltſam in den Abgrund von Macchiavellis verrufenen Lehren führt, daß für politiſche Zwecke auch Verbrechen zu den erlaubten Mitteln zu rechnen ſeien? Man kann von unſerem Thema nicht wohl reden, ohne die Macchiavellifrage, ſei es auch nur im Vorübergehen, zu berühren.

Während ſonſt der Welt nachgeſagt wird, daß ſie das Strahlende zu ſchwärzen liebt, zeigen viele moderne Schrift— ſteller, und vielleicht die deutſchen vor allen andern, die umgekehrte Neigung, das Schwarze weiß zu waſchen oder zu brennen, und die in der Geſchichte mit irgend einem Flecken oder Brandmal behafteten Perſonen in eine jo günſtige Beleuchtung zu ſtellen, daß ſich das überlieferte Bild in das Gegentheil verkehren müßte. So iſt es ſchon lange und nach dem Vorgange großer Autoritäten üblich geworden, den Verfaſſer des berühmten Buches vom Fürſten zum nationalen Patrioten zu verklären, der nur Italiens Heilung ſuchte, deſſen Zuſtand aber ſo verzweifelt fand, daß er kühn genug war, ihm Gift zu verſchreiben. Man kann zu einer ſolchen Auffaſſung allerdings durch jenes

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glänzende Schlußcapitel von der Befreiung Italiens ver- leitet werden, aber doch nur wenn man es iſolirt betrachtet und einſeitig zum Ausgangspunkt ſeines Urtheils macht. Ich vermag mich aber ſo wenig zu überzeugen, daß der Gedanke an Italiens Einheit und Freiheit der Leitſtern in Macchiavellis Leben und Schriften war, daß ich vielmehr jenen Abſchnitt nur als ein redneriſches Ornament, als den effektvollen und beſchönigenden Abſchluß einer ſo vielfach anſtößigen Schrift auffaſſen kann. Macchiavell war Poli⸗ tiker und Menſchenkenner genug, um dem jungen Mediceer, für den er ſein Buch ſchrieb, um dem florentiniſchen Staat nicht im Ernſt die Aufgabe zu ſtellen, die ſpaniſchen und franzöſiſchen Heere aus Italien hinauszuwerfen; wohl aber konnte es von pſychologiſcher Wirkung und den perſönlichen Zwecken der Schrift dienlich ſein, dem jungen Mann eine ſolche Ausſicht in blendende Beleuchtung zu rücken. Denn das iſt ja eben der Grundmangel aller dieſer politiſchen Rathſchläge, daß von idealen Zielen, von Menſchenwerth und Menſchenglück, von ſittlichen Zwecken des Staats gar nicht die Rede iſt, ſondern ſich Alles ſtets nur um die Frage dreht, wie gelangt man zur Herrſchaft im Staat, ſei es eine Parthei oder ein Einzelner, wie behauptet man das Errungene, wie macht man ſeine Gegner unſchädlich, und daß von all dem geſprochen wird, wie wenn eine Anweiſung, Feſtungen zu belagern oder Schach zu ſpielen, abzufaſſen geweſen wäre. Ehrgeiz und Herrſchſucht aber gehören in die Privatmoral, nicht in die Politik, die vom Staatswohl handelt. Bei aller Bewunderung, die man dem klaren und

ſcharfen Denker, dem claſſiſchen Schriftſteller zollen muß, kann man doch Macchiavellis Lehren das Prädikat der Ver— ruchtheit und ſeinem Charakter das der Unlauterkeit nicht erſparen. Einen Cäſar Borgia zu verherrlichen, nicht etwa abgeſehen von ſeinen Frevelthaten, ſondern eben weil er keine Scheu trug dieſe zu begehen, iſt Läſterung und Ver— rath gegen alle ſittlichen Ideen der Menſchheit, für welche jeder Verſuch einer Beſchönigung zurückzuweiſen iſt. Es ſind zwei ſehr verſchiedene Dinge, ob ich ſage: der Staat als der Schlußſtein aller ſittlichen Ordnung kann nicht nach den Normen der den Einzelnen im Staat betreffenden Moral geleitet werden, oder ob es heißt: um die Herrſchaft im Staat zu erringen oder zu behaupten, darf man auch vor Verbrechen nicht zurückſcheuen.

Es iſt ſcheinbar ein großer, in Wahrheit aber nur ein kleiner Schritt von Macchiavell zu der ſogenannten Jeſuiten— moral, wornach der Zweck die Mittel heiligen und eine ſonſt und an ſich verwerfliche Handlung dann zuläſſig ſein ſoll, wenn ſie einem höhern Zweck, der Verherrlichung Gottes, in majorem Dei gloriam, dient. Groß ſcheint der Unter— ſchied, weil hier doch wenigſtens von höheren Zielen die Rede iſt und das Princip, daß Niederes dem Höheren zu dienen habe, nicht anzufechten wäre; aber er wird verſchwin— dend klein, weil dieß angeblich Höhere in Wahrheit doch auch wieder nur die Herrſchaft iſt, blos die hierarchiſche ſtatt der politiſchen. Ein wirkliches Reich Gottes auf Erden im Lichte des chriſtlichen Glaubens, eine wahre Geſellſchaft Jeſu könnte doch nur ein Reich der Wahrheit, der Liebe

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und Gerechtigkeit ſein, und daß zu deſſen Gründung und Ausbreitung auch Lüge und Frevelthat ſollte dienen können, iſt zu widerſinnig als daß es Jemand auch nur im Ernſt behaupten könnte. Wenn man aber an die Stelle der Re— ligion den Begriff der Kirche, und an die Stelle der Kirche den einer geſellſchaftlichen Beherrſchungsanſtalt ſezt, die mit dem Staat zu concurriren, ihn ſchließlich zu verdrängen und zu erſetzen beſtimmt iſt, dann muß man allerdings, um eine ſo unnatürliche und widerſpruchsvolle Macht ins Werk zu ſetzen, bei dem florentiniſchen Großmeiſter in die Schule gehen und lernen, mit welchen Mitteln Herrſchaft über Menſchen am ſicherſten gegründet und behauptet wird; nur muß man des Scheines wegen, was Macchiavell ſelbſt ja auch gelegentlich empfiehlt, das was der Meiſter nackt und unverblümt mit anerkennenswerther Ehrlichkeit herausgeſagt hat, mit dem Mantel frommer Redensarten und täuſchender Sophiſtikt verhüllen und verbrämen.

Denn das iſt ja unläugbar ein Kern von Wahrheit oder vielmehr die richtige Faſſung für die Heiligung der Mittel durch den Zweck, daß die niedrigeren Güter und Ziele menſchlichen Strebens den höheren unterzuordnen und aufzuopfern ſind. Ohne dieſen Saz kann man überhaupt zu keinem Sittengeſez gelangen; die Unterſcheidung von niedrigeren und höheren Trieben und Strebungen der Men— ſchennatur iſt der einzig mögliche Ausgangspunct aller Ethik. Wenn nicht ein Maßſtab in uns läge, um den Werth menſchlicher Handlungen und Eigenſchaften gegen einander abzuwägen, ſo wäre nicht einzuſehen, wie wir jemals von

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dem Begriff eines Gutes zu dem des Guten gelangen könnten. Ja in die Metaphyſik hinüber find wir genöthigt dieſe Unterſcheidung zu verpflanzen; jeder Verſuch einer Theodicee hat ſtets darin ſeinen Ausgangspunkt genommen; in die Gedanken des Weltenſchöpfers ſelbſt tragen wir ſie hinauf, wenn uns der Dichter von ihm ſagt: Der Freiheit

Entzückende Erſcheinung nicht zu ſtören,

Läßt er der Uebel grauenvolle Schaar

In ſeinem Weltall toben.

Die Politik aber kann dieſes Princip ſo wenig ent— behren, daß ſie vielmehr faſt ausſchließlich in der Anwen— dung und Durchbildung deſſelben beſteht. Das Intereſſe eines Einzigen oder Weniger iſt dem Vieler oder Aller unterzuordnen. Das Gut der individuellen Freiheit iſt den Einſchränkungen unterworfen, welche das Gemeinwohl er— fordert, aber die Möglichkeit eines Mißbrauchs rechtfertigt keine allgemeinen Verbote. Die ſittlichen Güter des Volkes ſind vor allem Andern zu wahren und hochzuhalten. Es iſt beſſer, daß das Geſez in der Anwendung auf einen ein— zelnen Fall zu materiellem Unrecht führt, als daß es ver— lezt und mißachtet wird, aber große und allgemeine Inter— eſſen ſind dem Buchſtaben des Geſezes nicht aufzuopfern. Das Intereſſe des fremden Staats kann nur inſoweit Be— achtung finden als es mit dem des eigenen vereinbar iſt. Die Erhaltung des Staats rechtfertigt jedes Opfer und ſteht über jedem Gebot.

Ueberall wo der Staatsmann eine Entſcheidung zu treffen hat, ſteht er vor dieſen oder ähnlichen Sätzen; er

Rümelin, Reden u. Aufſätze. 11

162 hat zwiſchen verſchiedenen vorliegenden Möglichkeiten eine Wahl zu treffen, das kleinere Uebel dem größeren, das größere Gut dem kleineren vorzuziehen.

Eine Theorie des politiſchen Sollens, eine Staatsſitten— lehre oder politiſche Ethik könnte wohl nur in einer voll— ſtändigen Zuſammenfaſſung und tieferen Begründung eben ſolcher Sätze, wie die angegebenen, beſtehen; ſie wäre eine vergleichende Werthabmeſſung der menſchlichen Güter und Zwecke nach ihrer Bedeutung für das Wohl des Ganzen, eine politiſche Güterlehre, an welche ſich entſprechend eine Pflichten- und Tugendlehre anzuſchließen hätte. Das Ideal einer ſittlich geſunden Gemeinſchaft ſtünde dem der ſittlich geſunden Menſchenſeele, das die Moral entwirft, zur Seite.

Es iſt nun aber wohl auch einleuchtend, daß, wenn wir die Politik von der Moral abgelöst und ihr ein eigenes Princip des Sollens zuerkannt haben, ſie damit noch keines— wegs aus dem Kreis der ſittlichen Ideen überhaupt heraus— tritt oder gar in einen Widerſpruch zum Moraliſchen treten und zum Unmoraliſchen werden kann. Sie ſteht mit dem, was wir gewöhnlich allein Moral zu nennen pflegen, als ein ihr coordinirtes Glied gemeinſam unter dem höheren Begriff einer Ethik oder Sittenlehre im weiteren Wortſinn.

Ob wir uns aber nicht überhaupt oft unnöthige Schwie— rigkeiten machen, indem wir die in beſtimmten Worten ein— mal fixirten Begriffe recht gefliſſentlich zu ſcharfen Gegen— ſätzen unter einander ſteigern und den fließenden und be— weglichen Charakter der realen Erſcheinungen, für welche jene Worte doch nur ein Merkzeichen ſein ſollen, ganz aus;.

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dem Auge verlieren? Politik, Recht und Moral, die wir ſo gerne recht weit und ſcharf auseinanderrücken, ſind nur die eng verſchlungenen Zweige Eines Stammes; ihr ge— meinſamer Grundbegriff iſt die Ordnung der menſchlichen Triebe und Handlungen nach einem in uns gelegten Maß— ſtab ihres verſchiedenen Werthes. Die Politik hat das thatſächlich gegebene Recht theils zu wahren theils weiter— zubilden; das Recht iſt derjenige Theil des Guten, der dazu geeignet iſt oder erſcheint, zu einer allgemein giltigen und zwingenden Norm des menſchlichen Zuſammenlebens geſtaltet und erhoben zu werden. Das Gute ſelbſt aber iſt ſchließlich nur wieder das wahrhaft Zweckmäßige und Ver— nünftige, das was ächtes und allgemeines Menſchenglück ſchafft und bedingt, was die Menſchheit fördert und zur Entwicklung ihrer edelſten und höchſten Kräfte führt. Und damit weist auch der Begriff des Guten im Kreislauf wieder zu den Aufgaben der Politik zurück.

Alle dieſe Begriffe ſind nicht in ſich fertig und abge— ſchloſſen, ſondern in den lebendigen Fluß der Geſchichte hineingeſtellt, und unter ſich in ununterbrochener und innig— ſter Wechſelwirkung. Wohl haben wir im Gewiſſen als feſten Ausgangspunkt das Gefühl eines unbedingten Sollens, den Glauben an die Exiſtenz eines an ſich Werthvollen und Guten; was aber dieß Gute wirklich und im Einzelnen ſei, weiß das Gewiſſen von ſich aus nicht; die Antwort darauf giebt dem Einzelnen die geſchichtliche Entwicklungsſtufe des Zeitalters und Volkes, dem er angehört. Ihm verſchlingt ſich Form und Inhalt in ein ungetrenntes Ganzes und

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das Gebotene kleidet ſich für ihn in das Anſehen einer höheren oder göttlichen Ordnung. Nicht weil es Jehova unter Bliz und Donner aus einer Rauchwolke vom Sinai verkündigt und mit eigenem Finger auf ſteinerne Tafeln geſchrieben hat, ſollen wir Vater und Mutter ehren, nicht tödten, nicht ſtehlen, nicht ehebrechen, ſondern umgekehrt, weil wir in dieſen Normen die erſten und bleibenden Grund— bedingungen menſchlichen Zuſammenlebens, die Anfänge jeder ſittlichen Ordnung des Friedens und der Gerechtigkeit er— kennen, umgeben wir ſie durch eine Uebertragung, die mehr iſt als eine bloße Anbequemung an hergebrachte Vorſtel— lungen, mit der Weihe göttlicher Befehle. Der Inhalt der Idee des Guten gelangt in der Geſchichte zu wachſender Vertiefung und Befeſtigung; das Recht gleicht jenen Dämmen und Deichen, die das der Meeresfluth entriſſene oder aus— geſezte Land zum feſten und dauernden Beſiz machen; die Politik errichtet, ſichert, erweitert dieſe Dämme; die Haupt— arbeit dagegen, das neue Land zu gewinnen und das ge— wonnene anzubauen, ruht auf den Einzelnen, auf den in— dividuellen ſittlichen Kräften, die an dem bereits Errungenen Uebung, Bildung und Anſporn zu weiterem Vordringen ges funden haben. So dienen Politik, Recht und Moral nur Einem Ziele, dem Fortſchritt der Menſchheit.

Ich glaube jedoch hier die Einwendung zu hören, daß mit einer ſolchen Darſtellung die Politik in eine ideale Höhe gerückt und den praktiſchen Schwierigkeiten und Fragen, an welche wir bei dem Verhältniß der Politik zur Moral zu denken pflegen, mehr ausgewichen als Genüge geleiſtet

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ſcheine, daß es ſich vor Allem darum handle, ob es zu— läſſig ſei im Intereſſe der öffentlichen Wohlfarth Hand— lungen zu begehen, welche Geſez und Moral unbedingt verbieten. Es iſt zuzugeben, daß ſolche Colliſionen nicht nur denkbar ſind, ſondern vielfach vorkommen und daß jede Theorie ſchuldig iſt, auch nach dieſer Seite hin Rede zu ſtehen.

Die Frage, ob verbrecheriſche Handlungen in politiſchen Motiven eine Rechtfertigung finden können, iſt einfach durch die Hinweiſung auf die Strafgeſeze zu beantworten. Dieſe haben niemals unter den Bedingungen, welche die Straf— barkeit ausſchließen, wie Nothwehr, Unzurechnungsfähigkeit, auch das Motiv politiſcher Zweckmäßigkeit oder Nothwendig— keit aufgezählt; der Richter könnte dieſen Beweggrund daher nur wie andere beſondere Umſtände der That bei der Strafausmeſſung in Betracht ziehen. Von ganz anderer Art und Tragweite dagegen iſt der Fall, wenn Jemand im vollen Bewußtſein, etwas geſezlich Verbotenes zu thun, aber auch entſchloſſen dem Geſez die ſchuldige Sühne zu leiſten, ſich dem gemeinen Beſten zum Opfer bieten zu ſollen glaubt. Hierüber wird unſer ſittliches Urtheil nicht im All— gemeinen, ſondern nur nach allen beſonderen Umſtänden des einzelnen Falls zu richten wagen; es wird dem muthigen und verantwortungsvollen Entſchluß eines General York die vollſte Anerkennung nicht verſagen, die That eines Stapf, einer Charlotte Corday von der eines Sand oder Blind unterſcheiden, den Brudermord Timoleons, die Rechts— verlezung des Conſul Cicero, die Thaten eines Brutus, eines Harmodius und Ariſtogiton je wieder nach anderem

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Maaß zu würdigen haben. Es kann ſich hiebei nicht blos darum fragen, wie die Sache etwa von dem Handelnden gemeint war, ſondern wie ſie wirklich lag. Bei politiſchen Handlungen von außerordentlichem Charakter, zu denen Niemand verbunden iſt, iſt Einſicht und Verſtändniß uner— läßliche Pflicht und Thorheit wird zur verbrecheriſchen An— maaßung. Für den Politiker iſt überhaupt Klugheit nicht blos eine intellectuelle, ſondern eine Attliche Eigenſchaft und wem ſie fehlt oder wer gar nicht beurtheilen kann, ob ſie ihm fehlt, der verſündigt ſich ſchon dadurch, daß er nach einem Berufe greift, dem er nicht gewachſen iſt und in dem er doch nicht blos ſeine eigene Sache zu führen hat.

Das Strafgeſez läßt nun aber freilich noch viele Hand— lungen ungeahnt, die gleichwohl als unſittlich gelten müſſen, ſo vor Allem das Lügen, das wir nach alten Traditionen als eine faſt unerläßliche Beigabe der Politik und Diplo— matie anzuſehen gewöhnt ſind. Wie ſtellt ſich die Politik dazu? Ich möchte antworten: alle politiſche Thätigkeit be— ruht auf einem durch Geburt oder Wahl verliehenen Amt; kein Amt oder Dienſtverhältniß aber kann zu unehrenhaften und ſittlich unerlaubten Handlungen ermächtigen oder ver— pflichten. Auch wird der Staatsmann im inneren Staats— leben ſowie im friedlichen Verkehr der Völker keinen Anlaß finden können, die Pflicht einer richtig verſtandenen Offen— heit und Wahrhaftigkeit zu verlezen. Die Kriegslage aber und ſchon die nur drohende Kriegsgefahr gehören dem Noth— ſtand an, deſſen Mittel durch das Völkerrecht und die Rück— ſichten einer natürlichen Humanität begrenzt ſind. Ueber

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dieſe hinaus noch die Forderungen des Edelmuths und einer romantiſchen Rittermoral hinzuzufügen, iſt zweckwidrig und widerſpricht der Stellung desjenigen, der nicht für ſich ſondern für andere, für Alle zu handeln hat. Großherzig und edelmüthig kann man nur auf eigene Koſten ſein, nicht auf fremde. Wo Gewalt erlaubt iſt, kann Liſt nicht ver— boten ſein; wen man tödten darf, den muß man auch täuſchen dürfen, und wenn man mit beidem den gleichen Erfolg er— zielen könnte, ſo müßte die Täuſchung als das humanere und jchonendere Mittel den Vorzug verdienen.

Man gelangt auf dieſem Gebiete allerdings bald in die Neze einer difficilen Caſuiſtik wie in jenen Fragenſpielen der Moralcompendien über die Nothlügen oder ob der Schiffbrüchige, welcher einen Balken ergriffen hat, der nur einen einzigen tragen kann, einen zweiten, der denſelben erfaſſen will, zurückſtoßen dürfe. Ein gefeierter Staats— rechtslehrer findet es unanſtößig, aus einem freiwillig an— gebotenen Verrath Nuzen zu ziehen oder Vertreter unſeres guten Rechtes durch Geſchenke zu gewinnen, erklärt aber die Beſtechung fremder Beamten zur Begehung einer Pflicht— widrigkeit für unſtatthaft. Es wird ſich in ſolchen Dingen immer Vieles für und wider ſagen laſſen. Unter der Vorausſezung, daß es ſich nicht um den friedlichen, ſondern um den feindlichen Verkehr der Völker handelt, würde mein ſittliches Gefühl eine ſo haarſcharfe Grenzlinie an dem be— zeichneten Punkt nicht fordern oder begründet finden. Wenn ein Heerführer, der eine belagerte Feſtung mit Anwendung der furchtbarſten Zerſtörungsmittel und unter Aufopferung

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zahlloſer Güter und Menschenleben in ſeine Hand zu bringen berechtigt und verpflichtet iſt, die Möglichkeit, ihre Thore durch einen goldenen Schlüſſel zu öffnen, zurückwieſe, ſo würde dieſe Zartheit ſeines individuellen Gewiſſens doch nur auf Koſten Anderer ſeine Befriedigung finden und es lägen Geſundheit und Leben von tauſenden ſeiner eigenen Landsleute und der Feinde auf der andern Wagſchaale. Es wäre widerſinnig im Krieg einſeitig darauf zu verzichten, durch Beſtechung Spione unter den Unterthanen des feind— lichen Staats zu gewinnen. Es handelt ſich hier um außer— ordentliche Lagen, in denen die höchſten Güter eines Staats oder einer Nation auf dem Spiele ſtehen, und denen, welche die Verantwortung tragen, nicht anzuſinnen iſt, über die Zwirnfäden der Caſuiſtik zu ſtolpern.

Daß aber Politik und Moral, ſo unabhängig ihre Pfade in vielen Dingen neben einander herlaufen, doch aus Einer Quelle fließen und ſchließlich in ein gemeinſames Ziel einmünden, das ſehen wir vielleicht am deutlichſten daran, daß ihre hiſtoriſche Entwicklung in einer ſtetigen gegenſeitigen Annäherung beſteht, daß die Moral immer politiſcher, die Politik immer moraliſcher zu werden, wenig— ſtens die Tendenz zeigt. Für die chriſtlich mittelalterliche Weltanſchauung waren alle ſittlichen Ideale das Monopol der Kirche; der Staat galt als mit dem Brandmal der Weltlichkeit geächtet und erniedrigt; er war auch darnach; es gab in ihm nicht ſowohl Pflichten und Rechte, als Laſten und Forderungen. Auch die neuere Philoſophie fand nur ſchwer den Weg, der Idee des Staats gerecht zu werden;

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man begriff ihn nur als einen Aſſekuranzvertrag zum Schuz des Einzelnen; in der Moral war kaum von ihm die Rede. Es iſt ein bleibendes und glänzendes Verdienſt von Hegel, vielleicht ſein größtes, den Staat als die objective Ver— wirklichung ſittlicher Ideen, ja als deren höchſte Form er— kannt und das Verhältniß des Einzelnen zum Staat in die Ethik ſelbſt aufgenommen zu haben. Aber auch von ganz andern Ausgangspunkten iſt ein hervorragendes Werk chriſtlicher Ethik zu dem gleichen Ziel gelangt, die Erfüllung der ſittlichen Ideale der Menſchheit nicht der Kirche, ſondern dem Staat zuzuweiſen.

Andererſeits iſt aber ebenſo in der Politik die wachſende Richtung auf höhere Ziele nicht zu verkennen. Im vorigen Jahrhundert beſtand ſie noch in einem Intriguenſpiel der Kabinette; ſich gegenſeitig auszulauern und zu überliſten, wo möglich die Kammerdiener und Weiber am Hofe zu gewinnen, gehörte zu den wichtigſten Aufgaben der Diplo— maten; Länderſchacher und Theilung, Streit um Rang und Macht war das Hauptthema; das Wohl der Völker kam nur in den Formen der Phraſe zur Sprache. Bei den freieren Staatseinrichtungen der Gegenwart werden die Schickſale der Völker nicht mehr in den Kabinetten und Vorzimmern der Fürſten, ſondern in öffentlichen Berathun— gen ihrer Vertreter erörtert und entſchieden; Plane, welche das Licht der Oeffentlichkeit zu ſcheuen haben, ſind zwar noch lange nicht unmöglich, aber um Vieles ſchwieriger zur Ausführung geworden. Nachdem zwei große Kulturvölker aus kläglicher Zerriſſenheit zu nationaler Einigung gelangt

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ſind, ſind die wahren und natürlichen Grenzen der euro— päiſchen Staatenfamilie wenigſtens im Weſentlichen gefunden und bleibend feſtgeſtellt. Die allgemeine Wehrpflicht macht Kriege unmöglich, welche nicht auch von den Völkern als gerecht oder unabweisbar erkannt werden. Die Kriege ſelbſt ſind von kürzerer Dauer und werden menſchlicher ge— führt. Von demſelben Staat, in deſſen Heer vor 109 Jahren noch die eigene Mannſchaft lebend in die Feſtungsgräben geworfen wurde, damit ihre Leiber ſie ausfüllten und den Sturmcolonnen als Brücke dienten, ſind die neueſten Anre— gungen zu weiteren Fortſchritten in der Humanität der Kriegsführung ausgegangen.“

Unſer deutſches Volt aber, jezt ſtark genug, um nicht fremden Gutes zu begehren und doch das eigene gegen alle Welt zu behaupten, hat aus der Hand der Geſchichte die Miſſion empfangen, in der Mitte des Welttheils ein Reich des Friedens zu gründen, für deſſen Politik die Pflege der Wohlfarth, Freiheit und der Geſittung die oberſte Richt— ſchnur ſind. Uns war es vergönnt die Erfolge einer Staats- kunſt zu ſehen und zu genießen, welche eine Prüfung nach dem höchſten Maßſtab der Geſchichte nicht zu ſcheuen hat. Zum zweitenmal im Lauf des Jahrhunderts hat die Noth und Verwirrung der Zeiten dem deutſchen Volk einen Mann gegeben, in welchem das gewaltigſte Wollen ſich mit dem richtigſten verſchmolz.

Aber die Bedingung einer ſittlichen Politik der Staaten iſt der ſittliche Geiſt der Völker ſelbſt. Nur wenn im deutſchen Volke die Empfänglichkeit für die idealen Güter

das Uebergewicht über Erwerbſinn und Genußſucht, über Gleichgiltigkeit gegen das Gemeinweſen, über beſchränkte Vorurtheile behauptet, kann in einem Staatsweſen, das auf dem gleichen Wahlrecht Aller fußt, auch deſſen Politik im gleichen Geiſte geführt werden. Die Moral des Volks und die ſeiner Staatsmänner gehen Hand in Hand. Es kann in freien Staaten nur ein vorübergehender Glücksfall ſein, wenn die Regierung eines Volkes beſſer iſt als ſeine Sitten. Und nur in dieſer ſtetigen und lebendigen Wechſel— wirkung liegt die lezte Löſung des Räthſels, an dem dieſe Betrachtung ſich verſucht hat.

Rede über die Reichsoberhauptsfrage. Frankfurt 22. Januar 1849.

Vorbemerkungen.

Ueber das Frankfurter Parlament iſt nur ſelten noch ein gerechtes und verſtändiges Urtheil zu hören. Jeder publiciſtiſche Grünſchnabel ergeht ſich mit Behagen in ab— ſchäzigen Redensarten über die doctrinären und unprak— tiſchen Profeſſoren, die, ſtatt das Eiſen zu ſchmieden, ſo lange es noch warm war, die beſte Zeit mit langen Reden über abſtracte Freiheitsfragen hingebracht, die Begeiſterung des Volkes gelähmt, ſein Vertrauen verſcherzt und damit ſchließlich die Macht verloren haben, den widerſtrebenden Regierungen gegenüber ihr Verfaſſungswerk durchzuſezen. Nach der andern Lesart war die Verſammlung ſelbſt bis ins Mark von dem Gift umſtürzender Ideen angefreſſen und die von ihr feſtgeſtellte Verfaſſung ein revolutionäres, für die Regierungen ſchlechthin unannehmbares Werk.

Nachdem nun vollends die deutſche Einheit auf ganz anderen Wegen und in Begleitung weltgeſchichtlicher Glanz— effekte fertig gebracht worden iſt, iſt jene Verſammlung von 1848 verſunken und vergeſſen; man glaubt auf fie, wie auf eine Kinderkrankheit zurückſehen zu dürfen, die einen

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Augenblick gefährlich erſchienen war, von der man aber nur ein ganz dunkles Bild in der Erinnerung bewahrt.

Das Urtheil der Geſchichte und Nachwelt wird wohl anders lauten. Zwar dagegen wüßte ich nichts zu ſagen, wenn man jene Erfahrungen als Beweis anführen wollte, daß eine große Verſammlung gewählter Volksvertreter ſelbſt bei einer Fülle von Talenten und beim beſten Meinen und Wollen für ſich allein unfähig iſt zu praktiſcher und ſchöpfe— riſcher Politik, daß ihr, wenn ſie nicht die Wege eines Konventes einſchlagen will oder kann, nur übrig bleibt, an den vorhandenen Staatsgewalten Halt und Anlehnung zu gewinnen und daß zwiſchen dieſen beiden Möglichkeiten keine andere mehr in der Mitte liegt.

Dagegen wird der Frankfurter Verſammlung Ein großes und unvergängliches Verdienſt nie beſtritten werden können. Sie hat den Gedanken der nationalen Einigung aus der Region nebelhafter Träumereien und zerfahrener Meinungen herausgeholt, für denſelben die politiſche Geſtalt und Formulirung gefunden und unter unſäglichen Schwierig— keiten durch die Löſung des Räthſels, wie und wie allein die Sache gemacht werden könne, das Ziel und Programm für die weitere Entwicklung feſtgeſtellt. Daß ein deutſcher Bundesſtaat mit zwei rivaliſirenden europäiſchen Groß— mächten undenkbar, daß für den öſtreichiſchen Ländercom— plex in demſelben kein Plaz, daß Preußen zu einer blei— benden Führerſtellung in demſelben berufen ſei, dieſe ganze Idee des kleindeutſchen Reiches mit der erbkaiſerlichen Spize, die ſchließlich zum Sieg und zur Verwirklichung gelangte,

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mußte zuerſt als der Eck- und Grundſtein des künftigen Baues ausgemeiſelt und eingegraben ſein. Sie mußte in der Verwirrung der Parteimeinungen allmälig Propaganda machen bei den politiſch denkenden Köpfen der Nation, und wenn Bismark, der zuerſt ſelbſt zu ihren Gegnern gehört hatte, ſie nicht ergriffen und vorbereitet gefunden hätte, ſo wären ſeine Politik und deren Erfolge unmöglich ge— weſen.

Man hat jezt aber keine Vorſtellung mehr davon, wie ſchwer es war im Jahr 1848 zu dieſer Löſung zu gelangen. Der Gedanke war wohl ſchon von Einzelnen ausgeſprochen, von Paul Pfizer, von der deutſchen Zeitung, aber nur auf literariſchem und journaliſtiſchem Feld neben hundert andern Projecten und ohne Premirung des Hauptpunktes, des Ausſcheidens von Oeſtreich. Auch der Dahlmannſche Ent— wurf im Siebzehnerausſchuß hatte dieſen Punkt unausge— ſprochen gelaſſen und darum die Zuſtimmung der öſtrei— chiſchen Vertrauensmänner ſelbſt finden können.

Zu ſagen, die Frankfurter Verſammlung hätte gleich in den erſten Wochen, noch getragen von dem Strom der allgemeinen Begeiſterung, geſtüzt auf die Ohnmacht oder den guten Willen der Regierungen, irgendwelche Ver— faſſung des deutſchen Bundes oder Reiches deeretiren und das Weitere dann der Zukunft anheimſtellen ſollen, iſt, milde ausgedrückt, nicht mehr als ein albernes Gerede zu nennen. Als ob für das deutſche Volk irgend welche beliebige Ver— faſſung getaugt hätte! Und doch wäre auch nicht einmal für irgend welche Verfaſſungsform damals irgend welche

Mehrheit zu finden geweſen. Die Frage über eine concrete Neugeſtaltung der deutſchen Dinge war viel zu neu und unvorbereitet vor die Nation und ihre Vertreter gebracht worden.

Ich darf hier wohl zum Beleg eine kleine perſönliche Erinnerung anführen. Es ſollten in den erſten Tagen die Mitglieder eines Verfaſſungsausſchuſſes in den Abtheilungen gewählt werden. Da man ſich gegenſeitig noch gar nicht kannte, ſo wurde in der Abtheilung, welcher ich zugelooſt war, beſchloſſen, daß vor der Abſtimmung Jeder in der Kürze eine Art von politiſchem Programm und Glaubens bekenntniß ablegen ſolle. Da hieß es in der That: ſo viel Köpfe ſo viel Meinungen. Die Buntſcheckigkeit der Vota erregte allmählig Heiterkeit. Ich war unter etwa 36 Col— legen der Einzige, der ſich zu dem Pfizer-Dahlmannſchen Programm bekannte, freilich auch mit dem Zuſaz, daß die nähere Geſtaltung der Sonderſtellung von Oeſtreich noch weiterer Berathung bedürfe. Das mitleidig wohlwollende Lächeln der Nachbarn und Zuhörer zeigte mir, daß dieſes Votum als die abſonderliche Meinung eines jugendlichen Träumers und Dilettanten in politiſchen Dingen erſchien.

Hätte die Verſammlung etwa gleich mit dem anfangen ſollen und können, was ihr am Ende noch faſt unmöglich erſchien, den Collegen aus Oeſtreich, einem Drittheil ihres Beſtandes, direct oder indirect die Thüre zu weiſen?

Wenn man den ganzen Sommer hindurch die Be— rathung der Grundrechte und mancherlei Allotria in ihrer ganzen Breite und Weitſchweifigkeit zuließ, ſo geſchah es,

176 weil man noch rathlos vor der Hauptfrage ſtand und keiner der Entwürfe auf eine Mehrheit rechnen konnte. Der Schwerpunkt der Berathungen lag damals außerhalb der öffentlichen Sizungen. In den Klubs und noch mehr in kleineren Kreiſen wurden die verſchiedenen Möglichkeiten, das neun-, das ſieben-, das fünfköpfige Directorium, die Trias, die Wahlmonarchie, das Alternat, das Doppelprä— ſidium und was Alles ſonſt noch durchgeſprochen. Nicht aus vorgefaßten Meinungen, ſondern durch die innere Kraft und Dialectik ſeiner Argumente brach ſich hier allmälig der kleindeutſche Gedanke Bahn und gewann Tag für Tag einzelne Anhänger aus dem Kreiſe der früheren Gegner. Im Herbſt trat er in der Geſtalt des Gagernſchen Pro— gramms an die Oeffentlichkeit.

Für die Abgeordneten aus Preußen und den nord— deutſchen Kleinſtaaten war das Opfer dieſes Entſchluſſes nicht groß. Das Häuflein der Kleindeutſchen in den Süd— ſtaaten aber hatte einen ſchweren Stand. In Würtemberg war die öffentliche Meinung entſchieden großdeutſch, theils aus democratiſchen, theils confeſſionellen oder particulariſti— ſchen Motiven. Die alten bewährten Führer der liberalen Partheien, das Haupt des Märzminiſteriums, die beiden Kammern, die große Mehrzahl der Reichstagsabgeordneten ſtand in dieſem Lager. Von den Unſrigen waren die be— kannten Namen, Mathy, R. Mohl, Wurm außer Landes anſäßig und außer Fühlung mit ihren Wählern; wir drei andern, unbekannt und ohne Bedeutung, erſchienen wie

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Abtrünnige. Ich wurde überhäuft mit Kundgebungen des Mißfallens und perſönlichen Bedrohungen.

In dieſem Zuſammenhang mag die nachfolgende, bei der Berathung über die Erblichkeit der Reichsoberhaupt— würde gehaltene Rede, wenn ſie auch weder damals eine erhebliche Bedeutung hatte, noch dem heutigen Leſer etwas Neues ſagen kann, doch noch einiges Intereſſe bieten, auch abgeſehen von der kleinen Genugthuung, die es dem Redner gewähren kann, vor 25 Jahren im Ganzen nicht ſo fehlge— griffen und auch die militäriſch-politiſche Lage der Südſtaaten dem Erfolg nach nicht unrichtig beurtheilt zu haben.

Die Rede iſt aus den amtlichen ſtenographiſchen Sitzungsberichten, unter Weglaſſung der damals ſo zahl— reichen Zwiſchenrufe von Zuſtimmenden und Gegnern, ab— gedruckt.

Meine Herren! Ich bekenne mich offen zu denjenigen, welche den Eintritt Oeſterreichs in den deutſchen Bundes— ſtaat, wie wir ihn nöthig haben, für unmöglich, welche die Löſung unſerer Aufgabe nur in der Gründung von zwei ſelbſtändig neben einander ſtehenden, durch Sympathien, Intereſſen und Verträge an einander geketteten Bundes— ſtaaten für erreichbar halten. Ich will in dem engeren deutſchen Bundesſtaate, den wir hier zu gründen berufen ſind, den König von Preußen als erblichen König der Deutſchen. Die allgemeinen politiſchen Gründe für dieſe Anſicht hier zu entwickeln, unterlaſſe ich; ich will dieſes einflußreicheren und beredteren Stimmen dieſes Hauſes

Rümelin, Reden u. Aufſätze. 12

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überlaſſen, die es nach mir thun werden oder vor mir ge— than haben. Ich habe in dieſer Frage nur das Wort er— beten, weil ich einer von den wenigen Süddeutſchen bin, welche entſchieden auf dieſer Seite ſtehen, und weil ich wünſchte, daß auch aus meinem engeren Vaterlande ein Zeugniß dafür abgelegt würde, daß es auch dort nicht an ſolchen fehlt, die ſich in das Unvermeidliche fügen, die be— reit ſind, mancherlei Sympathien und Intereſſen um den Preis eines großen Vaterlandes hinzugeben. Ich bedauere, daß es einem andern Manne aus meinem Vaterlande nicht gegönnt, daß Paul Pfizer verhindert iſt, in dieſen Tagen auf dieſer Tribüne zu ſtehen und für eine Idee zu ſprechen, welche er ein Recht hat, ſein Eigenthum zu nennen, worin er ſchon vor Jahren mit ſtaatsmänniſcher Vorausſicht die künftige Form der deutſchen Einigung gefunden hat. Allein ſo ſehr wir alle ihn hier vermiſſen, ſo wollte ich doch nicht, daß gar keine Stimme aus meiner Heimath in dieſem Sinne ſich vernehmen ließe.

Es iſt gegenüber einer beſtimmten, ſo ſchwierigen Frage, wie die über das Oberhaupt, nicht leicht, von einer öffentlichen Meinung zu ſprechen, zumal in einem Lande, wo das politiſche Urtheil ſich ſelbſt noch erſt aus einer trüben und verworrenen Gährung herauszuarbeiten hat. Ich weiß ſehr wohl, daß auch bei uns die demokrati— ſchen Vereine gegen jede monarchiſche Spize ſind, ich weiß und begreife es vollkommen, daß diejenigen Theile von Würtemberg, welche in den lezten Kriegsjahren mit uns verbunden wurden und bis heute noch nicht recht zu einem

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Ganzen zujammengewadhfen find, theils im Hinblick auf geſchichtliche Erinnerungen, theils aus confeſſionellen Rück— ſichten nicht für ein preußiſches Kaiſerthum ſein können, ich muthe es ihnen auch nicht zu. Ich gebe ferner zu, daß, wenn es uns gelingen ſollte, dieſen Plan durchzuführen, er bei uns nicht mit Jubel begrüßt werden dürfte, daß das Volt lange Zeit dazu brauchen würde, ehe es ſich hineinfinden könnte; ich muß aber auch die Ueberzeugung ausſprechen, daß dieſe Idee in unſerem Lande bei ihrer Ausführung wenigſtens nicht auf weſentliche und unüber— ſteigliche Hinderniſſe ſtoßen und daß das Urtheil des Volkes vorzüglich von der Stellung abhängen wird, die die Re— gierung gegenüber dieſer Frage einnehmen wird. Die Männer, die an der Spize unſerer Landesverwaltung ſtehen, genießen ein ſolches Vertrauen beim Volke, daß es ihnen glauben wird, wenn ſie ihnen ſagen, dieſes Opfer ſei ein nothwendiges für die Einheit des Ganzen.

Meine Herren! Wir Bewohner des ſüdweſtlichen Deutſchlands befinden uns dieſer Oberhauptsfrage gegen— über in einer eigenthümlichen und peinlichen Stellung. Es hat Niemand, kein deutſcher Stamm ein größeres Intereſſe an der deutſchen Einheit, als wir; aber keiner hat auch das ſo ſchwer zu empfinden, wenn Deutſchland entweder nicht einig, oder kein Ganzes werden wird. Wir Schwaben haben den Fluch der Zerſtückelung und Schwäche Deutſch— lands ſchwerer getragen, als irgend ein anderes Volk. Wir, deren Herzöge einſt des Reiches Fahne trugen und vorangiengen bei den Römerzügen, wir ſind im lezten

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Jahrhundert zu Söldlingen herabgeſunken und zu jener Politik genöthigt worden, die dem Glücke des Siegers zu folgen hat, wir haben das zweideutige Lob, auf allen Schlacht— feldern Europa's für und gegen alle großen Armeen des Feſtlandes gekämpft zu haben. Es hat uns bei allen dieſen Kämpfen niemals an Muth und Tapferkeit gefehlt, aber niemals haben wir für ein Vaterland gekämpft. Und wenn es ſich heute wiederholt, wenn heute die Franzoſen über den Oberrhein kommen, ſo haben wir abermals nur die traurige Wahl, ob wir unſer Land allen Drangſalen des Kriegs, aller Willkür eines übermüthigen Feindes hingeben, oder ob wir Verräther werden wollen am deutſchen Volke. Ich weiß gewiß, daß unſer Volk und daß der Fürſt, der an der Spize deſſelben ſteht, keinen Augenblick im Zweifel ſein wird, welche Wahl ſie zu treffen hätten; aber traurig iſt es, wenn ein braves und tapferes Volk keine Wahl hat, als eine ſolche. Das können Sie alſo glauben, uns iſt es Ernſt damit, daß es ein ſtarkes Deutſchland gebe. Wir ſind zu jedem Opfer bereit. Wir treten nicht mit Anſprüchen auf eine ſelbſtändige Stellung, wie unſere öſtlichen Nach— barn, auf; „wir ſtehn zurück, wir ſind die Flehenden, die Hülfe heiſchen bei den mächtigen Freunden.“ Allein das iſt wahr, wenn man nun dem Süddeutſchen ſagt, die deutſche Einheit ſei ein preußiſches Erbkaiſerthum, ſo iſt das eine harte Lehre. Wer mag ſie hören? Sie können ſich dar— über nicht wundern; es iſt auch für den Vorurtheilsloſeſten bei uns, gleichſam als wenn man ihn unter ein Sturzbad kalten Waſſers ſtellte. Es benimmt einem Anfangs den

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Athem, und man braucht einige Zeit, bis man ſich daran gewöhnt hat und wohl dabei fühlt.

Ich bin daher mit demjenigen, was mein Landsmann M. Mohl vor kurzem in Beziehung auf die Stellung der ſüd— deutſchen Staaten zur Oberhauptsfrage geſagt hat, in vielem einverſtanden, beſonders in dem, was er über die Sympathien und Stimmungen des Volkes geſagt hat. Dagegen bin ich nicht einverſtanden, wenn er uns bewieſen hat, daß es ſo ſehr gegen die Intereſſen der ſüddeutſchen Staaten ſei, in ein ſolches deutſches Reich einzutreten. Der erſte und größte Grund, den er geltend gemacht hat, ſind unſere materiellen Intereſſen. Ich ſtehe in dieſer Beziehung auch auf dem Stand— punkte eines Süddeutſchen, und fühle mich verpflichtet, die Intereſſen meiner Wähler und meines Landes hierin nach ihrem ganzen Umfange zu wahren. Die Norddeutſchen, die Herren vom Freihandelsverein, kennen unſer Land nicht. Sie ſehen nur die ſchönen rebenbegränzten Berge und die anmuthigen Thäler, aber ſie wiſſen nicht, daß um dieſe Berge und in dieſen Thälern ein verarmendes Volk wohnt, für das der Boden nicht mehr ausreicht, der es zu ernähren hat. Sie wiſſen nicht, daß in dieſen Thälern viel tauſend arbeitsloſe und fleißige Hände ſind, die nichts weiter ver— langen, als daß ſie wenigſtens an den Hemden und Kleidern, die ſie auf dem Leibe tragen, den Lohn der Arbeit ſelber verdienen. Da ſprechen Sie von künſtlicher unnatürlicher Induſtrie, die wir auf Koſten Anderer gründen wollen, während wir nur das Natürliche und Nothwendige fordern. Wir wollen nur eine kurze vorübergehende mäßige Nach—

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hülfe, damit unſerm Volke neue Erwerbszweige geſchaffen werden; wir wollen, wenn einmal die Maſchinen viele Ge— werbe zu Grunde richten, daß es wenigſtens die eigenen Maſchinen ſeien, die dieß thun. Allein jo ſehr ich in Be⸗ ziehung auf das Materielle dieſer Frage auf ſüddeutſcher Seite ſtehe, ſo kann ich doch nicht einſehen, inwiefern hierin ein Motiv gegen die Gründung eines ſtarken Deutſchlands liegen ſolle. Man befürchtet, wir Süddeutſche ſeien in dieſem neuen Deutſchland in der Minorität. Ich glaube das nicht. Herr Stahl hat uns ſchon bewieſen, daß es ſich hier überhaupt nicht um einen Gegenſaz von Nord und Süden handle. Ich glaube vielmehr, daß diejenigen Theile von Deutſchland, in welchen eine kräftige Unterſtüzung der vaterländiſchen Arbeit ein unabweisbares Bedürfniß ge— worden iſt, auch ohne Oeſterreich einen größeren Theil von Deutſchland ausmachen, als diejenigen, in welchen es nicht der Fall iſt. Allein ſelbſt wenn wir die Majorität hätten, ſo verlange ich nicht, daß dieſe Frage einfach durch eine Majorität, die ſich für das eine Extrem entſcheidet, mag auch der andere Theil darüber zu Grunde gehen, abgemacht werde. Es iſt eine Sache, wo zwei verſchiedene Intereſſen einander gegenüber ſtehen und wir haben hier den erſten Beweis zu liefern, daß wir im Stande ſind, uns zu ver— ſtändigen und zu einigen über abweichende Anſprüche. Eine ſolche Verſtändigung wird erreicht werden, ſobald einmal alle Intereſſen ſich hören laſſen können, ſobald die Fragen nicht im Allgemeinen, ſondern im Einzelnen beſprochen werden, ſobald die Entſcheidung nicht mehr vom Zuſtande—

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kommen eines einſtimmigen Beſchluſſes von einem Duzend einzelner Regierungen abhängt, ſondern von den Beſchlüſſen eines Reichstags, von den Vertretern der ganzen Nation. Die Frage über die Verhältniſſe zu Oeſterreich in Beziehung auf Zoll und Handel bleibt jedenfalls eine Sache für ſich, die von Unterhandlungen abhängt, mag es nun mit der deutſchen Verfaſſung werden wie es will. Ob wir mit Oeſterreich ein Zoll- und Handelsgebiet bilden werden, was ich ſo ſehnlich wünſche, als irgend Jemand, und wann, das hängt nicht von der heutigen Abſtimmung ab, ſondern da— von, was die Intereſſen beider Länder gebieten; denn dieſe ſind mächtiger, als alle politiſchen Rückſichten des Augen— blicks. Wenn ich aber auch zugebe, daß ein Zuſtandekommen einer ſolchen Zollunion durch unſere Entſcheidung verzögert werden könnte, ſo kann ich von ein paar Monaten oder Jahren, um welche ein für uns günſtiger Handelsvertrag früher oder ſpäter in's Leben tritt, die Auferſtehung eines ſtarken Deutſchlands niemals abhängig machen.

Der andere Punkt, in Beziehung auf welchen uns bewieſen werden will, daß es gegen das Intereſſe der ſüd— weſtlichen Staaten ſei, mit Norddeutſchland inniger zu— ſammenzuhängen, als mit Oeſterreich, iſt der militäriſch-po— litiſche. Man ſagt uns, bei unſerer Lage zwiſchen Frankreich und Oeſterreich ſei Oeſterreich unſer natürlicher Beſchüzer, wir ſeien nur dann geſichert, wenn wir mit Oeſterreich im innigſten und nächſten Bunde ſtehen. Ich will Sie hier nicht an die Kriegsgeſchichte erinnern und mich nicht auf ein Gebiet verirren, auf dem ich nicht zu Hauſe bin, allein

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das ſcheint mir auf der Hand zu liegen, daß ein Land, deſſen Beſchüzer hundert Stunden hinter ihm liegen, ſchlecht beſchüzt iſt, daß ein Land ſchlecht beſchüzt iſt, wenn es noth— wendig der Tummelplaz der feindlichen Heere, der Siz des Krieges ſein wird; und in welcher Weiſe Oeſterreich unſer Land anſieht, davon möchte ich aus der jüngſten Zeit noch einen Beweis anführen und an eine alte Sünde des deut— ſchen Bundes erinnern. Man hat von deutſchem Geld, nachdem es lange im Kaſten gelegen iſt, und ich weiß nicht, wem Zinſen getragen hat, nicht eine deutſche Feſtung an die ſchwache Grenze Deutſchlands, ſondern an die Oſtgrenze unſeres Landes eine bayeriſche und öſterreichiſche Feſtung gebaut. Man hat unſere Länder dadurch zum Voraus als eine Beute bezeichnet, die man dem vordringenden Feinde hinwirft und überläßt. Wir können nur recht geſchüzt werden dadurch, daß wir mit einem ſtarken Norddeutſchland verbunden ſind; wir werden am beſten dadurch geſchüzt ſein, daß am mittleren Rheine Norddeutſchland eine ebenſo ſtarke und drohende Stellung an der ſchwachen Seite Frank— reichs hat, wie Frankreich am Oberrhein gegen die ſchwachen Seiten von Deutſchland; wir ſind viel ſicherer, wenn in erſter Linie Norddeutſchland für uns einzuſtehen hat, denn der Schuz Oeſterreichs bleibt uns unter allen Umſtänden im Rückhalt, weil es in ſeinem Intereſſe liegt, daß kein neuer Rheinbund an ſeinen Grenzen entſtehe. Wenn wir mit einem ſtarken Norddeutſchland verbunden ſind, ſo wird der Kriegsſchauplaz zwiſchen dem mittleren Rheine und der Maas ſein, und ein Krieg zwiſchen Oeſterreich und Frank—

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reich wird entweder in Deutſchland gar nicht geführt werden können, oder es wird zugleich ein Krieg gegen Deutſchland ſein. Dieſer Bund macht nicht nur uns ſicher, ſondern er ſchüzt und ſtärkt zugleich Oeſterreich. Oeſterreich iſt um Vieles kräftiger, wenn es dieſe Vorlande nicht mehr zu decken hat, wenn ein ſtarkes Deutſchland zwiſchen ihm und Frankreich ſteht, es kann dann um ſo viel ſtärker nach anderen Richtungen hin wirken, in welchen es ſeine ge— ſchichtliche Aufgabe hat und in denen es bisher ſo wenig gethan hat.

In Beziehung auf dieſe zwei wichtigſten Punkte bin ich alſo mit denjenigen meiner Landsleute nicht einver— ſtanden, welche uns von einem Intereſſe des ſüdweſtlichen Deutſchlands gegen eine ſolche Geſtaltung der deutſchen Verfaſſung reden; allein ſelbſt wenn dieſe Gründe nicht richtig wären, ſelbſt auf die Gefahr aller dieſer traurigen Möglichkeiten hin würde ich dennoch ſagen, wir wollen lieber auf einem verlaſſenen, preisgegebenen Vorpoſten eines deutſchen Reiches ſtehen, wir wollen lieber die Stiefſöhne eines deutſchen Vaterlandes ſein, als gar kein Vaterland haben. Herr Welcker hat dieſen Ausdruck hart, übertrieben und ungerecht gefunden, allein ich kann es nicht anders an— ſehen, und ich möchte Ihnen die Worte wiederholen, die Herr Dahlmann bei anderer Gelegenheit in Beziehung auf ver— ſchiedene Anträge über das Suspenſivveto gebraucht hat: alle dieſe Anträge ſind gleichviel werth, ich will Niemand zu nahe treten, aber ſie ſind alle gar nichts werth. Es handelt ſich bei allen darum, ob Sie einen Bundesſtaat

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mit zwei Großmächten machen wollen, von denen die eine noch eine Stellung außerhalb Deutſchland hat; wenn Sie zwei Großmächte haben, ſo haben Sie auch 30 kleine Staaten, das hängt aufs Innigſte zuſammen. Die beiden Groß— mächte werden entweder mit einander gehen und auf die kleinen drücken, und ſie werden dieß beſonders dann thun, wenn es ſich darum handelt, die politiſche Entwickelung zu retardiren, oder ſie werden nicht zuſammengehen (und das wird in allen großen politiſchen Fragen ſein), dann werden ſie ſich gegenſeitig neutraliſiren und gegen einander intri— guiren und die Folge wird ſein, daß es weder vor unſerem Volke, noch in den Augen des Auslandes ein großes Deutſch— land geben wird. Dem können Sie nicht entgehen; mag Herr Welcker ſagen, was er will, ich kann es nicht anders nennen, als es ſind alle die großen Gebrechen des alten Bundestages. Man beruft ſich auf das Parlament, allein das Parlament kann gegen ſolche unnatürliche Verhältniſſe nicht aufkommen, es wird entweder ganz ohnmächtig oder der Heerd und Tummelplaz aller dieſer Intriguen ſein, das Parlament wird nichts beſchließen können, was ent— weder Preußen oder Oeſterreich nicht will, und dann Herr Welcker hat es zwar eine Kinderei genannt, wenn man einen Werth darauf legen wolle, daß Oeſterreich neben ſeiner Stellung im deutſchen Bunde auch noch Geſandte für Ungarn u. ſ. w. habe, daß es eine einheitliche, geſchloſſene Armee halte ꝛc., allein, meine Herren, eben in dieſen Kin— dereien liegt das Weſen der Sache, und wenn in Peters— burg, London und Paris neben dem deutſchen Geſandten

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ein Geſandter für Ungarn iſt, jo wird man wohl wiſſen daß hinter dieſem Geſandten die 600,000 öſterreichiſchen Bajonette ſtehen. Die Folge würde dann ſein, daß Preußen ſeine europäiſche Stellung aufgibt, nur eine Stellung in Deutſchland hat, und hier ſeinen geſezmäßigen Drittelsein— fluß ausübt, während Oeſterreich innerhalb Deutſchland ganz dieſelbe Berechtigung mit Preußen, daneben aber ſeine europäiſche Stellung beibehält. Sie mögen über das Machtgefühl und Machtverhältniß der beiden Staaten ur— theilen, wie Sie wollen, in ein ſolches Verhältniß wird Preußen niemals eintreten, und Niemand, der die Geſchichte kennt, wird das erwarten und Preußen zumuthen.

Die Gegner unſerer Anſicht ſind in Einem ſehr ſtark, nämlich darin, uns die Mängel unſeres Planes vorzuführen, ſie können das und machen auch redlichen Gebrauch davon, ſie können alles das, was uns das Herz ſchwer gemacht hat, bis wir zu dieſem Entſchluß kamen, wieder an uns vorüberführen, ſie können die Wunde jeden Tag wieder aufreißen, und ich meinerſeits geſtehe Ihnen, daß, ſo oft Sie mir die Worte zurufen: das ganze Deutſchland ſoll es ſein, wenn ich auch Alles weiß, was ſich gegen dieſen Vor— wurf einer Theilung ſagen läßt, es mich doch jedesmal wieder trifft. Sie können unſere Sache ſchlecht machen, Eines aber können Sie nicht, Sie ſind nicht im Stande, ihr etwas Größeres, etwas gleich Großes, ja Sie ſind nicht im Stande, ihr nur irgend Etwas entgegenzuſtellen, was dem Auslande und dem Volke gegenüber einen kleinen Grad von Verſtändlichkeit, von Lebensfähigkeit hat. Unſer Ge—

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danke iſt offen und klar, jene Mängel liegen zu Tage, Niemand kann ſie verdecken; aber es iſt ein klarer, ſcharf durchſchneidender Gedanke der Einheit und der Macht, und er iſt allem dem Halben und Verworrenen, das Sie ihm gegenüberſtellen, weit überlegen. Ich gebe nicht zu, daß man das eine Zerſtückelung, eine Theilung von Deutſchland nennen darf, was gegenüber den früheren Zuſtänden nur eine noch unvollkommne, nicht für Alle gleichmäßige, aber jedenfalls weit größere Einigung von Deutſchland iſt. Allein ſelbſt wenn Sie Recht hätten, wenn es eine Ver— ſtümmlung von Deutſchland wäre, ſo ſage ich Ihnen, ich würde mir lieber einen Arm abhauen laſſen und einarmig durch die Welt gehen, als zwei geſunds Arme haben, wo— von der eine auch noch einer zweiten Perſon angewachſen wäre, die das gleiche Recht hätte, ſich deſſelben zu bedienen, wie ich. Es iſt dieß keine Theilung, keine Trennung. Ich ſehe das Verhältniß ſo an, wie es bei den alten Römern und Griechen war; wenn da ein Theil der Bürger auszog, um eine Colonie zu gründen und die Macht des Mutter: landes zu verſtärken, ſo nahmen ſie das Feuer von den Altären der heimiſchen Tempel mit. Sie blieben auch in der Ferne in dem gemeinſamen Bande der Liebe und der Sprache, der Erinnerungen und Stammverwandtſchaft, und dieſe Colonie, von der hier die Rede iſt, meine Herren, ſie iſt nicht ferne, es liegt kein Ocean dazwiſchen, ſie iſt nicht abhängig von uns, ſondern iſt ſtark und mächtig wie wir, und es ſind alle Bedingungen da, die eine einige, dauernde Verbindung möglich machen. Man hat viel von Klein—

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Deutſchland und Groß-Deutſchland geſprochen und geſucht, das kleine Deutſchland recht klein zu machen. Ich habe aber nie gehört, daß man dort, woher dieſe Namen über— haupt kommen, das kleine Griechenland, daß man Athen, Sparta, Corinth und Argos jemals herabgeſezt hätte gegen das große Griechenland in Italien. Sie reizen uns mit Ihrem großen Deutſchland und ſpiegeln uns einen Traum von einem einheitlichen unermeßlichen Coloß von 70 Mil— lionen vor, der zu gründen ſei. Ich muß gegenüber von ſolchen Unmöglichkeiten ſagen, mir iſt dies Klein-Deutſchland, von dem Sie ſo verächtlich reden, immer noch lieber als gar keines.

Man ſagt ferner, dieſe Union mit Oeſterreich werde nicht zu Stande kommen. Wie man denn denken könne, daß Oeſterreich ſich werde aus Deutſchland herausdrängen laſſen; ja man führt uns alle Schrecken des Bürgerkriegs vor, der an einen ſolchen Beſchluß ſich hängen werde. Ich kann das nicht glauben und unter den vielen Gründen, aus denen ich denke, daß kein Bürgerkrieg entſtehen wird, möchte ich nur einen hervorheben. Das öſterreichiſche Mini— ſterium hat in dem Programm von Kremſier eine offene und ehrliche ſtaatsmänniſche Anſicht ausgeſprochen, und wer über den Sinn derſelben irgend noch im Zweifel war, den hat gewiß die Note über das Conſulatweſen vollends über— zeugt. Das Miniſterium hat nach der Ankunft des Herrn v. Schmerling eine andere Anſicht über die Sache gewonnen. Ich weiß nicht, was Herr v. Schmerling dem öſterreichiſchen Miniſterium geſagt und gerathen hat, aber wenn es ſich

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nun herausſtellen jollte, daß der Rath, den Herr Schmer— ling dem Miniſterium gegeben hat, doch nicht Stich hält gegen die Anſicht, die das Miniſterium bis zum 27. Decem— ber gehabt, glauben Sie oder haben Sie jemals gehört, daß Jemand deßhalb das Schwert gezogen hat, weil man ihn überzeugt, ſeine frühere Anſicht ſei doch die richtige und der davon abweichende Rath doch ein irriger geweſen? So hoch man auch die Anſichten des Herrn v. Schmerling ſtellen mag, einen Bürgerkrieg und eine Theilung Deutſch— lands in zwei feindliche Lager werden ſie nicht veranlaſſen. Man ſchreckt uns ferner mit einem Krieg und ſagt in dem— ſelben Athemzug, wenn Oeſterreich von Deutſchland ge— trennt werde, entſtehe ein ſlaviſches Reich, was ſchwer zu glauben iſt. Glauben Sie aber, daß die Slaven einen Krieg anfangen würden, um in einen deutſchen Bundesſtaat aufgenommen zu werden, daß ſie das Schwert ziehen, damit Wien aufhöre, der Centralpunkt ihrer Politik zu ſein?

Eben ſo groß ſind aber die Gründe von unſerer Seite, die das Zuſtandekommen einer ſolchen Union wahrſcheinlich machen. Preußen hat ſich geſchichtlich im Gegenſaz zu Oeſterreich entwickelt. Aber das hat gerade dann ein Ende gefunden, wenn es mit dem übrigen Deutſchland zuſammen— wächſt und in ihm aufgeht. Deutſchland wird kein Preußen ſein und wir acht Millionen Süddeutſche ſind gerade eine Bürgſchaft für Oeſterreich, daß keine antiöſterreichiſche Politik in dem neuen Deutſchland jemals gelten wird. Schon in Preußen ſelbſt hat das excluſive Preußen—

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thum kaum eine Mehrheit; wie ſoll es ſie haben im übrigen Deutſchland, wo das Gewicht aller kleinen Staaten dazu kommt, die zuſammen größer ſind, als Preußen ſelbſt? Wenn man ferner ſagt, Oeſterreich werde dann auf Deutſch— land keinen Einfluß mehr haben, ſo muß ich Ihnen geſtehen, ich fürchte eher, daß der Einfluß Oeſterreichs zu groß als zu klein ſein wird.

Was zum Schluß die Erblichkeit betrifft, ſo möchte ich dafür nur Einen Grund anführen, der für mich ein ent— ſcheidender iſt. Wir wollen einen preußiſchen Erbkaiſer eben darum, weil wir nicht preußiſch werden wollen. Wir wollen uns ganz hingeben, aber wir verlangen das Gleiche auch von Preußen. Wir verlangen, daß es ſeinen ſtaat— lichen Organismus als ein fügſames Glied in die deutſche Verfaſſung einreihe, daß es uns in Berlin nicht den Doppel— gänger eines Reichstags hinſtelle, daß es nicht die Stellung und Gliederung einer Großmacht fortbehalte, daß der Unter— ſchied unter den deutſchen Staaten kein anderer werde, als der zwiſchen mittelbaren und unmittelbaren Reichslanden. Dieſe Forderung können wir aber nur dann ſtellen, wenn die Verbindung keine zeitliche, ſondern eine unauflösliche iſt. Wir können nicht erwarten, daß Preußen, wenn es nach ſechs Jahren wieder abzutreten hat, ſeine geſammte Staatsverfaſſung ſo lange ſuspendire. Es muß bleiben, was es iſt, und wir kommen aus dem Gegenſaz von großen und kleinen Staaten nie heraus; denn, wenn Preußen ſeine ſelbſtändige Stellung behält, ſo werden es die Anderen auch thun. Ein vollkommenes Zuſammenwachſen iſt nur

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unter dieſer einen Bedingung möglich, von der ich ge: ſprochen habe.

Man ſagt ferner, man könne für keine Erblichkeit ſtimmen, ſo lange das Verhältniß zu Oeſterreich im Un— klaren ſei. Meine Herren, das iſt ein fehlerhafter Zirkel in der Logik; ich ſage Ihnen, das Verhältniß Oeſterreichs wird auf die Minute hin ſo lange im Unklaren bleiben, als Sie darüber im Unklaren ſind, und es wird klar werden in dem Augenblick, wo Sie ein klares Wort geſprochen haben werden. Man iſt in Olmütz und Wien nicht im Unklaren. Man wird dort die Verfaſſung machen, wie man ſie in Oeſterreich bedarf, wie ſie für den Zuſammen— halt des großen Ländercomplexes unentbehrlich iſt. Unſer Miniſterium ſoll unterhandeln und hat die Grundlagen der Verfaſſung nicht, auf die hin es unterhandeln ſoll. Frei— lich, wenn Sie gar keinen Bundesſtaat machen, dann kann Oeſterreich wohl eintreten, dann wird Alles anders: aber Sie müſſen von Ihrer Seite das entſcheidende Wort ſprechen, und die ſchwierige Frage löſen und das Weitere wird folgen. Ich gebe zu, die Erblichkeit iſt ein großer und kühner Ge— danke, es iſt ein kühner Griff wie keiner; es wird etwas hingeſtellt, was den Ausgangs- und Zielpunkt der künftigen Geſchichte Deutſchlands bezeichnen wird. Allein alles An— dere, was Sie dieſer Erblichkeit gegenüberſtellen, ſind lauter Proviſoria, bei allem Anderen, was Sie machen, ſchieben Sie die Entſcheidung der Zukunft zu. Das deutſche Volk hat uns aber berufen, daß wir eine Verfaſſung und nicht daß die Exreigniſſe ſie machen. Es wird zwar geſchehen, was wir

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wollen, wenn Sie es auch nicht beſchließen, ich möchte aber um unſeres Namens in der Weltgeſchichte willen, daß wir die Sache machten. Sie ſchieben die Sache der Zukunft zu; unſer Wahlſpruch iſt umgekehrt. Nicht die Zukunft ſoll die Verfaſſung Deutſchlands, ſondern unſere Verfaſſung ſoll die Zukunft machen.

Rümeliu, Reden u. Aufſätze. 13

Rede zur Feier des Geburtstags des deut— ſchen Kaiſers.

Tübingen 22. März 1874.

Es ſind heute drei Jahre, daß der 22. März zum erſtenmal über die ſchwarz-weißen Grenzpfähle hinaus eine Bedeutung gewonnen hat, damals ſogar in noch weiterem Umkreis als heute. Denn von den Pariſer Forts, von einer Menge eroberter Feſtungen und beſezter Städte don— nerten die deutſchen Kanonen den Franzoſen das Geburts— feſt eines neuen Kaiſers als das Wahrzeichen eines neuen Zeitalters in die Ohren. Von denjenigen, welche zuvor lieber eine andere Löſung der deutſchen Dinge gewünſcht hatten, kamen die einen, überwältigt von dem Eindruck unerhörter Siege und des glorreichſten Friedens, ſelbſt herüber zu uns auf den neuen Boden, die anderen ent— hielten ſich wenigſtens der auffallenderen Kundgebungen ihres abweichenden Standpunkts. Allein dieſe Flitterwochen der neuen Aera gingen bald vorüber. Weder die Einzelnen noch ganze Völker halten ſich ſo lange auf der Höhe einer begeiſterten Empfindung. An die Stelle der Feſttagsfreude trat wieder die gedämpftere Stimmung der werktägigen

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Arbeit. Man gewöhnte ſich bald, Kaiſer und Reich, wie andere Dinge, als das Gegebene und Selbſtverſtändliche anzuſehen, für welches man keine beſondere Urſache hat, ſich zu erwärmen, zumal da die Einführung der neuen Ordnung der Dinge nicht ohne einzelne Reibungen und Opfer hatte vor ſich gehen können. Indeſſen rüſteten in der Stille die alten, nur für den Augenblick verſtummten Gegner zu neuem Kampf.

Was iſt es nun, das an dem diesmaligen Jahrestag uns zahlreicher als je und ich glaube auch, in erregterer Stimmung und gehobenerem Muthe hier zuſammengeführt hat? Im ruhigen und ungeſtörten Beſiz pflegt der Menſch den wahren Werth ſeiner Güter nicht zu ſchäzen; erſt wenn eine Gefahr an ſie herantritt, wenn etwa eine Krankheit die uns theuren Perſonen niederwirft, fühlen wir alsbald an dem ſtärkeren Klopfen unſeres Herzens, wie viel für uns auf dem Spiel ſteht. So iſt es uns nun bei den lezten Wahlen mit Kaiſer und Reich gegangen; wir waren betroffen von den unerwarteten Gefahren, die es bedrohten. Und es iſt in der That eine ſehr ſchwere und ernſte That— ſache, über deren Tragweite ſich Niemand einer Täuſchung hingeben darf, daß das deutſche Volk bei ſeinem zweiten Wahlgang ein volles Drittheil von gefährlichen und ge— ſchworenen Feinden der neuen Ordnung in den Reichstag geſchickt hat.

Es iſt jezt nicht mehr an der Zeit, die Hände in den Schooß zu legen; wir müſſen brechen mit der deutſchen Art oder Unart, daß der Bürger meint, er dürfe nur von

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Zeit zu Zeit, nach Laune, nach geringfügigen Geſichts— punkten, ja aus den unverantwortlichſten Motiven einen Wahlzettel in eine Urne werfen oder auch nicht werfen, um dann als kritiſirender, raiſonnirender oder gleichgiltiger Zuſchauer den weiteren Verlauf der Dinge abzuwarten und die Verantwortung Andern zu überlaſſen.

Es kann jezt und für die nächſte Zukunft nur noch zwei Lager in Deutſchland geben, ſolche, welche das Reich bekämpfen und untergraben, und ſolche, welche es beſchüzen und befeſtigen wollen. Und es muß der Spruch gelten: wer nicht für mich iſt, der iſt wider mich.

Wenn unſere Gegner, deren Standpunkte doch himmel— weit aus einander liegen, dennoch in geſchloſſenen Reihen kämpfen, warum ſollten wir es nicht können, die wir Alle den Kaiſer ehren wollen, aber es doch nicht unterlaſſen, ſo oft nur um den Bart des Kaiſers mit einander zu ſtreiten?

Sehen wir uns dieſe Gegner doch näher an, wer ſie ſind und was uns in Ausſicht ſtünde, wenn ſie, ich will nicht einmal ſagen, ſiegen, ſondern nur noch feſteren Fuß und größeren Zuwachs gewinnen ſollten. An der Spize der Einen zieht nur eine lange Reihe ſchwarzer Röcke, die Anderen aber folgen unheimlichen Geſtalten mit der Jako— binermüze und rothen Fahnen. Ich weiß in der That keine gröbere und keckere Unwahrheit, als die Behauptung, die wir täglich hören und von hohen und höchſten kirchlichen Würdenträgern in Erlaſſen und Hirtenbriefen in den ſtärkſten Ausdrücken wiederholt finden, daß in deutſchen Landen die katholiſche Religion verfolgt und unterdrückt werde, daß

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das neue Reich gleich nach ſeinem Entſtehen nichts Beſſeres zu thun gewußt habe, als einen Hader mit der katholiſchen Kirche vom Zaun zu brechen. In keinem europäiſchen Lande hatte dieſe eine ſo maßloſe Freiheit genoſſen, wie in Preußen, und ſo verfehlt und ſchädlich auch dieſe Zugeſtändniſſe waren, ſo würde man doch nicht ohne die zwingendſten Gründe zu einem anderen Syſtem übergegangen ſein, da man ja einer konfeſſionellen Minderheit ohne Gefahr etwas mehr ein— räumen kann als der Mehrheit. In den übrigen deutſchen Ländern, und zwar in den vorherrſchend proteſtantiſchen noch mehr als in den katholiſchen ſelbſt, hat man der ka— tholiſchen Kirche nicht nur die volle Achtung ihrer ver— faſſungsmäßigen Rechte, ſondern die entgegenkommendſte Rückſicht und Liberalität erwieſen. Auch muß man zur Steuer der Wahrheit anerkennen, daß es nicht die deutſchen Biſchöfe geweſen ſind, welche von ſich aus den Frieden ge— brochen hätten. Drüben über den Bergen jene Geſellſchaft mit dem unbefugteſten Namen, welche die Geſchichte als die ſchlimmſte Feindin aller menſchlichen Bildung und Geſit— tung brandmarken muß, ſie war es, die unter dem Schuz der individuellen Freiheiten des modernen Staates und mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechts, das leider bis jezt der Finſterniß und dem Unverſtand mehr Früchte getragen hat, als dem Licht und der Vernunft, die Zeit wiedergekommen glaubte, um die alten Plane und Ziele unter neuen Formen wieder aufzunehmen. Syllabus und Eneyklika, wiewohl ſie den Genius des Jahrhunderts keck genug ins Geſicht ſchlugen, waren nur die Vorläufer, aber wir in unſern

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Tagen ſollten das Unglaubliche erleben, deſſen Vorherſagung ein Jahrzehnt vorher noch als der Einfall eines Thoren erſchienen wäre: die päpſtliche Unfehlbarkeit. Mag auch das noch zur Glaubensfreiheit gerechnet werden müſſen, daß eine ſo ungeheuere, alles frühere Recht umſtoßende Neuerung den Katholiken verkündigt, ein ſolches Joch ihnen auferlegt werden durfte, ſo gehört es dann doch auch ebenſo zu den unveräußerlichen Rechten jedes freien und denken— den Menſchen, es auszuſprechen, wie ihm und wie allen anderen Chriſtenmenſchen dieſe That erſcheinen muß, als die unerhörteſte Anmaßung, als ein Frevel gegen alle ge— ſunde Vernunft, gegen alles religiöſe Gefühl, deſſen erſte Regung die Demuth und Erkenntniß menſchlicher Schwach— heit iſt, gegen alles Gewiſſen, deſſen erſte Forderung die innere Wahrhaftigkeit iſt, die es verbietet, ſich ſelbſt oder irgend einen ſeiner Nebenmenſchen in menſchlichen oder göttlichen Dingen für unfehlbar zu halten. Seitdem die römiſchen Imperatoren des Alterthums ſich haben Altäre errichten und Opfer darbringen laſſen, hatte ſich in der gebildeten Welt nie wieder ein lebender Menſch vermeſſen, ſich ein Attribut der Gottheit beizulegen. Eine Kirchenge— ſellſchaft, die ſich mit dem Anſpruch auf die übermenſchliche Autorität ihres unumſchränkt gebietenden Oberhauptes auf dem Staatsgebiet niederläßt und nach ihrem Gefallen die Grenzen ihrer Zuſtändigkeit abmeſſen will, iſt ja ſchlechthin unvereinbar mit jeder Art von Staatsbegriff und unver— hüllte Prieſterherrſchaft, die ſchlechteſte und für ein freies und edles Volk unerträglichſte aller Staatsformen.

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Mögen ſich das die romanischen Völker, Franzoſen, Italiener, Spanier bieten laſſen! Dort, wo die Maſſe der Gebildeten auf dem Standpunkt ſteht, daß Religion nur für die Weiber und die unteren Volksklaſſen gut und nöthig ſei, mag man ſich freilich darüber wundern, daß man bei uns ſo viel Weſens daraus mache, wenn zu hundert ver— alteten und unannehmbaren Glaubensſäzen noch ein hun— dert und erſter hinzutrete, der noch etwas weniger ver— nünftig wäre. Der Geiſt der germaniſchen Völker aber, welchem zu allen Zeiten die Religion eine ernſte und heilige Angelegenheit geweſen iſt, weiſt ſolche Zumuthungen mit Entrüſtung zurück, und alle Zweige derſelben drängen in dieſer Sache nach Einem Ziele hin. Zollen wir unſeren Dank und unſere Anerkennung den braven Brüdern in der Schweiz, die in dieſem Kampfe als die Tapferſten und Vorderſten fechten und uns zeigen, wie die Sache praktiſch anzufaſſen wäre. Unſere Stammgenoſſen in Oeſtreich haben muthig begonnen, die allzulang getragenen Feſſeln abzu— ſtreifen. Das freie England begleitet unſere Kämpfe mit den wärmſten Sympathieen. Der Sieg in dieſer Sache kann nicht zweifelhaft ſein; der Staat wird und muß ſeine unverlierbaren Hoheitsrechte behaupten und dann, wenn der Sieg erſtritten iſt, wird es auch an einem billigen Friedensſchluß und an einer Verſtändigung nicht fehlen, wie man ſie einer Minderheit irregeleiteter Brüder und Mitbürger nicht verſagen wird.

Man könnte vielleicht darüber ſtreiten, und es wäre ſchwer, ſich zu entſcheiden, was mehr zu fürchten wäre, ein

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Sieg der Ultramontanen oder der Socialdemokraten, ob etwa die Inquiſition, die ja auch von Einem der Unfehl— baren eingeführt und niemals wieder außer Geltung geſezt worden iſt, ſchlimmer wäre als eine neue Auflage der Pariſer Kommune. Im einen Fall wird ein finſteres Ge— ſpenſt des Mittelalters, im andern ein problematiſcher Ge— danke der Zukunft in häßlichſter Entſtellung heraufbe— ſchworen.

Es ſei fern von mir, hier von Socialismus und Arbeiterfrage reden zu wollen; ich kann nur kurz meine und Vieler Ueberzeugung ausſprechen, daß für die Gegen— wart und nächſte Zukunft keine ſchwerere und ernſtere Pflicht und Aufgabe beſteht, als die: eine zahlreiche und achtungs— werthe Klaſſe, welcher bis jezt die Bürgſchaften einer feſt— begründeten und geſicherten bürgerlichen Exiſtenz mehr als den andern Ständen fehlen, zu einem friedlichen, geordneten, nach ihrer Bedeutung in das Ganze eingefügten Glied der Geſellſchaft zu erheben, und daß wir, um dies zu erreichen, werden lernen müſſen, Manches, was uns bisher als un— umſtößliche Wahrheit galt, zu den Vorurtheilen zu werfen und Opfer zu bringen, die uns heute noch als unannehm— bar erſcheinen. Aber ein Anderes iſt der Kern und Unter— grund von Wahrheit und Berechtigung, den dieſe Forde— rungen in ſich bergen mögen, ein Anderes die Art und Form, in der ſie uns jezt gegenübertreten. Wenn eine Enteignung der Beſizenden der Zweck, Gewalt, Umſturz, Petroleum die Mittel ſein ſollen, wenn katilinariſche Exi— ſtenzen, verkommene Literaten, Leute, die es bequemer finden,

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auf Vereinskoſten als von der eigenen Arbeit zu leben, von Stadt zu Stadt umherziehen, um in braven und fried— lichen Männern durch Lügen und Vorſpiegelungen die ge— fährlichſte aller Leidenſchaften, den Klaſſenhaß, anzuſchüren, wenn in der Parteipreſſe täglich die Greuel der Pariſer Kommune gerechtfertigt, ja als Heldenthaten geprieſen und gefeiert werden, wenn Religion als Unſinn, Eigenthum als Diebſtahl erklärt wird, wenn weitverzweigte Vereine in internationale Verbände treten und von auswärtigen Obern Befehle empfangen, dann bleibt in der That nichts übrig, als die Staatsanwälte und Polizeibehörden anzurufen, und wenn ſich die beſtehenden Geſeze als unzureichend erweiſen, ſie ſo zu ergänzen, daß einer ſo ſchweren Gefährdung der öffentlichen Wohlfahrt Schranken geſezt werden können; und zwar müßte man dies thun, bevor es zu ſpät geworden iſt. Inzwiſchen mag es immerhin von einigem Werth ſein, wenn etliche der Agitatoren, ſtatt ſich in dem Zuruf und Beifall unkundiger Geſinnungsgenoſſen zu ſteigern und zu berauſchen, im Reichstag Gelegenheit finden, auf die Sprache von Recht und Vernunft zu hören und die Bedeutung der realen Mächte des Lebens und des Staats abzuwägen, die ſie über den Haufen werfen zu können meinen.

Ich komme zu einer andern Klaſſe von Feinden des Reichs, die zwar auch eine rothe, aber nicht die blutrothe Fahne ſchwingen, die nicht alle Bildung und ſittliche Ord— nung, ſondern nur die beſtehende Staatsform bekämpfen. Wenn es nach ihrem Kopf gegangen wäre, ſo hätte Deutſch— land in einen Haufen föderirter Winkelrepubliken theils

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zerſchlagen, theils zuſammengefaßt werden müſſen, etwa wie die Kantone Murcia und Granada nach dem Recept der Herren Figueras und Pi y Margall; und da ihnen die Weltgeſchichte dieſen Gefallen nicht gethan hat und auch gar wenig Neigung an den Tag legt, dies bald nachzu— holen, ſo ſind ſie zwar ſo gnädig, dem Reich die formelle Anerkennung ſeines Beſtehens nicht länger zu verſagen; ſie ſuchen es aber in jeder Weiſe herabzuſezen und ſchlecht zu machen, indem ſie die hohle Phraſe von Cäſarismus und Militarismus zu Tode hezen und unſeres Volkes beſte Männer von Tag zu Tag mit Koth bewerfen. Nach ihrer Meinung hätten die deutſchen Heere nach dem Siege von Sedan aus heiligem Reſpekt vor dem Namen Republik Halt machen und Frieden ſchließen müſſen, ohne die dem Reich früher entriſſenen deutſchen Länder wieder in Anſpruch zu nehmen und eine wirkſame Deckung der militäriſchen Weſt— grenze zu erreichen; ja heute noch, wurde uns erſt kürzlich geſagt, müßten wir die Elſäßer und Deutſch-Lothringer darüber abſtimmen laſſen, ob es ihnen denn wirklich auch gefällig iſt, zu uns zu gehören, und wenn ſie dies verneinen ſollten, die Länder mit den Feſtungen wieder an Frank— reich zurückgeben.

Das Beſte iſt, daß dieſe Art von Demokraten nur ein kleines Häuflein bildet, wiewohl ſie gerade für unſer Land eine nicht zu unterſchäzende Bedeutung hat. Denn wie man früher ſchon nicht ganz mit Unrecht den Schwaben einen potenzirten Deutſchen im Guten wie im Schlimmen genannt hat, ſo können wir in der That eine gewiſſe Nei—

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205 gung, eigenfinnig auch an dem unmöglich Gewordenen oder dem ſtets Unmöglichen feſtzuhalten und daran das Hoch— gefühl von angeblicher Konſequenz und Charakterſtärke zu knüpfen, ſowie eine leichte Anlage zur Querköpfigkeit nicht ganz in Abrede ſtellen.

Vor noch nicht langer Zeit hätte ich auch noch von einer vierten Klaſſe von Gegnern des Reiches ſprechen müſſen, ich halte es aber neben ſo vielem Unerfreulichen für eine der erfreulichſten neueren Thatſachen, daß wenig— ſtens in unſerem Lande die Partikulariſten und die Natio— nalen in einen heilſamen Prozeß gegenſeitiger Verſchmelzung eingetreten ſind. Vor einigen Jahren noch ſchien es Vielen, wie wenn die Einzelſtaaten in ihrem Verhältniß zum Reich jenen Schiffen in der Fabel glichen, die in die Nähe des Magnetberges geriethen, der ihnen die eiſernen Nägel und Klammern aus den Rippen zog, daß ſie auseinanderfallen mußten. Dieſe Meinung, die freilich von Anfang an eine verfehlte war, wird heute nur noch wenig einſichtige Ver— treter finden. Die Auseinanderſezung zwiſchen dem Bund und ſeinen Gliedern iſt in der Hauptſache abgeſchloſſen und es kann ſich nur noch um kleine Grenzberichtigungen handeln, wie ſie zwiſchen anſtoßenden Gebieten niemals ganz aufhören. Es hat ſich gezeigt, daß die meiſten Einzelſtaaten vollkommen lebensfähig geblieben ſind und bleiben werden. Weitaus die meiſten und die den Einzelnen am nächſten und un— mittelbarſten berührenden öffentlichen Funktionen ſind auf ihrer Seite geblieben und an der Regelung der den Bundes— organen vorbehaltenen Angelegenheiten nehmen das Volk

und die Regierung in einer Art und in einem Umfang Antheil, die jedem billigen Anſpruch genügen müßten. Unſere Regierung hat die Bahn einer loyalen und reichs— treuen Politik betreten. Sollte es vielleicht auch hie und da an kleinen Reibungen nicht fehlen, ſo ſind ſie doch un— erheblich und bergen keine Gefahr. Unſere inneren Zu— ſtände ſind, wenn man nicht einen idealen, ſondern den praktiſchen Maßſtab eines etwas geſchichts- und weltkun— digen Beurtheilers anlegt, im Großen und Ganzen befrie— digende und wohlgeordnete zu nennen; wir haben in frei— ſinnigen Inſtitutionen, in ſorgfältiger, ehrlicher und humaner Rechts- und Wohlfahrtspflege den Vergleich mit andern Ländern nicht zu ſcheuen; um Einzelnes können uns die— ſelben beneiden und thun es auch. Nach meiner Erfahrung und Ueberzeugung kann man mit ungetheiltem Herzen ein guter Württemberger und ein guter Deutſcher ſein; man kann ohne Gewiſſensnöthen nach dem Spruche leben: Gebet dem Kaiſer was des Kaiſers iſt und dem König was des Königs iſt.

Aber das kann doch kein Einſichtiger ſich verhehlen, daß wir dies Gefühl befriedigender und befeſtigter Zuſtände nicht uns allein, daß wir es weſentlich mit dem Reichs— verbande danken, auf welchem dieſelben wie auf ihrem Fundament, ihrer Grundmauer ruhen. Wären wir noch wie früher der europäiſche Kleinſtaat, der nicht wüßte, ob er im nächſten Krieg zu Oeſtreich, Preußen oder Frankreich zu halten gezwungen oder veranlaßt ſein wird, der das franzöſiſche Ausfallthor am Rhein ſich im Nacken wüßte,

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wie prekär und ſchwankend wären nicht nur die politiſchen, ſondern auch die wirthſchaftlichen Verhältniſſe! Man konnte jenen Zuſtand etwa einem gefälligen, bequemen, auch nicht allzu koſtſpieligen Anzug vergleichen, der nur einen einzigen Fehler hätte, daß er nicht naß werden, daß es nicht regnen und nicht ſchneien durfte.

Und wie mit der äußeren, ſo verhält es ſich auch mit der inneren Sicherheit. Wir ſtehen in einem großen Kultur— kampf der Staatsgewalt mit der Hierarchie, der modernen Geſellſchaft gegen auflöſende und zerſtörende Elemente. Wiewohl weder die eine noch die andere Gefahr gerade unſer Land ſo nah und unmittelbar bedroht, wie manche andere Länder, ſo iſt doch kein Zweifel, daß, wenn jene feindlichen Gewalten ihre Erfolge anderwärts errungen hätten, ſie nicht an unſern Grenzpfählen Halt machen, daß ſie auch uns Verwirrung und Zerſezung bringen würden.

Denn das liegt ja zu Tage; gegen das Reich kehren jene Mächte für jezt nur deswegen vorzugsweiſe ihre Spize, weil dort die größten Widerſtandskräfte liegen, weil dahin die erſten Stöße zu richten ſind und ohne einigen Erfolg an dieſem Punkte anderwärts nichts zu hoffen iſt. Aber ihrer innerſten Natur nach ſind ſie ja um nichts feindlicher gegen das Reich, als gegen den Staat überhaupt, gegen alle ſittliche und geſellſchaftliche Ordnung, gegen alle Bil— dung und wahre Freiheit.

Und dies iſt der eigentliche Zweck und das Ziel von Allem, was ich bisher geſagt habe. Ich wollte in Ihnen die Ueberzeugung erwecken, oder zur vollſten Lebendigkeit

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und Klarheit ſteigern, daß Kaiſer und Reich nicht blos ein dem Einzelnen fern liegendes Inſtitut ſind, das etwa zum Schuz nach Außen, für den Verkehr, für Münze, Maß und Gewicht und ähnliche Dinge dient, ſondern der Grund— pfeiler und Eckſtein für die Vertheidigung und Befeſtigung aller nationalen und höheren Güter, für das ganze wirth— ſchaftliche Leben, für Bildung und Freiheit, für die ächte Religion wie für die freie Wiſſenſchaft, für Alles, was dem menſchlichen Leben Schmuck und Werth zu leihen ver— mag. Fiele oder ſänke das Reich, ſo ſtünden wir vor dem Abgrund, vor einem neuen Chaos der Verwirrung und Auflöſung.

Und nun geſtatten Sie mir noch einige direkt auf den Gegenſtand der heutigen Feier bezügliche Worte beizufügen. Wenn es zu den ſchlagendſten Zeugniſſen für die Treff— lichkeit der konſtitutionell monarchiſchen Staatsform gehört, daß ſie auch den mittelmäßigen, ja den ſchwachen und un— bedeutenden Herrſcher zu ertragen vermag, ſo giebt es doch keine erfreulichere und glänzendere Erſcheinung, als wenn die Perſönlichkeit und die Hoheit des Amts in Einer Linie ſtehen, wenn, wie bei Kaiſer Wilhelm, die Eigenſchaften des Fürſten ſich decken mit den Bedürfniſſen des Zeitalters und ſeiner Nation. Ohne eigenwilliges Eingreifen und doch mit ſelbſtändigem Urtheil und Entſchluß hat er im Krieg und Frieden zu rechter Zeit das Rechte gefunden. Wo hat er in großen Dingen etwas gethan, was er hätte unter— laſſen ſollen, wo etwas unterlaſſen, das er hätte thun müſſen? Wie hat er gerade in dem abgelaufenen Jahr

in den Briefen an den Papſt und den Grafen Ruſſell, in einfacher und edler Form, kein Wort zu viel und keins zu wenig, den vollſten Gehalt der Sache zum erſchöpfenden Ausdruck gebracht! Wahrlich, nie hat eine glänzendere Krone ein würdigeres Haupt geſchmückt.

Der Kaiſer tritt heute in ſein 78. Lebensjahr und die Bürde dieſer Jahre hat ſich zulezt nicht mehr in dem Grade, wie früher, verläugnet. Wer wünſcht nicht, daß dies theure Leben dem Reich noch lange erhalten bleibe, daß der hohe Fürſt ſich der großartigen Früchte ſeines Wirkens noch lange erfreuen möge? M. H.! Der Hort und Schirmherr aller unſerer nationalen Güter, der glorreiche Führer des deutſchen Volkes in ſeinen äußeren und inneren Kämpfen, der deutſche Kaiſer Wilhelm lebe hoch!

Zur Cheorie der Statiſtik.

I. 1863.

Nachdem R. Mohl die zahlreichen und weit ausein— ander laufenden Definitionen der Statiſtik als eine „pſy— chologiſche Merkwürdigkeit“ und „wunderliche Literatur“ bezeichnet hat, da doch die Frage an ſich einfach und ſchon von den Gründern jener Wiſſenſchaft gelöst worden ſei, iſt es eine mißliche Sache geworden, ſich an jenem Problem von Neuem zu verſuchen. Wenn dies nun dennoch hier und dort immer wieder geſchieht, wenn alſo ſelbſt die Ge⸗ fahr der Lächerlichkeit nicht als hinreichendes Abſchreckungs— mittel wirkt, ſo muß doch wohl irgend ein verborgener Stachel und Reiz in der Sache liegen und man möchte an die Freier in Gozzi's Mährchen denken, die uneingeſchüchtert durch die blutigen Köpfe unglücklicher Vorgänger ſich ſtets von Neuem wieder zu Turandot's Räthſel herandrängten. Der Verfaſſer nun iſt wenigſtens nicht aus Fürwiz, nicht, um etwas Neues vorzubringen, auf dieſe Frage geführt worden; die Veranlaſſung lag für ihn in praktiſchen Berufs— arbeiten von ſtatiſtiſcher Art, die mit Nothwendigkeit auf principielle Unterſuchungen hinwieſen und ohne Klarheit über die Grenzen und Aufgabe des Fachs als unlösbar

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erſchienen. Als er nun in der Literatur dieſer Disciplin

Aufſchlüſſe ſuchte und jenes Labyrinth von Meinungen durchirrt hatte, mußte ſich ihm die Ueberzeugung aufdrän— gen, daß auch die beſten und anerkannteſten Begriffsbe— ſtimmungen immer noch Etwas als Statiſtik bezeichnen, was mit der Praxis des Fachmannes nicht recht harmo— niren will, was dieſem die Grenzen ſeiner Kunſt in viel zu vage und nebelhafte Regionen rückt. So lange die Statiſtik im Weſentlichen doch noch als die Wiſſenſchaft von den menſchlichen Zuſtänden bezeichnet wird, die zwar vorzugsweiſe die ſtaatlichen und geſellſchaftlichen Verhält— niſſe ins Auge zu faſſen, aber doch auch noch manches Andere zu berückſichtigen habe, die zwar vorzugsweiſe be— ſchreibender und darſtellender Natur ſei, aber doch nach Umſtänden auch Urſachen und Geſeze zu erforſchen habe, die zwar vorzugsweiſe mit der Gegenwart beſchäftigt, aber doch auch an der Behandlung früherer Zeitperioden nicht behindert ſei, die zwar gerne und vorzugsweiſe ihre Er— gebniſſe in Zahlen ausdrücke, aber doch auch anderer Dar— ſtellungsmittel ſich zu bedienen habe, ſo lange alſo die ziemlich unwiſſenſchaftliche Formel: vorzugsweiſe dieſes, aber doch auch Anderes, noch eine ſo bedeutende Rolle in den Definitionen ſpielt, darf man die Akten in der That noch nicht für geſchloſſen erklären. Der Verfaſſer wurde nun durch ein von mannigfaltiger ſtatiſtiſcher Praxis be— gleitetes und unterbrochenes Nachdenken zu einer Auffaſſung geführt, die ihm über manche Zweifel und Bedenken hin— weghalf und von der er ſich, wie es zu gehen pflegt, ſchließ—

Rümelin, Reden u. Aufſätze. h 14

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lich glauben machte, daß ſie auch andern, namentlich den Fachmännern, wenigſtens als ein Verſuch, auf einige neue Seiten der Sache aufmerkſam zu machen, von Intereſſe ſein könnte. Er erlaubt ſich daher, dieſelbe in kürzeſter Weiſe hier darzulegen und glaubt von jeder weiteren Ein— leitung, namentlich von einer vorausgehenden Ueberſicht und Kritik anderer Anſichten um ſo mehr Umgang nehmen zu dürfen, als hierüber Mohl bereits in ſeiner gediegenen Weiſe Bericht erſtattet hat und auch Andere, wie z. B. Jonak, klare und gründliche Aufſchlüſſe geben.

Auf die Gefahr hin, jenes Prädikat der Wunderlich— keit gleich vornherein zu provociren, müſſen wir den Leſer bitten, den Ausgangspunkt in einem beliebigen Compendium der Logik, nicht der ſpeculativen, ſondern der vulgären zu nehmen, und zwar in dem nach der üblichen Eintheilung zweiten Abſchnitt derſelben, der Methodologie oder Lehre von der allgemeinen wiſſenſchaftlichen Technik. Wir denken uns, daß daſelbſt Deduction und Induction oder der Schluß vom Allgemeinen aufs Einzelne und vom Einzelnen aufs Allgemeine, als die beiden Grundformen aller wiſſenſchaft— lichen Gedankenentwicklung vorangeſtellt ſind, daß ſodann in dem Kapitel der Induction näher von den Bedingungen einer richtigen Induction die Rede war und unter dieſen wieder die richtige Beobachtung der einzelnen Erſcheinungen, aus welchen Inductionsſchlüſſe abgeleitet werden wollen, genauer erörtert wird. Hier unterſcheidet man nun die natürliche Beobachtung und die methodiſche. In der natür— lichen betrachtet der Menſch mit ſeinen natürlichen Wahr—

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nehmungsorganen das Object in eben dem Zuſtand, in welchem die Wirklichkeit es ihm darbietet. Dieſe Beobach— tungsweiſe hat aber einen doppelten Mangel, einmal an der Unzulänglichkeit und Unzuverläßigkeit der menſchlichen Wahrnehmung ſelbſt, ſodann an der großen Complieirtheit aller realen Erſcheinung. Beide Mängel ſucht die metho— diſche Beobachtung zu beſeitigen oder zu vermindern, den erſten, indem ſie durch wiſſenſchaftliche Werkzeuge die menſch— lichen Wahrnehmungsorgane ergänzt und verſchärft, wie durch den ganzen Apparat von Maaßen, Waagen, optiſchen, akuſtiſchen, meteorologiſchen 2c. Inſtrumenten, den zweiten, indem ſie das Object ſelbſt für die Beobachtung präparirt durch den wiſſenſchaftlichen Verſuch oder das Experiment. Dieſes hat wieder zwei Grundformen; die eine beſteht darin, daß das Object der Beobachtung durch möglichſte Beſeiti— gung aller ſtörenden oder unweſentlichen Coefficienten auf ſeine einfachſte Geſtalt, auf ein Urphänomen zurückgeführt wird; das andere, daß das Object in ſeinem Verhalten zu abſichtlich hinzugefügten Coefficienten betrachtet wird. Auf die leztere Form ſind die Wiſſenſchaften, welche organiſche Weſen zum Gegenſtand haben, weil hier ſchon das Urphä— nomen ſelbſt immer noch eine ſehr complicirte Erſcheinung bleibt, vorzugsweiſe angewieſen.

Die gewöhnlichen Compendien der Logik, wenigſtens diejenigen, die dem Verfaſſer zur Hand waren, behandeln die Lehre von den Mitteln der wiſſenſchaftlichen Beobach— tung ziemlich kurz und würdigen nur etwa das Experiment eines näheren Eingehens. Der Gegenſtand erſcheint uns

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aber für die Eintheilung, ſowie für die Einſicht in den ganzen Charakter der verſchiedenen Wiſſenſchaften, mit denen unſer Gegenſtand ſich berührt, wichtig genug, um eine weitere Fortführung dieſer Betrachtung zu rechtfertigen. Der Kosmos, die Welt zerfällt für unſere Betrachtung in die zwei großen Hälften, das Reich der Natur und die

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Menſchenwelt. Natur nennen wir Alles, was ſich uns als ein ohne Zuthun des menſchlichen Willens Wirkendes dar— ſtellt. Sowohl die Wiſſenſchaften von der Natur als die vom Menſchen ſind Erfahrungswiſſenſchaften, d. h. ſie be— ruhen in lezter Inſtanz auf Induction und Beobachtung, mag nun im Uebrigen der Antheil des deductiven Ver— fahrens größer oder kleiner ſein. Allein die beiden Haupt— gattungen von Wiſſenſchaften ſind ſehr verſchieden von einander in Beziehung auf die Mittel der wiſſenſchaftlichen Beobachtung.

Wenn in den Naturwiſſenſchaften durch die obigen Mittel der natürlichen und methodiſchen Beobachtung ſo Großes geleiſtet wird, wenn ſie ſich mit Stolz neben der Mathematik als die einzigen exacten, d. h. die Anerkennung ihrer Lehrſäze erzwingenden Wiſſenſchaften nennen, ſo be— ruht dies nur auf der Einen großen Regel, daß in der Natur das Einzelne typiſch iſt, daß ſchon eine einzige genau conſtatirte und correct beobachtete Thatſache zu einem In— ductionsſchluß berechtigt und die Wiederholung der Beob— achtung in der Regel nur zur Controle des menſchlichen Verfahrens erforderlich iſt. Wenn der Phyſiker in Einem unzweifelhaften Falle bemerkt hat, daß ein gewiſſer Körper

zu den electriſchen Leitern gehört, jo weiß er, daß dieſer und alle andern Körper der gleichen Art jezt und allzeit und überall unter denſelben äußeren Umſtänden electriſche Leiter waren, ſind und ſein werden. Wenn der Chemiker das Verhalten eines neuentdeckten Grundſtoffes zum Sauer— ſtoff durch Ein richtiges Experiment ermittelt hat, ſo zweifelt er nicht, daß ſich dies Experiment in Amerika ſo gut wie in Europa, in 1000 Jahren ſo gut wie jezt wiederholen läßt. Wenn uns der Zoolog aus Einer Beobachtungsreihe ſchildert, wie die Grasmücke ihr Neſt baut, ihre Eier aus— brütet, ihre Jungen füttert, ſo iſt er ſicher, uns damit einen typiſchen Vorgang geſchildert zu haben. Allein ſchon wenn wir zu den unter menſchlicher Einwirkung ſtehenden Pflanzen und Thieren übergehen, vermindert ſich die Zuverſicht, mit der wir die einzelne Erſcheinung als eine typiſche betrachten, und wenn wir zulezt vollends hinüberſchreiten in das Reich der menſchlichen Pſyche, jo erliſcht ſie ganz.

Im Reich der Natur iſt das Einzelne typiſch, in der Menſchenwelt individuell. Unmöglich kann aber hiebei in— dividuell ſo viel heißen als indeterminirt, außerhalb des Cauſalitätsgeſezes ſtehend, jeder Erklärung und Zurück— führung auf conſtante Urſachen ſich entziehend. Sonſt wäre auf dieſem Gebiet überhaupt keine Wiſſenſchaft denkbar und alle Erfahrung werthlos. Wie die Wirklichkeit über— haupt keine Sprünge und ſcharfe Grenzlinien kennt, ſo iſt auch jener Unterſchied nur ein fließender. Auch kein Sand— korn, kein Grashalm, kein Holzwurm gleicht genau dem andern, noch weniger ein Hund oder Affe; aber das Ab—

weichende erſcheint uns hier verſchwindend klein gegen das Uebereinſtimmende und erklärt ſich meiſt aus erkennbaren Verſchiedenheiten der äußeren Bedingungen. Und doch tritt ſchon innerhalb jener Beiſpiele eine Abſtufung deutlich her— vor. Je höher wir heraufſteigen in der fortſchreitenden Reihe der Organiſationen, deſto zahlreicher werden die Factoren des organiſchen Lebens, deſto mannigfaltiger ihre Combinationen, deſto weiter eben damit der Spielraum in— dividueller Abweichungen. Und wie man zwar 6 Zeichen ſchon auf 720 Arten zuſammenſezen kann, 12 Zeichen aber nicht etwa doppelt ſo viel mal, ſondern gleich 490 Millionen mal, ſo ſteigern ſchon wenige neu hinzutretende Elemente im organischen Leben die Mannigfaltigkeit der Erſcheinungen in unendlicher Progreſſion. Das Individuelle entwickelt ſich genau im Verhältniß des zunehmenden Reichthums der Lebensformen. Auch innerhalb der Menſchenwelt ſezt ſich der gleiche Stufengang noch fort; der Wilde iſt typiſcher als der civiliſirte Menſch; der Neger und Mongole iſt es mehr als der Kaukaſier; der Menſch des Alterthums mehr als der des Mittelalters; und dieſer mehr als der moderne. Der Mann iſt individueller als das Weib; der Erwachſene als das Kind, der Gebildete als der Ungebildete, der edle Menſch als der gemeine. Aber dieſe lange Reihe vom Sandkorn bis zum großen Denker oder Dichter zerfällt uns in zwei Hälften; ſie zeigt Einen Sprung, den größten, den wir überhaupt in dem Stufengang der Natur wahr— nehmen, den vom Thier zum Menſchen. Im Ganzen und Großen ſind wir berechtigt, Natur und Menſchenwelt als

215 das Reich der typischen Einzelnheiten und der Individua— litäten zu unterſcheiden. Geſezmäßig iſt die Entwicklung des genialſten Menſchen um nichts weniger, als die der dürftigſten Kryptogame; das ſind wir durch den Cauſalitäts— begriff geneigt a priori vorauszuſezen; aber in der Be— trachtung des Menſchen verbirgt ſich das Geſez unter der unabſehbaren Menge von ſtörenden oder modificirenden. Coefficienten der Erſcheinung. Mit andern Worten: der Inductionsſchluß, die Concluſion von Einem oder mehreren Einzelnen auf die Gattung verändert ſich, zwar nicht ſeiner Natur, aber ſeiner Geſtalt nach und verliert die Leichtigkeit und Sicherheit ſeiner Anwendung, wie fie den Naturwiſſen— ſchaften zu Statten kommt. Wenn die einfache Beobachtung der einzelnen Erſcheinung, wenn Inſtrument und Experiment ihre Dienſte verſagen, wie gelangen nun die mit der Welt der Individualitäten beſchäftigten Wiſſenſchaften gleichwohl zu Erfahrung, welcher Erſaz findet ſich für die verlorenen Beobachtungsmittel der Naturwiſſenſchaften? Hier bieten ſich nun zunächſt zwei eigenthümliche Vorzüge dieſer Wiſſen— ſchaften vor den mit der Natur beſchäftigten dar.

Das Nächſte und Wichtigſte iſt, daß für die Beobach— tung von Menſchen und menſchlichen Verhältniſſen zu der äußeren Erfahrung die innere hinzutritt. Der Menſch er— kennt den Menſchen von innen heraus; der Andere tritt uns nicht, wie die Naturobjecte, als eine verſchloſſene Er⸗ ſcheinung entgegen, ſondern das eigene Selbſtbewußtſein gibt uns den Schlüſſel zu ſeinem Verſtändniß. Der zweite Unterſchied, der weniger die Mittel als das Feld der Beo—

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bachtung betrifft, iſt zwar nur relativ, aber doch immer noch von größter Bedeutung. In der Natur beſchränkt ſich die Beobachtung auf die Gegenwart, wenn auch das Gegenwärtige vielfach zu Schlüſſen auf Vergangenes be— rechtigt; es gibt zwar eine Bildungsgeſchichte des Planeten und der Erdrinde, ja, auch abgeſehen von Darwin's Lehren, der Gattungen und Arten; allein innerhalb der hiſtoriſchen Zeit ſind ſolche Veränderungen jedenfalls verſchwindend klein gegenüber von der Stabilität und Unveränderlichkeit der Naturerſcheinungen. Die Jahrzehnte der Menſchheit entſprechen kaum den Jahrtauſenden der Natur. In den Wiſſenſchaften vom Menſchen wächst der Stoff ſelbſt von Geſchlecht zu Geſchlecht. Die Menſchheit hat eine Geſchichte und wälzt deren Nachwirkung und Erinnerung lawinen— artig mit ſich fort. Die Beobachtung des Menſchen be— ſchränkt ſich daher nicht auf die Gegenwart, ſondern erſtreckt ſich rückwärts auf Jahrtauſende und findet daſelbſt einen unabſehbaren Reichthum der heterogenſten Erſcheinungen. Jedes Geſchlecht tritt unmittelbar in eine Erbſchaft von Sprache und Vorſtellungen, Erfahrungen, Fertigkeiten und angeſammelten Gütern, materiellen und geiſtigen, aller Art ein, und außerdem bewahren zahlreiche ſprachliche und andere Denkmäler die Erinnerungen längſt verſchwundener Ereigniſſe und Lebensanſchauungen.

Allein von ſo unendlicher Bedeutung jenes Hinzutreten der inneren Erfahrung und die Ausdehnung des Beobach— tungsfeldes auf die Vergangenheit iſt, ſo vermag beides doch vom methodologiſchen Standpunkt aus den Vortheil,

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den die Naturwiſſenſchaften durch den typiſchen Charakter der einzelnen Erſcheinung haben, bei Weitem nicht auszu— gleichen. Weder das Eine noch das Andere kann über unmaaßgebliche Individualfälle hinausführen. Es mag genialen Geiſtern in der überraſchendſten Weiſe gelingen, ihr Inneres zu einem Spiegelbild ihrer Zeit, ihres Volkes, der Menſchheit zu läutern; es wird andere geniale Geiſter unter anderen Verhältniſſen geben, deren Inneres von den gleichen Erſcheinungen ein ganz abweichendes Bild zurück— wirft, ohne daß ſich ein Maaßſtab fände, eine wiſſenſchaft— liche Entſcheidung zu treffen. Die Geſchichte berichtet uns von Perſonen und Dingen, die nur einmal in einem nicht wiederkehrenden Complex von Umſtänden gerade ſo ge— worden ſind, und die ſich uns überdies nur durch das un— glaublich trübe Medium einer beſchränkten Beobachtung und befangenen Beurtheilung darſtellen. Die Wiſſenſchaften vom Menſchen aber, ſoweit ſie nicht blos beſchreibender oder erzählender Art ſind, ſuchen nicht Aufſchlüſſe über einzelne Individuen, ſondern über collective Begriffe, ſei es von Menſchen oder menſchlichen Lebenskreiſen, ſie fragen nicht nach dem Einmal Geſchehenen, ſondern nach den Ge— ſezen alles Geſchehens. Deſſen aber, was von allen Men— ſchen ausnahmslos geſagt werden kann, iſt ſehr wenig und mußte ſich ſchon den erſten Generationen der Menſchheit aufdrängen. Wenn wir ſagen, daß der Menſch vom Manne erzeugt, vom Weibe als Kind geboren wird, mit einem thieriſch organiſirten Leib ausgeſtattet iſt, der Nahrung und des Schlafes bedarf, dem Irrthum unterworfen, dem Tod

und der Verweſung des Leibes verfallen iſt, jo müſſen wir fürchten, für den Theologen bereits zu viel geſagt zu haben. Um ganze Zeitalter, Staaten und Völker zu charakteriſiren, muß die Geſchichte mit mehr oder weniger Takt und Recht einzelne Perſonen und Thatſachen als typische behandeln, wiewohl an ſich ſchon ein Widerſpruch darin liegt, das Hervorragende typiſch zu nennen. Die Geſchichte kann es nur zum nothdürftigen Begreifen abgeſchloſſener Erſchei— nungen bringen; ſie hat aber noch kein einziges erwieſenes und unbeſtrittenes Geſez der menſchlichen Entwicklung im Großen aufgefunden, wenn man etwa von ſolchen Säzen abſieht, die ſich ohne Geſchichtskenntniß auf dem Wege der Deduction erweiſen laſſen oder faſt tautologiſch ſind, wie z. B., daß nichts Menſchliches von beſtändiger Dauer und in der Entwicklung der Völker kein Sprung denkbar ſei. So lange die Wiſſenſchaften vom Menſchen auf der Grund— lage vereinzelter Beobachtung, ſei es des Gegenwärtigen oder Vergangenen, ſtehen, können ſie nicht über den Stand— punkt der Weisheit der Sprüchwörter hinauskommen. Die deutſche Sprache zählt allein Tauſende von Sprüchwörtern, in denen die gemeine Erfahrung von Jahrhunderten nieder— gelegt iſt; es iſt aber nicht eines darunter, deſſen Gedanken nicht durch den Inhalt von einem Duzend anderer wieder eingeſchränkt, modificirt und völlig verneint würden. Jene Wiſſenſchaften könnten ſich daher über die Stufe der Kind— heit, auf der ſie noch vor wenigen Generationen ſtanden und theilweiſe noch ſtehen, niemals erheben, wenn es nicht für ſie Beobachtungsmittel gäbe, durch welche die Unzu—

länglichkeit der vereinzelten und individuellen Erfahrung vermindert und die Erfahrung als ein Ganzes ergriffen wird. Dieſes methodiſche Mittel, das jenen Wiſſenſchaften den Mangel der Inſtrumente und des Experiments zu er— ſezen, ein vollſtändiges und zuverläßiges empiriſches Ma— terial zu liefern hat, iſt die Erweiterung der vereinzelten und zufälligen Beobachtung zur univerſalen und methodiſch organiſirten. Man kann es kurz die methodiſche Maſſen— beobachtung nennen. Sie beſteht darin, daß über ganze Gruppen von Individuen ein Nez von Obſervatorien aus— gebreitet wird, um nach Einer Methode alle gleichartigen Erſcheinungen zu beobachten und zu regiſtriren. Da dieſe Beobachtungsweiſe menſchliche Collectivbegriffe, wie Volk, Stamm, Kirche, Bezirk, Gemeinde, Stände 2c. in die Indi— viduen, die ſie zuſammenfaſſen, wieder auflöst und von jedem Einzelnen zu beobachten hat, ob eine gewiſſe Er— ſcheinung bei ihm Statt findet oder nicht, ſo begreift es ſich, daß es ſich dabei ſtets zugeich um ein Zählen handelt und daß die Zahl ein charakteriſtiſches Merkmal dieſer Beobachtungsmethode iſt. Je zahlreicher nun die Objecte ſolcher Beobachtungen werden, je umfaſſender die einzelnen Gruppen, und auf je mehr Gruppen ſich gleichförmige Be— obachtungen erſtrecken, deſto vollſtändiger und gründlicher wird die Charakteriſtik der betreffenden Collectipbegriffe werden, und deſto reicher das Material zu Inductions— ſchlüſſen und zur Erkenntniß des Zuſammenhangs der menſchlichen Erſcheinungen. Man wird ganz in ähnlicher Weiſe, wie in den Naturwiſſenſchaften, Schlußfolgerungen

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ziehen können, wie z. B. daß zwei Erſcheinungen, die ſtets verbunden oder ſtets getrennt ſind, oder die, wo ſie zu— ſammentreffen, ſtets noch eine dritte, aber niemals eine ge— wiſſe andere, vierte Erſcheinung zur Begleitung haben u. ſ. w., unter ſich oder mit dieſer dritten und vierten in einer ge— wiſſen Cauſalbeziehung ſtehen müſſen. Damit iſt ein Weg gewonnen, um Gruppen, Collectivbegriffe in correcter Weiſe zu charakteriſiren, Geſeze der menſchlichen Lebenserſchei— nungen wiſſenſchaftlich zu finden und zu erweiſen, mit Einem Worte, die Erfahrungswiſſenſchaften vom Menſchen zu exacten, ihr Beweisverfahren zu einem zwingenden zu erheben, die durch ihr Vielerlei verwirrenden Erſcheinungen der Menſchenwelt methodiſch zu bewältigen und der wiſſen— ſchaftlichen Behandlung zu unterwerfen. Dieſes Mittel der univerſellen Obſervation, deſſen Gedanke ein alter und nahe liegender iſt, konnte erſt in ſehr vorgerückten Bildungs— zuſtänden zur Ausführung kommen; es iſt bis jezt nur in ſchwachen Anfängen ausgebildet und hat auch ſo ſchon eine Reihe von Wiſſenſchaften theils geſchaffen, theils reformirt, theils befruchtet. Es erlaubt Frageſtellungen an das Object gleich dem Experiment und ergänzt die Unzulänglichkeit der ſubjectiven Wahrnehmung, gleich den wiſſenſchaftlichen In— ſtrumenten. Der mögliche Umfang ſeiner Ausdehnung und Wirkung iſt unabſehbar.

Die Analogie der Naturwiſſenſchaften, welche keine beſondere Empirologie unterſcheiden, ſondern von welchen jede ihre Beobachtungsmittel ſelbſtſtändig in Anwendung bringt, würde darauf führen, daß auch unter den Erfah—

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rungswiſſenſchaften vom Menſchen jede jenes Mittel der univerſellen Obſervation für ſich ſelbſt und nach ihren eigenen Bedürfniſſen als einen integrirenden Theil ihrer Forſchungsmethode handhabte, und vielleicht wird auch in nicht allzuferner Zeit das Princip der Theilung der Arbeit auf eine ſolche weitere Specialiſirung der wiſſenſchaftlichen Thätigkeit hinführen. Bis jezt aber haben ſehr erhebliche innere und äußere Gründe auf einen abweichenden Gang der Sache geleitet. Es hat ſich für alle Wiſſenſchaften vom Menſchen eine gemeinſame Hilfswiſſenſchaft gebildet, welche jeder von ihnen das Material einer univerſellen Empirie, deſſen ſie bedarf, zur Verfügung ſtellt. Der äußere Grund zu dieſer Entwicklung der Dinge lag darin, daß es zuerſt der Staat war, welcher für practiſche Zwecke das Bedürf— niß einer methodischen Maſſenbeobachtung empfand, und durch beſondere Veranſtaltung, insbeſondere die Errichtung ſtaatswiſſenſchaftlicher Obſervatorien befriedigte, nach und nach aber dieſe Inſtitute auch für allgemeinere wiſſenſchaft— liche Zwecke, an denen er kein ſo unmittelbares Intereſſe hatte, verwenden ließ. Dazu kam, daß die Handhabung dieſes Beobachtungsmittels einen äußeren Apparat und Aufwand von Mitteln, eine gewiſſe Organiſation erfordert, die zumal bei bureaukratiſchen Einrichtungen am leichteſten der Staat in die Hand nimmt und die, wenn ſie einmal vorhanden iſt, leicht auch für verſchiedenartige Zwecke be— nüzt werden kann. Der innere Grund für jene Gruppi— rung aber iſt, daß eine ſolche wiſſenſchaftliche Frageſtellung an die Geſellſchaft und die weitere formelle Behandlung

ihrer Ergebniſſe bei aller Verſchiedenheit der Gegenſtände doch eine gewiſſe gleichartige Technik und Methodik erfordert; noch mehr aber, daß die Erfahrungswiſſenſchaften vom Menſchen, wenn ſie auch nicht ohne unnatürlichen Zwang in Eine Disciplin zuſammengedrängt werden können, doch eine Gruppe aneinandergränzender und verwandter Dis— ciplinen bilden und ſehr häufig, ja in der Regel Eine und dieſelbe Ermittlung von Thatſachen in verſchiedene Fächer einſchlägt. Als die Aufgabe dieſer Hilfswiſſenſchaft be— zeichnen wir nun kurz: die Ermittlung von Merkmalen menſchlicher Gemeinſchaften auf der Grundlage methodiſcher Beobachtung und Zählung ihrer gleichartigen Erſcheinungen, und faſſen dabei unter dem allgemeinen Namen von Ge— meinſchaften ſowohl natürliche Gruppen von Individuen, wie Völker, Staaten, Provinzen 2c., als die einer geſon— derten Betrachtung fähigen Lebenskreiſe, wie die politiſchen, wirthſchaftlichen, geſelligen, kirchlichen ꝛc. Verhältniſſe zu— ſammen.

Man hat eingewendet: die bloße Anwendung eines formellen Verfahrens, die Handhabung eines gewiſſen Be— obachtungsmittels könne nicht den Inhalt einer beſonderen Wiſſenſchaft bilden, ſo wenig, als man ſich z. B. die Mi— croscopie als eine Wiſſenſchaft denken könne. Allein die große Bedeutung und Tragweite einer univerſellen, organi— ſirten Obſervation für eine Gruppe zuſammengehöriger Wiſſenſchaften dürfte im Obigen hinreichend nachgewieſen ſein, um eine ſolche Vergleichung abzulehnen. Ueberdies aber gibt es noch andere längſt anerkannte Hilfswiſſen—

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ſchaften, die ebenfalls nur in der Handhabung eines for- mellen und methodischen Verfahrens beſtehen. Wir wollen die Philologie unerwähnt laſſen, deren Begriff ſelbſt ein noch beſtrittener iſt, nennen aber um ſo mehr die philo— logiſche Kritik und Hermeneutik, denen das wiſſenſchaftliche Zunftrecht Niemand beſtreitet, und deren Aufgabe doch nur darin beſteht, literariſche Denkmale in der Geſtalt und mit der gelehrten Ausſtattung herzuſtellen, worin ſie den Zwecken der verſchiedenen Wiſſenſchaften dienen können. Sie ſind Hilfswiſſenſchaften aller auf Literarische Mittel angewieſenen Disciplinen und haben das Gleiche zu leiſten, ob der Autor, mit dem ſie ſich beſchäftigen, ein Dichter oder Geſchicht— ſchreiber, Philoſoph oder Naturforſcher iſt. Solche heuri— ſtiſche Disciplinen, die den objectiven Wiſſenſchaften den unentbehrlichen Stoff in methodiſcher Bearbeitung liefern, haben das gleiche Verdienſt, wie etwa der gelehrte Reiſende, der ein unbekanntes Land erforſcht hat und die Ergebniſſe der Reiſe gleichſam auf den Tiſch der Wiſſenſchaft nieder— legt, ſo daß der Naturforſcher, wie der Philoſoph, der Sprachgelehrte oder der Hiſtoriker, der Nationalökonom oder auch der practiſche Kaufmann davon Gebrauch machen kann. Ob die ſpeciellen Fachmänner, welche ſich die Re— ſultate einer ſolchen wiſſenſchaftlichen Reiſe aneignen, die Mittel und Eigenſchaften gehabt hätten, jene Reiſe für die Zwecke ihrer Wiſſenſchaft noch fruchtbringender zu machen, iſt keineswegs zum Voraus gewiß, da dieſer Weg, wiſſen— ſchaftliches Material zu ſammeln, ſelbſt ſchon wieder Spe—

224 cialitäten, eine Vereinigung ſeltener Eigenschaften und Er— fahrungen zu erfordern ſcheint.

Und nun endlich, wie heißt dieſe gemeinſame Hilfs— disciplin aller Erfahrungswiſſenſchaften vom Menſchenleben? Man könnte an allerhand mehr oder weniger bezeichnende Namen, an Obſervationiſtik, Empirologie, Empiriſtik des Menſchen, ſociale Heuriſtik und Aehnliches denken, aber die Bemühung iſt überflüſſig; der Name iſt ſchon da; ſie heißt Statiſtik. Sie führt dieſen Namen jedoch nicht bei den Theoretikern, ſondern nur in der Auffaſſung der Praktiker und im gemeinen Sprachgebrauch. Sie hat auf denſelben auch kein unzweifelhaftes hiſtoriſches, noch weniger ein etymologiſches Recht. Die oben erwähnte Thatſache, daß jene Hilfswiſſenſchaft zuerſt und lange blos im Dienſt des Staats und der Staatswiſſenſchaften geſtanden iſt, war die Urſache, daß ihr eigenthümlicher, methodologiſcher Cha— rakter verborgen blieb und nur als unweſentliche Beigabe einer beſtimmten ſtaatswiſſenſchaftlichen Disciplin, der Staats- oder Zuſtandskunde, erſchien. So bezeichnet Sta— tiſtik etymologiſch, wie hiſtoriſch urſprünglich eine Staats— wiſſenſchaft. Allein die Anwendung jenes fruchtbaren Be— obachtungsmittels der univerſellen Zählung dehnte ſich bald auf eine Menge weder den Staat noch die Geſellſchaft be— treffender Objecte, wie phyſiologiſche, pathologiſche, pſycho— logiſche se. Fragen aus, und mußte den Gedanken an eine Trennung von Methode und Materie bald nahelegen. Da, wo die Statiſiik am ſorgfältigſten und umfaſſendſten aus— gebildet wurde, wie in Belgien und Frankreich, mußten

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die Fachmänner zuerſt bemerken, daß eine gewiſſe, ſtets mit Zahlen in Berührung ſtehende Methode das Eigen— thümliche ihrer wiſſenſchaftlichen Thätigkeit ſei und ſuchten daher ihr Fach zuerſt aus den fremden Banden zu eman- cipiren. Die Lehrer der Staatswiſſenſchaften aber, zumal in Deutſchland, behaupteten ihren Beſizſtand aufrecht und ſuchten die auseinander drängenden ungleichartigen Elemente dadurch beiſammen zu halten, daß ſie den Umfaſſungsreif immer dünner und weiter machten, d. h. den Begriff der Statiſtik immer mehr ausdehnten und verflüchtigten und ſo am Ende aus den urſprünglichen Staatsmerkwürdigkeiten eine allgemeine Zuſtandswiſſenſchaft, eine Darſtellung des Lebens der Menſchheit als ruhenden Daſeins machten. Jener merkwürdige logische Inſtinet aber, der die Maſſen bei der Sprachbildung leitet, und ohne den bei der Denk— ſchwäche der meiſten Einzelnen die Wunderwerke der menſch— lichen Sprachen nicht begreiflich wären, folgte der deutſchen Wiſſenſchaft in dieſem Punkte nicht in die Nebelregion ihrer luftigen Abſtractionen, ſondern hielt ſich einfach an die charakteriſtiſche Außenſeite der Sache und entſchloß ſich kurz, im Sinne der praktiſchen Fachmänner alles das eine ſtatiſtiſche Mittheilung zu nennen, wo auf Grund umfaſ— ſender Zählungen von Einzelfällen allgemeine Thatſachen oder Merkmale des menſchlichen Zuſammenlebens dar— geſtellt werden, mochte nun der Gegenſtand den Staat, oder die Geſellſchaft, mochte er die Schließung von Ehen, die Verbreitung von Bibeln, den Häringsfang, oder das Schlachten von Kälbern betreffen. Wir haben

Rümelin, Reden u. Aufſätze. 15

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uns die Mühe genommen, ſeit längerer Zeit auf alle Fälle zu achten, wo das Wort Statiſtik und ſtatiſtiſch in Büchern und Zeitſchriften aller Art beiläufig gebraucht wird und haben dabei den obigen Sinn des Wortes jo conjtant?vor- gefunden, daß wir ſagen möchten, es laſſe ſich „ſtatiſtiſch“ beweiſen, was man unter Statiſtik verſteht. Wenn man in der Inhaltsangabe eines Zeitungsblatts die Ueberſchrift lieſt: Statiſtiſches, ſo darf man darauf rechnen, an dem betreffenden Ort das Ergebniß irgend einer Zählung an— geführt zu ſehen; wäre Statiſtik Staaten- oder Zuſtands— kunde, ſo müßte ja der größte Theil von dem Inhalt aller Zeitungen ſtatiſtiſcher Art ſein. R. Mohl wird ſelbſt nichts Unlogiſches darin finden, wenn wir an ſeinem Württem— bergiſchen Staatsrecht, das doch an ſich ſeinem ganzen In— halt nach unter die Rubrik der Staatenkunde und Zuſtands— wiſſenſchaften fallen müßte, noch beſonders die werthvollen „ſtatiſtiſchen“ Beigaben in den Noten rühmen würden. Auch die allgemein gebrauchten Ausdrücke: ſtatiſtiſche Er— hebung, ſtatiſtiſcher Beweis, weiſen offenbar darauf hin, daß es ſich hier um eine Beobachtungsmethode, um einen methodologiſchen Begriff handelt. Man ſpricht ja nicht von einer chemiſchen Erhebung, von einem botaniſchen, geogra— phiſchen, politiſchen, äſthetiſchen Beweis; nur wenn einer Wiſſenſchaft eine gewiſſe Gattung der logiſchen Beweisarten eigenthümlich iſt oder wenn ſie eine poſitive Beweistheorie aufſtellt, verbindet man ihren Namen adjectiviſch mit dem Begriff des Beweiſes, wie in den Ausdrücken: mathema— tiſcher, juriſtiſcher Beweis. Etwas ſtatiſtiſch“ beweiſen,

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kann daher nicht heißen: aus der Staatenkunde oder Zu- ſtandswiſſenſchaft, denn das iſt keine beſondere Beweisart, ſondern es heißt: aus den Ergebniſſen dieſer beſtimmten Art von methodiſcher Beobachtung. Was die ſtatiſtiſchen Staatsbehörden treiben, iſt nicht Staatenkunde, nicht Zu— ſtandswiſſenſchaft, wenn es auch immerhin mit noch vielem Andern unter dieſem weiten Mantel Plaz finden kann; die praktiſchen Statiſtiker beſchäftigen ſich nicht mit dem Staats— recht ihres Landes, obwohl das unzweifelhaft zur Staaten— kunde vor allem Andern zu rechnen wäre, ſondern überlaſſen das den Univerſitätslehrern und der freien Wiſſenſchaft; ſie regiſtriren nicht beſondere Ereigniſſe und einzelne That— ſachen, wenn ſie auch noch jo wichtig und charakteriſtiſch für die Staatskunde und die „Zuſtände“ ſind, und über— laſſen es den Staatsarchiven, die Urkunden darüber auf— zubewahren; ſie ſchildern nicht Sitten und Gebräuche, nicht Hochzeiten und Leichenfeiern 2c., wiewohl dies ganz un— mittelbar zur Kenntniß der „Zuſtände“ gehören würde; ſie räumen überhaupt grundſäzlich keinem Einzelnen einen ty— piſchen Charakter ein, ſondern ſie ſuchen überall das der vereinzelten Beobachtung Unzugängliche, das ewig Fließende und Mannigfaltige, individuell Verſchiedene an irgend einem Punkte feſt zu faſſen und in das Nez ihrer Obſervatorien hereinzuziehen, um es dann zu ſortiren, zu ordnen, und für den Gebrauch der Wiſſenſchaften oder der praktiſchen Zwecke, in deren Dienſt ſie ſtehen, zuzubereiten. Dies und immer wieder dies iſt nach unſeren Wahrnehmungen die praktiſche Thätigkeit des Statiſtikers, und ſie ſteht hiedurch

15 *

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in vollem Einklang ebenſo mit demjenigen, was der herr— ſchende Sprachgebrauch mit dem Wort verbindet, als mit unſerer obigen Entwicklung.

Aber allerdings nur die Praxis der Fachmänner ſteht in dieſem Einklange, nicht auch ihre Theorie. In dieſer, ſowie auch in den Verhandlungen der ſtatiſtiſchen Congreſſe, ſteht noch Vieles mit. unſerer Auffaſſung im Widerſpruch. Namentlich werden ſich die Statiſtiker ſchwer zu dem Ge— ſtändniß entſchließen, daß ihr Fach eine bloße Hilfswiſſen— ſchaft bilden ſolle. Die richtige Einſicht wird hier beſonders dadurch erſchwert, daß die meiſten Gelehrten dieſer Art mit ihrer ſtatiſtiſchen Beſchäftigung zugleich eine Vorliebe für ein beſtimmtes unter den Fächern, denen die Statiſtik dienen kann, vereinigen und dann in ihrer Vorſtellung leicht Beides ſich zu Einer complexen Idee verſchmilzt. Man kann mit Statiſtik verſchiedene andere wiſſenſchaftliche Be— ſchäftigungen verknüpfen; der eine iſt daneben National— ökonom, der andere Ethnograph, der dritte Hiſtoriker, ein anderer, wie uns Kolb's ſonſt ſehr ſchäzenswerthe Hand— bücher zeigen, politiſcher Parteimann; und für Jeden ent— ſteht die Verſuchung, ſich aus dem Inhalt und der Methode ſeiner Studien zuſammen wieder ein anderes Bild der ſta— tiſtiſchen Wiſſenſchaft zu conſtruiren; wobei es dann immer ein ſeltſamer, von den Vertretern der Zuſtandswiſſenſchaft mit Recht gerügter Widerſpruch bleibt, ſich eine ſelbſtſtän— dige, beſchreibende oder ſyſtematiſche Wiſſenſchaft zu denken, die auf die Zahl als Darſtellungsmittel beſchränkt ſein ſoll. Knies hat in unſeren Augen das große und nicht genug

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zu ſchäzende Verdienſt, zuerſt erkannt zu haben, daß der Name Statiſtik heterogene Dinge zuſammenzwängt, aber bei der Operation der Trennung hat er das Meſſer nicht an der richtigen Stelle angeſezt und nicht mit ſicherer Hand geführt, insbeſondere das eine abgeſchnittene Stück, das er politiſche Arithmetik nennt, nicht richtig charakteriſirt. Unſere Auffaſſung der Sache, wornach einer ganzen Gruppe von unter ſich verſchiedenen, aber durch das gleiche metho— dologiſche Bedürfniß verbundenen Wiſſenſchaften die Statiſtik als die gemeinfame und unentbehrliche Hilfswiſſenſchaft gegenübertritt, ſcheint uns die von Knies mit Scharfſinn und Klarheit dargelegten Bedenken in ungezwungenerer Weiſe zu heben und zugleich die ganze Entwicklung der Statiſtik verſtändlicher zu machen. Auch ſchließt ſie keines— wegs eine Degradation der Statiſtik in ſich. Kant hat bekanntlich, als Jemand die Philoſophie die Magd der Theologie nannte, geantwortet: ja, aber die Magd, die mit der Fackel vorausleuchtet. So hoch wollen wir die Hilfsfunetionen der Statiſtik nicht ſtellen, wohl aber ließe ſich in einem ähnlichen Bilde ſagen: ſie iſt zwar in dienen— der Stellung, aber ſie iſt die Verwalterin, die in ein zuvor verſchuldetes und diſſolutes Hausweſen Klarheit und Ord— nung gebracht, den unnüzen Hausrath in die Rumpelkammer geworfen oder veräußert hat, die alle Einkäufe beſorgt und mit ſtetiger Sorgfalt über dem Gleichgewicht von Einnahmen und Ausgaben wacht, das die Gebieterinnen immer noch ſtets geneigt ſind außer Augen zu laſſen. Oder mit anderen Worten: Die Statiſtik hat einer Reihe von Wiſſenszweigen,

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die zuvor in ihren Darſtellungen auf allgemeine Phraſen, in ihren Lehren und Gründen auf halbwahre, im günſtig— ſten Fall geiſtreiche Hypotheſen beſchränkt waren, ein feſtes Fundament unter die Füße geſtellt und ein wiſſenſchaft— liches Heimathrecht verſchafft. Ohne Statiſtik würde die Bevölkerungslehre gar nicht exiſtiren; die glänzende Ent— wicklung der Nationalökonomie wäre gar nicht denkbar; der Finanzwiſſenſchaft fehlte es an Stoff, wie an Beweis— mitteln; die Geſchichte wäre in zahlloſen Fällen darauf beſchränkt, uns in arbiträrer Weiſe ein Einzelnes für ein Typiſches auszugeben; die Völker- und Staatenkunde ſtünde auf dem Standpunkte des alten Fabri und würde uns etwa von England berichten: es habe ſchöne Manufacturen und viele Fabriken, beſonders in Baumwollen- und Eiſenwaaren; der Handel ſei ſehr blühend; auch der Ackerbau und die Viehzucht ſtehen im Flor; es gebe viele reiche, aber auch viele arme Leute daſelbſt u. ſ. w.

Die Frage, zu welchen Wiſſenſchaften die Statiſtik in einem näheren Verhältniß ſteht, iſt es nicht ohne Intereſſe zuerſt negativ zu beantworten. Sie hat kein inneres Ver— hältniß zu allen denjenigen Disciplinen, deren methodolo— giſches Verfahren das der Deduction iſt; alſo vor Allem nicht zur Mathematik, die aus einigen Axiomen, den Pro- dukten logiſcher Grundgeſeze und elementarer Anſchauung, ihren Inhalt conſtruirend entwickelt und keiner Beobach— tungen für ihre Lehrſäze bedarf. Es iſt eigenthümlich, daß diejenige Wiſſenſchaft, der Manche die Statiſtik als einen ihrer Beſtandtheile unterordnen, ihr am diametralſten gegen—

überſteht. Daß die Statiſtik die gleichartigen individuellen Erſcheinungen, die innerhalb ihres Beobachtungsfeldes ein— treten, regiſtrirt, zählt, in Zahlengruppen darſtellt und dieſe Zahlen etwa noch durch Reduction auf procentale Verhält— niſſe und ähnliche Operationen verſtändlicher macht, be— gründet ſo wenig einen mathematiſchen Grundcharakter ihrer Methode und Aufgabe, als wir einen Kaſſier oder Buch— führer oder den Handwerker, der elliptiſche Tiſche, cylinder— förmige Oefen oder Billardkugeln fertigt, einen Mathema— tiker nennen. An der ſogenannten politiſchen Arithmetik iſt ſchon der Ausdruck ſelbſt nicht richtig; man ſpricht von Zinsrechnung, von kaufmänniſchem Rechnen, aber nicht von kaufmänniſcher Arithmetik; die Mathematik fragt nichts darnach, auf welche praktiſche Verhältniſſe man ihre Ope— rationen anwendet und ob man ihre Lehrſäze von der Wahrſcheinlichkeitsrechnung am grünen Tiſch oder an der menſchlichen Sterblichkeit erprobt. So wichtig für die Schule und das Leben das ſogenannte Rechnen mit benannten Zahlen iſt, ſo bildet es doch, wiſſenſchaftlich genommen, niemals einen Theil der Arithmetik.

Ebenſo ſteht die Statiſtik den philoſophiſchen Wiſſen— ſchaften aus dem methodologiſchen Grunde fern, weil dieſe zwar auf Erfahrung ruhen, ſofern ſie gerade das Ganze der Erfahrung und das Einzelne im Zuſammenhang dieſes Ganzen zu begreifen ſuchen, aber dieſe Erfahrung nicht ſelbſt erzeugen, ſondern aus andern Wiſſenſchaften als be— reits ermittelt entlehnen und auf deductivem Wege zu einem Gedankenſyſtem zu vergeiſtigen bemüht ſind. So ſezt die

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ſogen. Naturphiloſophie die Naturwiſſenſchaften, die Ethik, Aeſthetik, Rechts-, Religionsphiloſophie gewiſſe pſychologiſche und geſchichtliche Thatſachen als gegeben voraus. Nur Eine dieſer Disciplinen macht hievon eine wichtige Aus— nahme, die Pſychologie; ſie nimmt ihre Erfahrung nicht anders woher, um ſie nur philoſophiſch zu reconſtruiren, ſondern ſie iſt ſelbſt Erfahrungswiſſenſchaft und ſteht mit den Naturwiſſenſchaften darin auf ganz gleichem Boden, daß ſie im Wege der Beobachtung und Induction Geſeze zu finden hat. Man hat ſie der Philoſophie nur einreihen können, weil man ſich, gewiſſermaaßen aus praktiſchen Gründen, genöthigt ſah, dieſer das ganze Feld der inneren Erfahrung zuzutheilen. Wenn die Statiſtik der Viychologie. bis jezt nur geringe Dienſte geleiſtet hat, ſo iſt wohl der Hauptgrund, daß beide Wiſſenſchaften noch in ihren An— fängen ſtehen, die Pſychologie noch kaum befähigt iſt, um der Statiſtik nur beſtimmte Fragen zu ſtellen, die Statiſtik noch nicht entwickelt genug, um ihre Methode auf piychiiche Thatſachen anzuwenden.

Als eine dritte Klaſſe von deductiven Wiſſenſchaften erſcheinen diejenigen, welche in poſitiven Urkunden eine ge— gebene Quelle für die Ableitung ihrer Erkenntniß haben. Unter dieſem Geſichtspunkt treffen zwei ſonſt ſehr heterogene Wiſſenſchaften zuſammen, die Theologie und die Rechts— wiſſenſchaft nach ihrer poſitiven Seite. Die wiſſenſchaftliche Thätigkeit beſteht im Weſentlichen hier im Interpretiren und Subſumiren und ein inductives Verfahren iſt nur in ſecundärer Weiſe denkbar. Die ſogenannte Criminalſtatiſtik

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z. B. berührt nicht die Rechts-, ſondern die Staatswiſſen— ſchaft, nicht den Richter oder Rechtsausleger, ſondern den Geſezgeber, ſodann und von anderen Geſichtspunkten aus den Pſychologen, Ethnographen ꝛc.

So bleibt alſo nur der Kreis der Inductions- oder Erfahrungswiſſenſchaften übrig. Unter dieſen ſind gemäß dem Obigen die Naturwiſſenſchaften von einer Beziehung zur Statiſtik inſoweit ausgeſchloſſen, als der typiſche Cha— rakter der Einzelerſcheinung reicht. Da das Individuelle jedoch überhaupt in den höhern Organiſationsſtufen allmälig ohne ſcharf abzuſchneidende Grenzlinie beginnt und beſonders in dem Leben der Thiere, die unter der menſchlichen Ein— wirkung ſtehen, ein allmäliches Hinausſchreiten der Natur über die urſprünglichen Grenzen ihrer Typen eintreten kann, ſo gibt es ein gemiſchtes Grenzgebiet, in welchem die Statiſtik, obwohl ſie ihre eigentliche Heimath in der In— dividualwelt der menſchlichen Gattung hat, doch ein ana— loges Verfahren auch auf einzelne Erſcheinungen anderer Organismen anwendet, wie z. B. die Unterſuchungen über Vererbung von Geſchlecht und Eigenſchaften durch ſtatiſtiſche Behandlung der Erfahrungen bei Züchtung von Hausthieren werthvolles Material gewonnen haben. Das wichtigſte und umfaſſendſte Gebiet, wo die beiden großen Begriffe, Natur und Menſch, Typiſches und Individuelles, ſich durchdringen, iſt der Leib des Menſchen, die ſomatiſche Phyſiologie. Einen eigenthümlichen Pendant des ſtatiſtiſchen Verfahrens bildet die meteorologiſche Obſervation, bei welcher der Be— griff des Individuellen ganz wegfällt und es ſich darum

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handelt, einen unter dem abſtracten Collectivbegriff der Witterung zuſammengefaßten Complex geographiſcher Data und fluctuirender phyſiſcher Vorgänge durch ſucceſſive Be— obachtung an einem gegebenen Orte zu charakteriſiren. Der Wechſel der Erſcheinung von Moment zu Moment, ſtatt von Individuum zu Individuum, weiſt hier in ähn— licher Art darauf hin, Durchſchnitte und Mittelwerthe zu ſuchen und begründet die äußere Analogie des Verfahrens.

So kommen wir denn auf die ſchon früher genannten Erfahrungswiſſenſchaften vom Menſchen zurück, zu denen ſich die Statiſtik als ihre gemeinſame Hilfswiſſenſchaft ver— hält. Sie laſſen ſich eintheilen in die Lehren vom natur- geſchichtlichen und vom geſchichtlichen Menſchen. Der Menſch kann entweder betrachtet werden nach ſeinem allgemeinen Gattungscharakter, nach der urſprünglichen und conſtanten Ausſtattung und Begrenzung ſeiner Natur. Hieraus ent— ſtehen die anthropologiſchen Disciplinen, die ſich dem Stoff nach in die ſomatologiſche und pſychologiſche und dann viel— leicht je wieder in eine phyſiologiſche und pathologiſche Seite theilen. Eine zweite Betrachtungsweiſe iſt nun aber: wie ſtellt ſich dieſer naturgeſchichtliche Menſch in der Wirk— lichkeit dar, oder was iſt aus der Menſchheit in Folge des menſchlichen Zuſammenlebens unter den geographiſchen Ein— wirkungen ihrer Wohnſize im Verlauf der Jahrhunderte geworden? Der Anthropologie als der Lehre vom natür— lichen Menſchen tritt die Geſchichte im weitern Sinn des Worts als die Lehre vom empiriſch gewordenen Menſchen gegenüber. Sie bildet jedoch, ſo wenig als die Lehre von

235 der Natur, Eine Wiſſenſchaft; was man Univerſalgeſchichte zu nennen pflegt, iſt ſelbſt nur ein Theil davon. Der un— abſehbare Stoff löst ſich, wie der der Natur, vermöge der Schranken der menſchlichen Erkenntniß in eine Reihe mehr oder weniger ſelbſtſtändiger Gruppen auf. Und zwar bieten ſich der natürlichen Betrachtung zunächſt zweierlei Arten von Gruppen dar, eine von Subjecten und eine von Ob— jecten, oder eine der Individuen und eine der Lebenskreiſe. Man kann nämlich entweder natürliche Gemeinſchaften von Individuen ins Auge faſſen und ſodann ihre Eigenthüm— lichkeiten durch alle Lebensgebiete hindurch verfolgen und im Zuſammenhang aller Erſcheinungen darſtellen. Oder man kann beſtimmte Lebensgebiete, die einzelnen, für unſere Betrachtung ſich ausſondernden Seiten der menſchlichen Exiſtenz aufſuchen und ſie dann durch alle Individual— gruppen hindurch vergleichen und wiſſenſchaftlich zu begreifen ſuchen. Die natürlichen und gegebenen Gruppen von In— dividuen ſind die Völker, ſofern ſie ihr geſellſchaftliches Leben in einer einheitlichen Spize zuſammenfaſſen und als Staaten beſondere Perſönlichkeiten und Glieder der Menſch— heit bilden. Es laſſen ſich dann ganze Gruppen von Völkern oder einzelne Theile in ähnlicher Weiſe betrachten. Die verſchiedenen Lebensgebiete dagegen, die ſich zum Gegen— ſtand abgeſonderter wiſſenſchaftlicher Behandlung eignen, ſind nicht erſchöpfend aufzuzählen; es läßt ſich wenigſtens nach dem jezigen unvollkommenen Stand der Piychologie und der ſocialen Wiſſenſchaften nicht abgrenzen, was Alles an dem vielgeſtaltigen Menſchenleben ſich zu einer beſon—

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deren Gruppe wiſſenſchaftlich verbundener Objecte zuſammen— faſſen laſſe. Stünde die Pſychologie auf feſteren Funda— menten, als es der Fall iſt, ſo würden ſich aus ihr die natürlichen Lebensgebiete von ſelbſt ergeben, da jedem Grundbedürfniß der Menſchennatur auch eine ſociale Ver— wirklichung entſprechen muß. So läßt ſich nur ſagen, daß ſich das wirthſchaftliche, geſchlechtliche, geſellige, das intel— lectuelle Leben in ſeinen drei Gliedern, Sprache, Wiſſen— ſchaft und Kunſt, das ſittliche, das religiöſe, endlich das alle Lebenskreiſe ordnende politiſche Leben von ſelbſt als ſolche beſondere Sphären wiſſenſchaftlicher Behandlung, die in Grundrichtungen der Menſchennatur wurzeln, darbieten. Es läßt ſich aber auch auf den Bildungsprozeß der Menſch— heit ſelbſt der Blick richten, z. B. auf die geographiſchen Einwirkungen, auf die Fortpflanzung des Bildungskapitals durch Tradition und Erziehung ꝛc. und unter jedem ſolchen Geſichtspunkt gruppirt ſich das empiriſche Material wieder anders. Das Univerſum und insbeſondere die Menſchen— welt hat nirgends ſcharfe Grenzlinien; der Linien, die die menſchliche Beobachtungsweiſe darin ziehen kann, ſind un— zählige; jede wird an irgend einem Theile fließend oder willkürlich ſein.

Alle dieſe Wiſſenſchaften nun, ſowohl die, die den natürlichen, als die den geſchichtlich gewordenen Menſchen und lezteren nach Gruppen von Individuen oder von Ob⸗ jecten betrachten, ſind Erfahrungswiſſenſchaften und beruhen, wie die Naturwiſſenſchaften, auf Induction; ſogar noch mehr, als dieſe, weil die deductive und mathematiſche Be—

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handlung in der unorganiſchen Welt einen weit größeren Spielraum hat als in der organiſchen. Alle haben daher empiriſche Objecte zu beobachten und in ihnen die con— ſtanten Urſachen oder Geſeze aufzuſuchen; d. h. ſie haben einen empiriſchen und einen ätiologiſchen Theil und jeder Irrthum hat ſtets ſeinen Grund darin, daß entweder mangel— haft beobachtet oder falſch geſchloſſen worden iſt. Der em— piriſche Theil iſt nun aber ſelbſt wieder von zweierlei Art. Der Gegenſtand wird entweder ſo, wie er ſich der gegen— wärtigen Beobachtung in der Breite ſeiner gleichzeitigen räumlichen Ausdehnung und Erſcheinung darbietet, ermittelt, oder wird ſeine Entſtehung und Entwicklung in der Zeit aufgeſucht. Das erſte nennen wir den graphiſchen, das zweite den hiſtoriſchen Theil der hier beſprochenen Wiſſen— ſchaften. Und hier nun eben dieſer graphiſche, auf Beob— achtung ruhende Theil jener Wiſſenſchaften iſt der Ort, an dem die Statiſtik ihr Heimathrecht hat. Sie fällt nicht mit demſelben zuſammen, aber ſie iſt ganz in demſelben ent— halten. Jene individuelle Beobachtung nemlich, der wir die Statiſtik, als die univerſelle gegenüber geſtellt haben, iſt nicht überhaupt ausgeſchloſſen und unbrauchbar für wiſſenſchaftliche Zwecke; ſie wird nur immer etwas Un— ſicheres, für ſich allein Ungenügendes haben; auch gibt es unzweifelhaft Einzelnheiten, denen eine typiſche Bedeutung beigelegt werden kann; und der Geiſt und Takt, mit welchem der Forſcher von ſeiner individuellen Erfahrung und den typiſchen Einzelnheiten Gebrauch zu machen weiß, wird ſchließlich immer von entſcheidender Bedeutung für das

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Maaß ſeiner wiſſenſchaftlichen Befähigung bleiben. Allein das ſtatiſtiſche Verfahren, die univerſelle Beobachtung iſt es, was die ſubjective Erfahrung, die Hypotheſe zu er— gänzen und zur wiſſenſchaftlichen Erkenntniß zu erheben hat.

So erſcheint denn die Statiſtik auch in dieſem Zu— ſammenhang wieder als die gemeinſame Hilfswiſſenſchaft für die empirologiſche und zwar graphiſche Seite der Wiſſen— ſchaften vom Menſchen. Bei dem engen Zuſammenhang derſelben dient ſie in der Regel durch Eine Klaſſe von Beobachtungen mehreren von ihnen zugleich. Denn jede geſellſchaftliche Thatſache wird theils die Gruppe von In— dividuen, welche das Feld der Beobachtung bildete, theils die beſtimmten Lebensgebiete, denen das Object der Beob— achtung angehört, theils näher oder entfernter die menſch— liche Gattung characteriſiren, und jedenfalls immer dabei noch eine hiſtoriſche Bedeutung haben. Eine Ermittlung der iriſchen Auswanderung z. B. wird dem Ethnographen, dem Politiker, dem Nationalöconomen, dem Populationiſtiker, dem Pſychologen und dem Hiſtoriker Stoff zu wiſſenſchaft— licher Betrachtung ſein können. Die Statiſtik hat im All— gemeinen zu allen dieſen Fächern die gleiche Stellung; und es iſt zufällig, in weſſen Dienſten ihre Inſtitute am meiſten in Anſpruch genommen werden. Allein es gibt allerdings Eine Disciplin, der ſie näher ſteht, als allen andern, die nothwendig ihr erſtes und nächſtes Object bildet. Wenn nemlich die Statiſtik eine beſtimmte Gruppe von Individuen als das Feld ihrer Beobachtung abſteckt, ſo iſt es eine jeder andern vorausgehende Aufgabe, dieſes Terrain ſelbſt

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zu unterſuchen und zu beſtimmen; ſie muß den Grundbe— ſtand ihres Beobachtungsfeldes conſtatiren, d. h. die Indi— viduen jener Gruppe zählen, nach den fundamentalſten phyſiologiſchen Momenten, Geſchlecht und Alter, unterſchei— den, die durch Geburten und Sterbfälle, Ab- und Zuzug bedingten Fluctuationen des Grundbeſtandes ermitteln, woran ſich noch die Berückſichtigung der elementarſten ge— ſellſchaftlichen Unterſchiede, des Familienſtandes, des Berufs, des Charakters der Wohnpläze ꝛc. leicht anſchließt. Das fundamentale Object der Statiſtik iſt hienach die Bevölke— rung; es iſt das erſte und wichtigſte Merkmal der menſch— lichen Gemeinſchaften, das ſie zu ermitteln hat und ſie kann ohne dieſe Grundlage keinen weiteren Schritt mit nur einiger Sicherheit thun; auch kann keine der andern Wiſſenſchaften ohne Beachtung dieſer Grundlagen von den ſtatiſtiſchen Ergebniſſen über irgend einen Punkt Gebrauch machen. Darum fällt aber gleichwohl die Bevölkerungslehre nicht mit der Statiſtik zuſammen; ſie iſt nur aus ihr hervorge— gangen und ihre erſte Frucht. Die Statiſtik iſt überhaupt nicht eigentliche Lehre, ſondern wiſſenſchaftliche Praxis, wie etwa die Hermeneutik und Critik; ihre Lehre kann nur aus ihrer Theorie, aus Betrachtungen, wie die vorliegende, be— ſtehen; ähnlich wie eine Lehre der Hermeneutik nur metho— dologiſchen Inhalts ſein könnte ).

) Auch die ſprachliche Form des Wortes iſt hiefür nicht ohne Be deutung. Die Namen der Wiſſenſchaften endigen auf —ie oder —ik. Die erſteren mit den Formen —logie, —gnoſie, —nomie, —graphie, metrie ꝛc. enthalten eine ſelbſtſtändige Lehre, ein zuſammenhängen—

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Hieraus iſt zugleich klar, daß die Statiſtik ſtets nur mit der Gegenwart zu thun hat. Vergangenes läßt ſich nicht beobachten, ſondern nur durch Concluſion ermitteln aus Spuren, die es zurückgelaſſen hat, aus Zeugniſſen, die davon übrig ſind. Eine Statiſtik vergangener Zeiten iſt bei unſerer Definition ſo wenig herzuſtellen als eine Her— meneutik verlorener Bücher. Was man ſo zu nennen ver— ſucht ſein kann, iſt in Wahrheit etwas Anderes. Man kann allerdings z. B. eine Bevölkerungsſtatiſtik einer Stadt, eines Bezirkes oder Landes fürs Jahr 1600 nachträglich fertigen, wenn ſich die Kirchenbücher oder andere Urkunden von jener Zeit noch erhalten haben. In dieſem Fall liegen aber die Beobachtungen ſelbſt noch aus jener Zeit vor, die nur nachträglich geordnet und etwa durch Schlüſſe aus Säzen der Bevölkerungslehre ergänzt werden. Hierin liegt zugleich, daß jede ſtatiſtiſche Ermittlung mit dem Augen— blick ihrer Vollendung bereits begonnen hat, der Geſchichte des Ganzes von Forſchungsergebniſſen; die auf —ik ſind ſprachlich nur feminina eines Adjectivs nach der griechiſchen Form 7 —ızy dseil. ,; ſie bezeichnen ſomit urſprünglich keine eigentliche und ſelbſt— ſtändige Wiſſenſchaft, ſondern nur eine wiſſenſchaftliche Beſchäftigung, Kunſt, Fertigkeit für praktiſche oder theoretiſche Zwecke. Deßhalb endigen alle Hilfswiſſenſchaften, alle mehr in einer wiſſenſchaftlichen Praxis beſtehenden Disciplinen auf —ik; jo Kritik, Hermeneutik, He— raldik, Diplomatik, Numismatik, Mechanik, Optik, Didactik, Pädagogik, Dialectik ꝛc. ꝛc. Mehrere andere Disciplinen traten wenigſtens zuerſt allein in dieſer Geſtalt auf und behielten dann dieſe Form auch bei, nachdem ſie zu ſyſtematiſchen Wiſſenſchaften waren ausgebildet worden; ſo Mathematik, Arithmetik, Logik, Grammatik. Bei einigen wenigen Namen dagegen kommt die Endung auf —ik nicht von 7 —ız/, ſon— dern von za —ıza; wie Phyſik, Metaphyſik, Ethik.

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anheimzufallen, aber nicht um hier wie in einem Abgrund zu verſchwinden, ſondern um als ſchäzbarſtes Material der Geſchichte ſelbſt und anderer Wiſſenſchaften dauernden Werth zu behaupten.

Es fragt ſich nun aber noch, wie ſich die Aufgabe der Statiſtik in ihrem Verhältniß zu den Erfahrungswiſſen— ſchaften vom Menſchen näher geſtaltet, bis zu welchem Punkte ſie die Beobachtung fortzuführen, in welchem Zu— ſtand ſie deren Ergebniſſe an die anderen Wiſſenſchaften abzuliefern hat. Wäre ihr Geſchäft mit der Beobachtung und Zählung gewiſſer gleichartiger Einzelfälle abgeſchloſſen, jo würde ſie den Namen einer Wiſſenſchaft nicht in An— ſpruch nehmen können, wiewohl auch zur Anordnung und Leitung einer ſtatiſtiſchen Aufnahme immer noch mancherlei Kenntniſſe und adminiſtrative Fähigkeiten erforderlich ſind; ſie verhielte ſich dann zu jenen Wiſſenſchaften im Grunde doch nicht anders, als der Kräuterſammler zur Botanik. Wir haben daher oben ſchon gejagt: die Aufgabe der Sta— tiſtik ſei die Ermittlung von Merkmalen oder die Charakte— riſtik menſchlicher Collectivbegriffe auf Grund univerſeller Beobachtungen und Zählungen. Der Statiſtiker muß die Zahlen, die er mittheilt, zugleich interpretiren, als ein Merk— mal der Gruppe, welcher ſie entnommen ſind, nachweiſen. Wir wollen das an dem nächſten beſten vulgären, zufällig ſich darbietenden Beiſpiel zu zeigen ſuchen. Nach der Auf— nahme des Viehſtandes von 1861 ergaben ſich für Würt— temberg 96,000 Pferde, ſo und ſo viel unter, ſo viel über drei Jahre, ſo viel in dem Ort, Bezirk, Kreis, ſo viel in

Rümelin, Reden u. Aufſätze. 16

242 jenem. Solche Zahlen ſind ſtumm; der Leſer und Hörer vermag zunächſt nicht mehr dabei zu denken, als wenn man ihm ſagte: das Pferd heißt auf tamuliſch ſo und ſo. Er weiß gleich vornherein nicht: iſt dies nun viel oder wenig? Der Statiſtiker hat nun den ſtummen Zahlen den Mund zu öffnen. Er wird zeigen, daß zur Würdigung jener Zahl zunächſt ein doppeltes Verhältniß zu beachten iſt, das zum Areal, und zwar ſpeciell zum landwirthſchaftlich benüzten, ſodann das zur Bevölkerung, und daß zwiſchen dieſen beiden Geſichtspunkten eine umgekehrte Proportion Plaz greifen muß, ſofern, je mehr Menſchen auf einer beſtimmten Fläche ihre Nahrung zu erzeugen haben, um ſo weniger Pferde ceteris paribus noch ihre Nahrung darauf finden können. Er wird nun unter dieſem doppelten Geſichtspunkt den Pferdeſtand anderer Länder, zunächſt der benachbarten und der deutſchen, vergleichen, Württemberg ſeinen beſtimmten Plaz in ihrer Reihe ermitteln, und ſo ſchließlich etwa zeigen, daß es der abſoluten Zahl nach im Vergleich zum Areal hinter dem Durchſchnitt der deutſchen Länder noch zurück— ſteht, daß aber relativ genommen nur noch Sachſen unter allen deutſchen Ländern auf dichter bevölkerter Fläche eine größere Pferdezahl ernährt, ſomit jener württembergiſche Pferdeſtand ſchon im Allgemeinen als ein Merkmal von Fruchtbarkeit und intenſivem Anbau erſcheint. Im Rück⸗ blick auf frühere Zählungen wird ſodann der Statiſtiker zeigen, daß die neueſte Zahl zwar gegen den Stand der vorangegangenen Zählungen eine namhafte Vermehrung ent— hält, doch immer noch nicht unbedeutend gegen die Pferde—

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zahl der 30er und 40er Jahre zurückſteht, im Großen und Ganzen jedoch beim Rückblick auf eine 40jährige Periode die Zahl ziemlich ſtationär erſcheint, im Verhältniß zur Be⸗ völkerung ſomit immer mehr zurückbleibt. Aus der Zahl der Pferde unter drei Jahren läßt ſich noch ſchließen, ob das neuerliche Anwachſen auch für die nächſte Zukunft in Rechnung zu nehmen iſt. Um ſodann die Gründe dieſer Veränderungen näher zu erkennen, wird man auf die ver— ſchiedenen Zwecke, denen die Pferde dienen, zu achten, durch Vergleichung der Ortsliſten die Militär-, Luxus-, Verkehrs— Pferde von den für die Landwirthſchaft verwendeten zu unterſcheiden und nachzuſehen haben, auf welche dieſer Claſſen und auf welche Bezirke eine Zu- oder Abnahme fällt, welche Wirkung insbeſondere z. B. die Eröffnung der verſchiedenen Eiſenbahnlinien geäußert hat; an jede Ab— oder Zunahme einer jener Rubriken werden ſich mancherlei wichtige Folgerungen und Aufſchlüſſe anreihen. Indem ſodann auf die Unterſchiede in den einzelnen Landestheilen geachtet wird, ergibt ſich, daß jene Geſammtzahl von 96,000 Pferden ſich aus den verſchiedenartigſten Einzelſummen zu— ſammenſezt, daß faſt alle Abſtufungen von den pferdereichſten bis zu den pferdeärmſten Gegenden im Lande vertreten ſind, und daß in jeder derſelben die Pferdezahl der getreue Spiegel der agrariſchen Verhältniſſe iſt. Im Anſchluß an die populäre und hergebrachte Unterſcheidung des Roß— bauern vom Ochſen- und Kühbauer gibt die Vergleichung der Pferdezahl mit dem landwirthſchaftlichen Areal in länd— lichen Bezirken die natürlichſten Anhaltspunkte für die Ver— 16

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gleichung der Größe der bäuerlichen Beſizungen. Wo d--500 Pferde auf der Quadratmeile der Landwirthſchaft dienen, wie in Oberſchwaben, können weder Großgüter noch Zwerg— wirthſchaften vorherrſchen, wo nur 70—80, muß die Zahl der anſehnlicheren Bauerngüter ſehr klein ſein. Zwiſchen dieſen Extremen nimmt dann jeder Landestheil und Bezirk. ſeine beſtimmte Stelle ein. Man wird die größeren Pferde— ſtände nicht in den Gegenden des Wein- und Gartenbaus, der Güterzerſtücklung, nicht in den Wald- und Gebirgs— regionen, nicht in den Umgebungen der größeren Städte und Induſtriebezirke ſuchen. Unter dieſen Geſichtspunkten wird zulezt jede einzelne Zahl bedeutſam und markirt eine ganz beſtimmte Art von agrariſchen Verhältniſſen. Aus der Vergleichung der früheren Ziffern ergibt ſich, in welchen Landestheilen und in welchem Umfang die Roßbauern ſich in Ochſenbauern verwandeln, und wo die umgekehrte Be— wegung vor ſich geht. So verwandeln ſich ſchließlich die Ziffern in deutliche Merkmale des Volkslebens und der volkswirthſchaftlichen Verhältniſſe; das numeri loquuntur iſt zur Wahrheit geworden, aber eben damit auch die Auf— gabe des Statiſtikers beendigt. Wenn jene 96,000 Pferde durch dieſe, natürlich nur beiſpielsweiſe genannten und die Sache nicht erſchöpfenden Betrachtungen zu einem charakte— riſtiſchen Merkmal des württembergiſchen Volks- und Wirth— ſchaftslebens erhoben ſind, ſo daß den gegebenen Beding— ungen weder ein Mehr noch ein Weniger entſprechen würde, jo hat er die weiteren Concluſionen, die theoretiſchen wie die praktiſchen, Anderen zu überlaſſen. Er hat allerdings,

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wie unſer Beiſpiel zeigt, nach dem Cauſalzuſammenhang zu fragen, und es iſt dies ſogar nach unſerer Anſicht der wichtigſte Theil ſeiner Arbeit, aber er hat nur die concreten Urſachen der ihm vorliegenden Erſcheinungen, nicht die conſtanten Urſachen oder Geſeze derſelben aufzufinden. Er hat nur die Thatſachen ins Licht zu ſtellen, aber weder Lob noch Tadel, weder Theoreme noch Rathſchläge daran anzuſchließen. Die Fragen, welchen Werth überhaupt die verſchiedenen agrariſchen Syſteme haben, ob die größeren oder kleineren bäuerlichen Güter, ſei es im Allgemeinen, oder für Württemberg vortheilhafter ſeien, unter welchen Bedingungen es für den Landwirth räthlich ſei, zur Pferde— haltung überzugehen oder dieſelbe aufzugeben und ähnliche wird er der Volkswirthſchaft, beziehungsweiſe den land— wirthſchaftlichen Disciplinen überlaſſen. Ebenſo werden die betreffenden Staatsbehörden zu prüfen haben, ob etwa eine weitere Verminderung des Pferdeſtandes im Intereſſe der Kriegsbereitſchaft des Landes nachtheilig ſein würde, ob derſelben aus dieſem oder anderem Grunde entgegen— gewirkt werden kann und will, ob die Ein- oder Ausfuhr von Pferden zu begünſtigen oder zu erſchweren ſein mag, ob ſich der Pferdebeſiz zu einem Object der Beſteuerung eignet u. ſ. w. Der Statiſtiker hört auf, Statiſtiker zu ſein und treibt Nationalökonomie, Politik oder Finanzwiſſen— ſchaft, wenn er auf dieſe Gebiete hinübertritt. Alles das vollſtändig ans Licht zu ſtellen, was er mit ſeiner Zahlen— reihe in der Hand unter vergleichender Zuziehung anderer zuverläßiger ſtatiſtiſcher Erhebungen oder notoriſcher That—

ſachen hinſichtlich der von ihm beobachteten Gruppe beweisen oder vielleicht auch nur zu einem hohen Grade von Wahr— ſcheinlichkeit bringen kann, das iſt ſein Feld. Es gibt im Ganzen nur wenige ſtatiſtiſche Publicationen, in welchen die Summe von Folgerungen, die auf ſolchem Wege in ſtrin— genter Weiſe aus den Zahlen abgeleitet werden könnten, auch nur annähernd gezogen wäre. Tauſende dagegen ziehen täglich aus ſtatiſtiſchen Aufnahmen die leichtfertigſten Schlüſſe. Aus ſeinen Zahlenreihen correct und erſchöpfend zu ſchließen, darin ſehen wir die wichtigſte Eigenſchaft des Statiſtikers. Nur dem Kundigen öffnet die ſonſt ſtumme Zahl den Mund, wie Bileams Eſelin nur dem Propheten vernehmlich war. Das obige Beiſpiel von den Pferden gehört zu den einfachſten und greift faſt nur in Ein Fach, das der Volkswirthſchaft ein; das Object kann aber eben ſo leicht der Art ſein, daß zu einer genügenden Behand— lung phyſiologiſche, pſychologiſche, juriſtiſche ꝛc. Kenntniſſe erforderlich ſind. Schon in den Fragen der Bevölkerungs— ſtatiſtik, z. B. in der Behandlung der Sterbeliſten, greifen die mannigfaltigſten und complicirteſten Verhältniſſe in einander. Es kann nichts unrichtiger ſein, als die Mei— nung, das bloße Zählen und Rechnen und Zahlengruppiren mache ſchon den Statiſtiker, er muß univerſelle Bildung mit vielſeitigem poſitiven Wiſſen, ein großes Combinations— vermögen mit ſcharfer Logik verbinden; eben das, daß er einer ganzen Gruppe von Wiſſenſchaften zu dienen hat, ſtellt die Forderung an ihn, zwei Eigenſchaften in ſich zu vereinigen, die nur durch das Bindeglied hoher, allgemeiner

Bildung vereinbar ſcheinen, Präciſion des Denkens und eine gewiſſe Polyhiſtorie.

Wenn wir nun in der ganzen bisherigen Ausführung das Vorhandenſein einer ſocialen Hilfswiſſenſchaft, die den Erfahrungswiſſenſchaften vom Menſchen durch die Hand— habung des methodologiſchen Mittels der univerſellen Be— obachtung in die Hände arbeitet, conſtatirt und begründet und derſelben den Namen Statiſtik beigelegt haben, ſo laſſen wir damit jene andere Wiſſenſchaft von den Zu— ſtänden der Menſchheit oder Völker und Staaten an ſich ganz unberührt; und dieſe müßte bei unſerer Auffaſſung ihren Plaz dann eben unter jenen Wiſſenſchaften, denen die Statiſtik zu dienen hat, ſuchen. Nur den Namen haben wir ihr entzogen und auch dieſen nicht auf Grund eines etymologiſchen oder hiſtoriſchen Anſpruchs; im Gegentheil würden wir unſerer Hilfswiſſenſchaft lieber den bezeichnen— deren Namen: ſociale Empiriſtik oder einen ähnlichen bei— gelegt ſehen. Nur weil ſich der deutſche Sprachgeiſt, der usus tyrannus, nun einmal unzweifelhaft in dieſer Richtung entſchieden hat, blieb nichts Anderes übrig, als das Kind, ſtatt nach ſeinem rechten Vater, nach demjenigen, der es groß gezogen und adoptirt hat, zu taufen. Eine andere Frage iſt es nun aber, ob jene zweite Wiſſenſchaft, die ſich bisher auch Statiſtik nannte und von den Männern der Wiſſenſchaft ſogar ausſchließlich ſo genannt wurde, den Verluſt jenes Namens eben ſo leicht verſchmerzen wird, als unſere Hilfswiſſenſchaft darauf verzichten könnte. Auch in der Societät der Wiſſenſchaften iſt ein alter Name, eine

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ſtattliche Firma ein werthvoller Beſiz, zumal für denjenigen, mit deſſen ſonſtigen Legitimationspapieren es nicht zum Beſten beſtellt iſt. Das Namenloſe iſt auch hier recht- und heimathlos, und wo will jene politische Zuſtandswiſſenſchaft wieder einen ſo vieldeutigen, proteiſchen Namen finden, als Statiſtik mit der doppelten Ableitung von status, der Staat und status, der Zuſtand?

Wir haben keinen Zweifel darüber, daß es ein reales, einen beſonderen Plaz im Kreiſe der Wiſſenſchaften erfor— derndes Bedürfniß der menſchlichen Erkenntniß iſt, dem jene politiſche Zuſtandswiſſenſchaft genügen will, aber die große Zahl von vergeblichen Verſuchen zeigt, daß es nicht leicht iſt, dies Bedürfniß genau zu bezeichnen und die Aufgabe der ihm entſprechenden Disciplin zu beſtimmen. Die Schwie— rigkeit iſt dadurch, daß wir unter dem Namen der Statiſtik eine methodologiſche Hilfswiſſenſchaft ausgeſondert haben, zwar vermindert, aber noch nicht beſeitigt; ſie ſcheint vor— zugsweiſe darin zu liegen, zwiſchen zwei Abwegen, die nahe aneinander grenzen, die richtige Straße zu finden. Auf der einen Seite liegt die Gefahr, daß man nur ein mixtum compositum von Notizen aus Geographie, Geſchichte, Staats— recht, Ethnographie, Bevölkerungslehre, Volkswirthſchafts— lehre zu Stande bringt, das eigentlich nicht zu den Wiſſen— ſchaften, ſondern zu jenen mannigfaltigen Complexen von Wiſſensſtoffen zu rechnen iſt, in welchen Stücke verſchiedener Wiſſenſchaften unter dem Geſichtspunkt eines beſtimmten praktiſchen Bedürfniſſes zuſammengefaßt werden, wie z. B. Technologie, Handelswiſſenſchaften ꝛc. Das praktiſche Be—

dürfniß, das bei ſolchen Notizenſammlungen im Stillen als das einheitliche Band des Ganzen behandelt wird, iſt dann etwa das Intereſſe des Zeitungsleſers. Der andere Ab— weg iſt aber, daß man, um aus dem Kreis der Wiſſen— ſchaften nicht verdrängt zu werden und doch auch von jenem bunten und reichen Stoff nichts fahren zu laſſen, eine wiſſenſchaftliche Aufgabe aus ſo weiten und abſtracten Be— griffen formulirt, daß in der That de omnibus et quibus- dam aliis darin die Rede ſein kann.

Auf den lezteren Abweg ſcheinen uns nun diejenigen gerathen zu ſein, welche den Begriff des Zuſtandes zum Fundament einer beſonderen Wiſſenſchaft machen zu können glauben, die uns jene Doppelgängerin der Univerſalgeſchichte conſtruiren, jene Wiſſenſchaft, die ſich das Leben der Menſch— heit als ruhendes Daſein denkt, jene ſtillſtehende Geſchichte, die nicht auf das Werden, ſondern nur auf das Gewordene achtet und den Bau der Menſchheit durch die Zeichnung eines Querdurchſchnittes deutlich macht. Wenn in Wahr— heit die Geſchichte eben einmal nicht ſtilleſteht, wenn das Leben der Menſchheit kein ruhendes Daſein iſt, ſondern ein ruheloſes Schaffen am ſauſenden Webſtuhl der Zeit, ſo kann es auch keine Wiſſenſchaft geben, die berechtigt wäre, ſich dies jo zu denken. Deductive Wiſſenſchaften kann es geben, die eine Fiction oder Abſtraction zu ihrem Ausgangspunkt haben, aber eine Erfahrungswiſſenſchaft, die auf einer Fiction ruht, muß ſelbſt eine Fiction ſein, und eine Lehre von ruhenden Völkerleben kann es ſo wenig geben, als von ſtillſtehenden Strömen. So wenig die Ar—

chitektonik nur die Lehre von den Aufriſſen der Gebäude behandelt und die Lehre von den Querdurchſchnitten einer andern Disciplin zuweiſt, ſo wenig greift der Geſchicht— ſchreiber in fremdes Gebiet hinüber, wenn er uns ein Volks— leben bald in einer Reihe ſucceſſiver Begebenheiten, bald in einer Ueberſicht ſeiner gleichzeitigen Erſcheinungen ſchildert. Beides ſind nur Darſtellungsformen, die durch den discur— ſiven Charakter der menſchlichen Erkenntniß bedingt ſind.

Es mag vielleicht kleinlich erſcheinen und iſt doch nicht ohne Bedeutung, wenn wir daran erinnern, daß der Begriff des Zuſtandes zu den der deutſchen Sprache eigenthümlichen, keineswegs in jeder gebildeten Sprache vorhandenen gehört. Nur die an abſtracten Gebilden gleich reiche Sprache der Hellenen hat ähnliche Ausdrücke. Den Terminus der grie— chiſchen Grammatiker, / ,Hmu ua einc, den wir im deut— ſchen durch „zuſtändliche Zeitwörter“ wiedergeben, vermochte das Lateiniſche nur durch die negativen Ausdrücke, Verba neutra oder intransitiva, zu überſezen. Die Worte status, etat, state, heißen nicht „Zuſtand“, ſondern „Stand“. Der Stand iſt derjenige Punkt einer von einem Gegenſtand durchlaufenen Bahn, auf welchem dieſer ſich in dem Augen— blick unſerer Betrachtung befindet, wie wir vom Stand der Sonne, der Papiere, eines Prozeſſes reden. Die Sprachen, die ſich auf dieſen Ausdruck der Sache beſchränken, ver— mögen alſo von dem richtigen Bewußtſein des Heraclitiſchen Sazes avre sei keinen Augenblick zu abſtrahiren. In dem Wort „Zuſtand“ dagegen ſehen wir von einer voran— gegangenen und nachfolgenden Bewegung des Gegenſtandes,

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jowie von allem Verhältniß zu andern Gegenſtänden ab und vergleichen ihn nur mit ſich ſelbſt, d. h. mit der nor— mirenden Vorſtellung, die das betrachtende Subject dazu mitbringt. Der Zuſtand eines Dings iſt die Geſammtheit ſeiner gleichzeitigen Merkmale, verglichen mit unſerer For— derung an daſſelbe. In dieſem Sinne iſt es, daß wir mit dem Worte „Zuſtand“ in der Regel nur Prädikate, die ein Werthurtheil enthalten, verbinden, von einem guten oder ſchlechten, angenehmen, traurigen, verwahrlosten, be— friedigenden Zuſtand reden. Hiebei kommt natürlich Alles auf den mitgebrachten Maßſtab an. Qualitative Prädikate anderer Art verbinden wir mit dem Begriff des Zuſtandes nur dann, wenn ein und daſſelbe Object weſentlichen, die Geſammtheit ſeiner Merkmale alterirenden Veränderungen unterworfen iſt, wie man z. B. von einem ſtarren oder flüſſigen Zuſtand des Waſſers, oder von Zuſtänden des Wahnſinns, der Schwermuth, oder weiter von einem Zu— ſtand der Fäulniß, der Trockenheit ꝛc. ſpricht. An ſich ſollte man meinen, daß das Wort Zuſtand von Einem Gegenſtand nicht in der Mehrzahl gebraucht werden könnte, da es ſtets nur Eine Geſammtheit von gleichzeitigen Merk— malen geben kann. Die deutſche Sprache hat ſich jedoch gewöhnt, wenn von einem Collectivbegriff, der eine Man— nigfaltigkeit individuell verſchiedener Dinge unter ſich be— greift, die Rede iſt, lieber die Mehrzahl zu gebrauchen, und ſomit nicht von dem Zuſtande, ſondern von den Zu— ſtänden einer Geſellſchaft, eines Volkes, der Menſchheit zu reden. An Klarheit der Begriffe iſt jedenfalls mit dieſem

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Pluralis Nichts gewonnen und wenn dann die Gelehrten: ſprache noch weiter geht und auch noch die Wörter „zu— ſtändlich“ und „Zuſtändlichkeit“ bildet, wenn wir z. B. bei einem Schriftſteller über Statiſtik leſen, die Statiſtik be— handle diejenigen Erſcheinungen vom Leben der Menſchheit, welche ein „Moment der Zuſtändlichkeit“ an ſich haben, ſo ſcheint ſich uns damit die Sprachbildung wieder in jene Nebel- und Wolkenregion zu verlieren, die nichts mehr deutlich erkennen läßt, und erinnert an eine beliebte Eigen— heit der deutſchen Gelehrſamkeit, über die der Fremde nicht mit Unrecht klagt oder ſpottet. Wenn nun aber an dieſen Erläuterungen des Wortes etwas Wahres iſt, ſo würde nun die Wiſſenſchaft von dem Zuſtand oder den Zuſtänden der Menſchheit nicht weniger ſein, als die Wiſſenſchaft, welche die Geſammtheit der gleichzeitigen Merkmale der Menſchheit, an ihrer Idee gemeſſen, darſtellt. Dieſer Auf— gabe wollen wir die Großartigkeit ihrer Conception nicht beſtreiten; wohl aber glauben wir, daß ſie die Bedingungen unſerer Erkenntniſſe, ſowie den jezigen Stand aller ſocialen und geſchichtlichen Wiſſenſchaften weit überfliegt, daß ſie, ſoweit ſie überhaupt als ausführbar erſcheinen kann, der Univerſalgeſchichte zuzutheilen iſt, daß ſie zu demjenigen, was ſich uns nachher als concreter Inhalt zu Ausfüllung jenes Rahmens darbietet, jenen bunten geographiſchen, ſtaatsrechtlichen, ſtatiſtiſchen Notizen in einem ſeltſam idealen Verhältniß ſteht. Sodann erfordert ſchon die Oekonomie des wiſſenſchaftlichen Lebens, für welches das Geſez der Theilung der Arbeit gleichmäßig gilt, keiner einzelnen Dis—

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ciplin ein jo ausgedehntes und ungleichartiges Feld abzu— meſſen, daß keines Menſchenlebens Kraft und Dauer aus— reicht, es auch nur flüchtig zu durchwandern. Zuſtand der Menſchheit iſt ein ungreifbarer, unabſehbarer Begriff.

Gleichwohl erhält ſich allen dieſen Einwendungen gegen— über doch das untrügliche Gefühl, daß es ſich hier nur um Irrthümer in den Ausdrücken, in der Formulirung handeln könne und daß es eine Betrachtungsweiſe des geſellſchaft— lichen Lebens geben müſſe, die, wenn ſie auch im weiteren Sinn des Worts eine geſchichtliche zu nennen ſein möge, doch nach Zweck und Art von der hiſtoriſchen Darſtellung zu unterſcheiden ſei. Werden doch ſchon pſychologiſch ganz andere geiſtige Kräfte in Bewegung geſezt, wenn ich ein Volk in lebendiger Gegenwart, in der Fülle und Breite ſeiner mannigfaltigen Thätigkeiten beobachte und zu begreifen ſuche, als wenn ich durch Schlußfolgerungen aus Denkmälern und Berichten vergangene Begebenheiten oder Zuſtände mich zu errathen bemühe.

Den Ort und die Grenzen der hier in Frage ſtehen— den Disciplin haben wir vom Standpunkt unſerer Auf— faſſung aus ſchon im Obigen bezeichnet. Indem wir ſämmt— liche Wiſſenſchaften, die den ſocialen, geſchichtlich gewordenen Menſchen behandeln, in ſolche theilten, welche die natür— lichen Gruppen von Individuen, und in ſolche, welche die natürlichen Gruppen von Lebenskreiſen zum Gegenſtand haben, indem wir die natürlichen und gegebenen Gruppen von Individuen in den Völkern, ſofern ſie Staaten bilden, erkannten, indem wir ſodann bei jeder Wiſſenſchaft wieder

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einen graphiſchen, hiſtoriſchen und ätiologiſchen oder ſyſte— matiſchen Theil unterſchieden, ſo entſpricht der graphiſche oder beſchreibende Theil der Völkerlehre genau demjenigen, was wir hier ſuchen.

Wie heißt nun dieſe Wiſſenſchaft, da doch jedes Ding vor Allem eines Namens bedarf und bei einer Wiſſenſchaft die Namengebung dem Ritterſchlag gleicht, der ſie aus dem Stand der Knappen in den Kreis der Freien und Eben— bürtigen führt? Die Auswahl iſt auch nach Streichung der Statiſtik nicht klein: Völkerbeſchreibung, Voltskunde, Völkerkunde, Völkerzuſtandskunde, Staats- oder Staaten— kunde, Ethnographie, politiſche Geographie? Es iſt nicht gleichgültig, welchen von dieſen Namen man wählt, denn jeder gibt dem Grundgedanken eine gewiſſe Modification, die nicht ohne weiteren Einfluß bleiben kann. Die erſte Frage iſt: ſind die Völker oder Staaten das Object jener Wiſſenſchaft oder ſind beide neben einander zu nennen? Diejenigen, welche den Namen der Staatenkunde für hin— reichend halten, um Alles dasjenige zu umfaſſen, was man jener Wiſſenſchaft als ihren Stoff zuzuweiſen pflegt, müſſen den Begriff des Staats in einem univerſellen Sinne faſſen, den wir nicht für berechtigt halten können. Der Staat iſt die das Volksleben ordnende Gewalt, aber nicht das Ord— nende, ſondern das Geordnete bildet die Subſtanz einer Sache. Allerdings faßt der Staat die Totalität der menſch⸗ lichen Beſtrebungen unter einem ſchirmenden Dach und hinter ſchüzenden Mauern zuſammen und unterwirft ſie im Innern des Baus einer für Alle bindenden Hausordnung;

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aber in die Beſchreibung eines Baus und ſeiner inneren Ordnung gehört darum doch nicht auch das Leben und der Charakter ſeiner Bewohner. Mit weit größerem Recht wird vielmehr, wer das Leben und den Charakter dieſer Be— wohner ſchildern will, auch das als ein für ſie charakte— riſtiſches Merkmal in ſeine Darſtellung mit aufnehmen, was für ein gemeinſchaftliches Wohnhaus ſie ſich gebaut und welche Hausordnung ſie ſich gegeben haben. Geboren werden und Sterben, Heirathen und Kindererzeugen, Kaufen und Verkaufen, das Feld beſtellen oder ein Gewerbe treiben, Erben und Erwerben, arm ſein oder reich, gebildet oder un— gebildet, wohlwollend oder herzlos, fromm oder unfromm ꝛc. ſind Ereigniſſe, Handlungen, Eigenſchaften des Lebens der Einzelnen, zu denen der Staat zwar mancherlei Be— ziehungen, von denen Notiz zu nehmen er mancherlei In— tereſſe haben mag, die aber, unabhängig von ihm, den In— halt des individuellen Lebens ausmachen und außer und vor dem Staat gedacht werden können. Das politiſche Leben iſt eine Seite des Volkslebens, nicht umgekehrt. tespublica res populi, ſagt Cicero mit einem keineswegs blos für Republiken wahren Ausdruck, fährt aber fort: populus autem non omnis hominum coetus quoquo modo congregatus sed coetus multitudinis juris consensu et uti- litatis communione sociatus. In diefem Sinne war es, daß wir oben nicht einfach die Völker als das Object un— ſerer Wiſſenſchaft bezeichneten, ſondern die Völker, ſofern ſie Staaten bilden, ſich in der Spize einer einheitlichen, ordnenden Gewalt zuſammenfaſſen. Es iſt jedoch nur ein

Mangel der deutſchen Sprache, daß wir dieſen Zuſaz zu machen hatten. Das deutſche Wort „Volk“ hat zwei ſehr verſchiedene Bedeutungen, eine ethnographiſche und politiſche. Die Griechen und Römer hatten dafür getrennte Bezeich— nungen, 89% s und % ios, gens (oder natio) und populus. Die Deutſchen ſind ein Volk im ethnographiſchen Sinne, aber nicht im politiſchen; die Schweizer, die Oeſterreicher ſind es im politiſchen, aber nicht im ethnographiſchen. Die Ethnographie wäre daher der Geſchichte, der politiſchen Geographie, oder der Anthropologie zuzuweiſen; für unſere— Wiſſenſchaft aber würden wir am liebſten den Namen „Demographie“ wählen. Für die ſchwächſte Einwendung gegen eine ſolche Benennung würden wir die halten, daß wo möglich ein deutſches Wort zu wählen wäre. Die Wiſſenſchaften ſind Gemeingut der Menſchheit und fragen nichts nach den Grenzpfählen der Sprachen und Völker; dies hat eben ſeinen Ausdruck in ihrer gemeinſamen, den alten Sprachen entnommenen Terminologie. Wollte jedes gebildete Volk die wiſſenſchaftlichen Ausdrücke in ſeine Sprache umprägen, ſo gäbe das nicht nur eine unnöthige Erſchwerung aller gelehrten Studien, ſondern auch eine wirkliche Gefährdung der Wiſſenſchaften ſelbſt, ſofern im Gebiet des abſtracten Denkens nur ſelten zwei Sprachen congruente Begriffe bilden. Eine einzelne Wiſſenſchaft iſt kein Gattungsbegriff; ſie iſt nur einmal vorhanden und fordert daher eine Art von nomen proprium für ihre Be— zeichnung. Der wiſſenſchaftliche Terminus will benennen, nicht definiren; und das leiſtet uns eben der Gebrauch der

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Fremdſprache beſſer. Man denkt bei Caſus nicht an einen Fall, bei Dativ und Accuſativ nicht an ein Geben oder Anklagen; die deutſchen grammatiſchen Bezeichnungen aber, wie „Weſſenfall, Verhältnißwörter, Beiwörter, Fürwörter“ machen Anſpruch darauf, zugleich eine Erklärung der Sache zu geben, was doch nie möglich iſt und nur zur Verwirrung führt. So ſchlimm iſt es nun zwar nicht mit jenen aus Lehre, Kunde, Beſchreibung ꝛc. gebildeten Namen von Wiſſen— ſchaften, aber doch wird ſich neben den alten, weltgültigen Namen der Phyſik, Logik, Ethik, Geographie, ſelbſt die Naturlehre, Denklehre, Sittenlehre, Erdkunde, wiewohl dieſe Bezeichnungen noch zu den beſten gehören, nicht behaupten können. Wenn man nur die Eine Unbequemlichkeit nimmt, daß dieſe Wörter keine adjectiviſche Form haben! Wie unzähligemal iſt man veranlaßt, von einer phyſicaliſchen, ethiſchen, geographiſchen Unterſuchung, Frage, Schrift, Be— ziehung, Seite der Sache zu reden und wie kümmerlich muß man ſich da mit den deutſchen Wörtern behelfen! Ebenſo iſt es mit der Bildung der Subſtantiva: der Phy— ſiker, der Geograph, wo man dann jagen müßte: der Natur- lehrer, der Erdkundige. Beſonders ungeſchickt iſt hierin aber die Form, Kunde, da das Wort nun einmal urſprüng— lich ein Wiſſen' und nicht ein zu Wiſſendes, nicht eine Wiſſenſchaft bezeichnet, und dieſer Sinn beſonders in dem Adjectiv „kundig“ ausſchließlich zu Tage tritt. Zudem haben die Compoſita aus ſolchen Wörtern eine ſo ſchwache Cohäſion, daß, wenn ein Wort von ſtärkerer Verwandtſchaft in ihre Nähe kommt, ſie eine Neigung zeigen, ihre Ver—

Rümelin, Reden u. Aufſätze. 17

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bindung wieder aufzulöſen. Statt „Volkskunde, Staats— kunde von Bayern“ möchte man lieber ſagen: Kunde vom bayeriſchen Volk oder Staat, wenn das Wort Kunde dieſe Iſolirung vertrüge und damit nicht in ſeine Grundbedeu— tung zurückfiele. Noch weniger aber ließe ſich ſagen: Dazu kommt, daß die griechiſchen Namen ſchon durch ihre Endungen graphie, —logie ꝛc. ꝛc. den methodologiſchen Charakter der einzelnen Wiſſenſchaften andeuten, wenn auch zum Theil nur ihre erſte hiſtoriſche Geſtalt. Erdkunde könnte ebenſo—

Völkerkunde, Staatenkunde von Bayern.

gut Geologie als Geographie bedeuten, und ſo muß man auch fragen: iſt die Volkskunde eine beſchreibende oder eine ſyſtematiſche Wiſſenſchaft vom Volk, eine Demographie oder Demologie? Der Ausdruck „Beſchreibung“ endlich läßt ſich im Sinn von einer beſchreibenden Wiſſenſchaft über⸗ haupt nicht ohne Zwang gebrauchen und theilt außerdem faſt alle Mängel jener Compoſita von „Lehre“ und „Kunde.“ Neue Namen einer Wiſſenſchaft vorzuſchlagen, iſt ſtets ein mißliches und in der Regel verlorenes Unternehmen, aber das dürfte aus den vorſtehenden Bemerkungen zum Min— deſten erhellen, daß in den Namen noch viel Verwirrung und Unklarheit herrſcht und daß dabei allerhand tiefer liegende Gebrechen zu Tag treten.

Eine beſondere Erwähnung erfordert noch das Ver— hältniß dieſer Völkerkunde oder Demographie zu der poli— tiſchen Geographie. Früher pflegte man unter dieſem weiten Namen alles das unterzubringen, was man jezt Statiſtik, Völker- und Staatenkunde nennt. Später hat man ihr

259 nichts von allem dem mehr gelaſſen und überhaupt die wiſſenſchaftliche Berechtigung dieſer Disciplin in Frage ge— ſtellt. Es iſt jedoch ſeit Humboldt, Ritter, Rougemont ze. nicht mehr zweifelhaft, daß es auch eine Geographie des Menſchen gibt; nur über ihre Abgrenzung ſteht noch wenig feſt. Geographie und Geſchichte, der Planet und die Menſch— heit vertreten zuſammen die Totalität aller irdiſchen Er— ſcheinungen. Es verſteht ſich, daß beide in mannigfaltiger Wechſelbeziehung zu einander ſtehen. Die Verbindung be— ſteht aber nicht in Einer beide Gebiete combinirenden Wiſſen— ſchaft, ſondern ſie kommt dadurch zu Stande, daß jede jener beiden Geſammtwiſſenſchaften einen Zweig treibt, der dem andern Theil entgegenwächſt und ſich mit ihm verſchlingt. Der Zweig der Geographie iſt derjenige Theil derſelben, welcher die Erde als Wohnſiz des Menſchen und die Wir— kungen betrachtet, welche ſie in dieſer Eigenſchaft theils ausübt, theils erleidet. Sie zeigt einerſeits, an anthropo— logiſche Ausgangspunkte anknüpfend, in einer der ſoge— nannten Pflanzen- und Thiergeographie correſpondirenden Weiſe die Verbreitung der Menſchheit unter dem Einfluß der Zonen, der großen Continentalcharaktere, des Klima's ıc., die Verbreitung der Nacen und Völkerſtämme, der Sprachen, Kulturverhältniſſe u. ſ. w. und heißt in dieſer Eigenſchaft Geographie des Menſchen; ſodann zeigt ſie uns die einzelnen Länder als die Territorien beſtimmter Völker und Staaten und heißt in dieſer Beziehung politiſche Geographie; end— lich betrachtet ſie die durch die Thätigkeit der Menſchen beſonders markirten Punkte der Erdoberfläche, die einzelnen I

260 Wohnpläze und heißt in dieſer Eigenſchaft Topographie. Während nun in dieſen Disciplinen ſtets vom Areal und ſeinen Eigenſchaften ausgegangen wird, betrachtet der von dem Stamm der Geſchichtswiſſenſchaften aus ſich abzweigende Aſt, die Völkerkunde oder Demographie, zum Theil die— ſelben Erſcheinungen, nur nicht als Merkmale der Länder, ſondern der Völker. Sie ſchildert ein concretes Volksleben als die Geſammtwirkung geographiſcher und geſchichtlicher Vorbedingungen; ſie zeigt uns, was das Volk unter der Gunſt und Ungunſt ſeines heimathlichen Bodens geworden iſt, wie es ihn ſelbſt geſtaltet, ſeine Schäze ausgebeutet, ſeine Mängel ergänzt, ſeine Berge und Ströme überwältigt, ſeine Pflanzendecke und Thierbelebung verwandelt, ihn mit Städten und Dörfern beſäet, mit Straßen und Kanälen durchzogen, und ſo gleichſam zu einem beſeelten Raum, zum Abdruck ſeines Geiſtes und Willens ungeſchaffen hat. Es zeigt ſich ſchon hieran, wie nah jene beiden Wiſſen— ſchaften verwandt ſind und wie die Verſchiedenheit mehr in dem Geſichtspunkt als in dem Object der Betrachtung liegt. So z. B. wird die politiihe Geographie die Ergeb— niſſe des Bergbaus, der Landwirthſchaft unter dem Ge— ſichtspunkt von Landesprodukten betrachten; die Volkskunde dagegen wird den gleichen Gegenſtand als eine Seite der wirthſchaftlichen Thätigkeit des Volkes und im Zuſammen— hang mit andern Seiten des Volkslebens behandeln. Das— ſelbe Object iſt ſo in einem Fall ein Merkmal des Landes gegenüber von andern Ländern, im andern ein Merkmal

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der wirthſchaftlichen Thätigkeit des Volkes gegenüber von andern Thätigkeiten.

Den Begriff Geſchichte im weitern Sinn des Wortes genommen iſt die Volkskunde oder Demographie ſelbſt eine Geſchichtswiſſenſchaft, im engern Sinne ſteht ſie der eigent— lichen Geſchichtſchreibung als eine Hilfswiſſenſchaft zur Seite. Das Bedürfniß der wiſſenſchaftlichen Arbeitstheilung bringt es mit ſich, daß der Geſchichtſchreiber, der uns das Völker— und Staatenleben in ſeiner zeitlichen Entwicklung ſchildert, ſeinen umfaſſenden Gegenſtand nicht zugleich in der ganzen Breite ſeiner Erſcheinung ſtetig fortführen kann, daß er, auf die typiſchen und hervorragenden Ereigniſſe und Per— ſönlichkeiten angewieſen, nicht zugleich auch dasjenige uns vergegenwärtigt, was ſich unmerklich aus einer unendlichen Menge einzelner, für ſich bedeutungsloſer Thätigkeiten der Individuen zu einer Maſſenwirkung zuſammenſezt. Der Hiſtoriker gleicht darin dem dramatiſchen Dichter, der uns eine bedeutungsvolle Handlung an Perſonen, die unſer Intereſſe erregen, in charakteriſtiſchem Detail vor Augen führt, dabei aber dem Leſer oder Zuhörer überläßt, ſich den Schauplaz und Boden der Begebenheit mit allerlei begleitenden Nebenumſtänden hinzuzudenken oder mit Hilfe der theatraliſchen Scenerie zu ergänzen. So bildet die Demographie gleichſam den Hintergrund, in welchen der Hiſtoriker ſein Gemälde einzeichnet. Eine Geſchichtſchreibung, die den unabſehbaren demographiſchen Stoff ſtets in ſeiner ganzen Breite mit ſich fortwälzen wollte, müßte verwirrend und unverſtändlich werden. Sie kennt kein werthvolleres

Material, wird aber doch nur mit Auswahl und bei be- ſonderem Anlaß davon unmittelbaren Gebrauch machen dürfen. Es wird immer wieder die Kunſt des Geſchicht— ſchreibers bleiben, das von der Demographie auf dem Wege der univerſellen Beobachtung gewonnene Bild des Volks— lebens in typiſchen Thatſachen abzuſpiegeln.

Wenn wir nun endlich auf den Ausgangspunkt unſerer Unterſuchung, den Begriff der Statiſtik zurückſehen, ſo be— darf es nach dem Obigen keiner nähern Ausführung mehr, in welchem Verhältniß jene Demographie zu der Statiſtik in unſerem Sinne ſteht. Sie iſt ein ſelbſtändiger Wiſſens— zweig, der an der Statiſtik ſeine vornehmſte und unent— behrliche Hilfswiſſenſchaft hat und ohne ſie nicht zu einer ſelbſtändigen Entwicklung hätte gelangen können. Gleich— wohl fallen beide Disciplinen keineswegs zuſammen, ſofern einerſeits die Demographie ihren Stoff auch noch aus mancherlei andern Quellen ſchöpft, und andererſeits die Statiſtik auch noch mancherlei andern Wiſſenszweigen in gleicher Weiſe Dienſte leiſtet. Nur der Umſtand, daß die Statiſtik bis jezt vorherrſchend in den Händen der Staats— behörden lag, und darum vorzugsweiſe für Zwecke der Staatskunde in Anſpruch genommen worden iſt, erklärt es, wie der politiſche Inhalt und das methodologiſche Verfahren, durch das derſelbe großentheils ermittelt wird, anfänglich als Eine Wiſſenſchaft erſcheinen konnte und mußte.

Hiemit ſind wir zugleich am Ziele unſerer Unter— ſuchung angelangt. Das was bisher Statiſtik hieß, hat ſich uns hiernach in zwei getrennte Disciplinen aufgelöst,

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eine allgemeine methodologiſche Hilfswiſſenſchaft der Er— fahrungswiſſenſchaften vom Menſchen, welcher wir, dem gemeinen Sprachgebrauch folgend, den Namen Statiſtik beilegten, und eine ſelbſtſtändige, auf dem Grenzgebiet von Geographie und Geſchichte gelegene, Wiſſenſchaft, für die wir den Namen Demographie gewählt haben, die aber auch bei entſprechender Erläuterung der Begriffe Völker- oder Staaten-, Volks- oder Staatskunde genannt werden mag. Unſere Auffaſſung trifft hienach in dem Grundgedanken mit der Knies'ſchen Anſicht zuſammen, nur daß wir die beiden Glieder weſentlich anders charakteriſiren und anders benannt haben. Der Gang unſerer Unterſuchung hat uns wiederholt genöthigt, einen höhern Standort und eine weitere Rundſchau zu gewinnen, als die beſchränkte Aufgabe Man— chem zu erfordern ſcheinen mag. Wenn es ſich aber darum handelt, einer noch jungen Wiſſenſchaft ihren feſten Siz in dem akademiſchen Saale anzuweiſen, ſo iſt das ohne einige Orientirung über die ganze Anordnung dieſes Saales nicht wohl möglich. Nun iſt aber nicht wohl zu läugnen, daß auf demjenigen Flügel, wo die ſocial-politiſchen Wiſſen— ſchaften ihre Size haben, noch eine ziemliche Unordnung zu Hauſe iſt, indem faſt jeder neue Forſcher die Pläze wieder anders vertheilt und mit anderen Namen belegt. Und da unter den uns bekannten Gruppirungen des wiſſen— ſchaftlichen Stoffes keine ſich unter diejenigen Geſichtspunkte einfügen ließ, die wir nun einmal in dieſer Sache als die maaßgebenden betrachten mußten, ſo blieb nichts übrig, als theilweiſe ſelbſt wieder eine neue Gruppirung zu ver—

juchen. Damit iſt nun aber freilich die Schwierigkeit, wie die Anfechtbarkeit unſeres Verſuches, die Aufgabe zu löſen, weſentlich verſtärkt worden, zumal da die Kritik ſo ſelten geneigt iſt, dem Gedankengang eines Schriftſtellers genau zu folgen und ſo gerne ſich an das zur Seite Liegende und minder Weſentliche anheftet.

Um aber eine Unterſuchung über Statiſtik mit einer ſtatiſtiſchen Notiz zu ſchließen, ſo gibt es, wenn wir Nichts übergangen und recht gezählt haben, bis jezt 62 verſchiedene Erklärungen über den Begriff der Statiſtik und die unſrige wäre dann die 63te. Da wir nun keinen Anſpruch darauf machen, das ſeltſame Räthſel ganz gelöst, ſondern nur, das Ungenügende der ſeitherigen Löſung neu beleuchtet und auf einige noch unbeachtete Seiten der Sache hingewieſen zu haben, und da der Drang nach klarer Erkenntniß, der „alte Maulwurf“ nach Hegels Ausdruck, keine Ruhe kennt und ſich auch vor dem Prädikat der „Wunderlichkeit“ und „pſychologiſchen Merkwürdigkeit“ nicht ſcheut, ſo begrüßen wir unſern Nachfolger, Nr. 64, mit dem alten akademiſchen Wort, das auf dem Felde der wiſſenſchaftlichen Forſchung ſeine ſchönſte Bedeutung hat: vivat sequens!

Zur Cheorie der Statiſtik.

II. 1874.

Wenn ich vor zehn Jahren, mit mancherlei Arbeiten der praktiſchen Statiſtik beſchäftigt, verſucht habe, mir ſelbſt und Andern in der voranſtehenden Weiſe den eigenthüm— lichen Charakter der Statiſtik und ihre Stellung in dem Zuſammenhang und Ganzen der Wiſſenſchaften deutlich zu machen, ſo habe ich in der Zwiſchenzeit durch akademiſche Vorleſungen über Statiſtik vielfältigen Anlaß gefunden, von verſchiedenen Geſichtspunkten aus auf die theoretiſchen Fragen und jene früheren Unterſuchungen zurückzukommen. Hiebei hat in den Hauptpunkten die frühere Auffaſſung auch einer erneuerten Prüfung Stand gehalten, im Ein— zelnen jedoch wurde ich zu mancherlei Ergänzungen und Berichtigungen von theilweiſe eingreifenderer Bedeutung ge— führt, welche als Nachtrag hier zuſammengeſtellt zu finden vielleicht dem Leſer des erſten Aufſazes willkommen ſein wird, wenn ſich auch im Intereſſe der Deutlichkeit einige kleine Widerholungen nicht ganz werden vermeiden laſſen.

1. Das was man Statiſtik und das, was man ſtati— ſtiſche Methode zu nennen pflegt, iſt genau zu unterſcheiden und ſtreng auseinander zu halten. Statiſtik iſt ein Zweig

der Staatswiſſenſchaften (im weiteren Sinn des Worts) und wird es immer bleiben müſſen, wie man ſie auch näher formuliren und umgrenzen mag. Jene eigenthümliche Me— thode der Forſchung aber, deren weſentlichſtes Merkmal wir in die rationelle Durchzählung und Rubricirung vieler Einzelfälle ſezen, iſt zwar hiſtoriſch zuerſt im Dienſte ſtati— ſtiſcher, und ſomit ſtaatswiſſenſchaftlicher Zwecke angewendet worden und hat, weil ihr für dieß Gebiet die hervor— ragendſte Bedeutung zukommt, den Namen der ſtatiſtiſchen erhalten; ſie iſt aber in ihrer Anwendbarkeit und ihrem Weſen nach keineswegs auf dieſen Erfahrungskreis be— ſchränkt, ſondern von univerſaler Bedeutung. Sie hat, wie alle beſonderen Formen der wiſſenſchaftlichen Methodik, ihren Plaz in der Logik.

Um den Inhalt eines Begriffs, welcher mehrere oder viele Individuen oder Einzelfälle in ſich begreift, zu be— ſtimmen, kannte die Logik zuvor kein Mittel, als diejenigen Eigenſchaften, welche allen Individuen oder Einzelnfällen conſtant und übereinſtimmend zukamen, im Wege der In— duction zu finden und als die Merkmale des Begriffs zu— ſammenzuſtellen. Das, was ſich in dem Einen Fall ſo, im andern anders vorfand, alſo die variablen Momente wußte man wiſſenſchaftlich nicht zu verwerthen; man ließ ſie entweder ganz unbeachtet zur Seite liegen oder that man der vorkommenden Abweichungen nur in vagen und unbeſtimmten Faſſungen Erwähnung, indem man z. B. ſagte: das Schwein bringe auf Einen Wurf 3—15 Junge auf die Welt; die Pferde ſeien von verſchiedener Farbe;

267 es gebe Braune, Schimmel, Rappen, Fuchſen, Iſabellen. Die Menſchen ſterben in jedem Lebensalter, am häufigſten in der erſten Kindheit und im Greiſenalter.

Die ſtatiſtiſche Methode tritt nun für die empiriſchen Wiſſenſchaften eben da ein, wo die Induction, der Schluß von dem typiſchen Einzelfall auf andere Fälle die Dienſte verſagt. Ihr Weſen beſteht darin, daß ſie durch das Mittel der Maſſenbeobachtung und Durchzählung auch die variablen Momente der Beobachtungsobjecte zu characteriſtiſchen und wiſſenſchaftlich brauchbaren Merkmalen der Begriffe zu er— heben vermag. Sie zeigt, daß feſte Maaßverhältniſſe auch jenes Gebiet der fluctuirenden, von Fall zu Fall verſchie— denen Erſcheinungen beherrſchen, daß hier nicht Zufall und Willkühr, ſondern nur eine verwickeltere Miſchung und Combination der Kräfte und Urſachen walte. Es dient offenbar zur Characteriſtik verſchiedener Geſellſchaftskreiſe, wenn ſich zeigen läßt, daß in einem jährlich auf 1000, im andern auf 10000, im dritten auf 20000 Individuen Ein Fall eines Selbſtmords, eines Todſchlags oder daß hier auf 1000 Menſchen 18, dort 36 Sterbfälle treffen.

Dieſe Methode greift nun überall hin, wo es variable Momente in den für die Betrachtung zuſammengefaßten Erſcheinungen giebt; und ſolche giebt es allenthalben und in allen Reichen der Natur. Cs kann ſich auch überall ein wiſſenſchaftliches Intereſſe an dieſe variablen Elemente knüpfen. Man könnte nach Umſtänden ſelbſt Sandkörner nach Größe und Geſtalt zu zählen und zu ſortiren für werthvoll achten müſſen. Es iſt zur Zeit nicht abzumeſſen,

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zu welcher Bedeutung die Methode, auch die variablen Seiten der Erſcheinungen zum Gegenſtand exacter Forſchung zu erheben, auf den verſchiedenen Gebieten der Naturwiſſen— ſchaften gelangen kann. Bis jezt findet ſie nur in einem Theile derſelben, wie in der Meteorologie, Phyſiologie und Mediein eine umfaſſendere, und in ſtetigem Wachsthum be— griffene Anwendung.

2. Wenn dieß richtig, wenn die ſogenannte ſtatiſtiſche Methode ein logiſcher Begriff und das Mittel iſt, da wo die Induction ihren Dienſt verſagt und die variablen Ele— mente der Beobachtungsobjecte beginnen, durch univerſelle oder Maſſenzählungen der verſchiedenen Variationsfälle zu Erfahrungsſäzen von numeriſcher Faſſung und zu Schlußfol— gerungen aus denſelben zu gelangen, ſo liegt darin von ſelbſt, daß nicht alle auf ſolchem Wege gefundenen That— ſachen oder Wahrheiten zu Einer Wiſſenſchaft, die den Namen Statiſtik oder irgend welchen ſonſt zu führen hätte, ver— einigt werden können. Die Bemerkungen, welche Roſcher über dieſen Punkt macht und gegen welche oben Einwen— dungen erhoben wurden, ſind als ganz zutreffend zu er— kennen. Die Eintheilung der Wiſſenſchaften hat zu ihrem Princip die ſachliche Verſchiedenheit oder Zuſammengehörig— keit der Objecte, nicht die logiſchen Mittel der Unterſuchung; ſo wenig ſich Alles in Eine Disciplin zuſammenfaſſen läßt, was durch Induction, durch Analogie, durch Experiment gefunden wird, ſo wenig iſt, was die erwähnte ſtatiſtiſche Methode auf den verſchiedenen Wiſſensgebieten zu Tag fördert, in den Rahmen einer gemeinſamen Wiſſenſchaft

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einzureihen. Es müßte eine höchſt monſtröſe Geſtalt einer wiſſenſchaftlichen Disciplin entſtehen, wenn man Ernſt da— mit machen wollte, auch nur, etwa die Iſothermen und Iſotheren, die Ergebniſſe der Züchtungsverſuche von Haus— thieren, der verſchiedenen Heilmethoden von Fieberkranken, die Mortalitätstafeln, die Frequenz der Verbrechen und Selbſtmordfälle, die ſocialen Wirkungen der verſchiedenen Agrarſyſteme in Einem Buche zu behandeln. Die Statiſtit kann unmöglich die Wiſſenſchaft von allem demjenigen ſein, was ſich durch die ſtatiſtiſche Methode ermitteln läßt.

3. Dieſe Methode dient allen empiriſchen Wiſſenſchaften, welche Gruppen von ähnlichen Objecten zum Gegenſtand ihrer Unterſuchung machen; ſie hat aber nicht zu allen das gleiche Verhältniß, nicht für alle die gleiche Bedeutung. Auf dem Felde der Naturwiſſenſchaften wird immer die Induction den Primat behaupten und jene Methode nur einen ſecundären Plaz einnehmen können. Hier herrſchen die Gattungsbegriffe und die conſtanten Merkmale der Einzelfälle. Neben den Gattungsbegriffen haben wir aber die Collectivbegriffe zu unterſcheiden. Von der Gattung kann ich nichts ausſagen, als was von jedem Einzelnen innerhalb der Gattung gilt; der Gattungsbegriff iſt der des typiſchen Individuums oder Einzelfalls, und nicht da— neben noch etwas Beſonderes für ſich. Das Bild des Löwen, der Roſe iſt das eines Löwen, einer Roſe u. ſ. f. Ebenſo iſt es, wenn das unter den Gattungsbegriff Fallende nicht Individuen, ſondern Vorgänge, Veränderungen an den Dingen ſind. Das Geſez oder die Regel, welche hier

270 den Gattungsbegriff bildet, knüpft an beſtimmte Urſachen beſtimmte Wirkungen und gilt gleichmäßig für alle von der Formel des Geſezes betroffenen Fälle; es ignorirt ſeiner— ſeits die etwa im Einzelfall hinzutretenden variablen Fac— toren und überläßt dieſe wieder einem etwaigen weiteren und abgeſonderten Inductionsverfahren. Dieß iſt der Grund, warum der Induction eine ſo große Bedeutung zukommt; wenn das Allgemeine nur ein typiſches Einzelnes iſt, ſo muß es aus der Beobachtung des Einzelnen auch erkannt werden können. In dem Collectipbegriff dagegen wird unter ſich Verſchiedenes, um irgend eines gemeinſamen Merkmals willen in Eine Gruppe zuſammengefaßt. Das Intereſſe iſt auf dasjenige gerichtet, was von der Gruppe als Ganzem' auszuſagen iſt, nicht was von jedem einzelnen Glied der Gruppe gelten mag. Was ich vom Wald ſage, gilt nicht von dem einzelnen Baum, was ich über das Publikum eines Theaters, von der Menge, vom Volk, von einer Armee urtheile, ſoll nicht auf die Individuen im Einzelnen anwendbar ſein. Conſtante Merkmale ſind hier gar nicht vorhanden, außer dem einzigen, um deſſen willen der Begriff gebildet und benannt worden iſt. Wenn über— haupt ſonſtige Merkmale ſollen gewonnen werden können, ſo müſſen ſie variabler Natur, nicht allgemein, ſondern nur partiell vorhanden, nur in einem quantitativ begrenzten Prädicat faßbar, ſomit nur der Durchzählung, der ſtatiſti— ſchen Methode zugänglich ſein.

4. Wo dieſe Collectivbegriffe nichts weiter als eben die Vielheit ausdrücken, einen Pluralis in eine Singularis—

271 form umzudeuten, jtatt Tauſend das Tauſend zu jagen ſcheinen, koͤnnen ſie für die menſchliche Erkenntniß und Wiſſenſchaft keine ſonderliche Bedeutung in Anſpruch nehmen. Zwar iſt man auch noch innerhalb der Naturwiſſenſchaften veranlaßt, von Heerden, Schwärmen, von Wald und Ge— birge Merkmale aufzuzählen, die nur vom Ganzen, nicht von den Einzelnen gelten können, die ſogar auf einen von den Gattungsbegriffen ganz abweichenden Begriff hindeuten, der doch auch wieder mit dem logischen Verhältniß des Ganzen und der Theile nicht zuſammenzuſtellen oder zu verwechſeln iſt. Ihre wahre und volle Bedeutung gewinnen dieſe Collectivbegriffe aber Brit für diejenigen Wiſſenſchaften, welche den Menſchen und die geſellſchaftliche Gliederung und Gruppirung des Menſchen zu ihrem Gegenſtand haben. Die Merkmale der menſchlichen Gattung werden in beſon— deren Wiſſenſchaften, wie der Phyſiologie und der Pſycho— logie behandelt. Innerhalb der Gattung aber ſtoßen wir nicht auf Arten und Varietäten, wie wir bei den Hunden die Pudel, Doggen, Spitzer, Dachshunde u. ſ. w. unter— ſcheiden. Hier combiniren ſich phyſiſche und pfſchiſche, geographiſche und hiſtoriſche, wirthſchaftliche und ethiſche Momente ſo mannigfaltig, daß uns die Gattungsbegriffe ganz verlaſſen, und an ihre Stelle der Begriff der Gruppe, als eine beſondere, in ſich ſelbſt auch wieder gegliederte Form der Collectivbegriffe tritt. Es giebt natürliche Gruppen der menſchlichen Geſellſchaft, wo die Einzelnen lebendige Fühlung mit einander haben, in Wechſelwirkung unter ſich ſtehen und durch den Maſſeneffekt dieſer Einzel—

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wirkungen der ganzen Gruppe einen beſtimmten Charakter leihen, der dann auch wieder auf die einzelnen Glieder zurückwirkt; es iſt eine Intereſſengemeinſchaft vorhanden, die die einzelnen ſei es in umfaſſenderer oder nur partieller Weiſe in eine reale Verbindung bringt. Dahin gehören die Begriffe von Familien, Geſchlechtern, Stämmen und Völkern, von Gemeinden und Gauen, von Ständen und Berufs-, von Religionsgenoſſenſchaften, von Vereinen ver⸗ ſchiedener Art. Daneben aber giebt es künſtliche Grup— pen, die nur dem Erkenntnißzweck dienen ſollen, deren Begriffe wir nur auf die Gemeinſchaft Eines oder weniger Merkmale gründen, wo die einzelnen Glieder ſich unter ſich nicht näher angehen und aufeinander wirken, bei welchen aber ein Intereſſe beſteht zu wiſſen, ob das Eine bekannte Merkmal, auf dem der Begriff der Gruppe ruht, auch noch weitere gemeinſame oder vorherrſchende Merkmale neben ſich hat. Dahin gehören Begriffe wie z. B. die der Gleich— altrigen, der Verheiratheten, der Ledigen, der Blinden, der Selbſtmörder u. ſ. w. Eine weitere dritte Klaſſe von ge— ſellſchaftlichen Collectivbegriffen faßt nicht die Subjecte, ſondern die Objecte zuſammen, nicht Individuen, ſondern Vorgänge, Thatſachen, welche für das geſellſchaftliche Leben Bedeutung haben, z. B. Geburten, Sterbfälle, Todesurſachen, Verbrechen, Brandfälle, Erndteerträge, Hagelbeſchädigungen, um die gemeinſamen und abweichenden Merkmale derſelben zu unterſcheiden.

5. Dieſe ſocialen Gruppenbegriffe bilden die höchſte, wichtigſte, der wiſſenſchaftlichen Behandlung fähigſte

und bedürftigſte Unterart der Collectivbegriffe. Sie greifen über die Kategorie der bloßen Vielheit und Pluralität hinaus; der Unterſchied von den Gattungsbegriffen iſt am ſtärkſten ausgeprägt, indem der Gruppe als ſolcher charac— teriſtiſche Merkmale zukommen, welche nicht bei den Indivi— duen oder Einzelfällen zutreffen, ſondern nur als Maſſen— wirkungen in numeriſcher, quantitativer Begrenzung zu faſſen ſind, bei welchen die variablen oder partiellen Er— ſcheinungen das Ueberwiegende und Bedeutungsvolle, die conſtanten das Unerhebliche und Verſchwindende ſind. Die Induction iſt zwar nicht ausgeſchloſſen, ſofern auch aus bedeutenden und hervorragenden Einzelfällen Schlüſſe ge— zogen werden können, aber ſie tritt gegen die methodiſche, Maſſenbeobachtung und Durchzählung in den Hintergrund, während bei den Gattungsbegriffen das Verhältniß ein umgekehrtes iſt. Die ſtatiſtiſche Methode iſt ſo das weſent— liche und unentbehrliche Mittel, um zu Merkmalen ſocialer Gruppenbegriffe zu gelangen.

Es giebt zwei Grundformen, in welchen dieſe Gruppen— merkmale ihren Ausdruck finden. Es kann ſich um con— ſtante, allen Gliedern der Gruppe zukommende Merkmale handeln, bei welchen der variable Faktor nur in den Neben— umſtänden und Modalitäten beſteht. Allen Menſchen kommt z. B. ein beſtimmtes Maaß von Körpergewicht und Größe, von Puls und Athemfrequenz zu, aber jedem wieder ein anderes; alle ſterben in einem beſtimmten Lebensalter, aber nicht im gleichen. Hier wird nun durch die Maſſenbeob— achtung für eine Gruppe ein Durchſchnittsmaaß gefunden,

8 8 FT} 2 Rümeliu, Reden u. Aufſätze. 18

die Summe der Einzelgrößen dividirt durch die Zahl der Fälle. Es entſteht ſo ein typiſches Individuum, wie bei Gat— tungsbegriffen, der moyen homme von Quetelet, das als characteriſtiſches Merkmal der ganzen Gruppe dient. Das Prädikat hat hier die Form einer beſtimmten, abſoluten Zahl.

Die andere Art betrifft Eigenſchaften oder Thatſachen, welche nicht bei allen Individuen, ſondern nur bei einem Theil derſelben gelten. Hier giebt die Maſſenbeobachtung die Zahl der Fälle, in welchen das Merkmal zutrifft oder nicht, als einen Bruch des Ganzen, in der Regel als pro— centale Ziffer; alſo z. B. auf je 1000 Perſonen treffen jährlich 24 Sterbfälle, 36 Geburten, 10 Trauungen; unter je 100 ſind 34 verheirathet u. ſ. w. Dieß numeriſche Verhältniß bildet dann das characteriſtiſche Merkmal der Gruppe, das zur Vergleichung mit andern Gruppen und zu weiteren Schlußfolgerungen dient.

Die beiden Grundformen laſſen ſich noch in mancherlei Arten combiniren.

6. Der Staat iſt kein Collectivbegriff und keine ſociale Gruppe. Mag man ihn eine Ordnung, ein Inſtitut, eine Perſönlichkeit, einen Organismus oder wie immer nennen, er iſt keine Vielheit von ſelbſtändigen, einander coordinirten Dingen, kein Verein, ſondern eine reale, individuelle Ein— heit, ein Ganzes, deſſen Theile gegliedert und in einander verkettet, in aufſteigender Reihe von unter- und übergeord— neten Organen, in die pyramidale Spize eines lebendigen Willens auslaufen. Die Merkmale des Staats beſtehen

273

nicht in Durchſchnitts- oder Bruchziffern; ſie werden nicht durch vergleichende Zählungen gefunden, die ſtatiſtiſche Methode hat nichts mit ihnen zu ſchaffen. Allerdings kommen in der Beſchreibung eines Staats auch Zahlen vor; die Einnahmen, Ausgaben, Schulden, Heer und Marine repräſentiren beſtimmte Summen von Thalern, Männern, Pferden, Schiffen; dieß ſind aber keine Ziffern, die mit jener ſtatiſtiſchen Methode zu thun hätten. Denn nicht alles Zählen iſt Statiſtik, nur dasjenige, welches aus der vergleichenden Maſſenbeobachtung Gruppenmerkmale in nu— meriſcher Faſſung findet. Daß der engliſche Staat 785 Millionen & Schulden, das deutſche Reich im Friedensſtand 400000 Soldaten hat, iſt eine Notiz von ganz gleichem Charakter, wie daß der Montblanc 14800 P. Fuß hoch iſt oder ſeit Chriſti Geburt 1874 Jahre abgelaufen ſind. Nur das iſt richtig, daß in ſolchen Ziffern, welche zur Beſchrei— bung des Staats dienen, mittelbar auch geſellſchaftliche Thatſachen von ziffermäßiger ſtatiſtiſcher Faſſung enthalten ſind. Das Reich beſtimmt, daß von jedem Centner Speiſe— ſalz 2 Thaler Steuer zu zahlen ſind, es kann aber nicht beſtimmen, welchen Ertrag dieſer Steuerſaz zu liefern hat; wenn die Steuer nun 11 Mill. Thaler einbringt, wenn 6 Millionen Centner Salz jährlich conſumirt werden und auf den Kopf ein Verbrauch von 16 1 fällt, ſo ſind dieß geſellſchaftliche Thatſachen oder Merkmale. Auch die Einwohnerſchaft gehört zu den Merkmalen der Geſellſchaft, nicht des Staates. Der Staat hat keine Einwohner und die Zahl ſeiner Unterthanen iſt für ihn etwas Zufälliges, 18 *

276 wenn auch praktiſch ſehr Wichtiges. Die wejentlichen Merk: male des Staats liegen in ſeiner Verfaſſung und Verwal— tung, ſowie in ſeiner geſchichtlichen Entwicklung. Das ſind der ſtatiſtiſchen Methode ganz fremde Gebiete.

7. Bei der Frage, wie ſich die Geſellſchaftswiſſenſchaften zu den Staatswiſſenſchaften verhalten, ob ſie dieſen coor— dinirt oder ſubordinirt ſeien und überhaupt einen ſelbſtän— digen Plaz in der Reihe der Wiſſenſchaften einnehmen, pflegt das nicht beachtet zu werden, daß Staat und Ge— ſellſchaft zwei Begriffe von ganz verſchiedenem logiſchen Grundcharacter ſind und ganz verſchiedene Unterſuchungs— methoden erfordern.

Es mag immerhin nicht nur zuläßig, ſondern praktiſch und zweckmäßig ſein, einen weiteren und engeren Begriff der Staatswiſſenſchaften zu unterſcheiden, dem weiteren Wortſinn die Geſellſchaftswiſſenſchaften unterzuordnen, dem engeren coordinirt gegenüberzuſtellen. Das erſtere geſchieht dann ungefähr mit demſelben Recht, mit welchem wir Ana— tomie und Phyſiologie zu den medieiniſchen Wiſſenſchaften zählen, obgleich ſie nichts mit dem Heilen zu thun haben. Der Staat iſt die die Geſellſchaft ordnende Macht, und wer zu ordnen hat, muß das kennen, was geordnet werden ſoll. Die geſellſchaftlichen Zuſtände und Thatſachen ſind der Stoff und das Subſtrat der ſtaatlichen Thätigkeit. Deßhalb ſind aber doch Staats- und Geſellſchaftswiſſen— ſchaften wieder ſo verſchieden, als Hygieine und Therapie etwas weſentlich Anderes ſind als die Lehren vom geſunden und kranken menſchlichen Körper. Der Staat iſt ein Pro—

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duct von bewußten menſchlichen Willensacten, er iſt wenig— ſtens im einzelnen immer etwas Gemachtes. Die Geſell— ſchaft und ihre einzelnen Gruppen ſind etwas unbewußt, durch die ſpontane Maſſenwirkung vieler individueller Kräfte und Triebe, durch das Wechſelſpiel in den Einwirkungen des Einzelnen auf Viele und der Vielen auf Einzelne Ge— wordenes und ſtetig Werdendes. Die Geſellſchaftswiſſen— ſchaften ſuchen, wie aus der Vogelperſpective, auf die Er— ſcheinungen des Privatlebens, auf das bunte Spiel freier Individualkräfte herabzuſehen, einen Ueberblick darüber zu gewinnen, die Maſſeneffekte und die hervortretenden Regel— mäßigkeiten und conſtanten Cauſalzuſammenhänge aufzu— finden. Unter den Faktoren, welche das geſellſchaftliche Leben beſtimmen, iſt zwar auch das ſtaatliche Eingreifen ſelbſt wieder enthalten, und umgekehrt beſtimmen die in der Geſellſchaft vorwaltenden Meinungen, Stimmungen und Intereſſen auch ihrerſeits die Entſcheidungen der Staats— gewalt; ein reines Ausſcheiden iſt niemals möglich, aber darum ſtehen ſich doch Staat und Geſellſchaft wie Bewußtes und Unbewußtes, wie Ordnendes und zu Ordnendes, wie That und Zuſtand, wie gegliederte Einheit und Gruppe von Coordinirtem, wie öffentliches und Privatleben in deut— lich unterſchiedener Stellung gegenüber. Es iſt unzuläßig, die Staats- und Geſellſchaftswiſſenſchaften in einander ein— zuſchachteln, das Eine dem Andern unterzuordnen.

8. Dieſe Unterſcheidung iſt maßgebend für den Begriff der Statiſtik und den Gebrauch ihres Namens. Sie kann nicht Staats- und Geſellſchaftswiſſenſchaft zugleich ſein,

wenn ſie aufhören ſoll, ein unlogiſches Gemiſch und Con— glomerat bunter Notizen und Data darzuſtellen, das den Namen einer Wiſſenſchaft kaum verdient. Sie muß ſich auf die eine oder andere Seite ſtellen. Hiſtoriſch und ety— mologiſch iſt die Statiſtik nun allerdings das empiriſche Wiſſen, deſſen der Statiſta, d. h. der Staatsmann oder der zu einer höheren ſtaatlichen Thätigkeit Berufene außer der Jurisprudenz noch bedarf, eine Zuſammenſtellung von No— tizen, die theils den Staat theils die Geſellſchaft betreffen, ähnlich wie jezt etwa die ſogenannte politiſche Geographie. Aber im Verlauf ihrer Entwicklung wuchs aus dem Be— dürfniß nach exacten Thatſachen jene eigenthümliche Me— thode heraus, durch rationelle Maſſenbeobachtung brauchbare Merkmale der ſocialen Collectivbegriffe in numeriſcher Faſ— ſung zu gewinnen, und die Natur und Tragweite dieſer Methode führt zu einer ſocialen Empiriſtik, einer beſonderen Hilfsdisciplin aller Geſellſchaftswiſſenſchaften, welche die variablen Erſcheinungen des ſocialen Lebens in ihrer quan— titativen Umgrenzung ermittelt und für den Gebrauch der verſchiedenen Wiſſenſchaften vorbereitet. Die Staatenkunde oder Staatenbeſchreibung, welche die Verfaſſung und Ver— waltung der gegenwärtigen Staaten auf Grundlage ihrer geographiſchen, ethnographiſchen, hiſtoriſchen und ſocialen Vorausſezungen darzuſtellen hat, bewahrt neben jener Hilfs— disciplin unabhängig ihren Plaz und ihre Bedeutung. Es fragt ſich nun, welchem von beiden Theilen, der ſocialen Empiriſtik oder der Staatenkunde der Name der Statiſtik zukommen ſoll. Dieß iſt an ſich ein Gegenſtand arbiträrer

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Entſcheidung. Die Staatenkunde hat unzweifelhaft den hiſtoriſchen Rechtstitel für jenen Namen, aber der Sprach— gebrauch hat ſich doch mehr dahin entſchieden, bei Statiſtik an Zählungsergebniſſe zu denken und die Gewinnung und Verarbeitung von ſolchen ein ſtatiſtiſches Verfahren zu nennen, andererſeits aber etwa eine Darſtellung der deut— ſchen Reichsverfaſſung, der preußiſchen Kreisordnung, der ruſſiſchen Agrarinſtitute nicht zur Statiſtik zu rechnen, ſon— dern zum Staatsrecht oder zur Staatenkunde. Es wäre vielleicht beſſer geweſen und hätte mancher Verwirrung vorgebeugt, wenn man jener Methode, Begriffe durch Merk— male von numeriſcher Faſſung zu beſtimmen, den Namen der numeriſchen, ſtatt der ſtatiſtiſchen, der darauf begrün— deten techniſchen Disciplin den Namen der ſocialen Em— piriſtik gegeben, den der Statiſtik dagegen der Staatenkunde gelaſſen hätte, aber es iſt nun einmal anders gegangen und nichts mehr daran zu ändern. Ungenau, aber erträg— lich und erklärlich bleibt es, daß der Sprachgebrauch das Prädikat einer ſtatiſtiſchen Notiz auch auf die Merkmale des Staats, wofern ſolche nur überhaupt einen ziffermäßigen Ausdruck finden, anwendet, alſo z. B. die Budgetſäze, die Militärmacht, zumal da hier geſellſchaftliche und ſtaatliche Factoren in einander greifen, die Steuererträge auf die volkswirthſchaftlichen, die Heeresziffer auf die Bevölkerungs— verhältniſſe zurückweiſen. Ebenſo greifen in dem, was man Schul- oder Criminalſtatiſtik nennt, wo die ſtatiſtiſche Me— thode zur Anwendung kommt, ſtaatliche Inſtitute und ſociale Thatſachen in einander. Die Zahl der Fälle, in welchen

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Geſeze, Vorſchriften wirkſam werden und amtliches Ein- ſchreiten Statt zu finden hat, hängt nicht von dem Staats- willen, ſondern von den variablen Momenten der geſell— ſchaftlichen Zuſtände ab; es characteriſirt nicht den Staat, ſondern das Volk, ob in einem Lande viele oder wenige Fälle von Mord vorkommen, dagegen nicht das Volk, ſon— dern den Staat und deſſen Rechtspflege, ob viele oder wenige der vorgekommenen Fälle zur Unterſuchung, zur Anklage, zur Verurtheilung führen. Dieſes kleine und partielle Uebereinandergreifen der Grenzen hindert nichts an dem Schlußergebniß, daß, was früher zuſammen unter Statiſtik begriffen wurde, in zwei Disciplinen auseinandertritt, die ſociale Empiriſtik oder jezt die Statiſtik, und die Staaten— kunde, und daß jene zu den Geſellſchaftswiſſenſchaften, dieſe zu den Staatswiſſenſchaften im engeren Wortſinn zu ſtellen iſt, während es geſtattet bleiben muß, dieſe beiden Gruppen im Ganzen den Natur-, Rechts-, Geſchichts-, mathematiſchen, philoſophiſchen Wiſſenſchaften als politiſche oder Staats— wiſſenſchaften im weiteren Wortſinn zur Seite zu ſtellen. 9. Die Statiſtik im Sinn einer ſocialen Empiriſtik zerfällt aber ſelbſt wieder in zwei getrennte Disciplinen, in die heuriſtiſche oder techniſche und in die beſchreibende oder demographiſche Statiſtik. Die Aufgabe der erſten iſt es, unter Handhabung ihrer eigenthümlichen Methode die ſocialen Thatſachen zu ermitteln und durch rationelle Be— arbeitung die Ergebniſſe zum Gebrauch der Wiſſenſchaft vorzubereiten. Es iſt dieß die Thätigkeit der ſtatiſtiſchen Bureaus, der Congreſſe, der Fachmänner. Bei den äußeren

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und inneren Schwierigkeiten richtiger Frageſtellungen und Antworten geht hier der praktiſchen Anwendung eine theo— retiſche Methodik theils voran, theils zur Seite.

Neben dieſer fortlaufenden heuriſtiſchen Thätigkeit der ſocialen Obſervatorien, welche die bedeutſamen Thatſachen des geſellſchaftlichen Lebens im Einzelnen erheben und be— arbeiten, beſteht noch das weitere Bedürfniß, den geſammten ſo gewonnenen Stoff zu ordnen und zu einem Bild der Geſellſchaft nach den verſchiedenen Hauptrichtungen ihrer Lebensformen zu verwerthen. Dieß iſt die beſchreibende oder demographiſche Statiſtik. Sie iſt für die ſocialen Wiſſenſchaften, was die Staatenkunde für die politiſchen iſt und liefert das empiriſche Material zu einer ſocialen Biologie. Sie zerfällt ſtofflich in drei Theile. Als Be— völkerungsſtatiſtik behandelt ſie den Perſonalbeſtand, das Gattungs- und Geſchlechtsleben der Geſellſchaft, zeigt deren Gliederung nach Geſchlecht und Lebensalter und Familien— ſtand, die ſtetigen Veränderungen durch Geburten, Sterb— fälle und Wanderungen u. ſ. w. Als öconomiſche oder wirthſchaftliche Statiſtik behandelt ſie die Gliederung der Geſellſchaft nach dem Unterſchied der Wohnpläze, der Stände und Berufsarten, der Agrar-, Gewerbe- und Handelsver— hältniſſe, des Vermögens und Einkommens, der Conſumtion. Als Kulturſtatiſtik hat ſie die Erſcheinungen des intellec— tuellen, ſittlichen und religiöſen Lebens zu ihrem Gegen— ſtand. Das durch die techniſche Statiſtik gewonnene Ma— terial bildet die Grundlage der Darſtellung, womit jedoch die Beiziehung von Lehrſäzen aus der Bevölkerungstheorie,

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der Nationalöconomie, der jocialen Ethik oder bedeutſamer geſchichtlicher Thatſachen nicht ausgeſchloſſen ſein kann. Dieſe beſchreibende Statiſtik eignet ſich zu zuſammenhän— genden wiſſenſchaftlichen Darſtellungen, wie für die Be— völkerungsſtatiſtik das Werk von Wappaeus ein claſſiſches Muſter iſt, ſowie vor allem andern zum Gegenſtand aka— demiſcher Vorträge. Sie iſt neben der Nationalökonomie das wichtigſte propädeutiſche Fach für die Verwaltungslehre.

10. Wohl iſt die Staatenkunde in ähnlicher Weiſe eine unentbehrliche Hilfsdisciplin für die Staatswiſſenſchaften, wie die Statiſtik für die ſocialen und ſtellt den empiriſchen Stoff für die wiſſenſchaftliche Verwerthung zuſammen. Dennoch kommt ſie der Statiſtik an Bedeutung nicht gleich; ſie ſchafft ihren empiriſchen Stoff nicht ſelbſt, ſondern ſam— melt und entlehnt ihn von andern Disciplinen. Sie iſt mehr ein Wiſſen als eine Wiſſenſchaft. Sie ſtellt aus dem poſitiven Staatsrecht der einzelnen Länder, aus Geographie, Geſchichte, Ethnographie und Statiſtik ein zuſammenhängen— des Bild des Staatenſyſtems der Gegenwart, zunächſt des europäiſchen, zuſammen, theils für die theoretiſchen Zwecke der politiſchen Wiſſenſchaften, theils für den praktiſchen Dienſt der zu ſtaatlicher Wirkſamkeit Berufenen und aller Gebildeten. Heutzutage aber, wo zu ſolchem Wirken im Staat Alle berufen ſind, iſt der Werth einer unbefangenen und objectiven Kenntnißnahme von den Staatszuſtänden der Gegenwart nicht hoch genug anzuſchlagen. Ihrem wiſſen— ſchaftlichen Charakter nach gehört dieſe Staatenkunde zu den hiſtoriſchen Disciplinen. Sie ſchildert die Gegenwart in

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gleicher Weiſe und nach gleichen Grundſäzen, wie der Hi— ſtoriker da, wo er nicht erzählt, ſondern ein Geſammtbild einer Zeit oder eines Volkes zu zeichnen hat, Vergangenes darſtellt. Der Werth der Behandlung des Faches liegt in dem Maaß, in welchem die Eigenſchaften des ächten Hiſto— rikers dabei zu Tag treten, die zerſtreuten Data verſchie— denſter Art ſich zu einem lebendigen Ganzen von innerer Verſtändlichkeit geſtalten.

Dieſe Staatenkunde hat nun freilich eine Art von Doppelgänger, der ſie entbehrlich ſcheinen laſſen könnte, an der politiſchen Geographie. Dieſe wird vielfach in den Compendien ſo behandelt, daß ein principieller Unterſchied von jener Staatenkunde kaum aufzufinden wäre. Nur wird man ſagen müſſen: Die Geographie überſchreitet eigentlich die Grenzen, die ihr Name und Begriff ihr anweiſt, wenn ſie Staatseinrichtungen ſchildert. Sie darf ihren Ausgangspunkt, das Land, nicht gänzlich verlaſſen; der Einfluß des Landes auf das geſellſchaftliche und politiſche Leben ſeiner Bewohner wäre das eigentliche Thema einer politiſchen Geographie. Sobald ſie ſich mit Verlaſſung aller geographiſchen Geſichtspunkte auf die geſammte Thätig— keit der innerhalb eines Gebiets wohnenden Menſchen ein— läßt, hat ſie gegenüber von Geſchichte, von Staats- und Socialwiſſenſchaften keine aufzeigbare Grenze mehr. Allein wenn auch die Theorie an dieſen Annexionen der Geogra— phie Anſtoß nehmen mag, praktiſch ſind dieſelben nur ein Zeugniß für die Bedeutung und Unentbehrlichkeit dieſer Wiſſensſtoffe für Jedermann. Es iſt ein praktiſches In—

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tereſſe, aus welchem die Compendien der Geographie die wichtigſten Data der Staatenkunde in ihren Bereich mit hin— überziehen, und es iſt wünſchenswerth, daß nützliche Kennt— niſſe in allen Formen Verbreitung finden, aber von einem Competenzconfliet kann ernſtlicher Weiſe nicht die Rede ſein.

Diejenigen, welche auf den geſchichtlichen Gang der Sache geſtüzt, auf den Namen Statiſtik auch für die Staaten— kunde nicht zu verzichten geneigt ſind, müßten ſich wenigſtens die Unterſcheidung einer ſocialen und einer politiſchen Sta— tiſtik gefallen laſſen, und das was oben als heuriſtiſche und beſchreibende Statiſtik bezeichnet wurde, zur ſocialen Statiſtik rechnen, die Staatenkunde aber als politiſche Sta— tiſtik bezeichnen. Im Intereſſe der Vereinfachung und Klar— ſtellung der wiſſenſchaftlichen Namen und Begriffe iſt jedoch ein ſolcher Sprachgebrauch nicht empfehlenswerth, wenn auch nicht gerade unbedingt verwerflich.

Ueber den Begriff und die Dauer einer Generation.

Der Begriff der Generation gehört der Bevölkerungs— lehre und Statiſtik an, die bis jezt, ſo viel mir bekannt iſt, ſich nicht um denſelben bekümmert haben, obſchon es ſich vielleicht der Mühe wohl verlohnen dürfte.

Schon der Sprachgebrauch iſt ſchwankend und irre— führend. Wir legen dem Wort offenbar ganz verſchiedene Bedeutungen bei. Wenn Jemand ſagt: die jezige Gene— ration wird es wohl nicht erleben, daß man in Luftballonen nach Amerika reist oder daß das Kreuz auf der Aja Sofia aufgerichtet wird, ſo verſteht er unter Generation die Ge— ſammtheit aller jezt lebenden Menſchen. Wenn ich aber ſage: der 30jährige Krieg liegt (erſt oder ſchon) um acht Generationen hinter uns, ſo ſoll das heißen, die jezt Leben— den müſſen in der Reihe ihrer Ascendenten etwa bis zum achten Grade hinaufſteigen, um zu einem Zeitgenoſſen des 30jährigen Kriegs zu gelangen. Generation heißt hier Zeugung und wird als Zeitmaaß gebraucht, um den Altersabſtand zwiſchen Erzeugern und Erzeugten aus— zudrücken. Jeder iſt von ſeinem Vater oder ſeinem Kinde um Eine, von ſeinem Großvater oder Enkel um zwei Gene—

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rationen entfernt. Im erſten, obigen Wortſinn lebt ſtets gleichzeitig nur Eine Generation, im zweiten dagegen leben immer zwei, theilweiſe aber auch drei und vier Generationen gleichzeitig neben einander. Nur in dieſer lezteren Faſſung läßt der Begriff eine ſtatiſtiſche Behandlung und Beleuch— tung zu. Als Synonym von noch etwas vagerer Bedeu— tung gebrauchen wir auch den Ausdruck Menſchenalter, der dann wieder in den Begriff der mittleren Lebensdauer hinüberſpielt.

Wir begegnen dem Begriff der Generation ſchon im frühen Alterthum. In Ermanglung von Kalendern und feſten Zeitrechnungen dienten die Geſchlechtstafeln als Zeit— maaß. Es iſt intereſſant, daß das griechiſche Wort 78e ſchon in demſelben Doppelſinn gebraucht wird, wie bei uns die Generation. Wenn Jeſus, von ſeiner Wiederkunft redend, jagt (Matth. 24, 34): wahrlich ich ſage euch, dieß Geſchlecht wird nicht vergehen bis dieß Alles geſchehe, ſo verſteht er unter „dieſem Gejchlecht” e even die Geſammtheit aller ſeiner Zeitgenoſſen und will erklären, daß unter den jezt Lebenden ſolche ſeien, die das noch erleben werden, was er vorausſagt.

Wer denkt andererſeits nicht an Neſtor, den alten Zecher, der drei Menſchenalter ſah? Die Stelle bei Homer Iliad. I, 250 lautet bei Voß:

Dieſem waren ſchon zwei der redenden Menſchengeſchlechter Abgewelkt, die vordem ihm zugleich aufwuchſen und lebten Dort in der heiligen Pylos, und jezt das dritte beherrſcht er.

Es iſt nicht ganz leicht zu ſagen, was eigentlich damit gemeint ſein ſollte. Die den Worten zunächſt liegende Vor—

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ſtellung, daß Jemand zum drittenmal jeine ganze Zeitge— noſſenſchaft erneuert, daß zweimal alle gleichzeitig Lebenden neben ihm wegſterben und ihn allein übrig laſſen, iſt aben— theuerlich und unvollziehbar, da der Gang einer Bevölke— rung mit Abſterben und Erneurung etwas Continuirliches und ohne Ein- oder Abſchnitte iſt. Die Generationen folgen einander nicht, wie Wachpoſten oder Stationen, die ſich ablöſen; es läßt ſich niemals ein Moment bezeichnen oder denken, wo die eine aufhört und die andere beginnt. Blos drei Generationen zu ſehen wäre dagegen gar nichts Beſonderes. Denn Jeder, der in ſeiner Jugend einen Großvater hat und im Alter ein ſolcher wird, ſieht fünf Generationen ſeines eigenen Geſchlechts; ja es iſt dieß eigentlich der normale Fall. Der natürliche und beſte Sinn der Homeriſchen Worte wäre wohl: Die Krieger, die Neſtor vor Troja geführt hat, ſind ſchon die Enkel der Männer, mit welchen er einſt ins Feld gezogen war. Um dieß zu leiſten, mußte er noch nicht gerade 100 Jahre alt ſein; auch SO würden genügen, wenn wir uns die Krieger als durchſchnittlich etwa dreißigjährige denken. In einem wildheroiſchen, fehdereichen Zeitalter iſt es für den Mann und Krieger ſchwer, unverſehrt und rüſtig ein hohes Alter zu erreichen, wie noch heute unter den Wilden alte Männer ſelten ſind. Es mochte immerhin auch von Neſtors Männern der eine oder andere zu Hauſe einen Vater, vielleicht ſogar einen Großvater haben, aber dieſe konnten nicht mehr ins Feld rücken, ſie zählten nicht mehr zu dem activen Beſtande des Volkes, ſie gelten mit den Geſtorbenen als Hingeſchwundene.

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Für Herodot iſt die 54 oder Generation ein ganz geläufiger Begriff. Die egyptiſchen Prieſter weiſen ihm eine Reihe von 341 Königen auf, und er berechnet daraus, da drei Generationen 100 Jahre ausmachen, einen Zeit— raum von 11340 Jahren. Auch an andern Stellen nimmt er 33 Jahre als die Dauer einer Generation an. Es iſt freilich dabei die falſche Vorausſezung, daß je ein König eine Generation vertrete, da, abgeſehen von Dynaſtiewechſel und Umwälzungen, auch der Bruder dem Bruder oder gar der Oheim dem Neffen, wie andererſeits der Enkel dem Großvater nachfolgen kann. Ueberdieß kommt bei Königs— reihen in der Regel nur der Altersabſtand zwiſchen dem Vater und dem Erſtgeborenen ſeiner Söhne in Betracht.

Aber wie ſteht es überhaupt mit dieſem Herodotiſchen, auch ſonſt vielfach nachgeſprochenen Saz, daß die' Dauer einer Generation ein Drittheil eines Jahrhunderts oder 33½ Jahre betrage? Iſt eine Generation wirklich eine beſtimmte Zeitgröße, iſt ſie eine conſtante oder eine variable und wenn lezteres der Fall iſt, woran liegt es und was liegt daran, ob die Generationen kürzer oder länger ſind? und welche Mittel ſtehen der Statiſtik zu Gebot, um auf dieſe Frage eine Antwort zu geben?

Der ſtatiſtiſche Ausdruck für die Generation als Zeit⸗ maaß wäre die durchſchnittliche Altersdifferenz zwiſchen Vätern und Kindern für eine gegebene Zeitperiode. Ich ſage abſichtlich nicht: zwiſchen Eltern und Kindern, und aus Gründen praktiſcher Zweckmäßigkeit auch nicht: zwiſchen Vätern und Söhnen. Die Altersdifferenz zwiſchen Müttern

und Kindern wäre wieder eine Aufgabe für ſich, aber das Intereſſe daran, da nun einmal die Männer das leitende und herrſchende Geſchlecht ſind, von untergeordneter Be— deutung. Dagegen zwiſchen dem väterlichen und mütter— lichen Alter die Mitte nehmen und damit das Alter der Kinder vergleichen, würde die Aufgabe außerordentlich com— pliciren und ſchließlich doch nur auf einer werthloſen Fie— tion beruhen.

Das nächſtliegende und wirkſamſte Mittel, die Alters— differenz zwiſchen Vätern und Kindern zu finden, wäre die directe Aufnahme, indem man aus Anlaß einer Zählung von einer ganzen Bevölkerung oder wenigſtens bei einem großen Theile neben dem Alter des einzelnen Individuums auch das ſeines Vaters ermittelte und aus den ſo gewon— nenen Zahlen den Durchſchnitt, die Ziffer des mittleren Menſchen ſuchte. Dieß iſt noch niemals geſchehen und wird aus vielen Gründen auch ſchwerlich bald verſucht werden.

Man wird daher immer auf indirekte Mittel, auf das Surrogat von Schäzungen und Combinationen, von Schlüſſen aus einer größeren oder kleineren Anzahl von Beiſpielen angewieſen bleiben.

Die ganze Frage läßt ſich übrigens nur auf dem Boden der monogamiſchen Sitte der civiliſirten Völker be— handeln. Wo Polygamie und Sclaverei neben ſehr früher Pubertät beſtehen, wo die Kinder Eines Mannes im Alter bis zu 50 Jahren von einander entfernt ſein können, da verſchieben und verſchlingen ſich die Generationen in einer

Rümebhin, Reden u. Aufſätze. 19

Weiſe, die ſich nicht mehr verfolgen läßt und zugleich kein Intereſſe mehr bietet.

Es iſt einleuchtend, daß die Dauer der Generationen von zwei Factoren abhängt, einmal ob die Männer früh oder ſpät zur Heirath gelangen, ſodann ob die Periode der Fruchtbarkeit der Ehen von kürzerer oder längerer Dauer iſt, und beide Momente greifen wieder inſoweit ineinander, als bei frühen Ehen die Wahrſcheinlichkeit für eine längere Dauer der Fruchtbarkeit ſpricht. Der Altersabſtand des Vaters und der Kinder iſt weder nach dem erſtgeborenen noch nach dem jüngſten, ſondern nach dem Durchſchnitts— alter der Kinder zu berechnen, wofür bei Ermanglung der Detailangaben die halbe Differenz zwiſchen dem älteſten und jüngſten der Kinder zu nehmen iſt. Der ſtatiſtiſche Ausdruck oder das ſtatiſtiſche Aequivalent für die Dauer einer Generation iſt ſomit das durchſchnittliche Heiraths— alter der Männer plus der halben Dauer der durchſchnitt— lichen Fruchtbarkeit der Ehen. |

Aber auch die jo geitellte Frage vermag die Statiſtik zur Zeit nur mit ſehr ungenügenden Mitteln anzufaſſen, da weder über das Durchſchnittsalter der heirathenden Männer noch über die Dauer der ehelichen Fruchtbarkeit Aufnahmen und zureichende Notizen gegeben find.

Es liegen keine Thatſachen vor, welche uns berechtigen innerhalb des Gebiets chriſtlich europäiſcher Geſittung eine Verſchiedenheit der Völker hinſichtlich der Neigung zur Ver— heirathung anzunehmen. Die Frequenz der Heirathen, wie deren Frühzeitigkeit hängt nicht vom Wollen, ſondern vom

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Können ab, nur daß in Betreff der phyſiſchen Bedingungen, des Eintritts der Pubertät zwiſchen den Ländern der ſüd— lich und der nördlich gemäßigten Zone einiger Unterſchied beſteht. Das Entſcheidende liegt in den wirthſchaftlichen Bedingungen. Wo es leicht iſt, einen häuslichen Heerd zu gründen und eine Familie zu ernähren, wird früh ge— heirathet, wo es ſchwer iſt, ſpät; dort bleiben wenige Männer ehelos, hier viele. Die günſtigſten Bedingungen ſind, wo fruchtbarer Boden noch im Ueberfluß vorhanden, die Arbeit geſucht und lohnend, der Unterhalt leicht zu ge— winnen iſt, wie in Rußland, den Agrarſtaaten des mittleren Unionsgebiets, Canada, Auſtralien. Hier heirathen die meiſten Männer ſchon in der erſten Hälfte der zwanziger Jahre und der Kinderſegen wird nicht geſcheut, zumal auf den Gebieten der germaniſchen Race. Das entgegengeſezte Ende bilden die Gebiete, wo die freie Niederlaſſung, ſei es rechtlich oder ſachlich, eingeſchränkt iſt, wo in der Landwirth— ſchaft oder im Gewerbe Vacaturen abzuwarten ſind, nament— lich die Gegenden der bäuerlichen Hofwirthſchaft, wo ein Sohn auf den Tod oder Rücktritt des Vaters zu warten hat, die übrigen ſich die Bedingungen der Verehelichung vorher durch Arbeit ſichern müſſen. Im würtembergiſchen Oberſchwaben iſt in den Bezirken der bäuerlichen Hofwirth— ſchaft noch von den 35jährigen Männern die größere Hälfte unverheirathet. Aehnliche Verhältniſſe ſind in Altbayern, Oberöſtreich, Weſtphalen, Hannover u. ſ. w. Das durch— ſchnittliche Alter der Verheirathung rückt hier bis in die

Mitte der dreißiger Jahre hinaus. 19 *

Zwiſchen dieſen beiden, um etwa 10 Jahre auseinan— der liegenden Grenzen bewegen ſich nun in zahlreichen Ab— ſtufungen die mittleren Verhältniſſe der meiſten europäiſchen Völker, wo bei vollkommen occupirtem Boden und dichterer Bevölkerung, aber bei freierer Bewegung dem jungen Mann eine etwas kürzere oder längere Wartezeit bis zur Grün— dung eines eigenen Familienlebens auferlegt iſt. Für Eng— land wird das durchſchnittliche Heirathsalter der Männer zu 28 Jahren angegeben, für Frankreich zu 30, für Belgien zu 32. Für Deutſchland dürfte im Ganzen auch die Zahl von 30 Jahren anzunehmen ſein; für Würtemberg und Bayern iſt ſie nicht unter 32 Jahren zu ſezen; für Preußen und Sachſen ſteht ſie wahrſcheinlich unter 30 Jahren. Es ſind jedoch hier überall die Ehen der Wittwer mitgerechnet; wenn es ſich blos um erſte Ehen handelt, wären ſämmt— liche Ziffern etwa um 1 —2 Jahre niedriger zu ſezen. Für Norwegen haben wir die Ziffer von 30,38, für Nieder— lande von 31,25 Jahren, jo daß wir im Ganzen als mit— teleuropäiſches Durchſchnittsalter der heirathenden Männer 30 Jahre annehmen dürfen.

Da die Generation jedoch nicht allein durch die Alters— differenz zwiſchen den Vätern und den älteſten, ſondern zwiſchen den Vätern und allen Kindern beſtimmt wird, ſo handelt es ſich nun weiter darum, den mittleren Alters— unterſchied zwiſchen den älteſten und jüngſten Geſchwiſtern oder was dasſelbe iſt, die mittlere Dauer der Fruchtbarkeit der Ehen zu beſtimmen.

Hier laſſen uns nun die bisherigen Mittel der Statiſtik

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ganz im Stich; ich habe wenigſtens nirgends Angaben darüber zu finden vermocht, und, da der Gegenſtand auch abgeſehen von der Aufgabe, die Länge der Generationen zu finden, Intereſſe bietet, ſo ſuchte ich wenigſtens an einer anſehnlichen Zahl von Beiſpielen feſte Anhaltspunkte zu gewinnen.

Die Würtembergiſchen Familienregiſter enthalten die hiezu erforderlichen Notizen vollſtändig. Unter Weglaſſung der kinderloſen, ſowie derjenigen Ehen, bei welchen die Kindererzeugung nicht als abgeſchloſſen betrachtet werden konnte, zählte ich 500 Ehen aus dem Tübinger Familien— regiſter durch.

Die Fruchtbarkeit der Ehen nach der Zeit, die zwiſchen der Trauung und der Geburt des lezten Kindes liegt, be— rechnet, kamen auf jene 500 Ehen 6107 Jahre der Frucht— barkeit, auf Eine Ehe alſo durchſchnittlich 12,2 Jahre. Und zwar betrug die Dauer der Fruchtbarkeit bei

74 Ehen = 14,8% der gezählten Ehen 1—5 Jahre

1 29 mt —— 2 5, 3 0% 5 " 6—1 0 7

136 5 27,2% 7 7 5 " BE Er , 5 h e 1 H von 21 bis 28 J.

In dieſen 500 Ehen wurden 3008 Kinder geboren, alſo auf eine fruchtbare Ehe 6,01. Die kinderloſen Ehen berechnete ich zu /7 oder 14—15% aller Ehen 83). Die

) Es mußten, um in einem alphabetiſch geordneten Regiſter bis zu 500 zählbaren Ehen zu gelangen, 69 kinderloſe Ehen übergangen werden; mit deren Zurechnung ergiebt ſich eine mittlere Fruchtbarkeit der Ehen von 5,29 Kindern.

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Tübinger Bevölkerung beſteht größtentheils aus Wein— gärtnern und kleinen Handwerkern, bei welchen neben enormer Kinderſterblichkeit ſehr kinderreiche Ehen die Regel bilden. 10-12 Kinder, wovon zwei Drittheile wieder als— bald wegſterben, ſind ſehr häufig. Ich fand z. B. eine Ehe, in welcher 16 Kinder geboren wurden, von denen Eines erwachſen wurde, und ein zweites 5 Jahre alt wurde; die 14 andern ſtarben im erſten Lebensjahr, meiſt in den erſten Monaten und Wochen. Ein Mann, der zweimal verheirathet war, hatte 19 Kinder, von denen das älteſte und jüngſte um 44 Jahre im Alter auseinander waren.

Nach den gleichen Grundſäzen gieng ich den gothaiſchen gencalogiſchen Kalender durch und fand hier 264 Ehen, deren Fruchtbarkeitsdauer im Ganzen 3306 Jahre aus— machte, ſomit 12,5 Jahre auf Eine Ehe, eine von der obigen nur wenig abweichende Zahl. Es waren darunter 37 Ehen = 14% mit einer Fruchtbarkeitsperiode v. 1—5 J.

Gies 1 6-10 e,, 2 re 5 „11-15 Sr ee 5 16—20 14... 580, , 1 „21—25

Die Kinderzahl ließ ſich nicht vergleichen, weil nur die lebenden aufgezählt ſind; ſie iſt aber ohne Zweifel kleiner als die oben für die Stadt Tübingen genannte.

Der Grund, warum gleichwohl die Dauer der Frucht— barkeit noch eine etwas größere iſt, dürfte darin zu ſuchen ſein, daß in den hier in Betracht kommenden geſellſchaft— lichen Kreiſen die Männer, wenn ſie überhaupt heirathen,

früh zu heirathen pflegen, da das Zuwarten an den öco— nomiſchen und ſonſtigen Bedingungen nicht mehr leicht etwas ändern kann.

Die Uebereinſtimmung der Ergebniſſe aus zwei ſo ver— ſchiedenen Lebenskreiſen iſt jedenfalls von Werth und In— tereſſe und macht es wahrſcheinlich, daß mit der Ziffer 12 ein allgemeinerer Durchſchnitt wenigſtens annähernd ge— troffen iſt. Für England, wo die Männer um 2—3 Jahre früher heirathen als in Deutſchland und Frankreich und großer Kinderſegen herrſcht, dürfte der Durchſchnitt für die Dauer der ehelichen Fruchtbarkeit auf 13— 14 Jahre zu erhöhen, für Frankreich, wo im Durchſchnitt nicht über 3 Kinder auf die Ehe kommen, auf 7—8 Jahre zu erniedrigen ſein. Höher als 14, niedriger als 7—S iſt die Ziffer ſchwerlich irgendwo.

Es wären hienach die beiden Elemente, um die Dauer einer Generation zu beſtimmen, beiſammen; die oben an— gegebene Formel, durchſchnittliches Heirathsalter der Männer plus der halben Dauer der mittleren ehelichen Fruchtbarkeit erfordert jedoch noch eine kleine Modification. Es war aus praktiſchen Gründen nicht wohl anders möglich, die Dauer der ehelichen Fruchtbarkeit zu beſtimmen, als durch die Meſſung des Zeitraums von der Trauung bis zur Geburt des lezten Kindes. Eigentlich handelt es ſich aber um die Altersdifferenz zwiſchen den älteſten und jüngſten Kindern derſelben Ehe. Die Geburt des älteſten Kindes fällt der Regel nach erſt auf den Schluß des erſten Jahres nach der Trauung; wenn die eheliche Fruchtbarkeit eine

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Periode von 12 Jahren umfaßt, ſo wird die Altersdifferenz des älteſten und jüngſten Kindes durchſchnittlich nur 11 Jahre betragen. Man muß demnach dieß Eine, erſte Jahr der Ehe noch dem Heirathsalter hinzufügen und von der Dauer der ehelichen Fruchtbarkeit für den vorliegenden Zweck, die Altersdifferenz zwiſchen Geſchwiſtern zu finden, in Abzug bringen.

So wäre demnach die geſuchte Größe für Deutſchland 30 Jahre + ! + e, oder 36 Jahre, für England etwa 28 + 1 + / = 35½, für Frankreich 30 14. 2 34½. Für die kinderreichen Länder mit früher Ver— heirathung, wie das Unionsgebiet, Rußland, Auſtralien würden ſich etwa die Zahlen 25 +1 + % 32½, für die Gebiete erſchwerter Niederlaſſung, der untheilbaren Hofgüter mit kleiner Kinderzahl die Ziffern 34 1 2 59 ergeben, und die Dauer einer Generation wird ohne Zweifel bei allen Völkern der gemäßigten Zone mit mono— gamiſcher Sitte weder die Grenze von 32 Jahren nach unten, noch von 39 Jahren nach oben im mittleren Durch— ſchnitt überſchreiten, für die Gegenwart aber und die mitteleuropäiſchen Verhältniſſe zu 35—36 Jahren anzu— nehmen ſein.

Herodot hat mit ſeinen 33 ½ Jahren für die dortigen und damaligen Verhältniſſe, für die Freien und das ſüd— liche Clima, ſehr wahrſcheinlich ganz das Richtige getroffen, für uns und jezt iſt ſeine Zahl um 2—3 Jahre zu niedrig. Ich vermuthe, daß er auch dieſen Maßſtab von den egyptiſchen Prieſtern empfieng, die in Genealogieen wohl bewandert

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waren und durch die Wahrnehmung geleitet ſein mochten, daß der Regel nach zwiſchen der Geburt des Urgroßvaters und des Urenkels ein Zeitraum von ungefähr 100 Jahren liegt, ſomit das Jahrhundert drei Generationen umfaßt. Ein falſcher Sinn wird aber mit dieſem Ausdruck verbun— den, wenn man, wie häufig die Meinung iſt, glaubt, daß binnen eines Jahrhunderts drei Generationen geboren werden und ſterben. Vielmehr wird in den normalen Fällen ſchon der Zeitraum von der Geburt des Vaters bis zum Tode des Sohnes ein Jahrhundert füllen, z. B. wenn der Sohn 70 Jahre alt wird und der Vater bei der Geburt des Sohnes 30 Jahre zählte, mag er dann nach— her noch kürzer oder länger gelebt haben.

Zur Ergänzung und Illuſtration des Bisherigen mögen noch einige geſchichtliche Data dienen.

Die Königin Victoria ſtammt in direct aufſteigender Linie im söten Grade von Wilhelm dem Eroberer, der 506 Jahre vor ihr geboren iſt; die Länge einer Generation iſt ſomit 32,2 Jahre. Die Zahl der regierenden Könige von England aber betrug 34, die durchſchnittliche Regierungs- zeit 23,7 Jahre. Ebenſo ſind es genau 25 Generationen bis zu einem andern ihrer Ahnherrn, dem mit Wilhelm dem Eroberer gleichzeitigen Azzo von Eſte, dem Stamm— vater des Welf-Eſte'ſchen Hauſes und Urgroßvater Hein— richs des Löwen.

Der Graf von Chambord, geb. 1820, iſt von Hugo Capet, dem Stammvater des franzöſiſchen Königshauſes, (der 998 ſtarb und etwa 930 geboren ſein mag) um 27

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Generationen entfernt, während 34 Könige über Frankreich regierten, und es kommen auf eine Generation im Durch— ſchnitt 33 Jahre, auf die Regierungszeit eines Königs 26 Jahre.

Von Franz Joſeph bis Rudolf von Habsburg ſind 15 Generationen zu 32,8 Jahren, von Kaiſer Wilhelm bis auf den Burggrafen Friedrich von Hohenzollern 14 zu 32 Jahren, von Ludwig II. von Baiern bis Otto von Wittelsbach 22 Geſchlechter zu 32 Jahren, von König Karl von Würteuberg bis zu Ulrich dem Stifter 18 Generationen zu 34 Jahren. König Albert von Sachſen iſt 12 Gene— rationen zu 32 Jahren von Herzog Albert, dem Stifter der albertiniſchen Linie und 30 Generationen zu ebenfalls 32 Jahren von dem Landgrafen Burkhard von Thäringen (892— 908) entfernt. Von Michael Romanow auf Kaiſer Alexander II. ſind 7 Generationen zu nur 31% Jahren, da hier in der jung verſtorbenen Anna Petrowna ein weib— liches Zwiſchenglied eintritt. Von Alexander bis zu dem älte— ſten Oldenburgiſchen Stammherrn Elimar (reg. 1108-1143) ſind 22 Generationen zu 33 Jahren. Ebenſo iſt der Durch— ſchnitt in der Reihe von Victor Emanuel bis zu dem erſten Grafen von Savoien Berthold ums Jahr 1000 (26 Ge— nerationen). Den genealogiſchen Geſchichtstabellen von Hopf und Hübner, aus welchen dieſe Gelehrſamkeit ge— ſchöpft iſt, läßt ſich ohne viel Mühe noch eine Unzahl ähn— licher Beiſpiele entnehmen.

Die Ergebniſſe ſind ſowohl unter ſich als mit den obigen Ausführungen übereinſtimmend. Denn es iſt ganz

der Natur der Sache entſprechend, daß bei fürjtlichen Dy— naſtieen, wo nur die Altersdifferenz zwiſchen dem Vater und dem älteſten der Söhne, nicht allen Kindern in Frage kommt, der Abſtand um einige Jahre niedriger erſcheint, als im Maſſendurchſchnitt. Auch pflegen Prinzen und Thron— folger früh zu heirathen. Die Ziffern müßten noch etwas niedriger ſein, wenn nicht im Lauf der Jahrhunderte immer auch wieder ein Ueberſpringen der Succeſſion auf die jün— geren Linien Statt fände. Daß dieſer Fall bei Würtem— berg häufiger eintrat, iſt wohl der Grund, daß hier die Generationendauer die höchſte Ziffer erreichte, während um— gekehrt das mehrfache Einrücken weiblicher Linien in die Reihe wie bei England eine Verkürzung der Generations— dauer veranlaßt, da ſie ein jüngeres Heirathsalter haben.

Wenn man die Geſchlechtsregiſter bürgerlicher Familien verfolgt, z. B. an der Hand des Werkes von Faber über die Würtembergiſchen Familienſtiftungen, ſo wird man zwar große Mannigfaltigkeit der Verhältniſſe finden, aber doch bald zu dem Hauptreſultat gelangen, daß wenn man nur in der Reihe der älteſten Söhne aufſteigt, die Generation 30—32 Jahre, wenn man die Linie der jüngſten Söhne feſthält, die Generation gegen 40 Jahre beträgt, der mittlere Durchſchnitt aber ſich um 35—36 Jahre bewegt. In der weiblichen Linie ſind die Generationen um etwa 2—4 Jahre kürzer, freilich auch mit zahlreichen Variationen. Uebrigens gehen alle dieſe Notizen nur ſelten über 200 Jahre zurück. Es drängte ſich bei den geſammelten Beiſpielen auch die Bemerkung auf, daß vom Anfang dieſes Jahrhunderts an

300

rückwärts die Männer in den Mittelklaſſen früher gehei— rathet haben, als jezt, und daß das mittlere Verheirathungs— alter der Männer für erſte Ehen in dieſen Ständen im vorigen Jahrhundert ſchwerlich mehr als 25 Jahre betragen hat, ſomit für Würtemberg, auf das ſich die Notizen be— ziehen, ſeitdem ungefähr um 5—6 Jahre geſtiegen ſein würde.

Es bleibt nun noch die Frage übrig: wozu dieſe ganze Unterſuchung, welchen Werth und welche Bedeutung hat überhaupt der Begriff und die Dauer der Generation, was liegt daran und iſt daraus zu erſehen, ob dieſe Dauer kürzer oder länger iſt?

Ich glaube, daß auch der Begriff der Generation zu den der Bevölkerungsſtatiſtik eigenthümlichen Formen und Mitteln gehört, die ſocialen Zuſtände der Völker zu charac— teriſiren und unter einander zu vergleichen.

Die jungen, aufſtrebenden, in raſcher Entwicklung und ſchnellem Wachsthum der Zahl begriffenen Völker haben kurze Generationen. Die jungen Männer gelangen früh zur eigenen Erwerbsfähigkeit und Gründung eines Haus- ſtandes, während ihre Väter ſelbſt noch im kräftigſten Alter ſtehen. Das elterliche Erbe und Vermögen iſt in ferner Ausſicht und Jeder iſt auf ſeine eigene Arbeit und Thätig— keit angewieſen. Das junge Geſchlecht macht ſich früher, kräftiger und in größerer Anzahl geltend im Staat und in der Gemeinde, in den wirthſchaftlichen wie in den geiſtigen Gebieten. Es findet ein raſcherer Umſaz auch in der Ideen— welt ſtatt. Jugendliche, ideale, radicale Anſichten und Be—

ſtrebungen drängen ſich mit Ungeſtüm und nicht ohne Er— folg vor. Die jungen Männer ſind bei raſcher Volksver— mehrung nicht blos um ſoviel zahlreicher als die älteren, als ſie noch weniger durch den Tod gelichtet ſind, ſondern auch weil ſie ſchon aus viel ſtärkeren Geburtsklaſſen ſtammen. Ihre Stimmen legen in allen Dingen ein großes Gewicht in die Wagſchaale.

Es iſt wohl denkbar, daß einer ſolchen Neigung zu rapider und ſich überſtürzender Entwicklung andere Factoren die Wage halten, z. B. in China, wo frühe Heirathen und kurze Generationen herrſchen, wo, wie man ſagt, die Männer, die mit 20 Jahren noch ehelos ſind, ſich darüber vor der Obrigkeit zu rechtfertigen haben, aber die enorme Ausdeh— nung und unbegrenzte Dauer der elterlichen Gewalt und die ſonſtigen Bürgſchaften der Stabilität gegenüberſtehen. Darum iſt jene Tendenz aber doch in der Natur der Sache begründet; ſie wird den freieſten Spielraum finden in Colonialländern gebildeter Völker, ſei es denen der Griechen oder Römer oder der Engländer und Spanier, vor Allem bei republicaniſchen Staatseinrichtungen. Die Colonien ſind immer raſchlebiger als die Mutterſtaaten, ſei es auf— wärts oder abwärts.

Alles dieß verhält ſich anders bei den alten gereiften Völkern mit vollſtändig angebautem Boden und beengterem Nahrungsſtand, mit größeren und complicirteren Bedürf— niſſen. Die Männer gelangen ſpäter, nach längerer Vor— bildung und Dienſtbarkeit zur wirthſchaftlichen Selbſtändig— keit und Gründung des eigenen Heerdes. Der Schwerpunkt

302 für die Entwicklung des politiſchen, wirthſchaftlichen und geiſtigen Lebens liegt in den mittleren Altersklaſſen. Jeder Fortſchritt vollzieht ſich unter größeren Schwierigkeiten und Kämpfen; in langſamem und ſtetigem Gang brechen ſich die Veränderungen in der Geſellſchaft ihre Bahn, und auf jeden Erfolg treten wieder Hemmungen und Rückſchläge ein. Und alles dieß hängt aufs Innigſte damit zuſammen, daß die Söhne nicht neben den Vätern, ſondern erſt nach ihnen zu Einfluß und maßgebender Stellung gelangen können, daß die Generationen weiter aus einander liegen.

Man könnte vielleicht denken, eine Differenz von höchſtens S—10 Jahren in der Dauer der Generationen könne keine ſo große Wirkung haben, aber ſie reicht doch gerade hin, die eingreifendſten Verſchiedenheiten zu begrün— den. Wenn das Leben des Menſchen nach dem bekannten Bibelſpruch 70 Jahre währet und die Altersdifferenz zwiſchen Vätern und Kindern im Durchſchnitt 35—36 Jahre beträgt, ſo haben kaum zwei volle Generationen neben einander zu leben. Wenn die Kinder den Vätern nur um 28— 30 Jahre im Alter nachſtehen, jo läßt die Lebensgrenze von 70 Jahren für Generationen Raum. Hier wird eine mannig— fachere geiſtige Berührung und Reibung der verſchiedenen Altersklaſſen Plaz greifen. Es werden verhältnißmäßig viele und bis in die ſpäteren Jugendjahre das Glück eines großelterlichen Hauſes genießen, im andern Fall wenigere und der Regel nach nur für die erſten Kinderjahre. Es iſt nicht ohne Bedeutung, wenn dem heranwachſenden Ge—

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ſchlecht auch die Vorſtellungskreiſe des abſterbenden noch unmittelbar zur Anſchauung und Kenntniß gelangen.

Die Kräfte der Stabilität und Beharrung ſind nirgends ſtärker als in den Gebieten der bäuerlichen Hofwirthſchaft, wo die Generationen am weiteſten auseinanderliegen, wenn zu den ſpäten Heirathen noch eine längere eheliche Frucht— barkeit hinzutritt.

Es bedarf wohl kaum der Bemerkung, daß auf die Frage, wie viel Generationen es etwa ſeien von der jezigen bis zu der von Shakeſpeare und Königin Eliſabeth, die Ant— wort eine andere ſein muß, wenn der Fragende ein Kind, ein Greis oder von mittlerem Alter iſt. Unwillkührlich aber ſuchen wir doch nach einem feſten Ausgangspunkt, und indem wir die Jugend als die künftige, die Greiſe als die vorangegangene Generation bezeichnen, ſehen wir einen ſolchen in dem mittleren Mannesalter. Schopen— hauer, der in geiſtreicher Spielerei die menſchlichen Lebens— alter zu der Reihenfolge der Planeten und ihrer Namen in Beziehung ſezt, weiſt den Jupiter als den Herrſchergott den Fünfzigjährigen zu, weil ſie die Beherrſcher ihres Zeit— alters ſeien in Staat und Geſellſchaft, in Kunſt und Wiſſen— ſchaft. Die leitenden und maßgebenden Altersklaſſen gelten als die Vertreter der jeweiligen Gegenwart, und ſo nennen wir das Zeitalter der franzöſiſchen Revolution das unſerer Großväter, obgleich es für die Greiſe die Generation ihrer Väter, für die Jungen die ihrer Urgroßväter iſt.

Ein Jahrhundert iſt eine dunkle, imponirende, unſern natürlichen Maßſtab überſchreitende Zeitgröße; die Gene—

ration aber, der Altersabſtand von Vätern und Söhnen iſt uns ein anſchauliches und verſtändliches Zeitmaaß. Die ganze Weltgeſchichte tritt uns menſchlich näher und rückt enger zuſammen, wenn wir uns vorſtellen, wie oft wir den uns bekannten Weg vom Sohn zum Vater zurückzulegen haben. Der Unterſchied in den Anſchauungen und dem Ideenkreiſe der Eltern und Kinder erſcheint uns als ein relativ kleiner und mehr als leichte Schattirung innerhalb derſelben Grundfarbe, und da muß es uns überraſchen, daß wir dieſen Unterſchied nur zu verdreifachen und zur Maſſenwirkung zu verdichten haben, um zu Friedrich dem Großen und Voltaire, zu Klopſtock und Leſſing zu gelangen, Rur zu verſiebenfachen, um in ein ganz anderes europäiſches Staatenſyſtem und in die Vorſtellungskreiſe von Guſtav Adolph, Cromwell, Richelieu und dem großen Kurfürſten verſezt zu werden. Der 30te unſerer Ahnherrn aber mochte noch Thor und Odin Pferde ſchlachten, der bote ſeine Heerden durch die Triften von Mittelaſien führen. Nicht gewaltſame Umwälzungen und vulcaniſche Ausbrüche ge— ſtalten das Leben der Menſchheit in periodiſchen Anläufen um, ſondern die kleinen Differenzen in den Sitten und Anſchauungen der Väter und der Söhne ſteigern ſich zu den Maſſeneffekten, deren Inhalt und Reihenfolge wir die Kulturgeſchichte der Menſchheit nennen.

Ueber die Malthus'ſchen Lehren.

Die bekannten Säze von Malthus ſind ebenſo anfecht— bar in ihrer ſtatiſtiſchen und pſychologiſchen Begründung im Einzelnen als unumſtößlich und von einleuchtendſter Wahrheit im Ganzen.

Es iſt freilich unhaltbar, daß, wenn in jeder Ehe auch nur vier Kinder geboren werden, die menſchliche Geſellſchaft ſich im Lauf von 25 Jahren verdoppeln müſſe. Denn die Geſellſchaft beſteht nur zu einem ſtarken Drittheil aus Perſonen im zeugungskräftigen Alter; auf den weit über— wiegenden Reſt fällt kein Zuwachs, ſondern nur Abgang. Dagegen wird allerdings, wenn auf die jungen Paare je vier Kinder gerechnet werden, die Kopfzahl der Regel nach nicht blos verdoppelt, ſondern verdreifacht, von zwei auf ſechs geſteigert werden, da die Eltern wohl ſo lange neben den Kindern leben können, bis auch dieſe fortpflanzungs— fähig geworden ſind. Die Frage, welcher Volkszuwachs als ein möglicher oder normaler anzuſehen ſein mag, ließ ſich mit den damaligen Mitteln der Statiſtik, wie ſie Malthus zu Gebot ſtanden, überhaupt nicht genügend beantworten; die Aufnahmen der lebenden Bevölkerungen nach Alter, Ge— ſchlecht und Familienſtand ſind für dieſen Zweck unerläßlich.

Rümelin, Reden u. Aufſätze. 20

306 An der pſpchologiſchen Begründung finde ich den

weſentlichſten Mangel darin, daß Malthus überhaupt nur die zwei Factoren ins Feld führt, den Geſchlechtstrieb und den Nahrungsſtand oder die Grenzen der Unterhaltsmittel, während in der That die Erſcheinungen von viel compli— cirterer Natur ſind. Zwar ſagt uns auch der Dichter:

Einſtweilen bis den Bau der Welt

Philoſophie zuſammenhält,

Erhält ſie ) das Getriebe

Durch Hunger und durch Liebe.

Allein hier iſt doch mehr nur von den großen Haupt— triebrädern der ganzen geſellſchaftlichen Maſchine die Rede.

Es iſt ein leicht erklärlicher und faſt allgemeiner Irr— thum oder Euphemismus, der menſchlichen Natur einen Fortpflanzungstrieb beizulegen oder den Ausdruck Ge— ſchlechtstrieb in dieſem Sinne zu gebrauchen. Richtig ver— ſtanden, weiß die Pſychologie nichts von einem Trieb des Menſchen, ſeine Gattung fortzupflanzen, wohl aber kennt ſie zwei verſchiedene Triebe, deren combinirte Functionen eine ſolche Wirkung haben, nemlich den Trieb der Geſchlechts— luſt und den der Kinderliebe. Jener, ſo verſchiedene und ſo ideale Motive ſich ihm beigeſellen können, iſt doch auf die ſinnlichen Reize um ihrer ſelbſt willen gerichtet, nicht auf die von der Ordnung der Natur daran geknüpfte Wirkung, welche vielmehr denjenigen, die die erſten Er— fahrungen zu machen hatten oder den Cauſalzuſammenhang nicht durch Ueberlieferung kennen, als die' wunderbarſte

) Die Natur.

307

Sache von der Welt vorkommen mußte. Der Trieb der Kinderliebe aber iſt die angeborene Geneigtheit der Er— zeuger, und zwar der Mutter in ſtärkerem Maaße als des Vaters, das vorhandene, das bereits entſtandene lebende Weſen wie einen Theil oder Anhang des eigenen Selbſt zu betrachten und die Sorge für ſeine Erhaltung und Wohlfahrt in die Reihe der eigenen und ſelbſtiſchen Inte— reſſen aufzunehmen. Die Luſt, überhaupt Kinder zu haben, iſts nicht die unmittelbare und nächſte Aeußerung dieſes Triebs der' Kinderliebe; ſie iſt allerdings ein durch dieſen noch latenten Trieb angeregtes Vorgefühl und Phantaſie— ſpiel; es haben aber noch andere Motive daran Antheil, das Verlangen, dem vergänglichen und verlaſſenen Ich eine Ergänzung, der Leere des Daſeins Inhalt und Ziel zu geben und der hinter aller Selbſtſucht immer noch verſteckte Wunſch, zu lieben und geliebt zu werden.

Der Wunſch, Kinder zu haben, und der Sexualtrieb ſind pſychologiſch ganz unabhängig von einander; ſie treffen auch thatſächlich nur in einer kleinen Anzahl von Fällen zuſammen. Wenn die Erhaltung und Vermehrung der menſchlichen Gattung von dem Verlangen, Kinder zu haben, abhienge, ſo wäre es gar ſchlecht um dieſelbe beſtellt. Die Natur überliſtet uns gleichſam, indem ſie an etwas um ſeiner ſelbſt willen heftig Begehrtes eine nicht gewollte Wirkung knüpft, die mit dieſer Wirkung verbundenen Schmerzen, Sorgen und Laſten aber dann wieder durch einen zweiten Trieb, die Liebe zu dem Erzeugten zu er— 20 *

308

leichtern und zu verſüßen, und das Erzeugte damit gegen den ſonſt ſicheren Untergang zu ſchüzen weiß.

Keine Frau in der Welt wird jemals wünſchen ſo vielfache Mutter zu werden, als es phyſiologiſch möglich wäre, und kein Mann in der Welt wird auch nur nach dem hundertſten Theil der Vaterfreuden und Sorgen Ver— langen tragen, deren Objecte ins Leben zu rufen ihm weder Luſt noch Fähigkeit fehlen würde. Es handelt ſich hiebei keineswegs blos um Nahrung und Unterhalt, ſondern um eine Laſt von Sorgen und Störungen, die auch dem Reichſten nicht erſpart ſind, wenn, wie man ſagt, unter einem halben Duzend Kinder durchſchnittlich wenigſtens Ein Schmerzens— kind ſein wird. So lebhaft auch jene Triebe der Geſchlechts— luſt und Kinderliebe in uns ſein mögen, ſo ſteht ihrem unbeſchränkten Walten doch die mächtige Gegenwirkung zahlreicher anderer, von ihnen unabhängiger Triebe zur Seite, die zu Colliſionen führt und zu Compromiſſen nöthigt. Jedermann wünſcht im Leben vorwärts zu kommen, ſeine Kräfte und Anlagen frei zu entfalten, ſeine wirthſchaftliche Lage zu verbeſſern, ſeine Lebensgenüſſe zu ſteigern, zu einem ſorgenfreien und bequemen Daſein zu gelangen und gerade die Edelſten und Begabteſten wollen am wenigſten in Erwerb und häuslichen Dingen aufgehen. Ja der Trieb der Kinderliebe ſelbſt gebietet eine Begrenzung; der kleineren Zahl kann man größere Sorgfalt widmen, ein größeres Erbtheil zuwenden, die Erhaltung ihrer geſellſchaftlichen Stellung ſichern.

Malthus unterſcheidet unter den Checks oder Hemm—

309 niffen gegen ein Uebermaß der Kinderzeugung, zu welchem er eine natürliche Tendenz annimmt, ſoweit dieſelben in menſchlichen Handlungen liegen, nur zwei Arten, die mo— raliſche Enthaltſamkeit auf der einen, und die Laſter der Proſtitution, Fruchtabtreibung ꝛc. auf der andern Seite; wobei er freilich unbeſtimmt läßt, wieweit das Prädikat „moraliſch“ bei den verſchiedenen Arten und Formen der Enthaltſamkeit gelten ſoll. In Wahrheit aber ſcheint hier zwiſchen Tugend und Laſter ein weites Feld von Motiven zu liegen, die weder moraliſch noch unmoraliſch zu nennen, ſondern der natürliche Gegendruck anderer Seelenkräfte ſind, die ebenſo gut zur menſchlichen Ausſtattung gehören. Wenn in einem Lande für Millionen von Ehen das régime conjugal herrſcht, die Zahl von drei Kindern nicht zu über— ſchreiten im Gegenſaz zu dem numerum liberorum finire flagitium habetur, das Tacitus an unſern Vorfahren rühmt wer will dieß moraliſch, wer unmoraliſch nennen oder entſcheiden, in welchen Fällen es das eine wäre, in welchen das andere? Relativ genommen, als Herrſchaft verſtän— diger Ueberlegung über blinde Begier, und zumal im Ver— gleich mit dem in Deutſchland ſo weit verbreiteten gemeinen Aſtarte- und Molochdienſt, der jährlich Hunderttauſende von zarten Kinderleben elender verkommen läßt, als wenn ſie einem glühenden Gözenbild in die Arme gelegt würden, mag man die Sitte immerhin zu den moraliſchen Enthal— tungen rechnen. Im Uebrigen würden die dabei vorherr— ſchenden Motive des Wohllebens und der Bequemlichkeit ge— rade keinen beſonderen Anſpruch auf jenes Prädikat erheben.

310

Wäre dem wirklich ſo, wie die Malthus'ſche Lehre ſagt, daß die Vermehrung der Bevölkerung nur an die der Nahrungsmittel gebunden iſt, daß die auf Fortpflan— zung bezüglichen Naturtriebe die Kraft und Tendenz haben, die Grenzen der Unterhaltsmittel fortwährend zu über— ſchreiten und nur durch Hemmniſſe verſchiedener Art inner— halb derſelben feſtgehalten werden, ſo wäre ein eigentlicher Fortſchritt der Menſchheit in ihrem wirthſchaftlichen Leben wie in ihrer Geſittung nicht denkbar. Eine ſtetige Steige— rung und Verfeinerung der Bedürfniſſe und Lebensgenüſſe könnte nicht eintreten, wenn jede Lücke gleich ausgefüllt, jeder Ueberſchuß an Mitteln von dem verſtärkten Nachwuchs in Anſpruch genommen würde. Die Geſellſchaft bliebe an die erſte Stufe ihrer Lebensweiſe gefeſſelt. Die natürliche Neigung der Menſchen, ihre Glückſeligkeit im Ganzen, ihre Annehmlichkeiten des Lebens zu ſteigern, muß offenbar über ſtärkere pſychiſche Kräfte verfügen, wenn es den ge— ſchlechtlichen Neigungen nicht gelingt, alle neuen wirthſchaft— lichen Mittel in ihre Dienſtbarkeit zu bringen. An die Stelle des aus den Malthus'ſchen Säzen folgenden Geſezes, daß die Geſellſchaft die Tendenz habe, jede Steigerung ihrer wirthſchaftlichen Mittel mit einer entſprechenden Ver— mehrung der Bevölkerung zu begleiten, ſcheint eine andere Regel geſtellt werden zu dürfen, daß jedes zur Geſittung berufene Volk die Tendenz hat, ſein Einkommen raſcher zu vermehren als ſeine Kopfzahl, und mit dem Zuwachs an Perſonen in einer ſtetig wachſenden Entfernung hinter dem Zuwachs an wirthſchaftlichen Mitteln zurückzubleiben. Denn

311

wenn der Quotient, d. h. die Summe der Bedürfniſſe und Lebensgenüſſe für den Einzelnen ſtetig anwachſen ſoll, ſo dürfen der Dividendus, das Volkseinkommen und der Di— viſor, die Volkszahl, ſich nicht in gleicher Proportion ver— mehren.

Es iſt dieß nicht eine Widerlegung oder Umſtoßung der Malthus'ſchen Säze, ſondern nur eine verſchärftere Faſſung. Nach Malthus ſoll und wird der Volkszuwachs nur immer gleichen Schritt halten wollen mit der Steigerung der wirthſchaftlichen Mittel, nach der obigen Formel kann derſelbe nicht einmal bis zu dieſer Grenze reichen, ſondern muß iminer um einen Schritt, deſſen Maaß ſelbſt im Wachſen begriffen iſt, dagegen zurückbleiben. Nur hat Malthus die natürlichen Checks nicht vollſtändig aufgezählt und die ſitt— lich indifferenten, die ſpontane Gegenwirkung des übrigen Trieblebens nicht genug beachtet.

Die Vermehrung des Volkseinkommens und der Volks— zahl bleiben auch ſo Correlate und dieſe vou jener ab— hängig.

Da jedoch die Steigerung des Einkommens in erſter Linie auf der Thätigkeit und Energie der Völker beruht, erſt in zweiter anf der Gunſt natürlicher Bedingungen und angeſammeltem Kapital, ſo hängt auch der Volkszuwachs von den moraliſchen und intellectuellen Eigenſchaften der Völker ab. Nur ein fleißiges, thatkräftiges und intelligen— tes Volk kann ſeine Zahl namhaft und nachhaltig ſteigern. Da die Erhöhung des Quotienten auf verſchiedene Weiſe möglich iſt, ſo iſt auch das Verhalten der civiliſirten Völker

312

in dieſem Punkt ein ſehr verſchiedenes, wie das Beiſpiel von Frankreich gegenüber von England und Deutſchland zeigt. Die Colonialländer ſind hiebei immer in einer ganz exceptionellen Lage.

Die Frage, welcher Volkszuwachs als ein möglicher, natürlicher, normaler anzuſehen wäre, läßt ſich nicht all— gemein für die Menſchheit überhaupt, alſo in einer für Neger, Indianer, Chineſen, Europäer u. ſ. w. gleich— mäßig geltenden Weiſe, ſondern nur für die alten euro— päiſchen Kulturländer ſtellen, für welche auch allein die erforderlichen ſtatiſtiſchen Mittel wenigſtens nothdürftig vor— handen ſind. :

Wenn man nur die Grenzen der phyſiologiſchen Mög— lichkeit aufſucht und etwa rechnet, daß jede Frau während einer 30jährigen Fruchtbarkeitsperiode 30, oder auch nur 20 oder 15 Kinder zur Welt bringen könnte, ſo gelangt man zu Reſultaten, wie wenn man mit den Eiermillionen beim Lachs, Kabliau oder Hauſen Ernſt machen wollte. Die phyſiologiſche Möglichkeit iſt pſychologiſch durch die Freiheit der Motive begrenzt und die Frau nicht als Ge— bärmaſchine anzuſehen.

Es handelt ſich zuerſt darum, wie viele Jahresklaſſen einer weiblichen Bevölkerung ſind als im fruchtbaren Alter ſtehend zu zählen und der weiteren Berechnung zu Grund zu legen?

Es iſt nun nicht in Abrede zu ſtellen, daß einerſeits 17jährige Frauen Mütter werden und andererſeits auch 48 und 50jährige, und daß überhaupt die Fruchtbarkeit

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bei den meiſten Frauen erſt in der zweiten Hälfte oder gegen Ausgang der vierziger Jahre zu Ende geht. Aber es werden wohl nicht dieſelben Frauen ſein, die mit 17 Jahren und dann auch noch mit 48 Jahren geboren haben. Wenn auch hie und da ſchon eine ſolche Ausnahme vorge— kommen ſein mag, ſo iſt doch unzweifelhaft, daß der Regel nach diejenigen, die früh zu gebären angefangen haben, auch früher damit aufhören, und daß diejenige Dauer der weiblichen Fruchtbarkeit, die praktiſch in Betracht kommen kann, nicht nach den extremen Grenzjahren bemeſſen werden kann. Es iſt an einem anderen Orte gezeigt worden, daß die durchſchnittliche Dauer der ehelichen Fruchtbarkeit ſich um die Grenze von 12—13 Jahren bewegt, jedoch zuzu— geben, daß hiebei ſchon Malthus'ſche Erwägungen, die hier noch zu ignoriren ſind, mitwirken und daß die natürliche Dauer der weiblichen Fruchtbarkeit erheblich weiter hinaus— zurücken iſt.

Ich glaube gemäß den dort gegebenen näheren Aus— führungen eher zu hoch als zu niedrig zu greifen, wenn ich (wie Roſcher) dieſe Grenze zu 22 Jahren annehme und demgemäß 22 Jahresklaſſen der weiblichen Bevölkerung als für die Fortpflanzung der Gattung praktiſch in Betracht kommend rechne. Man kanu dabei zweifeln, wie dieſer Zeitraum abzugrenzen iſt, ob man die Periode vom 18ten bis 40ten oder vom 20ten bis 42ten für geeigneter hält; im erſten Fall wird, weil die jüngeren Klaſſen zahlreicher ſind als die älteren, die Geſammtzahl etwas größer, doch iſt der Unterſchied nicht ſehr erheblich. Im einen wie im

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andern Fall iſt vorausgeſezt, daß die außerhalb jener Grenzen liegenden Geburten durch die weit zahlreicheren Fälle innerhalb derſelben reichlich ausgeglichen werden, in welchen die Fruchtbarkeit erſt ſpäter beginnt oder früher erliſcht. Die Mitte zwiſchen jenen beiden Berechnungs— arten wird gefunden, wenn man das Alter von 19 bis 41 Jahren zu Grunde legt. Nach den Altersaufnahmen aus mitteleuropäiſchen Ländern ergiebt dieß auf 1000 Ein— wohner 165 im Alter der Fruchtbarkeit ſtehende weibliche Perſonen, oder 16,5% einer Bevölkerung.

Es fehlt an genügendem ſtatiſtiſchem Material, um den Procentſaz der unfruchtbaren Frauen oder, richtiger, Ehen genauer feſtzuſtellen. Die vereinzelten Zählungen geben ein von 10—20% ſchwankendes Reſultat. Nach meinen, allerdings auch beſchränkten Notizen fand ich ca 7 der Ehen von noch gebärfähigen Frauen unfruchtbar. Für den nicht zur Verheirathung gelangenden Theil der weib— lichen Bevölkerung iſt in keinem Fall ein günſtigeres Er— gebniß anzunehmen, da im Allgemeinen doch die geſünderen und gebrechenfreieren Frauen in die Ehe treten. Man iſt daher ſicher, eher hinter der Wahrheit zurückzubleiben, wenn man, da es ſich bei dieſem ganzen Verfahren doch nur um runde und annähernd giltige Ziffern handeln kann, an— nimmt, daß unter jenen 165 Frauen 15 als unfruchtbar und ſomit 150 als für die Fortpflanzung geeignet gelten können.

Nun hängt die Fruchtbarkeit einer Bevölkerung natür— lich davon ab, wie viele Geburten durchſchnittlich je auf

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Eine Frau während der Dauer ihrer productiven Periode fallen. Rechnet man je 3 Geburten auf Eine Frau, ſo treffen auf 1000 Einwohner 55 Geburten - 20 (20,45).

Bei je 4 Geburten ergeben 19 oder 27 (27,27) Geburten auf 1000 Einwohner, bei je 5 Geburten 34 (34,09), bei je 6 Geburten 41 (40,9) bei je 7 Geburten 48 (47,7), bei je 8 Geburten 54 (54,5) u. ſ. w

Hier fragt es ſich nun aber weiter, welche Zahl von Sterbfällen man dieſen Geburtenziffern gegenüberzuſtellen hat, wenn man ſich nicht an die rein thatſächlich gegebenen durchſchnittlichen Sterblichkeitsziffern der europäiſchen Län— der, ſofern dieſe ſchon der Ausdruck für pathologiſche Zu— ſtände ſind, halten darf, ſondern die möglichen, normalen, wenn auch nicht rein idealen Verhältniſſe ſucht.

Dieſes rein ideale Verhältniß wird von Hofmann, dem hierin auch Wappaeus folgt, in der Weiſe gefunden, daß, wenn der Abgang durch Todgeburten und Kinder— ſterblichkeit auf 10 Procent der Geborenen reducirt, die übrigen aber alle das natürliche Lebensziel von 75 Jahren erreichen würden, unter der Annahme von 40 Geburten auf je 1000 Menſchen (1: 25 Lebenden) der jährliche Ab— gang ½¼ 56 50 1¼ß30 der lebenden Bevölkerung be— tragen würde, alſo 1: 57,7 Lebenden, oder auf je 1000 E. 17,3 Sterbfälle. Nach dieſem Phantaſiebild würde die jährliche Zunahme bei 40 Geburten und 17,3 Sterbfällen 22,7 Perſonen auf 1000 ausmachen oder 2,27% der Be— völkerung.

Die Vorausſezungen dieſer Rechnung erinnern ſo leb—

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haft an die Fabeln von einem Saturniſchen Zeitalter, daß man auch ſchon eine nur entfernte Annäherung wirklich vorkommender Zahlen an jenen Maßſtab für rein unmög— lich halten möchte. Um ſo überraſchender iſt es, daß es wirklich ein europäiſches Land giebt, deſſen Mortalität wenigſtens nur unbedeutend hinter jenem idealen Kanon zurückzuſtehen ſcheint. In den 20 Jahren von 1841—60 ſind in Norwegen bei einer mittleren Bevölkerung von 1,409,259 Einwohner im Jahresdurchſchnitt einſchließlich von 1904 Todgeborenen 26,690 Sterbfälle eingetreten, was eine Sterblichkeit von 18,94 p. m. oder 1: 53,1 ergiebt. Dabei hat allerdings die jährliche Geburtenzahl nicht 40, ſondern nur 33,2 p. m., und andererſeits die Kinder— ſterblichkeit des erſten Jahres nicht blos 10%, ſondern mehr als das doppelte, 19% der lebend geborenen, alſo mit Einſchluß von 4% Todgeborenen 23% aller Geborenen betragen.

Die für England und Wales für den Zeitraum 1841—50, ſowie für Schweden pro 1856—60 angegebene Sterblichkeitsziffer iſt mit einem Zuſchlag für die Todge— borenen ebenfalls nicht höher als 21—22 p. m.

Man nimmt nun zwar, und wohl mit Recht an, daß die Sterbeliſten theils überhaupt, theils insbeſondere in den Handel und Schifffahrt treibenden Ländern, wo Viele außer— halb ihres Wohnſizes ſterben, unvollſtändig ſind, und es mag dieß beſonders für England und Norwegen zutref— fend ſein.

Allein ſelbſt wenn man die Zahlen noch etwas erhöht,

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bleibt es immer noch unerklärt, daß fie jenem Ideal jo nahe kommen, während doch die Kinderſterblichkeit thatſäch— lich eine doppelt ſo große, als die dort angenommene war und von 100 Geborenen nicht 90, wie dort vorausgeſezt wird, ſondern nur etwa 11—12 das 75. Lebensjahr zu erreichen pflegen.

Die Löſung der Schwierigkeit iſt wohl darin zu ſuchen, daß jene Hofmann'ſche Rechnung einen Widerſpruch in ſich ſchließt, indem ſie einerſeits eine ſtabile Bevölkerung voraus— ſezt, wenn ſie die 75jährigen als ½s der Lebenden an— nimmt, und andererſeits eine wachſende, wenn ſie auf 25 Lebende jährlich eiue Geburt, oder nach Abzug eines Zehn— theils auf 1000 Einwohner einen Zuwachs von 36 annimmt. Die Fiction, daß gemäß dem Bibelſpruch von den 70 und wenn es hoch kommt, 80 Jahren alle Menſchen erſt mit 75 Jahren ſterben, führt auch bei einer viel kleineren Ge— burtenzahl als 36 p. m. zu einem Anwachſen der Bevöl— kerung, bei welchem die jüngſte Altersklaſſe mehrmals ſo zahlreich ſein müßte als die älteſte, ſomit die 75jährigen nicht %75, ſondern ein mehrfach kleinerer Bruchtheil aller Lebenden ſein würden.

Eben darin liegt auch der Grund, daß unter günſtigen wirthſchaftlichen Bedingungen bei raſchem Anwachſen der Bevölkerung, ſobald nur die Kinderſterblichkeit ſich inner— halb mäßiger Grenzen bewegt, die allgemeine Sterblichkeits— ziffer eine ſehr niedrige werden kann, weil die alten, in die Sterbereihe einrückenden Altersklaſſen numeriſch viel ſchwächer ſein werden, als die mittleren und jüngeren.

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Daraus erklären ſich die günſtigen Ziffern bei England und Norwegen für die betreffenden Zeitperioden.

Verzichtet man darauf, im Wege der Conſtruction eine ideale Sterblichkeitsziffer zu finden und beſchränkt man ſich darauf, an der Hand des ſtatiſtiſchen Materials, das der Erfahrung entnommen iſt, die relativ günſtigſten, am wenigſten ſchon den Eindruck pathologiſcher Erſcheinungen machenden Verhältniſſe aufzuſuchen, ſo überzeugt man ſich, daß eine Sterblichkeit von 1:50 oder 20 auf Tauſend, als das Niedrigſte und Günſtigſte anzuſehen iſt, das wenig— ſtens bis jezt überhaupt nur ſelten, aber jedenfalls noch nie in einem längeren Zeitraum von mehreren Jahrzehen— den, und nur von den civiliſirteſten Völkern in der günſtig— ſten Entwicklungsperiode einigermaßen erreicht worden iſt.

Dieſe Grenze iſt auch nur denkbar bei einer mäßigen Geburtenzahl; ſie wird mit ſteigender Fruchtbarkeit ſtetig höher hinaufgerückt werden, weil dann in der lebenden Be— völkerung die jüngſten Jahresklaſſen mit der größten Lebens— gefährdung relativ immer ſtärker vertreten ſein werden.

Sieht man nun auf die obigen Annahmen hinſichtlich der mit der wachſenden Geburtenzahl für jede einzelne Frau ſteigenden Fruchtbarkeit im Ganzen zurück, ſo mögen ſich mit annähernder Richtigkeit etwa die aus der folgenden Tabelle erſichtlichen Normen ergeben.

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Auf je 1000 Perſonen treffen

bei je Geborene Geſterbene 9 n Verdopplungsperiode 3 Geburten per mille für eine Frau 20 20 0 0 1 5 139 Jahre 5 34 24 10 69,6 6 41 26 15 46,3 7 48 28 20: 35

Es iſt leicht, dieſe Tabelle durch Einſchaltung von Zwiſchengliedern für 3½, u. ſ. w. Geburten für je eine der 150 angenommenen Frauen zu ergänzen.

Der von Malthus zu Grund gelegte Fall, daß auf eine Ehe 4 Kinder kommen, führt alſo nach dem Obigen nicht zu einer Verdopplung alle 25, ſondern erſt alle 139 Jahre.

Es mag nicht ohne Intereſſe ſein, der obigen Tabelle die faktiſchen Verhältniſſe in einigen Hauptländern Europas gegenüberzuſtellen, wofür die Daten theils dem Werk Sta- tistique internationale von Quetelet und Heuſchling, Bru— relles 1865, theils neueren Quellen entnommen ſind.

Es kamen auf je 1000 Einwohner (mit den Todgeborenen)

Natürl. 285 Periode Geburten Sterbfälle Zuwachs eee ee p. mille een Frankreich 1851-60 26,2 23,9 2,3 302 Belgien 1851-60 31,6 23,7 eg 88 England*u. Wales 1851—60 32,4 23,3 10,1 69,7 Niederlande 1850 —59 34,3 25,9 8,4 82,8 Norwegen 1851—60 34,7 18,9 15,8 44 Bayern 1860-68 37,3 30,4 6,9 100 Preußen 1851—60 39,1 29 10,1 69,7 Sachſen 1859. 6 % 2 18,1 53

Württemberg 1868—74 42,6 33,3 9,3 75

) mit Interpolation der Todgeborenen.

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Man ſieht, die thatſächlichen Verhältniſſe der wichtig— ſten 0 Kulturländer erreichen in keinem Fall weder die obere noch die untere Grenze jener fingirten Normaltabellen, bewegen ſich aber in großer Wannigfaltig- keit innerhalb jener Extreme.

Man ſieht ferner was dazu gehören würde und wie— weit alle dieſe Völker davon entfernt ſind, einen Jahres— zuwachs von 2 Procent zu erreichen.

Wenn man von einzelnen Jahrzehenden oder Jahr— fünften beſonders proſperirender Zuſtände abſieht und die lezten 50—60 Jahre ſeit den erſten zuverläßigeren Volks— zählungen zuſammenfaßt, ſo iſt kein einziges Volk in Europa, das einen durchſchnittlichen Jahreszuwachs von Pro— cent nachweiſen könnte. Nur England (im engeren Sinn) und das Königreich Sachſen mit 1,3— 1,4% reichen nahe an dieſe Grenze hin.

Wenn in einigen Colonialländern, wie im Unionsge— biet, die Grenze von 2 Procent auch abgeſehen von der Einwanderung durch rein inneren Zuwachs ſchon erreicht und überſchritten worden ſein ſollte, was immer noch ſehr anfechtbar iſt, ſo ſind die Verhältniſſe hier ſo abweichend und ſingulär, daß weder für noch gegen die Malthus'ſche Theorie Argumente daraus geſchöpft werden können.

Denken wir uns, daß nach Art eines altlatiniſchen Ver sacrum, wie wir ihn aus dem ſchönen Uhlandiſchen Gedichte kennen, etwa 1000 junge Paare unter günſtigen Umſtänden eine Pflanzung gründen. Die jungen Frauen werden hier nicht wie in einer alten Geſellſchaft 16, ſondern

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50 Procent der Bevölkerung bilden; fie werden nicht 25 Jahre, ſondern 3 bis 4 Jahre nöthig haben, um die Kopf— zahl der Colonie zu verdoppeln. Alte Leute wird es hier viele Jahre lang noch gar keine geben; dagegen wird es wimmeln von jungem Volk. Die Generationen werden deutlich von einander geſchieden ſein; gewiſſe Altersſtufen werden lange Zeit ganz herausfehlen; die Bevölkerung wird keine continuirliche, lückenloſe Reihe von Altersklaſſen bilden. Die Fruchtbarkeit derſelben wird ſich in den größten Schwankungen bewegen; ſie wird zeitweiſe ſehr klein werden, wenn eine Generation ſchon aufgehört hat productiv zu fein und die nächſte noch nicht recht angefangen, dann wieder ſehr groß, wenn das neue Geſchlecht ganz in das ent— ſprechende Alter eingerückt iſt. Die Folgen einer ſo eigen— thümlichen Zuſammenſezung der erſten Geſellſchaft werden wohl allmälig unmerklicher werden und zulezt ganz ver— ſchwinden, aber es werden nicht nur Generationen, ſondern Jahrhunderte nöthig ſein, bis ſich alle Nachwirkungen für die Zuſammenſezung des Volks nach Altersklaſſen verloren haben, zumal wenn die Urſache, das Eintreten junger Paare, ſich periodiſch durch Nachwanderungen erneuert.

Nicht ſo deutlich und rein, wie in dieſem fingirten Beiſpiel, aber im Ganzen kommen doch alle Colonialſtaaten auf eine ſehr ähnliche Weiſe zu Stande. Die erſte An— ſiedlung geſchieht durch Männer in jungen oder mittleren Jahren, die Frauen mitbringen oder ſich zu verſchaffen haben; die einzeln oder in Schaaren Nachrückenden ge— hören lange Zeit den Altersſtufen an, in denen man zu

Rümelin, Reden u. Aufſätze. 21

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Wagniß und Abentheuer aufgelegt iſt; die Zahl der Greiſe iſt verſchwindend klein in ſolcher Geſellſchaft, die der Kinder und jungen Altersklaſſen wächst in rapiden Verhältniſſen an. Heute noch ſind in den Vereinigten Staaten unter 1000 Einwohner nur 14 über 70 Jahre alt, in Frankreich 37, und die 22 Jahresklaſſen der gebärfähigen Frauen machen dort nicht 16, ſondern 18— 19/0 der lebenden Bevöl— kerung aus. Dieſe Anomalieen in der Zuſammenſezung der Bevölkerung hat man ſich nach rückwärts als wachſend vor— zuſtellen. Der Verſchmelzungsproceß der Generationen, wie er bei den alten Kulturvölkern längſt vollzogen iſt, wird, je weiter man zurückgeht, deſto unausgeglichener, und dabei treten durch den Umfang und die großen Fluctuationen der Einwanderungen immer neue Störungen und Unregel— mäßigkeiten ein. Man müßte, um ſich über den natürlichen Zuwachs in den Colonialgebieten ein ſicheres Urtheil zu bilden, Altersaufnahmen für die betreffenden Perioden haben.

Wenn man dazu aber bedenkt, wie in fruchtbaren, jugendlich aufſtrebenden Colonieen, wo der Unterhalt ohne viel Arbeit weit mehr durch Viehzucht als Ackerbau ge— wonnen wird und beſtes Land im Ueberfluß zu haben iſt, ſehr frühe Heirathen zuläßig und üblich ſind, die Frucht— barkeit der Ehen ſowohl nach ihrer Dauer als der Ergiebig— keit eine ſehr große iſt, wie die Frauen, von Feld- und ſchwererer häuslicher Arbeit entbunden, ſich der Pflege der Kinder widmen können, wie dadurch großer Kinderreichthum neben mäßiger Kinderſterblichkeit erreicht wird, ſo iſt es

dort in der That denkbar, daß, wie die obige Tabelle fordert, auf 1000 Einwohner 48 Geburten und nicht mehr als 28 Todesfälle, ſomit ein natürlicher Jahreszuwachs von 20 p. m. trifft.

Ob dieſe Grenze im Unionsgebiet in der früheren Zeit noch ſo namhaft und bis 28 und 29 p. m. überſchritten worden iſt, wie Wappaeus (Bevölkerungsſtatiſtik I. 124) an⸗ nimmt, muß man bezweifeln, wenn man bedenkt, daß hiezu etwa ein Verhältniß von 50 Geburten zu 21—22 Sterb— fällen auf 1000 Einwohner erforderlich wäre, ſomit eine Durchſchnittsfruchtbarkeit der Ehen von 7—8 Kindern neben der ſchwächſten Kinderſterblichkeit. Gegen die Berechnung iſt unter anderem einzuwenden, daß wir für das Unions— gebiet nur die Einwanderung aus Europa, nicht aber die von der Landſeite, von den damaligen franzöſiſchen und engliſch gebliebenen Beſizungen kennen, die doch ſowohl nach geſchichtlichen Zeugniſſen als innerer Wahrſcheinlichkeit ſehr erheblich war und daß auch der geſammte, heimlich betrie— bene Import von Negerſclaven unbeachtet bleibt.

Bei den alten Kulturvölkern dagegen, wo die Schichten der Generationen längſt in einander verwachſen ſind und die Reihen der lebenden Altersklaſſen mit denen einer Sterbe— tafel noch einige natürliche Aehnlichkeit bewahrt haben, wird ein Jahreszuwachs von 2 Procent noch niemals vorgekommen ſein und ſchwerlich jemals, wenigſtens nicht für einen län— geren Zeitraum erreicht werden können. Unſer Welttheil hat noch niemals eine Periode günſtigerer und großartigerer Entwicklung aller wirthſchaftlichen und ſocialen Verhältniſſe

21 *

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geſehen, als die lezten 50 Jahre; feine Bevölkerung iſt rund von 200 auf 300 Millionen geſtiegen, und doch macht dieß erſt 0,8% jährlichen Zuwachs und diejenigen Völker, bei denen die Zunahme die ſtärkſte war, haben das Doppelte dieſes Durchſchnittes noch nicht erreicht.

Es waren dabei viele und gewaltige Hemmungen oder checks im Malthus'ſchen Sinn erforderlich, um den Zuwachs nicht noch viel größer werden zu laſſen. Den kleinſten Antheil daran mag der Factor der „moraliſchen“ Enthalt— ſamkeit haben, einen beträchtlich größeren die unmoraliſchen Potenzen, die Malthus aufzählt; ſodann die repreſſiven Checks der Kriege und Epidemieen und das Sicherheits— ventil der Auswanderung. Gewiß der größte Antheil aber fällt auf jene Motive, die ſich weder als moraliſch noch als unmoraliſch bezeichnen laſſen, auf den natürlichen Gegen— druck anderer Triebe und Forderungen des menſchlichen Weſens, auf das allen geſitteten Völkern eigene Verlangen, ihr Einkommen raſcher zu ſteigern als ihre Zahl, den Quo— tienten von Gütern und Genüſſen des Lebens dadurch zu erhöhen, daß der Diviſor langſamer wächst als der Divi— dendus.

Alle dieſe Ausführungen, welche theilweiſe gegen die Malthus'ſchen Säze ihre Spize zu kehren ſcheinen, wollten dieſe nur ergänzen und im Einzelnen berichtigen; ſie laſſen aber den Kern und das Weſen derſelben ganz unberührt, ja vielleicht nur in eine verſtärkte Beleuchtung treten.

Nur mit Sophismen oder ſchiefen und halbwahren Ar— gumenten läßt ſich bekämpfen, daß die gewaltigſten Natur—

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triebe auf eine maßloſe Vermehrung der Bevölkerungen hindrängen, daß ſie einer beſtändigen Hemmung und Re— preſſion durch andere Kräfte bedürfen, daß jener Drang und feine Hemmungen das Haupttriebrad aller geſchicht— lichen Entwicklung ſind. Die verſchiedenen Völker ſpiegeln ihren Werth und Charakter in nichts ſo deutlich ab, als in der Art, wie ſie jenen Conflict zwiſchen dem Geſchlechts— trieb und den übrigen Forderungen der menſchlichen Natur zur Löſung, welche Gefühle und Motive ſie dabei zum Opfer bringen, wohin der Schwerpunkt ihrer Compromiſſe deutet. Denn der Conflict ſelbſt iſt da und unabweisbar; weder der Einzelne noch die Geſellſchaft kann ihn ignoriren und an ihm vorübergehen.

Ob und wenn ſich Malthus darin getäuſcht hat, daß er die natürliche Verdopplungsperiode einer Volkszahl zu niedrig annahm, iſt ganz gleichgiltig; ſeine Argumente da— für, daß die Vermehrung der Unterhaltsmittel nicht gleichen Schritt zu halten vermöchte mit der durch menſchliches Können und Wollen geforderten Progreſſion der Geſell— ſchaft, gelten für eine Verdopplungsperiode von 100 und noch mehr Jahren ſchließlich ebenſo gut wie für die von einer einzigen Generation.

Es führt zu ſehr ernſten Betrachtungen, wenn man erwägt, daß einerſeits ein ſtetiges und anſehnliches Ueber— gewicht der Geburtenzahlen über die Sterbfälle als das Normale, und ein Stillſtand oder ganz ſchwacher Zuwachs einer Bevölkerung als eine krankhafte Erſcheinung betrachtet werden muß, und daß wir uns andererſeits auch ſchon eine

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weit unter dem Normalen zurückbleibende Vermehrung in den alten Kulturländern gar nicht als einen für eine Reihe von Jahrhunderten andauernden Zuſtand vorzuſtellen ver— mögen.

Ein Jahreszuwachs von 17% kann als ein mäßiges Verhältniß gelten und iſt in den lezten 60 Jahren in Eng— land, Preußen und den ſcandinaviſchen Ländern noch neben ſtarker Auswanderung erreicht oder überboten worden. Dennoch führt er zu der Conſequenz, daß das deutſche Reich bis zum Jahr 2000 eine Bevölkerung von etwa 160 Millionen haben müßte.

Auch diejenigen europäiſchen Völker, deren Zunahme die langſamſte geweſen iſt, ſind doch in der gleichen Periode immer noch um mehr als % jährlich gewachſen. Dieß Drittheilprocent ergäbe aber für das deutſche Reich nach weiteren 1000 Jahren ſeiner Geſchichte eine Einwohnerzahl von 1200 Millionen, und nach 2000 Jahren von 36 Mil— liarden.

Wenn man rückwärts geht um 1000 Jahre bis in die Zeiten Karls des Großen, jo dürften, um im Ganzen % Jahreszuwachs zu erhalten, auf dem jezigen Areal des deutſchen Reichs damals nur etwa 130 Menſchen auf der Quadratmeile gewohnt haben, was zu den ſonſtigen That— ſachen aus jener Zeit, namentlich dem ſtarken Heerbann der germaniſchen Völker nicht paſſen will. Die Zunahme hat im Lauf der Jahrhunderte ſchwerlich mehr als / im Geſammtdurchſchnitt betragen. Und doch wenn wir auch nur dieß kleine Verhältniß der Rechnung für ein weiteres

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Jahrtauſend in Ausſicht nehmen, jo gelangen wir gleich wieder auf eine fabelhafte Ziffer von 600 Millionen.

Wenn ein Zuwachs, den wir, wo er in der Wirklich— keit vorkommt, von einem völligen Stillſtand der Volkszahl kaum noch unterſcheiden und nur als eine krankhafte Er— ſcheinung, als Folge von ganz anomalen Zuſtänden, als Symptom eines ſinkenden Volkes anzuſehen gewöhnt ſind, im großen Durchſchnitt der einzige auf die Dauer mögliche ſein ſoll, heißt das dann nicht ſo viel als: es iſt keinem Volk vergönnt, ſich in normaler und natürlicher Entwick— lung durch eine Reihe von Jahrhunderten oder gar Jahr— tauſenden zu erhalten, und einen auch nur nennenswerthen Ueberſchuß der Geburten über die Sterbfälle, der doch als das Naturgemäße gelten muß, zu behaupten? Die Maſſen— wirkung jenes pſychologiſchen Conflicts zwiſchen dem Zeu— gungstrieb und dem übrigen menſchlichen Triebleben er— ſcheint als eine ſo übermächtige Gewalt, daß kaum irgend ein Mittel denkbar bleibt, um zerſtörende Cataſtrophen und die repreſſiven Checks der Weltgeſchichte zu vermeiden. Die Völker ſcheinen wie durch eine Naturnothwendigkeit zum Untergang beſtimmt und man weiß nicht, ob das Bibelwort: ſeid fruchtbar und mehret euch, mehr ein Fluch oder mehr ein Segen ſein ſollte. Es darf uns nicht befremden, wenn die Malthus'ſchen Lehren den Theologen wie den im Leib— niziſchen Optimismus genährten Philoſophen als eine Ver— urtheilung des Weltplanes, als eine Verdächtigung der göttlichen Weisheit erſchienen.

Wollte man ſich dagegen etwa auf China berufen, wo

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jene monſtröſen, unglaublich erſcheinenden Ziffern von Hun— derten von Millionen Menſchen zur Wahrheit geworden ſind, wo ein mindeſtens 5 Jahrtauſende altes Volk eine abgeſchloſſene Welt bildet, ſo wäre zunächſt darauf zu er— wiedern: jenes Land iſt ſiebenmal ſo groß als Deutſchland, wärmer und fruchtbarer als die europäiſchen Länder; es gewährt im größeren Theil ſeines Gebiets zwei Jahres— erndten; das Volk lebt faſt ganz ohne Viehzucht von vege— tabiliſcher Nahrung; die Tödtung der Kinder, beſonders der Mädchen, wird im großartigſten Maaß betrieben und iſt durch Geſez geſtattet; und dennoch iſt die Dichtigkeit der Bevölkerung durchſchnittlich nicht ſo groß, wie in Sachſen, Belgien, England. Dazu iſt uns die Geſchichte des Landes und die Entſtehung dieſer großen Bevölkerung faſt völlig unbekannt.

Wohl kann man jagen: bange machen gilt nicht, oder: wo ſo ein Köpfchen keinen Ausgang ſieht, ſtellt es ſich gleich das Ende vor. Man kann anführen, daß man vor ein paar Jahrhunderten die jezigen Volkszahlen für ebenſo un— möglich gehalten hätte. Man kann ſich auf unbeſtimmte Möglichkeiten, auf chemiſche Entdeckungen, techniſche Erfin— dungen, auf die unabſehbaren Wirkungen eines erweiterten Weltverkehrs berufen. Man kann davon träumen, daß der Stickſtoff der Luft ein menſchliches Nahrungsmittel wird, daß man mit Waſſerſtoffgas heizen und beleuchten wird, daß die Wälder aus fruchtbaren Bäumen beſtehen, mit eß— baren Pilzen bedeckt ſein werden, daß der Gartenbau an die Stelle unſerer Feldwirthſchaft tritt und zwei oder

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mehr Jahreserndten ſtatt einer einzigen gewonnen werden u. ſ. w.

Durch all dieſe und andere Einwürfe will ſich doch die einfache Schlußfolgerung nicht entkräften laſſen, daß der mäßige Jahreszuwachs von 1 Procent, der hinter dem faktiſchen Ueberſchuß der Geburten über die Sterbfälle der— malen noch zurückbleibt, für das deutſche Reich in zwei Jahrhunderten zu einer Bevölkerung von 300 Millionen, für Europa von 2300, in drei Jahrhunderten zu 650, be— ziehungsweiſe 4800 Millionen führt. Daß aber in einem zwiſchen dem 47ten und 5äten Grad nördlicher Breite ge— legenen Lande 30000 Menſchen auf der Quadratmeile leben ſollten, muß der nüchternen Ueberlegung als ein Unding erſcheinen. Es ſind alſo entweder durchgreifende Verän— derungen der Volksſitte oder großartige Checks der repreſ— ſiven Gattung unausbleiblich.

Und auch der Betrachtung wird ſich kaum aus dem Wege gehen laſſen, daß einem reifen Kulturvolk eine ſtetige und friedliche Fortentwicklung, welche uns ohne ſtetige Ver— mehrung ſeiner Zahl nicht denkbar erſcheint, ſchon durch die Ordnung der Natur verſagt, daß einer Colliſion zwiſchen den dämoniſchen Gewalten des Geſchlechtslebens und den Grenzen der Unterhaltsmittel auf einer gegebenen Erdfläche nicht auszuweichen iſt, und daß dieſe Colliſion zu den regel— mäßigen Fermenten und nothwendigen Störungen gehört, durch welche die Völker gerüttelt, geprüft und umgewandelt, die Menſchheit ruhelos immer wieder auf neue Bahnen ge— drängt wird.

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Ebenſo gewiß aber iſt, daß von ſolchen allgemeinen Zukunftserwägungen kein Weg zu praktiſchen Schlüßfolge- rungen für die Gegenwart führt. Wie der Dichter ſagt: wir, wir leben, unſer ſind die Stunden und der Lebende hat Recht, ſo wird und muß jede Generation ſich nach ihren Verhältniſſen und Bedingungen einrichten und den künftigen Geſchlechtern überlaſſen, es ebenſo zu halten. Sie würde ſo verfahren, auch wenn jene Schlüſſe auf die Zukunft noch viel ſicherer und unwiderlegbarer wären, als ſie etwa ſein mögen.

Es mag jedoch wenigſtens Eine Nuzanwendung der Malthus'ſchen Säze auf die Gegenwart und die deutſchen Zuſtände hier geſtattet ſein.

Der nationale Aufſchwung ſeit 1870 iſt auch von einer

namhaften Steigerung der Trauungen und Geburten be— gleitet, welche wieder in den Erleichterungen des Erwerbs, in Freizügigkeit, Beſeitigung von Verehelichungshinderniſſen, Gewerbeordnung und geſteigerter wirthſchaftlicher Entwick— lung ihre Urſache hat.

Eine Zuſammenſtellung über den Gang der Bevölke— rung in allen deutſchen Ländern gemäß den neu verein— barten Formularen liegt noch nicht vor, doch haben wir die Notiz, daß im Jahr 1872 in Preußen 1,023,500, in Bayern 201,500, in Württemberg 83000, zuſammen 1,3089000 Geburten und 765000, 159000, 60000 zuſammen 985000 Sterbfälle gezählt wurden, ſo daß, wenn man dieſe Ver— hältniſſe von drei Viertheilen des Reichs auch für das lezte Viertheil vermuthen und anwenden darf, im deutſchen Reich

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in Einem Jahr 1,714000 Kinder geboren und 15288000 Perſonen geſtorben wären, was einen Ueberſchuß von 426000 = 1,12% ergiebt. Dieß macht für je 1000 E. 42,7 Geburten, 31,5 Sterbfälle und 11,2 P. natürlichen Zuwachs.

Es iſt viel eher eine zu niedrige als eine zu hohe Annahme, daß auf jene 1,714000 Kinder ein Abgang von 30% für die im erſten Lebensjahr Geſtorbenen mit Ein— ſchluß der Todgeborenen fällt, daß alſo 514000 Kinder in Einem Jahr zur Welt kommen, nur um ſie alsbald, und die meiſten auf eine jämmerliche Weiſe, wieder zu verlaſſen.

Nicht nur in Frankreich, über deſſen ſittliche Zuſtände hinſichtlich des Geſchlechtslebens wir uns ſo leicht mit ſehr unberechtigtem Phariſäerſtolz erheben zu dürfen glauben, auch in Belgien und den weit kinderreicheren germaniſchen Stämmen der Scandinavier und Engländer iſt jener Kinder— verluſt des erſten Lebensjahrs weit geringer, und der mittel— europäiſche Durchſchnitt, ſobald man Deutſchland wegläßt, geht nicht über 20% aller Geborenen. Wenn Deutſchland in dieſem Punkt ſo viel ungünſtigere Verhältniſſe gegen— über von Völkern darbietet, denen es ſich ſonſt in allen Merkmalen der Civiliſation gleichzuſtellen gewöhnt und be— rechtigt iſt, ſo wird Niemand phyſiſche Momente anzuführen vermögen, die das Kinderleben unter deutſchem Himmel ſchwerer gefährden, als im übrigen mittleren und nörd— lichen Europa, Niemand wird die Urſachen wo anders als in Handlungen und Unterlaſſungen der Menſchen, in übler Sitte, in leichtſinniger Kindererzeugung, in unverſtändiger,

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gleichgiltiger, fahrläßiger oder gewiſſenloſer Behandlung des Kinderlebens ſuchen dürfen. Nur bei unſern ſlaviſchen Nachbarn im Oſten, deren Geſittung wir ſonſt der unſrigen nicht gleichachten, finden ſich ähnliche Verhältniſſe.

Wenn man auch nur die mitteleuropäiſche Proportion von 20 Procent, wiewohl ſie ſelbſt ſchon keineswegs als das Natürliche gelten kann, zu Grunde legt, ſo ſind in Deutſchland nicht weniger als jährlich 170000 Kinder als Opfer dieſer Form des modernen Molochdienſtes und der unmoraliſchen repreſſiven Checks von Malthus zu betrachten. Wenn dieſe am Leben blieben, ſo würde der Jahreszuwachs ſchon 1½% betragen, wenn ſie, was wohl das Erwünſchtere iſt, gar nicht geboren würden, ſo würde der gleiche Zuwachs erzielt, wie vorher, aber unter Erſparung einer Unſumme von Leiden, Sünden und wirthſchaftlichen Nachtheilen.

Wenn wir dahin gelangen könnten, daß ſtatt 40 Ge— burten nur 30, ſtatt 30 Sterbfällen nur 20 auf je 1000 Seelen träfen, ſo bliebe der Jahreszuwachs unverändert, aber an die Stelle einer kranken Oeconomie des Geſchlechts— lebens träte eine geſunde und es würde einer der häßlichſten Flecken von der deutſchen Geſittung entfernt.

Stadt und Land ).

Stadt und Land unter allen denkbaren Rubriken mit einander zu vergleichen, dieſen Gegenſaz in jede Unter— ſuchung ſocialer Thatſachen hineinzutragen, iſt in der Sta— tiſtik ſchon längſt ganz beſonders beliebt und gebräuchlich. Man ſpricht von einer ſtädtiſchen und ländlichen Geburts-, Trauungs- und Sterbeziffer, von ſtädtiſcher und ländlicher Frequenz der unehelichen Geburten, der Selbſtmordfälle, der Verbrechen; man findet Abweichungen in der Körper— größe, der Militärtüchtigkeit, der mittleren Lebensdauer u. ſ. w. Es gehört dieſe Unterſcheidung, etwa neben Ge— ſchlecht und Alter, zu den Reagentien erſter Ordnung, die in der Analytik der Statiſtiker zur Anwendung gelangen.

Wenn nur auch der Gewinn an Verſtändniß der Sache, an wirklicher Einſicht in den Zuſammenhang der Erſchei— nungen der Mühe und Sorgfalt entſpräche, die in ſolchen Unterſuchungen ſteckt! Aber wer, wenn er ſich durch all dieß Material durchgearbeitet hat, kann denn ſchließlich ſagen, ob nun wirklich etwa die ländliche Fruchtbarkeit größer

) Ein Theil dieſes Aufſazes iſt Auszug und Umarbeitung einer ſchon früher (Württembergiſche Jahrbücher für Statiſtik und Landes— kunde. 1870. Seite 446 und ff.) geführten Unterſuchung.

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iſt oder die ſtädtiſche, und ob hier mehr Leute ſterben oder dort? Es iſt bald ſo bald anders. Wenn ſich aber auch wirklich conſtantere Unterſcheidungsziffern nachweiſen laſſen ſollten, was iſt denn damit anzufangen, worin liegt der Grund der Abweichungen?

Iſt denn überhaupt ein Cauſalzuſammenhang erkenn— bar zwiſchen der Größe der Wohnpläze und den Thatſachen der menſchlichen Biotik? Warum in aller Welt ſoll der— jenige, der einer größeren Anzahl von Menſchen durch längere Häuſerreihen nahe gerückt iſt, mehr Kinder er— zeugen oder weniger, länger leben oder kürzer, früher hei— rathen oder ſpäter, eine kleinere oder größere Neigung zu verbrecheriſchen Handlungen haben, als wer nur mit einer kleineren Zahl von Nachbarn und Genoſſen ſeines Wohn— plazes zuſammenlebt? Oder, wenn der Schwerpunkt in der Beſchäftigung liegen ſoll, warum ſollte der Handwerker früher ſterben oder ſpäter als der Bauer, die Tochter des Einen der Verſuchung ausgeſezter ſein oder leichter unter— liegen als die des Andern? Ein unmittelbarer Zuſammen— hang von Urſache und Wirkung iſt nicht erſichtlich; wenn er aber in Zwiſchengliedern liegt, ſo wären dieſe zu nennen und nachzuweiſen, auch zu zeigen, ob ſie überall und noth— wendig Plaz greifen, oder nur zuweilen und unter beſon— deren Bedingungen.

Sodann faßt man gewaltſam das unter ſich Ungleichſte in Eine abjtracte Formel zuſammen, wenn man auf der einen Seite die kleinen Land-, wie die Haupt- und Groß— ſtädte, die Fabrik- und Handelspläze, die Size von Garni—

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ſonen, Hochſchulen, Gebäranſtalten, Kranken- und Findel— häuſern, von Strafanſtalten und Inſtituten aller Art in die Eine Rubrik „Stadt“ zwängt, auf der andern Hofgüter, Weiler, Bauerndörfer, oder engliſches und iriſches Pachter— thum, ſüdeuropäiſches Colonat, ruſſiſchen Gemeindebeſiz u. ſ. w. in die Uniform des Wortes „Land“ einkleidet. Das Weſentliche und Charakteriſtiſche ſo grundverſchiedener Dinge wird damit mehr verwiſcht und begraben, als mar— kirt und erkannt. Es iſt nicht viel anders als wenn man Weiß, Schwarz und Roth in den einen Farbentopf, Gelb, Grün und Violett in den andern werfen und dann aus den kleinen Nuancen des graubraunen Gemiſches die Natur jener einfachen Farbenelemente wieder herausdeuten wollte.

Es war zwar rationell und unanfechtbar, wenn die Statiſtiker neuerdings mit Rückſicht auf die hiſtoriſchen Zu— fälligkeiten des Städtenamens die Begriffe von Stadt und Land ganz fallen ließen und die Unterſcheidung von Wohn— pläzen unter oder über 2000 Einwohnern dafür einſezten; doch iſt dadurch nur an die Stelle concreter geſchichtlicher Thatſachen eine willkührlich gegriffene numeriſche Grenz— linie gerückt worden; die größeren Bauerndörfer ſind nun den Landſtädten gleichgeſtellt; die Unterſcheidung deckt ſich noch weniger als ſchon vorher mit der von Ackerbau und Gewerbe; und die Bürgſchaft dagegen, daß in den Tabellen doch nicht immer wieder Gemeinden, die mit ihren Parzellen im Ganzen über 2000 Einwohner zählen, als Wohnpläze mit mehr als 2000 Einwohnern aufgenommen werden, iſt nicht hoch anzuſchlagen. Jedenfalls aber erſcheinen nun

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jene Abweichungen in Fruchtbarkeit, Mortalität und Mora— lität nur noch unverſtändlicher, wenn dem abſtracten Moment der bloßen Einwohnerzahl eine magiſche Kraft zukommen ſoll, die Menſchen zeugungsfähiger, langlebiger und beſſer oder ſchlechter zu machen.

Da nun aber alle dieſe Bemerkungen an der thatſäch— lichen und tiefgreifenden Bedeutung des ſocialen Factors „Stadt und Land“ nichts ändern können und wollen, ſo fühlt man das Bedürfniß, die Sache noch näher anzuſehen und den Knäuel von Cauſalverſchlingungen, der in den Ziffern der Tabellen zu ſtecken ſcheint, genauer zu entwirren und in ſeine Elemente auseinander zu legen.

Man wird hier vor allem Andern die bevölkerungs— ſtatiſtiſchen Momente von den culturſtatiſtiſchen, die phy— iologiſchen von den pſychologiſchen Seiten der Sache unter— cheiden müſſen. Beides greift zwar wohl auch wieder in einander, darf aber darum doch nicht vermengt werden.

Da zeigt ſich nun auch hier wieder der große Werth, der genauen Altersaufnahmen ganzer Bevölkerungen mit Unterſcheidung von Geſchlecht und Familienſtand zukommt. Erſt hiemit gewinnt die Statiſtik das unerläßliche Inventar des geſellſchaftlichen Perſonalbeſtandes und den vollen Ein— blick in das innere Getriebe der ſocialen Erſcheinungen und der Bewegung der Bevölkerungen. Und ſo liegt auch hier der Schlüſſel, um das bunte und widerſpruchsvolle Material der ſtatiſtiſchen Unterſuchungen über die ſtädtiſchen und ländlichen Bevölkerungen aus den einfachen und primären Urſachen abzuleiten und verſtändlich zu machen.

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Ich glaube ein inſtruktives Beiſpiel zu wählen, wenn ich nach der Württembergiſchen Aufnahme von 1867 die Ergebniſſe der neueren Zählung von 1871 ſind noch nicht ſo weit bearbeitet, der Altersmiſchung der Stadt Stuttgart die eines rein ländlichen Bezirkes gegenüberſtelle und als Typus eines ſolchen das Oberamt Maulbronn wähle, in welchem auf 3,8 Quadratmeilen 22400 Ein— wohner in 23 Gemeinden, wovon nur ein einziger Wohn— plaz die Grenze von 2000 Einwohner um ein Weniges überſchreitet, in kleinbäuerlicher Dorfwirthſchaft ohne Fa— briken und ſtädtiſchen Gewerbebetrieb leben, das weder zu den armen noch zu den wohlhabenden Bezirken des alt— württembergiſchen Landes gerechnet wird, noch auch ſonſt ſinguläre Merkmale erkennen läßt.

Zum beſſeren Verſtändniß ſind in der folgenden Ta— belle die entſprechenden Ziffern für die Geſammtbevölkerung Württembergs beigefügt.

Von je 10000 Lebenden ſtanden im Jahr 1867 im Alter von

in der Stadt Stuttgart im Bezirk Maulbronn im Landesdurchſchnitt

0—5 Jahren 946 1423 1212 5—10 717 1226 1027 10—15 679 992 906 15—20 1224 846 940 20—25 1574 729 897 25—30 1203 770 832 30—40 1500 1200 1277 40—50 970 1113 1116 50—60 643 874 908 60—70 388 575 630 70—80 133 226 217 80-90 21 26 36 2 0 2

Rümelin, Reden u. Aufſätze. 22

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Wenn man die Altersklaſſen nur in drei Gruppen, 0—15, 15—40, und über 40 Jahre zuſammenfaßt und die Ziffern auf Procente reducirt, ſo ergeben ſich

im Alter von im Alter von im Alter von

0—15 Jahren 15—40 Jahren + 40 Jahren für die Stadt 23,42% 55,01% 21,57% den Landbezirk 36,41% 35,45% 27,54% das Königreich 31,45% 39,46% 29,09% *)

Die großen Abweichungen der Altersmiſchung ſpringen in die Augen. Auf dem Land ſind 36% der ganzen Be— völkerung Unmündige unter 15 Jahren, in der Stadt nur 23%; die jugendlichen Altersklaſſen der 15—40 Jährigen ſind in der Stadt in ganz abnormer Weiſe überfüllt und machen 55%, weit über die Hälfte der Einwohnerzahl, auf dem Land nur ein ſtarkes Drittheil, 35%, aus; in den mittleren und höheren Jahren überwiegt die Landbevölke— rung wieder im Verhältniß von 27 zu 21 Procenten.

Vergleicht man das numeriſche Verhältniß der Ge— ſchlechter, ſo kamen auf 100 männliche Perſonen in der Stadt Stuttgart 101,6 weibliche, im Bezirk Maulbronn 106,8, aber in den Altersklaſſen von 0—15 Jahren kamen auf 100 männliche Perſonen in der Stadt 99,3, auf dem Land

102,1 weibliche, im Alter von 15—40 Jahren in der Stadt

) Für Berlin giebt Schwabe das Verhältniß an: 0-15 Jahre 28%, 15—40 Jahre 50,5%, über 40 Jahren 21,5%. Für München ſind die Ziffern 21,8. 47,6. 30,6, für Nürnberg 26,6. 49,1. 24,3, wo⸗ bei jedoch zu beachten iſt, daß zur Zeit der Zählung (1871) wegen der Occupationstruppen der Stand der Garniſon in dieſen Städten ein unternormaler geweſen ſein kann.

339 97,3, auf dem Land 115, im Alter von mehr als 40 Jahren dort 129,5, hier 104 weibliche Perſonen.

Ferner waren in der Stadt 27,2% der Einwohnerzahl verheirathet, auf dem Land 33,4%; wenn man aber die Verheiratheten nebſt den Verwittweten und Geſchiedenen nur mit den Altersklaſſen von mehr als 20 Jahren ver— gleicht, jo waren in der Stadt 50,3% ledig, auf dem Lande nur 29%.

Woher kommen denn nun aber alle dieſe auffallenden Unterſchiede in der Zuſammenſezung einer ſtädtiſchen und ländlichen Bevölkerung nach Alter, Geſchlecht und Familien— ſtand? Der Grund iſt nicht ſchwer aufzufinden.

Die Stadt hat neben ihren anſäßigen und ortsange— hörigen Einwohnern noch eine zwar immer vorhandene, aber in den Perſonen ſtetig wechſelnde, fluctuirende, vom Land geliehene Bevölkerung, die bis zu einem Viertheil der Ge— ſammtzahl betragen, ja bis zu einem Drittheil ſteigen kann.

Das Hauptcontingent dazu werden immer die Dienſt— mädchen für die Bedürfniſſe der Haushaltung ſein, die in keinem Hauſe, ja faſt auf keinem Stockwerk fehlen. Die Stadt kann ſie nicht ſelbſt in genügender Zahl liefern; ſie kommen von den Dörfern und Landſtädtchen, bringen eine größere oder kleinere Zahl von Jahren in der Stadt zu, um dann in den meiſten Fällen wieder in ihre Heimath zurückzukehren. Ihre Zahl beträgt in Stuttgart etwa 8 Procent der ganzen Bevölkerung.

Den zweiten Faktor dieſer Art bilden die Gehilfen in den Gewerben, die Lehrjungen und Geſellen im Handwerk,

22 *

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die Lehrlinge und Commis in den Comptoirs und Kauf— läden. Auch dieſe kommen der Maſſe nach von außen herein und ziehen nach einigen Jahren wieder fort. Ihre Zahl kann der der Dienſtmägde gleich kommen oder ſie noch übertreffen.

Neben dieſen beiden Hauptklaſſen der geliehenen Be— völkerung kommen nun noch in geringerer Anzahl einer— ſeits die männlichen Dienſtboten für Haus oder Gewerbe, andererſeits die weiblichen Gehilfen im Gewerbe, in den Wirthſchaften, Läden, die Nähmädchen u. ſ. w. hinzu.

Dieß ſind die conſtanten Elemente, welche in keinem Wohnplaz von ſtädtiſchem Charakter fehlen werden. Sie bilden ein zahlreiches, häufig wechſelndes Perſonal, das der Regel nach im Alter von 15—40 Jahren ſtehen, unver— heirathet ſein und ſo ziemlich gleich auf die beiden Ge— ſchlechter vertheilt ſein wird.

Zu dieſen conſtanten Zuflüſſen einer ledigen Jugend vom Land herein geſellen ſich nun noch eine Reihe von variablen, die vorhanden ſein oder fehlen können. Dazu gehören vor Allem Garniſonen und höhere Lehranſtalten, welche die Zahl der jungen Männer ſehr ſteigern; ſodann Fabriken, bei welchen es darauf ankommt, ob ſie vorzugs— weiſe männliche oder weibliche Arbeiter beſchäftigen und einer kleineren oder größeren Zahl die Verheirathung er— möglichen. Dann giebt es noch eine Reihe von Inſtituten von anderweitiger Wirkung für den Zuzug von Ortsfrem— den, wie Strafanſtalten, Erziehungs- und Waiſenhäuſer, oder die für die Geburts- und Sterbeliſten ſo wichtigen Gebäranſtalten, Spitäler und Findelhäuſer.

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Aus dieſem Einen Grundmerkmal des Stadtcharakters, dem ſtarken Zufluß einer ortsfremden ledigen Jugend zu vorübergehendem Dienſt und Aufenthalt ergeben ſich nun eine Reihe bevölkerungsſtatiſtiſcher Unterſchiede zwiſchen Stadt und Land als natürliche und nothwendige Folgen. Denn

1) iſt es klar, daß, wenn auf dem Lande 70% aller Erwachſenen verheirathet zu ſein pflegen, in der Stadt noch nicht die Hälfte, dort auch mehr Kinder geboren werden als hier, ſomit die ſtädtiſche Fruchtbarkeit, als Verhältniß der Geburten zu der Einwohnerzahl ausgedrückt, kleiner ſein wird.

2) Es iſt wenigſtens nicht auffallend und kann der Stadtbevölkerung nicht zum beſonderen Vorwurf gereichen, wenn mehr uneheliche Geburten vorkommen als auf dem Lande. Denn die Zahl der unverheiratheten und im Alter der Geſchlechtsreife ſtehenden Perſonen iſt ja eine viel größere. So machen in Stuttgart die Mädchen im Alter von 18—35 Jahren 14— 15%“, in einem Landbezirk nur 89% der ganzen Bevölkerung aus. Erſt wenn die Zahl der unehelichen Geburten in der Stadt in einer ſtärkeren Proportion als z. B. eben dieſer von 14: 8 die der länd— lichen überſchreiten würde, wäre ein für die ſtädtiſche Moralität ungünſtiger Schluß gerechtfertigt. Es iſt ja über— haupt eine ganz irreführende Methode der herkömmlichen Statiſtik, die Frequenz der unehelichen Geburten nach ihrem Verhältniß zu der Zahl der ehelichen oder aller Geburten zu bemeſſen, ſtatt nach der Zahl der geſchlechtsreifen un—

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verheiratheten Frauenzimmer, die allein maßgebend jein kann ).

3) Es iſt füglich nicht anders zu erwarten, als daß die Mortalität oder ſogenannte Sterbeziffer in der Stadt eine kleinere und günſtigere iſt, als auf dem Land, wenn dort 55, hier nur 35 Procente der ganzen Bevölkerung im Alter der größten Lebensfeſtigkeit ſtehen, wenn auf dem Land die gefährdetſten Altersklaſſen der erſten Kindheit und

Mit welcher Vorſicht überhaupt die Angaben über die unehe— lichen Geburten der einzelnen Wohnpläze zu behandeln ſind, läßt ſich an einem ſchlagenden Beiſpiel zeigen. In Stuttgart ſind nach der officiellen Aufnahme 7—8 Procente aller Geburten uneheliche und die Zahl iſt die günſtigſte im ganzen Land. Dieß kommt aber nur daher, daß bei der Zählung die Ortsangehörigkeit zu Grunde gelegt war und die in Stuttgart geborenen unehelichen Kinder ortsfremder Mütter in die Kirchenbücher ihrer Heimathgemeinde eingetragen wurden. Zählte man alle faktiſch in Stuttgart geborenen unehelichen Kinder, jo würde der Procentſaz auf 25 ſteigen; zieht man davon die Kinder der in die Gebäranſtalt von auswärts aufgenommenen Mütter ab, ſo ſinkt die Zahl wieder auf 18%. Da nun aber immer noch viele Mädchen, die eine Geburt zu erwarten haben, namentlich Dienſtmägde, nicht in die Gebäranſtalt gehen, ſondern nach Hauſe oder ſonſt aufs Land, ſo müßte man auch dieſe Fälle in Berechnung nehmen. Man müßte überhaupt nicht die in der Stadt geborenen, ſondern die in der Stadt erzeugten unehelichen Kinder wiſſen, und dieſe nicht mit den ehelichen oder allen Geburten, ſondern mit der Zahl der ledigen, geſchlechtsreifen Mädchen der Stadt vergleichen können, um die allein richtige Grund— lage eines Urtheils zu gewinnen. Dieß iſt aber noch nie und nirgends geſchehen und auch ſo gut als unmöglich. Wo und ſo lange man aber im conereten Fall dieſe und ähnliche Faktoren gar nicht kennt und zu unterſcheiden vermag, muß man ſich bei der Vergleichung der unehelichen Geburten in Stadt und Land, wie zwiſchen einzelnen Städten des Rühmens auf der einen, des Verdammens auf der andern Seite völlig enthalten.

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des Greiſenalters numeriſch viel ſtärker vertreten ſind. Ueberdieß kehren von den Ortsfremden viele im Fall ſchwererer Erkrankung in ihre Heimath zurück.

4) Ebenſo natürlich aber iſt wieder, daß das Durch— ſchnittsalter der Geſtorbenen in der Stadt niedriger iſt als auf dem Land und dadurch der Schein entſtehen kann, als ob in der Stadt die mittlere Lebensdauer eine geringere wäre. Denn wo ſehr viel junge Leute leben, werden eben doch immer auch entſprechend mehr von ihnen ſterben, als wo nur wenige leben und die jung Geſtorbenen werden den Geſammtdurchſchnitt des Alters der Geſtorbenen herab— drücken. Auf der andern Seite fällt bei geringerer Frucht— barkeit freilich auch der Factor der Kinderſterblichkeit weniger ins Gewicht, was jenen Umſtand wieder neutraliſiren müßte. Sodann iſt zu beachten, daß häufig Penſionäre, Rentiers, Wittwen erſt in höherem Alter in die Stadt ziehen, und dann ſowohl die Sterblichkeit als das Durchſchnitts— alter der Geſtorbenen erhöhen, ſowie daß in die ſtädtiſchen Krankenhäuſer auch Auswärtige aufgenommen werden. Um die Mortalität einer Stadtbevölkerung zu beſtimmen, müßten alle dieſe einzelnen Factoren iſolirt und begrenzt werden können.

5) Da die vom Land entlehnte jugendliche Bevölkerung der Regel nach nicht in der Stadt zur Niederlaſſung und Verheirathung gelangt, ſondern zu dieſem Zweck wieder auf das Land zurückzukehren pflegt, ſo muß die Trauungs— ziffer der Städte eine niedrigere ſein als die auf dem Lande.

Einige weitere Folgen aus den gleichen Urſachen

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greifen noch über das bevölkerungsſtatiſtiſche Moment hin— aus. Denn

6) wenn nach den Ergebniſſen der Criminalſtatiſtik in den Jugendjahren als dem Alter der Leidenſchaft und ſinnlichen Begierden die Dispoſition zu rechtswidrigen und gewalt— thätigen Handlungen ihren Höhepunkt hat, ſo iſt es nicht unerwartet, daß da, wo gerade dieß Alter in übernormaler Weiſe vertreten iſt, auch mehr Vergehen und Verbrechen vorkommen, als auf dem Lande, das ſeinerſeits einen großen Theil ſeines Perſonals aus eben dieſen Altersklaſſen an die Städte abgiebt.

7) Wo es weniger Kinder und Greiſe giebt und ein weit größerer Theil der Bevölkerung im erwerbfähigſten und arbeitkräftigſten Alter ſteht, da iſt die auf den pro— ductiven Klaſſen ruhende Laſt, die Unproductiven, das heranwachſende Geſchlecht zu ernähren, leichter zu tragen; es kann mehr erworben, erſpart oder verbraucht werden. Es giebt viel mehr Leute, die nur für ſich ſelbſt zu ſorgen haben. Das Leben wird leichter und bequemer, während auf der Landbevölkerung die Sorge für den Nachwuchs weit ſchwerer laſtet. |

S) Wenn die Jugend für alles Neue in Sitten und Meinungen empfänglicher iſt als das Alter, ſo müſſen da, wo die Jugend die größere Hälfte der ganzen Bevölkerung bildet, die Bedingungen für jede Art von Fortſchritt und Neuerungen günſtiger liegen, als wo die mittleren und höheren Altersklaſſen, von den noch Unmündigen abgeſehen, ſchon das numeriſche Uebergewicht behaupten.

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Es iſt hiemit ein innerer Cauſalzuſammenhang nach— gewieſen worden zwiſchen der Einen Grundthatſache, daß die Stadtbevölkerung ein ſtarkes Element eines fluctuiren— den, vom Land entlehnten, jugendlichen und meiſt ledigen Perſonals in ſich ſchließt, und zwiſchen einer ganzen Reihe bevölkerungs- und culturſtatiſtiſcher Thatſachen, die zu den Unterſcheidungsmerkmalen von Stadt und Land gerechnet werden. Die Tabellen der Statiſtik ſind damit erſt ver— ſtändlich geworden; es iſt ein Schlüſſel geboten, das Nor— male von dem Abweichenden, die Regel von der Ausnahme zu unterſcheiden und die Gründe von dieſer aufzuſuchen.

Aber allerdings ſind hier noch Vorbehalte zu machen. Die ganze obige Ausführung trifft nur zu, wenn auf der einen Seite der große Wohnplaz mit ausgeprägtem Stadt— charakter, auf der andern Seite das bäuerliche Dorf ſteht.

Die kleine Landſtadt iſt, wie ihr Name ſelbſt, eine Miſchung oder Zwiſchenform von Land und Stadt; die Altersmiſchung der Bevölkerung entſpricht der Regel nach dem Landesdurchſchnitt. Es findet ebenſo viel Abfluß in die Großſtädte und Induſtriebezirke, als Zuzug vom Lande Statt; die anweſenden Ortsfremden ſind ſelten zahlreicher als die abweſenden Ortsangehörigen; ein Uebergewicht der rechtlichen Bevölkerung über die faktiſche tritt ſehr häufig ein. Damit fallen alle oben erwähnten ſpecifiſchen Merk— male der Stadtbevölkerung weg oder ſind ſie nur ſchwach entwickelt.

Cine ſcharfe Abgrenzung der Landſtadt von der eigent— lichen Vollſtadt, wie ſie der Statiſtiker bedürfte, iſt freilich

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ohne Willkühr nicht auszuführen. Man kann etwa die Einwohnerzahl von 10000 als annähernde Grenzlinie be— zeichnen. Aber die Städte ſind eigentlich Individuen; es giebt eine Reihe ſingulärer Umſtände, welche Ausnahmen begründen; wie z. B. Reſidenzen, Size von Landescollegien, wiſſenſchaftlichen Inſtituten, Bäder, Fremdenpläze eine ganz verſchiedene Gliederung der Bevölkerung nach Geſchlecht, Alter und Familienſtand begründen können.

Ebenſo kann aber, was vom Bauerndorf gilt, nicht auch vom Induſtrie- oder Fabrikdorf oder vom Judendorf geſagt werden; es würde ſchon auf diejenigen Dörfer, in denen, wie z. B. in großen Theilen Frankreichs, eine Be— ſchränkung der Kinderzahl zur bäuerlichen Sitte gehört, kaum mehr anwendbar ſein. Am wenigſten aber paßt es auf die Regionen der Hofgüter. Hof und Dorf liegen in den bevölkerungsſtatiſtiſchen Merkmalen ſo weit aus einander als Dorf und Stadt; ja ſie treten in einen ganz ähnlichen Gegenſaz zu einander. Der Hof wie die Stadt ſucht Arbeits— kräfte vom Dorf vorübergehend zu entlehnen. Er bedarf landwirthſchaftliches Geſinde, Knechte und Mägde, die wo möglich in den beſten Jahren ſtehen und unverheirathet ſind. Nur wo die Arbeitskraft leihenden Dörfer fehlen, wo die Gutswirthſchaft die faſt ausſchließliche Betriebsweiſe iſt, wie in großen Theilen des nordöſtlichen Deutſchlands, muß das Gut auch die Arbeitskräfte ſelbſt produciren und den Arbeitern die Verheirathung ermöglichen. Daraus er— geben ſich dann mannigfach abgeſtufte Zwiſchenformen von Dorf- und Hofverhältniſſen in der Bevölkerungsmiſchung.

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Wie oben ein württembergiſcher Bezirk als Typus der kleinbäuerlichen Dorfſchaften erſchien, ſo läßt ſich ein anderer, das Oberamt Wangen an der ſüdöſtlichen Grenze des Landes, ohne Dörfer und nur mit zwei kleinen Städtchen von 2000 Einwohnern, ſonſt mit bäuerlichen Höfen bedeckt, mit 3000 Einwohnern, aber 120 Wohnpläzen auf der Quadratmeile, als Beiſpiel einer Hofbauernregion und ihrer Bevölkerungs— miſchung gebrauchen. Der Unterſchied gegen das klein— bäuerliche Dorf iſt augenfällig. Denn es ſtanden von je 10000 Lebenden

im Alter von im kleinbäuerlichen im hofbäuerlichen Bezirk

0 —15 Jahren 3641 2657 15—40 3545 3989 EO 2754 3354

Während in dem kleinbäuerlichen Dorfbezirk von den über 20 Jahre alten Perſonen 29% ledig, 71% verhei— rathet oder verwittwet ſind, treffen in der hofbäuerlichen Region auf dieſelben Rubriken 47% Ledige und 53% Nichtledige.

Es ſind alſo im Weſentlichen die gleichen Symptome wie in der Stadt, geringe Fruchtbarkeit und ſchwache Ver— tretung der jüngſten Altersklaſſen, unter den Erwachſenen wenige Ehen, viele Ledige; nur drängt ſich dieſe geliehene Bevölkerung nicht jo in den Altersklaſſen von 15—40 Jahren zuſammen, ſondern füllt auch noch die ſpäteren, da es auf den untheilbaren Höfen viele nicht verheirathete ältere Familienglieder giebt.

Wenn nun aber hiernach in den bevölkerungsſtatiſtiſchen

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Momenten Hof und Stadt, und wieder Dorf und Land— ſtadt einander verwandt ſind, ſo folgt daraus, daß der ein— fache Gegenſaz von Stadt und Land das Weſen der Sache nicht trifft, und daß jene vier Grundformen, villa, vieus, oppidum, urbs, zwiſchen welchen noch mancherlei Ueber— gangsglieder, wie Weiler, Marktflecken, Mittelſtadt liegen und nach den Umſtänden des beſondern Falls einzureihen find, unterſchieden werden müſſen. Denn wenn A und D gemeinſame Merkmale haben, durch welche ſie ſich gegen B und C abgrenzen, jo kann die Vergleichung von A + B mit C D nur ein trübes, jene Merkmale verwiſchendes Ergebniß als Differenz liefern. Das Reſultat wird ganz durch die relative Stärke der einzelnen Summanden unter ſich und durch die Modificationen der Verhältniſſe in den verſchiedenen Ländern beſtimmt.

Wenn dann nun vollends nicht blos ganz heterogene Erſcheinungen je unter der Rubrik Stadt oder Land zu— ſammengefaßt, ſondern auch noch ſcandinaviſche, deutſche, franzöſiſche, belgiſche, niederländiſche Agrarverhältniſſe wieder in Eine Reihe geſtellt werden, wie will man da zu allge— meinen Säzen und Regeln gelangen? Was läßt ſich über die Fruchtbarkeit oder Heirathsfrequenz der Stadt- und Landbevölkerung irgend Allgemeines behaupten, wenn die größere Geburtenziffer für Frankreich, Belgien, Niederlande, Dänemark auf Seiten der Städte, für Preußen und Schles— wig⸗Holſtein auf Seiten der Landgemeinden, für Württem— berg und Sachſen aber kein Unterſchied zu bemerken iſt, wenn ebenſo bei der Trauungsziffer ganz ähnliche Abwei—

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chungen Statt finden? Die Mortalität allerdings erſcheint nach der Wappaeus'ſchen Tabelle (II, p. 481) überall größer für die Stadt als für die Landbevölkerungeu, wenn auch in den mannigfaltigſten Abſtufungen. Wo auch ſchon die Fruchtbarkeit auf Seite der Städte die größere iſt, wäre dieß durch den großen Antheil der Kinderſterblichkeit leicht zu erklären. Wo aber dieſe Vorausſezung fehlt, da wäre eine ganz andere, gründlichere und vielſeitigere Analyſe der ſtatiſtiſchen Tabellen ſtatt der bloßen Schlußziffern er— forderlich, um wirklich den Nachweis zu liefern, daß generell oder vorwiegend für die Stadtbevölkerungen die Bedingungen der Geſundheit und Lebensdauer ungünſtigere ſeien als auf dem Land. Eine einzige Specialunterſuchung, welche alle Momente berückſichtigt, wie z. B. Schwabes Werk über Berlin iſt hier lehrreicher als alle Generaltabellen, wenn ſie auf unrichtigen Vorausſezungen und Unterſcheidungen beruhen.

Es giebt geſunde und ungeſunde Wohnpläze bei jeder Einwohnerzahl. Wenn die „Agglomeration“ für ſich ge— ſundheitsſchädlich wäre, könnte nicht die größte Agglome— ration der Welt, London mit 4 Millionen Einwohnern, eines der günſtigſten Sterblichkeitsverhältniſſe, das wir kennen, (1:50) aufweiſen. Auch andere Städte, wie Frank— furt, Genf, Stuttgart, zeigen ſo günſtige Ziffern, als nur irgend ein Landbezirk der Welt. Es iſt ein ſchiefer Gegen— ſaz, wenn man die ungeſunde Stadtluft der geſunden Land— luft gegenüberſtellt. Der Stadtluft würde nicht die Land— luft, ſondern die Dorfluft entſprechen. Dieſe iſt bei den

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primitiven Einrichtungen der Kloaken, Dungſtätten, Stal- lungen, Straßen, Brunnen, Heerde, Oefen der Regel nach nichts weniger als preiswürdig. Aufenthalt und Arbeit im Freien iſt im Allgemeinen wohl dem Leben in den ge— ſchloſſenen Fabrikräumen vorzuziehen, wirkt aber auch in rauher Gegend und Jahreszeit in unzähligen Fällen ſchäd— lich. Man darf überhaupt nicht Fabrikarbeiter und land— wirthſchaftliche Arbeiter an die Stelle von ſtädtiſchen und ländlichen Wohnpläzen ſezen. Fabriken giebt es auch in Menge auf dem Land, und die Lage der Fabrikarbeiter wie die der landwirthſchaftlichen Taglöhner und Knechte iſt in ſich ſelbſt ſehr verſchieden, und läßt auf jeder Seite alle Abſtufungen günſtiger und ungünſtiger Verhältniſſe zu. Wenn Armuth lebenverkürzend wirkt, ſo iſt ſie in Stadt und Land zu finden und bald da größer, bald dort. Einen Vortheil wird die Stadt wohl immer behaupten, die leichtere, raſchere und wohl auch beſſere Hilfe des Arztes. Ohne Zweifel führt der Forſtmann, der Holzhauer, der Schäfer eine geſundere Lebensweiſe als der Bergmann oder Fein— ſchleifer oder Arbeiter in Bleiweißfabriken; aber dieß ſind doch nur beſondere Fälle und zwiſchen der landwirthſchaft— lichen und gewerblichen Beſchäftigung im Ganzen iſt hin— ſichtlich der Lebensgefährdung kein Unterſchied, den nicht Erfahrung und die Macht der Gewohnheit auszugleichen vermöchte. Alles ſtatiſtiſche Material liefert nicht einen Schatten von Beweis, daß in der mittlexen Lebenserwar— tung des Bauern und des Handwerkers, des ländlichen

Taglöhners und des Fabrikarbeiters, des Dorfſchulzen und des Oberbürgermeiſters ein Unterſchied anzunehmen ſei.

So lange daher nicht viel umfaſſendere, gründlichere und methodiſch beſſere Unterſuchungen vorliegen, ſpricht die innere Wahrſcheinlichkeit wie die äußere Erfahrung dafür, daß zwiſchen dem Zuſammenwohnen mit Vielen oder mit Wenigen und zwiſchen der Mortalitätsziffer und Lebens— ſicherheit kein Cauſalzuſammenhang beſteht und ſind wir in dieſer Sache noch um kein Haar weiter als zu der Weis— heit gelangt, die ſchon bei Horaz die Stadtmaus der Land— maus zu Gemüthe führt:

terrestria quando Mortales animas vivunt sortita, neque ulla est Aut magno aut parvo leti fuga *).

Alles Bisherige gilt nur von den bevölkerungsſtati— ſtiſchen, keineswegs auch von den kulturſtatiſtiſchen Mo— menten. Denn ſo wenig ſich erkennen läßt, warum die bloße Anhäufung von Häuſern oder Individuen die Ein— zelnen fruchtbarer oder unfruchtbarer, länger oder kürzer lebend machen ſoll, ſo einleuchtend iſt, daß dieſelbe auf die geſellſchaftliche und geiſtige Entwicklung den größten Ein— fluß haben kann und muß. Die Mannigfaltigkeit der Be— ſchäftigungen, Intereſſen und Anſchauungen bewirkt eine ſtärkere, geiſtige Friction, ein freieres und vielſeitigeres Ur— theil, eine größere Neigung und Empfänglichkeit für neue

9 Den irdiſchen Weſen Gab das Geſchick nur ſterbliche Seelen; der Kleine und Große,

Keiner vermag dem Tod zu entfliehn.

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Gedanken und Sitten. Als die Sitze der Organe der Staatsgewalt, als Pflegeſtätten der Künſte und Wiſſen— ſchaften, alles höheren Unterrichts, als Centralpunkte der Gewerbe und des Verkehrs, als Märkte für die ländliche Bevölkerung treten die Städte an die Spize alles politiſchen, geiſtigen und wirthſchaftlichen Lebens. Die Landbevölkerung folgt zögernd und widerſtrebend den von der Stadt aus— gehenden Impulſen. Alles dieß ſind bekannte und offen zu Tage liegende Erſcheinungen, und der Einfluß der Städte war, von den Republiken des claſſiſchen Alterthums abge— ſehen, vielleicht noch in keinem Zeitalter ſo groß wie in der Gegenwart. *

Nur muß man ſich auch hier vor einem vagen Gene— raliſiren hüten; man darf nicht Heterogenes, wie die Groß— und Kleinſtadt, das Dorf und den Hof je in Einen Topf werfen. Man darf nicht, was Merkmal des Zeitalters iſt, wie das Anwachſen der Großſtädte, die Arbeiterbewegung, den Unternehmungsſchwindel, die Börſenkriſen zu Merk— malen der Wohnpläze machen.

Und ebenſo wenig, als man ins Allgemeine von einer größeren Mortalität der Städte reden kann, darf man eine ungünſtigere Moralität der Stadtbevölkerungen als eine ſtatiſtiſche Thatſache bezeichnen. Man müßte an der Menſch— heit und ihrer Zukunft verzweifeln, wenn die höhere Aus— bildung der intellectuellen Kräfte und der beſſere Schul— unterricht zum ſtändigen Begleiter ein niedrigeres Niveau der ſittlichen Zuſtände hätte, wenn die Beſchränktheit der dorf- und hofbäuerlichen Bevölkerung die günſtigeren Be—

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dingungen für geſellſchaftliche Tugenden böte. Die Städte haben die Führung zum Guten wie zum Schlimmen und das Land ſträubt ſich bald gegen das Eine bald gegen das Andere.

Die Moralſtatiſtik der Städte bietet auffälligere und abſchreckendere Erſcheinungen. Wie ſich in der Großſtadt die mannigfaltigſten Richtungen unter ſich zuſammen und nach außen abſchließen, ſo gelingt es dort auch dem Laſter, ſich durch das Mittel der Gruppirung zu verſtärken. In Geſtalt der Proſtitution, des Gaunerthums, der Louis und Rowdies tritt es frecher und raffinirter auf und wird zu einer ſocialen Macht. Aber dieſe Iſolirung iſt zugleich für die übrigen Geſellſchaftskreiſe eine Reinigung. Die Bor— delle ſind zugleich ein Schuz für die häusliche Zucht und Sitte, wie der alte Cato nicht ſo Unrecht haben mochte, wenn er einen Verfall der Sitten darin ſah, daß die jungen Römer nicht mehr in die Lenocinien liefen. Neben jenen Tauſenden von habituellen Dieben, Strolchen und Dirnen leben Hunderttauſende arbeitſamer, ehrbarer, geſitteter Bürger. Für die Geſellſchaft iſt es beſſer, wenn Ein Menſch den Gerichten zehnmal zu ſchaffen macht als Zehne je Ein mal. Man hüte ſich doch ja, die ländlichen Zuſtände in geſchlechtlichen Dingen, im häuslichen Frieden, in Treu und Glauben, in Sicherheit der Perſon und des Eigen— thums idylliſch auszumalen. Es giebt zwar bäuerliche Dörfer, bei deren Betrachtung die ideale Vorſtellung nur in ſchwachem Maaß Lügen geſtraft wird; es giebt aber auch ſolche von einer ſittlichen Verkommenheit, die durch

Rümelin, Reden u. Aufſätze. 23

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die ſchlimmſten Quartiere der Weltſtädte nicht viel über— boten wird.

Die kleine Landſtadt liegt in der Regel von der Groß— ſtadt noch viel weiter ab als vom Dorf. Der charakteri— ſtiſche Unterſchied von jener iſt, daß die Geſellſchaft, ob— gleich nach Stand und Vermögen abgeſtuft, doch Ein Ganzes bildet, daß ſich Alles perſönlich kennt und controlirt. Die kleinen Städte ſind die Vermittlungskanäle für den Wechſel⸗ verkehr von Stadt und Land. Obwohl von beſchränkterem Geſichtskreis und in unruhigen Zeiten leicht aus dem Gleich— gewicht geſchoben, bilden ſie ein wohlthätiges temperirendes Mittelglied zwiſchen der ſtarken Strömung neuer Tendenzen und dem ſtabilen und ſchwerfälligen Element von Dorf und Hof. Sie halten ſich von den Exceſſen des großſtäd— tiſchen Lebens fern und können doch nicht ſo tief ſinken, wie das verkümmernde oder zuchtlos gewordene Dorf. Es iſt ein kleiner Grundſtock gebildeter Familien vorhanden, der der Regel nach im Anſehen ſteht und die Meinung der Maſſen nach ſich zieht. Schon Göthe hat dieſe Lichtſeiten warm geprieſen, wenn es in Hermann und Dorothea heißt:

Und Heil dem Bürger des kleinen Städtchens, welcher ländlich Gewerb mit Bürgergewerb paart! Auf ihm liegt nicht der Druck, der ängſtlich den Landmann beſchränket, Ihn verwirrt nicht die Sorge der vielbegehrenden Städter, Die dem Reicheren ſtets und dem Höheren, wenig vermögend, Nachzuſtreben gewöhnt find, beſonders die Weiber und Mädchen.

Aber auch Hof und Dorf ſind ſo wenig in Eine Rubrik zuſammenzuwerfen, als der oppidane und urbane Wohn—

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plaz. Die hofbäuerliche Bevölkerung iſt der iſolirteſte, dem Zeit und Staatsleben fremdeſte, ſtabilſte und conjervativfte Theil der Geſellſchaft. Sie zeigt die Licht- wie die Schatten— ſeiten primitiver und patriarchaliſcher Zuſtände. Die Schwie— rigkeiten eines geordneten Schulunterrichts ſind die größten; die Preſſe findet kaum ihren Weg dahin. Die rechtlich oder faktiſch gebotene Untheilbarkeit der Güter beherrſcht das Familienleben und führt zu feudalen Verhältniſſen. Das Gemeinde- und Staatsleben berührt den Einzelnen nur wenig; die kirchlichen Beziehungen ſind ihm näher gerückt. Die Sorge um Nahrung und Erwerb, der Unterſchied von Arm und Reich, die das Dorfleben beherrſchen, treten nur ausnahmsweiſe hervor.

Auch für die culturſtatiſtiſchen, wie für die bevölke— rungsſtatiſtiſchen Merkmale ſind ſomit ganz andere Unter— ſuchungen und Methoden, ganz andere Unterſcheidungen nöthig, als die Abſtractionen von Stadt und Land, von Wohnpläzen mit mehr oder weniger als 2000 Einwohnern.

Zwar iſt beim Gebrauch aller ſtatiſtiſchen Tabellen Vorſicht und Einſicht geboten, aber für die Statiſtik der Wohnpläze wäre erſt noch ein ganz neuer Boden zu legen.

Kleine Betrachtungen und Bekenntniſſe ver- miſchten Inhalts.

1. Allerlei. 1. Menſchliche Lebensdauer.

„Des Menſchen Leben währet 70 Jahr und wenns hoch kömmt, ſo ſinds 80 Jahr.“ Die Statiſtiker berufen ſich häufig und gerne auf dieſen bibliſchen Spruch, wenn es ſich darum handelt, die faktiſche Mortalität mit einem Normalmaaße zu vergleichen. Denn was der Verfaſſer des goten Pſalms vor mehr als 2000 Jahren unter ſüd— licherem Himmel und ganz abweichenden Geſellſchaftszu— ſtänden beobachten konnte, entſpricht auch ganz noch der heutigen Erfahrung und populären Anſchauung der Sache. Wenn Jemand in den 60ger Jahren ſtirbt, jo meinen wir, er hätte wohl noch länger leben können; wer das 80te erreicht hat, von dem ſagen wir, er habe ſein Alter hoch gebracht; wer aber mit 70 oder in den 70gern Jahren ſtirbt, der ſcheint uns das ordentliche und normale Maaß eines Menſchenlebens erreicht zu haben; der Geiſtliche wird den Angehörigen am Grabe ſagen, daß ſie zufrieden und

dankbar ſein müßten und keine Urſache haben, ſich zu be— klagen. 5

Eine andere Frage iſt es, auf welche Dauer der menſch— liche Organismus von Natur angelegt erſcheine. Darauf ſoll und kann jener Bibelſpruch keine Antwort geben, da er nur etwas Faktiſches ausſpricht. Ein namhafter Phy— ſiolog gelangt durch Beobachtungen des höheren thieriſchen Lebens zu der Norm, daß die natürliche Lebensdauer eines thieriſchen Organismus mindeſtens das Fünffache der Zeit betrage, welche von der Geburt bis zur Vollendung des Wachsthums des Knochengerüſtes erforderlich ſei. Auf den Menſchen angewendet, würde dieſer Canon, auch wenn man das Wachsthum ſchon mit 20 Jahren abgeſchloſſen denkt, zu einer natürlichen Lebensdauer von 100 Jahren führen. Dieſes Argument hat nun freilich viele unausgefüllte Lücken. Denn ſchon eine natürliche Lebensdauer der Säugethiere zu finden iſt faſt unmöglich. Von den im Freien lebenden und ſterbenden Thieren wiſſen wir weder Alter noch Todes— urſachen; die in menſchlicher Obhut ſtehenden Thiere aber leben unter außerordentlichen Verhältniſſen, die nicht maß— gebend ſind für das Naturgemäße. Die Anwendung auf den Menſchen bleibt immer nur ein Schluß nach Analogie. Der Neger gilt ſchon mit 16—17 Jahren für ausgewachſen, der Nordeuropäer kaum mit 24; dennoch wiſſen wir nicht, daß leztere ein entſprechend höheres Alter erreichten, als die zwiſchen den Tropen Aufgewachſenen. Immerhin wird das Gewicht des Arguments durch ſolche Einwen— dungen keineswegs ganz entkräftet; eine gewiſſe Proportion

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der Wachsthumperiode zur Lebensdauer und ein dem Thier— leben analoges Verhältniß des menſchlichen Organismus iſt ein berechtigter Gedanke. Jedenfalls ſprechen aber auch andere Zeugniſſe dafür, daß das Menſchenleben auf höher als 70—80 Jahre angelegt ſei. Der natürliche Tod wäre eigentlich das, was die Alten die Euthanaſie nannten, das Sterben aus Nachlaß der Kräfte, an Altersſchwäche, das Erlöſchen des Lebenslichts bei geringfügigem, äußerem An— laß. Solche Fälle der Euthanaſie treten aber nur ſelten und ausnahmsweiſe ſchon in den 70ger Jahren, meiſt erſt in den höchſten Altersſtufen von 80 und mehr Jahren ein. Die zahlreichen Beiſpiele von Menſchen, welche bei guten Kräften ein Alter von hundert Jahren und noch weit dar— über hinaus erreicht haben, wären nicht verſtändlich, wenn wir die normale, gleichſam phyſiologiſch begründbare Grenze des Menſchenlebens zwiſchen 70 und 80 Jahren ſezen wollten. Was ſich in wenigen Fällen verwirklichen ließ, muß unter den gleichen oder ähnlichen Bedingungen auch in vielen verwirklicht werden können. Die Wahrheit iſt wohl darin zu finden, daß der Menſchheit wie im Geiſtigen und Sitt— lichen ſo im Phyſiſchen und hinſichtlich der Lebensdauer keine feſten und unüberſchreitbaren Grenzen geſteckt ſind, ſondern auch hier Alles im Fluß begriffen und perfectibel, das Plus ultra niemals ausgeſchloſſen iſt. Wie uns das Mittelalter in Beziehung auf Hygieine und Therapie kin— diſch und barbariſch erſcheint, ſo werden auch künftige Jahr— hunderte über die öffentliche Geſundheitspflege und das mediciniſche Wiſſen des 19. Jahrhunderts urtheilen. Eine

Ahnung des Gedankens, daß die faktiſche Verkürzung der menſchlichen Lebensdauer im Vergleich zu derjenigen, auf welche unſer Organismus angelegt erſcheint, als eine Wir— kung von Irrthum und Sünde, von ſocialen und ſtttlichen Gebrechen anzuſehen ſei, liegt in den hebräiſchen Sagen vom Alter der erſten Menſchen, in den griechiſchen Mythen von einem goldenen Zeitalter, wo allen Menſchen im höchſten Alter am Nachlaß der Kräfte zu ſterben, zur Euthanaſie zu gelangen vergönnt war. Bei Herodot verſichert der König der Aethioper die Geſandten des Cambyſes, auf 120 Jahre brächten es die Meiſten von ihnen, und etliche noch drüber.

Die heutige Weltanſchauung gebietet, jene Ideale, welche man früher rückwärts in einer geträumten Urperiode reiner Menſchlichkeit ſuchte, vorwärts zu verlegen in der Zukunft unbeſtimmte Fernen. Da wir aber überall nur Fortſchritt und Entwicklungsfähigkeit wahrnehmen, ſo geſtattet ſie uns auch an ein künftiges, goldenes Zeitalter zu glauben, in welchem man von dem mit 80 Jahren Geſtorbenen ſagen wird, daß er noch bei guten Kräften abberufen worden und nicht zum natürlichen Ziele menſchlicher Lebensdauer ge— langt ſei. .

Bleiben wir aber nur vorerſt bei den 70 Jahren des Pſalmiſten ſtehen und bezeichnen es als ein ideales Ziel der Menſchheit, daß alle Menſchen das 70. Lebensjahr er— reichen, ſo haben wir an dem Bruchtheil oder Procentſaz derjenigen, welche wirklich dieß Ziel erreichen, ein Maaß, gleichſam einen Kurszettel, nach welchem die Actien der

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Menſchheit, ihre Entfernung von dem Pariſtand zu bemeſſen ſind. Von 100 Geborenen werden in Mitteleuropa der— malen nur 18 Menſchen 70, und nur 11 75 Jahre alt. Die Actien der Menſchheit haben alſo ungefähr den Kurs der ſpaniſchen Papiere, und der Hiſtoriker wie der Sta— tiſtiker haben alle Urſache zu glauben, daß ein höherer Kurs in keinem früheren Zeitalter und Volk in weiterem Kreis erreicht worden iſt.

2. Der Militäraufwand.

Nicht blos ein democratiſcher Tendenzſtatiſtiker, wie Kolb, ſondern auch viele unbefangene Leute von gemäßigten Anſichten, ja ſelbſt ein ſo beſonnener und kenntnißreicher Gelehrter, wie der Nationalöconom und Finanztheoretiker C. H. Rau, pflegen den Aufwand eines Volkes für ſein Militärweſen ſo zu berechnen, daß ſie zu dem Betrag des Etats der Kriegs- und Marineminiſterien noch die Summe der Arbeitslöhne addiren, welche die Mannſchaft während ihrer Dienſtzeit zu Hauſe hätte verdienen können. Nimmt man den ſeitherigen Aufwand des deutſchen Reichs für ſeine Landmacht rund zu 100 Millionen Thalern an, rechnet aber dabei, daß die 400,000 präſenten jungen Männer jährlich an 300 Arbeitstagen je 2 Mark Lohn hätten verdienen kön— nen, was bei den jezigen Preisverhältniſſen nicht einmal hoch genug erſcheint, ſo ergeben ſich weitere 80 Millionen Thaler. Fügt man nun, was ja nur conſequent wäre, dieſen Arbeitslöhnen einen entſprechenden Unternehmer—

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gewinn, etwa Yıo ihres Betrags hinzu, beachtet man ferner, was die Familien als Zuſchuß zu dem ungenügenden Sold, was ſie für den Aufwand der Einjährigen Freiwilligen in die Garniſonen zu ſchicken haben, und wendet man ſchließ— lich noch die gleiche Berechnungsweiſe analog auf die 17,000 Offiziere des Friedensſtandes an, ſo kommt man zu dem Reſultat, daß jene 100 Millionen Thaler, die im Reichs— budget laufen, auch abgeſehen von der Marine, noch nicht die Hälfte des Geſammtaufwandes der Geſellſchaft für die Landesvertheidigung ausmachen.

Dieſe weit verbreitete und landläufige Berechnungs— weiſe ſteckt voll von handgreiflichen Irrthümern und will— kürlichen Vorausſezungen, die es wohl der Mühe werth iſt, aufzudecken.

Was würde man dazu ſagen, wenn ein Vater, der 500 Thaler für die Studienkoſten eines Sohnes braucht, ſeinen Aufwand zu 1000 Thaler berechnen würde, weil, wenn er den Sohn hätte Kaufmann werden laſſen, dieſer jezt ſchon ein Salair von 500 Thalern beziehen würde? Der Fall iſt aber genau derſelbe.

Der Militäretat des Reichs ſchließt vor Allem auch die ganze Verpflegung der Mannſchaft in ſich, ihre Woh— nung, Nahrung, Kleidung, den Aufwand für Holz, Licht, Krankheitsfälle. Dieſer ganze Aufwand wäre, wenn die Leute zu Hauſe lebten und in Arbeit ſtünden, von den Löhnen zu beſtreiten und würde unzweifelhaft den weitaus größten Theil derſelben in Anſpruch nehmen. Alſo nur der kleine Reſt, den etwa 20—22 jährige junge Männer von

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ihrem Lohn zu erſparen oder für den Unterhalt ihrer An— gehörigen zu verwenden pflegen, könnte als ein zu dem Reichsmilitäretat hinzutretender Aufwand der Geſellſchaft in Betracht kommen. Von jenen 80 Millionen Thalern bliebe ſicherlich bei dieſer allein richtigen Berechnungsweiſe nur ein Minimum übrig. Allerdings würden vermuthlich die jungen Männer von ihren Arbeitslöhnen etwas reich— licher leben und ſich manchen Extraſchoppen und Trink— exceß geſtatten können, der in den Kaſernen wegfällt, aber darin läge weder für das öconomiſche, noch für das mo— raliſche Gedeihen der Geſellſchaft ein Nachtheil.

Sodann aber iſt es nur eine ganz willkührliche An— nahme, daß in Deutſchland ſo viele gewerbliche Unter— nehmungen aus Mangel an Arbeitskräften unterbleiben, als zur lohnenden Beſchäftigung jener 400,000 jungen Männer erforderlich wären, und daß, wenn dieſe Zahl zur Ver— fügung ſtünde, entſprechend mehr gearbeitet und verdient würde. In einem Lande, das jährlich durchſchnittlich 120,000 Perſonen vorherrſchend aus dem Motiv, weil ſie keinen lohnenden und befriedigenden Erwerb zu finden glauben, verlaſſen, läßt ſich die Behauptung, daß wünſchenswerthe Unternehmungen aus Mangel an Arbeitskräften unterblei— ben müſſen, nicht in allgemeiner Faſſung aufrecht erhalten; vielmehr müßte die Concurrenz von 400,000 weiteren Ar— beitern die Löhne drücken, was wohl den Unternehmern, nicht aber den Arbeiterclaſſen ſelbſt zu Statten käme, und dabei gleichzeitig noch die Auswanderung ſteigern.

Letzteres widerſpricht freilich direct der jo häufig ge—

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hörten Behauptung, daß gerade durch die allgemeine Wehr— pflicht und die lange Präſenz die Auswanderung ſo ſehr um ſich greife. Ohne zu beſtreiten, daß dieß Motiv in manchen Einzelfällen entſcheidend oder wenigſtens neben anderm wirkſam ſein mag, zeigen ſchon die Beiſpiele von England, der Schweiz und den Scandinaviſchen Ländern, wo ganz andere Heerſyſteme herrſchen und doch die Aus— wanderung ſo ſtark wie in Deutſchland iſt, daß die maß— gebenden Faktoren in ganz anderen Verhältniſſen und zwar vor allem in der Fruchtbarkeit und Wanderluſt der ger— maniſchen Race zu ſuchen ſind.

Von den Hauptmomenten der ganzen Militärfrage, von der abſoluten Nothwendigkeit einer zahlreichen und wohl— geübten Armee für Deutſchland, von der Unentbehrlichkeit derſelben auch für das wirthſchaftliche Leben und deſſen Sicherſtellung, von dem Werthe, den der Heeresdienſt als Schule des Volks für die körperliche und ſittliche Kräf— tigung des Einzelnen hat, ſoll hier gar nicht weiter die Rede ſein.

3. Die Oekonomie der Aemter.

Es laſſen ſich in jedem Zweig des öffentlichen Dienſtes, der durch Gleichheit des Bildungsganges und der Prüfungs— anforderungen für ſich ein Ganzes bildet, drei Arten oder Stufen des Dienſtes unterſcheiden. Zuerſt kommen die bloßen Verwendungen der Kandidaten zum Probe- oder Hilfsdienſt, von widerruflichem, unſtändigem Charakter, ohne

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Gehalt, oder nur mit Taggeldern und knappen Entſchädi— gungen für den unmittelbaren Aufwand. Man kann dieß die Klaſſe der Vorſtufenämter nennen. Darauf folgen die Anfangsdienſte oder erſten feſten Anſtellungen mit beſtimm— ten Dienſtrechten und Gehalten, die entweder auch noch den eheloſen Stand oder eine nur kleine Familie oder Zu— ſchuß aus eigenem Vermögen zur Vorausſezung haben. Die dritte Klaſſe bilden die ordentlichen Aemter, deren Dotation auf den ſtandesmäßigen Bedarf einer mittleren Familie berechnet ſein ſoll oder will. Auch noch eine vierte Stufe von höheren, mit einem Repräſentationsaufwand ausge— ſtatteten Aemtern zu unterſcheiden, iſt praktiſch ohne Werth, da deren Zahl verſchwindend klein iſt und ſie nicht auf dem Weg des ordentlichen Vorrückens und meiſt nicht blos für die Angehörigen des betreffenden Dienſtzweiges erreich— bar ſind.

Es iſt nun einleuchtend, obgleich von denjenigen, in deren Händen die Organiſation der Aemter lag, bis jezt noch Niemand daran gedacht zu haben ſcheint, daß die Aus— ſichten der Dienſtlaufbahn in jedem Zweig durch das nu— meriſche Verhältniß zwiſchen den in jene drei Klaſſen fal— lenden Aemtern bedingt ſind, daß bei einer Durchſchnitts— berechnung ſich für den einzelnen öffentlichen Diener die Zahlen der Jahre, welche er auf jeder der drei Stufen von Aemtern zu verbringen hat, gerade ſo zu einander verhal— ten müſſen, wie die Zahlen der in jeder der drei Klaſſen vorhandenen Aemter. Wenn alſo in einem Fach unter je 100 Aemtern 20 Vorſtufenſtellen, 30 Anfangsdienſte und

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50 ordentliche Aemter beſtehen, jo hai der Einzelne durch— ſchnittlich 20% ſeiner geſammten Dienſtzeit auf Vorſtufen— ſtellen, 30% auf Anfangsdienſten zuzubringen und die Hälfte derſelben wird auf die ordentlichen Aemter fallen. Wenn Einzelne die unteren Stufen raſcher durchlaufen, ſo muß dieß ſeine Ausgleichung darin finden, daß dafür Andere länger als die bloße Durchſchnittszeit auf denſelben auszu— harren haben. Den Eintritt in den öffentlichen Dienſt für Diejenigen, welche akademiſche Studien durchzumachen haben, auf das 24te Lebensjahr fallend und die Dauer der ge— ſammten Dienſtzeit zu 40 Jahren angenommen, würde der Einzelne unter der obigen Vorausſetzung 32 Jahre alt, bis er zu einem Anfangsdienſt und 44 Jahre, bis er zu einem ordentlichen Amte gelangt.

Es wäre wohl eine billige und beſcheidene Forderung, daß der Einzelne nicht über 4 Jahre in der unterſten Stufe, nicht über 6 Jahre auf Anfangsſtellen zu dienen und ſomit nach 10jähriger Dienſtleiſtung zu einem ordentlichen Amt gelangte. Hieraus würde aber folgen, daß 75 Procent aller Stellen eines Dienſtzweigs aus ordentlichen Aemtern beſtehen müßten, die Zahl der Vorſtufendienſte nicht über 10, die der Anfangsdienſte nicht über 15 Procent ſtehen dürfte.

Wenn man mit dieſer Norm die faktiſchen Verhält— niſſe in den verſchiedenen Dienſtzweigen der deutſchen Länder, im Civilſtaatsdienſt der Richter und Verwaltungsbeamten, bei den Geiſtlichen, den Lehrern, den Officieren vergleicht, ſo wird man auf die erſtaunlichſten Mißverhältniſſe ſtoßen.

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In Württemberg z. B. wird die normale Proportion in keiner einzigen Branche auch nur annähernd erreicht *) und es iſt nicht zu zweifeln, daß ähnliches auch anderwärts Statt findet, da man überall gewöhnt iſt, das Bedürfniß weiterer Arbeitskräfte nur durch Vermehrung der Hilfs— und Anfangsſtellen zu befriedigen und dadurch das richtige Verhältniß, ſelbſt wenn früher ein ſolches beſtanden haben ſollte, zu verrücken.

Am ſchreiendſten freilich ſind dieſe Anomalieen im Mi— litärdienſt. Obgleich hier vielfach abweichende Bedingungen vorliegen, ſo bilden doch die Lieutnantsſtellen, die zwar den Dienſtrechten nach nicht zu den Vorſtufenämtern, aber dem Gehalt nach kaum den Anfangsſtellen anderer Dienſtzweige gleich zu ſtellen ſind, bereits über 60 Procente aller Offi— ziersſtellen und der Einzelne hätte demnach ordentlicher Weiſe ½ ſeiner geſammten Dienſtzeit auf ſolchen zuzu— bringen. Wenn vollends der dritte Secondelieutenant für die Compagnie gefordert werden ſollte, jo würden etwa drei Viertheile aller Offiziersſtellen der unterſten Stufe derſelben angehören. Das ganze Syſtem müßte, vom Standpunkt der Dienſtausſichten und der bürgerlichen Verſorgung aus betrachtet, als ein Unding erſcheinen und iſt überhaupt nur unter ſingulären Vorausſetzungen, wie ſie z. B. der Faktor der nachgeborenen Söhne der Rittergutsbeſizer und die

) Zu vergleichen mein Aufſaz: Beiträge zur Statiſtik des öffentl. Dienſtes, Würtembergiſche Jahrbücher 1865. p. 234, dem hier Einiges entnommen iſt.

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Beneficien der Offiziersſöhne in den Kriegs- und Cadetten— ſchulen bilden, als möglich zu denken.

Die Verſpätung der erſten Anſtellung und das lang— ſame Vorrücken zu auskömmlichen Aemtern iſt aber ein noch ſchlimmerer Mißſtand des öffentlichen Dienſtes als die troz aller Aufbeſſerungen noch fortbeſtehende Unzulänglich— keit der Gehalte. Es wäre das Schlimmſte noch nicht, wenn der Geſichtspunkt der ſoliden und ſicheren Verſorgung unter den Motiven für die Wahl der Laufbahn des öffent— lichen Dienſtes eine weniger hervorragende Rolle zu ſpielen hätte. Die Geld machenden Stände mögen noch ſo viele Vortheile voraus haben, ſie werden es nie erreichen, daß nicht neben dem freien Dienſt der Muſe und Wiſſenſchaft die Pflege der öffentlichen Intereſſen, des Rechts und der allgemeinen Wohlfarth, die Vertheidigung des Vaterlands, die geiſtige Leitung des heranwachſenden Geſchlechts, die Verkündigung der lezten und tröſtlichſten Wahrheiten auch die höchſten und würdigſten Gegenſtände menſchlichen Wir— kens bleiben und auf die Neigungen einer edleren und be— gabteren Jugend den mächtigſten Reiz ausüben werden. Es läßt ſich kaum ein unzweideutigeres Symptom kranker und unnatürlicher Zuſtände denken, als wenn es in einem Land, wie in den Vereinigten Staaten, dahin gekommen iſt, daß auf dem Suchen und Bekleiden von Staatsämtern ein ge— ſellſchaftlicher und ſittlicher Makel ruht. Das ſpärlichere Ein— kommen des öffentlichen Dieners läßt ſich dabei eher in Kauf nehmen; ja es hat noch ſeine Vortheile, es erhöht, bei aus— reichender Beſchäftigung, die Achtung und ſchüzt in freien

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Staaten gegen die Mißgunſt des Volks und der arbeitenden Klaſſen, wenn der Haushalt und Verbrauch des Beamten, des Geiſtlichen, des Lehrers ſich innerhalb der beſcheidenen Grenze des mittleren Bürgers zu halten hat und ſein An— ſehen nur auf ſeiner Bildung und ſittlichen Haltung, auf dem Werth und der Bedeutung ſeiner Functionen beruht. Aber das iſt eine berechtigte Forderung, nach langjährigen Studien und ſchweren Prüfungen nicht erſt noch ein Duzend Jahre auf wechſelnden Hilfsſtellen zu verkümmern, über das Schwabenalter hinaus in unfruchtbarem Kanzleidienſt zu vertrocknen und die unwiederbringlich ſchönſte Lebenszeit in zehrendem Warten abzunüzen, ſtatt mit dem Eintritt ins reife Mannesalter einen dauernden und ſelbſtändigen Wir: kungskreis zu gewinnen, den eigenen Heerd zu gründen und ſich, ſei es auch in eingeſchränkter Lage, der Früchte ſeiner Arbeit und der langen Vorbereitungen zu erfreuen. Ein Verzicht auf dieſe Anſprüche gleicht einem Verzicht auf die geſunden Vorbedingungen des Lebensglücks ſelber. Und dieſe Mißverhältniſſe ſind es auch weit mehr als die ma— geren Gehalte, die den öffentlichen Dienſt allmälig in eine gewiſſe Mißachtung gebracht und die Lage des Angeſtellten faſt zu einem Gegenſtande des Mitleids von Seiten der anderen Stände gemacht haben.

Es iſt aber eine Lebensfrage für den modernen und insbeſondere den deutſchen Staat, daß ſich die beſten Köpfe und edelſten Kräfte dem öffentlichen Dienſt widmen und er würde es ſchwer zu büßen haben, wenn er dieſe dauernd von ſich abſtieße.

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Nur Wenige wiſſen es in ſeinem vollen Umfang zu würdigen, welchen Schaz die deutſchen Staaten in der Or— ganiſation der Aemter und in der Qualität ihrer öffent— lichen Diener vor allen andern Ländern voraushaben, an dem wiſſenſchaftlichen geordneten Bildungsgang, an dem Gefühl für Standesehre, an der geſicherten Stellung ihrer Richter und Verwaltungsbeamten, ihrer Lehrer und Geiſt— lichen, an der Unabhängigkeit der Aemterbeſezung von Pa— tronage und Parteirückſichten. Man überſieht um einzelner Ausnahmen und Mißſtände willen den Stand der Sache im Großen und Ganzen. Man führt aus alter Gewohnheit unter ganz veränderten Verhältniſſen das Gerede über bu— reaucratiſchen Druck, Zopf und Unverſtand fort. Man iſt in Gefahr, dem Schlagwort des Selfgovernment nach eng— liſchem, für uns unbrauchbaren Vorbild werthvolle Inſti— tutionen aufzuopfern. Wenn das Glück der Völker von der Freiſinnigkeit der Verfaſſungen, von der Ausdehnung des Wahlrechts, von dem Machtumfang der Vertretungs— körper und der Durchführung der parlamentariſchen Parthei— regierungen abhienge, ſo müßten Rumänien und Griechen— land wahre Muſterſtaaten ſein. Erſt die neueſte Zeit hat angefangen, die einfachen Wahrheiten wieder gelten zu laſſen, daß der Werth einer Verfaſſung ſich nur in der Verwaltung erproben kann, daß bei den Geſezen das Wichtigſte ihre Vollziehung, daß eine ſchlechte Verfaſſung mit guter Ver— waltung unendlich beſſer als das Umgekehrte iſt, und daß der öffentliche Dienſt des modernen Staats in ſteigendem Maaße gründliche Fachkenntniſſe und ungetheilte Arbeits—

Rümelin, Reden u. Aufſätze. 24

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kräfte erfordert. Die andern Staaten, die republicaniſchen ſo gut wie die monarchiſchen, können in dieſen Dingen weit mehr von uns lernen, als wir von ihnen. Von allen den Fortſchritten, die Deutſchland in den letzten 60 Jahren ge— macht hat, fällt ein ſehr großer, ja vielleicht der größte Theil auf die Bildung und Tüchtigkeit ſeiner öffentlichen Diener. Zur Bewahrung dieſes Gutes iſt auch die ſorg— fältige Beachtung der Oeconomie der Aemter unerläßlich.

4. Moralſtatiſtik und Willensfreiheit.

Nur ſo unphiloſophiſche Köpfe, wie Ad. Quetelet und Thomas Buckle neben aller ſonſtigen Begabung genannt werden müſſen, konnten der nun viel verbreiteten Lehre das Wort reden, daß die Thatſachen der Moralſtatiſtik zur Läugnung der menſchlichen Willensfreiheit führen müſſen. Wenn man zuerſt einen undenkbaren Begriff von Freiheit aufſtellt, iſt es nicht zu verwundern, wenn hintendrein die Thatſachen zu demſelben nicht ſtimmen wollen. Wenn nur derjenige frei zu nennen iſt, der nicht durch Motive beſtimmt wird, oder wenigſtens nicht durch ſolche, die auch auf an— dere ſeinesgleichen wirken und allen verſtändlich ſind, ſon— dern ſeine Entſchlüſſe aus der unergründlichen und unbe— rechenbaren Tiefe einer ureigenen und einzigen Indivi— dualität ſchöpft, dann ſind die Handlungen Vieler überhaupt unter ſich unvergleichbar und jede Conſtanz und Aehnlich— keit derſelben iſt ſchon unverſtändlich. Halten wir uns näher an die Erfahrung, ſo werden wir von der menſch— lichen Willensfreiheit nur etwa in dem Sinne ſprechen,

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daß dem Menſchen gegenüber von der Enge und Gebunden— heit der thieriſchen Motive ein unendlich reicherer Spielraum von Trieben und Anlagen geſteckt iſt, daß ſich hiebei zu den mannigfaltigen Reizen des animaliſchen Lebens noch die Em— pfänglichkeit für Luſt- und Werthgefühle einer höheren Ord— nung geſellt, daß dieſe mannigfaltigen Motive in vielfältige Beziehungen und Verknüpfungen, aber auch zu Reibungen und Gegenſäzen auseinander treten, und daß dieß bunte Spiel von Reizen in und vor einem bewußten Central— punkte, den wir unſer Ich nennen, abläuft, welcher fühlend und überlegend den Werth der verſchiedenen Reize abmißt und ſchließlich wollend einen Ausſchlag nach der einen oder andern Richtung gibt. Einen Ausſchlag, der freilich dem Charakter des Einzelnen, d. h. dem geſammten Complex von angeborenen und angebildeten oder durch Uebung er— ſtarkten Eigenſchaften entſpricht und darum von Jemand, der dieſen Charakter vollſtändig kennen würde, vorausgeſagt werden könnte, dem aber gleichwohl das Gefühl des anders Gekonnthabens, des ſo oder anders Geſollthabens, und ſo— mit der Zurechnung als eigener That zur Seite geht. Mit einem ſolchen oder ähnlichen Freiheitsbegriff ſteht es nicht im Mindeſten im Widerſpruch, wenn viele Menſchen unter ähnlichen Bedingungen ähnlich handeln.

Meine individuelle Freiheit verlangt nur, daß ich gegen die äußern Einwirkungen meiner Natur gemäß reagiren kann, daß die höheren Kräfte in mir nicht äußerlich an ihrer Bethätigung gehemmt ſind; daß aber ein Anderer ne— ben mir ebenſo handelt wie ich und von den gleichen Mo—

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tiven bewegt wird, hat mit meiner Willensfreiheit Nichts zu ſchaffen. Die menſchlichen Individualitäten verhalten ſich nicht zu einander wie unvergleichbare Originale, ſon— dern liegen alle innerhalb der Grenzen des gleichen Gat— tungscharakters; alle Menſchen haben die gleichen Triebe und Anlagen; der Unterſchied liegt nur in dem relativen Stärkegrad, in welchem die einzelnen Merkmale bei Jedem ausgeprägt ſind und die einzelnen Motive beſtimmend auf ihn einwirken. Die Zahl der gemeinſamen Motive, deren ſich Niemand ganz entſchlagen kann, iſt außerordentlich groß. Niemand vermag die phyſiologiſche Einwirkung ſeines Ge— ſchlechts oder ſeiner Altersſtufe zu verläugnen. Eine Menge anderer Faktoren, wie Klima und Boden, Race, Nationali— tät, Sprache, Stand und Beſchäftigung, Wohnplaz, Beſitz, Erziehung, Sitte, geſchichtliche Ueberlieferungen, politiſche Zuſtände bilden eine Gruppirung der Menſchen und weiſen jedem Einzelnen innerhalb derſelben Gruppe, ſo abweichend die Empfänglichkeit für jedes einzelne dieſer Motive wieder ſein mag, doch einen gewiſſen gemeinſamen Grundtypus an. Man kann aber dabei keineswegs ſagen, jeder Einzelne ſei nur ein Product dieſes Gruppencharakters, ſondern min— deſtens mit gleichem Recht, die Gruppe ſei das Geſammt— product der Einzelnen, welche von gleichen pſychiſchen Ele— menten aus unter ähnlichen äußeren Einwirkungen gleiche oder verwandte Vorſtellungsreihen bilden und ſo einen Maſſeneffekt hervorbringen, der vermöge der ſocialen An— lagen unſerer Natur auch wieder rückwirkend den Einzelnen beſtimmt. Die Freiheit der Menſchen beſteht ja nicht

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darin, daß keine äußeren Momente beſtimmend auf ihn einwirken, ſondern in der Weite des Spielraums und der Mannigfaltigkeit der Formen und Grade, in welchen die Individualität wieder gegen jedes einzelne jener Momente zu reagiren vermag.

Wie kann man dann überraſcht ſein, daß die Zahl der Trauungen eines Jahres, wenn kein beſonderer Grund zu einer Abweichung vorliegt, von der des Vorjahrs und Nach— jahrs nicht merklich verſchieden iſt, daß ſie dagegen höchſt empfindlich iſt für jede Veränderung in den wirthſchaft— lichen Vorbedingungen der Niederlaſſung, ſchnell wächſt, wenn Erleichterungen des Erwerbs eintreten, ebenſo raſch ſinkt bei Theurungen, in Kriegszeiten, bei Stockungen der Gewerbe, auch daß der Bruchtheil der heirathenden Wittwer oder Wittwen von einem Jahr zum andern ungefähr gleich bleibt? Nicht dieß, ſondern das Gegentheil, wenn es Statt fände, wäre ein Argument gegen die menſchliche Freiheit. Die Thiere begatten ſich, ob ihre Nahrungsmittel ſpärlicher oder reichlicher vorhanden ſind und laſſen dann die Jungen ver— kommen. Der Menſch, frei von der zwingenden Herrſchaft des Naturtriebes, überlegt, ob es räthlich iſt, zur Gründung einer Familie zu ſchreiten. Daß nun aber nicht Einer, ſondern Viele unter den gleichen oder ähnlichen Bedingungen eine ſo vernünftige Erwägung anſtellen und daß ſich die Wirkung dieſes Faktors bei der Volkszählung bemerklich macht, das iſt der handgreiflichſte Beweis für, aber nicht gegen die menſchliche Willensfreiheit, wofern man dieſe nicht zu einem logiſchen Unding macht.

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Ebenſo iſt es aber auch mit den andern Hauptbeweis— mitteln der Criminal- und Selbſtmordſtatiſtik. Man hat nicht erſt die Zahlen der Statiſtiker dazu gebraucht, um zu wiſſen, daß Handlungen brutaler Gewaltthätigkeit, wie Raub, Mord, Widerſezung, Körperverlezung weit häufiger von Männern begangen werden, als von Weibern und daß wir unter den wegen ſolcher Vergehen Angeklagten ſelten Greiſe und Knaben, wohl aber junge Männer in dem Alter der Kraft und Leidenſchaft antreffen werden. Ob dagegen die Verbrechen gegen das Eigenthum häufiger ſein werden oder die gegen die Perſon, das werden wir ſchon nicht mehr voraus zu vermuthen wagen, ſondern als von der Geſittungsſtufe, dem Charakter und den wirthſchaftlichen Verhältniſſen einer beſtimmten Gruppe abhängig denken. Nicht zu verwundern wird es aber ſein, wenn innerhalb der gleichen Gruppe Zuſammenlebender in angrenzenden Jahren die Fälle der Verſuchung zu Uebertretungen oder zum Selbſtmord, ſowie das Maaß der Widerſtandskräfte gegen ſolche Verſuchungen ſich innerhalb nicht allzuweit ge—

zogener Grenzen bewegen. : Ja wir müſſen uns denken, daß dieſe Regelmäßigkeiten mit wachſender Geſittungsſtufe ſich nicht vermindern, ſondern vielmehr ſteigern werden. Wenn wir uns ein Volk von Philoſophen oder von ächten Chriſten oder eine Republik von Engeln vorzuſtellen verſuchen, ſo werden wir eher eine größere als eine geringere Conſtanz der Moralſtatiſtik er— warten, obgleich und weil wir dabei ein höheres Maaß von Willensfreiheit vorausſezen müßten. Das ſtttliche

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Ideal weist auf eine ſtetige Harmonie der Kräfte hin und deren Formen werden weit weniger auseinanderliegen als die der Disharmonie.

Schließlich aber liegt das Intereſſante der Moralſta— tiſtik gar nicht in dem Nachweis ſolcher Regelmäßigkeiten menſchlicher Willensacte, ſondern weit mehr in der zu Tag tretenden ſtetigen Bewegung und Veränderung der Zahlen. Jene Conſtanz iſt meiſt blos eine ſcheinbare; man erhält ſie nur, wenn man vom Einzelnen abſehend, die Mannig— faltigkeit der Erſcheinungen verwiſchend, auf die großen Durchſchnittszahlen losgeht, in denen das Variable ver— ſchwindet oder zurücktritt. In Wahrheit ſind die ſittlichen Zuſtände und die Richtungen der menſchlichen Willensacte in beſtändigem Fluß begriffen, in ununterbrochenem Fort— ſchritt oder Rückſchritt. Von Jahrzehend zu Jahrzehend, von Volk zu Volk, von Landſchaft zu Landſchaft, nach Ge— ſchlecht, Alter und Stand zeigt eine genauere Beobachtung eine ſtetige Veränderung. Die Selbſtmordfrequenz ſteigt noch ununterbrochen; ſie iſt nach Volk, Confeſſion, nach Ständen, Geſchlecht und Alter höchſt verſchieden, und keines— wegs unter beharrenden Proportionen dieſer Faktoren unter einander. Selbſt die ſo gern betonte Scala der Todes— arten verändert ſich ſtetig und wird nach einigen Jahr— zehenden ein ganz anderes Bild zeigen. Und welch bewegtes Schauſpiel bieten uns ſchon die dürftigen Data der Reli— gionsſtatiſtik! Wenn uns die Statiſtik in dieſen Dingen nur die conſtanten Verhältniſſe zu erſchließen vermöchte, wäre ſie mit der einmaligen Auffindung derſelben fertig

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und abgeſchloſſen. Erſt indem fie uns dem leiſen, ſtillen Schritt der Völker auf neue Bahnen nachzugehen lehrt, weiſt ſie uns mit ſicherem Finger auf die wahren Zeichen der Zeit, die ſich ſonſt in dem Gewühl verworrener Erſchei— nungen ſo leicht auch dem aufmerkſameren Blick verbergen.

Solche Veränderungen laſſen ſich nur als Maſſen— wirkungen einer durch Individuen vermittelten, geiſtigen Bewegung denken, und haben den weiten Spielraum indi— vidueller Eigenart und Entwicklung zu ihrer unabweisbaren Vorausſezung. Bei unfreien Weſen wären ſie gar nicht denkbar.

Pſychologiſch bedeutſam und überraſchend ſind ohne Zweifel jene viel erwähnten Regelmäßigkeiten der Moral- ſtatiſtik, wie ſie am lehrreichſten in dem ſtatiſtiſchen Muſter— kapitel von den Selbſtmordfällen, in dem Antheil der Ge— ſchlechter, der Altersſtufen, der Nationalitäten, Confeſſionen, Motive, Jahreszeiten und Todesarten zu Tag treten. Aber die anſpruchsvollen Worte von Geſez und Nothwendigkeit ſollte man dabei nicht ſo leicht in den Mund nehmen, wo man nur von phyſiologiſchen Reizen oder pſychologiſchen Diſpoſitionen reden könnte. Man nenne uns nur auch ein einziges Geſez, das die ſogenannte Moralſtatiſtik ſchon ge⸗ funden hätte! Ihr auch ſo noch großes Verdienſt beſteht nur darin, daß ſie gewiſſe Cauſalzuſammenhänge, theils phyſiologiſchen, theils pſychologiſchen Inhalts, die an ſich zu vermuthen und verſtändlich waren, empirisch feſtgeſtellt und genauer begrenzt hat, daß ſie die thatſächlichen, ſitt— lichen Zuſtände der Völker und Zeitalter durch das Mittel

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der Maſſenbeobachtung ficherer und umfaſſender blos legt, als dieß mit den unzureichenden und ſubjectiven Wahr— nehmungen des Einzelnen möglich war.

Das Problem, auf das die Moralſtatiſtik führt, iſt nur auch wieder die Wechſelwirkung zwiſchen der Geſellſchaft und dem Einzelnen, das complicirte Verhältniß des Schie— bens und Geſchobenwerdens. Mit der metaphyſiſchen Frage über die menſchliche Willensfreiheit, hat ſie nichts zu ſchaffen.

Und jo muß ſchließlich auch der Statiſtiker wieder die Worte des brittiſchen Dichters gelten laſſen:

„Das iſt die ausbündige Narrheit dieſer Welt, daß, wenn unſer Glück krankt, wir die Schuld unſerer Unfälle auf Sonne, Mond und Sterne ſchieben, als wenn wir Schurken wären durch Nothwendigkeit, Narren durch ſinn— liche Einwirkung, Schelme, Diebe und Verräther durch die Uebermacht der Sphären und Alles, worin wir ſchlecht ſind, durch göttlichen Anſtoß.“

5. Furcht und Mitleid in der Tragödie.

Warum iſt die Tragödie eine Katharſis, eine Befrei— ung von Furcht und Mitleid? warum will ſie uns gerade von dieſen beiden Affekten befreien, nicht auch von Haß, Zorn und Neid, von Kummer und Traurigkeit und andern Stimmungen der Unluſt? Ich erinnere mich nicht, eine befriedigende Antwort auf dieſe Fragen gehört zu haben.

Furcht und Mitleid ſind das natürliche, normale Er— gebniß jeder unbefangenen und ernſten Weltbetrachtung. Schon der kurzen und flüchtigen Lebenserfahrung drängen

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ſich die unabſehbaren Uebel und Plagen in der Welt, der vielfältige Jammer der Menſchheit, die Vergänglichkeit aller Freuden und Güter und des Lebens ſelbſt, der Grund— vorausſezung von allen anderen, überwältigend auf und müſſen naturgemäß zwei Stimmungsformen in uns hervor— rufen, Angſt und Bedauern, jene bei dem Gedanken an uns ſelbſt und die uns von allen Seiten bedrohenden Gefahren, dieſes bei dem Anblick fremder Leiden, welcher uns ſtets geboten iſt. Furcht und Mitleid unterſcheiden ſich ſomit von den übrigen Affekten dadurch, daß der Anlaß zu ihnen beſtändig vorliegt, durch den täglichen Anblick des Welt— laufs und Menſchengeſchicks gegeben iſt, während jene an— dern Gefühle lebhafterer Unluſt nur zeitweiſe und vorüber— gehend durch beſondere Anläſſe in uns erregt werden und mit ihnen wieder verſchwinden. Es iſt ein Unterſchied, wie zwiſchen chroniſchen und acuten Uebeln. Daraus erklärt ſich auch eine andere Schwierigkeit. Gegen die Ariſtoteliſche Deutung, daß die Tragödie durch Erregung von Furcht und Mitleid die Befreiung von eben dieſen Stimmungen bewirke, drängt ſich die Einwendung auf, warum denn, da Furcht und Mitleid doch nur unangenehme Gefühle ſind, ſie zuerſt erregt und dann wieder beſeitigt werden ſollen, ob es denn nicht viel zweckmäßiger wäre, ſie lieber gar nicht zu erregen, da es doch immer viel beſſer ſei, gar nicht verwundet, als zuerſt verwun det und dann geheilt zu werden. Furcht und Mitleid, Angſt und Bedauern ſind als ſtändige Grundakkorde, als bereits vorhandene, durch die allgemeine und tägliche Lebenserfahrung Jedem nahe—

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gelegte und aufgedrungene Stimmungen, gleichſam als per: manente Zugaben unſeres Selbſtgefühles, als ein ſtetiger Druck auf unſer Herz zu denken. Der Dichter braucht dieſe Stimmungen daher nicht erſt künſtlich zu erregen; er knüpft an ſie an als an etwas auf dem Hintergrund unſe— res geſammten Lebensgefühls immer wenigſtens latent Ruhendes und nur durch Zerſtreuung, durch Arbeit oder Leichtſinn vorübergehend Zurückgedrängtes.

Das Luſtſpiel und die heitere Dichtung ſchafft und er— leichtert uns ſolche Zerſtreuung und umhüllt mit einem ge— fälligen täuſchenden Schleier die wahre Geſtalt der Dinge. Das Schauſpiel oder Epos mit glücklichem Ausgang zeigt uns zwar ernſtere Vorgänge; es führt die Gefahren und Nöthen des Lebens an uns herauf, leiht aber der menſch— lichen Kraft den Sieg über die dunkeln Mächte und läßt den Weltlauf halbverhüllt und in hoffnungsreicher Beleuch— tung vor uns erſcheinen. Die tragiſche Dichtung erſt nimmt Menſchenleben und Schickſal in ihrer wahren, unverſchleier— ten Geſtalt, als die ſtändige Quelle von Angſt und Mitleid. Aber doch will ſie uns nicht niederdrücken und betrüben, ſondern aufrichten und erfreuen. Wie greift ſie dieß an?

Die Kur, welche der tragiſche Dichter mit uns vor— nimmt, gleicht ganz dem Heilverfahren der Homöopathie: similia similibus. Wie dieſe zur Heilung des Kranken eben dieſelben Mittel anwendet, welche an dem geſunden Körper das gleiche Uebel erſt erzeugen würden, nur in ver— dünnten, unſchädlichen Doſen, die den natürlichen Heil— proceß leichter und raſcher zum Ziele führen, ſo läßt der

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Dichter das Furcht und Mitleid Erregende in einer Geſtalt und in einem Maaße vor uns erſcheinen, welches die heilen— den Gegenkräfte, die in unſerm Innern ruhen, entbindet und belebt; er veranlaßt uns, in etwas leichterer Form eben die Reihe von Vorſtellungen und Gefühlen zu durch— laufen, durch welche er den Druck von ſeinem eigenen Herzen zu löſen gewußt hat.

Man ſagt, das wichtigſte Mittel, bei den Soldaten in der Schlacht die Furcht nicht Herr werden zu laſſen, ſei, ſie ſtets in Aufmerkſamkeit und Thätigkeit zu erhalten, während bei rein paſſiver und zuwartender Haltung im An— geſicht der Gefahr die Angſt auch den Muthigſten überſchleiche.

In ähnlicher Weiſe verſezt uns der Dichter vor Allem in geiſtige Action, indem er uns eine bedeutende Hand— lung in ſpannender Reihenfolge der einzelnen Theile vor— führt und damit dem Gefühl von Furcht und Mitleid, das der Inhalt in uns wecken wird, das Luſtgefühl voller An— regung und Beſchäftigung unſerer geiſtigen Kräfte zur Seite gehen läßt. Das lebhafte Spiel der Phantaſie iſt an ſich ſchon ein angenehmer Zuſtand, wie wir uns ja oft zum bloßen Vergnügen recht traurige und ſchauerliche Situationen ausmalen. Dazu tritt der Sinnenreiz für Auge und Ohr, der Anblick edler Geſtalten, der Wohlklang ſchöner und rhythmiſch gefügter Worte. Das Menſchenleben wird vor unſern Blicken idealiſirt und verklärt, indem nur bedeutende intereſſante Menſchen, die ihren Empfindungen den vollen und beflügelten ſprachlichen Ausdruck zu geben, die ergrei— fende Geberde beizugeſellen wiſſen, in den entſcheidendſten

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Momenten ihres Lebensgangs vorgeführt werden. In der Handlung iſt Plan und inniger Zuſammenhang; der Zu— fall und das Unbedeutſame, das in der Wirklichkeit ſo brei— ten Raum einnimmt, iſt ausgeſchieden. Es iſt, wie wenn höhere, unſichtbare Mächte, von denen wir nur leiſe um— fangen ſcheinen, das menſchliche Geſchick an verborgenen Fäden lenkten. Das menſchliche Daſein erſcheint wie ein Stück aus einer höheren Ordnung der Dinge, das die Ahnung eines Zuſammenhangs mit allwaltenden Kräften erweckt. Das Thun und Leiden des Einzelnen macht uns den Eindruck eines allgemeinen, uns ſelbſt mitbetreffenden Falles. Nicht blinder Zufall leitet unſer Geſchick; des Einzelnen Daſein iſt nicht wie ein Strich in die Luft oder ein Schlag ins Waſſer. Zwar wie dieſe Anknüpfung des individuellen Lebens an die Weltordnung vorgeſtellt wird, ob durch Göttererſcheinung, Orakelſprüche, durch Verflech— tung von Schuld und Schickſal, durch blinde oder ethiſche Kräfte, hängt an der Verſchiedenheit der Bildung nach Volk und Zeitalter, aber in allen dieſen wechſelnden Formen wird doch menſchliches Thun und Leiden in eine höhere Region gerückt und das verzweiflungsvolle Gefühl der völ— ligen Nichtigkeit und Verlorenheit von uns genommen. Furcht und Mitleid verlaſſen uns nicht ganz, aber wir fühlen uns geläutert und gehoben; wir ſtehen ſelbſtver— geſſend vor einem Ausblick in weite, unabſehbare Gefilde, die ſich einen Augenblick in ahnungsvoller Beleuchtung vor uns eröffnen. Die Furcht iſt wie im Hochgebirg oder Meeresſturm durch die Erhabenheit des Bildes, den Schauer

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der Ehrfurcht verklärt und das Mitleid, ein an ſich weicherer und minder aufregender Affekt, iſt in dem verſöhnenden Abſchluß ſanft ausgeklungen.

Damit ſoll keine Auslegung der vielgedeuteten Ariſto— teliſchen Worte: Zozw olv zoaywdie ulunoıs at ο onovdaiag di E ον⁰ , POßov 7rEgalvovoa nv av TOLV- ıov nesInuceov zaIegoev”) gegeben werden, aber es läßt doch vielleicht den Grund, warum gerade Furcht und Mit- leid eine ſo hervortretende Rolle in dem Begriff der Tra— gödie ſpielen, verſtändlicher erſcheinen.

6. Zu Hermann und Dorothea.

Die deutſche Literatur kennt keine vollendetere und tadellojere Dichtung als Göthes Hermann und Dorothea. Von allen Seiten ſtimmt die Kritik, ſelbſt die ſonſt gegen Göthe eingenommene, in den Preis dieſes herrlichen Werkes ein. Sogar die Hexameter, an denen die ſtrengere Theorie der Neueren ſo Vieles auszuſezen hat, laſſen ſich mit Er— folg vertheidigen und nur einzelne derſelben, in welchen der Dichter ſeine eigenen Grundſäze außer Acht gelaſſen hat, müßten preisgegeben werden. Am allerwenigſten anfecht— bar erſcheint die realiſtiſche Wahrheit der Handlung und Schilderungen. Dennoch iſt es gerade dieſe Seite, gegen welche ich einige kleine Einwendungen vorzubringen habe,

*) Eine zugleich interpretirende Ueberſezung wäre etwa: Die Tra- gödie iſt eine Nachbildung einer ernſten und bedeutenden Handlung ſie bewirkt durch die Erweckung von Furcht und Mitleid eine Ent— laſtung des Gemüths von dem Druck eben dieſer Stimmungen.

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von denen ich mich nicht erinnere, ſie anderswo gefunden zu haben.

Die Mutter erzählt, es ſei an einem Montag Morgen, den Tag nach dem großen Brand, vor nun zwanzig Jahren geweſen, daß der Vater ihr ſeine erſte Liebeserklärung ge— macht habe. Hiernach könnte Hermann kaum über 19 Jahre alt ſein. Ein 19jähriger Hermann aber iſt ein Unding, eine unerträgliche Vorſtellung. Dem 19jährigen Sohn ge— genüber können die Eltern noch nicht ungeduldig geworden ſein, daß er ſäume, eine Tochter ins Haus zu führen; in ſeinem Munde wäre jenes ſich ſchwer aus gepreßter Bruſt losringende Geſtändniß an die Mutter, „er entbehre der Gattin“, nur komiſch. Wir dürfen ihn nicht als angehen— den, ſondern als fertigen, auf dem Höhepunkt jugendlicher Kraft und Schönheit angelangten Jüngling denken. Es ſchien die Thüre zu klein, die hohen Geſtalten einzulaſſen. Hermann lenkt die Hengſte, die er als Fohlen gekauft und eingefahren hatte. Er darf auch nicht jünger ſein als Dorothea, die doch als in der vollſten Blüthe jungfräulichen Alters ſtehend zu denken iſt, und ſchon einmal verlobt war.

Es iſt unzweifelhaft, daß Göthe keinen 19jährigen Hermann vor Augen hatte, ſondern, wenn er überhaupt an ein beſtimmtes Alter dachte, einen um etwa 5—6 Jahre älteren. Da es von einer Frau immer ein wenig unüber— legt iſt, die Dauer ihrer Ehe kürzer anzugeben, als das Alter ihres erſten Kindes ſchließen ließe, ſo können wir hier eben nur damit helfen, daß es mit jenen 20 Jahren nicht ſo ſtreng und wörtlich zu nehmen ſei. Und dieß

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erklärt ſich dann wieder daraus, daß weitaus die meiſten Menſchen ſich bei Zahlen, wo ſich kein perſönliches Inter— eſſe daran knüpft, gar nichts ſo Beſtimmtes zu denken und nicht damit zu rechnen pflegen. Auch Göthe hatte, wie die meiſten Dichter, nur einen ſchwach entwickelten Zahlenſinn.

Noch ein anderer Anachronismus von eigenthümlicher Art findet ſich in dem Gedichte. Indem die Mutter durch den Garten, Weinberg und das Feld geht, um den Sohn zu ſuchen, erfreut ſie ſich an der Fülle der Trauben, die kaum ſich unter den Blättern verbergen, der Gutedel und Muscateller, darunter der röthlich blauen von ganz beſon— derer Größe; gleich darauf ſchreitet ſie durch die wogenden Saaten des nickenden Korns, deſſen Erndte am folgenden Tag beginnen ſoll.

Korn auf den Halmen und gefärbte, ausgewachſene Trauben fallen aber nicht in Eine Zeit des Jahres zu— ſammen. Wenn die Frucht geſchnitten wird, ſind die Beeren der Trauben noch klein und grün und von den Blättern bedeckt; nur der Kenner vermag ſchon an Holz und Blatt die Sorten zu unterſcheiden. Die genannten Sorten ge— hören nicht zu den früh reifenden; die Muscateller werden nur in den beſſeren Jahren und Lagen ganz reif. Wo wir die vier Jahreszeiten gezeichnet oder gemalt finden, hat der Sommer die Garben, der Herbſt die Trauben zum Emblem; hier werden die Gaben von Ceres und Bacchus von der Natur neben einander geboten.

Wer im Wein- und Rheinland aufgewachſen iſt, wie Göthe, weiß das wohl, daß die rothblauen Muſcateller nicht

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vor dem September zu ſehen und nie gleichzeitig mit dem ſchnittreifen Korn ſind. Hat nun der Dichter hier wiſſent— lich oder unwiſſentlich gehandelt und wäre es erlaubt, die charakteriſtiſchen Kennzeichen der Jahreszeiten in Eine An— ſchauung zu vermengen? Ich glaube Lezteres verneinen zu müſſen und ſchließe daraus, daß auch von Seiten des Dichters keine Abſicht, ſondern ein Verſehen vorliegt, das um ſo entſchuldbarer iſt, als die Ueberſchreitung ſich inner— halb mäßiger Grenzen hält und von den Wenigſten bemerkt oder als Störung empfunden wird. Göthe war zur Zeit der Abfaſſung ſchon mehr als 20 Jahre von der Zone des Weinbaus entfernt. In der Abſicht, aus ſeiner Erinnerung ein eindruckvolles Geſammtbild von der Fülle und dem Segen des ſchönen Rheingaus zu geben, bemerkte er die leichte Verſchiebung der Grenzen und Merkmale der Jahres— zeiten nicht, die ſeine Phantaſie ſich geſtattet hatte.

Dieſe beiden Anachronismen benehmen dem Werth des Gedichts nicht das Allermindeſte, aber Fehler ſind es immer— hin, wenn auch kleine, und dieß ſcheint mir beſonders in Einer Beziehung bemerkenswerth. Göthe iſt der welt- und naturkundigſte aller Dichter; ſeine Werke halten, wie die keines zweiten, die Prüfung vom Geſichtspunkt der reali— ſtiſchen Wahrheit und ſinnlichen Vollziehbarkeit des Darge— ſtellten aus. Er ſtand, als er Hermann und Dorothea ſchrieb, auf dem Höhepunkt aller ſeiner geiſtigen Kräfte; der Glanz und die Friſche der jugendlichen Phantaſie und Sprachgewalt war dem 47jährigen noch nicht entſchwunden, das Maaß, die Formſicherheit, die Welterfahrung und

Rümelin, Reden u. Aufſätze. 25

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Weisheit des reiferen Alters hatte ſich ſchon eingeſtellt. Es war die Zeit ſeiner höchſten Leiſtungen. Hermann und Dorothea iſt auch raſch in Einem Zuge entſtanden. Seine Freunde kannten das Gedicht ſchon vor dem Drucke, darunter Freunde wie Schiller und Humboldt. Es hat unter des Dichters Augen noch eine Menge Auflagen erlebt. Entweder bemerkte Niemand jene Fehler oder theilte ſie ihm Niemand mit oder fand er es nicht der Mühe werth eine Correctur vorzunehmen. Der einzige Schluß, den ich ziehen will, iſt: ſo das am grünen Holze geſchieht, was ſoll am dürren werden? Wenn unter den denkbar günſtig— ſten Umſtänden einer dichteriſchen Compoſition gleichwohl derartige Widerſprüche und Mängel ſich dauernd einniſten können, was müſſen wir dann für möglich halten in Schrift— werken oder Dichtungen, die noch von jugendlichen, minder welterfahrenen Autoren verfaßt, in auseinanderfallenden Zeiträumen begonnen und vollendet wurden, aus dunkleren Zeitaltern ſtammen, dem Verfaſſer nie gedruckt und über— ſichtlich vor Augen lagen? Es iſt unglaublich, was für unverträgliche Dinge auch in dem Kopf der intelligenteſten Menſchen neben einander ruhig ihren Plaz behaupten und wie unzähligemal wir im Leben, in der Wiſſenſchaft und in der Dichtung die logiſchen Geſeze der Identität und des Widerſpruchs: A iſt A und nicht non A, verlezen. Die Philologen und Interpreten beachten dieß nicht genug; ſie ſchließen zu leicht und raſch auf falſche Lesarten, Emenda— tionen, Verſchiedenheit der Verfaſſer, oder ſuchen ſie das Widerſprechende durch künſtliche Mittel in Einklang zu

bringen. Ein 19jähriger Hermann zerſtört, ernſthaft ge- nommen, unfehlbar das ganze Gedicht, und doch ſteht er da, ſchwarz auf weiß, unanfechtbar, aber Niemand denkt daran, Niemand nimmt den Dichter beim Worte. Bei dem andern Fehler bin ich möglicher Weiſe der erſte, dem er überhaupt aufgefallen iſt, und dieß auch nur gewiſſermaßen aus zufälligen und individuellen Gründen, und doch iſt es ein Fehler und zwar auf einem Gebiet, wo ſonſt Niemand zuverläſſiger iſt als Göthe. Wenn ſo Etwas in einer Dichtung des Alterthums ſtünde, würde man es längſt be— merkt und gar Viel darüber geſchrieben haben.

7. Eintheilung der Univerſalgeſchichte.

Ob nicht die Hiſtoriker ſpäterer Generationen die dritte Hauptepoche der Weltgeſchichte erſt mit dem 19ten Jahr— hundert beginnen und die ganze Zeit von der Reformation bis zur franzöſiſchen Revolution noch zum Mittelalter als deſſen Schluß und Uebergangsperiode rechnen werden? Ge— wiß iſt, daß ſich das I6te Jahrhundert mit dem 19ten, wenn auch von dieſem erſt drei Viertheile abgeſchloſſen vor uns liegen, an weltumgef ann Ereigniſſen gar nicht vergleichen läßt. 5

Wohl ſind das Wiedererwachen der Wiſſenſchaften, die Buchdruckerkunſt, die Entdeckungen neuer Länder und Meere und die Kirchenreformation vier Grund- und Eck— ſteine eines neuen Kulturbaues, vier Wegweiſer auf neue Bahnen. Aber jener Bau ſelbſt ſtieg noch nicht in die Höhe und kam nur da oder dort aus dem Boden heraus.

25 *

388 Oder läßt ſich jagen: die jungen Pflanzen jproßten zwar kräftig aus dem Boden heraus, aber ſie vermochten doch die alte, übermächtige Pflanzendecke nur an einzelnen Stellen zu verdrängen und den Anblick der geſammten Fläche noch nicht weſentlich zu verändern.

Das Wiederaufleben der Wiſſenſchaften kam zunächſt nur der claſſiſchen Philologie, blos in vereinzelten, wenn auch glänzenden Ausnahmen der Aſtronomie, Phyſik und Philoſophie zu gut, während man an den Schulen über die alten Methoden und Formen kaum hinauskam. Der Bücher— druck konnte ſeine Wirkung in weiten Kreiſen noch wenig entfalten, wenn die unendliche Mehrzahl der europäiſchen Bevölkerung nicht leſen konnte, wenn die meiſten und faſt alle bedeutenden Bücher lateiniſch geſchrieben wurden, wenn die ſtrengſte Cenſur waltete und bei freimüthigen Aeuße— rungen über religiöſe und bürgerliche Dinge Leib und Leben auf dem Spiele ſtand. Die neuentdeckte Welt übt in den nächſten Jahrhunderten die große Rückwirkung auf Europa, die man bei den erſten Nachrichten erwarten konnte, noch nicht aus. Die Vermehrung des Vorraths an edlen Me— tallen und die Ueberſiedlung einiger Kulturpflanzen ſind das Bemerkbarſte. Handel und Verkehr haben zwar Straßen und Emporien gewechſelt, aber an Umfang und Bedeutung die ſchon früher von den italiſchen, flandriſchen und Hanſe— ſtädten erreichte Stufe nicht weſentlich überboten. Der Eröffnung der Oceane gieng die Verödung des Mittel— meeres durch die Türkenherrſchaft zur Seite.

Die Reformation, die bedeutendſte dieſer Veränderungen

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und die noch unerſchöpfte Quelle einer neuen Ideenwelt, trat zunächſt doch nur als ein Zurückgreifen auf die vor— mittelalterlichen Anſchauungen auf. Nach glänzendem An— lauf gerieth die Bewegung ſowohl nach ihrer inneren als äußeren Entwicklung ins Stocken. Das Dogma erſtarrte zu einer neuen Scholaſtik und ſchweren Feſſel der Geiſter. Der kirchliche Zwieſpalt brachte das deutſche Volk an den Rand des Verderbens. Nur einem Theil der germaniſchen Völker, hauptſächlich dem nördlich wohnenden, gelang es, den neuen Glauben zu behaupten; im Süden, wie bei den romaniſchen Völkern wurde er wieder unterdrückt; die jla- viſchen Stämme wurden von der Bewegung kaum berührt.

Die Karte von Europa erlitt nur wenige Verände— rungen; daß der Islam nach dem Verluſt der weſtlichen Halbinſel die öſtliche gewann, war die wichtigſte geweſen. Die Zerſplitterung und Ohnmacht des Centrums von Eu— ropa, Deutſchland und Italien, iſt noch im Wachſen; der moderne Staatsgedanke erwacht, aber nur in der abſtoßen— den Durchgangsform des fürſtlichen Abſolutismus. Im Uebrigen herrſcht der ganze Feudalismus des Mittelalters, die Abgeſchloſſenheit der Stände, die Niederhaltung der arbeitenden Klaſſen, Leibeigenſchaft, Hörigkeit und Frohn— dienſt des Landmanns nach dem Mißlingen des im Bauern— krieg unternommenen Anlaufs in verſchärftem Maße fort. Ackerbau und Handwerk bewegen ſich im feſten Geleiſe der alten Betriebsformen. Und wie noch bis in dieſes Jahr— hundert herein die Städte ganz ihr altes Ausſehen bewahren, mit hohen Mauern und tiefen Gräben, mit feſten Thoren

390 und Thürmen, „mit dem Druck von Giebeln und Dächern, mit der Straßen quetſchender Enge,“ auch noch mit Galgen, Pranger und Halseiſen, ſo reicht der wirkliche wie der figürliche Zopf der alten Zeit bis in die Tage unſerer Großväter.

Wenn es erlaubt iſt, den Beginn des 19ten Jahrhun— derts noch auf 1789 zurückzudatiren, welche Fülle von großen Ereigniſſen, welch' gewaltige und tiefgreifende Um— geſtaltungen aller Verhältniſſe enthält dieſer Zeitraum von kaum dritthalb Generationen! Es giebt in der That in der ganzen Weltgeſchichte keine Epoche, in welcher ſich für einen ſo weiten Kreis von Völkern und Staaten in gleich kurzer Zeit ein gleich großer Wechſel ihrer Zuſtände voll— zogen hätte. Der Untergang des römiſchen Reiches und die Gründung der germaniſchen Heerkönigthümer hat die Karte von Europa, den Schauplaz der Geſchichte, den Völker— und Staatenbeſtand wohl weit ſtärker verändert, aber auf Koſten des ganzen bis dahin angeſammelten Bildungscapi— tals. Die Kulturgeſchichte aber hat ſicherlich dem 19ten Jahrhundert nichts Aehnliches an die Seite zu ſtellen. Jezt erſt giengen die früher gelegten Keime zu vollen Saaten auf und überwuchſen nach allen Richtungen die alte Pflanzen— decke. Amerika, der Bücherdruck, die Befruchtung der Wiſſen— ſchaften und Künſte durch die klaſſiſchen Studien kamen erſt zu ihrer vollen Bedeutung; das proteſtantiſche Princip der freien Individualität und Forſchung auf Grundlage der ſittlichen Ordnungen rang ſich aus den alten Feſſeln los. Dazu tritt nun aber eine ganze Reihe neuer Errungen—

394 ſchaften, die jenen vier nhezkichen des 16ten e ganz ebenbürtig zu achten ſind.

Es muß hier eine flüchtige Erinnerung an die Fort— ſchritte der Technik durch Dampfkraft, Maſchinenweſen, Eiſenbahnen, electriſchen Telegraphen, Photographie genügen; an den großartigen Aufſchwung aller Natur- und Geſchichts— wiſſenſchaften, ſodann an die nationale Einigung von zwei bisher durch Zerſplitterung ohnmächtigen großen Kultur— völkern im Herzen von Europa.

Ein im ſpeciellſten Wortſinn univerſal-geſchichtliches Moment iſt die Ausbreitung europäiſch-chriſtlicher Herrſchaft, Geſittung oder wenigſtens Einwirkung auf den geſammten Erdkreis, durch die Entdeckung und Coloniſation eines fünften Welttheils, durch die Gründung und Ausbreitung des brit— tiſch-indiſchen Reiches, die Aufſchließung Hinteraſiens, den Verfall der Osmanenherrſchaft, die Entwicklung Rußlands zur europäiſch-aſiatiſchen Großmacht. Das 16te Jahrhundert eröffnet eine Epoche blos für denjenigen Theil der germa— niſchen Race, der die Reformation angenommen hat, und es iſt im Grund nur eine proteſtantiſche Anſchauung, daran ein neues Weltalter zu knüpfen, da die übrige Welt da— durch nicht oder wenig berührt wurde. Das gte Jahr— hundert erſt hat eine den ganzen Erdkreis umfaſſende Be— wegung der Macht- und Kulturverhältniſſe ins Leben ge— rufen und die ſeitherige Geſchichte eines Theils der cauca— ſiſchen Raſſe zu einer wirklichen Welt- und Menſchheits— geſchichte zu erweitern den kräftigſten Anfang gemacht.

Aber auch die Bedeutung dieſes Punktes überragt noch

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ein anderer, nemlich die Gründung des modernen Rechts— und Humanitätsſtaats auf der Grundlage allgemeiner Men— ſchen- und Bürgerrechte, die Nivellirung der Geſellſchaft durch Beſeitigung der trennenden Schranken zwiſchen den Ständen, die Emancipation und Hebung der unteren Ge— ſellſchaftsklaſſen, die Bildung eines neuen Standes, der freien Lohnarbeiter, die Aufhebung der Sclaverei in dem Herr— ſchaftsgebiete der chriſtlich europäiſchen Völker.

Die ſocialen Veränderungen ſind aber überall weitaus die wichtigſten; erſt durch dieſe leztgenannten Momente wurde das mittelalterliche Staats- und Geſellſchaftsweſen ſowohl im Princip als in der Wirklichkeit beſeitigt und der entſcheidende Schritt in eine ganz neue Aera gethan.

Wohl kennt die Entwicklung der Völker im Allgemeinen keine ſcharfen Ab- und Einſchnitte, da ſich der Strom der cauſalen Verkettungen unaufhaltſam fortwälzt und die Kanäle nach vor- und rückwärts niemals fehlen können, aber wie auch die Ströme bald raſcher bald langſamer fließen und vorgelagerte Hinderniſſe zuerſt zu durchnagen und dann zu durchbrechen haben, um ſich nun mit breiter Fluth über eine neue und veränderte Landſchaft zu ergießen, ſo hat auch die Geſchichte der Menſchheit ihre Stockungen, Strom— ſchnellen und Durchbrüche, welche für ihre Betrachtung die natürlichen Stationen und Markſteine bilden müſſen.

Den Charakter eines ſolchen gewaltſamen Durchbruchs hat aber kaum irgend ein geſchichtliches Ereigniß in gleicher Weiſe wie die franzöſiſche Revolution. In ihrem rapiden Verlauf, ihren erſchütternden Rückſchlägen nach allen Seiten

und bis in entlegene Welttheile, in der Tragweite ihrer Tendenzen ift fie eine Geſchichtsſtation erſten Rangs und hat mit den mittelalterlichen Gedankenkreiſen noch in ganz anderer Weiſe aufgeräumt als die Reformation.

Aber es läßt ſich nun freilich ſagen: auch wenn dieß Alles zuzugeben und die Zeit vom 16ten Jahrhundert bis zur franzöſiſchen Revolution wirklich nur die Einleitung und Vorſtufe der Neuzeit wäre, ſo ſei dieß doch noch kein Grund, ſie dem Mittelalter zuzuweiſen. Es liege vielmehr im Weſen einer Uebergangsperiode, daß man ſie mindeſtens ebenſogut als erſtes Glied des Neuen wie als Schlußglied des Alten betrachten könne; ſie ſei ein Janus, der vor- und rückwärts blicke, den Ein- und Ausgang andeute, aber doch in erſter Linie als das Symbol des Eintritts über die Schwelle eines Neuen gelte.

Die Geologen haben in ihrer wunderlich aus allen Gebieten und Sprachen zuſammengeleſenen Terminologie innerhalb der Tertiärformation eine eocäne, miocäne, plio— cäne Periode unterſchieden, je nachdem die neuen Formen (Ae) erſt im Aufgang (ng) begriffen oder gegen die älteren Gebilde noch die Minderheit (s) oder aber be— reits das Ueberwiegende, die Mehrheit (rrAeio) find. In ähnlicher Weiſe könnte man das 16te Jahrhundert eocän, das 17te und 18te miocän und das 19te pliocän, wo nicht pantocän, zu nennen verſucht ſein. Aber der geologiſche Vorgang würde dann dafür ſprechen, es bei der alten Ein— theilung zu belaſſen und das Tertiär oder die dritte welt— geſchichtliche Epoche mit dem Eocänen zu beginnen.

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Allein die Hiſtoriker folgen auch ſonſt nicht dieſem mehr ſcientifiſchen als der Wirklichkeit adäquaten Einthei— lungsprinciv. Das Entſcheidende für den Charakter einer Epoche iſt ſtets das darin Vorwaltende, nicht der Keim des Zukünftigen. Die Entſtehung des Chriſtenthums, das Auf— treten der germanischen Stämme waren unzweifelhaft eocän und die nächſtfolgenden Jahrhunderte miocän. Dennoch ſchließen wir das Alterthum und beginnen das Mittelalter erſt, als das Pliocän eintrat und jene beiden Factoren einer neuen Aera zu den herrſchenden Mächten ihres Zeit— alters erſtarkt waren. Die ganze Oekonomie der Geſchichts— darſtellung müßte aus Rand und Band gehen, wenn man dieß Princip, jedes Zeitalter als eine Gegenwart zu ver— ſtehen, fallen ließe.

Die Dinge ſind und bleiben allerdings, was ſie ſind, wie auch der Hiſtoriker ſeine Linien und Striche darin ein— zeichnen mag, ungefähr wie wir von dem Wendekreis des Krebſes und Steinbocks, von den Länge- und Breitegraden unſerer Landkarten nichts bemerken, wenn wir an Ort und Stelle kommen. Aber wie wir uns ohne dieſe Kreiſe auf unſerem Planeten nicht orientiren könnten, ſo beruht auch alles Verſtändniß der Geſchichte unſeres Geſchlechts auf einer richtigen Gruppirung des Stoffs. Und es iſt nicht gleichgiltig, ob wir, die an den Aufgaben der Gegenwart zu arbeiten haben, uns dabei bewußt ſind, in einem der größten Wendepunkte und Haupteinſchnitte der Weltgeſchichte, wie ſie nur nach vielen Jahrhunderten wiederkehren, in

einem der bedeutungsvollſten unter allen Zeitaltern zu leben und zu wirken.

8. Strauß.

Chriſten ſind wir nicht mehr; Religion brauchen wir nicht; die Welt erklären wir für die Welt, indem wir ihr Titel und Rang des Univerſums verleihen; unſer Leben ordnen wir von dem Standpunkt eines wohlhabenden, ge— lehrten und kunſtſinnigen Deutſchen aus dem Bismark'ſchen Zeitalter und all' dieß zuſammen nennen wir dann den neuen Glauben.

Göthe hatte vielleicht doppelt Unrecht, ſowohl wenn er von dem lyriſchen Dichter Menſchengeſchick bezwingenden Gehalt fordert, als wenn er dieſen gerade in den Uhland— ſchen Dichtungen ganz vermißte; wohl aber darf man von dem, was ſich für einen neuen Glauben ausgiebt, erwarten, daß es uns das Menſchengeſchick verſtehen und bezwingen lehrt. Strauß führt das Volk aus dem Egypterland, aber nur um ihm die Sandwüſte dafür als dauernden Aufent— halt anzuweiſen. „Was fruchtbar ift, allein iſt wahr.“

Wenn ein Gefangener in ſeiner Thurmzelle einen ein— zigen ſchmalen Spalt hat, durch welchen er etwas Licht und Luft empfängt, vorüberziehende Wolken und Sterne, einige Blätter und Aeſte eines Baumes ſieht, und gerne wiſſen möchte, wie die Rundſicht des Thurmes im Ganzen ſich ausnehme, wird dann wohl ſeine Sehnſucht geſtillt ſein, wenn ihm der Wärter etwa den Aufſchluß giebt: das, was man von der Plattform des Thurmes ſieht, nennt man die

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Umgegend oder das Panorama? Viel mehr als dieß iſt es nicht, was uns Strauß über das Univerſum mittheilt und genau dasjenige, um was es mehr iſt, ſind haltloſe Vermuthungen. Er hatte Großes und Glänzendes als Kri— tiker geleiſtet; als er nun aber zulezt ſelbſt mit der Fackel voranſchritt und die alten Räthſel zu deuten unternahm, da iſt er in faſt kläglicher Weiſe auch hinter billigen Er— wartungen zurückgeblieben.

Die alten Hegelianer, wenn ſie auch dem Meiſter nicht treu geblieben ſind, haben doch vielfach mit gar zu vor— nehmer Geringſchäzung die neueren philoſophiſchen Arbeiten ignoriren zu dürfen geglaubt. Syſteme, die das Ganze der Welt zu erklären verſuchen, werden allerdings nicht mehr aus dem Aermel geſchüttelt, wie es die Kant'ſchen Epigonen Fichte, Schelling und Hegel mit der Zuverſicht vormaliger Theologen thun zu dürfen glaubten. Aber in treuer Ge— dankenarbeit, mit Geiſt und Scharfſinn, mit weit ſoliderer Logik und mit größerer Beſcheidenheit ſind Manche den

Theilfragen und einzelnen Grundproblemen der Metaphyſik näher getreten. Wenn Strauß von dem Notiz genommen hätte, was nach Hegel in der Erkenntnißlehre, der Logik und Pſychologie, in der Kritik der materialiſtiſchen Theorieen geleiſtet worden iſt, hätte er ſein Buch vom neuen Glauben nicht ſo ſchreiben können und ſich gegenüber der Frage: wie erklären wir die Welt? weit vorſichtiger und reſignirter verhalten müſſen. Er hat vergeſſen, um welcher Eigenſchaft willen das Delphiſche Orakel Socrates den Weiſeſten unter den Hellenen genannt hat.

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Strauß hat den Plaz, den er in der Litteratur und Kulturgeſchichte des 19ten Jahrhunderts einzunehmen be— rufen war, durch ſein leztes Buch ſelbſt um mindeſtens Eine Stufe herabgedrückt. Wie es einen Schatten auf die Lauf— bahn des Göz von Berlichingen warf, daß er noch der Hauptmann von aufſtändiſchen Bauern, von Metzler und Conſorten werden mußte, ſo verdunkelte Strauß den Glanz ſeiner früheren Leiſtungen, indem er noch bei der Bande der Materialiſten eine Führerſtelle einnahm.

Es wird aber in der That ſchwer ſein, Strauß den richtigen Plaz in der deutſchen Litteratur anzuweiſen. Denn unter den eigentlichen Wiſſenſchaften wird ihn keine zu den Ihrigen rechnen wollen. Die Philoſophen werden ſein leztes Buch nur als das Werk eines Dilettanten, nicht als Legitimation für den Eintritt in den Saal der Meiſter gelten laſſen.

Die Hiſtoriker werden ihm auch kein volles Bürger— recht, ſondern nur die Stelle eines Gaſtes oder Beiſizers einräumen wollen. Die blos verneinende Kritik hat für den Hiſtoriker nur untergeordneten Werth; daß die vier Evangelien, ſo wie ſie lauten, nicht wirkliche Geſchichte geben, dafür brauchte dieſer gar keine umſtändlichen Beweiſe. Wie die Sache aber wirklich geweſen und geworden iſt, darüber weiß Strauß nicht viel Erhebliches zu ſagen. Die ächte poſitive, hiſtoriſche Phantaſie, die ſchöpferiſche Kritik und Kombinationsgabe, die aus zerſtreutem und verwirren— dem Material ein Ganzes ordnend aufbaut, tritt bei Renan, wenn auch in Begleitung unſoliderer Beigaben, viel ſtärker

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hervor als bei Strauß. Die Geſchichte des Urchriſtenthums wurde durch dieſen kaum gefördert; an den Unterſuchungen der Baur'ſchen Schule hat er ſich kaum ſelbſtändig be— theiligt. So bleiben die biographiſchen Denkmale, kleine Kunſtwerke auf der Grundlage ſolider Quellenforſchung und Kritik, doch vom Standpunkt des Hiſtorikers nicht von grö— ßerer Tragweite. Die Bedeutung von Ulrich Hutten wird überſchäzt und ſeine Geſtalt iſt nicht in den geſchichtlichen Hintergrund eingezeichnet, auf dem ſie ganz verſtändlich würde; Friſchlin war ein jo dickes und gutes Buch gar nicht werth. Der Reiz und Werth dieſer Schriften liegt anderswo als in der Ausbeute für die hiſtoriſche Forſchung.

So bleiben nur die Theologen übrig. Aber ſollten dieſe nicht vor allen Andern das Recht haben, denjenigen aus ihren Reihen zu weiſen, der ihnen ſagt: Ihr habt gar keine Wiſſenſchaft; euer Fundament, die evangeliſche Ge— ſchichte, iſt eine Sammlung von Sagen und Mythen; die Dogmen, die ihr darauf gebaut habt, ſind Hirngeſpinnſte; ihre Geſchichte iſt ein Proceß allmäliger Zerſezung; ſie löſen ſich ſchließlich in einige allgemeine metaphyſiſche und ethiſche Säze auf, die beſſer und leichter auf anderem und directem Wege zu gewinnen ſind? Dennoch werden die Theologen Strauß nicht von ſich abſchütteln können. Auf ihrem Gebiet liegen nun einmal ſeine Hauptwerke; ſie waren nicht zu ignoriren, und gaben den Anſtoß für eine neue und große Bewegung der Theologie.

Zwar dem blinden Offenbarungsglaubigen, der ſeine Vernunft zum Voraus gefangen giebt, konnte die Kritik des

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Lebens Jeſu nichts anhaben, wie es andrerſeits für den modernen Denker, dem jeder Wunderbericht ſchon als ſol— cher unglaublich erſcheinen muß, wenig Werth hat, die ein für allemal erkannte Wahrheit an hundert Einzelfällen mit gleichen oder ähnlichen Argumenten nachgewieſen zu ſehen. Auch die Kritik des alten Rationalismus, der die Wunder durch exegetiſche Künſte wegbringen wollte, war eine gar zu leichte Aufgabe. Aber vernichtend war dieſe Kritik für die Illuſionen derjenigen, welche den Zwieſpalt zwiſchen dem alten Glauben und der modernen Denkweiſe ver— tuſchen, durch kleine Conceſſionen, künſtliche Interpretationen, nebelhafte Theoreme aus der Welt ſchaffen zu können glaub— ten, für die Steudel, Olshauſen, Tholuk, Eſchenmayer u. ſ. w. Hier wurden alle Ausflüchte und Winkelzüge ſchonungslos aufgedeckt; das aut aut, die Alternative, entweder mit dem Glauben Ernſt zu machen oder mit dem Denken, wurde ſchärfer und unausweichbarer als jemals jeder Schule wie jedem Einzelnen vor die Seele geſtellt.

Daß Bücher, welche an ſich Unglaubliches berichten, ſich eben dadurch als unglaubwürdig und ungeſchichtlich erweiſen, darüber waren ſchon in unſerer großen Litteratur— epoche weder Dichter noch Denker, weder Leſſing, Göthe, Schiller, noch Kant, Fichte, Schelling im Zweifel. Göthe ſchreibt an Lavater: „Du hältſt das Evangelium, wie es ſteht, für die göttlichſte Wahrheit; mich würde eine ver— nehmliche Stimme vom Himmel nicht überzeugen, daß das Waſſer brennt und das Feuer löſcht, daß ein Weib ohne Mann gebiert und daß die Todten auferſtehen; vielmehr

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halte ich dieß für Läſterungen gegen den großen Gott und ſeine Offenbarung in der Natur“. Schiller ſagt von den bibliſchen Schriften, daß er in allem, was hiſtoriſch iſt, den Unglauben zu jenen Urkunden gleich ſo entſchieden mit— bringe, daß ihm die Zweifel an einem einzelnen Factum noch ſehr raiſonnabel vorkommen. Auch der Mythusbegriff, auf deſſen Anwendung durch Strauß ſo großer Werth ge— legt werden will, würde jenen Männern nichts Neues oder nichts Erhebliches geſagt haben.

Allein für die Theologen waren dieß nur allgemeine Behauptungen von Laien, die in den Augen des Fach— manns keine Geltung haben. Strauß aber hat ſie nun als Zunftgenoſſe mit der gründlichſten Gelehrſamkeit wie mit den ſchärfſten Waffen der Logik durchgefochten und keine Wahl gelaſſen, als entweder auf alle Kritik zu ver— zichten oder ihr bis ans Ende zu folgen *).

) Gerade weil das Leben Jeſu jo ganz auf theologiſchem Boden ſtand und unter allen Umſtänden Kenntniß des Griechiſchen voraus— ſezen mußte, war es um ſo unverſtändlicher, die neue Bearbeitung „für das deutſche Volk“ beſtimmt zu ſehen. Ein gedrucktes Buch iſt im Allgemeinen für diejenigen beſtimmt, die es leſen wollen, und braucht dieſe nicht zu bezeichnen. Einſchränkende Zuſäze ſind wohl gerechtfertigt, „für Kinder, für Jungfrauen, für Notariatskandidaten“, oder auch wenn Schleiermacher ſagt: Reden über Religion für die Gebildeten unter ihren Verächtern; aber die erweiternden Locktitel „für Jedermann, für alle Gebildeten, und gar „für das deutſche Volk“ haben einen ſtörenden Beigeſchmack von Buchhändleranzeige und Re— clame. Ob wohl in Frankreich auf einem Büchertitel pour le peuple frangais ſtehen dürfte? Uebrigens hat auch „das deutſche Volk“ mit dieſem Leben Jeſu nichts anzufangen gewußt, konnte daſſelbe nicht verſtehen und hat es daher auch mehr gekauft als geleſen oder gar begriffen.

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Wenn ſein Werk über Dogmatik, obgleich noch gelehrter und formvollendeter, in ſeiner Wirkung hinter dem Leben Jeſu weit zurückblieb, ſo geſchah dieß, weil er hier aus dem Kreiſe der Theologie ſchon ganz heraustrat, dem We— ſen der Religion, in der er, Hegel folgend, nur eine trübere Form des Wiſſens ſah, nicht gerecht wurde und den reli— giöſen Gehalt der chriſtlichen Dogmen zu abſtracten Sätzen verduften ließ.

Strauß ſpielt in der Entwicklung der Theologie un— gefähr eine Rolle, wie Napoleon J. in der deutſchen Ge— ſchichte. Obgleich ein Feind, hat er doch mit alten ver— rotteten Formen aufgeräumt und den andern Theil ge— nöthigt, neue Wege aufzuſuchen, um gegen ihn ſelbſt zu Feld zu ziehen.

Freilich iſt die Aehnlichkeit damit zu Ende. Die theo— logiſchen Befreiungskriege ſind nicht nachgefolgt. Vielmehr trat in Folge der durch das Leben Jeſu angeregten Be— wegung die verhängnißvolle Wendung ein, daß die prote— ſtantiſche Theologie, die ſich bis dahin mit der Philoſophie und deutſchen Wiſſenſchaft Hand in Hand fortentwickelt und zu verſtändigen gewußt hatte, dieſen jezt gefährlich er— ſcheinenden Umgang abbrach, ſich auf ſich ſelbſt zurückziehen zu können glaubt, den Zwieſpalt mit der modernen Wiſſen— ſchaft immer größer werden ließ, die Maſſe der gelehrten und gebildeten Stände immer weiter von ſich entfernte, und daß ſo auch die proteſtantiſche Kirche in eine ihrem innerſten Weſen widerſtrebende, für alle Theile gefahrvolle

Rümelin, Reden u. Aufſätze. 26

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Entfremdung und Feindſchaft gegen die beiten Elemente ihres Volkes und Zeitalters hineingezogen wurde.

Strauß aber, der hiezu den Anſtoß gegeben hatte, und dann ſeinerſeits in eine immer feindſeligere Richtung gegen die chriſtliche und gegen alle Religion gerieth, gab ſeinen Plaz als Gelehrter eines beſtimmten Faches auf und nimmt einen ſolchen nur noch in der allgemeinen Kultur— und Litteraturgeſchichte in Anſpruch. In den ſchriftſtel— leriſchen Tugenden, als Meiſter der Sprache und Darſtel— lung, ſowohl im ernſten Schritt der Wiſſenſchaft, wie in dem leichteren Geplänkel kleinerer Ausführungen, in der Erzählung wie im Urtheil ſucht er ſeinesgleichen in un— ſerer ganzen Litteratur. Wo iſt ein Schriftſteller, der in ſo vielen Bänden auf jeder Seite friſch, lebendig, anregend wäre, niemals langweilig, geſchmacklos oder unklar? Das feinſte Sprachgefühl, die ſolideſte philologiſche Bildung und eine dichteriſche Begabung, um die ihn manche, die ſich Poeten nennen, beneiden dürften, begleiteten alle ſeine ſchriftſtelleriſchen Leiſtungen. Sein Styl gleicht einem hellen, ſprudelnden und perlenden Quellwaſſer, bei dem man überall auf den klaren Grund ſieht. Die „unzeitgemäßen Betrach— tungen“ werden mit ihrem kleinlichen Genergel an dem öf— fentlichen Urtheil nichts ändern. Der Styl eines Schrift— ſtellers iſt als Ganzes zu nehmen; das Geſchäft, da oder dort Etwas mit rother Dinte anzuſtreichen, mag man denjenigen Schulmeiſtern überlaſſen, die an der Correctur ihrer Schülerhefte noch nicht genug haben. Die biogra— phiſchen, publiciſtiſchen literargeſchichtlichen Arbeiten, ſowie

die kleinen Genrebilder gehören zu den Schmuckſachen der deutſchen Litteratur. Die Streitſchriften über das Leben Jeſu mögen nicht ohne das Leſſing'ſche Vorbild entſtanden | ſein; ſie haben daſſelbe aber nicht nur erreicht, ſondern übertroffen. Es mag heutzutag anſtößig und kezeriſch klin— gen, aber in der Leſſing'ſchen Polemik tritt die Luſt an der Menſur und der Darlegung der eigenen Fechterkunſt um ihrer ſelbſt willen oft ſtörend hervor. Die Formen der Dialectik ſind zu lebhaft und dramatiſch für wiſſenſchaft— liche Erörterungen, wie umgekehrt in ſeinen Dramen die Gedankenſpalterei und das dialectiſche Wortgefecht läſtig werden kann; mancher Hieb geht doch auch ins Blaue und es fehlt nicht an ermüdenden Abſchweifungen. Strauß wußte dieſe Auswüchſe zu beſeitigen und doch alle Vorzüge einer ſachkundigen, ſchlagfertigen und feſſelnden Streitfüh— rung zu bewahren.

Talentreicher, gelehrter, ſcharfſinniger, geſchmackvoller iſt Leſſing nicht geweſen, aber er war gleichwohl die höher und origineller angelegte Natur. Es fehlt Strauß jene lezte Vertiefung des Geiſtes und Gemüths, die volle Mit— empfindung des menſchlichen Weſens und Geſchicks, die den Weiſen, den Geſchichtſchreiber, den großen Forſcher, den Gründer einer Schule, den Führer einer geiſtigen Genoſſen— ſchaft kennzeichnet. Denn was ſoll und kann das eigent— lich noch heißen, ein Straußianer zu ſein? Etwa das Chriſtenthum für einen abgelegten Irrthum, die religiöſen Bedürfniſſe für eine Selbſttäuſchung zu halten und dann

zuzuſehen, wie man ohne dieſe Stüzen durchkommt? Der 26 *

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praktiſche Abſchluß ſeines Standpunkts war eigentlich, die ungebildeten Maſſen, welche bisher ihr individuelles Schick— ſal als ein Stück einer gottgewollten Ordnung anſehen durften, durch Belehrungen über die aus der Idee der Gattung folgenden Verbindlichkeiten, ſodann aber durch Po— lizei und Juſtiz, nöthigenfalls durch Gewalt es iſt nur ſchwer zu ſagen weſſen im Zaum zu halten, wogegen es einer Elite wohlſituirter und hochgebildeter Menſchen vergönnt bliebe, durch Wiſſen, Kunſt und edlere Genüſſe beglückt zu leben und zu wandeln und etwaiges wi— driges Geſchick als Atome des Univerſums mit Reſignation zu ertragen. Die Natur und Geſchichte der Menſchheit zeigt uns aber andere und ernſtere Züge, und ſchon der Kampf ums Daſein hätte den Darwinianer auf andere Folgerungen führen müſſen.

„Der Menſch iſt mehr als Sie von ihm gehalten“ ſagt Poſa zum König, und wenn man ſtatt „Nero und Buſiris“ beliebige Namen von Matadoren des Materialis— mus einſezt, ſo leiden auch die darauf folgenden Worte ihre Anwendung:

Zu einem Nero und Buſiris wirft

Er Ihren Namen und das ſchmerzt mich; denn

Sie waren gut.

II. Wider den neuen Glauben. 9,

Es mag wohl ſein, ja es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß die Defcendenzlehre viel dauernde Wahrheit zu Tag ge— fördert hat, wenn vielleicht auch Kampf ums Daſein und Zuchtwahl in eine viel beſcheidenere Stellung zurückgewieſen werden ſollten. Jedenfalls wird der Saz, der ſchon in der Sage von der Arche Noä ſteckt: ſo viel Arten, ſo viel Schöpfungsacte, als abgethan gelten können. Wie viel oder wenig nun ſich davon als haltbar erproben wird, mögen Andere beurtheilen, aber es ſei deſſen weniger oder mehr, ſo müſſen doch alle Freunde und Kenner philoſophiſcher Studien gegen die Tragweite Verwahrung einlegen, welche in dieſem Fall einem biologiſchen Theorem geliehen wird, gegen die Competenzüberſchreitung, mit welcher hier em— piriſche Säze in das Gebiet der Metaphyſik herübergezogen werden. Die Verlezung der Grenzen geſchieht freilich ebenſo von Seiten der Philoſophen ſelbſt als von den Natur— forſchern und Niemand war leichtfertiger in dieſem Punkte als Strauß. Eine phyſiſche Erklärung der Welt kann nie— mals eine metaphyſiſche ſein. Die Metaphyſik hat eben daher ihren Namen, daß ſie nach und hinter dem Phyſi— ſchen kommt. Die Naturwiſſenſchaften können in der cau— ſalen Verkettung der ſinnlich wahrnehmbaren Erſcheinungen neue Zwiſchenglieder finden oder vermeintliche alte beſei— tigen, bisher Getrenntes als Eins, bisher Vereintes als Getrenntes erkennen, aber ſelbſt, wenn ſie dieſes Ziel ſchon

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erreicht hätten, wenn ſie uns den Cauſalzuſammenhang der ganzen Sinnenwelt genau und vollſtändig darzulegen ver— möchten, ſo wären die Fragen am Ende ſo gut wie am Anfang ungelöst: wie und warum es überhaupt eine Welt geben könne und eine Ordnung dieſer Welt, warum gerade dieſe Ordnung und welcher Plaz dem Menſchen in dieſer Ordnung zukäme. Wenn der geſammte Darwinismus ſtatt einer Hypotheſe eine felſenfeſte Wahrheit wäre, nun ſo wären dann eben dieß die äußeren Formen und Mittel, die neben vielen andern auch mitberufen waren zur Ver— wirklichung eines ewigen Weltplanes; warum aber gerade dieſe mehr als alle ſchon bekannten Naturgeſeze den Anſpruch erheben, einen ſolchen Weltplan entbehrlich zu machen, da— für iſt nicht der Schatten eines Grundes einzuſehen. Mit dem Saz: ſo viel Arten, ſo viel Schöpfungsacte, iſt noch nicht auch der weitere: ſo viel Arten, ſo viel Schöpfungs— gedanken, beſeitigt. Ob der Menſch aus einem Erdenkloß gebildet iſt oder in einem glücklich organiſirten Catarrhinen— paar ſeine Ahnen zu ſuchen hat, begründet für die meta— phyſiſche Würdigung ſeines Weſens keinen Unterſchied, da auch das Leztere den Glauben nicht ausſchlöße, daß er aus Gottes Hand hervorgegangen, nach Gottes Bilde geſchaffen iſt. Im einen wie im andern Fall iſt er zeitlich entſtanden und bedeutet dieß Entſtehen den Durchbruch einer höhern Daſeinsform von unbegrenzter Ausſicht und Entwicklung aus der gebundenen Enge unbewußten Seins und Lebens.

Man kann den Widerwillen gegen jede Formulirung und Aufſtuzung des theologiſchen Wunderbegriffs vollſtändig

theilen und es doch um kein Haar rationeller finden, blinde Triebkräfte, wie Zuchtwahl und Kampf ums Daſein, als ein Leztes, auf ſich ſelbſt Ruhendes, ein in ſich die Stufen— folge der lebenden Weſen Tragendes vorzuſtellen. Man denkt ſich dabei auch ſtillſchweigend die Hauptſache, die ganze übrige Weltordnung als ſchon gegeben dazu, den Geſchlechtsunterſchied, die Zeugung, den Planeten mit allen ſeinen ſonſtigen Qualitäten. Und wenn es ſich darum han— delte, ſowohl das Conſtante als das Variable in der Man— nigfaltigkeit der Organismen zu deuten, ſo war freilich nichts bequemer, als ſich zwei einander entgegengeſezte Prin— cipien anzuſchaffen, deren eines unter dem Namen der An— paſſung die veränderlichen, das andere unter dem Namen der Vererbung die beharrlichen Erſcheinungen zu erklären dient.

Man ſpricht jezt mehr als jemals von Monismus, während man früher die Sache wohl gekannt, das Wort aber viel weniger gebraucht hat. Indem unſer Intellect den Begriff einer Ordnung bildet und die Geſammtheit der Erſcheinungen demſelben unterſtellt, fordert er Einheit nur an der Spize des Ganzen, aber der erſte Act dieſes höch— ſten Einen muß eine Differenzirung ſein, die ſich ins Un— endliche fortſezt. Dagegen in der hieraus entſtandenen Welt der empiriſchen Erſcheinungen kann der Monismus nirgends mehr Plaz finden; hier iſt überall Pluralität und unendliche Wechſelwirkung. Sein heißt, wie uns Lotze lehrt, in Beziehungen ſtehen. Es iſt der Triumph der Wiſſenſchaft, die Probleme zu vereinfachen, die Urphänomene aufzuſuchen, auf Atome, Molecüle, Zellen, Moneren, die

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elementarſten mechanischen und chemischen Vorgänge zurück— zugreifen, aber Monismus braucht man dieß nicht zu nennen und den Anſpruch nicht zu erheben, als ob man ſo ohne weitere Leihung die Lebenserſcheinungen im Wege der Con— ſtruction aus den einfachſten Formen zu entwickeln ver— möchte. Man wird an die Hegelſche Logik erinnert, die ſich den Schein giebt, als ob ſie ohne Seitenblick auf den anderswie gegebenen Vorrath von Ideen und Erfahrungen vom reinen, dem Nichts gleichzuachtenden Sein durch einen inneren dialectiſchen Proceß zu den höchſten Begriffen und realen Erſcheinungen gelangte. Man könnte die angeb— lich 18000 Farben der Vaticaniſchen Sammlung ſo in einen Farbenkreis ordnen, daß je die zwei nebenein— anderliegenden faſt ununterſcheidbdar wären, und wenn man dann vom Weißen oder Schwarzen aus die ganze Reihe durchlaufen hätte, dieß für eine genetiſche Entwick— lung der Farben aus Etwas, was nicht Farbe iſt, aus— geben wollen. In ähnlicher Weiſe wird auf allen Gebieten ein ſucceſſives Geſchehen mit einem ſpontanen verwechſelt und gegen die Wahrheit, daß die Wirkungen den Urſachen adäquat ſein müſſen, auf Schritt und Tritt geſündigt. Um des logiſchen Wohlgefallens am Monismus willen it es keinenfalls nöthig, die ganze organiſche Welt aus Einer Grundform abzuleiten; es wäre zum mindeſten ebenſo lo— giſch anzunehmen, daß, nachdem auf der abgekühlten Erd— rinde die Bedingungen für die Entſtehung organiſchen Le— bens eingetreten waren, dieſe an verſchiedenen Orten un— ſeres Planeten und in verſchiedenen Zeiten ſchon nicht genau

409 die gleichen ſein konnten, daß aber unter ungleichen Be— dingungen auch Ungleiches entſtehen mußte, und ſomit gleich vornherein eine wenn auch beſchränktere Mannigfaltigkeit von Formen gegeben war.

10.

Es iſt geſagt worden: „das wäre erſt noch zu beweiſen,

daß es kein Denken ohne Denkendes geben könne“. Es

8

iſt dieß aber, was man eine Verſchiebung der Beweislaſt nennt. Affirmanti incumbit probatio, jagen die Juriſten. Wir andern Menſchenkinder ſind gemäß der uns zu Theil gewordenen Gehirnorganiſation außer Stand, uns irgend eine Thätigkeit zu denken ohne ein Etwas, dem ſie zu— kommt, irgend ein Prädikat ohne Subject, irgend ein Ver— bum im Saz ohne ſein Subſtantiv. Am ſicherſten ſind wir dieſes Subjectes, wo es ſich um menſchliche Thätig— keiten und Zuſtände handelt; zum Lachen denken wir ein Lachendes, zum Sterben ein Sterbendes und ſo doch gewiß auch zum Denken, Fühlen, Wollen ein Denkendes, Fühlendes, Wollendes. Selbſt da, wo wir dieß Etwas, dem das Thun zukommt, noch nicht zu unterſcheiden oder zu benennen ver— mögen, deuten wir es wenigſtens durch die ſprachliche Form als Pronomen und Neutrum an: es blizt, es klopft, es ſtinkt, und wollen damit ſagen: es iſt ein Etwas da, was blizt, klopft oder übel riecht. Alſo ſelbſt wenn wir ſagen könnten: es denkt, es will, ſo würde dieß doch nichts An: deres heißen als: ein Denkendes, ein Wollendes iſt. Wenn nun hierin der gemeine Verſtand in Uebereinſtimmung ſteht mit aller Grammatik und Logik, die es jemals in der Welt

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gegeben hat, kann man dann von uns erſt noch den Beweis für das Negative fordern, daß es kein Denken ohne Den— kendes geben könne? Man kommt in der Sache ſofort auf die Kategorieen, auf die Stammbegriffe alles Denkens, das Ding, deſſen Eigenſchaften und Thätigkeiten zurück, welche allem Beweiſen und aller Denknothwendigkeit zu Grunde liegen; und man könnte mit gleichem Recht erſt einen Beweis dafür fordern, daß es keine Eigenſchaften geben könne, die nicht die Eigenſchaften eines Etwas wären. Hätte nicht vielmehr Derjenige, der den von aller Welt abweichenden Saz aufſtellt: es gibt ein Denken ohne ein Etwas was denkt oder es kann ein ſolches geben, die Be— weislaſt und uns eine Vorſtellung davon zu entwerfen, wie eigentlich ſein Kopf organiſirt iſt und wie wir es etwa angreifen müßten, um das Denken in ein ſubjectloſes Ge— ſchehen zu verwandeln?

Die Einwendung war natürlich nur gegen den Gottes— begriff in theiſtiſcher Faſſung gerichtet und weist im Hin— tergrund auf jenes geheimnißvolle Weſen der Hegelſchen Lehre hin, die Idee, bei welcher wie bei Gottheiten von unausſprechbaren Namen ſchon verboten war zu fragen, was ſie eigentlich ſei, und es für gleich falſch galt zu ſa— gen: ſie denke als ſie werde gedacht, die nur durch ein noch dunkleres Wort, einen verneinenden Beziehungsbegriff, zu dem das Bezogene fehlt, das Abſolute, erläutert wurde.

Es iſt ja nicht zu beſtreiten, daß wir uns Perſönlich— keit und Selbſtbewußtſein nicht ohne Beſchränkung, ohne Unterſcheidung von einem Anderen vorzuſtellen vermögen;

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und noch weniger iſt es zu verwundern, daß wenn wir vorher einen pantheiſtiſchen Gottesbegriff aufſtellen und dabei das AllEins in ſchärfſter Faſſung betonen, dann auch keine Form von theiſtiſcher Vorſtellung mehr einen Boden findet. Aber wenn uns die Einbildungskraft die Mittel verſagt, den Weg nach oben zu gehen, folgt daraus, daß wir den Weg nach unten einzuſchlagen und zum Unbe— wußten und Unperſönlichen herabzuſteigen haben? Iſt ein Denken ohne Denkendes irgend vorſtellbarer als ein all— und ſelbſtbewußter Geiſt? Iſt es nicht folgerichtiger, lieber ehrlich und beſcheiden zu ſagen: wir wiſſen und begreifen das Weſen Gottes nicht, aber wir können es nicht unter— laſſen, an die Spize des Weltganzen Geiſt und Wille zu ſezen ſtatt Kraft und Stoff und dabei von dem Höchſten und Beſten, was wir an unſerem eigenen Weſen kennen, aufwärts, ſtatt abwärts zu ſchließen, ein potenzirtes Denken, Fühlen und Wollen, und damit auch ein Höchſtes, das denkt, fühlt und will, wenn nicht vorzuſtellen, doch zu glau— ben und zu lieben. Etwas Anthropomorphismus läuft dabei mit; das iſt nicht in Abrede zu ſtellen und nicht zu vermeiden; aber was man uns an ſeiner Stelle bieten will, iſt, wenn es blinde und unbewußte Kräfte ſein ſollen, nicht ein Ueber- ſondern ein Untermenſchliches; wenn es Geſeze ſein ſollen, ſo muthet man uns zu, Ordnungen zu denken, zu denen das Ordnende wie das Geordnete fehlt, etwa wie wenn ein Staat nur aus Geſezen beſtünde und dieſe ſich dann Land und Volk ſelbſt zu ſchaffen hätten; ſoll endlich zwar ein Denken an der Spize ſtehen, aber nur ein Nie—

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mandsdenken, eine Idee, die weder denkt noch gedacht wird, ſondern nur iſt oder geſchieht, dann haben wir auch An— thropomorphismus, ſofern Denken blos ein menschliches Attribut iſt, nur einen mit Widerſinn verquickten, und ſtatt der vorgeblichen ſublimen Weisheit eine Mißhandlung der ele— mentarſten Geſeze und Stammbegriffe aller menſchlichen Logik. Pr ie Aufgabe, die Welt zu erklären, könnte man etwa mit derjenigen vergleichen wollen, aus einigen Fragmenten von zweifelhaftem Text ein verlorenes Drama wiederher— zuſtellen, oder wenn ſich in der Ecke einer großen Wand— fläche noch die Umriſſe einiger Figuren erkennen laſſen, aus denſelben den Stoff und Gehalt des ganzen Gemäldes, das früher die Wand bedeckt hat, zu errathen, oder auch aus einigen Algenexemplaren auf die ganze Flora eines Landes zu ſchließen. Aber ſo wenig dieß jemals geleiſtet werden wird, ſo ſind doch dieſe Bedingungen noch unend— lich leichter; denn es handelt ſich hier doch immer noch nur um eine Wahl und ein Errathen innerhalb des Um— kreiſes bekannter Vorſtellungen und Erſcheinungen, und es wäre denkbar, daß eine geniale Phantaſie, wenn auch nicht gerade das richtige, doch ein ähnliches und an ſich denk⸗ bares Werk zu Stande brächte. Allein unſere Kenntniß der Welt iſt eine ganz unvergleichbar mangelhaftere und fragmentariſchere. Unter zahlloſen Weltkörpern kennen wir nur einen einzigen, unſern Planeten; von allen andern haben wir nur einzelne Daten über Größe, Entfernung und Bewegungen, die noch zu nichts Weiterem führen; von un—

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gezählten Jahrtauſenden der Geſchichte unſerer Erde und der Menſchheit ſind uns nur die drei lezten einigermaßen aufge— hellt; das Stück, das der Zukunft angehört, iſt ganz zugedeckt.

Nun müſſen wir aber doch das Weltall als etwas Zu— ſammenhängendes, Geordnetes, Entwicklungsſtufen Darſtel— lendes und eben damit auch unſern Planeten als ein Glied einer Reihe, etwa als die Sproſſe einer Himmelsleiter vor— ſtellen. Alſo etwas ſehr mangelhaft Bekanntes als Glied einer Reihe von völlig unbekannten Dingen zu begreifen, wäre die eigentliche Aufgabe, die uns geſtellt iſt. Um von Wiſſenſchaft gar nicht zu ſprechen, auch die Phantaſie des genialſten Menſchen vermag keinen Schritt über die Voraus— ſezungen unſerer planetariſchen Erfahrungen hinaus zu thun; ſie kann einzelne dieſer Bedingungen ſteigern, andere ein— ſchränken, aber ſie kann nur Variationen des Gegebenen finden, keine neue Melodie. 2

Welt, Univerſum, Kosmos bedeuten in drei Sprachen das Gleiche, ein Ganzes, von dem wir eine winzige Par— zelle einigermaßen kennen. Jedes Prädikat, das wir dieſem Ganzen beilegen wollen, iſt aus der Luft gegriffen. Strauß will es zwar als eine „metaphyſiſche Nothwendigkeit“ be— zeichnen, daß ſich die Summe des Seins im Univerſum nicht vergrößern könne, weil damit deſſen Unendlichkeit auf— gehoben würde. Was ſoll man ſich dabei denken? Un— läugbar vergrößert ſich die Summe des Seins auf unſerm Planeten fortwährend, ſchon einfach dadurch, daß die Men— ſchenzahl wächst, ihre Wiſſenſchaft und Bildung. Sollte deßhalb an irgend einem andern Punkt des Weltalls ein

414 entſprechender Rückgang und Abgang ſtets in den gleichen Zeitmomenten geboten ſein und Plaz greifen? Schwerlich würde ſich bei irgend einem Theologen eine willkürlichere und unerweislichere Behauptung finden laſſen.

Nichts Anderes als die Prädicirung eines unbekannten Subjects durch ein unbekanntes Prädikat iſt es nun auch zu ſagen: die Welt iſt Gott.

Göthe ſagt, und zwar am Schluſſe ſeiner Laufbahn, daß ihm noch Niemand vorgekommen ſei, der wiſſe, was das Wort Pantheismus bedeute. Schopenhauer zeigt in ſeiner geiſtreichen Art, daß die beiden Formulirungen des Gedankens: Gott iſt die Welt, und: die Welt iſt Gott, entweder überhaupt Nichts oder eine Beſeitigung des Got— tesbegriffs enthalten. Atheismus und Pantheismus laſſen ſich in der That nicht auseinander halten. Denn wenn Gott mit dem Univerſum zuſammenfällt, ſo iſt er ebendamit entbehrlich. „Wozu ein Gott, die Welt iſt ſich genug.“

Wenn die pantheiſtiſche Formel ſich auch auf die un— bekannten Theile des Weltganzen beziehen ſoll, ſo ſtellt ſie nur eine unlösbare Gleichung mit zwei Unbekannten, X = „, auf, die völlig werth- und ſinnlos iſt, wenn ſie ſich aber auf das unſerer Erkenntniß zugängliche Weltfragment be— ſchränken will, ſo läßt ſie das Weſen Gottes in den Er— ſcheinungen eines einzelnen unter den vielen Trabanten eines der zahlloſen Fixſterne aufgehen, was zu einer Art von Planetengott, alſo zum Polytheismus führen könnte, wenn ſich überhaupt etwas Ernſthaftes dabei denken, wenn man dann nicht zehnmal lieber den Gottesbegriff ganz fallen ließe,

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12.

Man braucht ſich gegen die Feuerbach'ſchen Säze, daß alle Religion anthropologiſchen Urſprungs ſei und auf menſch— lichem Verlangen und Bedürfniß beruhe, nicht zu ſträuben, ohne daß man darum deſſen näheren Ausführungen und weiteren Conſequenzen verfallen müßte. Giebt es denn überhaupt eine andere und beſſere Legitimation für irgend eine Einrichtung, als daß ſie einem menſchlichen Bedürfniß entſpreche, und worin ſollte eine ſolche höhere Beglaubigung beſtehen können? Es iſt ja mit Wiſſenſchaft und Kunſt, mit Recht und Moral genau ebenſo. Wie will man denn in der Begründung der Idee des Guten noch weiter kom— men als dahin, daß im Menſchen ein Verlangen, eine un— abweisbare innere Forderung liege, nenne man ſie nun Gewiſſen, kategoriſchen Imperativ, Vernunfttrieb oder wie man will, nach einer feſten Ordnung für ſein getheiltes und zerfahrenes Wollen und nach einem Maßſtab für den Werth ſeiner Handlungen? Es iſt eine Verwechslung der Folgerung mit der Prämiſſe, wenn wir die Ableitung des Guten aus einem göttlichen Willen für ein noch weiteres Zurückgreifen in der cauſalen Verkettung halten. Denn dieß iſt erſt Sache des Glaubens, deſſen Quelle und lezte Bürgſchaft wieder in jenem Gefühl einer inneren Nöthi— gung liegt. Es iſt auf dem intellectuellen Gebiet nicht anders. Die Wahrheit ſcheint uns wie eine lichte Geſtalt auf dem Grunde der Erſcheinungen ein objectives Daſein zu haben; und doch iſt ihre Beglaubigung auch nur ſub—

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jectiven Urſprungs. Nicht weil ſie irgendwo it, juchen wir ſie, ſondern weil wir ſie ſuchen und begehren, verſezen wir ſie dorthin. Ihr leztes Zeugniß iſt ein So denken müſſen, das nicht weiter bewieſen und entwickelt werden kann, ſondern unmittelbar gefühlt wird. Ob die Formen und Geſeze unſers Denkens ſelbſt richtig ſind und zur Wahrheit leiten können, das wiſſen wir nicht; wir glauben es aber und ein Zweifel daran würde uns nichts helfen.

So ruht auch alle Religion nur auf ſubjectivem Ver— langen und Bedürfniß, nur daß wir daſſelbe, gerade wie unſer Verlangen nach dem Wahren, Schönen und Guten, als ein Allen gemeinſames, zur urſprünglichen Mitgift der menſchlichen Natur gehöriges Streben betrachten müſſen. Wir finden einen Trieb und Reiz, eine innere Forderung in uns vor, unſer Ich und geſammtes individuelles Daſein, wie ein bloßes Bruchſtück, in einen lebendigen, nicht blos gedachten, ſondern gefühlten und gewollten Zuſammenhang mit dem Weltganzen und den darin waltenden Mächten einzurücken. Die Vorſtellung einer zuſammenhangsloſen, iſolirten und verlorenen Sonderexiſtenz vermögen wir nicht zu ertragen. Wer und was auch die allwaltenden Mächte ſein mögen, wir erheben den Anſpruch an ſie, daß ſie nicht in unnahbarem Jenſeits, in unerreichter Ferne und Gleich— gültigkeit von uns abgewendet ſtehen, ſondern daß auch unſer Einzeldaſein und Schickſal, unſer Wohl und Wehe in irgend einer Art mit aufgenommen und verflochten ſei in den Zuſammenhang aller Dinge.

Es führt zu einer ganzen Kette von weitgreifenden

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n

Irrthümern, wenn man unter leichter Verſchiebung des wahren Verhältniſſes mit Schleiermacher das Weſen der Religion in ein Gefühl der ſchlechthinigen Abhängigkeit ſezt.

Man kann gegen dieſe Formel ſchon einwenden: eine gefühlte Abhängigkeit iſt niemals eine ſchlechthinige. Denn um einen Zuſtand als den einer unbedingten Abhängigkeit zu fühlen, müßte ich ihn doch zuerſt unter— ſcheiden können von anderen Zuſtänden einer blos bedingten oder gar keiner Abhängigkeit, und ich muß dieſe lezteren Zuſtände auch kennen und in mir vorfinden. Ein Weſen aber, das mannigfache innere Zuſtände, darunter auch den des Freiheitsgefühls oder der blos bedingten Abhängigkeit hat, kann keinen ſeiner Zuſtände als den eines ſchlechthi— nigen Abhängigkeitsgefühls bezeichnen, weil ein ſolcher doch immer nur partiell und vorübergehend iſt, und an den ebenſo unläugbar vorhandenen Freiheitsgefühlen ſeine Schranken und Bedingungen findet.

In der That iſt auch das Grundgefühl aller religiöſen Erregungen nicht das, daß der Einzelne für ſich gar nichts bedeute, daß er eine Null ſei in dem Weltganzen, ſondern im Gegentheil, daß auch von ihm darin Notiz genommen werde, daß auch er mitzähle und aufgenommen ſei in den Rathſchluß der lezten und höchſten Ordnungen und dazu berufen, leidend und handelnd zu deren Verwirklichung mit— zuwirken. Nicht das Gefühl einer unbedingten Abhängig— keit, ſondern einer unbedingten Zugehörigkeit zu dem Plane des Weltalls iſt Religion. Sie iſt das Bewußtſein eine Weltparzelle zu ſein, ein wenn auch kleines, doch nicht un—

Rümelin, Reden u. Aufſätze. 27

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beachtetes und mit vorgeſehenes Glied an dem Körper der Schöpfung. Wäre „ſeines Nichts durchbohrendes Gefühl“ das entſcheidende Merkmal alles religiöſen Lebens, ſo müßten wir das direkteſte Gegentheil einer frommen Empfindung in der tiefſinnigen und ergreifenden Sage ſehen, daß der Erzvater Jakob die Nacht hindurch mit dem Herrn bis zur Verrenkung ſeiner Hüfte rang und zu ihm ſprach: ich laſſe dich nicht, du ſegneſt mich denn.

Göthe trifft das Weſen der Sache weit beſſer als Schleiermacher, wenn er ſagt:

In unſers Buſens Reine wogt ein Streben,

Sich einem Höher'n, Reiner'n, Unbekannten,

Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben.

Wir heißens: Fromm ſein.

Nur iſt das Motiv „aus Dankbarkeit“ zwar ächt Gö— thiſch, aber nicht erſchöpfend, nicht den Kern der Sache treffend. Denn dieſer liegt in dem Verlangen nach An— lehnung und Einfügung unſeres Ichs in den lezten Zu— ſammenhang der ganzen Erſcheinungswelt.

Mit einem ſolchen Verlangen iſt noch keineswegs irgend eine beſtimmte Vorſtellung von göttlichen Weſen, ja nicht einmal der Gottesbegriff ſelbſt gegeben. Es ſoll und kann nicht von angeborenen Ideen die Rede ſein, wohl aber von einer angeborenen Dispoſition oder Angelegtheit der Seele, auf den Intellect einen Druck oder Reiz zu üben, daß er Vorſtellungsreihen ſuche und ausbilde, welche jenem Ver— langen entgegenkommen, um dann von den ihr dargebo— tenen Vorſtellungen die einen willig hinzunehmen, die an— dern zurückzuweiſen, je nachdem ſie jenem Verlangen und

419 zugleich den andern gleichberechtigten inneren Forderungen, wie den Denkgeſezen und dem Gewiſſen, mehr oder weniger entſprechen.

Es iſt mit den Erkenntniß- und ſittlichen Trieben ganz das Gleiche; was wahr, ſchön und gut iſt, wiſſen ſie nicht zu ſagen, aber daß es Wahres, Schönes und Gutes geben müſſe, das man ſuchen und finden könne, ſtellen ſie dem Intellect als Poſtulat und Weiſung hin. |

Eine höhere und noch weiter zurückgreifende Beglau— bigung für menſchliche Seelenthätigkeit als dieß Nichtanders— können, als dieſe innere Nöthigung des Suchens giebt es nicht und man kann ſich nicht einmal eine Vorſtellung da— von bilden, wie eine ſolche beſchaffen ſein müßte. Die ab— ſtracte Möglichkeit, daß unſere Denkgeſeze falſch, das Ge— fühl eines unbedingten Sollens ein Trugbild, das unſerer Einfügung in einen höchſten Zuſammenhang aller Dinge ein eitles Phantaſieſpiel wäre, wird ſich niemals läugnen und widerlegen laſſen, ſo wenig wir je zu einer Gewißheit darüber gelangen werden, daß nicht alle unſere Sinnes— wahrnehmungen Täuſchungen ſind. Hier tritt ein Glaube ein, deſſen wir uns nicht entſchlagen können, auch wenn wir es wollen. Wenn unſere pſpychiſche Ausſtattung ein Gefängniß wäre, ſo wäre ſie jedenfalls ein unentrinnbares. Alle menſchliche Metaphyſik und Ethik, ſo gut wie alle Re— ligion, ſteht und fällt mit der Vorausſezung, daß unſere Vernunfttriebe keine Täuſchungen, daß unſer Verlangen nach Wahrheit, Tugend und Gottesgemeinſchaft Gaben, Stimmen, Zeugniſſe, Spuren und Unterpfänder höherer

mx 27 *

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und höchſter Daſeinsformen ſind und die Möglichkeit eines Weiterſchreitens bis zu den lezten Zielen verbürgen.

Man will beſtreiten, daß die religiöſe Anlage zu den angeborenen Kräften und der urſprünglichen Mitgift der menſchlichen Natur gehöre, da es ja ganze Völker und je— denfalls eine Menge einzelner Individuen ohne alle reli— giöſe Vorſtellungen gebe. Mit den ganzen Völkern iſt die Sache zum mindeſten zweifelhaft; wohl aber giebt es Völker genug, bei welchen wir keine Spur von Wiſſenſchaft und Kunſt wahrnehmen, ohne daß Jemand den Schluß daraus zöge, der Sinn für Wahrheit und Schönheit könne nicht ein Inventarſtück der menſchlichen Ausſtattung ſein. Ebenſo wenig laſſen wir uns dadurch, daß es Einäugige und Blinde, Krüppel und Lahme, ſtumme und taube Menſchen giebt, abhalten, von dem Menſchen auszuſagen, daß er zwei Augen zum Sehen, zwei Ohren zum Hören, Sprach— werkzeuge, zwei Arme und zwei Beine habe. Ueberdieß iſt ein völliger Mangel religiöſer Erregungen weit ſeltener als es Vielen erſcheinen mag. Wer zwiſchen Atheismus und Pantheismus keinen Unterſchied finden kann, wird darum doch nicht ſo verkehrt ſein, allen denjenigen, welche von dem Begriff Gottes den der Perſönlichkeit fern halten zu müſſen und zu können glauben, alſo auch einem Fichte und Schleiermacher, die religiöje Empfindung abzuſprechen. Selbſt Strauß kann es nach völliger Beſeitigung des Got— tesbegriffes nicht laſſen, ſein Univerſum doch wieder mit allerhand gottmenſchlichen Attributen auszuſtaffiren, von deſſen Vernunft und „Güte“ zu reden, der wir uns mit

421 liebendem Vertrauen ergeben jollen und für daſſelbe aus: drücklich die gleiche „Pietät“ zu fordern, wie der Fromme alten Styls für ſeinen Gott.

Die unabweisbare Wahrheit, daß alle Religion pſycho— logiſchen Urſprungs ſei und in menſchlichen Bedürfniſſen wurzele, erhält dagegen ein völlig anderes Anſehen in der Faſſung, die Religion ſei nur ein Erzeugniß menſchlicher Wünſche und Sorgen, die göttlichen Weſen eine menſchliche Erfindung aus egoiſtiſchem Intereſſe, um die Unzulänglich— keit der eigenen Kräfte zu ergänzen. Vom timor fecit Deos der Epikureer bis zu Feuerbach und Strauß iſt der Ge— danke, daß alle Götterverehrung dem Menſchen nur als Mittel diene, ſich beſſer durch die Welt zu ſchlagen, in den mannigfaltigſten Formen ausgeſprochen worden. Den prä— gnanteſten Ausdruck hat ihm lange vor Feuerbach Schiller gegeben:

Was ſollen deine Götter, Des kranken Weltplans ſchlauerdachte Retter, Die Menſchenwiz des Menſchen Nothdurft leiht?

Das Poſſenſpiel, ſich zuerſt höhere Weſen zu fingiren und frei zu erfinden, um ſie nachher unſern perſönlichen Zwecken dienſtbar vorſtellen und machen zu können, wäre aber doch gar zu plump, als daß es zu allen Zeiten und bei allen Völkern ſo viel Anklang hätte finden können. Die Conſequenz wäre nicht abzuweiſen, daß gerade bei denjeni— gen, welche die religiöſen Vorſtellungen zuerſt ausgebildet und weiter entwickelt haben, jenes Motiv einer intereſſirten Furcht vorzugsweiſe ſtark und wirkſam geweſen wäre. Wir

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müßten uns die Neligionsitifter und Alle, die durch die Kraft und Eigenthümlichkeit ihrer frommen Erregungen für Andere zu Vorbildern geworden ſind, einen Moſes und Jeſaias, Zarathuſtra und Sakjamuni, Pythagoras und Socrates, Jeſus und Paulus, Auguſtinus und Luther als ganz beſonders ängſtliche und egoiſtiſch auf ihr perſönliches Wohl bedachte Gemüther, ja, kurz geſagt, als berechnende Betrüger vorſtellen. g

Der Grund aller Religion liegt in einem metaphyſi— ſchen Trieb, in einem inneren Drang, aus dem wir zwar weitere Folgerungen ziehen, die wir aber unmittelbar nicht ſelbſt weiter ableiten können. Daraus folgt die Neigung, überhaupt an höhere Weſen und Ordnungen und an die Möglichkeit, ſich in Beziehung zu ihnen zu ſezen, zu glauben. Bei der Art aber, wie nun der menſchliche Intellect unter dem Antrieb jenes Grundgefühls die religiöſen Vorſtellun— gen, die demſelben Genüge leiſten ſollten, ſich ausdachte und weiter bildete, geſellten ſich allerdings noch mancherlei Mo— tive anderer, auch niedrigerer Gattung, Furcht, Hoffnung, Selbſtſucht in allen Formen hinzu und ſtellten den Kultus in den Dienſt aller möglichen beſonderen Lebenszwecke. Dieß gehört aber zur Entwicklungsſtufe jenes Grundgefühls, das ſich erſt allmälig zu reinerer Ablöſung von fremdartigen Zuthaten hindurchzuarbeiten hat, gerade ſo wie dieß auf den andern Gebieten des geiſtigen Lebens der Fall iſt. Das hat man aber ſchon lange vor dem Feuerbach'ſchen und Strauß'ſchen Buche gewußt.

Für materialiſtiſche und pantheiſtiſche Standpunkte war es von jeher eine ſehr ſchwierige Sache, zu dem Begriff eines ſittlichen Sollens zu gelangen; für den Darwinismus aber iſt die Aufgabe gar eine verzweifelte. Man will doch von allen Seiten die Kardinalpunkte der Moral unange— fochten laſſen und muß deßhalb auf irgend einem Wege dazu gelangen, Gerechtigkeit, Wohlwollen, Mitleid, Dank— barkeit, Vaterlandsliebe und ähnliche den Egoismus ein— ſchränkende Tugenden zu empfehlen. Wenn aber der Kampf ums Daſein das Triebrad für alle Entwicklung und allen Fortſchritt iſt, dann kann die Loſung nur ſein: was gehen mich die Andern an? dann iſt jeder nur auf die rückſichts— loſeſte Geltendmachung ſeiner individuellen Kräfte ange— wieſen und es gienge etwa zu, wie der Küraſſier in Wallen— ſteins Lager beſchreibt:

ss iſt hier juſt wie's beim Einhauen geht: Die Pferde ſchnauben und ſezen an; Liege wer will mitten auf der Bahn, Sei's mein Bruder, mein leiblicher Sohn, Zerriß mir die Seele ſein Jammerton, Ueber ſeinen Leib muß ich jagen,

Kann ihn nicht ſachte bei Seite tragen.

Verſezen wir freilich den conſequenten Darwinianer wirklich als Soldaten in die Schlacht mit dem Feldgeſchrei: Kampf ums Daſein, dann wäre wohl die nächſtliegende Erwägung, daß er ein Thor wäre, ſich den feindlichen Kugeln auszuſezen und daß „die Vorſicht das beſſere Theil der Tapferkeit ſei.“ Zu einer Ethik wird man von den

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Prämiſſen des Kampfs ums Dajein aus immer nur durch eine ganze Reihe von Lehnſäzen oder Erſchleichungen aus ganz anderen Anſchauungsweiſen heraus gelangen können.

Man konnte deßhalb beſonders begierig ſein zu ſehen, ob und wie es dem hellen und feinen Geiſt von Strauß gelingen werde, den Weg von Darwin'ſchen Prämiſſen zu einem ſittlichen Sollen zu finden. Die gerechte Erwartung wird aber nur in ſehr ungenügender Weiſe befriedigt. Denn auch hier werden die Schwierigkeiten nur durch Vergeſſen oder Ignoriren der Vorderſäze und durch Beiziehung ganz anderer Vorausſezungen zu löſen geſucht.

Nachdem zuvor der Menſch vermittelſt der beiden „Dietriche der Naturwiſſenſchaften“, der kleinſten Schritte und größten Zeiträume, in der üblichen Weiſe als Abkömm— ling begünſtigter Affenpaare aufgezeigt, die Unvergleichbar— keit der phyſiſchen und pſychiſchen Vorgänge principiell ge— läugnet, vielmehr die Möglichkeit, daß ſich Bewegung jo gut wie in Wärme, auch in Empfindung umſezen könne, behauptet, die Annahme einer Seele mit Carl Vogt für eine reine Hypotheſe, die weder zu begründen ſei noch ir— gend etwas nüze, erklärt worden iſt, werden wir mit Einem Male auf einen ganz anderen Boden geſtellt, wenn es ſich darum handelt, die Grundlagen einer Sittenlehre aufzu— finden.

Der Menſch, heißt es nun, iſt kein bloßes Naturweſen; die Natur hat in ihm über ſich ſelbſt hinausgewollt (freilich ohne daß wir erfahren, wie ſie dieß Münchhauſen'ſche Kunſt— werk fertig bringen konnte); die Welt iſt zwar nicht von

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einer höchſten Vernunft, aber auf eine höchſte Vernunft angelegt. Die Natur, die ſich im Thier nur empfunden hat, will ſich im Menſchen nun auch erkennen. Es ſind dieß Hegel'ſche Reminiſcenzen, nur daß jezt an die Stelle der „Idee“ die Natur getreten iſt.

Was man aber von einem Anhänger Darwins am wenigſten erwarten ſollte, der eigentliche Ausgangspunkt für die Conſtruction ſittlicher Forderungen iſt der Gattungs— begriff. Alles ſittliche Handeln, wird geſagt, iſt ein Sich— beſtimmen des Einzelnen nach der Idee der Gattung. Wenn irgend Jemand in der Welt, ſollte man aber denken, jo müßte der Darwiniſt dem Nominalismus huldigen; für ihn exiſtirt nur das Einzelne; die Gattung iſt eine Abſtraction, eine willkührlich nach den Bedürfniſſen des discurſiven Charakters menſchlicher Erkenntniß in die Welt des Seien— den hineingezeichnete Figur von ſtets wechſelnden Umriſſen. Nun ſollen aber aus der Gattungsgemeinſchaft ſogar Pflich— ten folgen. Ich ſoll anerkennen, daß andere daſſelbe ſeien, wie ich, mit den gleichen Bedürfniſſen und Anſprüchen! Statt zu ſagen: wer die gleichen Anſprüche mit mir macht, iſt mein Gegner, deſſen ich mich zu erwehren oder zu ent— ledigen habe im Kampf ums Daſein, wird die ungeheure Forderung faſt wie etwas Selbſtverſtändliches hingeſtellt, ich habe den Andern mir gleich zu achten.

Wiewohl es bei dem Darwinianer durch die Verläug— nung der Vorderſäze ſtärker ins Auge fällt, ſo ſteht Strauß doch hierin keineswegs allein, ſondern theilt mit Kant und den meiſten Moralphiloſophen den Fehler, den Hauptpunkt

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ganz in der Stille ſchon vorauszuſezen. Wie wenn es ſich um die Gleichheit von Winkeln oder Dreiecken und um rein logiſche Deductionen handelte, wird behauptet, daß die Menſchen nach ihren Gattungsmerkmalen einander gleich oder ähnlich ſeien und daß nun deßhalb der Einzelne den Andern ſich ſelbſt gleich zu ſtellen habe! Aber Ich bin Ich und alle anderen gehören zum Nichtich; daß dieſe mir gleich zu halten ſeien, das ſagt nicht die Logik, ſondern die Liebe, ja es iſt ſo unlogiſch als möglich. Warum ſollten denn die Säze: Jeder iſt ſich ſelbſt der nächſte; jeder ſei auf ſeinen Vortheil bedacht und ſehe, wie er die andern überliſtet und überwältigt; jeder ziehe die ſinnlichen Ge— nüſſe als die reellen und ſicheren den unſinnlichen und ein— gebildeten vor u. ſ. w. weniger logiſch und nicht ebenſo gut zu einer allgemeinen Formulirung geeignet ſein? In— wiefern ſoll denn das Princip: die Maxime deines Han— delns muß allgemein anwendbar ſein, rationeller lauten, als der Grundſaz: die Maxime deines Handelns braucht für Niemand zu paſſen als für dich, oder: der concrete Fall iſt niemals ein allgemeiner, ſondern ſtets ein einzelner? Oder warum ſoll der Streit mißfällig ſein? Der Streit, in dem ich ſiege und gewinne, wird mir gefallen, denjenigen, in welchem ich zu unterliegen fürchten muß, werde ich zu vermeiden ſuchen; wenn aber Dritte ſtreiten, ſo braucht es mir nicht zu mißfallen; duobus litigantibus tertius gaudet; jedenfalls aber kann es mir gleichgiltig ſein.

Wenn uns der Böſewicht ſagte: ich weiß und will nichts von eurer Idee der Gattung und folge meinen Be—

427 gierden, ohne zu fragen, ob ſich die Maxime meines Han— delns zu einer Vorſchrift für Alle eignet, was könnten wir ihm darauf antworten als etwa: wir unterwerfen dich aber unſerer Ordnung, mit dem ſtillſchweigenden Vorbehalt: ſo lange wirs vermögen und deinesgleichen nicht die Mehr— heit bilden.

Man kommt mit ſolch allgemeinen und formalen Ab— leitungen aus der Idee, Natur, Gattung, Beſtimmung der Menſchheit wie mit der Kant'ſchen Forderung einer Formel von univerſeller Anwendbarkeit nicht vom Fleck. Solche Säze ſprechen zwar in der Regel etwas ganz Richtiges aus, aber ſie leiden alle an einer petitio prineipn, ſie ſezen die Hauptſache ſtillſchweigend voraus. Man muß auf die pſy— chologiſchen Grundthatſachen, über welche hinaus kein Weg mehr führt, zurückgehen, und dort im Einzelnen die Anſäze und Keime der ſittlichen Begriffe aufzeigen.

Ein Verſuch hiezu iſt an einer anderen Stelle für die Deutung des Rechtsgefühls gemacht; zu der näheren Begründung und Ausführung, welche derſelbe noch erfordern würde, iſt hier nicht der Ort.

Der Inhalt unſeres Seelenlebens ſtammt aus den Trieben. Nur daß über dem Gerüſte unſerer animaliſchen Willensanſäze noch ein Aufbau von humanen, metaphy— ſiſchen Vernunft- oder Ordnungstrieben, die zum Erſaz für die geringere ſinnliche Gewalt von einem Gefühl ihres vor— züglicheren Werthes begleitet ſind, unter gleichem Dache angebracht iſt, rückt uns über die Thierwelt hinaus und macht uns zu bewußten Gliedern des Weltganzen.

Der Trieb des Mitgefühls, das Verlangen nach einer feſten Ordnung für unſer Wollen, das Gefühl eines unbe— dingten Sollens ſind die Quellen aller ſittlichen Begriffe.

Wir ſuchen uns immer mit dem unbeſtimmten Com— parativ des Höheren, der höheren Triebe, Anlagen, Kräfte zu behelfen. Daß wir geneigt ſind unter den doch immer relativen Bezeichnungen der räumlichen Dimenſionen das Obere für werthvoller zu halten als das Untere und das Höhere dem Niederen vorzuziehen, iſt eine wie angeborene Weltſymbolik. Wir richten den Blick nach Sonne und Sternenhimmel. Suchet was droben iſt; denn alle gute und vollkommene Gabe ſcheint uns von oben herab zu kommen.

Man braucht noch nicht an die Idealität des Raums, ſondern nur an die Antipoden zu denken, um das Täu— ſchende dieſer Vorſtellungen vom Oberen und Höheren zu erkennen. Aber dennoch ſagt uns ein unabweisbares Ge— fühl, daß hier mehr ſein müſſe als bloße Symbolik; es verwehrt uns, in jenen metaphyſiſchen Anlagen bloße ſub— jective Wahngebilde zu ſehen, denen keine Realität gegen— überſtünde. Wir fühlen uns getrieben ihnen transcendenten Urſprung beizulegen, ſie als Bänder und Pfänder anzu— ſehen, die das Bruchſtück unſeres planetariſchen Lebens zu dem Ganzen einer vollkommeneren Welt in Beziehung ſezen.

Der menſchliche Gattungscharakter kann eine höhere Bedeutung und gar eine Verpflichtung nur in ſich ſchließen, wenn die Gattung mehr iſt als eine blos flüchtige Station in den Kämpfen und Wechſelſpielen blinder Kräfte, wenn ſie uns als ein verwirklichter Gottesgedanke, als das Glied

eines allumfaſſenden auf die Verwirklichung idealer Güter angelegten Weltplans erſcheinen dürfte. Mit dem Begriff einer Beſtimmung des Menſchen mögen uns wenigſtens diejenigen nicht kommen, welche alle Teleologie in der Welt— erklärung verwerfen. Denn wie kann von der Beſtimmung einer Sache die Rede ſein ohne Zweckſezung? Das Geſez der Liebe, der Grundpfeiler aller Ethik, hätte einen ſchweren Stand, wenn ſeine bindende Kraft nur in einer logiſchen Kette von Gleichungen läge oder der Trieb des Mitgefühls nur ein allen andern Neigungen und Begierden gleich— werthiges Glied wäre. Wir fühlen uns gedrungen, die Liebe als ein Weltprincip zu betrachten, welches die Idee einer Ordnung in dem Reiche der ſelbſtbewußten Seelen zu verwirklichen beſtimmt iſt, ſie auf ein allwaltendes, ſelbſt fühlendes und liebendes Weſen zurückzuleiten, das uns in dem Drange des Mitgefühls ein Pfand und Siegel unſerer ebenbildlichen Abkunft und höheren Beſtimmung ins Herz gelegt hat.

Es ſind dieß freilich unbewieſene und unbeweisbare Annahmen; man kann ſie als bloße Wünſche, Träume oder Hypotheſen bezeichnen. Ich nenne ſie Säze eines Glaubens, der da berechtigt iſt, wo das Wiſſen aufhört und aufhören muß, da wo dem Wiſſen nicht widerſpricht, ſondern dieß nur ergänzt in der Richtung, auf welche es ſelbſt hinleitet. Ohne ſolche Hypotheſen oder Glaubensſäze kann aber der Menſch nicht denken und nicht leben, und auch die entgegen— geſezten Anſichten ruhen in lezter Inſtanz auf Voraus— ſezungen.

III. Wider die Formeln des alten Glaubens.

14. a

Auch wenn man im Menschen eine bejondere, von der Thierwelt durch den ſcharfen Einſchnitt neuer und höherer pſychiſchen Kräfte geſchiedene Gattung erkennt, ſo kann man doch darüber nicht im Zweifel ſein, daß die Menſchheit von der Pike auf zu dienen, von Zuſtänden aus, welche nahe an die der höheren Säugethiere anſtreifen, ihre Bahn zu höheren Zielen zu finden hatte. Alle Thatſachen der Natur— und Geſchichtsforſchung weiſen überetnitimmend darauf hin; nichts läßt vermuthen oder auch nur denkbar erſcheinen, daß die Anfänge unſeres Geſchlechts in paradieſiſchem Glück und ſtetiger Gottesgemeinſchaft zu ſuchen wären. Was wir von Menſchengeſchichte wiſſen, alle Zeugniſſe der Anthro— pologie und Geologie würden durch eine ſolche Annahme auf den Kopf geſtellt. Die bibliſche Erzählung vom Pa— radies und Sündenfall iſt zwar anſprechender, tiefſinniger und gehaltvoller, aber um nichts glaubhafter und denkbarer als die Sagen anderer Völker von einem goldenen oder ſaturniſchen Zeitalter, wo die Pardel mit den Lämmern weideten und die Menſchen im Schatten und von den Früch— ten der Bäume Hunderte von Jahren im Verkehr mit den ſeligen Göttern lebten.

Aber eben dieſe Fabel von einem urſprünglichen Stande der Unſchuld und Gottähnlichkeit bildet den Grundſtein der

ganzen kirchlichen Dogmatik, wenn wir dieſe in ihrer allge— mein verſtändlichen Faſſung nach Katechismus und Bekennt— nißſchriften, und nicht nach den Umdeutungen moderner Theologen auslegen. Daß der thatſächliche ſittliche Zuſtand des Menſchen eine ſchwere Schuld, einen Abfall von Gott, der ihn dereinſt rein und ſich ſelbſt naheſtehend in die Welt geſezt habe, enthalte; daß der Menſch unfähig ſei, dieſe Ver— ſchuldung und forterbende ſittliche Verderbniß aus ſeinen eige— nen Kräften zu beſeitigen; daß Gott deßhalb aus unendlichem Erbarmen ſich entſchloſſen habe, Gnade für Recht ergehen zu laſſen, aber, weil doch die Sünde nicht ungerächt bleiben könne, ein jtellvertretendes Opfer und zwar in der Perſon ſeines eigenen, eingeborenen Sohnes anzunehmen, der hiezu in die Welt kommen und die Leiden der Menſchheit, dazu den ſchmerzlichen und ſchimpflichen Tod eines Miſſethäters erdulden mußte; daß ſodann der Einzelne, um an den Wirkungen dieſes welterlöſenden göttlichen Aktes Antheil zu nehmen, eben dieſe Reihe von Vorſtellungen ſich glaubig anzueignen und in dieſem neuerrungenen Gnadenzuſtand Gott wohlgefällig zu leben habe dieſe ganze Kette von Säzen, die uns nur darum nicht ſo erſtaunlich vorkommen, als ſie ſind, weil ſie uns in noch urtheilsloſer Kindheit ſchon eingeprägt werden, bricht haltlos in ſich zuſammen, ſobald das erſte Glied abgelöſt wird und die erſten Men— ſchen nicht mit Engeln, ſondern mit Wilden zu ver— gleichen ſind.

Man muß dieſen ganzen Ideengang verwerfen, man wird auf eine durchaus andere Weltanſchauung gedränät,

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jobald man davon ausgeht, was Vernunft und Erfahrung bezeugen, daß der Menſch ſeine Laufbahn hart an der Schwelle thieriſcher Exiſtenz zu beginnen hatte, daß ihm für die Erreichung ſeines Ziels nichts mitgegeben war als einige zarte Keime von Triebkräften einer höheren Lebensordnung, eingeſenkt in den Complex animaliſcher Begierden und Fähigkeiten, beſtimmt wie ein Sauerteig die trägere Maſſe zu durchdringen und umzubilden. Daß der Menſch aber unfähig ſei ſich aus eigener Kraft zu vervollkommnen, iſt entweder eine Spielerei mit Worten oder eine Läſterung des göttlichen Weltplanes. Eigene Kräfte, was man ver— nünftiger Weiſe dann unter dem Wort verſtehen müßte, hat er ja überhaupt gar keine, ſondern nur verliehene. Dieſe verliehenen aber müſſen hinreichen, ſeine Aufgaben zu erfüllen, wenn er nicht ein Pfuſchwerk und ein Miß— geſchöpf ſein ſoll, das zum Untergang beſtimmt iſt. Sicherer iſt nichts und nichts erhebender, als daß die Menſchheit in aufſteigender Entwicklung begriffen iſt, wenn ſchon die be— ſchriebene Bahn, wie Leibnitz meint, der Spirallinie gleichen mag, die auch im Abwärtsgehen, in der fallenden Windung ſteigt; und der Maßſtab für das Fortſchreiten kann nur in der wachſenden Leitung und Läuterung der niederen Kräfte durch die höheren geſucht werden. Wenn der Menſch aber damit den Anfang machen mußte, unter dem Einſaz aller Kräfte gegen die feindlichen Elemente und wilden Thiere um ſein Daſein zu ringen und doch den Weg vom Höhlenbewohner, Steineſchleifer und Pfahlbauer bis zu Socrates und Plato ohne die Sendung eines nachhelfenden

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Gottesſohnes gefunden hatte, jo konnte es ihm auch an einem inneren Leitſtern für die weiteren Wegſtrecken nicht mehr fehlen. Die menſchlichen Mängel und Sünden ſind nicht der forterbende Fluch eines verſchuldeten Abfalls von einſt beſeſſener Gottesgemeinſchaft, ſondern die Reſte und Wirkungen des wahren, urſprünglichen Zuſtandes und der uns eigenthümlichen Miſchung ungleichartiger Kräfte.

Die Kluft zwiſchen dieſer Auffaſſung und dem chriſt— lichen Dogma erſcheint unüberſteiglich und ſie iſt es auch in der That, ſobald uns zugemuthet wird, jener Kette von Vorſtellungen auch zugleich eine Reihe entſprechender ge— ſchichtlicher Thatſachen zu unterbreiten. Anders iſt es, wenn nur von uns gefordert wird, den ſittlich religiöſen Gehalt jener Säze gelten zu laſſen. Die Verwerfung der hiſtoriſchen Vorgänge hindert die Anerkennung nicht, daß der Menſch nach dem Bilde Gottes angelegt und zum Gliede eines Gottesreiches berufen iſt; nur ſehen wir darin ein Ideal, deſſen Verwirklichung wir vorwärts ſuchen und nicht in dem Ahnherrn unſeres Geſchlechtes. An dieſem Ideal gemeſſen muß ſich uns die tiefe Verwerflichkeit unſerer thatſächlichen Seelen- und Geſellſchaftszuſtände, ſowie das Verlangen nach einer Erlöſung von den Hemmungen jenes höheren Lebens aufdrängen. Der Einzelne iſt für ſich allein unfähig, dieſe Hemmungen zu beſeitigen; nur die Ueber— lieferung des von der Menſchheit bereits Errungenen und die Gemeinſchaft mit Andern zeigt und bahnt ihm den Weg. Der glaubige Aufſchwung des Gemüths, den eine ſolche Auffaſſung von Welt und Menſchenleben sub specie aeter-

Rümelin, Reden mu. Aufſätze. 28

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nitatis erfordert, wird durch nichts ſo erleichtert und ge— fördert als durch den Hinblick auf die vorbildliche Geſtalt desjenigen, der dieſe höchſte Steigerung des Menſchenziels und Menſchenwerths in die Welt geführt und durch das reinſte, innigſte und kräftigſte Gottesgefühl in Lehre und Leben an ſich verwirklicht hat.

Freilich „wenn man's ſo hört, möcht's leidlich ſcheinen,“ aber wir verkennen keinen Augenblick, daß auch eine ſolche oder ähnliche Umdeutung den ganzen Bau der orthodoxen Kirchenlehre untergraben, daß fie nicht blos die Säze von; Paradies und Erbjünde, von dem zornigen, zur Correctur ſeines Werkes veranlaßten Gott, von dem Menſch gewor— denen Gottesſohn und deſſen ſtellvertretendem Opfertod zer— ſtören, ſondern auch noch die meiſten weiteren Lehren von der Inſpiration, Perſon Chriſti, Trinität, Abendmahl u. ſ. w. aus ihren Fugen drängen müßte. Und doch gehört der obige Standpunkt vielleicht noch zum grünen Holze.

15.

Es war ein böſes Wort und eine ſchlechte Prophe— zeiung, als vor 20 Jahren geſagt wurde, die Wiſſenſchaft müſſe umkehren, in dem Sinne, daß ſie ſich der Theologie unterzuordnen habe. Unterdrückt hat man zwar die Wiſſen— ſchaft ſchon; ſie iſt ſtillgeſtanden und in Verfall gerathen, aber umkehren kann und wird ſie niemals. Wohl aber mag es ſich nun fragen, ob es nicht Zeit wäre, nachdem, der Berg nicht zum Propheten gekommen iſt, daß nun der Prophet zum Berge käme. Die Theologie es iſt nur

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die evangeliſche, die deutſche, die dogmatiſche gemeint muß, wenn ſie eine Wiſſenſchaft heißen und ſein, und nicht eine bloße Paſtoreninſtruction werden will, das, was für alle Wiſſenſchaften gilt, auch für ſich gelten laſſen. Unſer Intellect erträgt unn einmal die Abtheilung ſeines Willens

..

in verschiedene, von einander abgeſchloſſene Käſten und

ec

Schiebfächer nicht; es kann unmöglich in der einen Wiſſen— ſchaft wahr ſein, was in der andern falſch iſt. Auch darf ſich keine von ihnen träumen laſſen, daß ſie die Garbe Jo— ſephs ſei, vor der ſich die Garben der Andern zu verneigen hätten; es wäre denn etwa die Logik, der wenigſtens eine Art von Cenſor- oder Ephorenamt nicht abzuſtreiten it.

Die Theologie hat ſonſt immer in inniger Fühlung mit der Philoſophie gelebt und eine dauernde Löſung dieſes Bandes iſt undenkbar, da ihr Thema ja auch zur Meta— phyſik gehört. In den früheren Jahrhunderten und nicht blos im Zeitalter der Scholaſtik, ſondern auch noch darüber hinaus war die Philoſophie die Dienerin und die unfüg— ſamen Denker wurden ignorirt oder verbrannt. Von Leib— niz bis Hegel wurde ſie die Führerin oder wenigſtens die Magd, die mit der Fackel vorausleuchtet. Es iſt erſt etwa 30 Jahre, daß die Theologie das jezt läſtig und gefährlich ſcheinende Verhältniß abbrach und ihren Weg allein finden zu können glaubt.

Sollte die Philoſophie hieran die Schuld tragen und kein Auskommen mehr mit ihr möglich ſein? Sollte ſie ſich ſchroffer und unverſöhnlicher zu Religion und Chriſtenthum verhalten, als die Kritiken Kant's „des Alleszermalmenden“,

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436 als der Hegel'ſche Banlogismus mit ſeiner zerſezenden Dia— lectik? Es wäre freilich faſt mehr eine Aufgabe für den Statiſtiker als den Philoſophen, über den Stand der Phi— loſophie der Gegenwart Auskunft zu geben, da die Mannig— faltigkeit ſo groß iſt, daß ſchon eine ſehr complicirte Ta— belle zu ihrer Rubricirung nöthig wäre. Nur die Herbart'- ſche Richtung beſteht noch als Schule; die Hegelianer ſtehen auf dem Ausſterbeetat; die Anhänger Krauſe's bilden ein kleines Häuflein. Schopenhauer und, wenigſtens bis jezt noch, auch Hartmann ſind glänzende Irrlichter; geiſtvolle Denker und ausgezeichnete Schriftſteller, von deren Werken es nicht zu verwundern iſt, wenn ſie lieber und häufiger geleſen werden, als die ſchwerflüſſigen Werke der alten Meiſter, in welchen der Gedanke mit dem Ausdruck in nicht immer glücklicher Weiſe ringt. Aber unter den eigentlichen Fachmännern hat jener piquante Peſſimismus doch noch kaum Boden gefunden. Ebenſo trifft dieß für den Mate— rialismus zu, der ſeine Anhänger bis jezt mehr unter den Naturwiſſenſchaftlern, die in der Philoſophie hospitiren, als unter den Philoſophen zählt.

Für das Gros der philoſophiſchen Schriftſteller und akademiſchen Lehrer iſt wohl kein Merkmal ſo hervortretend und charakteriſtiſch, als daß das Princip der Arbeitstheilung, das die neuere deutſche Wiſſenſchaft faſt im Uebermaaß be— herrſcht und deren Glanz- wie Schattenſeiten begründet, auch auf dem Gebiet der philoſophiſchen Forſchung Plaz gegriffen hat. Wie von unſern großen Hiſtorikern keiner mehr eine Univerſalgeſchichte ſchreibt oder auch nur eine

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Geſchichte des Alterthums, des Mittelalters, der neuen Zeit fertig bringt, dagegen die einzelnen Vorgänge und Jahr— hunderte nach allen Richtungen durch die gründlichſte und umſichtigſte Quellenforſchung aufgehellt und für ein künf— tiges, zuſammenfaſſendes Verſtändniß des Ganzen zuge— richtet werden, ſo iſt jezt auch unter den Philoſophen Nie— mand mehr, der die ganze Welt der Erſcheinungen aus dem reinen Sein oder Nichts conſtruirend aufzubauen ver— ſuchte und im Kreis das All am Finger laufen ließe. Das Feld der eigentlichen Metaphyſik wird nur mit Beſcheiden— heit und Vorſicht betreten, aber die Probleme treten in Theilfragen auf den Gebieten der Erkenntnißlehre und Lo— gik, der Pſychologie, der Ethik und Rechtsphiloſophie, der Aeſthetik aus einander und werden unter einer weit gründ— licheren Beachtung der früheren Forſchungen einzeln weiter geführt. Wenn man auch einräumen wird, daß gerade dem Weſen der Philoſophie, als der auf das Ganze der Erfahrung gerichteten Wiſſenſchaft, eine ſolche Theilarbeit und Iſolirung der Probleme noch mehr widerſtrebt als anderen Disciplinen und daher nur als eine nothwendig ge— wordene Uebergangsperiode aufzufaſſen ſein mag, ſo kann doch nur Unkenntniß in dieſer Wendung einen Stillſtand oder Rückgang ſehen und den Werth der Ergebniſſe, die auf dieſem Wege gewonnen werden, unterſchäzen. Auch der unläugbare Fortſchritt in der Klarheit und Verſtändlichkeit der Gedankenentwicklung gegenüber von den älteren Meiſtern, welche die noch widerſtrebende deutſche Sprache zuerſt in den Dienſt des abſtracten Gedankens zu zwingen hatten,

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iſt nicht hoch genug anzuſchlagen. Hermann Lotze gehört zu den ſchärfſten und tiefſten Denkern unſeres Jahrhunderts. Seine Schriften werden noch hoch geſchäzt und eifrig ſtudiert werden, wenn man die Hauptwerke von Fichte, Schelling, Hegel nicht mehr durchlesbar finden, ſondern nur noch aus Compendien und Auszügen kennen lernen wird. Es iſt keine von allen Fragen, mit denen er ſich beſchäftigt hat, die er nicht um ein gutes Stück Weges über ihren früheren Standort hinausgeführt hätte. Und dabei fehlen weder die Anſäze einer abſchließenden Weltauffaſſung, noch die Hoff— nung auf eine zuſammenfaſſende Darſtellung derſelben.

Weder bei ihm noch bei verſchiedenen Andern unter den angeſehenſten Denkern der neueren Zeiten hätte die Theologie Urſache, ſich über eine gegen Religion und Chriſtenthum abgekehrte oder gar feindliche Richtung, über den Mangel an Anknüpfungspunkten zu beklagen. Hier iſt nicht von Materialismus, Nihilismus, ethiſchem Indif— ferentismus die Rede; ſeit Leibnitz waren die Bedingungen für eine Verſöhnung der Theologie und der Wiſſenſchaft, wie man denken ſollte, niemals günſtiger und doch fehlt ſo gut wie alle nähere Fühlung. Woher dieſe eigenthümliche Erſcheinung in einer Zeit, wo mehr als jemals Grund vorläge, daß das Verwandte ſich näher träte?

Es iſt Ein Punkt, der zwar zu allen Zeiten Wiſſen und Glauben ſchied, aber niemals eine ſo unüberſteigliche Kluft zwiſchen beiden bildete, als jezt der Wunderbegriff. So weit iſt die Wiſſenſchaft erſtarkt, in ſich ſicher und übereinſtimmend in allen Zweigen und Richtungen, Schulen

439 und Parteien, daß ſie dem Wunder in jeder Art und Ge— ſtalt unbedingt und ohne Weiteres die Thüre weiſt. Sie erkennt nur das Eine Wunder aller Wunder an, daß es überhaupt eine Welt giebt und gerade dieſe, aber innerhalb des Cosmos verwirft ſie ſchlechthin jeden wie immer for— mulirten Anſpruch, daß die Durchbrechung ſeiner Ord— nungen und Geſeze etwas Denkbares und gar etwas Vor— züglicheres ſei als deren unwandelbare Geltung. Das Wunder iſt in ganz gleicher Weiſe für alle Natur-, Ge— ſchichts- und philoſophiſchen Wiſſenſchaften in eben dem, was

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s jein und bedeuten will, ein begriffliches Unding, ein directes Attentat auf alle Vernunft und die elemen— tarſten Grundlagen aller menſchlichen Wiſſenſchaften. Wiſſen— ſchaft und Wunder ſtehen einander gegenüber wie Vernunft und Unvernunft. Alle die kleinen Künſteleien, Phraſen und Sophismen von noch unbekannten Naturgeſezen, von der Macht des Geiſtes über die Natur, von der Durch— brechbarkeit der Naturordnung als einem auch mit vorge— ſehenen Stück eben dieſer Ordnung ſelbſt, womit die Apo— logeten jenen ſchneidenden Gegenſaz abzuſchwächen oder zu vertuſchen lieben, ſind nicht mehr werth als in den Papier— korb zu wandern. Es iſt eine durchaus unerträgliche Zu— muthung, wenn im Kreiſe der Wiſſenſchaften eine derſelben erklärt, daß ſie zwar im Allgemeinen die unwandelbare Geltung der Naturgeſeze anerkennen, aber doch Ausnahmen in Anſpruch nehmen müſſe für einige beſtimmten Perſonen, Zeiten und Orte auf der Erde, wo es eben doch möglich geweſen ſei, daß ein Weib empfängt ohne Mann, daß ein

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Stern über einem Hauſe ſtehen bleibt, daß ein menſchlicher Körper auf der Oberfläche des Waſſers ſchreitet, ohne ein— zuſinken, daß man mit Speiſen für Wenige ebenſo viel Tauſende ſättigt und das Uebriggebliebene noch mehr iſt als der urſprüngliche Vorrath, daß Todte auferſtehen und nachher verſchwinden oder in den Luftraum emporſchweben . :

Der Grund, warum der Widerſpruch gegen den Wunder— begriff jezt viel intenſiver und allgemeiner iſt als je zuvor, liegt nicht blos darin, daß die Natur- und Geſchichtswiſſen— ſchaften nach allen Richtungen in den lezten Jahrzehenden größere Fortſchritte gemacht haben als früher in ebenſo vielen Jahrhunderten, daß ſie dabei die alten Fabeln und Vorurtheile aus allen ihren lezten Schlupfwinkeln ver— trieben und von nichts eine ſo ſichere und felſenfeſte Ueber— zeugung gewonnen haben, als von der Gleichartigkeit alles Geſchehens und der Ausnahnsloſigkeit aller wahren und wirklichen Geſeze. Es kommt auch noch ein ebenſo wichtiger Grund philoſophiſcher Art hinzu.

Es iſt kein neuer Gedanke, aber einer von den wenigen zur allgemeinen Anerkennung gelangten Säze der Philo— ſophie, daß das nächſte und erſte Object aller Erfahrung und alles Denkens nicht äußere Vorgänge und Erſcheinungen, ſondern innere Bilder und Vorſtellungen ſind, und daß deßhalb jede Annahme von Dingen außer uns ſchon auf einer Schlußfolgerung aus der Form und dem Inhalt dieſer Vorſtellungen beruht. Die Bürgſchaft dafür, daß dieſer Schluß richtig und unſere Wahrnehmungen keine Viſionen

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und Einbildungen ſind, liegt ſchließlich nur in dem Be— wußtſein ihrer Uebereinſtimmung oder Vereinbarkeit ſowohl mit unſern eigenen ſonſt vorhandenen und bewährten Vor— ſtellungen als mit den Wahrnehmungen anderer Menſchen im gleichen Falle. Beides zuſammen erzeugt die Gewißheit, daß unſere Auffaſſung einer äußeren Erſcheinung ein denk— nothwendiger Act für jeden normalen, dem unſrigen ähn— lich organiſirten Intellect ſei.

Dieſe Säze wirken aber auf den Wunderbegriff ge— radezu vernichtend. Nicht Wunder liegen uns vor, die wir zu erklären hätten, ſondern Wundervorſtellungen, ja in den meiſten Fällen nicht einmal dieſe, ſondern bloße Wunder— erzählungen aus zweiter, dritter bis hundertſter Hand. Wenn wir ein Wunder denjenigen Vorgang nennen, welchen natürlich zu erklären unmöglich iſt, ſo kann dieß Merkmal niemals für eine bloße Wundervorſtellung zutreffen, da die Möglichkeit einer Selbſttäuſchung hier nie völlig ausgeſchloſ— jen ſein kann. Ja ſelbſt wenn es wirklich Wunder gäbe, jo könnten ſie gar nicht als ſolche erkannt werden. Der nor— mal denkende Menſch müßte ſeine Wahrnehmungen für Viſionen halten, weil die einzigen und entſcheidenden Kri— terien der Wahrheit nicht zutreffen würden. Daß aber Wundervorſtellungen gar nichts Wunderbares, ſondern etwas Alltägliches, für ungebildete Zeiten, Völker und Kreiſe faſt Normales zu nennen ſind und daß die bewußte Täuſchung an ihrer Entſtehung mindeſtens ebenſo viel Antheil hat, als die unbewußte, dafür braucht man auch heute noch die Beweiſe nicht weit zu ſuchen.

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Wiſſenſchaft und Wunder ſind jo unvereinbare Dinge,

daß das Eine genau da aufhört, wo das Andere anfängt. Wenn daher die Theologie ſelbſt Wiſſenſchaft ſein oder auch nur mit ihr im Frieden leben will, ſo ſind auf dieſem Punkte keine Compromiſſe möglich, ſondern ſie muß ohne alle Klauſeln und Vorbehalte, pure et nude, auf den Wunder— begriff verzichten und alle Conſequenzen dieſes Verzichtes auf ſich nehmen. Für alle übrigen Dinge würden die An— knüpfungspunkte an eine weder wiſſensſtolze noch glaubens— feindliche Philoſophie nicht fehlen. N Die Eine Forderung ſchließt freilich unſagbar Vieles in ſich. Der Dichter ſagt nicht umſonſt: das Wunder iſt des Glaubens liebſtes Kind. Sein liebſtes, mag man zu— geben, aber nicht ſein einziges und gewiß nicht ſein beſtes Kind.

Was aber vom Dogma noch übrig bliebe und ob das Uebrigbleibende noch das Chriſtenthum wäre, iſt eine wohl aufzuwerfende Frage, die eine Entſcheidung von kurzer Hand nicht erträgt. Wenn die Orthodoxie ſchnell entſchie— den ſein ſollte, den zweiten Theil der Frage zu verneinen, jo dürfte fie darum doch noch nicht ſchließen: alſo muß es doch Wunder geben oder müſſen wir wenigſtens ſolche be— haupten. Aber man darf doch daran erinnern, daß die Aufgabe, um die es ſich handelt, ſchon vor 50 Jahren ge— löst worden iſt, z. B. in der chriſtlichen Dogmatik von Schleiermacher. Sie ſagt: „Aus dem Intereſſe der Fröm— migkeit kann nie ein Bedürfniß entſtehen, eine Thatſache ſo aufzufaſſen, daß durch ihre Abhängigkeit von Gott ihr

Bedingtſein durch den Naturzuſammenhang ſchlechthin auf— gehoben würde.“ Wir würden freilich lieber auch dieß Schlechthin noch geſtrichen ſehen. Und man muß über jene Löſung ſagen, daß das neue Princip auch einen völligen Neubau verlangt hätte, während hier die alten Formeln beibehalten und nur vielfach durch eine Art geiſtvoller Liſt umgedeutet wurden.

Wie dem aber auch ſei, eine Kirche, deren Dogma ſich mit den elementaren Grundvorausſezungen aller Wiſſen— ſchaften in Widerſpruch ſezt, kann dieſen Zuſtand nicht auf die Länge ertragen. D kennt nur Eine Wahrheit. Wenn ſie die Wiſſenſchaft nicht unterdrücken kann und will, ſo muß auch die Theologie in

enn der menſchliche Geiſt will und

deren Bahnen einlenken, da die Wiſſenſchaft niemals um

kehrt. Eine Religion, deren Glaubensformeln veraltet und den intelligenteſten Kreiſen der Geſellſchaft fremd geworden ſind, wird auf die Dauer auch die Herrſchaft über die weniger intelligenten und ungelehrten Klaſſen nicht be— haupten; denn jene und nicht dieſe ſind die geiſtigen Führer ihres Zeitalters. Iſt denn aber dieſe Herrſchaft über die ungelehrten Klaſſen noch vorhanden und geſichert? Die Statiſtik kennt Thatſachen hierüber, an denen man er— ſchrecken muß. Es iſt die höchſte Zeit, daß man in den leitenden Kreiſen den Ernſt der Lage erkenne und auf wirkſamere Mittel ſinne als die obligaten Klagen und Predigten gegen den Unglauben, welche von den ſicheren Kanzelbrüſtungen aus an die Adreſſen der Abweſenden er— gehen.

16.

„Ihr ſeid das Salz der Erde; wo nun das Salz dumm wird, womit ſoll man ſalzen? Es iſt zu nichts hin— fort nüze, denn daß man es hinausſchütte und laſſe es die Leute zertreten.“

Wer es verſucht und vermag, vom Kleinen und Neben— ſächlichen abzuſehen und mit hiſtoriſchem Blick auf den Kern und Gehalt der Erſcheinungen zu achten, für den iſt der deutſche Proteſtantismus in der That das Salz der Erde, das koſtbarſte Gut, die erſte unter den geiſtig-ſittlichen Mächten der Gegenwart. Die anderen aus der Reformation hervorgegangenen Bekenntniſſe, die reformirte, die angli— caniſche Kirche, das ſcandinaviſche Lutherthum, die bunte Vielheit der Diſſenters, ſo Vieles an ihnen ſonſt zu rühmen und vorzuziehen ſein mag, ſie haben doch alle den engen Geſichtskreis, die abgeſchloſſenen Formen in Dogma und Cultus, die Iſolirung des religiöſen Moments gegen die andern Gebiete des geiſtigen Lebens. Die deutſche Theo— logie, in den innigſten Verband mit den deutſchen Hochſchulen und in den Fluß ihrer freien und mannigfaltigen Bewegung hineingeſtellt, hat immer in Fühlung und freier Wechſel— wirkung mit allen idealen und humanen Beſtrebungen des Volksgeiſtes geſtanden, und es, wenn nicht immer direct gefördert, doch wenigſtens ermöglicht, daß vom Beſten, was die neuere Welt an Wiſſen und Kunſt beſizt, der größte Antheil aus dem Boden des deutſchen Proteſtantismus herausgewachſen iſt. Soll und darf dieß anders werden? Soll die evangeliſche Kirche Deutſchlands zu den gebildeten

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Klaſſen in die Stellung eintreten, wie die Volksculte des ſpäteren Alterthums, wie die katholiſche Kirche der Gegen— wart, nur ohne deren Herrſchaftsmittel? Soll ſie in einen amerikaniſchen Sektenſchwarm auseinanderſtieben, was ſchließ— lich für ein denkendes Volk, das nur an Eine Wahrheit zu glauben gewöhnt war, doch nicht viel anders hieße, als ſich in ein Irrenhaus zu verwandeln, und was gegen— über von den neuen Anläufen der ultramontanen Partei zur Knechtung und Schändung aller Vernunft, Freiheit und Bildung die äußerſten Gefahren in ſich ſchlöße? Wer es gut mit ihr meint, wer in ihr das Palladium des deutſchen Idealismus, die Bürgſchaft eines geiſtigen und ſittlichen Fortſchritts unſerer Nation erkennt, der kann nur mit banger Erwartung auf den Verlauf der Kriſis, in die ſie eingetreten iſt, aber nach meiner Auffaſſung auch nur mit Sorge und Mißtrauen auf die Aerzte blicken, die ihr Krankenlager umſtehen und auf die Kuren, die ſie ihr anrathen.

Unzweifelhaft ſind viele freidenkende und beſtgeſinnte Männer unter denjenigen, welche für das Nöthigſte eine Verfaſſungsreform der evangeliſchen Kirche erklären, die Löſung und zum mindeſten die Lockerung des Verbandes mit der Staatsgewalt, die Einführung von ſynodalen und presbyterialen Organen in das Kirchenregiment, die Ver— ſtärkung des Laieneinfluſſes.

Gegen dieſe Beſtrebungen und ihre Argumente habe ich eine Reihe von Bedenken und Einwürfen vorzubringen.

Die evangeliſche Kirche iſt am Dogma krank, an dem

446 Zwieſpalt zwiſchen den überlieferten Glaubensformeln und der modernen Bildung und Wiſſenſchaft. Wenn ſie auch noch andere Gebrechen haben ſollte, ſo iſt dieſes doch weit— aus das wichtigſte und entſcheidende. Die Glaubensartikel ſind ihrer Natur nach das Fundament von allem Uebrigen und auch den Verfaſſungsfragen könnte jedenfalls nur ein ſecundärer Werth beigelegt werden. Wir nennen denjenigen keinen guten Arzt, der das Hauptleiden verkennend oder ignorirend für ein untergeordnetes Uebel Mittel verordnet, von denen er nicht weiß, wie ſie auf den Hauptſiz der Krankheit wirken werden. Auch wird demjenigen, der ein Herzleiden hat, Jedermann abrathen, ſo lange daſſelbe nicht geheilt iſt, eine große Reiſe anzutreten, ſeinen Wohnſiz oder Beruf zu wechſeln oder auch nur einen Umzug vorzunehmen.

Es beruht auf einem unproteſtantiſchen Begriff von Kirche, auf falſchen Analogien des politiſchen Lebens, es iſt ein verhängnißvoller und folgenſchwerer Irrthum, wenn man die ſeitherige Einfügung der Organe des Kirchenregi— ments in die der Staatsgewalt als eine Knechtſchaft, die Löſung dieſes Bandes als eine Befreiung der evangeliſchen Kirche bezeichnet.

Die evangeliſche Freiheit iſt darein zu ſezen, daß der einzelne, ſelbſtſtändige, in den weſentlichen Glaubenswahr— heiten unterrichtete Chriſt alle Bedingungen des religiöſen Lebens in ſich ſelber trägt, in ſeinem Herzen und Käm— merlein erfüllen kann. Wie der ſchiffbrüchige Weiſe des Alterthums kann er jagen: omnia mea mecum porto; als ein Robinſon auf einer unbewohnten Inſel kann er ſeinem

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Gott und mit feinem Gott leben. Prediger und Gotteshaus können ihm nüzlich ſein, ſind ihm aber doch auch entbehrlich. Das Bedürfniß der geiſtigen Anlehnung, der gemeinſamen Andacht und Erbauung kann er auch ſchon befriedigen, wo zwei oder drei beiſammen ſind in Seinem Namen. Er muß es aber als zweckmäßig und förderlich, als eine Wohl— that anerkennen, daß Allen Gelegenheit und Mittel darge— boten werden zur Erweckung, Befeſtigung und Fortbildung ihrer frommen Gemüthszuſtände und er wird dieſe Mittel in der Einrichtung von geordneten Formen eines Kultus finden. Aber beneficia non obtruduntur; die Gemeinſchaft der Gleichgeſinnten kann keinen Zwang und keine Gewalt gegen ihn ausüben; ihre Aufgabe beſchränkt ſich auf ein Einladen und Darbieten, auf die Herſtellung von Weg— weiſern für den Irrenden, auf die Unterweiſung der Un— mündigen. Doch auch dieſe beſchränktere Aufgabe erfor— dert ſchon einen Apparat von äußeren Mitteln, die Her— ſtellung und Erhaltung von gottesdienſtlichen Gebäuden, die Heranbildung, Beſtellung und den Unterhalt von Geiſt— lichen, die Anordnung des Kultus und die Führung der Aufſicht über dieſe Einrichtungen. Damit iſt der Stoff einer fortlaufenden Verwaltungsthätigkeit und das Bedürfniß einer ſtändigen Behörde gegeben, welche aus rechtſchaffenen und ſachkundigen Gliedern der Glaubensgenoſſenſchaft zu— ſammenzuſezen iſt. Nun muß aber wieder Jemand vor— handen ſein, der jene Behörde einſezt und beſtellt, ihr die erforderliche Autorität leiht, ſie überwacht und anhält, ihre Pflichten zu erfüllen, ihre Befugniſſe nicht zu überſchreiten.

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Und dieſe Function iſt es nun, welche die deutſche lutheriſche Kirche, abweichend von dem Presbyterial- und Synodalſyſtem der Reformirten, dem Staatsoberhaupt, in monarchiſchen Staaten dem Landesfürſten, in republika— niſchen der höchſten Obrigkeit zuweist. Es geſchieht dieß in der Vorausſezung, daß auch der Staat an einer geord— neten Führung und Pflege des religiöſen Lebens ſeiner Unterthanen ein hohes und warmes Intereſſe haben müſſe und mit dem Vertrauen, daß ein ſolches Mandat in loyaler Weiſe geübt und nicht zu einem eigenwilligen oder gewalt— ſamen Eingreifen oder zu Einmiſchung fremdartiger Zwecke werde mißbraucht werden. Es iſt dieß nicht die Ueber— tragung einer Kirchengewalt denn eine ſolche giebt es auf dem Boden des Proteſtantismus überhaupt nicht ſondern einer oberſten Leitung und Ueberwachung des Kir— chenregiments, ſoweit ein ſolches nach dem Obigen Plaz greift.

Der geſchichtliche Gang war nun freilich ein anderer und die thatſächlichen Zuſtände geſtalteten ſich vielfach ab— weichend von einer ſolchen idealen Conſtruction des Ver— hältniſſes. Aber um zu beurtheilen, ob dieſe Anlehnung des Kirchenregiments an den ſtaatlichen Organismus an ſich als ein Stand der Unfreiheit und des Zwanges anzu— ſehen wäre, iſt es doch nöthig, ſich den inneren Zuſammen— hang der Sache zu vergegenwärtigen. Deutlicher jedenfalls und wirkſamer konnte es nicht ausgedrückt werden, daß der Proteſtant in den kirchlichen Verfaſſungsformen etwas Ne— benſächliches ſieht und nur unter allen Umſtänden jede Art von Hierarchie und kirchlichem Herrſchaftsverhältniß ver:

mieden wiſſen will, als wenn er auf eine autonome geſell— ſchaftliche Organiſation ganz verzichtet und nicht nur die Ueberwachung, ſondern auch die oberſte Leitung jener kirch- lichen Verwaltungsgegenſtände in die Hände der höchſten Obrigkeit ſelbſt niederlegt.

Im Großen und Ganzen iſt die deutſch proteſtantiſche Kirche bei dieſem Syſtem doch nicht übel gefahren; troz Allem und Allem war doch immer hier noch mehr geiſtiger Zug und freie Bewegung und ebenſo viel ſittlicher Ernſt als anderswo; die Theologie ſtand in ſtetiger Fühlung mit der Wiſſenſchaft durch den Verband der Hochſchulen; bei der Vielheit der Territorien fanden auch neue und abwei— chende Richtungen immer irgendwo ein Aſyl. Der Fehler lag ſtets viel eher darin, daß man die Conſiſtorien zu viel walten ließ als zu wenig; die Gefahren kamen nicht von den unfrommen Fürſten, ſondern von den frommen. Der Eine geiſtreiche aber ſchief gerichtete Halbtheologe auf dem Throne der Hohenzollern hat der evangeliſchen Kirche Deutſch— lands mehr Leid zugefügt, als alle die hohen Herren zu— ſammen, die als Summi episcopi vielleicht kaum die Un— terſcheidungslehren ihrer Kirche kannten und auf der Parade und Hirſchjagd beſſer Beſcheid wußten als im Katechismus und Geſangbuch.

Wenn tabula rasa wäre und die Wahl offen ſtünde zwiſchen dem Synodal- und Conſiſtorialſyſtem, ſo ließe ſich Vieles für und wider ſagen; und Niemand wird läugnen, daß das reformirte Princip an ſich das Verſtändlichere und Näherliegende iſt. Aber ſo ſteht die Sache ja nicht. Man

Rümelin, Reden u. Aufſätze. 29

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joll etwas aufgeben, was ſeit Jahrhunderten beſtand. Man will aber gleichwohl nicht zum andern Syſtem übergehen, ſondern nur eine Miſchform zwiſchen Beidem ſchaffen. Die Kirche ſoll zwar vom Staate abgelöst werden, aber nicht vom Landesherrn. Dieſer ſoll durch eine Art von Per— ſonalunion geiſtliche und weltliche Befugniſſe in ſich ver— einigen. Nicht das Staatsoberhaupt als ſolches, ſondern der Fürſt als praecipuum membrum eecclesiae eine Eigenſchaft, die vom religiöſen Geſichtspunkt aus nur dem weiſeſten und frömmſten, nicht dem mächtigſten Glied der Kirche zukommen könnte ſoll im Weſentlichen die ſeit— herigen kirchlichen Hoheitsrechte fortführen. Die Synoden ſollen keineswegs, wie in der reformirten Kirche, die ent— ſcheidende Inſtanz, die Inhaber des Kirchenregiments ſein, ſondern nach der Analogie von Volksvertretungskörpern controliren, bitten, debattiren, Beſchwerde führen. Und dieſe Veränderung ſoll vor ſich gehen in einem Zeitpunkt, wo ein ganz anderes und viel tieferes Gebrechen, der Bruch zwiſchen dem Glauben des 16ten und dem Wiſſen des 19ten Jahrhunderts, ſo ſehr im Vordergrund ſteht, daß alle anderen Fragen dagegen verſchwinden oder davon beherrſcht werden.

Aber, läßt ſich ſagen, könnten denn nicht eben die Synoden das Organ ſein, um dieſen Hauptpunkt zur Sprache und zu einem befriedigenden Austrag zu bringen? Und dieß gerade iſt es nun, was ich nicht glauben kann, wozu ich bei ihnen weder die Competenz noch die Befähigung zu finden vermag.

Man muß in weltlichen Dingen die Autorität der

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Stimmenmehrheiten gelten laſſen, ſchon weil es in den meiſten Fällen gar keinen andern Weg giebt zu einer Ent⸗ ſcheidung zu gelangen und die Dinge nicht unentſchieden gelaſſen werden können. Auf religiöſem Gebiet kann die Mehrheit ſo wenig entſcheiden als in der Wiſſenſchaft und Kunſt, wenn auch immerhin das Gewicht einer allgemeinen oder nahezu allgemeinen Uebereinſtimmung von großer Be— deutung bleibt. Aber religiöſe Zeit- und Streitfragen paſſen nicht zum Gegenſtand einer Abſtimmung in repräſentativen Verſammlungen. Dieſelben ſind daher auch faſt überall der Competenz von Synoden entzogen, ſofern dieſe niemals über den Lehrbegriff berathen ſollen. Direkt wird dieß auch nicht leicht geſchehen, aber indirekt läßt es ſich gar nicht verhindern oder umgehen. Wenn es ſich nicht gerade um Rechnungsprüfungen und reine Temporalien handelt, um deren willen es aber gar nicht der Mühe werth wäre, den Apparat von großen Wahlkörpern in Scene zu jezen, ſo ſteckt das Dogma faſt in jeder Frage in irgend einer Form, und die Parteien, die nach ihrer Stellung zum Dogma entſtanden und gewählt ſind, ſuchen ſolche Be— ziehungen viel eher auf, als daß ſie ihnen ausweichen würden.

Man weiß in der That nicht recht, auf was man mit bangerem Mißtrauen blicken ſoll, auf eine Mehrheit der Paſtoren oder der Laien, auf ein Uebergewicht der ſtren— geren oder der freiſinnigeren Parteien. Wenn die innere Zuſtändigkeit fehlt, iſt auch das Leztere nicht erfreulich. Man iſt verſucht wie Hamlet zu denken: ich habe keine Luſt am Mann und am Weibe auch nicht.

Geiſtliche Sachen wollen nun einmal geiſtlich gerichtet sein. Die Religion it ihrem Inhalt nach eine Volksme— taphyſik, in welcher die Unſicherheit und Unzulänglichkeit des Wiſſens durch vorausgreifenden Glauben ergänzt wird. Hier iſt nichts, was ſich mit plumper Hand anfaſſen und ohne Wiſſen und tiefes Nachdenken mit dem bloßen ſoge— nannten ſchlichten Verſtand oder natürlichen Gefühl des gemeinen Mannes entſcheiden läßt. Das rveligiöje Gefühl in ſeiner pſychologiſchen Wurzel iſt nur ein dunkler Drang nach Ergänzung, nach einem feſten Punkt der Anlehnung für unſer ganzes Ich, aber es vermag ſich nicht zugleich auch die metaphyſiſchen Vorſtellungsreihen zu ſchaffen, welche jenem Drang Genüge leiſten könnten. Dazu gehört eine Vereinigung ſittlicher und intellectueller Eigenſchaften, eine Vertiefung des Geiſtes und Gemüths, die in urſprünglicher und ſchöpferiſcher Kraft blos bei den außerordentlichſten Menſchen getroffen, von Andern nur annähernd durch ernſte Studien erlangt wird, der Maſſe der Menſchen aber voll— ſtändig fehlt. Dieſe bedarf in religiöſen Dingen durchaus einer Führung und gewinnt jenen Inhalt von Vorſtellungen nur durch Autorität, ſei es die überlieferte einer großen Gemeinſchaft, ſei es die gegenwärtige und lebendige eines geiſtig überlegenen Individuums. Einer beliebigen Vielheit von zuſammengewürfelten oder gewählten Menſchen fehlt jede Initiative und Selbſtſtändigkeit des Urtheils, zumal wenn es ſich um neue und zweifelhafte Fragen handelt.

Daraus, daß die Religion für Alle eine gleich wichtige Herzensangelegenheit bildet, folgt keineswegs, daß auch alle

453 von der Ordnung und Leitung religiöſer Angelegenheiten gleich viel verſtehen müßten. Die Geſundheit iſt auch gleich wichtig für Jedermann, und doch halten wir nur den Arzt für zuſtändig zu unſerer Berathung; das Recht iſt ein ge— meines Gut, und doch nehmen die Juriſten ſeine Findung und Auslegung in Anſpruch. Wenn der proteſtantiſche Laie den Weg zu ſeinem Gott ohne Prieſter und Führer findet, ſo folgt daraus noch nicht, daß er auch in einer für Andere brauchbaren Weiſe die Schrift auslegen und das Dogma deuten könnte. Ebenſo wenig iſt durch eine polemiſche Stellung zum herrſchenden Dogma ausgeſchloſſen, daß derjenige, der den philoſophiſchen und theologiſchen Studien nicht fremd geblieben iſt, bei der Art, wie in Be— handlung religiöſer Fragen ſich oft die Laienweisheit und Juriſterei breit macht, doch auch an das odi profanum vulgus et arceo erinnert werden kann.

Daraus folgt nun aber auch, daß es ein unpraktiſcher, auf idealen Vorausſezungen beruhender Gedanke iſt, das Heil in einem Zurückgreifen auf das chriſtliche Bewußtſein der Localgemeinden finden zu wollen. Dieß mag von den Zeitaltern eines frohen, in ſich ſicheren Glaubenseifers gel— ten, wo neue religibſe Ideen von den Maſſen willig auf— genommen und fortgebildet werden, wie in den Anfängen des Chriſtenthums und der Reformation, aber nicht da, wo das Alte nicht mehr feſt, das Neue erſt zu ſuchen iſt, wo die leitenden Klaſſen der Geſellſchaft, durch den Zwie— ſpalt von Glauben und Wiſſen irre gemacht, ſich dem kirch— lichen Leben ferne halten. Hier kann auch die Localge—

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meinde nichts anders jein als eine vielköpfige, in ſich ge- ſpaltene Menge, ohne ſicheren Halt und Boden, ein Rohr das vom Winde bewegt wird. Iſt der Geiſtliche der Füh— rer, ſo bedarf es keiner weiteren Vertretung, iſt er es nicht, ſo wird der Zufall beſtimmen, wohin die Entſcheidung fallen wird. An die Gemeinden appelliren heißt dem Chaos ent— gegentreiben; ſie müßten die Impulſe empfangen und nicht geben.

Zum Gedeihen der evangeliſchen Kirche gehört nichts, als eine Theologie, die im Frieden mit der Wiſſenſchaft und Bildung ihrer Zeit lebt, und gute Geiſtliche, für die anſtändig geſorgt iſt. Jenen Frieden können die Synoden nicht bringen, ſie mögen zuſammengeſezt ſein wie ſie wollen; es iſt dieß die Aufgabe der Theologen ſelbſt, insbeſondere der theologiſchen Lehrer. Man kann ihn auch nicht er— zwingen und keine Friſt dafür anſezen. In der Zwiſchen— zeit ſollte man an den beſtehenden Verfaſſungsformen mög— lichſt wenig rütteln und ändern und nur darauf bedacht ſein, das Ganze als das koſtbarſte Gefäß für die Pflege der höchſten menſchlichen Intereſſen zuſammenzuhalten und nicht in ein ſinnloſes Sektenweſen auseinanderſprengen zu laſſen. Aber gar zu lange ſollte die Wartezeit doch nicht dauern.

Die Synoden ſind freilich nun einmal da und man muß mit ihnen leben. Sie können ſich vielleicht auch im Kleinen und Einzelnen, zumal in ökonomiſchen Dingen recht nüzlich machen, wenn ſie jenen Spruch von den Weibern auf ſich anwenden, welcher diejenigen für die beſten erklärt, von denen am wenigſten geſprochen wird.

Verlag der H. Laupp'ſchen Buchhandlung in Tübingen.

Hegel in philoſophiſcher, politiſcher und nationaler Beziehung für das deutſche Voll dargeſtellt von

Dr. Karl Köſtlin,

Profeſſor an der Univerſität Tübingen.

gr. 8. broch. 2. 40.

„%%

von

Dre alt K ö ſt li n,

Profeſſor an der Univerſität Tübingen. gr. 8. broch. M 15.

Köſtlins Aeſthetik iſt ein Buch, welches dem Künſtler, Dichter, Schriftſteller, Gelehrten, kurz jedem Angehörigen derjenigen Lebens— kreiſe, für welche eine gründliche allgemeine und wiſſenſchaftliche Bildung und die Erwerbung eines bewußten, äſthetiſchen Urtheils unerläßlich iſt, durch Selbſtſtudium jene ſyſtematiſche und ſtreng wiſſenſchaftliche äſthetiſche An— ſchauung des Lebens, der Natur und der Kunſt in gewinnender, feſſelnder und anregender Form und der ächt populärſten Gemeinverſtändlichkeit zu ver— mitteln berufen und im Stande iſt.

Verlag der H. Laupp'ſchen Buchhandlung in Tübingen.

Vene Teſtament.

Ueberſetzt von Carl Weizſäcker, 2, un ord. Profeſſor der Univerſität Tübingen. in 8. broch. 3. 60. Ausg. Nro. 2 auf feinſt Velin Ay 4. 60.

Das Buch iſt keine Verbeſſerung der Lutheriſchen Bibelüberſetzung, ſondern eine neue Ueberſetzung aus dem griechiſchen Urtext. Sie ver— folgt denſelben Zweck, welchen zuletzt die Ueberſetzung des Theologen de Wette verfolgte (3. Aufl. 1839). Eine wortgetreue möglichſt genaue Ueberſetzung in gemeinverſtändliches Deutſch ſoll erſtens allen denjenigen dienen, welche den griechiſchen Urtext nicht leſen, und doch verlangen ſo gut als die Theologen über den In alt deſſelben unterrichtet zu ſein. Fürs zweite ſoll ſie auch als kürzeſtes Hilfsmittel der Erklärung ſich Den— jenigen darbieten, welche den Urtext ſelbſt leſen.

Eine neue Ueberſetzung dieſer Art iſt heutzutage ſchon deßwegen am Platze, weil die gründlichere Erforſchung der Handſchriften in den letzten Zeiten unſeren griechiſchen Text des neuen Teſtamentes anſehnlich ver— beſſert hat, ſo daß wir jetzt viel ſicherer als früher wiſſen, wie dieſer Text urſprünglich gelautet hat. Dadurch ſind manche falſche Zuſätze, welche erſt durch Abſchreiber hineingekommen waren, entfernt, und ſehr viele Stellen, die früher dunkel waren, verſtändlich geworden. Wir hatten aber bisher keine Ueberſetzung, welche nach dieſem beſſeren griechiſchen Texte gemacht wäre.

Ebenſo iſt auch die Reihenfolge der einzelnen Schriften und die Ueberſchrift derſelben im Anſchluſſe an unſere älteſten Handſchriften und kirchlichen Verzeichniſſe hergeſtellt, wie es jetzt in den griechiſchen Text— ausgaben geſchieht.

Unſere Capitel und Verſe gehören nicht in den Text. Die Capitel ſind erſt im ſpäten Mittelalter, die Verſe erſt im ſechszehenten Jahr— hundert hereingekommen. Dieſe ganze Eintheilung iſt großentheils ſinn— verwirrend. Sie verhindert das Verſtändniß einzelner Stellen, weil dieſes nur durch den anſchaulichen Zuſammenhang möglich iſt. Noch mehr verhindert ſie das Leſen und Verſtehen eines größeren Abſchnittes oder eines ganzen Buches. Es iſt daher der Text hier ohne Capitel und Verſe gedruckt, und ſind dieſelben nur zur Bequemlichkeit des Leſers, der vergleichen will, an den Rand geſetzt.

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