5 & RR . } Kiez “ o a, $ S B ; r * BEE x : R h N ! r N U BER HEN? EN Kar ’ . ah 1 BR N BT, 2 ; RN a lan SSAEERG) REcTIBS 2 Br Te Digitized by the Internet Archive in 2011 with funding from University of Illinois Urbana-Champaign http://www.archive.org/details/reisenundforschu31schr Bess aAT 2 De x BEN HNE Se 8 see : RBISEN I FORSCHINCH A N UR-LAND E im den Jahr en 18541 —1836 im Auftrnge der Baal, Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg «| ausgeführt > und in Verbindung mit mehreren ‚Gelehrten SS | “ . herausgegeben - von m. © . A EEE EEE u Da ee UT e El 5 -Z oc H R ER RE ) Y Bar; Mr \ Ele ee FA x Dr. Leopold v. Schrenck. > 9 ® h h © E ‘ ä u % . ® ee... BAND eg RT Erste Lieferung. m. —— a DIE VÖLKER DES AMUR- LANDES. ...GENGRAPHISCH-AISTORISCHER 1. ANTEROPOLOGISCH-ETENDLOGISCHER TEIL. ( ( a h ? Mit einer Karte, 3 lithogr. und,5 A pischen Tafeln, LE vu AR = mu un LEE —u EEE es EN TER — + = ST. PETERSBURG. 1881. | Zu haben bei den Be aslausitek der Kaiserlichen Akkdemie ‘der Wissenschaften: Eggers und Comp., und J. Giasunof in St. Potersbourg; N. Kymı nel in Riga; Voss’ Sortiment (G. Ha assah in Leipzig. SELTEN Preis dieser Lieferung: T R..65 Rohe = 15 M. 50 Pf. gan SAERSEERERT er ns er 3 =. N 5 BE D* EL. v. SCHRENCK’S REISEN UND FORSCHUNGEN IM AMUR-LANDE. BAND I. ERSTE LIEFERUNG. DIE VÖLKER DES AMUR-LANDES. GEOGRAPHISCH-HISTORISCHER u. ANTHROPOLOGISCH-ETHNOLOGISCHER THEIL. Mit einer Karte, 3 lithogr. und 5 phototypischen Tafeln, Gedruckt auf Verfügung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. # # October 1831. £ C. Vesselowsky, beständiger Se | en es "7 r' j z r wo Bi hi ’ \ ” u & = | Ni N - 7 Br . z - « . ma Buchdruckerei der Kaiserl. Akademie der Wissenschaften (Wassili-Ostrow, 9. Linie, N te uk w DIE VÖLKER DES AMUR-LANDES, VON Dr. Leopold v. Schrenck. — GEOGRAPHISCH-HISTORISCHER UND ANTHROPOLOGISCH-ETHNOLOGISCHER THRIL. BR ie Ba AD RN PERS AR ie. ER Ina Ma Fe r >, A INHALTSVERZEICHNISS. Seite, Aal rer EEE 1—10 Fixirung der Zeit, in welche das zu entwerfende ethnographische Bild des Amur-Landes fällt. Rasche Veränderung desselben seit der Besitznahme des letzteren durch die Russen, p. 1. — Physischer und moralischer Verfall eines Naturvolkes bei anhaltender Berührung mit einem Culturvolke. Beispiele ausgestorbener oder ihrer Eigenart verlustig gegangener Völker Sibirien’s, p- 2. — Beginnender Zersetzungsprozess der Amur-Völker, p. 3. — Für ethnographische For- schungen günstiger Zeitpunkt der akademischen Expedition. Begrenzung des abzuhandelnden Gebietes: das eigentliche Amur-Land nebst Sachalin, p. 4. — Beschränkung auf die indi- genen Völker desselben. Nähere Bekanntschaft mit den Völkern des unteren Amur-Landes, be- sonders mit den Giljaken, p. 5. — Hindernisse ethnographischer Forschung und deren Beseiti- gung, p. 6, 7. — Art der Behandlung des Gegenstandes, p. 8. — Anfertigung und Anordnung der Tafeln, p. S—10. I. GEOGRAPHISCH-HISTORISCHER THEIL. 1. Abschnitt. Allgemeine Uebersicht der indigenen Völker des Amur-Landes. Jetzige Grenzen ihrer resp. Verbreitungsgebiete. Räumliche Stellung der Culturvölker Ostasiens, Chinesen und Ja- paner im Amur-Lande. Räumliche Stellung der Russen den Amur-Völkern gegenüber. Ethno- + graphische Karte des Amur-Landes ............e2eeceesnesereenennn nn IN Grössere Mannigfaltigkeit der ethnographischen Verhältnisse im Amur -Lande im Vergleich mit Sibirien. Drei grundverschiedene Völkerschaften: Giljaken, Aino und Tungusen. Sehr ungleiche Grösse ihrer Gebiete, p. 11. — Starke Verzweigung des Tungusen-Stammes im Amur- Lande: tungusische Amur-Völker und ihre Sitze. Schwierigkeit genauer Abgrenzung der Ver- breitungsgebiete halbnomadischer Völker, p. 12. Sehrenok’s Amur-Reise, Band III. I u Giljaken: Verbreitungsgebiet auf dem Festlande, p. 13. — Verbreitungsgebiet auf der Insel Sachalin, p. 14. — Gesammtbeschaffenheit desselben. Ineinandergreifen der Verbreitungsgebiete der Giljaken und der Rennthier- Tungusen und Negda, p. 15. — Desgleichen derjenigen der Giljaken und der Oltscha, Oroken und Aino, p. 16. Aino: Verbreitungsgebiet auf Sachalin, Jesso, den Kurilen und ehemals auf Nippon, p. 17, 18. Oroken: Verbreitungsgebiet, p. 19. — Wanderungen der Oroken auf Sachalin und nach dem Festlande, p. 20. — Reiche ethnographische Gliederung Sachalin’s, p. 21. Orotschen: Verbreitungsgebiet. Unbewohnte Strecke zwischen den Orotschen und Gi- ljaken, p. 21. — Berührung mit den Oltscha in der Bai de Castries. Ausbreitung längs der Meeresküste, p. 22. — Südgrenze. Untermischung der Orotschen im Süden (Ta-dse) mit Chi- nesen (Man-dse). Westgrenze gegen die Oltscha und Golde, p. 23. — Lage derselben an den einzelnen rechten Zuflüssen des unteren Amur und des Ussuri, p. 24. — Alpiner Charakter des gesammten Verbreitungsgebietes, p. 25. Oltscha: Verbreitungsgebiet. Die Oltscha — ein reines Amur-Volk. Meist falsche Abgren- zung ihres Gebietes, p. 26. — Versprengte Giljaken- und Golde-Familien im Oltscha-Ge- biete, p. 27. Golde: Verbreitungsgebiet. Grosse Ausdehnung desselben, p. 27. — Verbr. am Amur und Ussuri und deren Zuflüssen, p. 28. — Verbr. am Sungari, p. 29. Negda: Verbreitungsgebiet, durch das Flusssystem des Amgunj bestimmt. Nordostgrenze, p- 30. — Nordwest- und Südgrenze, p. 31. Samagirn: Verbreitungsgebiet, durch das Flusssystem des Gorin bestimmt. Anwohner des Udyl-Sees, p. 32. — Jagdrevier der Samagirn und Golde am unteren Gorin, p. 33. Kile am Kur: Verbreitungsgebiet. Mangelhafte Kenntniss desselben. Vermuthliche Beschrän- kung auf das Flusssystem des Kur, p. 34. Bedeutung des Sungari in ethnographischer Beziehung für das untere Amur-Land. Seine Mündung—eine Grenze verschiedener ethnographischer Provinzen des Amur-Landes. Völker des mittleren und oberen Amur-Landes, p. 35. Biraren: Verbreitungsgebiet. Sesshafte Biraren am Amur, p. 35. — Nomadische am Aar, an der Bureja, am oberen Ssilimdshi, p. 36. — Zusammenstossen der chinesischen Biraren und Manägirn und der russischen Rennthier-Tungusen, p. 37. — Desgleichen, in ihrem Gefolge, der handeltreibenden Jakuten und Dauren, p. 38. — Prairie und Gebirge als grenzbestim- mende Momente. Chinesische Grenzzeichen, p. 39, 40. Manägirn: Verbreitungsgebiet am Amur, p. 41. — An der Dseja, p. 42. — Am Komar, p. 13. — Gesammtüberblick desselben. Analogie mit demjenigen der Biraren, p. 44. Orotschonen: Verbreitungsgebiet, p. 44. — Alpiner Charakter desselben. Analogie mit dem- jenigen der Manägirn, p. 45. Sungari-Völker im Gegensatz zu den eigentlichen Amur-Völkern, p. 46. Solonen: Verbreitungsgebiet. Unbestimmte und ungenügende Nachrichten über dasselbe, p- 47. — Ackerbauer am Nonni, Jäger im Gebirge, p. 48. — Beamten und Kaufleute, p. 49. Dauren: Verbreitungsgebiet. Zerstreute Wohnsitze, p. 49. — Das Gebiet am Nonni und seinen Zuflüssen, p. 50. — Am Komar, am Amur. Untermischung mit Mandshu und Chinesen, p. 51. — Weite Verbreitung als Kaufleute im oberen Amur-Lande, p. 52. Mandshu: Verbreitungsgebiet, nicht auf das Amur-Land beschränkt, p. 52. — Eigentliches Mandshu-Land am Sungari. Hinschwinden ihrer Nationalität und sogar ihrer Sprache in Folge chinesischer Colonisation, p. 53—55. — Mandshu am Nomni (Itschä-Mandshu) und am Amur, p- 56. — Mandshurische Wachtposten am Amur, p. 57, 58. Chinesen: Einwanderung und Ausbreitung im Sungari-Lande, p. 59. — Zunahme derselben seit der Besitzuahme des Amur-Landes durch die Russen. Besonders starker Zufluss aus den Provinzen Schantung, Schansi und Tschili, p. 60. — Charakteristik der von dort kommenden Chinesen, p. 61. — Zufluss von chinesischem Gesindel. Verbannungen von Chinesen nach der Mandshurei. Hauptsächlichste Verbannungsorte, p. 62. — Yunnan-Chinesen am Nonni. Cul- turhistorische Bedeutung der Verbannungen für die Mandshurei und das Amur-Land. Chinesen am Amur, p. 63. — Chinesen im Küstengebiete, p. 64. — Fluctuirender Charakter der dortigen chinesischen Bevölkerung. Seetang- und Trepangfischer. Chinesen am Ussuri und seinen Zu- Seite. u Seite. flüssen, p. 65, 66.— Ursprung der Ussuri-Man-dse, p. 67. — Charakter und Lebensweise der- selben. Vermischung mit den Orotschen, p. 68. — Einzelverbreitung der Chinesen im Amur- Lande. Chinesische Handelsstationen am oberen Amur, p. 69. — Concurrenz der Dauren. Sta- tionen am unteren Amur. Günstige Lage derselben, p. 70. — Abwesenheit von Chinesen im Gi ljaken-Gebiete, p. 71. — Ursprung der chinesischen Händler, p. 72. Japaner: Stellung und Bedeutung derselben auf Sachalin, p. 72. — Die ersten japanischen Ansiedelungen daselbst, p. 73. — Abhängigkeit der Aino von den Japanern, p. 74. — Haupt- triebfeder der Japaner zur Niederlassung auf Sachalin, p. 75. — Uebertriebene Gerüchte über die Ausbreitung derselben im Winter 1854/55 und Folgen davon. Rascher Fortgang der japani- schen Colonisation Sachalin’s seit dem Erscheinen der Russen bis zum Traktat von 1875, p- 76, 77. Russen: Abschluss der Kriegs- und Raubzüge der Russen im Amur-Lande durch den Traktat von Nertschinsk. Fortdauernder Verkehr der Russen mit den Amur-Völkern in deren Lande auch nach dem Traktat. Ununterdrückbare Triebfedern desselben, p. 78. — Ueberschätzung seiner ethnologischen Bedeutung. Verkehr der Russen mit den Amur-Völkern im Westen, längs der Amur-Strasse, p. 79. — Russische Jäger, Händler, Läuflinge im Amur-Lande, p. 80. — Ver- kehr im Norden, über das Stanowoi-Gebirge, p. 81. — Russische Kapellen im Amur-Lande — zugleich auch Handelsplätze. Verkehr der Russen mit den Völkern des unteren Amur-Laufes, p- 82. — Berührungen der Russen mit den Giljaken auf dem Festlande und auf Sachalin in Folge ihrer Fahrten nach den Schantar-Inseln, p. 83. — Japanische Nachrichten über Russen auf Sachalin. Vermeintliche Existenz alter russischer Ansiedelungen auf der Insel, p. 84. — Ge- ringer Einfluss dieser Berührungen auf die Amur-Völker. Beginn bleibender Besitznahme und Colonisation des Amur-Landes durch die Russen, p. 85. — Gründung russischer Posten und Dörfer im unteren Amur-Lande, p. 86—88. — Errichtung einiger provisorischer Wachtposten längs dem Amur, p. 88. Erläuterungen zur beifolgenden ethnographischen Karte des Amur-Landes, der ersten spe- ciellen Karte der Art. Ungenauigkeit und Fehlerhaftigkeit der auf das Amur-Land bezüglichen Angaben auf den ethnographischen Karten des Asiatischen Russlands, p. 89, 90.— Auf der Karte sich aussprechende Grundzüge der Völkerverbreitung im Amur-Lande, p. 91. 2. Abschnitt. Veränderungen und Verschiebungen in den Verbreitungsgebieten der Amur-Völker in historischer Zeit, nach russischen, chinesischen und japanischen Nachrichten; nebst Sichtung und Deutung der im Amur-Lande gebräuchlichen oder auf dasselbe bezüglichen Völkernamen 92—196 Völkerbewegungen und Verschiebungen in Ostsibirien und dem Amur-Lande. Bewegung der Mandshu nach China, p. 92. — Bewegungen der Mongolen, Burjaten, Jakuten, Tun- gusen. Andrang der Russen nach Sibirien und dem Amur-Lande, p. 93. — Geringes Alter der historischen — chinesisch en, russischen und japanischen — Nachrichten über das Amur-Land und seine Völker. Weitgehende Veränderungen in den Wohnsitzen der Amur-Völker in diesem kurzen Zeitraume nicht zu erwarten; kleinere Grenzverschiebungen schwer nachzuweisen, p. 94. — Unbestimmtheit und Unklarheit der meisten Nachrichten. Nothwendigkeit der Deutung vieler Völkernamen, p. 95. Giljaken: Erste gedruckte Erwähnung derselben, p. 95. — Witsen’s Angaben über Namen und Wohnsitze der Giljaken. Russisch er Ursprung seiner Nachrichten, p. 96. — Der erste «Si- birische Riss» (Ssibirskij tschertesh) und Remesof’s Kartenwerk — Hauptquellen derselben, p. 97. — Ysbrants Ides’, Strahlenberg’s, Gmelin’s Angaben über die Giljaken. Hebung der in sibirischen Archiven enthaltenen Nachrichten über das Amur-Land durch Müller, p. 98. 1* — Erste Kunde von den Giljaken, p. 99. — Ursprung ihres Namens. Chinesische Bezeichnungen der Amur-Völker, p. 99—103. — Collective Auffassung des Namens «Giljaken» seitens der Russen. Entstehung der chinesischen Bezeichnung «Kile» oder «Kileng», p. 104. — Erste Berührung der Giljaken mit den Russen: Pojarkof’s Zug durch das Amur-Land, p. 105. — Chabarof’s und Nagiba’s Züge, p. 106. — Stepanof’s Zug, p. 107. — Schlussfolgerungen über die damaligen Gebietsgrenzen zwischen den Giljaken und ihren Nachbaren am Ochot- skischen Meere, p. 108. — Ehemaliges Besuchen der Schantaren durch die Giljaken, bis zur Besitznahme durch die Russen, p. 109—112. — Ungenügende Angaben der alten russischen Berichte über die damalige Südgrenze des Giljaken-Gebietes am Amur. Deutung der in den- selben als Südnachbaren der Giljaken genannten Völker: Natken und Atschanen, p. 112 — 116. — Japanische Nachrichten über die Giljaken. Mamia Rinsö’s Reise nach Sachalin und dem Amur-Lande, p. 116. — Das Volk «Smerenkur» oder «Ssumerenkur» der Aino und Japaner, p. 147. — DasVolk «Santan» oder «S’janta» derselben, p. 118. — Grenze zwischen den Giljaken und Oltscha am Amur nach Mamia Rinsö. Südgrerze der Göljaken an der Meeresküste nach demselben, p. 119. — Unveränderte Lage der festländischen Südgrenze der Giljaken. Unzulänglichkeit der älteren russischen und chinesischen Nachrichten über Sachalin und seine Bevölkerung, p. 120. — Japanische Nachrichten über Sachalin: erste Kenntniss der drei indigenen Völker desselben, p. 121. Aino: Ungleiches Alter der historischen Nachrichten über dieselben in verschiedenen Theilen ihres Verbreitungsgebietes, p. 122. — Aelteste und spätere japanische Nachrichten über die Aino von Nippon, Jesso, Sachalin und den Kurilen, p. 123. — Aelteste europäische Nachrichten über die Aino. Erste gedruckteErwähnung und erster,Gebrauch desNamens «A in o» europäischer- "seits, p. 124. — Erklärung des Namens, p. 125. — Unveränderte Nordgrenze der Aino-Bevöl- kerung an der Ostküste Sachalin’s seit Vries’ Reise (1643). Ausbreitung der Aino über die Kurilischen Inseln, p. 126. — Abgrenzung der reinen Aino- und der itälmenischen, mit Aino vermischten Bevölkerung der Kurilen, p. 127. — Ursprung des Namens «Kurilen» für Volk und Land, p. 128. — Bezeichnungen der Giljaken und der Mandshu-Chinesen für die Aino. Erklärung des giljakischen Namens «Laer-mif» für Sachalin, p. 129. — Schlussfolgerungen über die Ausbreitung der Aino, p. 130. Oroken: Erste, den Chinesen zu dankende Kunde von denselben. Angabe ihres Verbrei- tungsgebiets durch japanische Reisende, p. 130. — Mangel sonstiger historischer Nachrichten über dieselben. Seitens der Mandshu und Chinesen nur dem Namen nach bekannt, p. 131. — - Nahe gleichlautender Name der Oroken bei Japanern, Mandshu-Chinesen, Aino, Gi- ljaken. Aehnlichlautende Namen anderer tungusischer Amur-Völker. Etymologie dieser Namen und Schlussfolgerungen daraus. Abzweigung der Oroken von den Oltscha und Einwanderung nach Sachalin, p. 132—134. Orotschen: Im Süden ihres Verbreitungsgebietes früher bekannt als im Norden. «Ta-dse» der Chinesen, p. 135. — Bezeichnungen derselben bei den Jesuiten -Missionären, in der chinesi- schen Reichsgeographie, bei den Mandshu, Golde und Giljaken, p. 136. — Ursprung des Namens «Orotschen» für dieselben, p. 137. — Waren nie Rennthierhalter, p. 137, 138. — Deu- tung der «Bitschi» von La Perouse, p. 139. Oltscha: Häufige Verwechselung derselben mit den Nachbarvölkern. Mandshu - chinesischer Collectivname für dieselben, p. 140. — Ursprung dieses Namens, p. 141. — Aelteste russische, ebenfalls collective Bezeichnungen für die Oltscha. Erste Unterscheidung russischerseits der Oltscha von den Golde, p. 142. — Giljakischer Ursprung dieser Nachrichten, p. 143. — Erklärung des russischen Namens «Mangunen» für die Oltscha. Schlussfolgerung über die Vorgeschichte der Oltscha aus deren Namen, p. 144. — Ursprung des Namens «Amur», p- 145. Golde: Aelteste russische und mandshu-chinesische Bezeichnungen der Golde, p. 146. — Zu- sammengehörigkeit der Amur- und der Ussuri-Golde. Ursprung des Namens «Golde»,p. 147 — 149. — In historischer Zeit vor sich gegangene Veränderungen in ihrem Verbreitungsgebiet,p.149. — Vordringen der Djutscheren längs dem Amur-Strome, p. 150. — Abzug derselben und Einwanderung der Golde in das verlassene Gebiet, p. 151. — Vermuthliche ursprüngliche Hei- math der Golde, p. 152. Seite. Negda: Erste Erwähnung eines Volkes dieses Namens, p. 152. — Bezeichnungen der Negda seitens der Russen und der Giljaken, p. 153. Samagirn: Erste Bekanntschaft mit denselben. Ursprung ihres Namens. Vermuthliche Her- kunft, p. 154. Kile am Kur: Waren vermuthlich ehemals Gebirgs- und Rennthiernomaden, p. 155. Verschiebungen in den Verbreitungsgebieten der Völker des oberen Amur - Landes. Wohn- sitze des von Chabarof «Goguli» genannten Volkes. Irrthümliche Identificirung der Gogulen mit den Golde, p. 156. — Deutung ihrer Nationalität. Abzug vom Amur, p. 157. Dauren: Erste gedruckte Erwähnung derselben. Verschiedene Versionen ihres Namens, p. 158. — Erste Kunde der Russen von den Dauren und erste Berührung mit denselben, p. 159. — Weite Ausbreitung, Dichtigkeit der Bevölkerung und Wohlstand der Dauren im XVII. Jahrhundert, p. 160. — Spuren alten Feld- und Bergbaues in Daurien. Irrthümliche Ab- leitung sämmtlicher Spuren der Art von den Dauren durch Identifieirung dieser mit den Bar- guten Transbaikalien’s, p. 161. — Die Dauren bleiben auf das Amur-System beschränkt; wer- den für die Urheber der dortigen alten Bergwerke gehalten, p. 162. — Widerlegung dieser An- sicht, p. 163—166. — Njutschi— die Urheber der alten Bergwerke Daurien’s. Ungefähre Bestim- mung der Zeit, aus welcher die Reste alter Bergwerke stammen, sowie der Zeit der Einwanderung der Dauren in das Quellland des Amur-Stromes, p. 166, 167. — Wohlstand und Verdichtung der daurischen Bevölkerung am Nomni, p. 168. — Die «Targaziner» — ein Zweig der Dauren, p- 169. — Gegenwärtige Bedeutung der Bezeichnung «Torgatschinen», p. 170. — Abzug der Dauren aus dem Lande an der Schilka und dem Argunj, p. 171. — Abzug derselben vom oberen Amur, p. 172. — Verödung des Landes am oberen Amur. Spätere, beschränkte Rückkehr der Dauren, p. 173. — Freizügigkeit und Ausbreitung der daurischen Kaufleute. Die «Jam-Man- dshu» der Giljaken, p. 174. Durch den Abzug der Gogulen und Dauren vom Amur bedingte Verschiebungen der Bi- raren, Manägirn und Orotschonen, verbunden mit theilweiser Wandelung ihrer Lebens- weise, p. 175. Biraren: Erste Kunde von denselben. Umwandlung aus Rennthier- in Pferdenomaden. Ur- sprung des Namens. Eigentliche Heimath, p. 176. Manägirn: Erste Kunde von denselben, p. 177. — Gebirgsheimath der Manägirn. Ausbreitung aus derselben, — erfolgt später als die der Biraren, p. 178. — Ausbreitung an den oberen Amur, den Komar und die Dseja und Umwandlung aus Rennthier- in Pferdenomaden. Man- dshu-chinesische Bezeichnung für dieselben. Aelteste Nachricht über die Manägirn als An- wohner des Amur-Stromes, p. 179. — Tungusischer Ursprung ihres Namens, p. 180. Orotschonen: Grössere Bestimmtheit der Nachrichten über dieselben. Mandshurischer Ur- sprung des Namens «Orotschonen», p. 180.— Aufnahme und Ausdehnung desselben seitens der Russen. Aeltestes Zeugniss darüber, p. 182. — Ausbreitung der Orotschonen an den oberen Amur, — erfolgt noch später als die der Biraren und Manägirn, zum Theil in ganz recenter Zeit. Zugehörigkeit der Orotschonen des linken und des rechten Amur - Ufers zu verschie- denen Stämmen, p. 182. — Günstige Umstände für ihre Ausbreitung am oberen Amur den Ma- nägirn gegenüber, p. 183. Solonen: Mangelhafte und ungenügende Nachrichten. Aelteste Erwähnung des Volkes der Solonen von Seiten europäischer Schriftsteller, p. 183. — Vermuthungen über deren Ursprung oder ursprüngliche Heimath, p. 184. — Verschiedene Ableitungen ihres Namens, p. 185—187. Bezeichnungen der Amur-Völker für die angrenzenden Culturvölker. Mandshu: Unbekanntschaft des Namens «Mandshu» im Amur-Lande zur Zeit der ersten rus- sischen Invasion. Die in den russischen Berichten aus jener Zeit übliche Bezeichnung für dieselben, p. 188. Chinesen: Den Mandshu entlehnte Bezeichnung derselben in den alten russischen Berichten über das Amur-Land («Nikan»). Angebliche Etymologie dieses Namens, p. 189. — Allgemeine Verbreitung desselben unter den Amur-Völkern. Bezeichnung der Chinesen im Sungari- und Ussuri-Gebiet («Man-dse»), p. 190. — Angeblich mongolischer Ursprung dieses Namens p. 191. Japaner: Bezeichnung der Kamtschadalen für die Japaner und irrthümliche Erklärung derselben. Gleichlautender Name der Japaner bei den Amur-Völkern, p. 192. — Ainischer Ur- Seite. VI Seite, sprung desselben. Berichtigung der betreffenden Angaben von La P&rouse, Milet-Mureau, Steller und Krascheninnikof, p. 193. Russen: Allgemein gebräuchliche, gleichlautende Bezeichnung derselben bei den Amur- Völkern, bei den Mandshu, Chinesen und den Völkern Sibirien’s, p. 194. Schluss der geographisch-historischen Betrachtung der Amur-Völker, p. 195, 196. IH. ANTHROPOLOGISCH-ETHNOLOGISCHER THEIL. 3. Abschnitt. Abstammung und weitere Gliederung der Amur-Völker, nach Sprache und physischer Beschaffenheit, insbesondere Schädelbau und Gesichtsbildung. Gruppe der nordostasiatischen Randvölker oder Paläasiaten. Gruppirung der tungusischen Amur-Völker.............197— 310 Abstammung der Amur-Völker. Maassgebende Momente bei Bestimmung der Stammver- wandtschaft oder Verschiedenheit der Völker, p. 197. — Ungleiche Bedeutung der Körperbe- schaffenheit und der Sprache in Fragen der Abstammung. Bedeutung des Schädelbaus und der Gesichtsbildung für das Völkersystem, p. 198. — Bedeutung der übrigen physischen Chara- ktere für dasselbe, p. 199. — Unmöglichkeit der Errichtung eines umfassenden, natürlichen Völkersystems auf Grundlage verschiedener Körperbeschaffenheit. Maassgebende Bedeutung der Sprache für das Völkersystem, p. 200. — Dagegen gemachte Einwendungen und Wider- legung derselben, p. 201. — Vermeintliche Häufigkeit und Leichtigkeit des Sprachenwechsels. Bedingungen, unter denen derselbe möglich ist und statt hat, p. 202. — Die Sprache das ultimum moriens an einem Volke, p. 203. — Zwischen gleich culturlosen oder culturreichen Völkern findet nicht Sprachen-, sondern eher Typenwechsel statt, p. 204. — Unmöglichkeit von Sprachenwechsel ohne Typenwechsel, p. 205. — Schlussfolgerung für Fälle von Disharmonie zwischen Sprache und physischem Typus eines Volkes, p. 206. 5 Giljaken: Fälschlich für eines Stammes mit den Aino oder Kurilen gehalten, p. 207. — Fälschlich für Tataren angesehen, p. 208. — Fälschlich zu den Tungusen gerechnet. Sprach- lich — ein Volk für sich, p. 209. — Dialektverschiedenheiten unter den Giljaken. Festland und Insel. Amur- und Küsten-Giljaken, p. 210. — Tymy- und Tro-Giljaken: im Innern und an der Ostküste Sachalin’s, p. 211. — Giljaken der Westküste Sachalin’s, p. 212. — Aus den giljakischen Thiernamen entnommene Folgerungen über Heimath und Wanderungen der Gi- ljaken, p. 213, 214. — Körperbau der Giljaken. Mangel durchgehend unterscheidender phy- sischer Charakterzüge bei denselben. Schwierigkeiten bei Vermessung lebender Individuen. Wuchs und Gestalt, p. 215. — Beschreibung des Skelets eines Giljaken vom Amur, p. 216 — 218. — Maasse desselben, p. 218—220. — Grössenverhältnisse der Extremitäten und einzelner Theile derselben, p. 220. — Hautfarbe der Giljaken, p. 221.— Haarwuchs. Gesichtsbildung, p. 222. — Verschiedene physiognomische Typen. Der ainisch-giljakische Typus, p. 223.— Der tungusisch- giljakische, p. 224. — Der schlechtweg giljakische Typus. Gesichtsbildung der Weiber, p. 225. — Gesichtsausdruck, p. 226. — Ausprägung individueller Verschiedenheiten im Gesicht, p. 227. — Schädelbau. Die ersten zur Kenntniss gelangenden Giljaken-Schädel, p. 223—230. — Be- folgte Art der Schädelmessung, p. 230—233. — Schädelmaasse. Tabelle der absoluten Maasse, p. 232/233— 236/237. — Tabelle der Indices, p. 236/237. — Beschreibung der einzelnen Giljaken- Schädel, p. 233—242. — Schwankungen der Schädelform bei den Giljaken, p. 242. — Vor- herrschend mongoölischer Charakter der Schädel- und Gesichtsbildung bei den Giljaken, p. 243. — Eigenartige Sprache als Beweis ihrer nichtmongolischen Abstammung. Theilweiser Typen- wechsel. Reihe ähnlich sich verhaltender Völker im Nordosten Asien’s, p. 244. — Bisherige falsche Gruppirungen und Bezeichnungen dieser Völker, p. 245. — Vom sprachlichen und geo- graphischen Gesichtspunkte gewählte Bezeichnungen: sprachlich isolirte Nordasiaten, nord- asiatische Randvölker, p. 246. — Vom historischen Gesichtspunkte als Paläasiaten zu bezeich- nen, — Glieder einer älteren Völkerformation, p. 247. — Beispiele europäischer Randvölker, p- 248. — Desgleichen nordamerikanischer, p. 249. — Asiatische Heimath der Eskimo und Einwanderung nach Amerika, p. 250. — Desgleichen der Aleuten, p. 251. Beides — palä- asiatische Völker. Schlussfolgerung über die Stellung der Giljaken, und ebenso der Aino, unter den Völkern Nordasien’s und Nordamerika’s, p. 252. Aino: Verschiedene Ansichten über deren Abstammung, p. 252. — Werden von Einigen für einen Zweig der arischen Völkerfamilie gehalten, p. 253. — Von Anderen — für semitischen Ur- sprungs, für stammyerwandt mit den Indianern Nordamerika’s, für ein Glied der weissen Oce- anischen oder der schwarzen Papuanischen Race, p. 254. — Noch von Anderen — für asiatischen, tungusisch - mongolischen Ursprungs, p. 255. — Bisherige Kenntniss ihrer Sprache, p. 256. — Der Sprache nach — ein paläasiatisches Volk. Vielfache Beachtung ihrer eigenartigen physischen Beschaffenheit. Wuchs der Aino, p. 257, 258. — Gestalt und Bau. Grössenverhältnisse einzelner Körpertheile, p. 259. — Formverhältnisse einzelner Knochen. Hautfarbe, p. 260, 261. — Haar- “ wuchs, p.262, 263. — Gesichtsbildung. Zwei verschiedene physiognomische Typen, p. 264, 265. — Gesichtsbildung der Weiber, p. 266. — Desgleichen der Kinder. Ursprünglicher Typus der Aino, p. 267..— Theilweiser Typenwechsel, p. 268. — Gesichtsausdruck. Schädelform, p. 269. _ — Differenzen und Schwankungen derselben, p. 270, 271. — Causaler Zusammenhang zwischen den verschiedenen Schädelformen und den physiognomischen Typen der Aino. Eigenthümlich- keiten im Schädelbau, p. 272, 273. — Schlussfolgerung aus Sprache und Körperbeschaffenheit über die Abstammung der Aino und ihre Einwanderung nach Japan, p. 274, 275. Amur-Tungusen: Gemeinsamer Stamm aller übrigen Amur-Völker. Irrthümliche Ansichten über die Abstammung der Oltscha und Dauren, p. 276. — Beimischung mongolischer und chi- nesischer Wörter in der Sprache der letzteren, p. 277. — Sprache der Oroken von Sachalin, p. 278. — Zusammengehörigkeit der Oroken mit den Oltscha vom Amur. Sprache der Oltscha, Negda und Samagirn. Nahe Verwandschaft derselben mit derjenigen der nördlicher wohnen- den Tungusen, p. 279. — Sprachliche Beziehungen der Samagirn zu den Golde. Differenzen in der Sprache der Golde in den verschiedenen Theilen ihres Gebietes, p. 280. — Nahe Ver- wandtschaft des Goldischen mit dem Mandshu, p. 281. — Sprache der Orotschen und ver- muthliche mundartliche Differenzen derselben. Thiernamen der Kile am Kur, p. 282. — Sprache der Manägirn und Orotschonen und ihre Beziehungen zum Mandshu und zum Idiom der sogen. russischen Tungusen, p. 283. — Sprache der Dauren und Solonen. Gruppirung der tungusischen Amur-Völker nach ihrer Sprache, p. 284. — Physische Beschaffenheit der Amur- Tungusen. Typus der sibirischen Tungusen, p. 285. — Körperbau und Gesichtsbildung der Oroken von Sachalin und der Oltscha. Annäherung der letzteren an die Giljaken und Aino, p. 286. — Körperbau und Gesichtsbildung der Negda, Samagirn, Golde, p. 287. — Die Letz- teren—einMittelglied zwischen den nördlichen Tungusen und denMandshu. Körperbau und Ge- sichtsbildung der Orotschen, p. 288, 289. — Abänderungen durch Vermischung mit Chinesen. Körperbau und Gesichtsbildung der Biraren, Manägirn und Orotschonen, p. 290. — Des- gleichen der Dauren und Solonen, p. 291. — Gruppirung der tungusischen Amur-Völker nach ihrer physischen Beschaffenheit. Schädelbau. Die ersten Oltscha-Schädel, p. 292. — Beschrei- bung zweier Oltscha- Schädel, p. 293, 294. — Schwankungen in der Schädelform der Oltscha, p- 295. — Ein vermuthlicher Orotschen-Schädel, p. 296. — Beschreibung eines Golde- Schädels, p. 297. — Vergleichung desselben mit den früher bekannten, p. 298. — Biraren- Schädel, p. 299. — Manägirn - Schädel, p. 300. — Orotschonen-Schädel, p. 301. — Ver- gleichung der beiden letzteren mit einander, p. 302. — Der von Blumenbach und Baer unter- suchte Dauren- Schädel, p. 303. — Verschiedene Ansichten über den Schädeltypus der sibiri- schen Tungusen, p. 304. — Beschreibung dreier authentischer Schädel sibirischer Tun- gusen, p. 305—307. — Hauptdimensionen und Indices noch anderer authentischer Schädel des- selben Volkes. Schlussfolgerungen über den vorherrschenden Schädeltypus der sibirischen Tungusen, p. 308. — Gegeneinanderhaltung mit den Schädeln der Amur-Tungusen und Schlussfolgerungen daraus, p. 309. — Schluss der anthropologisch-ethnologischen Betrachtung der Amur-Völker, p. 310. Seite, vu ERKLÄRUNG DER TAFELN. Tafel I. Ethnographische Karte des Amur-Landes. (Das Nähere über die Anfertigung der. Karte, die Materialien, auf denen sie beruht, die Hauptzwecke, denen sie dienen soll, und dergl. m. s. auf p. 10, 12 und 89—91.) Tafel I. Physiognomische Typen der Giljaken (Männer), nach Originalphotographien (wie auch die folgenden Tafeln): Fig. 1. Giljake, Namens Ngimai, aus dem Dorfe Tacht am Amur, von ainisch - gi- ljakischem Typus (s. p. 223). Fig. 2. Giljake, Namens Kuprin, angeblich 20 Jahre alt, aus dem Dorfe Tebach am Amur, von tungusisch-giljakischem Typus (s. p. 224). Fig. 3. Giljake, Namens Tybain, aus dem Dorfe Tacht, und Fig. 4. Giljake, Namens Papgun, aus dem Dorfe Magho am Amur, — beide von mittlerem oder schlecehtweg gilja- kischem Typus (s. p. 225). Tafel II. Physiognomische Typen aus dem Amur - Lande: Fig. 1 und 2. Giljakische Weiber (s. p. 225). Fig. 3 und 4. Giljakisches Mädchen, aus dem Dorfe Ssabach am Amur (s. ebenda). Fig. 5. Golde, Namens Kurakta (s. p. 287). Fig. 6. Golde, Namens Adungu (s. p. 287). Fig. 7. Golde, Namens Chanem (s. p. 287). en vu Tafel I. Physiognomische Typen der Aino: Fig. 1 und 2. Aino von Sachalin, von mehr oder weniger europäer-ähnlichem Typus (s. p. 264, 265). Fig. 3. Aino von Sachalin, von mongolen-ähnlichem Typus (s. p. 266). IX Fig. 4 und 5. Aıno-Weiber von Sachalin, erstere von europäer-, letztere von mongolen- ähnlichem Typus (s. p. 267). Fig. 6. Aino-Knabe von Sachalin (s. p. 267). Tafel V. Schädel verschiedener Amur - Völker und sibirischer Tungusen in der Facialansicht (Norma facialis): Fig. 1. Schädel eines Giljaken von der Küste des Ochotskischen Meeres beim Petrov- skischen Posten (s. p. 238). Fig. 2. Schädel eines Giljaken aus dem Dorfe Magho am Amur (s. p. 239). Fig. 3. Schädel eines Giljaken aus dem Dorfe Allof am Amur (s. p. 240). Fig. 4. Schädel eines Giljaken-Weibes aus der Umgegend des russischen Dorfes Mi- chailovskoje am Amur (s. p. 241). Fig. 5. Oltscha-Schädel, vermuthlich weiblichen Geschlechts, aus der Bai de Castries (s. p: 293). Fig. 6. Oltscha-Schädel, aus dem Dorfe Choto am Kidsi-See (s. p. 294). Fig. 7. Golde-Schädel, vom Ussuri (s. p. 297). Fig. 8. Biraren-Schädel, vom Amur oberhalb seines Eintritts in das Bureja-Gebirge (s. p. 299). Fig. 9. Manägirn-Schädel, vom oberen Amur bei Kotomanga (s. p. 300). Fig. 10. Orotschonen- Schädel, aus der Umgegend von Nertschinsk (s. p. 301). Fig. 11. Tungusen-Schädel, vom Ajakit, einem Zufluss des Wilui (s. p. 305). Fig. 12. Tungusen - Schädel, aus dem Dorfe Ankula an der unteren Tunguska (s. p. 306). Tafel VI. Dieselben Schädel in der Seitenansicht (Norma lateralis), s. ebenda. Tafel VII. Dieselben Schädel in der Scheitelansicht (Norma verticalis), s. ebenda. Tafel VIN. Dieselben Schädel in der Hinterhauptsansicht (Norma oceipitalis), s. ebenda. Tafel IX. Dieselben Schädel in der Basilaransicht (Norma basilaris), s. ebenda. >= Seite 83, Seitenzahl, statt 38 lies 83 IN ER, N » 151, Text, Zeile 30 von oben statt unterbrochenen lies unterbrochene _ » 253, Anm.3,» 1» » » Haberscham » Habersham DEN » VoL.IE » Vol. HE EINLEITUNG. Das Bild, das hier von den Völkern des Amur-Landes entworfen wird, gehört zum grossen Theil bereits der Vergangenheit an. Seitdem Russland definitiven Besitz von diesem Lande ge- nommen, haben sich die ethnographischen Verhältnisse desselben in raschen Zügen verändert. War das Amur-Land in den fünfziger Jahren, als ich es kennen lernte — mit Ausnahme der ver- hältnissmässig kleinen Strecke zwischen der Dseja- und der Bureja-Mündung, wo eine chinesische Stadt und mandshu-chinesische, Ackerbau und Viehzucht treibende Dorfschaften lagen — noch eine continuirliche Wald- und Prairie-Wildniss, in der, ein paar kleine, neubegründete russische Militärposten abgerechnet, nur halbwilde Fischer- und Jägervölker ungestört ihr Wesen trieben, so breiten sich jetzt längs dem gesammten Amur und Ussuri in Zwischenräumen von je 20— 30 Werst Poststationen oder Ansiedelungen russischer Kosaken oder freiwilliger Colonisten aus, am Haupt- strom sind Städte entstanden oder im Entstehen begriffen, an der Küste mehrfache Hafenorte begründet worden, Dampfschiffe laufen den Amur auf und ab und sogar ein Telegraphendrath durchschneidet schon die ehemalige Wildniss. Dass Vorgänge der Art nicht ohne den grössten Einfluss auf das Leben und Treiben der eingeborenen Bevölkerung des Amur-Landes statthaben konnten, versteht sich von selbst. Wird ein Land mit noch fast jungfräulicher Natur der Ein- wanderung, der Colonisation, der Cultur geöffnet, so ist es nicht seine Pflanzen- oder Thier- welt, die zuerst Einbusse an ihrer Ursprünglichkeit erleidet, sondern der Mensch. Noch ehe die Wälder gelichtet, der jungfräuliche Boden aufgerissen und besäet, die wilden Thiere ver- scheucht oder vermindert worden, tritt der Mensch, der diese Wälder als Jäger durchstreift oder die Flussufer als Fischer bewohnt, mit den neuen Ankömmlingen in Berührung und Beziehung und trägt in seiner Lebensweise, seinen Sitten und Gebräuchen, seiner Sprache, seinen Anschau- ungen und Begriffen, kurz im gesammten Zuschnitt seines physischen und geistigen Lebens die Spuren der fremdartigen Berührung davon. Von welchen Folgen diese Berührung, wenn sie bleibend wird, für ein Naturvolk in der Regel zu sein pflegt, hat die Geschichte vielfach gelehrt. Schrenck’s Amur-Reise, Band III. 1 2 Die Völker des Amur -Landes. Zunächst in seinen physischen Existenzmitteln, der Jagd, dem Fischfang, durch die neuen An- kömmlinge wesentlich und dauernd geschädigt, unfähig sich neue Erwerbsquellen anzueignen, geschweige denn mit den ihm überlegenen Fremdlingen darin zu concurriren, von diesen oft auch mit Hülfe des unwiderstehlichen Branntweins ausgeraubt und entnervt, Schritt für Schritt aus seiner herkömmlichen Lebensweise herausgerissen, zudem auch in seinem psychischen Leben angegriffen, in Allem was ihm theuer und heilig war verletzt und missachtet, durch die heraufbeschworenen Schrecken des eigenen Aberglaubens gedrückt und gepeinigt und zu all dem vielleicht noch durch Krieg, sicher aber durch verheerende Krankheiten, wie sie der ersten Berührung eines Naturvolkes mit Europäern stets auf dem Fusse zu folgen pflegen, stark mit- genommen und gelichtet, geht es unvermeidlich der raschen Abnahme an Kopfzahl, der Ver- armung, dem physischen und moralischen Verfall, der völligen Abhängigkeit von den neuen Ankömmlingen und entweder durch Vermischung mit denselben dem Verlust seiner Eigenart, selbst mit Einbusse der Sprache, oder aber dem gänzlichen Aussterben entgegen'). Weicht es aber dem eindringenden Fremdling aus, zieht es sich, wo die Umstände es gestatten, nach ent- legeneren Wildnissen zurück, so ist auch damit meist nur eine kurze Frist gewonnen; denn mit dem Verlust seines heimathlichen Bodens, seiner bekannten Jagdgründe und Fischereiplätze, seiner leiblichen Habe und seiner moralischen und psychischen Frische, fällt es durch Verarmung und Verkümmerung schliesslich doch demselben Schicksal anheim. Nach Beispielen ausgestorbener oder ihrer Eigenart völlig verlustig gegangener Völker brauchen wir nicht weit zu gehen. Sibirien bietet deren genug dar. Wo sind z. B. die jetzt nur dem Namen nach bekannten Omoken geblieben, die einst von der Jana bis zur Kolyma gewohnt haben sollen und von denen die Sage erzählt, «es habe ehemals an den Ufern der Kolyma mehr Omoker Feuer als bei klarer Nacht Sterne am Himmel gegeben’)?» Was ist aus den gleichzeitig verschollenen Schelagern geworden, von denen die Tradition sich erhalten, dass sie eines Herbstes mit den Omoken in solcher Zahl auf einem grossen See sich versammelt hätten, dass das eine halbe Arschin starke Eis unter der Last gebrochen und Viele von ihnen um’s Leben gekommen seien?)? Hedenström hält zwar die Jukagiren, die zu seiner Zeit in geringer Anzahl zwischen der Jana und Kolyma umherstreiften, für einen Rest der Omoken‘), und Argentof hörte sie in der That von diesem Volke als von ihren Vorfahren reden’), allein wie ist es heutzutage auch um die Jukagiren be- 1) Sehr eingehend ist dieser Gegenstand von Dr. Georg Gerland in seiner Schrift «Ueber das Aussterben der Naturvölker» (Leipzig 1868) behandelt worden. Er hält die Angriffe auf das psychische Leben der Naturvölker fast für verderblicher noch als das Losstürmen auf ihre phy- sische Existenz (l. ec. p. 118). 2) ®. #. Bpaureas, Ilyrem, ıo eb». Öeper. Cuöupu u ıo ‚leAoB. mopro, 4. II, Cnö. 1841, crp. 80, $1. Deutsche Uebersetzung, Bd. II, p. 5, 6. Ku6ep», 3amby. 0 wbrorT. ıpeam. Ecreers. Merop., yunnenn, 86 Hıskne-Koapmmerb u OkpecTH. oHaro,, 8% 1821 r. (CuOnper. Bberu. u34. Upnur. Cnacckunm®, 1823 r. 4, II, Crarucr., erp. 127). 3)A.Apreuror%, Ch». zenaa (3an. Unn. Pycck.Teorp. Oö. 1861, Ku. II, Hscaba. ıı Marep., crp. 18). In diesem sehr interessanten Artikel sind alle Nachrichten, die sich aus Sagen und Ueberlieferungen von diesen Völkern und ihrer vermeintlichen Auswanderungnach einemnördlicher, im Eismeer gelegenen Lande erhalten liessen, zusammen- gestellt. 4) Teaeumrponp, Orpsieku 0 Cuöupu, C. Herep6. 1830, erp. 97. 5) Apreurtos», Onsncanie Huko.aaescraro MayHckaro npuxo.aa (3ar. Cuönper. Oraba. Uno, Pycer,. Teorp. O6un,, Ka. III, 1857, erp. 89, 104). Einleitung. 3 stellt? Traf doch die von Baron Gerh. Maydell geführte Expedition (1868—70) unter ihnen nur noch einzelne wenige Individuen an, welche die Sprache ihrer Väter kannten '!). Von den Anaulen, einem Volksstamm am Anadyr, mit welchem der Entdecker dieses Stromes, der Kosak Semjon Deshnef, im Jahre 1649 Krieg führte, heisst es ausdrücklich, dieselben seien, da sie nicht zahlreich und doch widerspenstig gewesen, in kurzer Zeit ganz aufgerieben worden?). Sämmtliche Völker, die mit den Jenissei-Ostjaken zu demselben Stamme gehören, wie die Ariner oder Arinzen, Assanen, Kotten, sind entweder schon erloschen oder dem Erlöschen nahe. Von den Arinern sprach es schon Fischer, der zuerst die Zusammengehörigkeit dieser Völker erkannte, als vollendete Thatsache aus?). Die Kotten fand Gastren noch in fünf lebenden Individuen vor, die ihm die Gelegenheit zum Studium ihrer Sprache boten ®). Aber auch mit den nunmehr vereinzelt stehenden Jenissei-Ostjaken verhält es sich jetzt nicht viel besser als mit den oben erwähnten Jukagiren, denItälmenen oder Kamtschadalen und so manchen anderen sibirischen Völkerschaften. Zwar haben sie sich bis auf den heutigen Tag erhalten, allein in Folge ihres stäten und nahen Verkehrs und Zusammenlebens mit den Russen hat sich ihr eigenthümliches nationales Gepräge vollständig verwischt, und kaum dürfte es jetzt der genauesten Forschung noch möglich sein, das ursprüngliche Bild dieser Völker wiederherzustellen. Wie weit und in wie kurzer Zeit hat sich z. B. der Zersetzungsprozess auch der entfernteren und durch die halbinsulare Lage ihres Landes isolirteren Kamtschadalen vollzogen? Hätten nicht Krascheninnikof und Steller ihre Hauptzüge fixirt, wir wüssten von ihnen jetzt kaum mehr was zu sagen. Was hier einmal versäumt worden, lässt sich später nicht wieder einholen. Auch die Völker des Amur-Landes sind gegenwärtig in einen solchen Zersetzungsprozess getreten. Ja, bei ihnen dürfte derselbe noch um so rascher vor sich gehen, als die Colonisirung dieses Landes russischerseits, wie oben erwähnt, mit einer Energie betrieben worden ist, die in Sibirien ihres Gleichen nicht hat. Auch stellen Schilderungen späterer Reisenden ausser Zweifel, dass die Eigenart dieser Völker in raschem Verschwinden begriffen ist. Schon jetzt dürfte es oft schwer fallen, das Ursprüngliche und Eigenartige in ihren Sitten, Gebräuchen und Anschau- ungen unter dem es überwuchernden Fremden und Ueberkommenen herauszufinden. Diese Schwierigkeit bestand zur Zeit, als ich deren Bekanntschaft machte, noch nicht. Die einzigen Culturvölker, mit denen sie bis dahin in längerer Berührung gestanden hatten, waren die Chi- 4) Nach Neumann (Htcr. c10B% 0 TOPr. H NPOMBIHLI. c'bB. Okpyr. AkyTek. 064. Hasber. Cuö. Ora. Pycex. Teorp.’ O6ın. T. I, Hpryrere 1872, crp. 36; T. IV, crp. 156) noch 10 Leute; nach Trifonof (3am. o Huszue-Ko.sınckt. Has. Cuö. Ora. Teorp. O6m. T. III, crp. 167) nur einen einzigen Greis. Auch der von Maydellausgefragte Jukagir, der seine Sprache kannte, hatte nicht immer die Antworten zur Hand und war deshalb genöthigt, sich an seine alte Mutter zu wenden, wenn er sich selbst auf die einzelnen Ausdrücke nicht besinnen konnte. Vrgl. Schiefner, Ueber Baron G. v. Maydell’s Jukagirische Sprachproben (Bullet. de l’Acad. Imp. des sc. T. XVII, p. 86; Mel. asiat. tires du Bull. T. VI, p. 600). J 2) Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. III, St. Petersb. 1758 p. 11. 3) Fischer, Sibirische Gesch. Bd. I, St. Petersb. 1768, p- 138, 387, Anm. 51. 4) Al. Castren, Ethnolog. Vorles. über die Altaisch. Völker, herausgeg. von A. Schiefner, St. Petersb. 1857, p- 87. Desselben Versuch einer Jenissei-Ostjak. u. Kotti- schen Sprachlehre, herausgeg. von A. Schiefner, St.Pe- tersb. 1858, p. V, VI. 1* % Die Völker des Amur-Landes. nesen und Japaner, allein diese Berührung war, zum wenigsten für die entfernteren ‘unter ihnen, immer nur eine spärliche, fast nur auf Handelsbeziehungen beschränkte; es fehlte der Cultur dieser ostasiatischen Völker, wenigstens bis dahin, der expansive Charakter der europäi- schen, um so zersetzend wie diese auf die Naturvölker wirken zu können. Wie weit sie dennoch von Einfluss auf dieselben gewesen, soll in den nachstehenden Blättern dargethan werden. Bedacht, die wissenschaftliche Erforschung Nordasiens stets in dem Maasse zu fördern, als es die politischen Umstände gestatten, hat die Akademie ihre erste, mir anvertraute Expedition nach dem Amur-Lande schon zu der Zeit ausgesandt, als dieses Land, nach den blutigen Kämpfen unternehmender Freibeuter und Kosaken des XVII. Jahrhunderts, zuerst von den Russen wieder betreten wurde, um fortan in bleibenden Besitz genommen zu werden. Für ethnographische Forschungen hat sie damit den günstigsten Zeitpunkt wahrgenommen, wie er für diese Gegenden in Zukunft nicht wieder eintreten kann. Dieser Begünstigung durch die Zeitumstände mir be- wusst, habe ich den ethnographischen Verhältnissen des Amur-Landes so viel Aufmerksamkeit geschenkt, als es einem Reisenden, dem vor Allem naturhistorische Forschungen zur Aufgabe gemacht worden, irgend möglich war. Auch hatte die Akademie mir einen Zeichner beigesellt, wodurch es möglich ward, Vieles aus dem Leben der Amur-Völker auch durch bildliche Dar- stellung zu fixiren. So wurde während der Reise dahin gearbeitet, die erforderlichen Beobach- tungen und Materialien zu sammeln, um ein möglichst detaillirtes Bild von den Völkern des Amur-Landes aus der Zeit entwerfen zu können, da sie noch ihre volle oder zum wenigsten durch die Berührung mit einem europäischen Culturvolk noch keineswegs geschädigte Eigenart besassen. Stets sind daher im Nachstehenden die ethnographischen Verhältnisse des Amur- Landes zu jener Zeit gemeint, auch wenn sich die Betrachtung der Form nach in der Gegen- wart bewegt. Nicht das ganze Stromgebiet des Amur soll hier in ethnographischer Beziehung besprochen werden. Ein Theil desselben, das sogenannte Daurien oder das Quellland des Amur-Stromes, bleibt uns hier fern. Dieses seit dem Nertschinsker Grenztraktat von 1689 unangefochten dem Russischen Reiche verbliebene Land ist auch schon vielfach von älteren und neueren Reisenden besucht und auch in seinen ethnographischen Verhältnissen, mit seiner vorherrschend russischen, zum geringeren Theile noch mongolisch-tungusischen Bevölkerung, wiederholentlich besprochen worden. Erst wo Schilka und Argunj zum Amur sich vereinigen, beginnt, ostwärts von der mongolisch-daurischen Hochebene, das Stufen- und Tiefland des Amur-Stromes, das eigent- liche Amur-Land, das, erst neuerlich von Russland in Besitz genommen, in ethnographischer Beziehung nur sehr wenig oder kaum bekannt ist. Nur dieses eigentliche Amur-Land wird in den nachstehenden Blättern in Betracht kommen. Doch müssen wir zu demselben, aus physisch- geographischen wie ethnographischen Gründen, nicht bloss die Landschaften am Amur und seinen Zuflüssen, sondern auch die angrenzenden Küsten am Ochotskischen und Japanischen Meere, vom Tugur-Busen bis zur Grenze von Korea, so wie die der Mündung des Amur-Stromes vorgela- gerte, die Festlandsküste in geringer Entfernung begleitende Insel Sachalin rechnen, die gleichsam als Brücke nach Japan und den Kurilen hinüberführt. Einleitung. 5 Nicht alle Völker ferner, die das solchergestalt begrenzte Amur-Land bewohnen, werden Gegenstand unserer Betrachtung sein. An sich ausgeschlossen aus derselben sind natürlich die bekannten Culturvölker Ostasiens, die Chinesen und Japaner, die nicht ursprünglich dem Amur-Lande angehören, sondern nur von Süden aus mehr oder weniger weit in dasselbe vorge- drungen sind; ja, auch die Mandshu, die zwar im Stromgebiet des Amur ihre Heimath haben, aber durch ihre Geschichte, ihre Herrscherstellung in China, ihre Schriftsprache u. dgl. m. jenen Culturvölkern sich anreihen. Bilden doch diese Völker in linguistischer, historischer, eulturhistori- scher und anderer Beziehung den Gegenstand vielfacher, eingehender Forschungen besonderer Fachgelehrten. Hier können sie nur in ihren Beziehungen zu den Eingeborenen des Amur-Landes und soweit sie einen Einfluss auf dieselben ausgeübt haben, in Betracht kommen. So bleiben uns nur die indigenen Völker des Amur-Landes übrig, die man zwar nieht mehr als Naturvölker bezeichnen kann, die aber dennoch von der Cultur selbst jener ihrer Nachbaren nur wenig berührt worden sind und noch auf dem Standpunkte einfacher Jäger- und Fischervölker sich befinden. Aber auch für diese immer noch zahlreichen Völker konnte jener oben gestellten Aufgabe nur zum Theil und in sehr beschränktem Maasse Genüge geleistet werden. Die grosse Ausdeh- nung des Amur-Landes, das zur Zeit meines Aufenthaltes in demselben zumeist noch ganz unter chinesischer Herrschaft stand, so wie die damals noch schwere Zugänglichkeit mancher seiner Theile gestatteten mir natürlich nicht, in dem verhältnissmässig nur kurzen Zeitraume von etwas über zwei Jahren, den meine Reisen im Amur-Lande in Anspruch nahmen, mit allen über das- selbe zerstreuten Völkern in Berührung zu kommen, geschweige denn sie näher kennen zu lernen. Der Umstand, dass man russischerseits, vom Ochotskischen Meere vordringend, zuerst an der Mündung des Amur-Stromes festen Fuss fasste, nöthigte mich, der ich das Amur-Land von der Seeseite betrat, ebenfalls hier, in dem eben begründeten Nikolajevschen Posten mein Standquartier zu nehmen, um von dort aus im Sommer wie im Winter grössere und kleinere Ausflüge und Reisen in’s Innere des Landes, nach der Meeresküste und auf die Insel Sachalın auszuführen. Das Nähere über diese Reisen ist in der Einleitung zum ersten Bande dieses Werkes, so wie in mehreren, im Bulletin der Akademie veröffentlichten Reiseberichten zu finden!). Sie führten mich zweimal nach der Insel Sachalin, die ich übrigens im Sommer 1854 auch schon an der Südspitze berührt hatte, an die Küsten des Ochotskischen und Nordjapanischen Meeres, zum Gorin und Ussuri und endlich, auf der Rückreise, den ganzen Amur und einen Theil des Argunj-Flusses aufwärts. Während der Winterreisen zumal lebte ich ganz mit und unter den Eingeborenen. So waren es also hauptsächlich die Völker des unteren Amur-Landes, insbesondere die Giljaken, alsdann aber auch die Oltscha (Mangunen) und Golde, mit denen ich näher bekannt zu werden Gelegenheit hatte, während ich mit den übrigen nur in mehr oder weniger flüchtige Berührung kam. Einige Nachrichten über die Giljaken verdanke ich auch Middendorff, der dieses Volk 4) Reisen u. Forsch. im Amur-Lande, Bd. I, p. IX bis | tires du Bull. T. II, p. 346 — 355, 446 — 456, 492 — 497; XXI. Bulletin de la classe phys.-math. de l’Acad. Imp. des | T. IH, p. 8—17; Mel. russes, T. III, p. 49—65, 297 —306, sc. de St. Petersb. T. XIV, p. 40—46, 184—192, 217—222; | 344—363. T. XV, p. 169—176, 241—254; Melanges phys. et chim. 6 Die Völker des Amur -Landes. schon im Jahre 1844 und zwar an der äussersten Nordwestgrenze seines Verbreitungsgebietes kennen lernte. Die von ihm damals niedergeschriebenen Notizen hat er in seinem Reisewerke nicht publizirt, sondern mir zur Verwerthung an diesem Orte freundlichst übergeben, und da ich diesen Theil des Giljaken-Gebietes selbst nicht besucht habe, so sind sie mir in der That von grossem Werthe. Wo ich mich daher im Nachstehenden auf Middendorff berufe, ohne auf seine Schriften zu verweisen, rühren meine Nachrichten aus der erwähnten handschriftlichen Quelle her. Sehr viel trug ferner zur näheren Kenntniss der Völker des unteren Amur-Landes auch der Umstand bei, dass während ich inmitten des Giljaken-Gebietes mein Standquartier hatte, mein Freund und jetziger College, C. J. Maximowicz, das seinige im Oltscha-Gebiet und zwar in dem kurz zuvor begründeten Mariinskischen Posten nahm. Seine damals, so wie auf einer ‘späteren Reise, in den Jahren 1859 und 60, über die Oltscha und Golde gesammelten und mir übergebenen Nachrichten bilden somit einen wesentlichen Theil von dem nachstehend über diese Völker Mitgetheilten. Für die ethnographische Forschung waren dies glückliche Fügungen, denn gerade die Völker des unteren Amur-Landes boten unzweifelhaft das meiste Interesse dar, indem ihr Leben in Folge ihrer grösseren Entlegenheit sowohl von den Mandshu, Chinesen und Japanern, wie von den Russen, am meisten eigenartig sich gestaltet und erhalten hatte. Insbe- sondere aber gilt dies von den auch in sprachlicher Beziehung unter allen Amur- Völkern ganz isolirt stehenden Giljaken'). Gleichwohl traten auch hier, trotz häufigen Verkehrs mit den Eingeborenen, der näheren Erforschung ihrer Sitten, Gebräuche, religiösen Anschauungen u. dgl., noch manche Hindernisse entgegen. Das grösste derselben für einen Reisenden, zumal wenn er Natur- und nicht Sprach- forscher ist, liegt in der Unkenntniss der Sprache eines Volkes und in der Schwierigkeit, sie in kurzer Zeit soweit zu erlernen, um sich in derselben unterhalten zu können. Allerdings pflegt man diesem Uebelstande dadurch zu begegnen, dass man sich mit einem Dolmetscher versieht, allein wo die erste Berührung mit einem Volke stattfindet, da giebt es eben noch keine solchen. Auf meiner ersten Reise den Amur aufwärts, zuden Oltscha, Golde, Samagirn, verstanden die mich begleitenden Kosaken von den Sprachen dieser Völker so wenig, dass ich selbst, der ich ein jedes Wort, dessen Bedeutung ich erfuhr, mir sogleich notirte, ihnen als Dolmetscher dienen musste. Vom Giljakischen habe ich, so wenig es auch war, doch jederzeit mehr als alle übrigen Ankömmlinge im Amur-Lande verstanden, da mir an der Erlernung dieser Sprache mehr als irgend wem gelegen war. Auch kann ich mir das den Giljaken selbst abgelauschte Zeugniss geben, ihre Sprache nicht wie die übrigen Russen (oder Fremden), sondern in der Art wie sie selbst gesprochen zu haben?), was ohne Zweifel auf den Gebrauch meinerseits mancher ihrer 1) Gelegentlich sei bemerkt, dass schon bei Vorberei- | Kenntn. d. Russ. Reichs, Bd. IX, 2. Abthl. St. Petersb. 1855, tung der zweiten Bering’schen Expedition die Instruc- | p. 408, Anmerk.). Diesem Wunsche konnte somit erst über tionen, welche im Schosse der Akademie für die ethno- | einJahrhundert später durch Middendorff’s und meine graphischen Untersuchungen entworfen wurden, auf ei- | Reisen entsprochen werden. nen Besuch bei den Giljaken drangen. (Baer, Kurzer 2) Er spricht «mer ngarlatsch»,.d. h. «uns gleich», hörte Bericht über wissensch. Arbeiten u. Reisen etc. s. Beitr. z. | ich sie unter einander von mir sagen. Einleitung. 7 Verbalformen und Suffixe ging, die meinen Zeitgenossen im Amur-Lande noch völlig fremd waren, und übrigens bei der überhaupt äusserst geringen Kenntniss dieser letzteren vom Giljaki- schen nieht viel sagen will. Aehnlich wie mir mit den Giljaken ging es Hrn. Maximowiez mit den Oltscha und Golde. Nichts von dem weiter unten über diese Völker Mitgetheilten ist daher der Vermittelung von Dolmetschern zu verdanken. Dieser Umstand macht unsere Nach- richten vielleicht weit unvollständiger, als sie sonst ausgefallen wären, da wir die erste Zeit, vor Erlernung der Sprache, bloss auf die Wahrnehmung durch das Auge uns beschränken und auf die viel wichtigere Belehrung durch das Ohr verzichten mussten. Andererseits aber können die Nachrichten, zumal über abstrakte Dinge, religiöse Vorstellungen u. dgl. m., an Zuverlässigkeit und innerem Werthe nur gewinnen, wenn sie direkt und unmittelbar geschöpft und nicht in dem Lichte wiedergegeben werden, wie sie sich im Gehirn eines ungebildeten Dolmetschers reflectiren. Eine andere und kaum geringere Schwierigkeit ethnographischer Forschung liegt in dem leicht erklärlichen Misstrauen, dem der Reisende unter einem halbwilden fremden Volke nur gar zu leicht begegnet und das die Leute entweder schweigsam und zurückhaltend macht, oder gar zu absichtlich falschen und unwahren Angaben veranlasst. Ich habe dem einerseits durch freund- liches Entgegenkommen, kleine Geschenke, Bewirthungen und Verbindlichkeiten aller Art, andererseits durch Vorsicht in der Aufnahme aller Mittheilungen, durch häufiges Prüfen und Controliren derselben vermittelst wiederholter Erkundigungen über denselben Gegenstand, so wie endlich wiederum durch Erlernen ihrer Sprache zu begegnen gesucht. Den häufiger nach dem Nikolajevschen Posten kommenden Amur-Giljaken gegenüber glaube ich meinen Zweck auch völlig erreicht zu haben, indem ich unter ihnen allmählich ein Vertrauen und eine Popu- larität gewann, wie sie später vielleicht nicht wieder vorgekommen sind. Wenn Giljaken im Winter in den Nikolajevschen Posten kamen, fuhren sie direkt vor mein Haus, spannten ihre Hunde ab, zogen ihre leichten Schlitten in's Vorzimmer hinein und liessen sich getrost bei mir nieder, sicher von mir sowohl Futter für ihre Hunde, als auch für sich selbst Essen und Tabak zum Rauchen ä diseretion, ja vielleicht noch einige Kleinigkeiten, einige Nadeln, Knöpfe u. dgl. zum Geschenk zu erhalten. Das gab mir die Gewähr, auf meinen Fahrten eventuell auch bei Jedem von ihnen gastliche Aufnahme zu finden. An mich wandten sie sich, wenn ihnen im Verkehr und Handel mit den Russen, ihrer Meinung nach, ein Unrecht geschehen war; mir klagten sie ihre Noth, wenn ihnen etwa ein Hund gestohlen, eine Vorrathskammer ausgeplündert, ein Grabmal zerstört worden war; ja, gegen mich äusserten sie zuweilen auch ihre Besorgniss darüber, was bei wachsender Anzahl der Russen und ihrer Ansiedelungen aus ihnen werden würde. Als ich im Winter 1855/56 -einige Wochen am gastrischen Fieber darniederlag, ver- breitete sich die Kunde davon schnell unter den Giljaken, und als ich endlich im Frühling 1856 ganz fortzuziehen im Begriff stand, erhielt ich vielfache Kundgebungen ihres Bedauerns, mich künftighin nicht mehr im Nikolajevschen Posten zu wissen. Weiter vom Amur ab, im Innern und an der Ostküste von Sachalin, ist es gleichwohl auch mir begegnet, dass die Giljaken nach längerer, unbefangener Mittheilung plötzlich inne hielten und sich unter einander die Frage stellten, * 3 Die Völker des Amur-Landes. wozu ich wohl die betreffenden Nachrichten brauchen möge? Und nachdem sie dahin übereinge- kommen waren, dass wohl von meiner Aussage über die Beschaffenheit des Landes eine etwaige An- siedelung der Russen unter ihnen abhängen werde, hörten die Mittheilungen theils auf, theils nahmen sie einen ganz anderen, möglichst schwarz gefärbten oder gar schlechtweg negirenden Charakter an. Dass ich ihre Unterredung verstanden haben könnte, argwohnten sie freilich naiver Weise nicht. Der oben erwähnte Umstand, dass es mir nicht vergönnt war, mit allen Amur-Völkern in gleich nahe Berührung zu treten, musste natürlich auch für die Art der Behandlung des Ge- genstandes in den nachstehenden Blättern wesentlich maassgebend sein. Lägen uns detaillirte, auch nur annähernd vollständige Nachrichten über alle Amur-Völker vor, so wäre vielleicht eine monographische Besprechung derselben am angemessensten, da bei einer solchen Gesammt- zeichnung des physischen und geistigen Lebens eines jeden einzelnen Volkes seine ganze Indivi- dualität prägnanter vor die Augen treten müsste. So reiches Material steht uns aber nicht zu Gebote. Auch wäre bei einer solchen Behandlung ein Uebelstand, ich meine häufige Wiederholungen, unvermeidlich. Denn Natur- oder wenigstens noch halbwilde Völker, die mit einander benachbart unter demselben Himmelsstrich wohnen, auf dieselbe Natur, dieselben Nahrungsquellen und Existenzmittel angewiesen sind, ja auch unter denselben, wenn gleich geringen Cultureinflüssen stehen, werden immer, wie verschieden sie auch nach Abstammung und Sprache sein mögen, in ihrer Lebensweise, ihren Sitten und Gebräuchen, ihren Anschauungen u. s. w. viel Ueberein- stimmendes mit einander haben. Aus diesen Gründen habe ich es vorgezogen, die verschiedenen hier überhaupt in Betracht kommenden Völker des Amur-Landes nicht einzeln nach einander, sondern in vergleichender Weise neben einander zu betrachten, wobei ich stets von den bisher fast nur dem Namen nach, mir hingegen gerade am genauesten bekannten Giljaken ausgegangen bin. Gewährt auch eine solche Behandlung von keinem der betreffenden Völker ein volles, ab- gerundetes und geschlossenes Bild, giebt sie vielmehr nur abgerissene Schilderungen; aus denen sich der Leser das Gesammtbild selbst zusammenzustellen hat, so dürfte sie doch, ausser der bereits hervorgehobenen Vermeidung von Wiederholungen, vielleicht auch den Vorzug ver der monographischen Behandlung haben, dass sie mehr Gelegenheit zu allgemeineren Ver- gleichungen und Schlussfolgerungen über einzelne Erscheinungen im Leben der Naturvölker bietet und damit auch manchen tieferen Blick in die Natur- wie in die Culturgeschichte des Menschen überhaupt zu thun gestattet. Endlich dürfte sie, indem sie stets das ganze Land im Auge behält, auch zu einem vollständigeren ethnographischen Gesammitbilde desselben führen. Dieser Behandlung des Gegenstandes gemäss sind auch die beigefügten Tafeln geordnet. Ihnen habe ich noch einige Worte vorauszuschicken. Da mir die Akademie einen Zeichner mitgegeben hatte, so ging mein Streben dahin, von dem Leben der Amur-Völker und Allem, was drum und dran hängt, ihrer Wohnung, Kleidung, ihrem Haus-, Jagd- und Fischereigeräth, ihren Grabmälern, Götzen u. dgl., auch durch Zeichnungen ein möglichst anschauliches und de- taillirtes Bild zu geben. Ueber manche Dinge zumal, wie z. B. über den Grad der Kunstfertig- keit dieser Völker im Bereiten ihrer Utensilien, über den beim Ausschmücken ihres Geräthes wie ihrer Kleidung ausgesprochenen Geschmack, über den etwaigen Einfluss dabei fremder, chinesi- Einleitung. N) scher und japanischer Muster, liesse sich ohne die Abbildungen überhaupt kein Urtheil bil- den. Eine anschauliche, concrete Vorstellung von dem gesammten Sein und Thun eines Volkes kann aber gewiss nur bei einer gewissen. Vollständigkeit bildlicher Darstellungen ge- wonnen werden. Es schien mir daher nicht angemessen, mit der Zahl dieser Abbildungen gar zu sparsam zu sein und sie überall dort wegzulassen, wo sich in früheren Reisewerken, bei Ge- legenheit der Besprechung anderer und namentlich sibirischer Völker, ähnliche, wenn auch zuweilen sehr rohe Darstellungen finden. Aus demselben Grunde habe ich auch nur in seltenen Fällen von den an und für sich sauberen Abbildungen Notiz genommen, die in dem schwer zu- gänglichen Atlas zu der von Hrn. Maack im Amur-Lande ausgeführten Reise sich befinden, um so mehr als das betreffende Werk!) keinen ethnographischen Text, sondern nur ein dürftiges Verzeichniss der Abbildungen enthält, meist sogar ohne Angabe, auf welches der Amur-Völker sie zu beziehen sind. Den Giljaken gehören übrigens die dort abgebildeten Gegenstände jeden- falls nicht, da Hrn. Maack’s Reise ihr Gebiet nicht berührte. Mehrere unserer Abbildungen hätten durch Verweisung auf einige der Holzschnitte vermieden werden können, welche sich in der letzten Lieferung des Middendorff’schen Reisewerkes — zur Illustration des Hausgeräths der Nigidal — finden, wenn diese Lieferung nicht zu einer Zeit erschienen wäre, als die nach- stehenden Tafeln bereits alle hergestellt waren. Sind es, wie oben angegeben, besonders die Völker des unteren Amur-Landes, die hier ausführlicher besprochen werden sollen, so gelten ihnen und namentlich den Giljaken auch die meisten unserer Abbildungen. Ja, wo mir dieselben oder sehr ähnliche Gegenstände von ver- schiedenen Amur-Völkern vorlagen, habe ich für die Abbildung stets den giljakischen den Vorzug gegeben, um solchergestalt wenigstens von einem dieser Völker, und ohne Zweifel dem eigen- artigsten und interessantesten, ein möglichst vollständiges Bild zu liefern. Bei weitem die meisten der hier beigefügten Abbildungen sind von dem Zeichner meiner Expedition, Hrn. W. Poliwanof, während unseres Aufenthaltes im Nikolajevschen Posten, einige auch während der Reisen entworfen oder wenigstens skizzirt worden. Einen nicht geringen Theil der Abbildungen, namentlich auch die Skizzirung mancher Scenen aus dem Leben der Giljaken, verdanke ich Hrn. Maximowicz, mit dem ich manche Fahrten im Amur-Lande gemeinschaftlich ausführte. Noch andere sind erst hier nach den von der Reise mitgebrachten ethnographischen Gegenständen gemacht worden; so die meisten Götzenbilder von Hrn. A. Bau- mer, die Zeichnungen giljakischer Muster von Hrn. Nezwetajef. Endlich lag mir noch eine Sammlung in den sechziger Jahren theils von W. Lanin in Nikolajevsk, theils von anderen Photographen ausgeführter Arbeiten vor, namentlich zahlreiche Photographien von Giljaken, Golde und Aino. Sämmtliches Material wurde nun in die Hand eines geschickten Künstlers, Hrn. Dmitrijef-Orenburgskij, gegeben, um es theils zu verarbeiten und zu vollenden, theils dem Format dieses Werkes conform direkt auf Stein zu bringen. Da Hr. Dmitrijef selbst im 1) Iyremecrsie Ha Amyp&, cozepm. uo pacnopsskeniro | P. Maakomr. €. Herepöyprw 1859. Cuonper. Orabıaa Uno. Pycer. Teorp. Oö. 8% 1855 r. Schrenck’s Amur-Reise, Band II. IV * 10 Die Völker des Amur-Landes. Amur-Lande nicht gewesen, so lag es mir um so mehr ob, alle seine Ausführungen auf ihre Treue hin genau zu prüfen, und ich bin ihm das Zeugniss schuldig, dass in allen seinen Arbeiten so- wohl das Ganze, wie jedes Einzelne vollkommen treu und wahr wiedergegeben worden ist. Zur Veranschaulichung der eraniologischen Verhältnisse der Amur-Völker, ist vom Photographen der Akademie der Wissenschaften, Hrn. W. Clasen, mit gewohnter Meisterschaft eine Anzahl phototypischer Tafeln angefertigt worden, über die Näheres am betreflenden Orte gesagt wer- den soll. Desgleichen endlich auch über die allen Illustrationen vorausgeschickte ethnographi- sche Karte des Amur-Landes, die in der unter Leitung des Hrn. General-Majors O. v. Stuben- dorff stehenden topographischen Abtheilung des hiesigen Generalstabes ausgeführt worden ist. Es ist mir eine angenehme Pflicht, allen genannten Herren, die an der künstlerischen Aus- stattung und Ausschmückung dieses Werkes gearbeitet haben, insbesondere meinem Reisebegleiter, Hrn. Poliwanof, durch dessen hingebenden Fleiss die meisten Zeichnungen entstanden, hier meinen verbindlichsten Dank öffentlich auszusprechen. Gelingt es diesem Werke, ein getreues und anschauliches Bild von den Amur-Völkern und ihrem Leben und Treiben zu geben, so wird dies gewiss nicht zum geringen Theil auf Rechnung seiner Ilustrationen zu bringen sein. 1. GEOGRAPHISCH-HISTORISCHER THEIL. 1. Abschnitt. Allgemeine Uebersicht der indigenen Völker des Amur-Landes. Jetzige Grenzen ihrer resp. Verbreitungs- gebiete. Räumliche Stellung der Culturvölker Ostasiens, Chinesen und Japaner, im Amur-Lande. Räumliche Stellung der Russen den Amur-Völkern gegenüber. Ethnographische Karte des Amur-Landes. Gehört eine gewisse über weite Räume sich erstreckende Gleichförmigkeit der Erscheinungen im Natur- wie im Völkerleben überhaupt zum Charakter Nordasiens, so tritt sie im Amur- Lande doch in weit geringerem Grade als in Sibirien hervor. Mit mamnichfaltigeren Naturver- hältnissen, abwechselnden Gebirgszügen und Ebenen, ausgedehnten Waldungen, grasreichen Prairien, mächtigen, fischreichen Strömen, langgezogenen Meeresküsten, einem wenn auch rauh- continentalen, doch im Vergleich mit Sibirien milderen Klima ausgestattet, bietet das Amur-Land, gleich wie in seiner Pflanzen- und Thierwelt, so auch in seinen ethnographischen Verhältnissen ein mannichfaltigeres und reicheres Bild dar. Sieht man zunächst von den fremden, aus den benachbarten Culturstaaten, China, Japan und neuerdings aus Russland eingewanderten Elementen ab, so hat man es im Amur-Lande mit drei indigenen, der Sprache nach gänzlich von einander verschiedenen Völkerschaften zu thun — Giljaken, Aino und Tungusen. Zwar hat sich auch ein Mongolen-Stamm von Südwesten her bis in das Sungari-Gebiet vorgeschoben, allein er wird von den Chinesen und von einem tungusischen Volke mehr und mehr zurückgedrängt und dürfte dem Amur-Lande bald ganz fern bleiben. Von den drei genannten Amur-Völkerschaften (das Amur- Land stets mit Inbegriff der Insel Sachalin verstanden) zerfallen die Tungusen wiederum in zahlreiche, nach Sprache und Sitte mehr oder weniger weit auseinandergegangene Stämme oder Völker. Diese tungusischen Völker sind es, welche den bei weitem grössten Theil des Amur- Landes inne haben, während die Giljaken und Aino nur verhältnissmässig kleine Gebiete im äussersten Nordosten und Südosten desselben bewohnen. Begegnet man tungusischen Völkern auch noch weit über das Amur-Land hinaus, bis zum Jenissei, bis zu den Eismeerküsten und Kam- tschatka, so scheint das Amur-Land doch ihre eigentliche Heimath zu sein, in der sie das höchste 12 Die Völker des Amur- Landes. Maass der ihnen bisher zugänglichen Cultur erreicht und von der aus sie sich nach allen Weltge- genden hin verbreitet haben. Am Sungari und seinen Zuflüssen liegt der Hauptsitz der Mandshu, des einzigen tungusischen Volkes, das eine Schrift und Literatur besitzt und das durch seine wieder- holten erfolgreichen Kriege mit China, welche ihm die Herrschaft über dieses grösste Culturreich Asiens verschafft haben, auch eine historische Bedeutung gewonnen hat. In den Ebenen am Nonni oder Naun, dem Hauptzuflusse des Sungari, wohnen die Dauren, die, ehemals viel weiter verbreitet, vor allen die Kämpfe mit den kühnen russischen Freibeutern zu bestehen hatten. Höher hinauf am selben Flusse sind die Reste der ehemals kriegerischen Solonen zu suchen. Folgt man der Hauptader des Landes, dem Amur-Strome, von der Vereinigung der Schilka und des Argunj abwärts, so begegnet man oberhalb des Bureja-Gebirges und der mandshu-chinesischen Ansiedelungen am Amur den umherstreifenden Stämmen der Orotschonen und Manägirn, unterhalb des genannten Gebirges dem weitverbreiteten Volke der Golde, das sich auch längs den grossen rechten Zuflüssen des Amur fortzieht, und den Oltscha oder Mangunen, den Grenz- nachbaren der Giljaken am Amur. Andere tungusische Völker haben ihre Wohnsitze an den zahlreichen linken Zuflüssen dieses Stromes; so die Biraren an der Bureja, die Kile am Kur, die Samagirn am Gorin, die Negda am Amgunj. Ostwärts vom unteren Amur und vom Us- suri, an den Quellen ihrer rechten Zuflüsse, im Küstengebirge und längs der Meeresküste liegt das ausgedehnte, nur sparsam bevölkerte Gebiet der Orotschen, und über das Festland hinaus, im mittleren Theile der Insel Sachalin,, begegnet man endlich noch einem tungusischen Volke, den halbnomadischen Oroken. Manche kleinere tungusische Stämme, die alljährlich mit ihren Rennthieren vom Ochotskischen Meere nach den Zuflüssen des unteren Amur oder aus dem Udj- und Lena-Gebiet auf den Südabhang des Stanowoi-Gebirges an die Zuflüsse der Bureja und Dseja hinüberstreifen, oder zum Theil auch beständig an den letzteren sich aufhalten, sind bei dieser Aufzählung noch unerwähnt geblieben. So ist dieZahl der verschiedenen Völker im Amur- Lande keine geringe, und namentlich ist es der Tungusen-Stamm, der dort seine reichste Verzweigung und grösste Entfaltung hat. Die Verbreitungsgebiete aller genannten Völker genau gegen einander abzugrenzen, ist bei der unstäten, halbnomadischen Lebensweise mancher dieser Völker und dem vielfachen Ineinander- greifen ihrer Jagdgründe und Fischereiplätze nicht immer möglich. Am leichtesten lässt es sich noch für die -sesshafteren Völker des unteren Amur-Landes ausführen, während es je höher den Amur und seine oberen Zuflüsse hinauf, um so schwieriger und unthunlicher wird. Auf der beifolgenden ethnographischen Karte des Amur-Landes habe ich es versucht, die Grenzen der ein- zelnen Gebiete theils nach eigenen Erfahrungen und den Angaben der Eingeborenen selbst, theils nach Beobachtungen anderer Reisenden möglichst genau zu verzeichnen und zugleich ein Ge- sammtbild der geographischen Verbreitung der Amur-Völker zu geben. Gehen wir nun diese Gebiete nach ihrer Lage und Begrenzung einzeln und ausführlicher durch. Giljaken. Verbreitungsgebiet. 13 Die Giljaken bewohnen den äussersten Nordosten des Amur-Landes: den untersten Theil des Amur-Stromes, den Amur-Liman, die angrenzende Küste des Ochotskischen Meeres und die nördliche Hälfte der Insel Sachalin. Am Amur beginnt, stromabwärts gegangen, das Gebiet der Giljaken mit den Dörfern Chjare am rechten und Tlals am linken Stromufer, in der Ent- fernung von etwa 175 Werst von der Amur-Mündung. Von dort ziehen sich ihre Wohnsitze anfangs nur am rechten Ufer, später aber, von der letzten Wendung des Amur-Stromes nach Osten ab, an beiden Ufern desselben bis zum Liman fort. Der Amur-Liman ist rings herum von Giljaken bewohnt, ein rein giljakisches Gewässer. Südwärts von der Amur-Mündung an der Festlandsküste ist Tschomi, an dem gleichnamigen Flüsschen gelegen, das letzte giljakische Dorf, über welches hinaus, an der Mamia-Rinsö-Strasse, ein unbewohntes, nur der Jagd und des Fischfangs wegen von den Giljaken besuchtes Gebiet sich erstreckt. Nordwärts von der Amur- Mündung ziehen sich die Wohnsitze der Giljaken über den Liman hinaus längs der Küste des Ochotskischen Meeres fort. Zwar soll dort Kulj oder Kolj der letzte beständig von den Giljaken bewohnte Ort sein, allein auch weiterhin halten sich noch Giljaken, zum wenigsten zeitweise, der Jagd, des Robbenschlags und Fischfangs wegen auf. So sollen sie z. B. nach Poplonskij des Erwerbes wegen zeitweise nach dem Konstantinovschen Hafen an der Ulban-Bucht kommen!). Dort und noch etwas weiter westlich, am Tugur-Busen, lernte auch Middendorff die Giljaken kennen. Der äusserste Grenzpunkt seiner Wanderung nach Osten, ein Vorgebirge in der Ulban- Bucht, trägt bei ihm?) den Namen Cap Giljak, vermuthlich doch nach den, wenn auch zeitweisen, Bewohnern jener Gegend. Am Ulban-Flusse, drei Werst oberhalb seiner Mündung in die gleich- namige Bucht, traf er eine aus zwei Winterhäusern und einem Sommerhause bestehende Nieder- lassung der Giljaken; °/, Werst ostwärts von ihr wieder ein Sommerhaus®). Die letzten, äussersten Wohnsitze der Giljaken nach Nordwesten am Ochotskischen Meere liegen aber im Tugur-Busen. Ueber die schmale, niedrige Landenge, welche die Halbinsel Ssegneka stielförmig mit dem Festlande verbindet, führt ein aus aneinander gelegten Knüppeln gebildeter Schleppweg, der nach Middendorff schon auf einer alten, aus dem vorigen Jahrhundert herrührenden Karte unter dem Namen «giljakischer Schleppweg» (T'nıarckaa nepesonora) verzeichnet ist, und den Giljaken und Tungusen dazu benutzen, ihre Böte meist unter Beihülfe von Hunden aus dem Busen der Akademie (an der Konstantinovschen Bucht) nach dem Tugur-Busen zu transportiren und so das mühsame und gefahrvolle Umrudern der langen, mit steilfelsigen Ufern versehenen Halbinsel Ssegneka zu vermeiden. Längs diesem Schleppweg sah Middendorff die bei den Giljaken zum Dörren der Fische gebräuchlichen Gerüste und an der Ausmündung desselben zur Bucht Wolok im Tugur-Busen ein giljakisches Sommerhaus stehen *). Etwas südlicher an der letztgenannten Bucht lagen auch zwei Winterhäuser derselben). Noch etwas südlicher und 4) Hon.onckiü, 3arı. Tuaporp. Aenapr. T. VI, C. He- 3) Middendorff, Reise in den äuss. Nord. u. Osten tep6. 1848, crp. 98. Sibir., Bd. IV, p. 126. 2) Karten-Atlas zu Middendorff’s Reise in den äus- 4) L. c. p. 116, 117. sersten Norden und Osten Sibiriens, 1859, Taf. XVII. 5) Ebenda, p. 125. 1% Die Völker des Amur-Landes. westlicher endlich, wo der Tugur ausmündet und kurz zuvor den Kutin-Fluss aufnimmt, fand er sieben giljakische Hütten nebst drei tungusischen Birkenzelten. Das waren die ersten belebten Wohnungen, auf die Middendorff stiess, seitdem er die Udj-Mündung verlassen hatte‘). Auch Orlof traf, im Jahre 1849 längs der Meeresküste von Ajan kommend, die ersten Giljaken an der Tugur-Mündung ?). Hier liegt also die äusserste Nordwestgrenze des Giljaken-Gebietes, und weiterhin breitet sich bis zum Udj ein unbewohntes, wohl nur von Tungusen durchstreiftes Terrain aus. Viel weiter nachSüden als auf dem Festlande erstreckt sich dasVerbreitungsgebiet der Giljaken auf der Insel Sachalin und besonders an der Westküste derselben. Dort zieht sich die giljakische Bevölkerung von der äussersten Nordspitze durch den Amur-Liman bis weit in das Nordjapanische Meer hinein. Ihr südlichster Punkt an dieser Küste ist das Dorf Pilja-wo, nahe dem 50° n. Br. und also fast genau auf halber Länge dieser in Meridianrichtung langgestreckten Insel gelegen. Etwas weniger weit nach Süden reicht die giljakische Bevölkerung an der Ostküste der Insel. Den Nachrichten zufolge, die.ich bei den Giljaken im Tymy-Thale und im Dorfe Nyi an der Ost- küste sammelte, giebt es südlich von diesem Dorfe und von der Mündung des Tymy-Flusses noch vier giljakische Dörfer), von denen das südlichste und letzte, drei Tagereisen von Nyi entfernt, das Dorf Tschamr-wo ist, über welches hinaus die Küste weithin unbewohnt sein soll. Diese Nachrichten wurden später durch den Bergingenieur Lopatin bestätigt, der im Jahre 1868 eine mühsame Fusswanderung längs dieser öden Küste ausführte: er fand, von Süden kommend, das erste giljakische Dorf (Tschamr-wo)®, nach Kropotkin's Wiedergabe seiner Mittheilungen?), anderthalb Tagereisen nördlich vom Cap Delisle de la Croyere, nach den Angaben, die er bei Durchsicht seiner Tagebücher an Fr. Schmidt machte‘), «hinter» dem genannten grossen Felscap, das bei den Giljaken den Namen Harpach trägt”). Jedenfalls liegt also die Südgrenze des giljakischen Gebietes an der Ostküste Sachalin’s nahe vom Cap Delisle de la Croyere, d. i. 1) L. c. p. 124. Auch in Middendorff’s vorläufigem Reisebericht (Bull. de la cl. phys.-math. de l’Acad. des sc. T. IV, p. 233; desgl. Beitr. zur Kenntn. des Russ. Reichs, herausgeg. von Baer u. Helmersen, Bd. IX, 2. Abthl. p- 615, 616) wird der am Ulban-Flusse, auf der Sseg- neka-Halbinsel und an der Tugur-Mündung von ihm an- getroffenen Giljaken erwähnt. 2) Vrgl. I. Tuxmeuses%, Mcrop. 0603p.- 06pa3oR. Pocc.-amepnkaner. Komnanin, C. Herepöyprz, 1863, 4. II, erp. 64. 3) Vrgl. die Karte zum I. Bande dieses Werkes. Die von Schebunin nach den Materialien der Sibirischen Expedition der Kais. Russ. Geographischen Gesellschaft entworfene Karte setzt noch einige Ortsnamen zwischen dieselben. Vielleicht ist also die Zahl dieser Giljaken- Dörfer grösser, als mir angegeben worden, vielleicht aber beziehen sich die hinzugefügten Namen auch nur auf die zu den genannten Winterdörfern gehörigen Sommerwoh- nungen der Giljaken, oder auch auf Nachtlagerplätze und anderweitige ähnliche Localitäten. 4) «Tscham-wo», wie Lopatin das Dorf nennt, oder «Tschamr-wo», wie ich es gehört habe und für richtiger halte, heisst im Giljakischen so viel wie «Adlerdorf». Der Lesart «Tschamg-wo», wie auf der Schebunin’schen Karte von Sachalin angegeben, kann ich nicht beistimmen, 5) Hasberia Unn. Pycer. Teorp. Oöm., T. V, 1869, Or- Abıe II, crp. 308, 311. 6) Petermann’s Geogr. Mittheil. 1870, p. 337. 7) Schmidt giebt den giljakischen Namen des Caps Delisle de la Croyere nach Lopatin «Harpa» an. Dass die Endung nicht «pa», sondern «pach» lautet, unterliegt kei- nem Zweifel, da diese sich in den giljakischen Ortsnamen oft wiederholt und so viel wie «Fels» oder «Stein» bedeu- tet. Ich vermuthe aber, dass auch die erste Silbe nicht ganz richtig wiedergegeben ist und dass das Cap nicht «Harpa», sondern «Tschcharpach», d. i. «Holz»- oder «Waldfels» lautet — ein Name, der auch an der Amur- Mündung wiederkehrt. Giljaken. Verbreitungsgebiet, Ineinandergreifen mit den Nachbargebieten. 15 etwa im 51° n. Br., oder um einen Grad nördlicher als an der Westküste der Insel'). Ausser den beiden Küsten ist endlich auch das Innere Sachalin’s von Giljaken bewohnt, und zwar ist es der ansehnliche, fischreiche Tymy-Fluss, an welchem bis zu seinen Quellen hinauf eine verhält- nissmässig dichte giljakische Bevölkerung sitzt. Damit schneidet aber das Gebiet der Giljaken auch ab, denn südwärts an dem vielleicht noch ansehnlicheren Ty-Flusse, wie er bei den Gil- jaken, oder Poro-nai, wie er bei den Aino heisst”), giebt es eine ständige Bevölkerung erst im unteren Laufe und an der Mündung, und diese Bevölkerung ist, bis auf einzelne versprengte Glieder, nicht mehr giljakisch. Ueberbliekt man das gesammte Verbreitungsgebiet der Giljaken, so findet man, dass es zu- meist längs dem Meere, dem Ochotskischen, Nordjapanischen, dem Amur-Liman, und alsdann auch längs zwei grossen Flüssen, dem Amur auf dem Festlande und dem Tymy auf Sachalin, sich erstreekt — ein Umstand, der schon darauf hindeutet, welche Rolle Meer und Fluss im Leben und Haushalt dieses Volkes spielen. Zugleich haben die Giljaken, bei solcher Lage und Begrenzung ihres Verbreitungsgebietes, nach Norden und Osten und also in einem geraumen, ja im grössten Theile desselben keine Nachbaren, sondern nur welche im Westen und Süden. Hier aber stossen sie unmittelbar mit vielen der Amur-Völker zusammen, so mit den Rennthier- tungusen vom Öchotskischen Meere und vom Stanowoi-Gebirge, mit den Negda, Oltscha und Orotschen auf dem Festlande und mit den Oroken und Aino auf Sachalin. Diese Mo- mente zusammen genommen verleihen den Giljaken einerseits eine isolirtere Stellung unter den Amur-Völkern und grössere Selbständigkeit, andererseits machen sie dieselben zum natür- lichen Verbindungsgliede zwischen den Völkern des Festlandes und der Insel Sachalin, auch die respectiven Culturvölker beider Gebiete, die Chinesen und Japaner, nicht ausgenommen. So scharf dabei die Giljaken durch ihre eigenartige Sprache von allen Amur-Völkern ge- schieden sind, so findet an jenen Grenzen mit ihren oben erwähnten Nachbaren doch ein mehrfaches gegenseitiges Ineinandergreifen der respectiven Verbreitungsgebiete statt. Dass am Tugur- und Ulban-Busen gleichzeitig mit den Giljaken auch Tungusen ihrem Erwerbe nachgehen und neben den giljakischen Jurten ihre leicht transportablen Birkenzelte aufrichten, ist oben schon erwähnt worden °). Ja, sie streifen längs dem Ochotskischen Meere weit nach Osten, selbst in das beständig von den Giljaken bewohnte Gebiet hinein; sah ich doch selbst im Winter 1856 ihre konischen Zeltgerüste noch östlich von Kulj stehen. Dahin, zum Tugur- und Ulban-Busen, sollen alljährlich des Robbenschlags wegen auch manche Negda vom Amgunj ziehen *). An den Seen Orell und 1) Die oben erwähnten Dörfer und zumal das letzte derselben, Tschamr-wo, werden daher etwas mehr nach Sü- den, als auf meiner ersten Karte angegeben, zu rücken sein. 2) D. i. «grosser Fluss». Es ist die «Newa» von Kru- senstern (Reise um die Welt, St. Petersburg, 1811, Bd. II p- 95). Auf Schebunin’s oben erwähnter Karte, wie in Glehn’s Reisebericht von der Insel Sachalin (Beitr. zur Kenntn. der Russ. Reichs, herausgeg. von Baer u. Hel- mersen, Bd. XXV,p. 205, 235 fl.) heisst dieser Fluss auch Plyi — ein Name, der nach Glehn ebenfalls giljakisch ist. 3) Poplonskij (l. c.) fand im Konstantinovschen Hafen in der Ulban-Bucht ebenfalls Tungusen an. 4) Bomuaxrs, Iren. 86 Ipu-Anyper. xpab (Moper. C6opunks, 1859, N 2, U. neor., crp. 332). Fr. Schmidt, Histor. Ber. über den Verlauf der physikal. Abtheil. der Sibir. Expedition der Kais. Russ. Geogr. Ges. in den Jahren 1859—1862 (Beiträge zur Kenntn, des Russ. Reichs, her- ausgeg. von Baer u. Helmersen, Bd. XXV, p. 148), 16 Die Völker des Amur -Landes. Tschlja, sowie an dem sie verbindenden Flussarme wohnen die Negda beständig, obgleich an dem letzteren auch ein giljakisches Dorf, Tschlja, liegt. Diese Nachrichten, die ich von einem zuverlässigen, mir sehr ergebenen Giljaken (Judin in Tebach) erhielt‘), fanden durch spätere Reisende, Schenurin?), Schmidt?), ihre Bestätigung. Uebrigens nennt schon Middendorff auf einer zum Theil nach chinesischen Angaben gearbeiteten, unedirt gebliebenen Karte («Erster Versuch einer hydrographischen Karte des Stanowoi-Gebirges und seiner Ausläufer, zwischen dem 45. und 62. Grade nördl. Br.») den Orell-See «Negda-See». Tiefer noch als die Negda sind in das Gebiet der Giljaken ihre Amur-Nachbaren, die Oltscha, vorgedrungen. Beginnen auch jene, wie oben erwähnt, mit dem Dorfe Chjare, so liegen doch weit nördlicher von diesem, am rechten Stromufer, von rein giljakischen Dörfern umgeben, zwei Orte, Tschylwi und Tyr, die nur von Oltscha bewohnt werden, jenes mit sechs, dieses mit zwei Winterjurten. Ja, noch weiter nördlich, am selben Ufer, befindet sich der nur aus einer Winterjurte nebst Zubehör bestehende Ort Kaberazbach, in welchem zur Zeit meiner Reise als einziger Wirth einOltscha schaltete, der eine Giljakin zum Weibe hatte. Umgekehrt stösst man auch tief im Oltscha-Gebiet auf einzelne beständige Giljaken-Sitze. So fand ich von den sechs Winterjurten, welche das nur wenig nördlich von Kidsi gelegene Dorf Aure bilden, drei in langjährigem Besitze von Giljaken. Hier wie da hielten diese versprengten Glieder eines fremden Volkes an ihrer respectiven Muttersprache und heimischen Sitte nach Möglichkeit fest. Anders als am Amur verhält es sich am Liman und an der Küste des Nordjapanischen Meeres, indem dort auf dem Festlande zwischen dem Giljaken- und dem Orotschen-Gebiet eine ansehn- liche Strecke unbewohnten Landes liegt, welche — aus Gründen, die wir später berühren wollen — die beiderseitigen Völker scharf auseimanderhält. Auf Sachalin, den Aino und Oroken gegenüber, wiederholt sich aber, und zum Theil in noch höherem Grade, dasselbe was wir am Amur und am Ochotskischen Meere kennen gelernt haben. An der Westküste der Insel mischen sich den Giljaken, noch ehe sie ihre Südgrenze erreicht haben, einige ständige Aino-Familien bei. So sollten, wie mir die Giljaken inArkai sagten, von den Dörfern, die südlich von Dui liegen, Adngi noch rein giljakisch sein, Kthöus zwei giljakische und eine Aino-Jurte enthalten, Chogranj wiederum nur von Gi- ljaken und Pilja-wo endlich halb von Giljaken und halb von Aino bewohnt sein‘). Der letztere 4) Nach Judin’s Angabe heisst der Orell-See bei den Giljaken Kend-tu («tu» bedeutet «See»), der Tschlja- See And-tu. An jenem liegen die Dörfer Pfyrpi-wo und Kuldsh, an diesem Tschomokr und Tschlja, an dem Fluss- arm, welcher beide Seen verbindet, das Dorf Kesf (das «s» weich) — sämmtlich Negda-Dörfer, mit Ausnahme von Tschlja. 2) Schenurin traf an der Ost- wie an der Westseite des Orell-Sees Jurten von Negda oder Nigidalzen. S. dessen Tagebuch, das veröffentlicht ist in dem Artikel: «O HOBOMB NyTu 136 Huko.saesck. NOCTA, YTO HA. Anypt, »% Yackiii Ocrpors», in den 3an. Cu6. OrA. Unn. Pycer. Teorp. Oöin., Ku, III, 1857, Cmb&c», erp. 11. 3) Histor. Ber. etc. l. c. p. 148. Schmidt führt nur das Negda-Dorf Nemorchon an dem die beiden Seen Orell und Tschlja verbindenden Flussarme an (l. c. p. 142). Dieser Name ist vermuthlich negdaisch, jedenfalls nicht giljakisch. 4) Auch Schmidt traf in Ktheus, das übrigens zu der Zeit nur aus zwei ärmlichen Jurten bestand, von Nor- den kommend, die ersten Aino. Chogranj nennt er eben- falls eine Aino-Ansiedelung (Histor. Ber. etc. l. c. p. 65, 66). Mit der Lesart der Namen für die oben erwähnten Orte, «Ktausiv, «Chokkoran» und «Pil-wo», auf Sche- bunin’s Karte kann ich jedoch wiederum nicht überein- stimmen. Giljaken. Ineinandergreifen der Nachbargebiete. — Aino. Verbreitungsgebiet. 17 Ort trägt denn auch bei den Aino die mit seinem giljakischen Namen «Pilja-wo», d. i. «grosses Dorf», gleichbedeutende Bezeichnung «Poro-kotan»!). Ueber diesen Ort hinaus ist die Küste eine weite Strecke lang unbewohnt und wird von den Giljaken nur zeitweise des Erwerbes wegen besucht. So traf z. B. Schmidt am Flusse Aroko-nai, zwischen den Caps Tribis und Tunai, einen Giljaken, der bei Otta-endu dem Robbenfange obgelegen hatte?). Auch kommt es bis- weilen vor, dass Giljaken auf ihren Handelsreisen nach Ssiranussi, an der Südspitze Sachalin’s, irgendwo zu überwintern genöthigt sind, wobei sie leicht für beständige Bewohner des Ortes gehalten werden können. — Complicirter als an der Westküste sind die Grenzverhältnisse an der Ostküste Sachalin’s, indem dort drei Völker, Giljaken, Aino und Oroken, aneinanderstossen?). Zwar bricht, wie wir oben sahen, das Gebiet der ersteren an der Küste mit dem Dorfe Tschamr- wo und im Innern an den Tymy-Quellen ab, nichtsdestoweniger trifft man noch am Golfe der Geduld, nahe der Ausmündung eines Küstensees in das Meer, eine Giljaken-Jurte, Ssiska, deren Bewohner Schmidt kennen lernte ®). An demselben See liegt eine Oroken-Ansiedelung, Tschogbo, nördlicher eine zweite, Taran-kotan, und noch nördlicher, am Taraika-See, neben mehreren Oroken-Ansiedelungen das grosse Aino-Dorf Taraika°). So greifen hier die Wohnsitze dieser drei Völker in einander. Noch verwickelter werden aber diese Verhältnisse dadurch, dass die Oroken nicht bloss hier zwischen die Giljaken und Aino sich einschieben, sondern auch im Norden der Insel, wo unzweifelhaft giljakisches Gebiet sich erstreckt, tief in dasselbe eingedrungen sind und es in regelmässigen Wanderzügen weithin durchstreifen. Wir werden diese Verhältnisse bei Betrachtung des Verbreitungsgebietes der Oroken näher kennen lernen. Wie die Giljaken den äussersten Nordosten, so haben die Aino den äussersten Südosten des Amur-Landes in seiner oben bezeichneten Begrenzung inne, und wie jenen die Nordhälfte, so 4)Auch Rudanofskij (Bocrouuoe IIomoppe, 1866, cTp. 96) nennt Poro-kotan oder (giljakisch)«Pile-wo», von Süden gegangen, das ersteDorf der Giljaken. Er giebt ihm zehn Jurten. Mir nannten die Giljaken nur drei, was jene Be- zeichnung des Ortes etwas unmotivirt erscheinen liess. Nach Schmidt (l. c. p. 67) soll es aber in der That früher ein grosses Dorf gewesen sein, zu seiner Zeit: jedoch nur noch drei ärmliche Jurten enthalten haben. Die Angabe Mizul’s (Oyepk® ocıp. Caxaauma BB CEABCKOXO3AÜCTB. oruom, C. Herepöypr» 1873, erp. 129), dass es nördlich von Pilja-wo (Poro-kotan) keine Aino mehr gebe, ist also nach dem Obigen nicht ganz richtig. 2) Schmidt, Hist. Ber. etc. 1. c. p. 71. 3) Siehe meinen Reiseber. im Bull. de la cl. physico- mathem. de l’Acad. Imp. des sc. de St. Petersb. T. XV, p- 171; Mel. phys. et chim. tires du Bull. T. II, p. 11. ? 4) Histor. Ber. etc. 1. c. p. 113. 5) Schmidt, 1. c. p. 89, 113, 116. Bickmore (The Schrenck's Amur-Reise, Band III, Ainos or hairy men of Jesso, Saghalien and the Kurile Is- lands. — Amer. Journ. of Science, May 1868, p. 13) hält da- für, dass es auch Aino an der Nordspitze von Sachalin, zwischen den Caps Elisabeth und Maria giebt, und sieht sogar darin einen Beweis, dass die Aino die ursprüng- lichen Bewohner der Insel, die Giljaken und Oroken (bei ihm «Orotschi») hingegen später eingewandert seien. Allein diese Angabe steht ganz isolirt da und beruht offen- bar nur auf irrthümlicher Deutung russischer Berichte über die Zahl der Aino-Dörfer auf Sachalin, indem er die an der «Ochotskischen Küste» verzeichneten Dörfer dahin versetzen zu müssen glaubte, statt sie an der Ost- küste Sachalin’s zu suchen. Wie ihm dabei die grosse Zahl dieser Dörfer (22) einer solchen Deutung nicht hinderlich erschien, ist unbegreiflich, zumal in demselben Bericht (R u- danofskij’s) die Gesammtzahl der Aino-Dörfer auf der stärker bevölkerten Westküste Sachalin’s auf 35 ange- geben wird, 3 18 Die Völker des Amur-Landes. gehört diesen die Südhälfte der InselSachalin. Ausserdem aber bilden sie bekanntlich das indigeneVolk von Jesso und der Kurilischen Inseln, da die sogenannten Kurilen nur Aino mit zum Theil dialektisch verschiedener Sprache sind. Die auf Sachalin am weitesten nordwärts gelegenen, an der Westküste bis in das giljakische Gebiet vorgeschobenen Wohnsitze der Aino haben wir oben bereits kennen gelernt. Desgleichen ist der unbewohnten Küstenstrecke Erwähnung gethan, die sich von Porokotan sitrdwärts hinzieht. Mit dem 49. Grade nördl. Breite hat sie ihr Ende, und alsdann beginnt der aus- schliesslich von Aino bewohnte Theil der Insel. So bildet im Westen von Sachalin jene öde Küsten- strecke die eigentliche Grenze zwischen den Aino und Giljaken, und es hat oflenbar besonderer, übrigens nahe liegender Gründe, von denen später die Rede sein wird, bedurft, um manche Individuen des ersteren Volkes diese Grenze nordwärts, in das fremde Gebiet hinein überschreiten zu lassen. Das Dorf Orokes, an der gleichnamigen kleinen Bai und zugleich in der Nähe der Bai d’Estaing gelegen, ist, von Norden gegangen, das erste im eigentlichen Aino-Gebiet'). An der Ostküste fängt dieses, wenn man von dem oben erwähnten, durch Oroken-Ansiedelungen ge- trennten Dorfe Taraika absieht, auch nur wenig nördlicher, etwa mit Naioro an. Genau ge- nommen, haben also die Aino nicht die ganze südliche Hälfte, sondern nur etwas über ein Drittel der Insel inne. In diesem bewohnen sie übrigens nicht bloss die Meeresküsten, sondern in geringer Anzahl auch das Innere der Insel, längs manchem ihrer grösseren Flüsse?). Die echte Aino-Insel, mit der dichtesten Bevölkerung dieses Stammes, ist aber Jesso, von welchem sich die Aino nicht bloss nordwärts nach Sachalin, sondern auch nordostwärts über die Kurilen ver- breitet haben. Ihr Gebiet erstreckt sich fast über die ganze Inselkette der Kurilen, bis nach Poromuschir oder der sogenannten «zweiten Insel», welche sie noch vor Ankunft der Russen in Kamtschatka eingenommen haben. Die Insel Schumsehu hingegen, die letzte nach Norden oder die erste von Kamtschatka aus, hat ihre Bevölkerung zunächst von dieser Halbinsel erhalten, dureh Kamtschadalen oder Itälmenen, die vor den Russen flohen und später mit herübergekom- menen Aino (Kurilen) sich vermischten®). Dass die Aino ehemals auch Nippon bewohnten, wird später noch erwähnt werden. Sc umfasst das Verbreitungsgebiet der Aino durchweg nur Inseln am Ostrande Asiens; Festlands-Aino, von denen nach Klaproth's Vorgange öfter die Rede gewesen, giebt es gar nicht. Doch darauf kommen wir unten noch ausführlicher zurück. 1) Nach Rudanofskij (Bocr. IIomoppe, 1866, crp. 95). Brylkin (Herma ce» Caxa.ı. — 3an. Cu6. Ora. Unn. Pycer. Veorp. O6ım., T. VII, Upskyrers 1864, erp. 14) giebt «Us- suri» als nördlichstes ausschliesslich von Aino bewohntes Dorf an, doch vermuthe ich in diesem Namen einen Druck- fehler für «Urussi». Auf Schebunin’s Karte ist gleich südlich von Orokes ein Dorf «Urotzi» angegeben. Dieses wird wohl gemeint sein. 2) Rudanofskij, I. c. Asryerunosuys, shusus pyccek. m mmopoAu. na ocrp. Caxaaımb, Cu6. 1874, erp. 39. 3) RpamenununuroB», Onuc. zemau Kamyarkı (1lo.ın. coöp. JueH, nyTem, no Poceiu, T. I, C. Herepö. 1818, crp. 143, 145). Steller, Beschr. von dem Lande Kamtschatka, herausgeg. von J. B. S. Frankf. u. Leipzig 1774, pag. 7. Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. III, St. Petersb. 1758, p- 79, 81. Schlözer, Allgem. Nord. Gesch. Halle 1771, p- 433, 434. Neue Beschr. d. Kurilischen Inseln (nach den Nachrichten vonTschernyi,Antipinu.Otscheredin) in Pallas’ Neuen Nord. Beytr. Bd.1V, 1783, p. 117. Sie- bold, Aardrijks- en volkenk. toelicht. tot de ontdekk. van Maert. Gerritsz. Vries, Amsterdam 1858, p. 117. A. Ho- ıoHuckiii, Rypması (3am. Hann, Pycer. Teorp. O6m. Io orab.ıa. Iruorp. T. IV, Cn6. 1871, cerp. 374, 375, 421, 423). Oroken. Verbreitungsgebiet. 19 Zwischen die beiden erwähnten Völker, Giljaken und Aino, schiebt sich auf Sachalin ein drittes Volk, die Oroken, ein. Während jene sesshafte Fischervölker sind, führen diese zum Theil ein halbnomadisches Leben, indem sie zu gewissen Jahreszeiten mit ihren Rennthieren regelmässige Wanderungen ausführen. Das macht eine genaue Abgrenzung ihres Verbreitungs- gebietes noch schwieriger. Feste oder wenigstens halbwegs feste Wohnsitze haben sie nur an der Ostküste von Sachalin, die Westküste hingegen berühren sie nur auf ihren Zügen. Der nörd- lichste Oroken-Sitz, von dem ich Kenntniss erhielt, und zugleich einer ihrer Hauptsitze ist Käkr- wo, wie es die Giljaken nennen. Die Angaben der letzteren über diesen Ort lauteten jedoch so verschieden, dass ich über die Lage desselben ungewiss blieb: bald sollte er nur eine Tagereise nordwärts vom giljakischen Dorfe Nyi, bald eben so weit von dem viel nördlicher gelegenen, ebenfalls giljakischen Dorfe Tschai-wo entfernt sein. Glehn, der den Norden Sachalin’s bereist hat, giebt die Lage von Käkr-wo in 52°58’n. Br. an!), und ebenso ist dieser Ort auch auf Sche- bunin’s Karte von Sachalin, die in diesem ihrem Theile auf Glehn’s Angaben beruht, eingetragen. Es liegt also der nördlichste Oroken-Sitz — denn auch Glehn kennt keinen nördlicheren — genau am CapWürst und also tief im giljakischen Gebiete, ja fast genau in derMitte des gesammten Antheils, den die Giljaken an der Ostküste von Sachalin haben. Weniger weit sind die südlichsten Wohnsitze der Oroken in das ihnen benachbarte Aino-Gebiet vorgeschoben. Wir haben diese südlichsten Orok@h-Sitze oben bereits kennen gelernt: sie liegen am Golfe der Geduld und an den Küsten- seen, welche die Mündungsarme des Ty-Flusses oder Poro-nai der Aino begleiten. Der südlichste -von allen ist wohl Tschogbo am Ssiska-Fluss und See?). Bemerkenswerth ist es, dass an den er- wähnten Grenzen des Verbreitungsgebietes der Oroken auch ihre einzigen oder zum wenigsten weit- aus zahlreichsten einigermaassen festen Niederlassungen liegen, während der ganze weite Zwischen- raum von ihnen nur durchwandert wird. Namentlich hat auch die Ostküste Sachalin’s nördlich vom Cap der Geduld keine Oro ken-Niederlassungen. Schmidt wurden zwar drei Orte der Art genannt, die auch auf der seinen Bericht begleitenden Karte von Schebunin angegeben sind°), 4) P. v. Glehn, Reisebericht von der Insel Sachalin | dieOroken (bei ihm «Orotschonen») über den ganzen (Beiträge zur Kenntn. des Russ. Reichs, herausgeg. von Baer u. Helmersen, Bd. XXV, p. 231). Mithin war die Angabe der Giljaken, dass es eine Tagereise von Tschai- wo nordwärts entfernt sei, die richtige, und giebt die Karte zum ersten Bande meiner Reise die Lage dieses Ortes um etwa ®/, Grad zu sehr nach Süden an. Glehn u.Schmidt schreiben den Ort «Keäkr-wo». Ersterer nennt dabei die Oroken in seinem Reisebericht durchweg «Ol- tscha». Mit welchem Rechte, werden wir später sehen. 2) S. oben p. 17; desgl. Schebunin’s Karte von Sa- chalin. Der Admiral Newelskoi führt zwar in seinen erst nach seinem Tode erschienenen Berichten über die Thä- tigkeit der sogenannten Amur-Expedition, welcher ernoch im Range eines Capitains vorstand und welche zuerst Sa- ehalin und einen Theil des unteren Amur-Landes bereiste und für Russland in Besitz nahm, wiederholentlich an, dass Süden Sachalin’s bis nach der Bai Aniwa verbreitet seien und mit den Aino durch einander wohnten, ja dass sich diese Völker sogar völlig mit einander vermischt hätten (vrgl. Hoasuru pyeck. MOpck. OPunep. ma kpaün. BOCT. Pocein, 1849—55 r. IIpu-anyper. ı npn-yceypiiickiüi kpaii. IHocuepru. zarı. Aıunpaaa Heze.aseraro. N3A. cynpyromw mokoün. E. U. H. noA% peaarı. B. Baxruma. C. Herepo. 1878, erp. 275, 293, 295, 301, 305 u np.), allein diese Angaben sind nicht zuverlässig, da die Herren — aus Grün- den, die wir später berühren werden — überall auf Süd- sachalin Oroken sahen und sehen wollten. Auch sind dieselben von den späteren Reisenden nicht bestätigt worden. 3) Diese drei Orte, wie sie ein Aino ihm nannte, sind: ı Taoko-nai, Tsea-moki und Unu am Flusse Ura-nai oder Nu- ri-nai, von denen der letztere sogar ein Hauptsammelplatz 3* 30 Die Völker des Amur-Landes. allein Lopatin fand, wie bereits erwähnt, diese Küste bis zum giljakischen Dorfe Tschamr-wo völlig unbewohnt, was auch mit den Nachrichten übereinstimmt, die ich von Sachalin-Giljaken erhielt '). Bisweilen mag sie ja wohl von umherstreifenden Jägern besucht werden, wie denn auch Lopatin, «orokischen Jagdpfaden folgend»), an dieselbe gelangte, allein auch die regel- mässigen Wanderungen der Oroken zwischen Käkr-wo und den Ortschaften am Golfe der Geduld finden nicht längs dieser Küste, sondern durch das Innere der Insel, längs dem Laufe ihrer beiden grössten Flüsse, des Tymy und Ty oder Poro-nai, statt. In diesen Richtungen führen die Oroken auch ihre allwinterlichen Wanderungen von der Ostküste Sachalin’s nach der Westküste und auf das Festland aus. Längs dem Ty-Flusse durchwandern sie dabei ein weites, ebenes, unbewohntes Land, in welchem sich nur ein paar, vielleicht auch nur zeitweise bewohnte Oroke.n-Jurten befinden?). Anders am Tymy-Flusse, dieser Hauptader des giljakischen Verbreitungs- gebietes auf Sachalin. Hier folgen die Oroken, von Käkr-wo und den anderen Ortschaften an der Ostküste kommend, dem Gebirge, welches das Tymy-Thal im Westen säumt, bis nahe zu den Quellen dieses Flusses, wo sie bei Mgatsch oder Arkai zur Westküste der Insel hinabsteigen. An der Meeresküste ziehen sie nordwärts bis zum Amur-Liman, den sie in der Richtung nach Tschomi durchschneiden und von dort nordwärts bis zum Tymy-Flüsschen‘) verfolgen, um alsdann längs diesem das niedrige, waldreiche Langgysk- oder Adara-Gebirge°) zu überschreiten und am kleinen Chaselach-Flusse in's Amur-Thal hinabzusteigen. Dort bleiben sie in der Nähe des Oltscha-Dorfes Pulu oder Pulj stehen, um nach einiger Zeit dieselbe Wanderung wieder zurück zu machen. Wir werden die Ziele und Zwecke dieser allwinterlichen Wanderungen der Oroken später ausführlicher besprechen, hier genüge die Bemerkung, dass sie die Oroken durch das Gebiet der ihnen fremden Giljaken hindurch nach den Wohnsitzen des ihnen zu- nächst verwandten Volkes, der Oltscha am Amur, führen. Sie zeigen uns vielleicht noch jetzt den Weg an, auf welchem in früherer, nicht näher bestimmbarer Zeit die erste Einwanderung der Oroken nach Sachalin stattfand. Durch diese Einwanderung erhielt die Insel einen Zweig des grossen, auf dem Festlande weit ausgebreiteten, echt continentalen Tungusen-Stammes, was ihr in ethnographischer Beziehung gewissermaassen einen halbinsularen Charakter verleiht. Bemerkenswerth ist dabei auch, dass dieses einzige tungusische Volk auf Sachalin gerade den der Oroken sein sollte (Schmidt, Histor. Ber. 1. c. p. 116). Auf der betreffenden Karte sind die beiden ersteren und sogar recht bevölkert sei. 2) Schmidt, in Petermann’s Geogr. Mitthl. 1870, Orte etwas abweichend, nämlich Ssaoko-nai und Tschoa- moki genannt. Man hört es diesen Namen in der That an, dass sie von Ain o-Ursprung sind. Orokisch mögen sie, wie Schmidt bemerkt, anders lauten. «Unu» wurde ihm z.B. von einem Oroken «Uny» genannt. Vermuthlich sind es nicht Niederlassungen, sondern sonstigeLocalitäten, Flüsse, Vorgebirge, Zeltstellen, Nachtlagerplätze u. dgl.m., die oft eine besondere Bezeichnung bei den Eingebörenen haben. 1) S. oben p. 14. Ganz irrig aber ist nach all’ dem Ge- sagten die Angabe Brylkin’s (Ilucrna c» Caxa.aııma.— 3arı. Cuö. Ora. Unn. Pycer. Teorp. Oöm. T. VII, crp. 24), dass die Küste von Taraika bis Nyi von Oroken bewohnt p- 337. 3) Nach Glehn (Reiseber. etc. 1. c. p. 238), der diese Gegend bereist und ausführlich beschrieben hat, liegen dort am Plyi- (oder Ty-) Flusse nur die zwei Oroken- (bei ihm «Oltscha»-) Jurten Chuie und etwas oberhalb die Jurte Muika. Schmidt (Histor. Bericht etc. 1. c. p. 118) nennt den letzteren Ort Myge, was Glehn für die gi- ljakische Bezeichnung desselben hält. 4) Nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Flusse auf Sachalin. 5) Ersteres ist die giljakische, Letzteres die oltschaische Bezeichnung für dieses Gebirge. Ethnographisches Gesammtbild Sachalin’s. — Orotschen. Verbreitungsgebiet. 21 Theil der Insel bewohnt und durchwandert, welcher durch seine grösste Breitenausdehnung, die ansehnlichste Flussentwickelung und gewiss auch nach seinen klimatischenVerhältnissen am meisten continentale Züge an sich trägt. Eine selbständige, eigene, ihnen allein gehörige Heimath haben jedoch die Oroken auf Sachalin nicht gewonnen; vielmehr lehnt sich dieselbe, ‘wie wir sahen, in eigenthümlicher Weise an die Grenzgebiete der Giljaken und Aino an. Wir werden auf diese Thatsachen später noch zurückkommen und alsdann auch Einiges zur Erklärung derselben an- führen, sowie auch auf manche analoge Erscheinungen im Osten Sibirien’s hinweisen. Fassen wir nun das ethnographische Bild Sachalin’s zusammen, so sind es, von den Ja- panern und Russen abgesehen, drei Völker ganz verschiedenen Stammes, Giljaken, Aino und Oroken, die sich in der oben angegebenen, sehr ungleichen Weise in den Besitz dieser Insel getheilt haben. Bei der zwar ansehnlichen Längen-, aber nur sehr geringen Breitenaus- dehnung der Insel gewiss eine reiche ethnographische Gliederung! Durch die Giljaken schliesst sich die Insel an die Küsten des Ochotskischen Meeres und die Mündung des Amur-Stromes, durch die Oroken an das übrige Amur-Land mit seiner tungusischen Bevölkerung und durch die Aino endlich an Jesso, die Kurilen und Japan an). Kehren wir von der Insel Sachalin wieder auf das Festland zurück und gehen wir auch dort von den uns schon bekannten Grenzen des Giljaken-Gebietes nach Süden, so stossen wir zunächst der Meeresküste auf das Verbreitungsgebiet der Orotschen. In weiter Ausdehnung umfasst dieses die gesammte Festlandsküste am Nordjapanischen Meere, das Küstengebirge (Ssiehota-alin), den oberen Lauf der aus diesem Gebirge zum unteren Amur und zum Ussuri laufenden Flüsse und die Quellen dieses letzteren Stromes. An der Meeresküste schliesst sich jedoch das Gebiet der Orotschen nicht unmittelbar an dasjenige der Giljaken an, sondern es bleibt zwischen beiden eine weite Strecke unbewohnten Landes liegen, indem der letzte, südlichste Ort der Giljaken Tsehomi am Liman, der erste, nördlichste Punkt der Orotschen aber Nangmar oder die Bai de Castries ist. Zwischen beiden und nur wenig nördlich von der letztgenannten Bai liegt die alte Verkehrsstrasse der Oltscha, Golde und mitunter wohl auch der Giljaken zum Meere, die vom Kidsi-See nach der Bai Taba führt und, gewissermaassen als international betrachtet, vielleicht eine Grenze gegenseitiger Völkerverbreitung abgegeben hat. Uebrigens ist die Orotschen-Bevölkerung an der Meeresküste auch nur eine so sparsame, dass zu einem Vordringen derselben nordwärts über die Bai de Castries hinaus kein Grund vorliegen dürfte. Die Liman-Giljaken aber ihrerseits würden sich bei einer Verbreitung längs der Festlands- küste nach Süden nur mehr und mehr von der Insel Sachalin entfernen, mit deren Bevölkerung sie durch theilweise Stammgemeinschaft wie durch vielfache Handelsinteressen in natürlicher und beständiger Verbindung stehen. So findet hier bezüglich der Giljaken kein Ineinander- 1) Siehe meinen Reisebericht im Bulletin de la classe | sciences, T. XIV, pag. 186; Melanges phys. et chim. T. II, physico- mathematique de l’Academie Imperiale des | pag. 449. 22 Die Völker des Amur-Landes. greifen der beiderseitigen Völkergrenzen statt'). Anders verhält es sich mit den Oltscha: diesen bietet der See von Kidsi eine natürliche Strasse zum Meere, an welchem dann südlich von Taba die Bai de Castries die erste tiefere und geschütztere Bucht ist. Neben den Orotschen haben daher auch sie ihren beständigen Wohnsitz in derselben. Nannten wir vorhin die Orotschen-Bevölkerung an der Meeresküste eine sparsame, so wäre es doch völlig irrthümlich, wollte man die Bai de Castries, wo wir die Orotschen schon seit La Perouse und sogar unter diesem ihrem Namen kennen°), nur für einen ganz ver- einzelten, weit nordwärts vorgeschobenen Orotschen-Sitz, die weitere Küste aber bis zu dem Kaiserhafen oder der Bai Hadshi, wie es noch ganz neuerdings geschehen, für gänzlich unbe- wohnt halten®). Von vielbewanderten Oltscha ist mir vielmehr zu wiederholten Malen eine Anzahl Ortschaften genannt worden, die in geringen Entfernungen, von zwei, drei Tagereisen, von einander an der betreflenden Küste liegen und von denen manche, wie z. B. Choi, zahlreiche Orotschen-Zelte enthalten sollen. Ich habe die meisten derselben auf der Karte zum ersten Bande dieses Werkes angegeben *), wenn schon manche von ihnen vielleicht auch nur beliebte Nacht- oder vorübergehende Zeltlagerplätze sein dürften. Von anderen lauteten die Angaben bestimmt dahin, dass es nur im Sommer des Fischfangs wegen von den Orotschen bewohnte Orte seien; so z.B. das zunächst nach Süden von de Castries gelegene, aus drei Jurten bestehende Dorf Du, dessen Bewohner zum Winter an den zum Kidsi-See mündenden Fluss Jai ziehen. So viel über die Nordgrenze der Orotschen an der Meeresküste. Die Südgrenze ihres Ge- 1) Ganz falsch und einer, wie wir sehen werden, häufig wiederkehrenden Verwechselung zuzuschreiben ist dieAn- gabe Dm. Romanof’s (IpncoeAumenie Amypa. — Pyccekoe C.ı020, 1859, Asr., Ora. I, erp. 131, 135), Bickmore’s (The Ainos or hairy men of Jesso, Saghalien and the Ku- rile Isl.— Amer. Journ. of Science, May, 1868, p. 14) u. A., dass die Bai de Castries von Giljaken bewohnt sei — demselben Volke, wie Letzterer meint, das auch Rollin (in La Perouse’s Reise) von dort beschrieben habe. 2) La Perouse, Voyage aulour du monde, red. par Millet-Mureau, Paris, an V (1797), T. IH, p. 62 et suiv. 3) So lautet namentlich die Angabe des Oberstlieut. Bolschef, Chef der im Jahre 1874 längs dieser Meeres- küste zwischen den Baien Olga und de Castries zur topo- graphischen und astronomischen Aufnahme ausgeführten Expedition. (Siehe das Referat über den in der Kais. Russ. Geogr.Gesellschaft von ihm verlesenen Bericht in der St.Pe- tersb. Zeitung, 1876, N: 100, und in den €. Herepo. Bb10- mocru, 1876 r., \: 104). Weiterhin, im Kaiserhafen und süd- licher, soll übrigens die Bevölkerung nach Bolschef aus Orotschen und Giljaken bestehen, von welchen letzteren hier doch nicht im Entferntesten die Rede sein kann. Dieselbe Verwechselung begeht auch Tronson, indem er die Eingeborenen der Bai Barracouta (Hadshi) durchweg Giljaken nennt und ihr Wohngebiet von dort bis nach Ajan und der Nordwestspitze von Sachalin rei- chen lässt; ja, er giebt sogar ein Verzeichniss «giljaki- scher» Wörter, welche jedoch natürlich nicht der giljaki- schen, sondern der Orotschen-Sprache entnommen sind, (Tronson, Person. Narrat. of a Voyage to Japan, Kam- tschatka, Siberia, Tartary and var. parts of coast of China, in H. M. S. Barracouta, London 1859, p. 268, 325 etc.). 4) Aus meinen Tagebüchern lassen sich noch folgende zweiOrtenachtragen: Dshuanko,zwischen Data und Hadshi, und Köpi, zwischen Hadshi und Idi. Die Jurten von Köpi sollen übrigens seit 1864 unbewohnt stehen, da sämmt- liche Einwohner an der Pockenepidemie gestorben sind; nach Petrowitsch, s. Byanume»», Onnce. a5CoBB yvacrı Upunmoper. oöaacru (3a. Cu6. Ora. Unnm. Pycer. Teorp. Oö., Ku. IX u X, Hpkyrers 1867, crp. 345). Auch Bo- schnjak, der zuerst, im Frühling 1853, die Küste von der Bai de Castries bis zum Kaiserhafen näher untersucht hat, lernte auf derselben folgende, theils beständig, theils nur im Sommer von den Orotschen bewohnte Dörfer kennen: Dugu, Choi, Ssurkum oder Choismo, Aukan, Cho- jol, Byki, Data, Dshuanko und Ui. Aus mehreren von ihnen, wie Ssurkum, Chojol und Byki,sollen die Orotschen zum Winter an den Tumdshi-Fluss ziehen. (Bommar®, Ikc- ea. 35 Ipu-amyper. kpab.— Moper. Cöopnu. 1859, N 37, Y. ueo»., erp. 201 — 205). Orotschen. Verbreitungsgebiet. 23 bietes soll nach Prshewalskij') am Ssuifun liegen, der in den Guerin- oder von den Russen höchst unpassender Weise sogenannten Amur-Golf mündet. In diesem südlichen Theile ihres Verbreitungs- gebietes sind jedoch die O rotschen nicht die alleinigen Bewohner, sondern es gesellen sich zu den- selben an der Meeresküste wie an allen zum Meere oder zum Ussuri laufenden Flüssen zahlreiche, mit und unter ihnen lebende Chinesen, die hier unter dem Namen der Man-dse oder Mansen bekannt sind. Wir werden über dieselben später ausführlicher handeln, hier nur die Bemerkung, dass sie im Verbreitungsgebiet der Orotschen, von Süden gegangen, bis über die Baien Olga und Wladimir hinaus, ja bis zum 46. Grade nördl. Br. anzutreffen sind, über diesen hinaus aber nicht mehr vorkommen°). Erwägt man die grosse Zahl der Man-dse, so wie den Umstand, dass es nur Männer sind, die aus ihrer chinesischen Heimath nach diesen Wildnissen ziehen, und dass sie dort mit Orotschen-Weibern in der Ehe oder im Coneubinat leben, so begreift man leicht, welchen Einfluss dieses Zusammenleben der Man-dse mit den Orotschen im Laufe der Zeit auf die physische Beschaffenheit, wie auf die Lebensweise, die Sitten, den Charakter und selbst die Sprache der letzteren ausüben musste. Auch werden sie in der Regel unter einem besonderen und zwar dem ihnen von den Chinesen verliehenen Namen der Ta-dse oder Tasen (russ. Taustı und Taspı) aufgeführt, ohne dass ihre Zusammengehörigkeit mit den Orotschen immer erkannt worden wäre®). Von Norden nach Süden erstreckt sich also das Orotschen- und Ta-dse-Gebiet über nahe neun Breitengrade. Es nimmt einen langen, aber im Verhältniss zu seiner Länge nur schmalen Streifen Landes ein, denn landeinwärts von der Meeresküste reicht es nur wenig über das Küstengebirge hinaus. So natürlich seine Ostgrenze durch das Meer gegeben ist, so schwer «hält es, die Westgrenze desselben zu bestimmen. Da dieOrotschen meist umherstreifende Jäger sind und nur daneben am Meere und an den Flüssen dem Fischfang obliegen, während ihre westlichen Nachbaren, die Oltscha und besonders die zahlreicheren und mächtigeren Golde, fast ausschliesslich Fischer sind, so mag sich die gegenseitige Abgrenzung ihrer Gebiete nach der grösseren oder geringeren Ergiebigkeit der Jagd und des Fischfanges an den vom Küsten- gebirge zum unteren Amur und zum Ussuri laufenden Flüssen vollzogen haben. So weit als in diesen ein leichter und ergiebiger Fischfang betrieben werden kann, drangen die Golde in dieselben vor, wo hingegen der Fischreichthum unbedeutend oder der Fang beschwerlich wird, dafür aber ein ergiebiges Jagdterrain sich ausbreitet, fiel das Land den Orotschen anheim. Durchweg gehört daher diesen der obere Lauf der Flüsse; an den Flüssen mit gebirgigeren Ufern und einer reissenderen Strömung, wie sie viele der Amur- und fast alle Ussuri-Zuflüsse aus dem Küstengebirge haben, nehmen die Golde nur die Mündung, an den grösseren rechten Neben- 4) Iyrem. »6 Vecypiück. kpab, 1867 — 1869 r. C. Ie- | rep6. 1868, crp. 86. repöypr» 1870, crp. 103. 3) So scheint es z. B. Beresin (Ouepk» pyceck. 1Oop- 2) BeumwxkoB%, 0603p. p. Vecypu u 3emeas Kb BOoc- | TOBB BB Tarapcr. ıpo«a. u Anoner. mopb.—Moper. Cöopn. TOky OTB Hea A0 mopa (Bere. Uno. Pycex. Teorp. Oö. | 1861, N 1, Y. neo»., crp. 162), Plaxin (Hpmmoper. OöAacrh y. 25, 1859, Ora. II [Hacıa. u Marep.), erp. 226, 233). Ero | Bocroun. Cu6.— Boeun. Cöopn. 1869, N: 12, crp. 195, 196), »xe, Iyreu. mo orpaun,. Pycer. Asiu u aan. o uux&, €. De- | Bolschef (ll. cc.) u. A. ergangen zu sein, 234 Die Völker des Amur-Landes. flüssen des Amur auch einen Theil ihres unteren Laufes ein. So nähern sich die Orotschen vom Küstengebirge hinab mehr oder weniger dem Amur und Ussuri, jedoch ohne dieselben irgendwo zu erreichen, mit alleiniger Ausnahme der im Gebirge gelegenen Quellen des letzteren Stromes. Betrachten wir uns nun die einzelnen Flüsse in Beziehung auf ihre obenerwähnte heterogene Bevölkerung etwas genauer. Die kleinen, aber reissenden Flüsse Pä und Jai, die von Süden her vereint in den Kidsi- See münden, sind, wie ich bei einem Besuch dieser Gegend im Juni 1856 erfuhr, von Oro- tschen bewohnt, welche zum Sommer nach der Meeresküste ziehen. Den Kidsi-See, der nur eine grosse Seitenausbuchtung des Amur-Stromes ist, und damit also auch den Amur selbst, erreichen sie aber nicht, denn kurz vor der Mündung des Pä liegt an demselben das Oltscha- Dorf Pädane. Die südwärts folgenden Flüsse, der Miäta, der zwischen den Dörfern Pulssa und Ssamachagdu in den Amur mündet, und der Chelasso oder Sselasso, sind unbewohnt und bieten nur Gebirgsstrassen, auf denen im Winter handeltreibende Oltscha vom Amur zu den Oro- tschen am Jai und Tumdshi ziehen. Am viel ansehnlicheren, reissenden Chongar geht die Orotschen-Bevölkerung weit abwärts. Nach den Angaben der Golde aus dem an der Mündung dieses Flusses in den Amur gelegenen gleichnamigen Dorfe, giebt es an demselben nur noch drei Golde-Dörfer, von denen das letzte, Hadshal, drei bis vier Sommer- oder eine Wintertagereise vom Amur entfernt ist!). Weiter aufwärts, wo der Chongar noch reissender wird, beginnt mit dem Dorfe Ultur schon das Orotschen-Gebiet, in welchem es an diesem Flusse, bis zur Mün- dung des Uldji in denselben, noch fünf Orotschen-Dörfer giebt?). Der ebenfalls reissende Naiche- oder Da-Fluss®) und sein aus der Nähe der Chongar-Quellen kommender Zufluss Munamu sollen, ebenfalls nach Angabe der Golde, nur in ihrem oberen, im Gebirge gelegenen Laufe von Orotschen, im unteren hingegen von Golde bewohnt sein‘). Der zum Ussuri fallende Kij- Fluss scheint nur zeitweise von Orotschen besucht zu werden. Als ich am 5./17. August 1855 an seiner Mündung vorbeifuhr, sah ich zahlreiche Orotschen-Böte den Fluss herabkommen. Ihre Inhaber waren vom Poor gebürtig und schlugen auf der Rückkehr dahin ihre Zelte zeitweise am Ussuri auf. Am Poor°) sollen die Orotschen nicht eher als etwa 60 Werst von der Ein- 1) Die beiden anderen Dörfer sind: Cherole mit einer und Goarmo mit zwei Jurten, wie auch Hadshal; alle drei am rechten Ufer des Chongar gelegen. 2) Nach Angabe der Golde wird Ultur, das aus 3—4 am rechten Ufer des Chongar gelegenen Jurten besteht, nur im Sommer von den Orotschen bewohnt, während im Winter seine Bewohner nach den beiden nächsten der weiter aufwärts liegenden Chongar-Dörfer ziehen. Diese sind: Odome mit einer und Ui-odome mit zwei Jurten, beide am linken Ufer gelegen, Pir am rechten Ufer mit einer Jurte, Dshigdana, das seine Bewohner im Sommer eben- falls nach Ultur schickt, und Uldji mit einer Jurte, beide am linken Ufer gelegen. Weiterhin ist der Chongar un- bewohnt. 3) Auf den Karlen stets unter dem Namen «Dondon»- Fluss angegeben. Bei den Golde hörte ich für ihn ausser den oben angeführten Namen auch die Bezeich- nung «Ssera». 4) Es wurden mir hier die Golde-Dörfer Jauka und Dulala genannt, während viel weiter oberhalb die Oro- tschen-Orte Sserachssä und Bera liegen sollten. 5) Von den Eingeborenen hört man diesen Fluss auch «Foor» und «Choor» oder «Chooro» nennen, welche Be- zeichnungen man auch bei Maack, Wenjukofu. Prshe- walskij findet. (Maax», IIyrem. no ao.ınub p. Vecypu, €. Herepö. 1861, erp. 44, 53. BeumwroB»,00603p.p. Vecypu IT 3eM@Ab Kb BOCT. OTB Head ao mopa.— Bbcra. Unn. Pycer. Teorp. O6m. 4. 25, 1859, Ora. II, erp. 194. Hpixesaup- criii, Hyr. 86 Yccyp. kpa&, crp. 43). Orotschen. Verbreitungsgebiet. 25 mündung des Flüsschens Keheten-daban in denselben anzutreffen sein'). Von da ab halten sie sich aber sowohl an diesem Flusse selbst, wie an vielen seiner Zuflüsse, so an der Korssona u. a., theils umherstreifend, theils in festen Sitzen auf”). Dort, an den oberen Zuflüssen des Poor, finden sich unter ihnen auch schon einige sesshafte Chinesen ein, deren Zahl südwärts am Ussuri und seinen Zuflüssen im Allgemeinen mehr und mehr wächst. Der Biki und der Ima oder Ema, mit sei- nem grossen Nebenflusse Waku, fallen mit Ausnahme ihres unteren Laufes ganz in das Gebiet der Orotschen; am Waku z. B. liegt, stromaufwärts gegangen, die erste Orotschen-Wohnung, die Jurte Peile, in der Entfernung von etwa 65 Werst von seiner Einmündung in den Ima, die ihrerseits ganz nahe vom Ussuri sich befindet. Doch bewohnen oder durchstreifen die Orotschen besonders die Gegend an dem oberen Laufe der genannten Flüsse und ihren Zuflüssen, gemeinschaft- lich mit zahlreichen Chinesen?). Am Ussuri selbst endlich liegt die Grenze zwischen den Orotschen und den Golde an der Einmündung des Daubiche*): bis dahin, aufwärts gegangen, wohnen an demselben Golde, von dort ab Orotschen, beide und besonders die letzteren hier mit noch zahlreicheren Chinesen untermischt. Nach Wenjukof ziehen sich die Golde auch noch eine Strecke am Daubiche aufwärts, doch gehören die Quellen desselben wiederum den Orotschen an°);nach Wassiljef hingegen gehört den Golde nur das Dorf Ssjangssau an der Mündung des Daubiche, während höher hinauf ausschliesslich Chinesen wohnen‘). So fällt die Westgrenze des Orotschen-Gebietes keineswegs mit der Wasserscheide zwischen den Zuflüssen des Amur und Ussuri einerseits und des Nordjapanischen Meeres andererseits zusammen ’), sondern verläuft durchweg westlich von derselben. Ihr Verlauf lässt deutlich den alpinen Charakter des gesammten “ Verbreitungsgebietes der Orotschen erkennen. Das waldbewachsene Küstengebirge, Ssichota- alin, durchzieht dies Jägervolk in seiner ganzen Länge von Nord nach Süd, und an den wild- reichen Abdachungen desselben breitet es sich beiderseits so weit aus, als es günstiges oder aber ihm nicht streitig gemachtes Terrain findet: nach Osten bis zum nahen Meere, nach Westen bis in die Nähe des Amur und Ussuri, die es jedoch nicht erreicht, da ihm dort mächtigere Nachbaren, . Oltscha und’ Golde, den Weg vertreten. 4) Nach Korsun, s. Byaume»%, Onne. abe. yacreü IIpumoper. 00.4. (3arı. Cuö. Ora. Unmu. Pycex. Teorp. O6m. Ku. IX u X, Upkyrer® 1867, crp. 366). ‘ 2) Korsun, l. c. Beuwkos»», O0603p. pbru Yecypu. (Bbera. Unn. Pycer. Teorp. Od. 4. 25, 1859. Ora. II, crp. 194, 195). 3) Korsun,l. c. p. 376. Wenjukof (l. c. p. 198) hielt noch dafür, dass es am Biki nur Orotschen, keine Chi- nesen gebe. Spätere Reisende trafen dort ebenfalls welche an. So soll nach Korsun (l. c. p. 364) der auch von Oro- tschen am meisten bewohnte Theil dieses Flusses der- jenige sein, in welchem das chinesische Dorf Tschamu- dyndsa liegt. 4)Vonder Daubiche-Mündung an aufwärts hört der Name | Schrenck's Amur-Reise, Band III. Ussuri auf: der grössere der Flüsse, der den Daubiche von links aufnimmt, heisst nunmehr Ulache und von der Ein- mündung des Fudsi oder Lifudin in denselben an aufwärts — Ssandogu. 5) Beumko»»#, 0603p. pbku Yecypn, erp. 233. By au- ımeB5b, Onuc. abe. yacr. Ipnmoper. 06.1. crp. 428, 429. OIp:sxesaapcrkiü, Iyrem. #6 Yccyp. kpa%, crp. 93. 6) Maak$, IIyreim. no a0.1. p. Yecypn, cTp. 56. 7) Im oberen Ussuri-Gebiet glaubte Maximowiez das Küstengebirge oder die Wasserscheide zwischen dem Ussuri und dem Meere auch als Völkerscheide zwischen Golde und Orotschen ansehen zu dürfen (3a. Un. Pycer. Teorp. O6m. 1861, Ku, III, Cube», cıp. 5). 4 Die Völker des Amwr-Landes. Wie an der Meeresküste die Orotschen, so ‘grenzen längs der Hauptader des Amur- Landes, dem Amur-Strome, an die Giljaken nach Süden die Oltscha an. Die Oltscha oder Mangunen, wie sie von den Russen genannt werden?), sind ein reines Amur-Volk, das seine Wohnsitze, die Bai de Castries als einzigen Punkt an der Meeresküste abgerechnet, nur am Amur, zwischen den Giljaken im Norden und den Golde im Süden hat. So scharf und leicht sie aber von ihren beiderseitigen Amur-Nachbaren sich unterscheiden lassen, von jenen durch ihre grund- verschiedene, tungusische Sprache, von diesen durch dialektische Eigenthümlichkeiten,. wie durch manche, später zu erwähnende Züge in ihrer äusseren Haltung und Lebensweise, so ist doch ihre Abgrenzung gegen dieselben bisher von keinem der vielen Reisenden, die den Amur auf- oder abwärts und also durch das ganze an dieser Hauptstrasse gelegene Oltscha-Gebiet ge- gangen sind, auch nur annähernd richtig erkannt worden. Bald sehen wir ihr Gebiet auf ein Minimum redueirt®), bald und noch häufiger verschwinden sie gänzlich, indem sie mit den Giljaken schlechtweg zusammengeworfen werden®). Sieht man von den wenigen oben erwähnten, in das Giljaken-Gebiet vorgeschobenen Oltscha-Dörfern‘) ab, so bilden die nur in geringer Entfernung von den letzten giljakischen Wohnsitzen am Amur, Chjare und Tlals, gelegenen Orte Tentscha am rechten und Uchtr am linken Stromufer die Nordgrenze des Oltscha-Gebietes?). 1) Eine Erklärung dieses Namens, wie aller übrigen im Amur-Lande vorkommenden Völkernamen, wird später gegeben werden. 2) So bei Sswerbejef(Onnc. naar. no p. Auypy 3kcn. reHep.-TyÖepn. Bocroyn. Cuoupu 8% 1854 r.—3au. Cu6. OrA. Unn. Pycex. Deorp. O6m. Rn. III, C. IHerepö. 1857, erp. 72, 74), der die Golde erst bei Dshai aufhören und bei Kidsi schon die Giljaken beginnen lässt. Es bliebe als- dann für die Oltscha nur etwa das Dorf Gauwne am Amur übrig. Dieser Irrthum, dass die Eingeborenen von Kidsi und der Umgegend Giljaken seien, wiederholt sich bei den russischen Schriftstellern fast durchweg; so bei D. Romanof (Öyepk& m&beruocru me;kay 3aa. ae-Racrpu u pbr. Amyponz. — Bbcra. Unn. Pycer. Teorp. Oöm. 4. 25, 1859, Ora. II [Hac.ı. un Marep.), crp. 134—138); bei J. Me- wes (Tpu roAa BB Cu6. u Amyper. crpanb.—Oreuecre. Zar. T. CXLVII, crp. 28%), der Kidsi das Hauptdorf der Gi- ljaken nennt; bei Dr. Plaxin (Ilpumoper. 00.1. Bocroun. Cuö.—Boenn. Cöopn. 1869, .\: 12, erp. 194), der die Gilja- ken von Ssofijsk (Dshai) beginnen und ausser am Amur und am Ochotskischen Meere auch über den Amgunj und einen Theil der Meerenge der Tartarei sich aus- breiten lässt, u. s. w. Bei Letzterem werden übrigens die Amur-Völker so durcheinander geworfen, dass Mangu- nen und Manägirn als synonyme Bezeichnungen er- scheinen. Auch der Amerikaner Bush (Reindeer, dogs and sno-shoes, London 1872, p. 77, 86—89) hält die An- wohner des Kidsi-Sees für Giljaken. Selbst Boschnjak, der ganz richtig bemerkt, dass beim Dorfe Uchtr eine scharfe Grenze zwischen den Giljaken und Mangunen liegt, indem jene nur unterhalb desselben wohnen, mit dem genanntenDorfe aber, stromaufwärts gegangen,dieletzteren beginnen (IkcneA. Bb Ipu-amyper. kpab.—Mopekx. Cöopn. 1859, N 1, 9. ueo®., crp. 125), kann nicht umhin, an einem . anderen Orte (M. Cö. 1859, N: 3, Y. neo«., crp. 209) den- noch von «Kidsi-Giljaken» zu sprechen. 3) Pargatscheyskij (Ilobsaka 3umn. nyT. BBePX% no p. Anypy, or1 Huko.aezer. nocra A0 Vers-Crpb.roun. ka- pay.ıa, cogepınenn. 86 1856 — 57 rr.— Bbcra. Unn. Pycer. Teorp. Oöm. 4. 21, 1857, Ora. II [Hsca. u Marep.], cp. 161, 165) kennt z. B. die Oltscha gar nicht, sondern lässt die Giljaken von der Mündung des Amur-Stromes bis nach Adi reichen und von dort ab die Golde beginnen. Ebenso Dr. Sperk (Teorpa®o-naro1oruyeckie Oyepku Bocr. Cuö.— MeAsuro-ronorpar. C6opn. €. Ierepö. 1870, crp. 68), der den Giljaken sogar den ganzen unteren Amur von der Mündung des Ussuri an einräumt. Auch Th.Busse (Oyepk» ycaoBiü 3emaeabı. BB ANYPcK. kpab.— 3a. aaa urenia u3AaB. R. TpyOuuroBsımB, Apr. — er. 1869) übergeht die Oltscha schlechtweg. 4) Tschylwi, Tyr und Kaberazbach, s. oben pag. 16. 5) Permikin (Ilyres. :kypn. as. no p. Amypy OT» Yerp-Crpbaoun. kapayıa Ao zııaa. ea 8» Tarapcrk. 1PoA.— 3an. Cu6. Ora. Pycer. DTeorp. Oö. Kun. II, C. Herepo. 1857, ‚erp. 64) hielt fälschlich dafür, dass die Giljaken von Pulj an nordwärts beginnen und also auch die Dörfer Ten- tscha und Uchtr (Ochto) bewohnen. Ebenso hielt er die Bewohner von Tyr für Giljaken.(l. c. p. 67), während es Oltscha sind. Oltscha. Verbreitumgsgebiet. — Golde. Verbreitungsgebiet. 27 Die Südgrenze aber, gegen die Golde, geben das grosse Dorf Adi am rechten und das kleine Dorf Kulgu am linken Amur-Ufer ab'). Das uns schon seit den Reisen des Japaners Mamia Rinsö bekannte Kidsi liegt also fast genau in der Mitte des ganzen Oltscha-Gebietes, und die weite Ausbuchtung, durch welche sich dort der Amur-Strom dem Meere bis auf wenige Werste nähert, der sogenannte Kidsi-See, öflnet den Oltscha von diesem ihrem Mittelpunkte aus eine natürliche Strasse zur Meeresküste nach der Bai de Castries. So umfasst das ganze Verbreitungsgebiet der Oltscha nur etwa anderthalb Breitengrade am Amur-Strome. In die Nebenflüsse des Amur verbreiten sich die Oltscha, von den Handelsreisen abgesehen, nicht über ihre Mündungen hinaus; auch giebt es in ihrem Gebiet keine Amur-Zuflüsse von irgend erheblicher Grösse. Es ist also das Oltscha-Gebiet eines der kleinsten Völkergebiete im Amur-Lande. Zudem trifft man in demselben oft einzelne versprengte Familien aus den Nachbarvölkern. Seitens der Giljaken ist dies weniger der Fall?). Um so mehr aber von Seiten der den Oltscha stamm- verwandten Golde. So gehörte zur Zeit meiner Reisen im Amur-Lande das eine der beiden das Dorf Dyra oder Dere bildenden Häuser einem Golde; desgleichen die an der Mündung des Flusses Chelasso liegende Jurte Chywwunda; in dem wenig oberhalb des letzteren gelegenen Dorfe Ssamahagdu wohnten ebenfalls einige Golde; ja, im Februar 1855 besuchte ich selbst vom Mariinskischen Posten aus eine unweit von demselben am Kidsi-See im Entstehen begriffene Golde- Ansiedelung. Was die Golde zum Auswandern in das Oltscha-Gebiet treibt, ist nicht etwa Mangel an Raum in den eigenen Grenzen, sondern der Druck, den sie dort von Seiten der Mandshu zu erleiden haben. Da die faktische Herrschaft der letzteren am Amur-Strome so weit sich er- streckt, als das Golde-Gebiet reicht, so findet umgekehrt ein Einwandern der Oltscha in dieses ihr Nachbargebiet nicht statt, und nirgends findet man dort versprengte Oltscha-Fa- milien, geschweige denn ganze Niederlassungen, wie wir sie im giljakischen Gebiete kennen gelernt haben. So klein das Oltscha-Gebiet, so ausgedehnt ist hingegen dasjenige ihrer südlichen Nach- baren, der Golde. Dieses umfasst nicht bloss den Amur-Strom von den Oltscha-Grenzen bis zum Sungari, sondern reicht auch mehr oder weniger weit an den rechten Zuflüssen des Amur, insbesondere am Ussuri und Sungari hinauf und überschreitet endlich an manchen Punkten auch das linke Amur-Ufer. Die nördlichsten Golde- Dörfer am Amur, von denen ab, stromauf- 4) Gleich wie die Nordgrenze des Oltscha-Gebietes, | Newelskoi’s «Hoasnru pycck. MOPCK. OHM. Ha kpaüH, so wird auch die Südgrenze desselben, gegen die Golde, | socror& Poceiu», 1849 — 55 r. erp. 163). Anderer, noch durchweg falsch angegeben. So heisst es z. B. im Berichte | fehlerhafterer Angaben ist oben (p. 26, Anm. 2) schon Er- Tschichatschof’s, eines der ersten Reisenden, die das | wähnung gethan. Oltscha-Gebiet betraten, dass es, stromabwärts gegangen, 2) Oben (p. 16) ist der im Oltscha-Dorfe Aure be- erst von Chywwunda an beginne (s. das posthume Werk | ständig wohnhaften Giljaken bereits-gedacht worden. 4* 238 Die Völker des Amur-Landes. wärts gegangen, reines Golde-Gebiet beginnt, sind Tschiutscha am rechten und Köurmi am linken Stromufer, beide in geringer Entfernung von den oben genannten letzten Oltscha-Dörfern gelegen. Die Südgrenze der Golde am Amur-Strome bildet die Sungari-Mündung. Oberhalb derselben wird der Amur oder, wie ihn die Mandshu von dort an nennen, der Sachali nur zeit- weise, im Sommer der Jagd und des Fischfanges wegen von Sungari-Golde besucht‘); den Amur-Golde, wie allen übrigen unteren Amur-Völkern, ist hingegen der Zutritt zum Sachali mandshurischerseits untersagt, und ein militärischer Posten in Dshangdshu an der Sungari- Mündung hat unter Anderem auch auf die strenge Einhaltung dieses Verbotes zu wachen. Am Amur allen nehmen somit die Golde eine Strecke ein, die mehr wie doppelt so lang als das ganze Oltscha-Gebiet ist”). Aber sie beschränken sich, wie gesagt, nicht bloss auf diesen Strom, sondern gehen auch über seine beiden Ufer hinaus. Zwar sind die beiden grössten Zuflüsse, die der Amur innerhalb des Golde-Gebietes linkerseits erhält, der Gorin und der Kur, nur an ihrer unmittelbaren Mündung von Golde bewohnt, während ihr mittlerer und oberer Lauf anderen tungusischen Völkern, denSamagirn und Kile gehören; allein etwa halbwegs zwischen diesen beiden Flüssen breitet sich der Bolang-See (goldisch «Nor-chywwo»)®— vielleicht auch nur eine weite seitliche Ausbuchtung des Amur-Stromes, wie der Kidsi-See, die Ssargu-Seen u. a. — aus, in welchen zahlreiche kleinere Flüsse münden, und unter diesen hat der grösste, der Ssedsemi, eine verhältnissmässig dichte Golde-Bevölkerung *). In Beziehung zum Amur wäre dies also der westlichste Punkt, den die Golde erreichen. Ihre Ostgrenze, den Orotschen gegenüber, am Chongar, Naiche-Fluss und am Ussuri haben wir oben bereits kennen gelernt. Am letzteren sahen wir die Golde bis zur Mündung des Daubiche und vielleicht auch eine Strecke diesen Fluss aufwärts, jedoch nicht bis an die Quellen desselben reichen, welche von Orotschen bewohnt werden. Vom Daubiche geht die Südostgrenze der Golde an den Lefu, einen Zufluss des Kengka-Sees (oder Chanka der russ. Karten), und an diesen See selbst°), 4) So traf ich Sungari-Golde, die angeblich aus 4) Ein Golde des Dorfes Maji, der ehemals selbst am dem Dorfe Lachzo kamen, am Amur oberhalb der Sungari- Mündung,an einem Orte, der mir Kudjurko genannt wurde, in Sommerzelten, von deren einem weiter unten eine Ab- bildung gegeben werden soll. 2) Die meisten russischen Reisenden hielten nur einen Theil dieses Raumes für Golde-Gebiet, und zwar nicht immer denselben, so dass sich ihre Angaben bisweilen in keinem Punkte decken. So lässt z. B. Dr. Sperk (l. ce. p. 68) die Golde nur von der Sungari- bis zur Us- suri-Mündung, Dr. Plaxin (l.c.p. 193) hingegen nur von der Ussuri- bis zur Gorin-Mündung wohnen. Kein Wun- der daher, wenn ihnen die Golde-Bevölkerung auch nur äusserst gering erscheint («kpaiine HNYTO>KHO® Hace.enie» Sperk, 1. c.). Andere vindieirten hingegen den Golde auch noch einen grossen Theil des Oltscha-Gebietes; so Sswerbejef (s. oben, p. 26, Anm. 2). 3) «Chywwo» heisst «See». Ssedsemi sesshaft gewesen, nannte mir nicht weniger als neun, allerdings kleine, an diesem Flusse gelegene Dör- fer. Sie sind nach meinem Tagebuch, flussaufwärlts ge- gangen, folgende: Dshuang, Ssäfareüne, Chyralzu, Pudji- moda, Bogdamu, Chutu, Ssomomu, Ebare und Dshafia. 5) Benmwxko»%, 0603p. p. VYecypu u np. (Bbcrn. Teorp. Oöm., 9. 25, 1859, Ora. II, crp. 205); ero-e, Iyrem. mo orp. Pycer. Asiu, 1868, erp. 37. Anoco»», Osepo Xaukaii u ero Kınmarıy. ocoÖenn. (Zar. Hmm. Pycer. Teorp. Oöm. 1864, Ku. II. Ora. Haca. u Marep. crp. 116). ©. Bycce, Oyepkb YCAOB. 3EM.ICA. BB ÄMYPCK. kp. (3a. AA UTeHia, usaas. TpyOuukossım B, Anr.— er. 1869, crp. 116, 117). Nach den Angaben, die ich von den Golde des unteren Ussuri einsammelte,sollten am Kengka-See ihre nur wenig zahlreichen Landsleute in fünf Dörfern zerstreut wohnen. Wenjukof giebt (a. a. 0.) die Golde-Beyölkerung am Kengka-See nur auf fünf Familien an. Anossof erwähnt Golde. Verbreitungsgebiet. 29 wo sie jedoch, ebenso wie am ganzen oberen Ussuri, mit zahlreichen Chinesen (Man-dse) untermischt sind. Der Verlauf der Westgrenze der Golde-Bevölkerung im Ussuri-Gebiet lässt sich noch nicht genau bestimmen, da das Land an.den linken Zuflüssen des Ussuri noch wenig bekannt ist. Jedenfalls scheinen die Golde an diesen Flüssen nur wenig über die Mündungen hinauf zu reichen und alsdann zerstreut wohnenden Chinesen den Platz zu räumen. Am Ssungatschi, dem einzigen Abfluss des Kengka-Sees zum Ussuri, liegt nur eine Golde-Hütte, Chyichyl, etwa auf der halben Länge seines Laufes!). Ueber den Muren wissen wir in dieser Be- ziehung noch nichts. Am Noor scheint die Grenze der Golde-Bevölkerung noch am weitesten nach Westen zu reichen, weil hier eine Strasse nach Ssan-ssin an den Sungari führt”). Wie dem aber auch sei, immer giebt der Ussuri eine Hauptader goldischer Bevölkerung im Amur - Lande ab, und nirgends sind die Golde vielleicht seit jeher so zu Hause gewesen wie hier. Wir werden im Verlaufe unserer Betrachtungen historische Thatsachen kennen lernen, welche diese Ansicht unterstützen und das Ussuri-Land als die eigentliche Heimath der Golde erscheinen lassen. Lange nicht so weit als am Ussuri reicht die Golde-Bevölkerung am Sungari hinauf. Ja, an diesem nimmt sie einen verhältnissmässig nur geringen Theil seines untersten Laufes ein®). Mit etwa 13 oder 14°), zum Theil sehr ansehnlichen, aber meist im Weidengebüsch versteckt ge- legenen Dörfern zieht sie sich ausschliesslich am rechten Sungari-Ufer fort?), bis sie mit dem Dorfe Indamo ihre Grenze erreicht‘). Von dort ab folgen nur mandshurische und chinesische Dörfer und in einer nicht allzuweiten Entfernung, an der Mündung des Churcha in den Sungari, auch die erste mandshu-chinesische Stadt, Ssan-ssın oder Ilan-hala, wie sie die Mandshu, und Itsche-choton, wie sie die Golde und nach ihnen auch die übrigen Völker des unteren Amur- Landes nennen. So grenzen hier die Golde unmittelbar an ihre nächsten Stammverwandten und gegenwärtigen Beherrscher”), die Mandshu und die im Gebiete dieser letzteren fast noch zahl- (a.a.O.)eines@olde-Dorfes an der Mündung desLefuinden Kengka-See. Jedenfalls ist der beständige Aufenthalt von Golde am genannten See unzweifelhaft, während Ussol- zef (3axankaück. kpaii.—Moper. C6opn. 1864,N: 6, U. ueo«., erp. 188) der Ansicht war, dass sie nur besuchsweise an denselben kommen und alsdann von den Chinesen auf- genommen werden. 4) Maax®%, Oyreur. no aoanub p. Vecypu, C. Derepo. 1861, T. I, crp. 63. 2) Maack, |. c. p. 66. 3)NachMaximowicz (Nachricht. vom Sungari-Fluss.— Bull. de l’Acad. Imp. des sc. de St. Petersb. T. IV, p. 234; Mel. biolog. tires du Bull. T. IV, p. 59) reicht das Golde- Gebiet etwa 240 Werst den Sungari hinauf. 4) Maximowicz (l. c.) giebt die Zahl der Golde- Dörfer am Sungari, Dshangdshu an der Mündung desselben nicht mitgerechnet, auf 13 an, zählt aber selbst 14 mit Namen auf. 5) Nach Aussagen, die ich von den Amur-Golde erhielt, sollten am Sungari sämmtliche Golde-Dörfer am rechten Ufer liegen. Dies bestätigten die Angaben von Maximowiczund von Barabasch, welcher Letztere den Sungari weithinauf befahren hat (s. dessen Cynrapiück. IrcneA. 1872 r. — Boenuprü C6opn. 1874, N: 2, crp. 328); ja, nach Ersterem (l. c.) dürfen sogar die Golde das linke Sungari-Ufer nicht bewohnen. 6)-Maximowicz, Bull. I. c. p. 235, 241; Mel. biolog. T. IV, p. 59, 67. Barabasch (I. c.) lässt die Golde bis zum Dorfe Dsan-mu-sso reichen, doch ersieht man aus einer anderen Angabe desselben (l. c.p. 326), dass dies nicht so- wohl das letzte goldische, als vielmehr das erste chi- nesische Dorf ist. Auch klingt dieser Name nicht gol- disch, wohl aber wie das nach Maximowiez 1—2Werst oberhalb Indamo gelegene ersteMandshu-Dorf «Dljamssa» in chinesischer Aussprache. 7) Seit der Besitznahme des Amur-Landes durch die Russen ist dies natürlich nur noch zum Theil der Fall, 30 Die Völker des Amur-Landes. reicheren und eulturhistorisch jedenfalls wichtigeren Chinesen an. Dieser Umstand, so wie die Lage des Golde-Gebietes an den drei ansehnlichsten Strömen des Amur-Landes, dem Amur, dem Sungari und dem Ussuri, und nicht minder auch die grosse Ausdehnung desselben, ver- leihen den Golde im ethnographischen Bilde des Amur-Landes eine so hervorragende Stellung und eine für den Charakter des Ganzen so wesentliche Bedeutung, wie sie kein anderes Volk dieses Landes beanspruchen kann. Verlassen wir die Hauptader des Amur-Landes und gehen wir westwärts über dieselbe hinaus, so begegnen wir noch drei tungusischen Völkern, die ihre Sitze an den drei grössten linkerseits zum unteren Amur fallenden Flüssen, dem Amgunj, dem Gorin und dem Kur haben. Das nördlichste von ihnen, das im Nordosten an die Giljaken grenzt, sind die Negda oder Nigidalzen und Neidalzen, wie sie von den Russen genannt werden!). Ihr Verbreitungsgebiet wird fast ganz durch das Flusssystem des Amgunj bestimmt, denn über dieses hinaus findet man nur einzelne wenige vorgeschobene Posten derselben. Von einem dieser Posten ist oben schon die Rede gewesen: es sind die Niederlassungen der Negda an den Seen Orell und Tschlja und dem sie verbindenden Flussarme°). Da es immerhin beständige, durch keinen Zwischenraum mit anderer Bevölkerung vom Amgunj-System getrennte Wohnsitze dieses Volkes sind, so müssen wir sie als die äusserste Nordostgrenze des Negda-Gebietes bezeichnen. Etwas anders verhält es sich mit dem nordwestlichsten Punkte, an welchem die Negda angetroffen worden sind. Middendorff und später Boschnjak lernten nämlich mehrere Familien dieses Volkes kennen, die ihren beständigen Wohnsitz an dem Platze Burukan am Tugur hatten®). Da dies ein Ort ist, wo Leute verschiedener Nationalität, russische Rennthier-Tungusen, jakutische Kauf- leute, gelegentlich vielleicht auch Giljaken, des Handels wegen zusammenkommen, so dürfen wir auch die wenigen Negda dort nur als Fremdlinge betrachten. Gehen doch, wie wir oben sahen *), einzelne Individuen dieses Stammes des Robbenschlags wegen bisweilen auch an den Tugur- und Ulban-Busen am Ochotskischen Meere. Ueberschreitet man aber die schmale Wasserscheide, welche den Tugur von einem Zufluss des Amgunj, dem Nemilen, trennt, so ge- langt man in ganz unzweifelhaftes Negda-Gebiet. Es ist dies der wegen seiner geringen Breite von den beiderseitigen Eingeborenen als Schleifweg für ihre Kähne benutzte Uebergang von Ukakyt, den auch Middendorff zurücklegte, um im Flussgebiet des Amgunj die Bekanntschaft des 4) Middendorff (Reise in den äuss. Norden und Osten | Wir werden auf diese Namen und noch einige Variationen Sibiriens, Bd. IV, p. 1523 fl.) schreibt «Nigidal». In Ne- | derselben im folgenden Abschnitt zurückkommen. welskoi’s Berichten über seine und seiner Gefährten 2) S. oben p. 16. Thätigkeit im unteren Amur-Lande in den Jahren 1849 3) Middendorff, Reise in den Norden und Osten Si- bis 1855 (HoAasurn pyeck. mopek. opun. ua kpaiin. »ocr. | biriens, Bd. IV,p. 182. Bomuar®, Ixcu. 8% Ilpn-anypekr. Poceiu. Tocmeprn. aarı. Aımup. Hese.ıapcraro, (.Herep- | xpab. — Moper. Cöopn. 1859, N: 2, YJ. neo»., crp. 333. öypr» 1878) werden sie durchweg «Neidalzen» genamnt. 4) S. oben p. 15. Negda. Verbreitungsgebiet. 31 Negda-Volkes zu machen. In der That traf er es am oberen Nemilen in festen Wohnsitzen, die in so fern einen vorgeschobenen Posten desselben bildeten, als der Nemilen in seinem weiteren Verlaufe bis zum Amgunj und dieser wiederum bis zwei Tagereisen unterhalb der Einmündung des Amal # denselben unbesiedelt sein sollten, so dass die Negda vom Nemilen nicht weniger als sechs Tagereisen Bootfahrt durch unbewohntes Gebiet bis zu ihren nächsten Landsleuten am Amgunj hatten '). Gewiss sind es eben jene Handelsbeziehungen zu den Rennthier-Tungusen und Jakuten am Tugur, welche die Negda bewogen haben, trotz des noch grossen Raumes am Amgunj, der Hauptader ihres Gebietes ihre Wohnsitze bis an den oberen Nemilen vorzuschieben. Die Continuität der sparsamen Negda-Bevölkerung wird dabei jedoch durch kein anderes Volk unterbrochen, und so fällt die Nordwestgrenze ihres Gebietes mit der Wasserscheide zusammen, welche das Flusssystem des Amgunj von dem des Tugur trennt. Aehnlich verläuft auch die Südgrenze desselben, denn sie wird von der Wasserscheide zwischen dem Amgunj und Gorin gebildet. Trotz jener Oeden am unteren Nemilen und am Amgunj unterhalb des letzteren, ziehen sich die Negda-Sitze am oberen Amgunj, oberhalb der Nemilen-Mündung, und am Oldshekan, dem Abfluss des Tschuktschagir -Sees zum Amgunj fort?). Ueberschreitet man hingegen südwärts die Wasserscheide, so betritt man am Eworon-See und am Gorin das Gebiet der Samagirn°). Doch soll von den neun Geschlechtern, in welche die Negda nach Midden- dorff’s Erkundigungen zerfallen, das eine, die Muktagern, unter den Samagirn wohnen‘). Ostwärts endlich erstreckt sich das Negda-Gebiet längs dem Amgunj bis zur Mündung desselben in den Amur. Auf den niedrigen, von Weidengebüsch bewachsenen Inseln, welche die Amgunj- Mündung verdecken, habe ich beim Vorüberfahren zahlreiche Jurten der Negda gesehen. Hier grenzen also die Negda, wie am Orell- und Tschlja-See, an die Giljaken, deren nächste Dörfer am linken Amur-Ufer jedoch in weiter Entfernung von der Amgunj-Mündung liegen). Fast genau gegenüber der letzteren befinden sich aber jene in das Gebiet der Giljaken vorgescho- benen Oltscha-Dörfer, von denen oben die Rede gewesen, und daher liegt es nahe anzunehmen, dass bei der Wahl dieser Ansiedelungspunkte im fremden Lande den Oltscha die Nähe eines 4) Middendorff, Reise etc., Bd. IV, p. 1523. 2) Schmidt (Histor. Ber. etc. l. c. p. 151) nennt am oberen Amgunj die Negda-Dörfer Huidshan und Nilän, letzteres an der Mündung des gleichnamigen Flusses, am Oldshekan das Negda-Dorf Baniku. 3) Schmidt, 1. c. Der Eworon-See ist derselbe, der auf der Karte zum I. Bande meines Reisewerks, nach den Nachrichten von Boschnjak und Tschichatsch of, die diese Gegenden bereist haben, unter dem Namen Samager- See eingetragen ist. 4)Die übrigen acht sindnach Middendorff: Ajumkan, Altschakul, Toromkon, Tschuktschager, Njässekagr, Ud- dan, Tschemakogr und Tapkal; die letzteren sollten schon am Amur, die Toromkon hingegen am weitesten den Am- gunj hinauf wohnen. Siehe dessen Reise etc. Band IV, pag. 1523. 5) Wenn Newelskoi in seinem oben erwähnten post- humen Werke (IloAsuru pycc. mopck. osuu. etc. p. 130, 132, 140, 163, 170 u. a.) theils nach den Berichten der von ihm ausgesandten Officiere, theils nach Aussagen von Ein- geborenen, auch von Negda spricht, die mit den Ol- tscha (Mangunen) zusammen am Gorin, am Amur unter- halb Chywwunda, in Kidsi, in der Bai de Castries u. s. w. wohnen, so beruhen diese fehlerhaften Angaben nur auf dem Umstande, dass man damals die Negda unter allen tungusischen Stämmen des Amur-Landes zuerst kennen lernte und die anderen, ihnen benachbarten und von ihnen nur dialektisch verschiedenen Völker noch nicht zu unter- scheiden verstand. 32 Die Völker des Amur-Landes. stammverwandten Volkes, der Negda, und damit die Aussicht auf leichte, gewinnbringende Verkehrs- und Handelsbeziehungen maassgebend waren. Im Ganzen liegt also das Negda- Gebiet zwar in naher Berührung mit den Gegenden am Stanowoi-Gebirge und den nächsten ichts- seite dem Amur-Strome zugewandt, und dem entsprechend trägt es auch in ethnographischer Flussgebieten des Ochotskischen Meeres, doch bleibt es mit seiner Hauptader, seiner Beziehung, trotz mancher Berührung seines Volkes mit russischen Rennthier-Tungusen, jaku- tischen Händlern u. s. w., im Allgemeinen doch nur den Charakter einer Dependenz des Amur- Landes. In noch höherem Grade ist Letzteres mit dem zweiten der an den linken Zuflüssen des Amur-Stromes wohnhaften tungusischen Völkern, den Samagirn oder Samagern, wie wir sie auch genannt haben), der Fall. Wie das Negda-Gebiet durch den Amgunj, so wird dasjenige der Samagirn durch das Flusssystem des Gorin bestimmt. Ausserhalb des letzteren trifft man sie wohl nur mehr oder weniger versprengt und in der Fremde. So war zur Zeit meiner Reise der Inhaber einer Jurte im Oltscha-Dorfe Pulj am Amur ein Samagir. Etwas anders mag es sich vielleicht mit der Gegend am Udyl-See verhalten. Da dieser See im Oltscha-Gebiet in den Amur mündet, so liegt es nahe, in seinen Anwohnern Angehörige dieses Stammes zu erwarten. Zum Theil mag es auch richtig sein. Doch sind mir ausdrücklich auch die Samagirn als An- wohner desselben genannt worden, und da die Mündung des Sees in den Amur dem Dorfe Pulj gegenüber liegt, so mag auch die Ansässigkeit jenes Samagirn in dem genannten Dorfe für das Vorhandensein von Samagir-Sitzen am nahen Udyl-See sprechen. Andererseits erzählten mir die Giljaken des Dorfes Patt von Handelsreisen, die sie zum Udyl-See machen, um von den Anwohnern derselben, die sie Rdhy nannten, verschiedenes Pelzwerk, an dem sie reich seien, einzutauschen®). Unter dem Namen «Rdhy» und «Rdhyngu» verstehen aber die Giljaken, wie ich aus anderen Angaben entnehmen muss, die Negda. Beide Völker sind jedenfalls nahe verwandt mit einander und werden vielleicht giljakischerseits nicht immer von einander unterschieden; viel- leicht sind aber auch beide am Udyl-See zu finden”). Für die Samagirn läge übrigens an diesem See, wenn sie dort wohnen, ihre Nordostgrenze, und es liesse sich alsdann die seltsame Analogie 1) S. den 1. Bd. dieses Werkes. Nach der hier ange- nommenen Schreibart müssten wir diesen Namen, um das harte s in demselben wiederzugeben, «Ssamagir» schrei- ben, was jedoch der Kürze wegen unterbleiben soll, nach- dem es hier ein für allemal vermerkt worden ist. 2) Die Giljaken bezeichneten mir auch die am Udyl- See gelegenen Dörfer der Rdhy; es sind: Koltschom, Kil- tschirn und Tentscha, alle drei ansehnlich, das letztere aus vier Jurten bestehend. Der letztere Name ist gleichlau- tend mit demjenigen eines am rechten Amur-Ufer der Mündung des Udyl-Sees schräg gegenüber liegenden Oltscha-Dorfes. 3) Lieut. Boschnjak ist im Sommer 1852 am Udyl- See gewesen und spricht in seinem betreffenden Reise- bericht auch von den dortigen Eingeborenen, ohne jedoch ihre Nationalität zu bezeichnen. Auch er lernte dort drei Dörfer kennen, deren Namen er ähnlich wiedergiebt, wie ich sie oben nach giljakischen Angaben mitgetheilt habe: Ssoljangsa, Ssiltschuru und Tentscha. Vrgl. Bomuar®#, IkeneA. 86 Ipu-anyper. xpab (Mopex, C6opu. 1859, N: 1, Y. ueoe., crp. 124). Samagirn. Verbreitungsgebiet. 33 in der Begrenzung ihres Verbreitungsgebietes und desjenigen der Negda nicht verkennen, dass nämlich beide Völker ihre Sitze aus dem ihnen eigenen Flusssystem nach einem oder mehreren, östlicher oder nordöstlicher gelegenen, ebenfalls zum Amur mündenden Seen vorgeschoben hätten. Den Samagirn erwüchse aber daraus noch der Vortheil, dass sie dort einen Weg hätten, auf welchem sie ihre Jagdausbeute mit Umgehung der sie bedrückenden Mandshu und Chinesen an die nördlichen, freien Amur-Völker, die Oltscha und Giljaken absetzen könnten. Vielleicht hat daher dasselbe Motiv, welches die Golde zum Auswandern in das Oltscha-Gebiet bestimmt, die Samagirn an den Udyl-See getrieben '). Wie dem aber auch sei, immer bleibt das eigentliche Gebiet der Samagirn das Fluss- system des Gorin. Oben haben wir schon die Nordgrenze desselben gegen das Negda-Gebiet kennen gelernt, die mit der Wasserscheide zwischen dem Gorin und Amgunj zusammenfällt. Auch nach Westen, gegen das Bureja-Gebirge hin, wie nach Süden, zum Flusssystem des Kur, scheint es mit der respectiven Wasserscheide seinen natürlichen Abschluss zu finden. Doch fehlt es uns darüber noch an positiven Nachrichten. Was ich bei meinem Besuch der Samagirn im Winter 1855 in Erfahrung bringen konnte, ist, dass sich die dichteste Bevölkerung nicht den oberen Gorin selbst, sondern einen rechten, also wohl von Westen oder Südwesten kom- menden Zufluss desselben, den Chui, hinaufzieht. An diesem wurden mir nicht weniger wie zehn, von 1—6 Jurten zählende Dörfer der Samagirn genannt?). Bemerkenswerth endlich ist die Ostgrenze des Samagirn-Gebietes, zum Amur hin. Ich lernte sie auf der erwähnten Winterreise kennen?). Die Mündung des Gorin in den Amur ist von Golde besetzt: dort liegt ihr Dorf Bitschu. Weiter den Gorin hinauf giebt es keine Golde-Dörfer mehr. Den- noch liegt das erste Samagirn-Dorf, Ngagha am Gorin, nicht eher als etwa 120 bis 130 Werst Entfernung von Bitschu ®). Zwischen den beiden Völkern bleibt also ein weiter Raum unbewohnten Landes liegen — ein waldiges, wildreiches Terrain, das beiden zum Jagdrevier dient. Ich stiess dort zu wiederholten Malen auf winterliche Jagdzelte (sogen. Alko’s) zunächst der Golde, die selbst aus weit entlegenen Dörfern am Amur hinkommen’), alsdann, etwa halbwegs, auf ganz ähnliche Jagdzelte der Samagirn, bis endlich die zerstreuten Sommer- wohnungen der Samagirn von Ngagha und ein paar Stunden später auch das gleichnamige Winterdorf selbst vor mir lagen. Was mag der Grund zu so scharfer Scheidung der Wohngebiete so nahe verwandter Völker sein? Haben doch am Amgunj die Negda ihre Wohnsitze bis an den Amur vorgeschoben, wo sie unmittelbar, nur über den Strom weg, an ein ihnen fremdes Volk, einer und Kadakado mit 2 Jurten. 3) S. meinen Reiseber. im Bull. de la classe physico- 4) Lieut, Boschnjak (IkeneA. »% UIpu-amypck. kpab.— “ Moper. Cöopn. 1859,.\: 2,Y. neow.,erp.331) lässt die Sama- girn auch an dem unteren Laufe des Amgunj bis zum Dorfe Kewritin und erst von dort aufwärts die Negda wohnen; allein mir scheint diese Angabe auf einer Verwechselung beider Stämme zu beruhen, oder aber durch zeitweisen Aufenthalt von Samagirn am Amgunj veranlasst zu sein. 2) Es sind folgende: Kukuleki, Chuinda, Jamektanka, Zonginka mit je 2 Jurten, Kondonka mit 6, Sserochjanka und Zorgunka mit je 5, Churadjaka mit 2, Cheroke mit Schrenck's Amur-Reise, Band III. mathem. de l’Acad. Imp. des sc. de St. Petersb. T. XIV, pag. 189; Mel. phys. et chim. tires du Bull., T. II, pag. 452, 453. 4) Ich legte diese Strecke im Hundeschlitten auf der Hinfahrt in 2!/,, auf der Rückfahrt, unter günstigeren Verhältnissen, in 2 Tagereisen zurück. 5) So z. B. aus Onmoi, Chongar, ja sogar aus Zollazi, das etwa 150 Werst oberhalb Bitschu am Amur.liegt. 5 3% Die Völker des Amur - Landes. die Giljaken grenzen? Der Unterschied zwischen hier und dort besteht jedoch darin, dass dort freie Völker wohnen, während hier, im Golde-Gebiet, die Mandshu herrschen, deren Macht sieh aller- dings auch den Gorin hinauf Bahn gebrochen hat. Es mag daher die Furcht, ihren Bedrückern gar zu nahe zu kommen, die Samagirn von der Verbreitung bis zum Amur zurückgehalten haben. Das dritte und letzte Volk der grösseren linken Zuflüsse des unteren Amur-Stromes sind die Kile am Kur. Von keinem der Amur-Völker sind jedoch die Nachrichten so spärlich wie von diesem. Selbst der Name «Kile» ist ungenügend, denn es ist dies nur eine von den Chinesen entstellte tungusische Allgemeinbezeichnung, deren Etymologie wir später besprechen werden. Kein Reisender hat noch die Kile am Kur besucht, ja, es ist nicht einmal die Gegend, wo dieser ansehnliche Fluss den Amur erreicht, immer richtig angegeben worden. Maack lässt ihn z. B. bei Poddale, also unterhalb des Chongar in den Amur münden ''), während er doch etwa 1Y/, Breitengrade südlicher davon und nur wenig nördlich vom Ussuri seine Mündung hat. Diese liegt aber am niedrigen linken Amur-Ufer, in einem entlegenen Arme des mächtigen, verzweigten Stromes, durch zahlreiche mit Weidengebüsch bewachsene Inseln verdeckt, so dass die in der Regel dem hohen rechten Ufer entlang gehenden Reisenden ihrer unmöglich ansichtig werden können. Auch mir entging sie, obgleich ich mich auf meiner Rückreise vom Ussuri nach Nikolajevsk, im Sommer 1855, meist an das mir noch unbekannte linke Amur-Ufer hielt. Nur das in diesem Theile des Amur-Laufes den Horizont west- und nordwestwärts begrenzende Wanda-Gebirge, in welchem der Kur seinen Ursprung nimmt, kann keinem Reisenden ent- gehen. Dass ich gleichwohl auf dieser Reise einige, wenn auch spärliche Kunde von der Existenz des Kile-Volkes am Kur erhielt, verdanke ich den Mittheilungen der Golde in den der Kur- Mündung benachbarten Amur-Dörfern. Nach ihren Angaben bewohnen die der Sprache nach nur wenig von ihnen verschiedenen Kile?) den Kur und seine Zuflüsse. Den Kur hinab erstreckt sich ihr Gebiet bis an dessen Mündung, wo noch ihr Dorf Ssäwan- oder Ssiwan-Gauwne zwischen den Golde-Dörfern Imminda im Süden und Kozja im Norden liegt. Wie weit es flussaufwärts reicht, habe ich nieht erfahren können, doch sollte ein Dorf der Kile, Ssäfandu, noch oberhalb des in den Kur fallenden Urmi-Flusses liegen °). Auch lässt sich aus dem Umstande, dass die Kile gute Jäger und reich an Pelzwerk sein sollen, mit ziemlicher Gewissheit der Schluss ziehen, dass sie sich nicht bloss auf den im Tieflande gelegenen unteren Lauf des Kur beschränken, sondern auch den oberen Lauf und die Zuflüsse desselben bis an das wildreiche Wanda-Gebirge wenn auch nicht beständig bewohnen, so doch als ihr eigenstes Jagdgebiet durchstreifen. Und so- mit wird das Kile-Gebiet am Flusssystem des Kur wohl auch seine natürliche Begrenzung haben. 1) Maax’p, Ilyrem. na Amyp®, cosepwn. no pacnopask. | dieses Werkes mitgetheilten Bezeichnungen der Thiere Cuö. Ora. Unn, Pycer. Teorp. O6. »% 1855 r. C. Herep6. | bei den Kile liefern. 1859, erp. 197. : 3) Zwischen den beiden genannten Kile-Dörfern sollten 2) Eine kleine Probe dieser dialektischen Verschieden- | am Kur noch folgende sich befinden: Chyja-manga (d. h. heit mögen die von mir gesammelten und im I, Bande | «starke Strömung»), Iwu, Adi, Kusinaho, Obere Amwur - Völker. — Biraren. Verbreitungsgebiet. 35 Soweit die Völker des unteren Amur-Landes. Als Grenze für den unteren Amur haben wir dabei die Sungari-Mündung angenommen. Und in der That spielt der Sungari in ethno- graphischer Beziehung für das ganze untere Amur-Land eine sehr wichtige Rolle: vom Sungari geht der mandshu-chinesische Einfluss aus, der sich bis in die fernsten Theile des unteren Amur- Landes Bahn gebrochen hat; über den Sungari hinaus in den Amur vorzudringen, ist den unteren Amur-Völkern mandshu-chinesischerseits streng untersagt; alle Fäden des Handels, des Verkehrs, der Tributzahlung u. s. w. knüpfen sie daher nicht an den mittleren und oberen Amur, den bei den Mandshu sogenannten «Sachali», sondern an den Sungari'). Jenseits des Sungari betreten wir daher eine andere ethnographische Provinz des Amur-Landes, deren Völkerschaften denjenigen des unteren Amur-Landes zwar meistens stammverwandt, aber doch fremd sind. Auch sind diese beiden ethnographischen Provinzen des Amur-Landes längs der Hauptader desselben durch weite unbewohnte Gebiete von einander getrennt: es sind dies die niedrigen, grasreichen Prairien am Amur gleich oberhalb der Sungari-Mündung, in denen man nur ab und zu auf die konischen Zelte zum Fischfang herangewanderter Sungari-Golde stösst, sowie die steilen Felsgehänge des vom Amur in reissender Strömung durchschnittenen Bureja-Gebirges. Erst am Westfusse dieses Gebirges beleben sich wieder die Amur-Ufer. Halten wir uns zunächst an dieselben, um von dort aus die räumliche Vertheilung der Völker auch im mittleren und oberen Amur-Lande näher kennen zu lernen. Das erste Volk, dem wir am Amur oberhalb des Bureja-Gebirges begegnen, sind die Biraren. Schon gegen den Westabhang dieses Gebirges hin kann man auf einzelne Zelte der Biraren stossen. Mir ist es zwar nicht passirt, aber nach Radde, der im Bureja-Gebirge einen Winter zugebracht hat, machen sie meistens den von links in den Amur mündenden unteren Ditschun- Fluss zur Grenze ihrer Jagdzüge, und zuweilen, wenn auch selten, dehnen sie dieselben auch bis unterhalb des Golin-Baches aus?). Da es zum grössten Theil ein von der Jagd lebendes und daher umherstreifendes Volk ist, so lernen wir hier zugleich die Ostgrenze seines Gebietes kennen. Nur wenig westlicher, am U-Flusse, schneidet die Östgrenze des Biraren-Gebietes auch das rechte Amur-Ufer. An diesem Flusse sollen nämlich beständig einige Biraren-Familien wohnen, zu denen vom Sungari aus über das Gebirge handeltreibende Dauren kommen’). Zahlreicher, wenn auch immer‘ sparsam, ist die Biraren-Bevölkerung in der Prairie gleich oberhalb des Bureja-Gebirges. Unter dem Einfluss ihrer westlichen Grenznachbaren, der Dauren, Mandshu und Chinesen, nimmt sie dort einen sesshafteren Charakter an. Grössere und kleinere, mit Gemüsegärten versehene, von Feldern umgebene Biraren-Dörfer liegen dort bald am linken, bald am rechten Amur-Ufer bis ‚über die Bureja-Mündung hinaus. Das letzte dieser Dörfer, das ich stromaufwärts gegangen antraf, war das am rechten Amur - Ufer gelegene Kadagan, auf 4) S. meinen Reiseber. im Bullet. de la cl. physico- | geführt in den Jahren 1855 bis 1859 (Beitr. zur Kenntn. mathem. de l’Acad. Imp. des sc. de St. Petersb. T. XV, | des Russ. Reiches, herausgeg. von Baer u. Helmersen, p. 245; Mel. russes tires du Bull., T. III, p. 349, 350. Bd. XXIII, St. Petersburg 1861, p. 526 und das Kärtchen 2) G. Radde, Bericht über Reisen im Süden von Ost- | zu p. 512). Sibir., im Auftrage der Kais. Russ. Geogr. Gesellsch. aus- 3) Radde,l. c. p. 519. 36 Die Völker des Amur-Landes. welches mehrfache, einzeln liegende Häuser gewerbtreibender Chinesen und alsdann das dau- rische Dorf Chormoldin folgten. Bei Kadagan haben wir also schon die Westgrenze des Biraren- Gebietes am Amur, welches somit zwar beide Ufer dieses Stromes, aber nur auf der verhältniss- mässig geringen Strecke von etwas oberhalb der Bureja-Mündung bis in das Bureja-Gebirge hinein umfasst. Auch ist dies nur ein kleiner Theil des gesammten Biraren-Gebietes, das hauptsächlich an den auf dieser Strecke von links in den Amur sich ergiessenden grösseren Flüssen, am Aar und besonders an der Bureja, dem Njuman-bira!) der Eingeborenen, und ihren Zuflüssen sich ausbreitet. Im Flusssystem der Bureja gehen die Biraren weit nach Norden, ja sie überschreiten es sogar nach Westen und halten oder hielten sich wenigstens früher auch am oberen Ssilimdshi und seinen Zuflüssen auf. So berichtete schon Pojarkof, der Führer des ersten russischen Streifzuges an den Amur, nach der Rückkehr von demselben (1646), dass am oberen Ssilim- dshi (Ssilimba) zahlreiche Birar-Tungusen wohnen). Später (1681) erwähnte ihrer der Ssyn bojarskij Ignatij Milowanof auch weiter abwärts am Ssilimdshi, indem er berichtete, dass an der Mündung dieses letzteren in die Dseja daurische Leute von ihnen Tribut für die chinesische Krone erheben®). Zur Zeit von Middendorff’s Reise hielten sich «Byral-» oder «Bural-Tungusen», wie er die Biraren nennt, in ständigen Wohnsitzen an der Byssa, einem Nebenfluss des Ssilimdshi, am Elge, einem Zufluss der Byssa, u. s. w. auf, ja, er spricht von Byral-Tungusen, die des Sommers in Kähnen den Ur, einen rechten Nebenfluss der Dseja, weit hinauf ,gingen und so dem Stanowoi-Gebirge sich näherten ®). Es wäre jedoch falsch, wollte man an den angegebenen Orten die Nordgrenze des Biraren-Gebietes annehmen. Offenbar liegt einigen dieser Angaben eine Verwechselung der Biraren mit anderen tungusischen Stämmen, namentlich mit ihren nächsten Grenznachbaren, den Manägirn, zu Grunde. Sagt doch Midden- dorff selbst, dass einer dieser Bural, falls er ihn richtig verstanden, zum Stamme der «Mani- girj» sich zählte, ein anderer, an der Bureja, als «Guragr» sich bekannte°). Auch fügt er der Angabe Milowanof’s über die «Birjär-Tungusen» des oberen Ssilimdshi hinzu: «richtiger vielleicht Guragr; gehören zum Stamme der Manegirj»®). Ich kann dieser Ansicht nicht beistimmen, schon aus dem Grunde, weil sie eine fernere Verwechselung der sogen. Guragr mit den Manägirn involvirt. Im Gegentheil kommt es mir sehr wahrscheinlich vor, dass an dem den rechten Zuflüssen der Bureja so sehr genäherten oberen Ssilimdshi ebenfalls Biraren wohnen. Desgleichen mögen sie sich amElge und an der Byssa aufhalten,die einerseits nicht weit von mehreren 1) «Bira» oder «bera» heisstin der Sprache derBiraren, Golde u. a. tungusischen Völker so viel wie «Fluss». 2) Aono.n. Kb akTamB HCTOPnY., COOp. U 13AaHH. ap- xeorp. komnuc. T. III, C. IIerepo6. 1848, crp. 53. 3) Oruneka croasunky BoeroAb ©. A. BoeiikosBy 0T% nocAannm. B5 1681 r. aaa 0003pbuia Amypa cp Boap- craro Urn. Mu.aosauosa, milgetheilt von Spasskij: C»ba. Pycer. o pbrb Anypb 8» XVII cro.r. (Bbern. Pycer. Deorp. O6m. 4. VII, 1853, Ora. Hzc.aba. u Marep., erp. 40, 41). 4) Middendorff, Reise etc. Bd. IV, p. 167, 1505. 5) L. c. p. 1505. Dass die Bezeichnung «Guragr» sehr wahrscheinlich auf dieKile vomKur zu beziehen ist, werde ich später darthun. 6) L. ce. p. 167. Ussolzef nennt die Biraren an der Bureja durchweg «Manägern»; s. HIsapı», HoAapoön. oTy. 0 pe3yısr. uscaba. Maremar. Ora. Cuöuper. Iken. Unn. Pycer. Teorp. Oönr., C. Ierepö. 1864, I, erp. 51. Biraren. Verbreitungsgebiet. Unbestimmtheit der Grenzen im Norden. 37 Bureja-Zuflüssen, andererseits gewissermassen auf dem Wege von der Bureja und ihren Haupt- zuflüssen nach dem von allen dortigen Gebirgsnomaden des Handels wegen zeitweilig besuchten Orte Inkanj'), im Dseja-System, liegen. Was hingegen die Anwohner des Ur betrifft, so sind diese sicherlich keine Biraren, sondern Manägirn— ein nahe verwandter tungusischer Stamm, von dem sogleich die Rede sein wird. Wie dem übrigens auch sei, genau die Gebiete der Biraren, der Manägirn und ihrer nördlichen Nachbaren, der russischen Rennthier-Tungusen vom Stanowoi-Gebirge, gegen einander abzugrenzen, ist nicht wohl möglich. Als Jäger führen sie alle ein umherstreifendes, nomadisches Leben: wo reiche Jagdausbeute sich erwarten lässt, da dringen sie vor, unbeküm- mert ob aller politischen Grenzen, und bewährt sich die Erwartung, so nehmen sie an dem Orte wohl auch einen längeren und bleibenderen Aufenthalt, mögen sie sich dabei von ihren Stamm- genossen noch so sehr entfernt und in ein Gebiet begeben haben, das Andere aus Prioritäts- gründen für das ihrige anzusehen pflegen. Daher denn auch die mancherlei Zusammenstösse und Reibungen zwischen ihnen, bei denen es, wie Middendorff erzählt?), nicht immer bei Drohungen bleibt, sondern auch zu Thätlichkeiten kommt und Schiessgewehre abgenommen, Reit- und Lastthiere erschossen werden u.s. w. Die traktatmässig zwischen Russland und China festgesetzte Grenze, das Stanowoi-Scheidegebirge, ist dabei für die gegenseitige Gebietsabgren- zung der bis vor Kurzem noch chinesischen Biraren und Manägirn einerseits und der rus- sischen Rennthier-Tungusen andererseits keineswegs maassgebend. Zwar dürften die ersteren den Südabhang dieses Gebirges nicht überschreiten, aber um so weniger bleiben die letzteren auf den Nordabhang desselben beschränkt, sondern dringen vielmehr über das Gebirge hinweg an der Bureja wie an der Dseja tief in das vermeintlich chinesische Gebiet vor. Middendorff theilt aus eigener Erfahrung viele Fälle der Art mit. So traf er am Kebeli, einem Nebenfluss des zur Bureja mündenden Niman, vier sesshafte Familien russischer Tungusen°); an der Mün- dung des erstgenannten Flusses wohnte wiederum ein russischer Tunguse‘°); andere waren den Tyrmi hinabgezogen bis fast zur Bureja°). Schmidt traf eine russische (christliche) Tungusen- Familie sogar 40 Werst unterhalb der Mündung des Tyrmi in die Bureja: sie war in Udskoi Östrog angeschrieben, hatte aber hier, am Flusse Malmalty, ihr Jagdrevier, das sie seit langer Zeit besuchte‘). Ja, nach den von Ussolzef bei den Biraren (bei ihm «Manägern») einge- sammelten Nachrichten, nomadisiren die russischen Tungusen — welche er übrigens schlechtweg «Orotsehonen» nennt—an der Bureja mit ihren Rennthieren bis zum Orte Schewaki, etwa 14 Tagereisen von der Mündung dieses Stromes. Weiter abwärts können sie mit den Rennthieren nicht kommen, weil sie dort kein Futter für ihre Thiere finden, allein in Rindenkähnen streifen noch Manche von ihnen bis zur Bureja-Mündung hinab‘). Im Gefolge der Tungusen, oder aber dieselben mit sich 1) Middendorff, Reise etc. Bd. IV, p. 189. 5) L. c. p. 166, Anmerk. 1. 2) Reise etc. Bd. IV, p. 1505. 6) Schmidt, Histor. Ber. etc. p. 167. 3) Reise ete. Bd. IV, p. 167. 7) HIsapuv, WHoAapo6n. oryu. 0 pesyapr. uscabA. Ma- 4) L. ce. p. 189. remar. Ota. Cuöuper. Iren. Teorp. Oöm. Ta. I, erp. 51. 38 Die Völker des Amur-Landes. fortlockend, ziehen auch unternehmende handeltreibende Jakuten über das Stanowoi-Gebirge und lassen sich bisweilen auch für längere Zeit im chinesischen Gebiet an der Bureja oder Dseja und deren Nebenflüssen nieder. Middendorff rechnete zusammen, dass zu seiner Zeit gegen 25 von Jakutsk ausgehende Händler bald diesseits, bald jenseits des Dseja- und Bureja-Gebirges in Bewegung waren!). An dem oben erwähnten Vereinigungsorte der Biraren, Manägirn und russischen Tungusen am Inkanj wohnte ein Jakute beständig; andere kamen zeitweise mit verschiedenen Waaren und Lebensbedürfnissen von Jakutsk wie von Udskoi Ostrog hin. Nicht minder sassen welche neben und mit den Tungusen am Kebeli und Niman, ja, am ersteren Orte war ein Jakute bereits seit sechs Jahren ansässig. Middendorff’s jakutischer Führer (Wantscha) hatte selbst vor 18 Jahren den Jorach, einen Nebenfluss der Bureja, besucht. Ein anderer Jak ute (Trofim), mit dem er eine Zeit lang zusammen wanderte, war vor 26 Jahren sogar die Bureja hinabge- schwommen bis 60 Werst oberhalb ihrer Mündung, wo er auf einen chinesischen Wachtposten stiess?). Wie den russischen Tungusen die Jakuten, so gehen andererseits den chinesischen Biraren und Manägirn-die Dauren nach. In gleichem Handelsinteresse wie jene begeben sie sich vom Amur aus die Bureja, die Dseja und ihre Zuflüsse hinauf. Ja, in früheren Zeiten sollen sie häufig den Ssilimdshi bis zum Inkanj hinauf gegangen sein?). Durch das Ineinander- greifen der Gebiete jener tungusischen Stämme bedingt, findet hier also eine Begegnung auch dieser weit auseinander wohnenden Völker statt. Wir werden auf diese beiderseitigen Handelsreisen und Handelsbeziehungen später bei Gelegenheit noch zurückkommen, hier musste ihrer vorübergehend gedacht werden, um den unbestimmten Charakier der Völkergrenzen in diesem Theile des Amur-Landes in seinem vollen Umfange hervortreten zu lassen. Das Stanowoi-Gebirge, eine Wasserscheide der umfassenden Flusssysteme des Amur und der Lena, ist eben keine Völker- scheide, und darum ist es, trotz aller Traktate, auch politisch nur eine unhaltbare Grenze gewesen. Bestimmender für die gegenseitige Vertheilung der in Rede stehenden Völker, zum we- nigsten im Grossen und Ganzen, ist vielleicht ein anderes Moment, auf welches Middendorff mit Recht aufmerksam macht ®). Ist beiden, den russischen Tungusen vom Stanowoi - Gebirge wie den chinesischen Biraren und Manägirn an der Bureja und Dseja, die Jagd eine gleich unumgängliche Existenzbedingung, indem sie ihnen Nahrung und Mittel zur Befriedigung aller übrigen Lebensbedürfnisse bietet, und nöthigt die Jagd diese wie jene zum Umherstreifen 4) L. c. p. 168. skij von den Hrn. Assessoren Ewers u. Kyschkin er- 2) Reise etc. Bd. IV, p. 166, Anmerk. 1. Hingegen ist die zuerst von Billings gebrachte und weiter ausgespon- nene, spater von vielen Anderen wiederholte Nachricht von dem Entweichen von 6000 Jakuten über die russi- sche Grenze in das Amur-Land (Sauer, Cap. Jos. Bil- lings’ Geogr.-astronom. Reise nach den nördl. Gegend. Russlands zur Unters. der Münd. des Kowima-Flusses etc. Aus d. Englischen, Berlin 1802, p. 367, 368) nach Mid- dendorff nur durch Verwechselung entstanden (Sauer hatte diese Nachricht im Hause des Issprawniks Hornol- halten),und hat ein solcher massenhafter Uebertritt der Ja- kuten in das chinesische Gebiet nie stattgehabt (s. dessen Reise etc. Bd. IV, p. 169). Ich muss dem vollkommen bei- stimmen, da eine solche Zahl von Einwanderern aus einem so lebenskräftigen, zähen und unternehmenden Volke, wie die Jakuten, im Amur-Lande jedenfalls sich bemerkbar gemacht hätte, während dort in Wirklichkeit, ausser jenen einzelnen Händlern, nichts von Jakulen zu spüren war, 3) Middendorff, 1. c. p. 166, Anm. 1; p. 1536. 4) Reise etc. Bd. IV, p. 1504, 1505. Biraren. Prairie u. Gebirge als grenzbestimmendes Moment. Chinesische Grenzzeichen. 39 und Wandern im Gebirge, so besteht doch zwischen beiden der Unterschied, dass die russischen Tungusen vom Stanowoi-Gebirge sich dabei zum Reiten und Lasttragen des Rennthieres, die chinesischen Biraren und Manägirn aber des Pferdes bedienen: jene sind Rennthier-, diese Pferde-Tungusen. Jenen bieten daher die hochgelegenen Gebirgswaldungen mit ihrem dicken Moosteppich, diesen die grasreichen Prairien, die sonnigen Vorberge und breiteren Thalgründe günstigere Bedingungen zum Wandern wie zum Aufenthalte dar. Wo diese oder jene Natur entschieden vorherrscht, da fällt das Land gewissermassen von selbst demjenigen Volke anheim, dessen Bedürfnissen es entsprieht. Nur wo beide Naturen sich mehr oder weniger begegnen und durchdringen, auf subalpinem Terrain, kann auch eine häufigere Begegnung der in Rede stehen- den Völker stattfinden und ein andauernder Kampf um den Besitz des fraglichen Bodens geführt werden. Ereignet es sich dann z. B., dass durch Ungeschick der Rennthier-Tungusen weite Nadelwaldstrecken niederbrennen, oder dass Grasbrände ın der Prairie, die von den Pferde- Tungusen absichtlich, um einen üppigeren Graswuchs zu erzielen, hervorgerufen werden, sich auch über die höher gelegenen moosreichen Kiefernwaldungen ausbreiten, so werden die Renn- thier-Tungusen höher in das Gebirge hinauf oder auch ganz aus der Gegend hinausgedrängt, während die Pferde-Tungusen im Gegentheil mehr Spielraum gewinnen. Die Grenze zwischen Prairie und Gebirge ist also im Grossen und Ganzen auch die natürliche Grenze zwischen den Rennthier- und den Pferde-Tungusen. Und mit dieser Grenze fällt, wie Middendorff nachgewiesen hat'), ziemlich genau auch die Linie zusammen, welche durch die chinesischen Grenzzeichen gegeben ist. Trotzdem näm- lich, dass durch den Nertschinsker Traktat dasStanowoi-Gebirge alsGrenze zwischen dem Russischen und Chinesischen Reiche festgestellt wurde, befinden sich doch die Grenzzeichen, welche von der chinesischen Regierung errichtet worden sind und durch ihre Beamten alljährlich revidirt werden, nicht etwa auf dem Kamme dieses Gebirges, sondern weit südlicher, ziemlich am Fusse seines ausgedehnten Südabhanges und seiner zahlreichen Ausläufer zur Prairie hin. Das westlichste der von Middendorff in dieser Gegend aufgefundenen chinesischen Grenzzeichen stand am Einfluss des Gilui in die Dseja. Das nächstfolgende nach Osten hat er zwar selbst nieht besucht, doch gab ihm ein Tunguse, der es oft gesehen, die Stelle desselben an der Mündung des Mewan- Baches in die Nara, einen rechten Zufluss des Ssilimdshi, an. Am Ssilimdshi selbst sollte es ebenfalls ein Grenzzeichen geben, und zwar an der Mündung des Killer-Flusses in denselben, doch konnte Middendorff über diese Oertlichkeit nichts in Erfahrung bringen. Hingegen consta- tirte er wiederum selbst das nunmehr nach Osten folgende, welches bereits im Bureja-System, am Einflusse des Nimakan in den Niman steht. Von den weiter ostwärts folgenden chinesischen Grenzzeichen haben wir keine Kunde, nur soll das letzte, am weitesten nach Ost befindliche, nach Aussage der Tungusen, auf der Wasserscheide zwischen dem Tugur und Nemilen, an dem oben erwähnten Schleifwege von Ukakyt, und somit auch auf der Grenze zwischen den 1) Reise etc. Bd. IV, p. 171—173. A) Die Völker des Amuwr-Landes. russischen Tungusen und den Negda, gelegen haben. Wo die Linie dieser Grenzzeichen das Bureja- Gebirge schneidet, wissen wir nicht. Verbindet man das Grenzzeichen am Niman mit demjenigen von Ukakyt durch eine gerade Linie, so bleibt der ganze obere Lauf der Bureja und so ziemlich auch ihr ganzes Flusssystem südlich von derselben liegen. Jedenfalls verläuft sie in diesem ihrem Theile nach Nordost, während sie von den westlichsten Dseja-Zuflüssen zum Bureja-System eine südöstliche Richtung einhielt. Und damit bleiben auch alle Völker der linken Zuflüsse des unteren Amur-Stromes, die Kile vom Kur, die Samagirn und die Negda, südwärts von dieser Linie, auf der chinesischen Seite liegen. Vergessen wir jedoch nicht, dass wenn diese Grenz- zeichenlinie in einem Theile ihres Verlaufes auch mit der Grenze zwischen-Prairie und Gebirge, welche für die Verbreitung verschiedener Völkerstämme von Bedeutung sein kann, ziemlich zusammenfällt, sie doch selbst keine ethnographische, sondern nur eine politische Grenzlinie ist. Sie bezeichnet nur die äussersten Punkte, bis wohin die chinesische Herrschaft im Amur-Lande faktisch sich erstreckt hat, oder mit anderen Worten, bis wohin von den Eingeborenen der an China schuldige Tribut durch die chinesischen Beamten wirklich erhoben wurde. Jenseits der- selben lag zwar bis zum Stanowoi-Gebirge auch traktatmässig chinesisches Land, doch mochte oder konnte vielleicht die chinesische Regierung dieses entlegene und jedenfalls nur dünn be- völkerte Gebirgsland nicht in den Bereich der regelmässig durch ihre Beamten zu bereisenden Tributländer einschliessen. Darin liegt aber keineswegs ein Beweis dafür, dass nicht dieselben Völkerschaften, welche die Bureja und Dseja bis zu jener politischen Grenzlinie bewohnen, Biraren und Manägirn, auch noch weiter nordwärts sich fortziehen sollten. Ja, wäre es sogar ursprünglich nicht der Fall gewesen und hätte die chinesische Regierung jene Zeichen genau an den Gebietsgrenzen der genannten Völker errichtet, so wäre doch diese Grenzlinie von ihnen gewiss nicht eingehalten worden, da die gewinnverheissende Jagd in den nördlicheren Gebirgs- thälern und die Möglichkeit, durch Ueberschreitung jener Grenzlinie der Tributzahlung sich zu entziehen, dieselben immer nordwärts getrieben hätte. Wir kommen nach all’ dem Gesagten zu dem Schlusse, dass so weit an der Bureja und Dseja die Prairie vorherrscht, und das ist ungefähr auch bis zur Linie der chinesischen Grenz- zeichen, unzweifelhaft ziemlich reines Biraren- und Manägirn-Gebiet sich ausbreitet, weiter- hin aber zwar noch dieselben Völker sich fortziehen, jedoch nicht mehr allein, sondern ihr Gebiet mit russischen Rennthier-Tungusen theilend, welche zumal das höhere Gebirge und die moos- reichen Gebirgswaldungen als ihr natürliches Jagd- und Wanderterrain inne haben. Die Aus- breitung der Biraren im Flusssystem der Bureja ist somit räumlich im Vergleich. mit dem ge- ringen Antheil, den sie am Amur-Strom haben, so überwiegend, dass man jenes als ihr Haupt- und eigentliches Gebiet betrachten kann. Wie wir später sehen werden, sind sie auch von dort aus an den Amur gelangt. Man kann sie daher für den oberen oder richtiger mittleren Amur gewissermassen in Parallele mit den Anwohnern der grossen linken Nebenllüsse des unteren Amur-Stromes, den Kile, Samagirn und Negda bringen. S — Manägirn. Verbreitungsgebiet am Amur. Mit den Biraren haben wir im Obigen vielfach auch ihrer Grenznachbaren, der Manägirn, Erwähnung gethan. Gehen wir nun zur speciellen Besprechung ihres Verbreitungsgebietes über. Die Manägirn oder Monjagern, wie man sie ebenfalls nennen hört'), sind nur im Norden ihres Verbreitungsgebietes, an der Dseja und ihren linken Zuflüssen unmittelbare Nachbaren der Biraren. Amı Amur-Strom hingegen liegen gleich oberhalb des Biraren-Gebietes nach und durcheinander daurische, mandshurische und chinesische Dörfer, ja selbst eine Stadt, Aigun, — mit einem Worte, es folgt erst derjenige Theil des Amur-Stromes, den wir schon oben als das mandshu-chinesische Culturstück desselben bezeichnet haben. Wir überspringen ihn jetzt, um später auf denselben zurückzukommen. Der Dseja-Mündung nahe gegenüber, am rechten Amur-Ufer, liegt das letzte mandshurische Dorf, zugleich der Aufenthalt eines mandshu-chinesischen Wachtpostens. Gleich- zeitig bricht auch die oflene Prairie ab, und fortan säumen Gebirge das breite Thal des Amur- Stromes, hie und da näher an denselben herantretend. Von der Dseja-Mündung beginnt das Manägirn-Gebiet: die Culturlandschaft am Strome hat aufgehört, man ist wiederum in der Wildniss und wird nur ab und zu, und immer selten genug, durch ein luftiges Manägirn-Zelt oder die einsame Hütte eines chinesischen oder daurischen Holzflössers an die Anwesenheit von Menschen gemahnt?). Ungleich den Biraren, haben sich die Manägirn auch am Amur- Strome, unter den günstigsten Bodenverhältnissen, nicht im Geringsten dem Ackerbau und der Viehzucht zugewandt, sondern sind ihrem Nomadenleben treu geblieben. Meist halten sie sich am Amur des Fischfangs wegen auf und sind daher fast nur im Frühling und Sommer dort anzutreffen, während sie im Herbst und Winter der Jagd in den Gebirgsthälern nördlich und südlich vom Amur nachgehen. Als ich im Jahre 1856 von Ende August bis Anfang October (neuen Stiles) den Amur durch das Manägirn-Gebiet aufwärts zog, stiess ich öfters auf ver- lassene Wohnstätten und Lagerplätze der Manägirn, mit nackten Zeltgerüsten, ringsum abge- weidetem Grase u. s. w., aber nur selten gelang es mir die Bewohner selbst noch anzutreffen. Da auch die unmittelbaren westlichen Nachbaren der Manägirn am Amur, dieOrotschonen, ein ähnliches Jagd- und Nomadenleben führen, so ist die Ermittelung der Grenzen zwischen den Verbreitungsge- bieten dieser beiden Völker sehr schwierig. Ganz falsch ist die Angabe Iakinf's, dass die Manägirn das rechte, die Orotschonen das linke Ufer des Amur von Ustj-Strelka an abwärts bewohnen °). Blagoweschtschensk) aufgebrochen war. Aehnlich lautet Prshewalskij’s Angabe (s. dessen IIlyrem. »6 Yccy- piück. kpab, p. 11). Umgekehrt dehnen Andere das Ge- biet der Manägirn zu weit den Amur abwärts aus. So lässt z. B. Th. Busse (Ouepk» yc.oB. 3em.AIeA. Bb AMYPcK. 1) S. dieses Werkes I. Bd. 2) Gerstfeld (O npuöpescn, sur. Anypa.— Bbern. Unn. Pycex. Teorp. Oöm. 4. XX, 1857, Ora. Uacaba. u Marep., crp. 293) lässt die Manägirn stromabwärts nur bis zur Komar - Mündung reichen; doch steht dies im Wider- spruch mit einer späteren Angabe in demselben Artikel (l. ce. p. 313), laut welcher es zwischen dem Komar und der Dseja ebenfalls Manägirn giebt. Maack (Uyrem. na Amyp®%, crp. 69, 97) meint, dass sie unterhalb der Komar- Mündung entweder gar nicht, oder nur selten zu be- gegnen seien. Ich habe Manägirn-Zelte sehr bald ober- halb der Dseja- Mündung gesehen, noch an demselben Tage, an welchem ich vom Dseja - Posten (dem jetzigen Schrenck's Amur-Reise, Band III. xpab. — 3au. Ara urenia u3aaB. R. Tpy6uukossmG, Asr.—Aex. 1869, erp. 116) sie von Albasin bis an den kleinen Chingan (Bureja-Gebirge) wohnen. 3) Jakuu®%, Crarucr. Onucauie Kuraiickoit Hnmnepim. €. Herepö. 1842, T. II, crp. 1, Hpumbu. Die betreffende Angabe lautet eigentlich dahin, dass man in Transbaikalien die Tungusen des rechten Amur-Ufers von Ustj-Strelka ab «Mangiren», diejenigen des linken Ufers aber «Oro- 6 42 Die Völker des Amur-Landes. Beide haben vielmehr ihr Gebiet am rechten und am linken Amur-Ufer, nur liegt das Gebiet der Manägirn unterhalb desjenigen der Orotschonen. Dabei reicht jenes nicht gleich weit west- wärts an beiden Ufern, sondern bricht, ganz entgegen Iakinf’s Angabe, am rechten Ufer früher ab als am linken. Daher ist auch die mehrfach ausgesprochene Ansicht, dass die Grenze zwischen den Orotschonen und den Manägirn am Amur bei dem ehemaligen Albasin (Jaxa der Mandshu- Chinesen) liege'), nur zum Theil richtig. Am rechten Amur-Ufer hört nämlich das reine Manägirn-Gebiet in der That unterhalb der Albasicha, des Emur der Tungusen, auf und beginnt mit der Mündung dieses Flusses das Gebiet der Orotschonen. Während aber diese ihre Jagden nicht weiter stromabwärts ausdehnen, gehen die Manägirn im Frühling und Anfang des Sommers, des Fischfangs wegen, auch über diese Grenze hinaus und kommen, nachdem sie ihre Pferde am Niwer oder unterhalb der Albasicha zurückgelassen haben, bis an die Flüsse Mo- nastyrskaja, Ignaschina, ja bis zur kleinen und grossen Ssestra°). Lässt sich nun Letzteres noch als ein blosses Hinüberstreifen in fremdes Gebiet bezeichnen, so ist es anders am linken Amur-Ufer, wo die Manägirn westwärts beständig weit über Albasin hinaus sich erstrecken. Ich habe dort ihre letzten Zelte noch oberhalb des Kotomanga-Flusses und des damals an demselben errichteten gleich- namigen russischen Postens, in der Nähe der Oldoi-Mündung angetroffen. Damit stimmen auch die Angaben M aack’s und Orlof’s über ihre Westgrenze überein. Ersterer lässt die Manägirn strom- aufwärts bis an den Fluss Newir reichen, bemerkt aber dabei, dass sie zeitweise auch noch weiter oberhalb, z. B. an der Kotomanga, anzutreflen seien°); Letzterer zieht die Grenze zwischen dem Manägirn- und dem Orotschonen-Gebiet einmal den Niwer*) hinauf und von dessen Quelle längs dem Gebirge zur linken Oldoi-Quelle, ein anderes Mal längs dem Oldoi selbst°). Dass übrigens die Jagdgebiete beider Völker hier wie anderer Orten vielfach ineinandergreifen, liegt nach dem oben Gesagten in der Natur der Dinge, und nur der Umstand, dass die Manägirn zum Lasttragen und Reiten ausschliesslich das Pferd, die Orotschonen aber zumeist das Rennthier gebrauchen, mag sie vor häufigerem Aneinanderstossen bewahren. Im Ganzen ist also der Antheil, den die Manägirn am Amur-Strome haben — von der Dseja bis zum Oldoi — ein sehr ansehnlicher. Und doch kann man Tage lang reisen, ohne auch nur ein Zelt derselben anzutreffen, so gering ist ihre Zahl an diesem Strome. Anders an den beiden grössten Zuflüssen, die der Amur auf dieser Strecke von links und von rechts erhält, an der Dseja und am Komar. Dort liegen die Hauptsitze der Manägirn. Wir haben ihre Ausbreitung an der Dseja und deren Zuflüssen, sowie ihre dortige Abgrenzung tschonen» nenne, In demselben Werke, etwas später (p. 217), heisst es, der Amur sei bis Jaxa (Albasin) unbe- wohnt, im Gebirge aber gebe es Tungusen unter ver- schiedenen, von den Russen ihnen gegebenen Stammes- namen: «Minegren» und «Orotschonen». 4) Teper»e.1sA%, O npuöpeskn. kure.a. Amypa, (BEcru, Teorp. O6m. Y.XX, crp. 293). Upsxesaapcriü, Uyrem. 8b Yecypiück. kpab, crp. 11. ©. Bycce, Oyepk®% yc.1oB. 3eM.AeA. BB Amypck. kpab (3am. a1a yren. usa. R. Tpy6- HHKOBBIMB, Aur.— er. 1869, crp. 115). 2) Opıos», Anmypckie Opouyenpi (Bberu. Hnn. Pyc- craro Teorp. O6m., 4. XXI, 1857. Ora. II, crp. 193, 194, 196). 3) Maak», Oyrem. na Amyp#, crp. 69, 313. 4) Auf der Karte von Schwarz (Kapra pbun. o6.acr. Amypa, 10:kHoi yacru ‚lensı u Euncer u ocrp. Caxa.ınna. C. Ierep6. 1861): Liwer. 5) L. c. p. 193, 194, 197. Manägirn. Verbreitumgsgebiet an der Dseja und am Komar. 43 gegen die Biraren und die russischen Rennthier-Tungusen oben im Allgemeinen schon an- gedeutet. Soweit an der Dseja, am Ssilimdshi, an der Nara, am Ur u. s. w. oflene, grasreiche Prairie sich ausbreitet, ist reines, unbestrittenes Gebiet dieser Pferdenomaden. Die oben be- sprochene Linie chinesischer Grenzzeichen an den genannten Flüssen bezeichnet nahezu auch die Nordgrenze dieses Gebietes. Ussolzef, der einen grossen Theil des Manägirn-Gebietes - bereist hat, giebt namentlich den mittleren und unteren Lauf des Ssilimdshi, sowie den Raum zwischen diesem, der Dseja, dem Depp und einem grossen rechten Zuflusse des Ssilimdshi, den er zwar nicht nennt, der aber in 2'/, Tagen Reitens von der Mündung des letzteren zu erreichen sein soll und der unzweifelhaft die Nara ist, als das Gebiet an, auf welchem die verhältniss- mässig dichteste Bevölkerung von Manägirn zu finden ist!). Doch beschränken sie sich nicht auf diesen Raum, sondern ziehen sich in geringerer Anzahl und stets mehr oder weniger zeitweise, wie es das Jagdleben mit sich bringt, die oben genannten Ströme und deren Zuflüsse hinauf bis in die Nähe des Stanowoi-Gebirges. Der Jagd auf Zobel und Eichhörnchen nachgehend, gelangen sie z. B. an den oberen Ssilimdshi und seine Zuflüsse’), wo sie mit russischen Rennthier- Tungusen zusammentreffen. Den letzteren müssen sie auch an der oberen Dseja und ihren rechten Zuflüssen begegnen®). Merkwürdigerweise stiess jedoch Ussolzef am Gilui kein einziges Mal auf Manägirn, sondern traf sie erst unterhalb des letzteren an der Dseja, von der Mündung des Moktscha-Flusses in dieselbe an‘). Dass sie auch den Ur in Kähnen weit hinaufgehen, haben wir oben schon aus einer Nachricht Middendorff’s entnehmen können). An diesem Flusse, der in seiner ganzen Länge ziemlich parallel dem Amur-Strome verläuft und nur durch das Dseja-Gebirge von demselben getrennt wird, befinden sie sich auch wieder in der Nähe der linken Zuflüsse des Amur, bis zum Oldoi hinauf, an welchem ihre Grenze gegen die Orotschonen liegt. Nimmt das Manägirn-Gebiet an der Dseja und ihren Zuflüssen den weitesten Raum ein, so soll, nach Angabe ihrer Landsleute vom Amur, die grösste Verdichtung ihrer Bevölkerung doch nicht in den Prairien an der Dseja, sondern an einem rechten Zuflusse des Amur-Stromes, am Kömar oder Kümar (Komarä oder Kumarä der Russen) zu finden sein ®). Dort liegen auch die bestän- digen Wintersitze vieler Manägirn, die zeitweise, im Frühling und Sommer des Fischfangs wegen an den Amur kommen. Doch nehmen die Manägirn nicht den ganzen Komar-Fluss ein: nur der untere Lauf desselben und vielleicht ein Theil des mittleren gehört ihnen, der übrige Theil des letzteren und der gesammte obere Lauf des Stromes wird von Dauren bewohnt’). In der unmittelbaren Nachbarschaft mit diesem betriebsamen, handeltreibenden Volke, das den Manägirn wie den Biraren bis in die entlegensten Theile ihrer Verbreitungsgebiete manche ihnen zum Bedürfniss gewordene Nahrungs- und Luxusgegenstände zuträgt, liegt gewiss auch der 4) Veoasue»%, Myrem. kp Bepıms. p. Tu.uoa u ua | oberen Laufe_der Dseja. In den letzteren können wir nur p- 3er, ıbrome 1856 r. (Bberu, Hnn. Pycex. Teorp. O6m. | Rennthier-Tungusen sehen. Doch darüber später. y. XXII, 1858. Ora. II, crp. 156). 4) L. c. p. 133. 2) Ussolzef,l. c. p. 155, 136. : 5) S. oben p. 36. 3) Maack (Iyrem. na Amyps, erp. 104, 105) spricht 6) Maak», Ilyrem. na Anyp», crp. 69. von Manägirn und Orotschonen im mittleren und 7) Maack,l. c. p. 98. 6* 44 Die Völker des Amur -Landes. Hauptgrund zur Verdichtung der Manägirn-Bevölkerung am Komar. Auch sollen die Manägirn selbstverständlich je weiter stromaufwärts und je näher zu den Dauren, um so mehr nach Sprache und Sitte dem Einfluss der letzteren unterliegen!). Ob dieser Einfluss aber auch so weit geht, dass die Manägirn dort ihr Nomadenleben aufgeben und gleich den Dauren mit Ackerbau und Viehzucht sich beschäftigen, wie wir es bei den Biraren am Amur sahen, er- fahren wir nicht. Ueberblickt man nun das gesammte Manägirn-Gebiet, so lässt sich nicht verkennen, dass der Theil desselben, der am Amur liegt, so gross auch seine Erstreckung ist, doch dem Raume wie der Bevölkerungsdichtigkeit nach nur eine untergeordnete Rolle spielt und bald in einer, bald in beiden Beziehungen den Gebietstheilen am Komar und an der Dseja bei Weitem nachsteht. Die letztere ist es namentlich, die mit ihrem ausgebreiteten Flussnetz dem Raume nach das Hauptgebiet der Manägirn bildet. Wie wir daher oben die Biraren, trotz ihres Antheils am Hauptstrome, in Analogie mit manchen Völkern des unteren Amur-Landes, insonderheit als die Insassen eines linken Amur-Zuflusses, der Bureja, bezeichneten, so könnte man die Manägirn in ihrer gegenwärtigen Ausbreitung vornehmlich, wenn auch keineswegs ausschliess- lich, als Dseja-Volk auflassen. Ich sage in ihrer gegenwärtigen Ausbreitung, nicht aber nach dem historischen Gange derselben, denn dieser lehrt, wie wir weiter unten sehen werden, dass sie erst später an die Dseja gelangt sind. Das oberste Volk im Laufe des Amur-Stromes und zugleich das äusserste im Nordwesten des Amur-Landes sind die Orotschonen. Ihr Gebiet liegt am oberen Amur und an seinen rechten und linken Zuflüssen, erstreckt sich aber im Westen auch über das eigentliche Amur-Land hinaus, nach Daurien, ja über das Stanowoi-Gebirge hinweg bis in das Flusssystem der Lena. Die Ostgrenze desselben am Amur, den Manägirn gegenüber, haben wir oben bereits kennen gelernt: sie wird im Norden dieses Stromes vom Oldoi, im Süden von der Albasicha gebildet. Nordwärts bildet, so weit die Orotschonen dem Amur-Lande angehören, das Stanowoi-Gebirge, von den Quellen des Oldoi bis zu denen des Amasare, und westwärts Ustj-Strelka oder die Vereinigung des Argunj und der Schilka, von welcher an der eigentliche Amur - Strom beginnt, die Grenze ihres Gebietes. Wirkliche ethnographische Grenzen sind aber durch diese Localitäten keineswegs gegeben, denn auch über dieselben west- und nordwärts hinaus zieht sich dieselbe Bevölkerung fort. Nach Orlof wird das eingeborene tungusische Volk ostwärts von Bargusin, an der oberen Angara, Kitschera und bis zum Witim (inel.) schlechtweg Tungusen, dasjenige aber östlich vom Witim, an der Olekma, am Tungir, an der Njuksha, Schilka und am oberen Amur bis zum Oldoi Orotschonen genannt). Dass derjenige Theil dieser letzteren, der jenseits des Stanowoi-Gebirges an den genannten Lena-Zuflüssen umherstreift, nach Sprache und Sitte irgend welche wesentliche Differenzen von den Amur-Orotschonen biete, wird uns 1) Maack, 1. c. p. 98. | 2) OpAıos»%, Amypck. Oponuensr, 1. c. p. 193, Orotschonen. Verbreitungsgebiet. 45 dabei nicht gesagt und kommt mir auch durchaus nicht wahrscheinlich vor. Durch sein Lebens- element, die Jagd, und sein einziges Hausthier ausser dem Hunde, das Rennthier, das ihm zum Lasttragen und Reiten dient, aufrauhe, alpine Gegenden angewiesen, fand dies Volk am Stanowoi- Gebirge nicht nur kein Hinderniss, sondern im Gegentheil die günstigsten Bedingungen zur weiteren Ausbreitung. Die Orotschonenssindeben Rennthier-Tungusen, wie ihre mehrfach erwähnten östlicheren Stammgenossen im Stanowoi-Gebirge und am Ochotskischen Meere, und wie diese an die Bureja, den Ssilimdshi, die Dseja u. s. w. gelangt sind, so haben jene, südwärts vor- rückend, den in seinem oberen Laufe dem Stanowoi-Gebirge nahe gelegenen und mit alpinem Charakter versehenen Amur-Strom selbst erreicht und eingenommen !). Wir werden auf diese zum Theil in ganz recenter Zeit vor sich gegangene Ausbreitung der Orotschonen später, bei Besprechung der historischen Nachrichten über die Amur-Völker, noch zurückkommen. Einmal an den Amur gelangt, fanden die Orotschonen an dem von Süden an den oberen Lauf dieses Stromes herantretenden grossen Ghingan-Gebirge eine zu noch weiterer Verbreitung nach Süden geeignete Bahn. Auf den waldbewachsenen Gehängen dieses Gebirges und in den Thälern am oberen Laufe der nach Westen zum Argunj und nach Osten zum Nonni hinabströmenden Flüssen streifen sie als Jäger auf kleinen muthigen Pferden, oft in Begleitung einiger sie ausbeutender Dauren umher. So traf sie Kropotkin am Ganj, einem Zufluss des Argunj, am Nomin, der zum Nonni läuft, u.s. w.?). Ja, wenn uns Lange erzählt, dass in den finsteren, undurchdringlichen Waldungen des Chingan-Gebirges zwischen dem Chailar u. a. Zuflüssen des Argunj und dem Jalo u. a. Nebenflüssen des Nonni «Tungusen» leben, die kein anderes Lastvieh als das Rennthier haben?), so können wir nicht umhin, in ihnen dieselben Orotschonen zu erkennen. So weit nach Süden reicht hier ihr Verbreitungsgebiet. Am Ostabhange des Chingan-Gebirges grenzen sie dabei an die Dauren, die ausser dem Handel mit Ackerbau und Viehzucht sich beschäftigen. Und dort haben denn auch die Orotschonen, gleich den Biraren am Amur, zum Theil eine sesshafte, auf Feldbau begründete Lebensweise angenommen. So passirte Kropotkin, nachdem er im Thale des Gujuil (auch Hujur), der zum Ganj und damit zum Nonni läuft, das erste daurische Dorf hinter sich hatte, weiter abwärts einige Dörfer sesshafter Orotschonen‘). Damit haben sie aber auch ihren natürlichen Boden eingebüsst: es ist ihre äusserste Südostgrenze, denn am Ganj fand Kropotkin nur noch ackerbauende Chinesen und weiter nach Mergen zu Mandshu‘). Fasst man das gesammte Verbreitungsgebiet der Orotschonen in’s Auge, so lassen sich manche Analogien mit demjenigen der Manägirn erkennen: gleich diesem erstreckt es sich zu 4) Aus der erwähnten vielfachen Uebereinstimmung der Orotschonen mit den östlicheren Rennthier- Tungusen des Stanowoi-Gebirges erklären sich die mehrfachen Nachrichten, dass an der Dseja (Maax#, IIy- res. Ha Amyp%, crp. 104, 105) oder gar im Bureja-Gebirge (Tamo»e, H3% nmyTeBbIxb 3ambTokB AcTpoHoMma oNpe- Abaasın. MbCTH. pp. Amypa u Yecypiw. — 3an. Um. Pycex. Teorp. O6. 1862. Ku. I, Ora. Hscaba. u Marep., CTp. 4121) ebenfalls «Orotschonen» umherstreifen. 2) U. Kpouorkuu», lNot3ıra u3% 3abaikaıaa Ha Anyp® upe3% Maupuaypiro (Pycer. Bern. T. LVII, 1865, Iroub, eTp. 665, 669). 3) Tagebuch einer im Jahre 1736 unter Anführ. des Kanzleir. Lange von Zuruchaitu durch die Mongolei nach Peking verricht. Karawanenreise, in Pallas’ Neuen Nord. Beytr. Bd. II, 1781, p. 170. 4) L. c. p. 670. 5) L. ec. p. 671. 46 Die Völker des Amur-Landes. beiden Seiten des Amur-Stromes, wobei aber der an dem letzteren selbst gelegene Theil an Raum und Bedeutung weit hinter denjenigen Gebietstheilen zurückbleibt, die sich an den Nebenflüssen desselben, und besonders den linken, ausbreiten. Mit anderen Worten, für die Orotschonen und Manägirn — und ebenso auch für die Biraren — ist der Amur, obgleich er ihre Gebiete ebenfalls durchschneidet, lange nicht eine solche Hauptader des Landes, wie für die an demselben wohn- haften Völker des unteren Amur-Landes. Und der Grund davon ist leicht einzusehen: während diese letzteren Völker ganz vornehmlich vom Fischfang leben, finden jene ihre ergiebigste Existenz- quelle in der Jagd, welche sie naturgemäss dem entlegeneren Gebirge zutreibt. Je kleiner aber der Antheil der Orotschonen am Amur-Strome, um so grösser ist ihre Ausbreitung nord- und südwärts von demselben. Wir begegnen ihnen einerseits an den Nebenflüssen des Nonni und also des Sungari, andererseits über das Amur-Land hinaus an den südlichen, rechten Zuflüssen der Lena. Durch diese Verbreitung geben sie gewissermassen ein ethnographisches Bindeglied zwischen dem Amur-Lande und dem angrenzenden Ostsibirien ab. Auch sind sie, trotz des Nertschinsker Traktates, der alles Land östlich vom Argunj und von der Schilka, wo diese die Gorbiza aufnimmt, dem chinesischen Reiche zumaass, am Amur und an seinen linken Zuflüssen faktisch doch unter russischer Botmässigkeit geblieben und haben so der Ausbreitung russischen Einflusses nach dem Amur-Lande manchen Vorschub geleistet. Damit wäre die Reihe der eigentlichen Amur-Völker zu Ende, wir meinen derjenigen Völker, die ihre Wohnsitze im Laufe des Amur-Stromes von der Mündung bis zur Vereinigung seiner Quellflüsse, der Schilka und des Argunj, und an den vielen Zuflüssen desselben haben, mit Ausnahme jedoch eines Zuflusses, und zwar des mächtigsten von allen, der beiden Mandshu und Chinesen sogar für den Hauptstrom gilt, — des Sungari. Nur seinen untersten Lauf haben wir oben, als einen Theil des Golde-Gebietes, in Betracht gezogen. Zugleich ist auch auf die grosse Bedeutung hingewiesen worden, die er in ethnographischer Beziehung für das ganze untere Amur-Land hat, indem den Völkern des letzteren Alles, was sie bis dahin an Cultur hatten, vom Sungari und nicht vom Sachali oder oberen Amur zugetragen worden ist. Auch nach dem oberen Amur sind die wenigen Culturelemente vom Sungari aus gelangt, nur dass sie ihren Weg dahin nicht diesen ganzen Strom abwärts, sondern zumeist seinen linken Hauptzufluss, den Nonni, aufwärts und von dort nach demjenigen Theile des Amur-Stromes nahmen, den wir bereits oben das mandshu-chinesische Culturstück desselben nannten. Die Sungari-Völker nehmen somit den eigentlichen Amur-Völkern gegenüber eine höhere Stellung, gewissermassen die Stellung von Culturvölkern ein. Dies gilt zunächst und vor Allem von den Chinesen, die zwar kein eigent- liches Sungari-Volk, gegenwärtig aber in der Mandshurei fast heimischer als alle anderen Völker sind; ferner, in geringerem Grade von den Mandshu und Dauren, und zuletzt und am entfern- testen endlich von den Solonen. Worin die Culturelemente bestehen, die sie den Amur-Völkern zugetragen haben, werden wir später am betreflenden Orte sehen. Genug, dass sie in solchen Beziehungen zu den Amur-Völkern stehen, so wie dass sie ausser dem Sungari auch am Amur Sungari- Völker. — Solonen. Verbreitungsgebiet. 47 selbst vielfach festen Fuss gewonnen haben, um uns die Nothwendigkeit an die Hand zu geben, auch ihre Wohnsitze näher kennen zu lernen. Nur erwarte man hier keineswegs eine nach allen Seiten detaillirte Abgrenzung derselben, da es uns zur genauen Ermittelung der Völkergrenzen in diesem unter chinesischer Herrschaft verbliebenen und darum immer nur wenig und schwer zugänglichen Theile der Mandshurei noch sehr an eingehenden und zuverlässigen Nachrichten fehlt, und dieser Mangel um so empfindlicher ist, als andererseits die genannten Völker durch historische Ereig- nisse und politische Vorgänge seitens der chinesischen Regierung, wie durch die wachsende Einwanderung aus China ziemlich bunt durcheinander gewürfelt worden sind. Am unbestimmtesten und ungenügendsten lauten die Nachrichten über die Wohnsitze der Solonen'). Wir haben nicht diejenigen zahlreichen Glieder dieses Volkes im Auge, die, sei es als Beamte, sei es als Soldaten des Achtbannerheeres, im direkten Dienste der chinesischen Regie- rung stehen: diese können natürlich überall vorkommen, wo es chinesische Verwaltungskörper oder Truppen giebt, in den Städten am Sungari und Amur ebensowohl wie in Peking, in der Mongolei oder am Ili. Hier kann nur von den nicht im Dienste befindlichen, ihrem Gewerbe, sei es Ackerbau, Viehzucht, Jagd oder Handel, frei nachlebenden Solonen die Rede sein, die der Regierung bloss einen jährlichen Tribut zu entrichten haben und also, nach Palladij, «Butcha-Solonen» sind oder in die Kategorie der «Butchani» (Tributpflichtigen) gehören?). Darin stimmen alle Nachrichten überein, dass die Solonen am Nonni ihre Wohnsitze haben; wo und wie weit aber an demselben ihr Gebiet sich erstreckt, ist aus ihnen kaum zu ermitteln, zumal sie einander mehrfach widersprechen. Die Angaben der alten französischen Missionäre lauten nur sehr allgemein®). Auf den Karten von d’Anville‘) und nach ihm auch von Grosier°) nehmen die Solonen das rechte, die Dauren das linke Ufer des Nonni ein. Unbestimmter giebt Fischer an, der Fluss Naun oder Nonni bilde die Grenze zwischen beiden ®). In Iakinf's statistischer Beschreibung des Chinesischen Reiches heisst es einmal, dass von den beiden Gebirgsketten, welche den Lauf des Nonni begleiten, die östliche durch das Land der Solonen, die westliche durch dasjenige der Dauren laufe”); an zwei anderen Stellen desselben Werkes werden hingegen 4) Ein für allemal sei vermerkt, dass das s in diesem Namen hart ist und dass derselbe daher nach der hier an- genommenen Weise «Ssolonen» geschrieben werden müsste, was nur der Kürze wegen unterbleibt. 2) Apxnumauap. Harıariü, Aoposu. 3ambreu na nyrn or Iernma ao Buaropbımeucka, ype36 Manbu;kypiio, Bb 1870 r. (3a. Unn. Pycex. Teorp. O6m. IIo o6ın. Teorp. T. III, 1869, cıp. 428, 433, 434). 3) Da heisst es einmal, dass die dritte Provinz oder das dritte Gouvernement der chinesischen Tartarei, mit der Hauptstadt Tsitsikar, vom Nonni durchströmt und von Mandshu, Solonen und Dauren (Taguri) bewohnt werde (Du Halde, Descript. geogr., histor., chronol., polit. et phys. de l’Empire de la Chine et de la Tartarie Chinoise. Paris 1735, T. IV, p. 15). Sehr Viele aus dem Volke der Solon-tatse sollen namentlich in Niergui wohnen, einem grossen, von Tsitsikar wie von Mergen wenig entfernten und also wohl am Nonni gelegenen Dorfe (Du Halde,l. c. p. 17). An einer anderen Stelle (l. c. p. 36) giebt Du Halde nach Auszügen aus Gerbillon noch allgemeiner an, dass die «Provinz Solon» von der Ein- mündung des Argunj in den Amur längs diesem letzteren bis etwa nach Ninguta (am Churcha, einem Nebenfluss des Sungari) sich erstrecke. 4) Nouy. Atlas de la Chine, de la Tartarie Chinoise et du Thibet. La Haye 1737, N 1, 18, 23. 5) Descript. gener. de la Chine, Paris 1787, T. I. 6) Fischer, Sibirische Geschichte, St. Petersburg 1768, Bd. I, p. 465, Anm. 16. 7) Iakuu®%», Crarucr. Onuc. Kuraück. Umnep. C. Ie- Tepöypr&, T. II, crp. 3. 48 Die Völker des Amur - Landes. die Solonen als Bewohner des rechten, die Dauren als diejenigen des linken Nonni-Ufers an- gegeben '). Neueren Nachrichten zufolge ist jedoch keine dieser Angaben richtig und wohnen die Solonen an beiden Ufern des Nonni, und zwar von etwas oberhalb der Stadt Tsitsikar (dem ehemaligen Naun-choton) an, wo ihre südlichen Grenznachbaren, dieDauren abbrechen, aufwärts?). So lässt sich die Südgrenze des Solonen-Gebietes noch einigermassen ermitteln. Hinsichtlich seiner Nordgrenze bleiben wir aber noch in völliger Ungewissheit. Bei Mergen verliess der Archi- mandrit Palladij, dem wir jene Nachricht über die Wohnsitze der Solonen verdanken, den Nonni, um über das Gebirge Ilchuri-alin an den Amur, nach Aigun und Blagoweschtschensk zu gehen. In jenem Theile des Nonni-Laufes sind die Solonen sesshafte Ackerbauer; ausserdem soll aber ein Theil dieses Volkes auch das Nomadenleben der Jäger führen. Diesen dürfte man wohl in den Gebirgen am oberen Nonni und seinen Zuflüssen begegnen. Aber wie verläuft dort ihre Grenze gegen die Manägirn der Komar-Zuflüsse, die Dauren des oberen Komar-Laufes und die Orotschonen des Chingan-Gebirges? Und wie verhalten sich überhaupt diese Völker zu einander? So lange wir das nicht wissen, lassen sich bei gleicher Lebensweise der Völker in den Angaben flüchtiger Reisenden leicht auch manche Verwechselungen erwarten, und wie die ackerbauenden Solonen für Dauren oder umgekehrt diese für jene, so können die umher- streifenden, von der Jagd lebenden hie und da für Manägirn oder Orotschonen — wo die letzteren, wie im Chingan-Gebirge, nicht des Rennthieres, sondern des Pferdes sich bedienen — oder umgekehrt diese für jene genommen worden sein. Das ist um so eher möglich, als manche Nachrichten nur auf den Angaben der Eingeborenen beruhen. Ich will nur auf ein paar Mög- lichkeiten der Art aufmerksam machen. Als ich bei den Golde von Sselgako am Amur, strom- aufwärts gegangen, die ersten Pferde sah, wurde mir gesagt, sie rührten, gleich wie auch die Pferde am Ussuri, von den Solonen her, denen ich am oberen Amur begegnen würde. Letzteres ist nun zwar nicht geschehen, wohl aber lernte ich dort die Manägirn als Pferdehändler kennen, die ihre Waare oft weit stromabwärts bringen. Entweder lag hier also eine Verwechselung der Manägirn mit den Solonen, oder aber eine Unkenntniss der Wohnsitze dieser letzteren vor. Sollte nicht vielleicht auch ein Theil jener oben erwähnten Orotschonen, welche als berittene Jäger im Chingan-Gebirge bis weit nach Süden hinab umherstreifen sollen, Solonen sein? Wie nahe andererseits die Möglichkeit einer Verwechselung der letzteren mit den Dauren liegt, möge man z. B. aus Nachrichten wie die folgende ersehen. Lange berichtet, am Bache Tynyken oder Tynysken, einem Zuflusse des Chailar, zugleich mit Mongolen auch Solonen angetroflen zu haben, welche aus der Naun-Gegend hingekommen seien, und fügt dabei zur Erklärung, was man unter «Solonen» zu verstehen habe, hinzu: «daurische Tungusen»°), was jedoch, streng genommen, nur eine Umschreibung für «Dauren» wäre, da diese ebenfalls zum Tungusen- Stamm gehören. Uebrigens erfahren wir aus dieser und anderen Nachrichten, dass die Solonen 1) L. c. p. 6 und p. 29, Anm, * die Mongolei nach Peking verrichteten Karawanenreise 2) Palladij,l.c. p. 434. (Pallas’ Neue Nord. Beytr. Bd. U, 1781, p. 164). 3) Tagebuch einer im Jahre 1736 von Zuruchaitu durch Solonen, Dauren. Verbreitungsgebiet. 49 ausser dem Nonni, wo sie in compakterer Menge wohnen, auch in anderen Theilen des Amur- und Sungari-Landes anzutreffen sind. Ich meine wiederum nicht als Beamten oder Soldaten im chinesischen Dienste, sondern als gewerb- und namentlich handeltreibende Leute. So ist oben schon des Handels mit Pferden gedacht worden, den. sie den Amur abwärts und nach dem Ussuri betreiben sollen. Zu den Biraren im Bureja-Gebirge sollen allwinterlich ausser Dauren auch Solonen kommen, die letzteren allerdings zumeist als Beamten, die ersteren als Kaulleute'). Middendorfferzählten die russischen Tungusen, dass wenn ihnen von der Verwaltung zu Jakutsk längere Zeit hindurch kein Pulver abgelassen worden, sie solches zu geringem Preise von den «So- lorn» bezögen. Er deutet zwar diese Angabe entweder auf einen Handelsplatz an einem der ober- halb Albasın in den Amur einfallenden Flüsschen, oder aber auf Kosaken, die aus Transbaikalien hinkämen, und meint demnach, dass es transbaikalisches Pulver sei ?). Allein aus der ganzen Erzählung der Tungusen, wie sie Middendorff wiedergiebt, geht unzweifelhaft hervor, dass die «Solorn» kein Ort, sondern ein Volk sind, und wir werden nicht irren, wenn wir in den- selben handeltreibende Solonen erkennen. Dies ist um so wahrscheinlicher, als die Solonen, bei dem unter allen Sungari-Völkern allgemeinen Gebrauche von chinesischen Luntengewehren?), leicht auch grössere Pulvervorräthe haben können, während die aus Sibirien in das Amur-Land hinüberstreifenden Jäger oder Kosaken damit nur kärglich versehen zu sein pflegen und den geringen, ihnen selbst so unentbehrlichen Vorrath gewiss nicht verkaufen dürften, geschweige denn gegen einen geringen Preis. Mögen sich übrigens ausser den oben erwähnten Punkten noch manche andere im Amur- und Sungari-Lande finden, wo sich beständig oder auch nur zeitweilig Solonen aufhalten, immer bleibt ihr gesammtes Verbreitungsgebiet (von den im Dienste stehen- den natürlich wiederum abgesehen) nur ein sehr geringes, namentlich im Vergleich zu demjenigen ihrer unmittelbaren Grenznachbaren, der Dauren. Kein Volk im gesammten Amur-Lande, vielleicht mit alleiniger Ausnahme der Chinesen, hat so zerstreute Wohnsitze wie die Dauren. Wir haben ihrer daher auch schon zu wiederholten Malen als theilweiser Grenznachbaren der Biraren, Manägirn, Orotschonen und Solonen erwähnen müssen. Gleich wie bei den letzteren, müssen wir auch bei den Dauren, um uns einen annähernden Begriff von ihrer Ausbreitung im Amur-Lande zu bilden, von den im unmittelbaren Dienste der chinesischen Regierung stehenden Gliedern dieses Volkes absehen und nur die nicht im Dienste befindlichen, tributpflichtigen (Butchani) im Auge behalten. Mit am compaktesten schei- nen die Dauren noch am Nonni und einigen seiner Zuflüsse zu wohnen. Dort, zumal in der Gegend 1) Radde, im Bberu. Unn. Pycex. Teorp. Oöım. 4. | von den Solorn-Büchsen, die grossen Kalibers waren, XXIII, 1858, Ora. I, erp. 31, Ipumbu. theurer als die Erbsrohre und, wenn gut berufen, bis 2) Middendorff, Reise in den äuss. Norden u. Osten | 200 R. das Stück geschätzt wurden, — offenbar chinesische Sibiriens, Bd. IV, p. 1502, 1504. Luntengewehre. 3) A. a. O., p. 1511, spricht Middendorff auch selbst Schrenck's Amur-Reise, Band III. 7 50 Die Völker des Amur-Landes. von Tsitsikar (Naun-choton), lernten sie schon unsere älteren Reisenden, Yssbrants Ides, Lange u. A. kennen). Ein neuerer Reisender, Barabasch, giebt namentlich den Theil des Nonni von Tsitsikar abwärts bis Mocholo als das Gebiet der Dauren an: es ist zwar nur eine kurze Strecke (von etwa 35 Werst), allein diese soll ausschliesslich von grossen daurischen Dörfern einge- nommen sein”). Nach Norden grenzen also die Dauren am Nonni an die Solonen. Nach Süden beginnt von Mocholo abwärts das Gebiet eines Mongolen-Stammes, und zwar, nach dem Archi- mandrit Palladij, des Korloss-Aimak ®), der sich den ganzen unteren Nonni hinab und am Sungari von Da-chutun bis zur Stadt Petune (oder Bodune) hinzieht. Diesen Mongolen sind am Nonni*) sowohl wie besonders am Sungari Dauren und Chinesen untermischt°), und beide und zumal die letzteren gewinnen den Mongolen beständig mehr und mehr Terrain ab. Denn obwohl diese von der chinesischen Regierung zum Ackerbau an den genannten Localitäten an- gesiedelt wurden), so entspricht diese Beschäftigung und die damit verbundene sesshafte Lebensweise doch nicht ihrem angeborenen Nomadensinne. Es sind daher dort nur kleine Feldwirthschaften, die von den Mongolen, zumeist auch mit Hülfe chinesischer Arbeiter, be- trieben werden; das Meiste haben die Chinesen durch Pacht oder Kauf an sich zu bringen gewusst, und unter ihrem Einfluss wandeln sich auch die Mongolen nach Sprache und Sitte meistens in Chinesen um’). Nur weiter westwärts ab vom unteren Nonni und Sungari, wo reine Steppe sich ausbreitet und die Mongolen ihr gewohntes Nomadenleben führen ®), kann sich auch ihre Eigenart erhalten. So dringt dort, wo die innerasiatische Steppe in das Amur- Land vorspringt, auch der in dieser Naturform besonders heimische Volksstamm in dasselbe vor, ohne.jedoch in dem Stromlande selbst festen Fuss fassen zu können. Die Mongolen bleiben dem Amur-Lande Fremdlinge, und daher können wir hier, bei Betrachtung der Amur-Völker, mit diesen wenigen gelegentlichen Bemerkungen füglich über dieselben hinweggehen. Wie einen Theil des Nonni, so bewohnen die Dauren auch die rechten, vom Chingan- Gebirge kommenden Zuflüsse desselben, den Jalo°), den Gujuil !°) u. a., vielfach mit ackerbauenden Chinesen untermischt. Wir haben sie dort bereits am Ostfusse des Chingan - Gebirges als die Nachbaren der unter ihrem Einfluss, oft in ihrem Dienste stehenden Orotschonen kennen gelernt. Wie weit sie sich aber dabei nordwärts erstrecken und wo und wie sie an die Solonen grenzen, ist bisher unbekannt. Reicht etwa ihr Gebiet continuirlich, wenn auch mit sparsamer Bevöl- kerung, längs dem Ostabhange des Chingan-Gebirges bis zu den Komar-Quellen? oder wird es am oberen Nonni und seinen Zuflüssen dureh Solonen unterbrochen ? oder kommen endlich auf 1) Yssbrants Ides, Driejaar. Reize naar China. Am- 5) Barabasch, I. c. sterdam 1704, p. 70. Lange, I. c. p. 175—178. S. auch 6) Pallas,l. c. Ritter, Asien, Bd. II, p. 252. 7) Palladij,l. c. p. 414, 423. 2) 4. Bapa6am», Cyurapiüer. akeneA. 1872 r. (Boeu- 8) Barabasch,l. c. npıir C6opn., 1874, Nö 1, crp. 328). 9) Ritter, Asien, Bd. I,p. 116; nach Yssbrants Ides 3) Oder Korloss-Horde (Palladij, l. c. p. 414). und Lange. 4) Pallas, Samml. histor. Nachrichten über die Mon- 10) Nach Kropotkin (s. oben p. 45). gol. Völkersch, St. Petersburg, Bd. I, p. 175. Dauren. Verbreitungsgebiet. 51 der letzteren Strecke vielleicht beide Völker durcheinander vor? Jedenfalls lernen wir nach dem mittleren Nonni am Komar eine zweite Gegend kennen, in welcher eine compaktere daurische Bevölkerung ihren Sitz hat. Und zwar nehmen die Dauren den oberen und mittleren Lauf dieses Flusses ein, während der untere den Manägirn gehört'). Die dritte Localität endlich, wo uns die Dauren in grösserer Verdichtung begegnen, liegt am mittleren Amur, zwischen den Antheilen der Biraren und Manägirn an demselben oder von etwas oberhalb der Bureja- bis zur Dseja-Mündung. Während aber am Komar die Dauren, so weit ihre Grenzen reichen, das Land allein inne haben, theilen sie es am Amur mit den Mandshu und Chinesen. Ihre Wohnsitze liegen dort mit denen der beiden letzteren Völker bunt durcheinander, und zwar gehört bald ein ganzes Dorf nur einem Volke an, bald haben auch zwei oder jedes von ihnen ihre respectiven Antheile an demselben. Bei der grossen Zahl dieser Dörfer, die, von weiten Aeckern umgeben, längs den beiden Ufern des Stromes sich hinziehen und von denen ich manche nur aus der Ferne gesehen habe, war es mir nicht immer möglich zu ermitteln, welcher Nationalität sie angehörten. Das äusserste Dorf der Dauren nach Osten ist das uns bereits bekannte Chormoldin, an der unmittelbaren Grenze des Biraren-Ge-, bietes am Amur gelegen °). Welches ihr äusserstes Dorf nach Westen ist, weiss ich nieht, doch muss es noch unterhalb der Stadt Aigun liegen, da oberhalb desselben, zum wenigsten am rechten Amur-Ufer, nur Mandshu-Dörfer sich befinden. Die grossen daurischen Dörfer Dung- tscheba und Beratochso am linken Amur-Ufer liegen auch noch unterhalb Aigun, und vielleicht ist das letztere auch das äusserste nach Westen. Ueberhaupt dürften die Dauren mehr in der öst- lichen, die Mandshu mehr in der westlichen Hälfte dieses von den drei genannten Völkern durcheinander bewohnten Gebietes eoncentrirt sein. Dabei scheinen sie jedoch das Land alle drei in nahezu gleichem Verhältniss einzunehmen. Nannten wir daher oben diesen Theil des Amur- Stromes das mandshu-chinesische Culturstück desselben, so geschah es sowohl der Kürze wegen, als auch weil die Mandshu und Chinesen in politischer und historischer Beziehung eine wich- tigere Rolle als die Dauren spielen; richtiger aber wäre für dasselbe die Bezeichnung dauro- mandshu-chinesisches Stück. Und das um so mehr, als die Dauren für das mittlere und obere Amur-Land durch ihre vielfachen Handelsbeziehungen zu dessen Völkern eine immerhin nicht zu unterschätzende eulturhistorische Bedeutung haben. Ausser den drei bezeichneten Gebieten, am Nonni, am Komar und am mittleren Amur, wo die Dauren in compakterer Menge zusammen wohnen, sind sie in kleineren Partien oder einzeln durch das ganze obere und mittlere Amur-Land anzutreffen. Denn sie sind es besonders, welche als unternehmende, gewinnsüchtige Händler chinesische, mandshurische oder auch ihre eigene 1) S. oben p. 43. die eine Bezeichnung «Dauren», indem er meint, dass 2) Ganz irrthümlich hat Gerstfeldt (O npnöpessun. sur. | diese die Hauptmasse derselben bilden. Dabei will er mit Anmypa. — Bberu. Unn. Pycex. Teorp. O6m., Y. XX, 1857, | diesem Namen nicht einmal den Begriff eines besonderen Ora. 1, erp. 313) für die gesammte Bevölkerung zwischen | Volksstammes verbinden. Die Bezeichnungen Biraren, dem Komar und besonders der Dseja und dem Ussuri nur | Golde kommen bei ihm gar nicht vor. 7F 52 Die Völker des Amur-Landes. Waare zu den Biraren, Manägirn und Orotschonen tragen, um sie gegen deren Jagdaus- beuten zu vertauschen. Bei Besprechung der Verbreitungsgebiete der genannten Völker haben wir dieser daurischen Kaufleute, die sich bald ständig, bald nur zeitweilig an den verschiedensten Punkten unter ihnen aufhalten, oftmals erwähnt. Vom mittleren Nonni und seinen Zuflüssen gehen sie den im Chingan-Gebirge umherstreifenden Orotschonen nach; aus ihren Wohnsitzen am Sungari ziehen sie diesen Strom abwärts und seine linken Zuflüsse aufwärts, um über das Gebirge zu den Biraren am U und anderen rechten Nebenflüssen des Amur zu gelangen; die daurischen Dörfer am mittleren Amur entsenden die zahlreichen Händler, die im ganzen Biraren- Gebiet an der Bureja und ihren Zuflüssen bis in das Gebirge hinauf zu finden sind, und vom Komar endlich kommen die daurischen Handelsleute, die mit den Manägirn sowohl am oberen Amur, als besonders auch an der Dseja und deren Zuflüssen ihre Geschäfte betreiben. Wir haben oben bereits gesehen, dass sie ehemals sogar bis nach Inkanj den Ssilimdshi hinauf kamen'), sowie dass sie noch jetzt bei ihrer Ausbreitung nach Norden an vielen Punkten des Bureja- und des Dseja-Gebietes mit den zu gleichen Zwecken von Norden herabkommenden Jakuten zu- sammentreflen. Nur eine Grenze scheint ihnen im Amur-Lande von der chinesischen Regierung selbst gesetzt zu sein: die Sungari-Mündung überschreiten sie nicht, und im unteren Amur-Lande, wo ihrem Handelstriebe ein weites Feld oflen stände, sind sie nicht anzutreffen. In dieser Be- ziehung treten sie vor den ähnlich begabten, aber begünstigteren Chinesen zurück. So haben die Dauren, ungleich allen bisher von uns betrachteten Völkern, kein einheit- liches, zusammenhängendes Verbreitungsgebiet, sondern treten uns einerseits an mehreren Orten in grösserer Verdichtung und andererseits in vereinzelter Weise, unter fremden Völkern auf weitem Raume zerstreut entgegen, — eine Erscheinung, die unwillkürlich daran mahnt, dass sie gegenwärtig im Amur-Lande nicht in ihrer ursprünglichen, stetig ihnen verbliebenen Hei- math, sondern nur auf unlängst errungenem, secundärem Boden sich befinden dürften. Und das lehrt, wie wir sehen werden, auch die Geschichte. Gehören die Dauren, trotz ihrer zerstreuten Wohnsitze, ihrer gesammten Verbreitung nach dem Amur-Lande an, so ist dies mit dem unserer Betrachtung noch übrig gebliebenen letzten und historisch wichtigsten der Sungari-Völker, den Mandshu, keineswegs mehr der Fall. Zur Herrschaft über das Chinesische Reich gelangt, haben sie sich auch weit über die Grenzen ihrer ursprünglichen Heimath verbreitet. Uns liegt es fern, den historischen Gang und den ganzen Um- fang ihrer Ausbreitung verfolgen zu wollen, wir haben hier nur ihre Wohnsitze im Amur-Lande näher kennen zu lernen. Bekanntlich ist das zwischen dem Amur und den weissen Bergen (Schan-alin) gelegene, vom Sungari und seinen Zuflüssen durchströmte Land die eigentliche Man dshurei, die Heimath der mehrfachen, nahe verwandten Stämme, aus deren Vereinigung das Volk der Mandshu hervor- 1) Nach Middendorff; s. oben p. 38. Mandshu am Sungari. Hinschwinden ihrer Nationalität. 53 ging). Blieb es auch später, nachdem die Mandshu, siegreich vorrückend, die Herrschaft über ganz China gewonnen hatten, zusammen mit der zuerst eroberten Provinz Liao-tung, welche ihnen bald zur zweiten Heimath wurde, stets das bei den Herrschern besonders beliebte und von ihnen bevorzugte Mandshu-Land, so legten jene Ereignisse doch den Grund dazu, dass es diese Be- zeichnung gegenwärtig kaum mehr beanspruchen darf. Und dies aus dem Grunde, weil es in demselben gegenwärtig fast keine Mandshu mehr giebt. Die bevorzugte Stellung, die sie in dem neueroberten Lande fanden, bewog schon unter Kaiser Kang-hi — und wohl auch später — viele Mandshu ihre Heimath zu verlassen und nach Peking und anderen Orten China’s zu ziehen). Andererseits eröffnete sich auch den Chinesen die Möglichkeit, aus ihrem übervölkerten Lande nach der nunmehr zu einer Provinz ihres Reiches gewordenen Mandshurei auszuwandern?). Es begann die Colonisation der Mandshurei durch die Chinesen, die, stetig und unablässig be- trieben, bald zu kolossalen Dimensionen anwuchs und den Mandshu verhängnissvoll wurde. Der praktische, fleissige, betriebsame Sinn der Chinesen, ihre Ueberlegenheit in allen Ge- werben und Hantirungen, ihre Zähigkeit und Ausdauer sicherten ihnen den Sieg über die trägen, arbeitsscheuen, unwissenden und doch im Bewusstsein ihrer Herrschaft stolzen und vor- nehmthuenden Mandshu. Bald waren Ackerbau und Viehzucht, alle ländlichen und städtischen Gewerbe, aller Handel und Wandel in den Händen der Chinesen, während die Mandshu in dem- selben Maasse mehr und mehr in Armuth und Abhängigkeit von ihnen geriethen und zu blossen Handlangern derselben oder gar zu Proletariern herabsanken. Getreu den Sitten und Ueberlieferungen ihrer Heimath, richteten die Chinesen in jedem irgend erheblichen Dorfe aus eigenen Mitteln Schulen ein, in denen das Mandshu natürlich keinen Eingang fand, während für mandshurische Schulen nur die Regierung und kaum in den wenigen Städten sorgte). Dadurch wurde auch die mandshurische Jugend von frühe an der chinesischen Sprache, Sitte und Anschauung ge- wonnen. Zu alledem trugen auch manche Maassregeln der Regierung dazu bei, die Mandshu 1) Klaproth, Asia polyglotta, Paris 1823, pag. 291. J. H. Plath, Die Völker der Mandschurey, Göttingen, Bd. I, 1830, pag. 233 ff., u. A. 2) Gerbillon; vrgl. Du Halde, Deser. de l’Empire de la Chine, T. IV, p. 36. 3) Plath (Die Völker der Mandschurey, Bd. II, 1831, p- 942) meint, dass so ungern die chinesischen Kaiser der Mandshu-Dynastie dieAuswanderungen aus China sahen, diejenige nach Norden, in die Mandshurei, doch nie ver- boten gewesen, ja vielmehr immer von ihnen begünstigt wor- den sei. Aehnlich spricht sich der Archimandrit Palladij aus (Aoposu. 3am. ete. l. c. p. 373). Nach Huc hingegen ist bis zum Kaiser Tao-kuan das Betreten der Sungari- Gegenden und besonders der Anbau des Landes in den- selben den Chinesen untersagt gewesen; erst zu Anfang der Regierung dieses Kaisers, der 1820 den Thron bestieg, wurde dieses Verbot aufgehoben und, um dem Reichs- schatz aufzuhelfen, der Verkauf von Ländereien auch an Chinesen gestattet, welche nunmehr wie Raubvögel über das Sungari-Land herfielen (Huc, Souvenirs d’un Voyage dans la Tartarie, le Thibet et la Chine pend. les annees 1844—1846, Paris 1850, T. I, p. 150). Da jedoch alles Land inder Mandshurei in die Hände der Chinesen überzugehen drohte, verbot die Regierung nachmals die fernere Uebersiedelung ackerbauenderChinesen.nach der Mandshurei, — ein Verbot, das im Geheimen überschritten wurde und daher 1844 wieder erneuert werden musste. (U. 3axapo»», Ilozeme.apnan coOcrs. 86 Rurab. — Tpyası yıaeuoBb Pocciückoii AyXoBnoü Muceiu B& INernut, T. I, C. Herepo. 1853, crp. 65). Ob es noch besteht, weiss ich nicht; sollte es aber auch bestehen, so wird es jedenfalls umgangen. 4) Bapa6damm, Cynrap. sxenea. 1872 r. (Boenusrü Cöopn. 1874, N 2, Ora. I, erp. 325). 54 Die Völker des Amur-Landes. in die Reihen der Chinesen zu treiben. So lange den letzteren der Erwerb von Ländereien in der Mandshurei untersagt war, wussten sie sich ihrer in der Art zu bemächtigen, dass der nominelle Besitz, aber damit zugleich auch die Abgabenpflicht für denselben auf Seiten der Mandshu blieb’). Diese sind auch vor Allen zum Dienste im Achtbannerheer berechtigt und verpflichtet, während die Chinesen aus demselben ausgeschlossen sind?). Nach einem Reichsgesetz muss nun in jedem der acht Banner alle drei Jahre eine Zählung der Mandshu stattfinden und werden diejenigen, die sich dabei nicht melden, um ihre Namen in die Rollen eintragen zu lassen, als aus der Mandshu-Nation ausgeschieden betrachtet. Da lag es denn nahe, dass alle diejenigen Mandshu, welche aus Armuth oder Trägheit nach einer Befreiung von den Abgaben und dem Militärdienst strebten, diesen Zählungen fern blieben und so in die Reihen der Chinesen traten, deren Sprache, Sitten und Gebräuche sie nunmehr definitiv zu den ihrigen machten®). Dass endlich durch häufige Mischehen die physischen Differenzen zwischen den Mandshu und Chinesen sich mehr und mehr verwischten *), versteht sich von selbst. So hat es kommen können, dass die Mandshu, die Eroberer und Beherrscher von China, ihrer Natio- nalität mehr und mehr verlustig gehen und von dem eroberten Volke assimilirt und verschlungen werden. Ganz übereinstimmend schildern uns diesen rasch sich vollziehenden Prozess des Auf- gehens der Mandshu in der chinesischen Nationalität und des Verschwindens ihres Idiomes aus der Zahl der lebenden Sprachen alle Reisenden, welche verschiedene Theile der Mandshurei besucht haben. Man kann gegenwärtig, sagt Huc, die Mandshurei bis an den Amur durch- streifen, überall ist es, als ob ınan in einer Provinz China’s reiste, so vollständig hat sich dort alle Loecalfärbung verwischt. Mit Ausnahme einiger Nomaden °), spricht Niemand mehr mandshurisch, und vielleicht wäre jetzt keine Spur mehr von dieser schönen Sprache nachgeblieben, wenn die Kaiser Kang-hi und Kuen-lung ihr nicht unvergängliche Denkmäler gesetzt hätten‘). Hatte Du Halde von der durch die Jesuiten auf Befehl des Kaisers Kang-hi entworfenen Karte der Man- dshurei gesagt, dass die chinesischen Bezeichnungen auf derselben aus dem Grunde weggelassen wären, weil es für einen Reisenden in der Mandshurei von keinem Nutzen sein könne, wenn er z. B. wüsste, dass der Sachali-ula von den Chinesen He-long-kiang genannt werde, da er es dort nicht mit Chinesen, sondern mit Mandshu zu thun habe, die jenen chinesischen Namen vielleicht nie gehört hätten, so sei dies, meintHue, vielleicht zu Kang-hi’s Zeiten richtig gewesen, jetzt aber gelte das Gegentheil ”). Man könnte meinen, dass Hue über die Mandshurei 1) Huc, Souy. etc. T. I, p. 149. 3) Hue,l.c. p. 150. 2) Mit Ausnahme, heisst es, derjenigen, die gleich bei 4) Williamson, Journeys in North China, Manchuria der Eroberung des Reiches die Partei der Mandshu er- | and Eastern Mongolia, London 1870, Vol. II, p. 60. griffen hatten (Plath,1.c.p.737),oder die mit den letzteren 5) Huc rechnet die Solonen ebenfalls zu den Man- aus der Mandshurei gekommen waren (lakıne%», Cra- | dshu und meint, dass bei ihnen der Mandshu- Typus ruerug. Onne. Kuraick. Umnep. €. Herepö., 1842, 4. II, | sich noch rein erhalten habe. erp. 251) und deren Nachkommen, womit faktisch alle 6) Huc,l.c.p. 151. später nach der Mandshurei eingewanderten Chinesen 7) Hue,l. ec. p. 161. aus dem Heere ausgeschlossen blieben. Li Li = Mandshu am Sungari. Hinschwinden ihrer Nationalität. und die Mandshu etwas aus der Ferne urtheilte, — darnach vielleicht, was er in China, in der Mon- golei und höchstens an den Südgrenzen der Mandshurei gesehen und gehört hatte. Allein ganz ähnlich lauten auch die Berichte solcher Reisenden, die tiefer in dieses Land eingedrungen sind. Die südliche Mandshurei, die Provinz Liao-tung, ist nach Fleming'), Richthofen?), Williamson?°), selbst ihre Hauptstadt Mukden nicht ausgenommen, rein chinesisch: Mandshu sind dort nicht mehr zu finden und die Mandshu-Sprache ist so gut wie ausgestorben, kaum wird sie noch von Einzelnen verstanden. Williamson meint, dass ein grosser Theil der Mandshu von dort nach Norden, in das Sungari-Land — die centrale Mandshurei, wie er es nennt , — ausgewandert, ein anderer Theil aber, der sich zu den Chinesen an manchen Orten wie 1 zu 3, an anderen auch wie 1 zu 10 verhalte, in Liao-tung verblieben sei und von den Chinesen mehr und mehr assimilirt werde. Nach Richth ofen hingegen hätte kein Ver- drängen der Mandshu durch die Chinesen, sondern nur eine Amalgamirung beider stattge- funden, der Art jedoch, dass die Mandshu-Sprache der chinesischen Platz gemacht habe. Nur in den Dörfern der Provinz Kirin®), sagt er, soll das Mandshu noch als lebende Sprache existiren. Nach den direkten Nachrichten aus dem Sungari-Lande ist aber auch dies kaum noch der Fall. Williamson nennt auch die centrale Mandshurei nur eine unmittelbare Fortsetzung von China, indem auch dort die Mandshu in Sprache, Sitten, Kleidung, Manieren den Chinesen blindlings folgen und alles Nationale von Kindheit an abthun®). Giebt die Sprache, sagt Barabasch, das Kennzeichen der Nationalität ab, so lassen sich unter den Anwohnern des Sungari, Nonni und Churcha vier Völker, Chinesen, Mongolen, Dauren und Golde, unterscheiden, — Mandshu, d. h. Leute die mandshurisch sprechen, trifft man nicht, und zwar hat dies nicht bloss für die Dörfer, sondern auch für die Städte, diese Nester mandshurischen Beamtenthums, seine Richtig- keit. Und dies aus dem Grunde, weil die Chinesen, die seit der Thronbesteigung der jetzigen Dynastie die Mandshurei zu überfluthen begannen, das herrschende Volk ganz in Chinesen zu verwandeln gewusst haben ®). So leicht die Söhne des himmlischen Reiches alle Sprachen erlernen und die ihnen scheinbar unmöglichen fremden Worte radebrechen, eine Sprache ist aus ihrem Lexikon als unnütz verbannt, — die mandshurische, bemerkt ebenfalls nach seinen Erfahrungen in der Mandshurei der Archimandrit Palladij‘). Es ist demnach auch die oben angeführte Bemerkung Huc's über die gegenwärtig in der Mandshurei gebräuchlichen chinesischen Ortsnamen zum grossen Theil richtig. Noch neuerdings berichtete z. B. Barabasch, dass der auf allen unseren Karten dieses Landes übliche mandshurische Name «Churcha» für den grossen Fluss, an welchem die Stadt Ninguta liegt, in der Mandshurei selbst ganz unbekannt sei und der Fluss hingegen all- SS 1) Travels on horseback in Mantchu Tartary. London 3) Journeys in North China, Manchuria and Eastern 1863, p. 544. Mongolia, London 1870, Vol. II, p. 39. 2) Reise durch Liao-tung und Pe-tschili nach Peking, 4) Oder Girin, also im Sungari-Lande. Mai—Juli 1869 (Petermann, Geograph. Mittheil. 1870, 5) Williamson,l. c. p. 59, 60. p- 371). Desselben, Schreiben über seine Reisen zur Grenze 6) Barabasch, l. c. p. 322. von Korea und in der Prov. Hu-nan (Zeitschrift der Ge- 7) L. c. p. 396. sellsch. für Erdk. zu Berlin, Bd. V, p. 319, 320). 56 Die Völker des Amur- Landes. gemein den chinesischen Namen «Mudan-dsan» trage'). So ist das weite Gebiet am Sungari und seinen Zuflüssen, die eigentliche Mandshurei, nur noch nominell mandshurisch. Nicht ganz so schlimm sieht es mit den Mandshu in anderen Theilen des Amur-Landes aus, obwohl dies nur später von ihnen occupirte Gebiete sind. Durch Mongolen und Dauren von dem mandshu-chinesischen Gebiet am Sungari getrennt, wohnen die Mandshu am Nonni oberhalb Tsitsikar. Es sind zumeist, etwa zu °/,, sogenannte «Itschä-Mandshu» («neue Man- dshu»), d.h. Nachkommen solcher Geschlechter, die ursprünglich im östlichen Theile der Provinz Girin gewohnt haben und von dem Begründer der jetzigen Dynastie (Tai-tsu) aus dem Ussuri- Lande an den Nonni versetzt worden sind?). Diese sollen unter einander noch mandshurisch, mit Anderen aber chinesisch sprechen ?). Die reinere Erhaltung ihrer Nationalität verdanken sie ohne Zweifel ihren entlegeneren und von den Chinesen des Sungari-Gebietes durch andere Völker getrennten Wohnsitzen. Doch haben sich auch unter ihnen bereits Chinesen niedergelassen, und so ist auch ihre Entnationalisirung nur eine Frage der Zeit. Dasselbe gilt auch von dem dritten Mandshu-Gebiet, demjenigen am mittleren Amur, im ofterwähnten mandshu-chinesischen Culturstück desselben. Zwar wohnen sie auch dort sowohl mit Dauren, als auch mit den ihrer Nationalität so verhängnissvollen Chinesen durcheinander, allein noch scheint die Zahl der letzteren nicht genügend gewesen zu sein, um das Mandshu- Element so weit zu unterdrücken, wie es am Sungari und Churcha geschehen ist. Vielleicht ist dabei auch der Umstand zu berücksichtigen, dass sowohl dieser Theil des Amur-Stromes, wie der Nonni Verbannungsgegenden sind und also zum grossen Theil nur schlechtere chinesische Elemente erhalten, die ihrer Nationalität nicht so bald den Einfluss und die Geltung verschaflen können, welche die freien Ansiedler so leicht gewinnen. Ich habe wenigstens auf der bezeichneten Strecke am Amur beiderseits manche grosse Dörfer gesehen, die angeblich noch rein mandshurisch waren, daneben aber allerdings auch welche mit gemischter, mandshu-chinesischer Bevölkerung. Auch magdie Stadt Aigun oder Aicho-choton, aus den oben angeführten Gründen, weniger chinesische 4) Barabasch, 1. c. p. 134, Anmerk. Der koreanische Missionar Kimai-Kim (Lettre ä Mgr. Ferreol, eveque de Belline ete.—Nouy. Annales des Voyages, V-eSer. T. IX, 1847 [T. 1], p. 69) nennt seinen chinesischen Namen (fran- zösisch geschrieben) «Mou-touan», Venault (Excurs. dans les parties inter. de la Mandchourie, 1850.— Nouv. Annales des Voyages, V-e Ser. T. XXX, 1852 [T. II], p. 207): «Mou- tan». Auf Williamson’s (englischer) Karte der Mandshu- rei (s. dessen Journeys etc.) heisst er «Mootwan-ho». Da- gegen wurde mir dieser Fluss von Ssargu-Golde (also weit unterhalb der Ussuri-Mündung) mit seinem mandshu- rischen Namen «Churcha» bezeichnet. 2) Archim. Palladij, l. c. p. 432. Plath (l. c. p. 983, Anm. 4) erklärt nach Klaproth die «Itschä-Mandshu» für Nachkommen derjenigen Mandshu, die, im Gegen- satz zu den alten oder «Fe-Mandshu», nicht in China einfielen, sondern von den letzteren erst später unter- worfen wurden oder sich ihnen anschlossen. Der Chi- nese U-tschen, der 1664 in Ninguta, wohin sein Vater verbannt war, geboren wurde und bis 1681 dort verblieb, erzählt in seiner Beschreibung dieses Ortes, dass diejenigen Leute ausdem «Churcha- oder Chulcha-Volke» Man- dshu vom Churcha-Flusse), die sich durch Tapferkeit aus- gezeichnet, von der Regierung Ringe und Sklaven (aus der Zahl der Verbannten) zum Geschenk erhalten hätten. Ihnen sei später befohlen worden nach Ninguta, von dort nach Mukden und wiederum zwei Jahre später nach Pe- king überzusiedeln. Dies, sagt er, seien die «Itschä- Mandshu», die anfangs zwar ungeschickt und unbehülf- lich, später aber, als er sie in Peking sah, von den echten Mandshu fast gar nicht mehr zu unterscheiden waren. Vrgl. Wassiljef’s Uebersetzung von U-tschen’s Schrift (3anucra 0 Huuryrb. — 3an. Pycex. Teorp. O61n. 4. XII, 1857, erp. 93). 3) Palladij,l. ce, Mandshu am Amur. Wachtposten. 57 Bestandtheile als die Sungari-Städte enthalten, gleichwie auch Mergen und Tsitsikar, in denen es neben Chinesen auch Mandshu, Dauren und Solonen giebt!), während Girin, Ninguta, Petune, Ssan-ssin fast vein chinesische Städte sind. Das östlichste der Mandshu-Dörfer am Amur ist das bald oberhalb des östlichsten daurischen Dorfes (Chormoldin) gelegene Dorf Torel. Besonders nehmen aber die Mandshu-Dörfer, wie schon erwähnt, den westlichen Theil jener Strecken am Amur ein, unter- und oberhalb der Stadt Aigun, am rechten Ufer bis gegenüber der Dseja-Mündung. Ja, sie ziehen sich auch längs diesem letzteren Flusse fort, gegenwärtig jedoch nur längs dem linken Ufer desselben, bis etwa 20 Werst oberhalb seiner Mündung, während sie früher beide Ufer der Dseja einnahmen °). Ausser den betrachteten Mandshu-Gebieten müssen wir endlich als mandshurisch auch diejenigen Punkte im Amur-Lande betrachten, wo grössere oder kleinere Wachtposten sich be- finden oder von der chinesischen Regierung angestellte Beamten sich aufhalten, obwohl die betreflenden Personen keineswegs immer nur Mandshu sind, sondern es unter ihnen auch Solonen, Dauren, ja selbst Chinesen giebt?). Es liegt uns fern, alle Orte der Art aufzählen zu wollen, wir begnügen uns nur auf diejenigen hinzuweisen, die am Amur und seinen Zuflüssen unter den hier in Rede stehenden Völkern liegen; denn eine gewisse ethnographische Bedeutung lässt sich ihnen immerhin nicht absprechen, schon weil sie uns ein Bild von der mandshu- chinesischen Machtstellung den Amur-Völkern gegenüber geben, und weil ferner in denselben die Tributerhebung stattfindet, mancher Handel- mit den Eingeborenen betrieben wird und mehr noch aller Art Erpressungen von Seiten der Machthaber geübt werden. In der nach Tsitsikar, als ihrer Hauptstadt, ressortirenden Provinz He-long-kiang, unserem mittleren und oberen Amur-Lande, liegen oberhalb der Stadt Aigun und der Dseja-Mündung, im Manägirn-Gebiet mehrere mandshurische Posten: so Ulussu-modon an der unterhalb der Komar-Mündung befindlichen, schlingenförmigen Krümmung des Amur-Stromes, zwei Posten an der Komar-Mündung, der eine unmittelbar an derselben, der andere ihr gegenüber am linken Ufer, und endlich wiederum zwei an und gegenüber dem durch seine steilen weissen und gelben Wände leicht kenntlichen Zagajan-Berge. Diese sind auch die letzten stromaufwärts, denn im Orotschonen-Gebiet giebt es keine, obgleich dieses nach dem Nertschinsker Traktat auch noch zum Chinesischen Reiche gehörte; es wurde nur gelegentlich, auf den Reisen zur Revision der Grenzzeichen, von chinesischen Beamten besucht. Stromabwärts von Aigun liegt im Biraren- Gebiet der Wachtposten Ssung oder Ssung-bira an der Mündung des gleichnamigen, von rechts in den Amur einmündenden Flusses und etwas oberhalb der Bureja- Mündung. An diesem letzteren Flusse befindet sich etwa 60 Werst oberhalb seiner Einmündung in den Amur wieder ein mandshurischer Posten, der offenbar bestimmt ist, über die Biraren Wacht zu halten, von 1) Lange, Tageb. einer Karawanenreise, in Pallas’ Neuen Nord. Beytr. Bd. II, p. 177. Palladij,l. c. p. 429. 2) Schmidt, Histor. Bericht etc, p. 33. Vgl. auch den Bericht Ussolzef’s in Schwarz’s HloApoön. Oru. o pe- 3yıapr, uacıb.a. Maremar. Orabıa Cuöuper. Ixenea. Unmu, Schrenck's Amur-Reise, Band Ill. Pycer. Teorp. O6. C. Herepö. 1864, Ta. I, erp. 34. 3) So war der Beamte, der mir aus Aigun entgegen- geschickt wurde und mich ein paar Tage lang, bis ich diese Stadt erreichte, begleitete, von chinesischer Natio- nalität. 58 Die Völker des Amur-Landes. ihnen Tribut einzusammeln und vielleicht auch das Vordringen russischer Tungusen und Ja- kuten an den Amur zu verhindern'). In der Provinz Girin, unserem unteren Amur-Lande, liegen die mandshurischen Wachtposten oder ständigen Aufenthaltsorte mandshurischer Beamten sämmtlich im weit ausgedehnten Golde- Gebiet. Einer der wichtigsten unter ihnen ist der von Dshang - dshu an der Sungari-Mündung, dessen oben schon erwähnt wurde. Ein zweiter liegt in Gaidje, am rechten Amur-Ufer. Ein be- ständiger Aufenthaltsort von einem, wie es scheint, ziemlich hohen chinesischen Beamten im unteren Amur-Lande war ferner zu meiner Zeit das Golde-Dorf Chöchzyr, am rechten Amur- Ufer, nahe der Ussuri-Mündung. Am Ussuri selbst gab es zwei mandshurische Posten: der eine, den ich besucht habe, befand sich im Golde-Dorfe Dshoada, im unteren Laufe des Stromes; der andere, Namens Schang-jeng, liegt am linken Ufer, schräg gegenüber der Ima-Mündung und ist der Aufenthaltsort mehrerer mandshurischer Beamten, die von hier aus ihre Fahrten auch an den oberen Ussuri zur Erhebung des Tributs von den Eingeborenen machen ?). Doch sollen diese Fahrten nur sehr selten geschehen und auch wohl nur bis zu einem gewissen Punkte, denn die ziemlich wüste Strecke, die sich oberhalb der Ssungatschi-Mündung und besonders zwischen der Kuburche- und der Nyntu- oder Nautu-Mündung hinzieht, scheint ziemlich die faktische Grenze der mandshurischen Herrschaft am Ussuri zu sein. Die weiter oberhalb wohnenden Chinesen werden von den Mandshu so gut wie gar nicht mehr belästigt”). Der letzte beständige Aufent- haltsort mandshurischer Beamten im unteren Amur-Lande endlich ist das Golde-Dorf Mylki, ein paar Tagereisen oberhalb der Gorin-Mündung. Weiter stromabwärts, im Oltscha und gil- jakischen Theile des Amur-Stromes, so wie bei den Orotschen an der Meeresküste gab es weder mandshurische Posten, noch auch unter den Eingeborenen sich aufhaltende Beamten. Ja, diese Ge- genden wurden auch nicht einmal vorübergehend von mandshurischen, behufs Tributerhebung oder Revision der Grenzzeichen reisenden Beamten berührt, so dass sie, wie wir später noch sehen werden, einer so gut wie völligen Unabhängigkeit von den Mandshu genossen. . Wir haben im Vorhergehenden bei Besprechung der Wohnsitze der Mandshu im Amur- Lande nicht umhin können, auch des Schritt für Schritt vor sich gehenden Verschwindens ihrer Nationalität zu gedenken, weil nur unter gleichzeitiger Berücksichtigung dieses Umstandes die faktische Ausdehnung ihres Verbreitungsgebietes und die Stellung, die sie in dieser Beziehung im Amur-Lande und unter den Amur-Völkern einnehmen, in ihrem wahren Lichte erscheinen. So gross das ursprüngliche Mandshu-Gebiet war und nominell noch ist, so gering und unbe- 1) Middendorff, Reise etc. Bd. IV, p. 166, Anm. 1. Ufer des Ussuri liegt, welches zur Zeit von Maack’s 2) Maack (Ilyrem. uno z01uuB5 p. Yeeypu, C. Herepö., | Reise (1861) bereits in russischen Besitz übergegangen war. 1861,crp. 11,36) nennt nur diesen einen Mandshu-Posten 3) BeumwkoB%, O603p. p. Vecypu u op. (Bberu. Unn. am Ussuri; der von Dshoada ist ihm entgangen oder war | Pycex. Teorp. O6m. 4. XXV, 1859, Ora. II, crp. 208). vielleicht schon aufgehoben, da dieses Dorf aın rechten | Ero-xe, Uyrem. no oxpaun. Pycer. Asiu, erp. 42, 43. Chinesen am Sungari. 59 deutend ist es, in Folge des Hinschwindens der Mandshu-Nationalität, in Wirklichkeit. Es liegt daher die Schlussfolgerung nahe, dass ein Volk, welches trotz seiner bevorzugten Eroberer- und Herrscherstellung nicht im Stande ist, sich selbst im eigenen Gebiete zu erhalten, auch nicht fähig sein dürfte, einen irgend erheblichen Cultureinfluss auf andere Völker auszuüben. Um so Grösseres lässt sich hingegen von demjenigen Volke erwarten, das, ungeachtet seiner politischen Unterjochung, den Eroberern ihr eigenes Land abzugewinnen und sie selbst seiner Nationalität einzuverleiben verstanden hat. Ich meine von den Chinesen. Es ist uns daher auch für alle späteren Betrachtungen über die Amur-Völker von Interesse, zunächst das Gebiet kennen zu lernen, welches dieses älteste Culturvolk Ostasiens im Amur-Lande zu der Zeit bereits ge- wonnen hatte, als wir die Bekanntschaft jener Völker machten. Die Chinesen nehmen im Amur-Lande theils zusammenhängende, grössere und kleinere Gebiete, die sie sich ganz oder zum grössten Theil zu eigen gemacht haben, theils einzelne, weit unter die Amur-Völker vorgeschobene Posten ein. Das weitaus grösste solcher Gebiete, auf dem sie die faktischen Herren sind, ist dasjenige, welches sie den Mandshu abgewonnen haben, — das weite und fruchtbare Sungari-Land. Wir haben oben bereits gesehen, wie nach der Erobe- rung China’s durch die Mandshu der Strom chinesischer Auswanderung nicht bloss über das zunächst gelegene Liao-tung, sondern auch über die eigentliche, sogenannte eentrale Mandshurei sich ergoss und dieses Land so stark überfluthete, dass es heutzutage nach seiner herrschenden Bevölkerung, Sprache, Sitte nur eine unmittelbare Fortsetzung China’s ist. Die Hauptader des Landes, der Sungari mit seinen fruchtbaren Ufern, ist ganz von Chinesen bevölkert, unter denen, wie wir sahen, auch viele zu Chinesen gewordene Mandshu sich befinden. Eine kleine Unterbrechung bildet nur die Strecke zwischen der Stadt Petune und Da-chutun, wo sie den Mongolen und Dauren gegenüber noch in der Minderzahl vorhanden sind, allmählich jedoch durch Arrendirung der mongolischen Ländereien, wie durch Handel, Anlage von Gast- häusern, Herbergen u. s. w. mehr und mehr Terrain gewinnen !). Von Da-chutun ab, in der äusserst fruchtbaren, vom Sungari benetzten Niederung breitet sich aber wieder sowohl am Strome, wie landeinwärts, und zumal um die Städte Bajan-ssussu, Ashi-che, Ssuan-tschang-pu u. a., die sämmtlich erst in neuerer Zeit entstanden sind, eine zahlreiche, Ackerbau, Handel und Gewerbe aller Art treibende chinesische Bevölkerung aus. Zwischen den Städten Bajan-ssussu und Ssan-ssin liegen am Sungari die jüngsten Ansiedelungen der Chinesen. Barabasch, dem wir die Schil- derung dieser Bevölkerungsverhältnisse am Sungari entnehmen), traf im Jahre 1872 manche dieser Colonien noch im ersten Entstehen, die Ankömmlinge noch in Zelten und Erdhütten 1) Haxıaaiü, Aoposu. 3ambrku »6 1870 r. (3ar. Ann. Pycer. Teorp. O6m. Io oöın. Teorp. T.IV, 1871, crp. 423). Bapa6am», Cyurap. sken. 1872 r. (Boeun. Cöopn. 1874, N: 4, erp. 327). Die chinesische Regierung begünstigt die Zunahme der Sesshaftigkeit im Gebiete der nomadischen Mongolen, indem sie darin eine Bürgschaft für die Ruhe und Gefahrlosigkeit ihrer Grenzländer sieht. Davon Ge- brauch machend, ziehen die Chinesen den Grund und Boden der Mongolen an sich, indem sie das Land zu- nächst arrendiren oder in Pacht nehmen und alsdann durch Handel, Vorschüsse u. dgl. die ursprünglichen Be- sitzer zu ihren Schuldnern machen (Palladij,l. ce). 2) L. c. p. 325—327. » 8*+ 60 Die Völker des Amur-Landes. wohnend an. Dennoch erstrecken sich die chinesischen Niederlassungen am Sungari schon seit langer Zeit auch über Ssan-ssin hinaus, und zwar ziehen sie sich auf dem rechten Sungari-Ufer noch auf einer Strecke von etwa 115 Werst, bis zum Dorfe Dsan-mu-sso fort, von welchem abwärts das Golde-Gebiet beginnt; auf dem linken Ufer aber brechen sie in etwa 60 Werst Entfernung von Ssan-ssin, mit dem Dorfe Wan-juan-wo-ken ab, auf welches unbewohnte Prairiewildniss bis zum Amur folgt. Nächst dem Sungari bietet sein grösster rechter, bei Ssan-ssin in denselben einmün- dender Zufluss, der Churcha oder Mu-tuan-ho, die dichteste chinesische Bevölkerung. Besonders zieht sie sich längs dem zum Ackerbau geeigneteren rechten Ufer dieses Flusses, bis nach Ninguta und über dieses hinaus fort. Von dort in der Richtung zur russischen Grenze, also zum oberen Ssuifun hin, bildet das Thal des Flüsschens Mo-do-schi die Grenze der dichten chinesischen Bevölkerung: denn weiterhin, bis nach Wan-lun-ho und über dieses hinaus bis zur russischen Grenze, giebt es nur einzelne Chinesen-Hütten, deren Bewohner sich mit etwas Feld- und Gemüsebau oder mit dem Unterhalt von Herbergen für die zahlreichen Durchzügler abgeben, welche nach dem oberen Ssuifun, dem oberen Ussuri oder der Küstengegend, sei es des Gold- waschens wegen oder zu anderen Zwecken, passiren. Minder dicht, aber doch ebenfalls ganz vor- herrschend chinesisch ist die Bevölkerung an den übrigen Zuflüssen des Sungari, am Hulan, Maiche u. s. w., mit Ausnahme des Nonni, an welchem, wie wir bereits gesehen haben, die Chinesen im unteren Laufe mit Mongolen und Dauren, weiter hinauf mit diesen und mit Solonen untermischt wohnen und zunächst nur die Minderzahl der Bevölkerung bilden. Da das weite Sungari-Land noch vielen Raum für Colonisation darbietet, so hat der beständige Zuzug von Chinesen dahin, trotzdem er schon vor ein paar Jahrhunderten begann, noch lange nicht aufgehört. Ja, es scheint, dass die Besitznahme von einem grossen Theile des Amur-Landes durch die Russen die Auswanderung der Chinesen nach dem Sungari-Lande noch verstärkt hat, sei es weil sich ihnen dadurch die Aussicht auf einen lebhafteren Handel, auf einen leichteren und vortheilhafteren Absatz der am Sungari gebauten Produkte eröffnete, sei es auch weil die Pekinger Regierung die Auswanderung begünstigte, um sich durch zahlreiche und homo- gene chinesische Bevölkerung den Besitz des ihr verbliebenen Landes in Zukunft möglichst zu sichern. Williamson sah im Jahre 1866, auf seiner Reise von Peking nach der Mandshurei, als er Ying-tse, den Hafen an der Mündung des Ssira-muren, verlassen hatte und durch das Innere von Liao-tung zog, jeden Tag Schaaren von Auswanderern, die ihren Weg nach Norden nahmen !). Das grösste Contingent dieser Auswanderer stellen die gleich übervölkerten chinesi- schen Provinzen Schantung und Schansi, und nächst diesen auch Tschili, die drei der Man- dshurei auch geographisch zunächst gelegenen Provinzen China’s. Aus Schantung ergoss sich, in Folge von Missernten, schon gleich nach der Eroberung China’s durch die Mandshu, ein starker Strom von Auswanderern nach der Mandshurei?), die den ersten Grund zur Colonisation dieses Landes von Seiten China’s legten. Von dort bezieht es auch seine besten Colonisten: er- 1) Journeys etc. Vol. II, p. 165. | 2) Archim. Palladij,l.c. p. 373. Chinesen am Sungari. 61 fahrene, fleissige Ackerbauer, in allen ländlichen und städtischen Gewerben kundige Leute, die mit ihren Familien hinkommen, um sich ein entsprechendes Arbeitsfeld zu gewinnen und sess- hafte, bleibende Bewohner des Landes zu werden ''). Sie sind es besonders, die die Mandshurei in eine chinesische Provinz zu verwandeln, die dem einheimischen, herrschenden Volke allen Boden abzugewinnen und es durch ihren moralischen Einfluss, durch Errichtung von Schulen u. s. w. auch um seine Nationalität zu bringen gewusst haben. Ihre Sprache, der Schantung-Dialekt, ist auch die herrschende unter allen Mandshu-Chinesen oder Man-dse — wie man sie auch dort zu nennen pflegt ?), — sie überwuchert alle anderen Dialekte, mit alleiniger Ausnahme des- jenigen der Schansi-Leute, die ihre Sprache nur schwer verändern ®). Dabei behalten jedoch alle Chinesen im Charakter und im Wesen die Eigenthümlichkeiten ihrer respeetiven Heimathsprovinz bei, so dass man bei hinlänglicher Bekanntschaft mit China, trotz der gleichlautenden Sprache, sogleich die aus Schantung, aus Tschili u. s. w. Stammenden erkennen kann. Gleichwie Schan- tung liefert übrigens auch Tschili der Mandshurei meist arbeitsame, tüchtüge, im Lande verbleibende Ackerbauer und Gewerbsleute, wenn auch in geringerer Zahl als jenes erstere. Anders Schansi. Die meisten Auswanderer aus dieser Provinz wenden sich in der Man- dshurei dem Handel zu: es sind unternehmende, gewandte, praktische Leute, die durch un- ermüdliche Thätigkeit sich des gesammten Gross- und Kleinhandels in allen Städten und Dörfern der Mandshurei bemächtigt haben‘), die «Juden des himmlischen Reiches», wie der Archimandrit Palladij sie treffend bezeichnet), die der Reisende überall, im eigentlichen China wie in den Nebenländern des Chinesischen Reiches zu sehen und deren von allen anderen scharf sich unter- seheidenden Dialekt er überall zu hören bekommt. Bei ihrer grossen Zahl und Ausbreitung, ihrem pekuniären und moralischen Uebergewicht den Mandshu gegenüber und der Unentbehr- lichkeit, die sie für dieselben gewonnen haben, gebührt ihnen ein nicht geringeres Verdienst wie den Schantung-Leuten, dem chinesischen Wesen, der chinesischen Sprache und Nationalität in der Mandshurei allenthalben Eingang und Boden verschafft zu haben. Im Gegensatz zu den Schantung-Chinesen, fesseln sich jedoch die Schansi-Leute in der Mandshurei nur selten und ungern an die Scholle: meist kommen sie ohne Familie in’s Land, suchen sich möglichst bald zu bereichern und kehren ihm dann den Rücken, um von neuen Ankömmlingen ersetzt zu werden. Sie bilden daher, schon ihrem Berufe nach, eine nomadischere, fluctuirendere Bevölkerung und geben dem Lande auch keine so bleibenden Colonisationselemente wie die Schantung-Leute ab. Dafür treibt sie aber die Gewinnsucht wie die Natur ihres Berufes immer weiter und weiter 1) Williamson, 1. c. Vol. II, pag. 165. 3axapos®, | losen. cooer». 86 Rural (TpyAapı vaen. Pocciiscr. AyXoBH. auccin 83% Ueruus, T. U, 1853, crp. 65). Archim. Palladij, l. c. p. 408. Barabasch,l. ce. p. 323. 2) B. BacuapeB», 3anncra 0 Huuryrb; (3ar. Unn. Pycex. Teorp. O6m., 4. XII, 1857, crp. 86). Bapaoamı, Cyurap. axcn. 1872 r. (Boeun. C6opn., 1874, N 1, erp. 324). 3) Palladij, ]. c. p. 373, 374, 409. 4) Williamson, Palladij, Barabasch, Il. ce. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass es in der Mandshurei nicht auch Kaufleute aus Schantung und umgekehrt Ackerbauer oder Gewerbsleute-aus Schansi gebe. So traf z. B. Wil- liamson (Journ. etc. Vol. II, p. 222) in Ssan-ssin Kauf- leute, die aus den Städten Tung-tschu-fu und Lai-tschu-fu im östlichen Schantung gebürtig waren. 5) L. c. p. 396. Die Völker des Amur-Landes. vorzudringen, und so sind es gerade die handeltreibenden Schansi-Chinesen, welche über die eigentlicheMandshurei hinaus fast unter allen Völkern des Amur-Landes anzutreflen sind, und welche somit als die ersten Pioniere für die Verbreitung chinesischer Cultur in demselben angesehen werden können. Wir werden daher in den folgenden Betrachtungen noch Gelegenheit finden, auf dieselben wieder zurückzukommen. Ausser den erwähnten Elementen trägt der Strom der Auswanderung aus dem übervölkerten China, und besonders wiederum aus Schansi und Schantung, der Mandshurei auch eine Menge minder brauchbaren Volkes aus den ärmsten und niedrigsten Schichten, ja zum grossen Theil auch des verkommensten Gesindels aller Art zu: Leute, die durch Laster und wüstes Leben, zumal durch das in China so allgemein betriebene und so verderblich wirkende Kartenspiel, um ihr Hab und Gut gekommen sind, Verbrecher, die, um der Strafe des Gesetzes zu entgehen, die Flucht ergriffen u. s. w. Diese suchen sich zunächst als Tagelöhner, Fischer, Jäger, als Arbeiter auf den Goldwäschen u. dgl. m. ihr Brod zu verdienen, und Manchem von ihnen gelingt es, durch Fleiss und Energie auch zu höheren und besseren Stellungen emporzukommen. Mehr oder minder alle Provinzen China’s liefern endlich der Mandshurei ihr Contingent an demjenigen Theile ihrer chinesischen Bevölkerung, welcher ihr nicht durch freiwillige Auswan- derung, sondern in Folge von Verbannung durch die Regierung zufliesst. Keineswegs sind es nur schlechte Bevölkerungselemente, welche die Mandshurei auf diesem Wege aus China erhält; denn neben allerdings stark gravirten gemeinen Verbrechern, Räubern, Falschmünzlern, Staatsdieben ete., verfallen der Strafe der Verbannung ganz besonders auch die politischen Verbrecher, Glieder geheimer politischer und staatsgefährlich erscheinender religiöser Gesell- schaften, zu denen wiederholentlich auch das Christenthum gerechnet wurde '), durch Intriguen in Ungnade gefallene Staatsdiener und Hofbeamten, überwiesene oder vermeintliche Feinde der herrschenden mandshurischen Dynastie u. s. w. Solche Verbannte konnten und mussten unter Umständen eine grosse colonisatorische Macht in der Mandshurei gewinnen. Nicht alle Gegenden derselben werden aber in gleichem Maasse als Verbannungsorte benutzt. Die im Herzen des Sungari-Landes gelegenen Städte Ninguta und Girin und mehr noch das über die eigentliche Mandshurei hinaus, am Amur gelegene Aigun werden uns seit je als solche Verbannungsorte genannt). Aigun oder die Gegend ober- und unterhalb desselben ist auch immer gemeint, wenn schlechtweg von einer Verbannung an den Amur die Rede ist). Palladij nennt auch Hulan, 1)EinEdikt vom Juli1811, unter demKaiser Kia-king, besagte z. B., dass alle Chinesen, welche das Christen- thum angenommen hätten und nicht davon lassen wollten, nach dem Amur exilirt werden sollten (Plath,l.c. p. 931). 2) Gerbillon, s. Du Halde, Deser. de ’Emp. de la Chine, T. IV, p. 6, 36, 182, 250. Takıun »%, Rurraii, ero sku- TEAM, HPaBbı, OOBIU1an, npockbun, C. Herepöypr», 1840, erp. 299, Hpum. repöypr®, 1842, 4. II, erp. 234, Ipum. **. **, Ero-;xe, Crar. onne. Kuraick. Unmn. C. Ile- 3) So wurde z. B., um nur einiger Fälle der Art zu erwähnen, unter dem Kaiser Yung-Isching (1727) Yo- tschu, der Sohn des ersten Ministers und zugleich na- hen Verwandten des kaiserlichen Hauses, Lung-ko-to, nach dem Amur verbannt (Plath, 1. c. p. 554). Unter dem Kaiser Tao-kuang (etwa 1844) wurde der Nomunchan von Lassa, wegen Ermordung dreier noch im unmündigen Alter stehender Dalai-Lama’s, zu lebenslänglicher Ver- bannung an die Ufer des Amur verurtheilt (Huc, Sou- venirs d’un Voyage etc. T. II, p. 288. C.F.Koeppen, Die Religion des Buddha, Berlin, Bd. Il, 1859, p. 234). Chinesen am Sungari und am Amur. 63 am gleichnamigen Flusse, Hu-lun-buir und ganz besonders Tsitsikar, nach welchem die zahl- reichsten und schwersten Verbrecher kommen sollen, als solche Örte'). Dorthin, an den Nonni, liess schon der Kaiser Kang-hi zahlreiche Chinesen aus Yunnan, die als Anhänger von Ussan- kuei für die Unabhängigkeit China’s von den Mandshu gekämpft hatten, versetzen und ihnen Land zum Anbau geben. Durch fleissige und tüchtige Arbeit erweiterten deren Nachkommen ihren Besitz, und gegenwärtig bilden die Yunnan-Chinesen, die übrigens im Wesen und Charakter alle Eigenthümlichkeiten ihrer Provinz conservirt haben sollen, grosse Ackerbau- eolonien am Nonni?). So musste auch der weitentlegene Süden China’s zur Colonisirung der Mandshurei und zur Verbreitung chinesischer Sprache und Sitte in derselben beitragen. Man wird übrigens die Bedeutung, die solche und ähnliche Verbannungen für die Mandshurei und das Amur- ISC Land hatten, um so weniger unterschätzen, wenn man erwägt, dass die chinesische Regierung oftmals bei Verhängung der Verbannungsstrafe auch den Zweck der Populationsvergrösserung in der Mandshurei im Auge hatte”), und dass ferner, dem entsprechend, die Verbannten, zum mindesten die weniger schwer gravirten, an dem Orte ihres Exils eine gewisse Freiheit geniessen, indem die ganze Gontrole über dieselben nur auf eine von Zeit zu Zeit, ein oder zweimal monatlich statt- findende Aufrufung sich beschränkt). Schlimmer geht es ihnen freilich bei verschärfter Strafe; allein auch wenn diese ihr höchstes Maass erreicht, d. h. wenn die Verschiekten den dienstthuenden Solonen und Dauren in Sklaverei gegeben werden’), ist dem geschiekteren und intelligenteren Sklaven noch immer die Möglielikeit eines gewissen Einflusses auf seinen roheren Herrn ge- boten. So hat auch die mandshu-chinesische Regierung, indem sie ihr eigenes Stammland zum Deportationslande machte, ohne es zu wollen selbst dahin gewirkt, die Mandshu-Nationalität fast verschwinden und die Mandshurei in eine chinesische Provinz sich umwandeln zu lassen. Nur unbedeutend im Vergleich mit dem weiten Sungari-Gebiet ist der Raum, den die Chinesen, in compakteren Massen zusammenwohnend, am Amur einnehmen. Wir finden sie in solcher Weise nur in jenem sogen. mandshu-chinesischen Culturstück am mittleren Amur, zwischen der Dseja- und der Bureja-Mündung, wo sie an beiden Ufern des Stromes meist in grossen Dörfern, mit Ackerbau und Viehzucht beschäftigt, zuweilen aber auch einzeln, kleinem Handel nachgehend, wohnen. Mit Dauren und Mandshu untermischt, haben sie dort aus Gründen, deren wir oben schon erwähnten, auf jene Völker noch nicht in so assimilirender Weise wie im Sungari-Lande gewirkt, um bereits für das herrschende Volk gelten zu können. Auch dürften dort wie am Nonni die ihnen in mancher Beziehung, namentlich an praktischem Sinn, an berechnendem, unternehmendem Handelsgeist näher stehenden Dauren ihrem Einfluss einen 1) Palladij,l.c. p. 428,429. Nach Pauthier (Chine | Kuraick. Uno. 4. I, cıp. 234. moderne ou deser. hist., geogr. et litter. de ce vaste Em- 2) Palladij, 1. c. p. 409, 415. pire, II. Part. Paris 1843, p. 235) soll die schwerste aller 3) Gerbillon (s. Du Halde, Deser. de ’Emp. de la Verbannungen die nach Ili sein. Der Verbannung geht | Chine, T. IV, p. 6, 36) spricht dies ganz direkt aus. stets die Bastonnade, mit einer der Schwere des Ver- 4) Palladij,l. c. Barabasch,l. c. p. 324. gehens entsprechenden Anzahl von Schlägen, voraus. Vrgl. 5) Palladij,l. c.; vrgl. auch Plath, 1. c. p. 935. Du Halde,l.c.T. I, p. 135. Jakun®%, Crar. onncanie 64 Die Völker des Amur-Landes. kräftigeren Widerstand entgegensetzen als die Mandshu. Ja, es scheint sogar, dass die Dauren von den Gegenden, in welchen ihr Haupthandelsgebiet liegt, von der Bureja und Dseja — dem Biraren- und Manägirn-Gebiet — die Chinesen bis dahin ganz fern zu halten gewusst haben. Eine viel grössere Ausbreitung als am mittleren Amur haben die Chinesen im Küsten- gebiet der Mandshurei und an dem oberen Ussuri und seinen Zuflüssen gewonnen. Wir haben ihrer in diesem ihrem Gebiet, wo sie, gleiehwie übrigens auch am Sungari, unter dem Namen der Man-dse bekannt sind, im Allgemeinen schon erwähnt, bei Besprechung der Verbreitungsgebiete der Orotschen und Golde, mit denen sie zum grossen Theil untermischt wohnen. Werfen wir nun noch einen besonderen Blick auf die von ihnen dort eingenommenen Localitäten. Das Küstengebiet der Mandshurei, d. i. der Streifen Landes zwischen dem Meere und dem nahen Küstengebirge, Ssichota-alin, wird von den Chinesen von der Grenze Korea’s und also auch der jetzigen russischen Besitzungen am Japanischen Meere an, bis über die Bai Wladimir und den Fluss Tasuschi oder Lifule') hinaus bewohnt. Je weiter aber nach Norden, um so geringer ist ihre Zahl, und über den 46. Breitengrad, von welchem ab auch die Natur rasch ein nordischeres Gepräge gewinnt, sollen sie nicht hinaus gehen ?). Insbesondere bewohnen sie die Thäler der vom Küstengebirge quer durch’s Land herabkommenden Flüsse. Unmittelbar an der Meeresküste bauen sich die Chinesen nur selten an, sei es weil sie nicht gern vom Meere aus gesehen sein “wollen, oder um sich den unmittelbaren klimatischen Einflüssen desselben, den starken See- winden u. s. w. zuentziehen. Am zahlreichsten sind sie im. fruchtbaren Thale des Ssutschan und in seinen Nebenthälern. Nach Prshewalskij?) soll es da nieht weniger als 11 Dörfer und 75 einzeln gelegene Häuser oder Fansen von Chinesen geben. Alsdann folgen nach dem Bevölke- rungsgrade die Thäler des Tasuschi, Zymuche, Tassuduche, Pchussun, Maiche u. s. w.‘). Auch die Gegenden um Wladiwostok und die Bai Possjet haben eine verhältnissmässig zahlreiche chinesische Bevölkerung. Hingegen ist der ödeste Theil der gesammten hier in Betracht kommen- den Küste die Strecke zwischen dem Flusse Ta-uchu und der Bai Olga°), sowie natürlich die Streeke nördlich vom Tasuschi, wo die chinesische Bevölkerung allmählich ganz aufhört. Uebrigens wechseln die Bevölkerungsverhältnisse in diesem Küstengebiete der Mandshurei sehr ansehnlich mit den Jahreszeiten, denn ausser den sesshaften, mit Feld- und Gemüsebau und dem Handel mit den Orotschen (Ta-dse) sich abgebenden Chinesen kommt im Sommer eine 1) Dieser auf den Karten übliche Name ist nach Prshe- 3) Hyrem. 3» Vecypiücr. xpab, crp. 143. walskij (Iyrem. 86 Yecypiick. kpab, erp. 156, Ilpım.) 4) Prshewalskij,l. c. p. 78, 136, 149, 151, 157. Am an Ort und Stelle unbekannt, gleichwie auch der Name | Tasuschi sollen, mit den Wohnungen der minder zahl- Fudsi für Lifudin, einen Zufluss des Ulache (oberen Us- | reichen Orotschen zusammen, etwa 35, am Zymuche suri). 30, am Tassuduche und Pehussun zu je 20, am Maiche 2) Benwxko»%, O603p. p. Veeypu ıı 3em. KB BOcT. oTB | 10 Fansen liegen. Für den Tasuschi oder Lifule s. auch nen ao mopa (Bberu. Hnn. Pycer. Teorp. O6in., 4. XXV, | Wenjukof, O6o3p. ete. 1. c. p. 218; Iyrem. etc. p. 59. 1859, Ora. II, crp. 226, 233). Ero-xe, Hyrem. uo oxp. 5) Prshewalskij,l. c. p. 151. Pycex. Aain, crp. 86. Chinesen im Küsten- und Ussuri-Gebiet. 65 grosse Menge vagirenden Volkes hinzu, um an der Küste Seetang und Trepang zu fischen oder an den Flüssen Gold zu waschen. Dadurch belebt sich zeitweise die gesammte zwischen der Bai Possjet und der Bai Olga gelegene Meeresküste, an welcher die Fischereien stattfinden, so wie die Gegend zwischen dem Ussuri-Golf und den Flüssen Zymuche und Ssutschan, wo die haupt- sächlichsten Goldwäschereien sich befinden. Im Herbst, wenn die Arbeit vollendet, kehren die meisten Leute, die sie verrichtet, auf demselben Wege, auf dem sie gekommen, wieder zurück, nach Hun-tschun, Ninguta u. s. w. Viele von ihnen, vermuthlich solche, die jene Beschäftigungen aufeigene Hand betreiben, bleiben aber auch den Winter über im Küstengebiet, theils als Arbeiter bei den sesshaften Chinesen, theils auch ohne Arbeit, vom Ertrage des im Sommer Verdienten zehrend. Daher sammelt sich in manchen Gegenden des Küstengebietes, besonders am Zymuche und Ssutschan, im Winter eine fast doppelt so starke Bevölkerung von Chinesen an, als sie im Sommer haben '). Je grösser aber dort die Zahl der Chinesen, um so geringer ist diejenige der Ta-dse oder Orotschen, die überhaupt mehr landeinwärts, zum Gebirge hin wohnen, wo auch die ergiebigeren Jagdgründe sich befinden. Doch fehlen auch dort einzeln wohnende Chinesen nicht, die handeltreibend von der Jagdausbeute der Orotschen leben. Steigt man über das Küstengebirge in das Ussuri-Gebiet hinab, so betritt man auch dort ein Land, in welchem die Chinesen noch weithin eingebürgert sind. Im Allgemeinen wiederholt sich aber auch dort dasselbe, was wir an der Küste sahen: je weiter nordwärts, um so geringer wird ihre Zahl, um so kleiner und vereinzelter werden ihre Ansiedelungen. Am zahlreichsten sind sie an den beiden Flüssen zu finden, die man mit Recht als die beiden Quellflüsse des Ussuri betrachten darf, aus deren Vereinigung erst dieser Strom entsteht, wie er denn von da ab auch erst den Namen Ussuri trägt, —ich meine am Ssandogu, der nach Aufnahme des Lifudin (Fudsi) den Namen Ulache bekommt, und am Daubiche?). Dort wohnen die Chinesen, mit Feld- und Gemüsebau, etwas Viehzucht u. dgl. beschäftigt, bald einzeln, bald in ganzen Dörfern zusammen und bilden, den Eingeborenen, Orotschen und Golde gegenüber, auch der Zahl nach die herr- schende Bevölkerung), wogegen abwärts sowohl am Ussuri, wie an seinen rechten Zuflüssen mehr und mehr das umgekehrte Verhältniss statthat, und zuletzt die Chinesen nur in einzelnen, von kleinen Gemüsegärtehen umgebenen Fansen und als Händler unter den Eingeborenen sitzen. Was die rechten Zuflüsse des Ussuri betrifft, so sind die beiden grössten unter ihnen, der Ima mit demWaku und derBiki, noch von verhältnissmässig zahlreichen Chinesen bewohnt, die sich bestän- dig dort aufhalten, kleine Aecker und Gemüsegärten haben und mit den allerdings zahlreicheren, aber meist nomadischen Orotschen Handel treiben. Am Waku ziehen sich ihre Ansiedelungen noch bis zwei Tagereisen oberhalb der Einmündung des kleinen reissenden Tundsi-Flusses in denselben. Minder zahlreich als am Ima sind die Chinesen schon am Biki, an welchem der belebteste Theil der- jenige sein soll, wo ihr Dorf Tschamudyndsa liegt, weil in dessen Umgegend auch die ergiebigste Jagd 1) Prshewalskij,l. c. p. 88. 3) BeuwkoB»%, OÖ03p. u np. erp. 217, 233; Iyrem. 2) Gewöhnlich wird, wie oben schon erwähnt, der | ı np. cıp. 57. erstere allein als Quellfluss des Ussuri angesehen. Schrenck's Amur-Reise, Band III. 9 66 Die Völker des Amur-Landes. betrieben wird‘). Der letzte der rechten Zuflüsse des Ussuri nach Norden, an welchem sich noch einige Chinesen aufhalten, und zwar als Händler unter den Orotschen, ist der Poor mit seinen Zuflüssen?). Es ist dies für sie auch aus dem Grunde ein wichtiger Punkt, weil von dort den Pächssa-Fluss hinab eine Strasse an den Amur führt, auf welcher manche Amur-Golde im Winter zur Jagd an die Poor-Zullüsse ziehen, und welche auch die chinesischen Händler zu- weilen benutzen. Am Ussuri selbst liegen die letzten beständigen Wohnsitze der Chinesen noch etwas unterhalb der Poor-Mündung, und zwar sind es am linken Ufer zwei von kleinen Gemüsegärten umgebene Häuser, die den Namen Chaizo tragen, und am rechten Ufer, noch etwas weiter abwärts, das Golde-Dorf Tumurgu, in welchem auch eine chinesische Fanse sich befindet, deren Inhaber, drei chinesische Händler, mir den Ort Chai-tsching-ju-tscha nannten°). An den linken Zuflüssen des Ussuri liegen die Verhältnisse etwas anders, weil sie mit ihren Quellen dem Sungari-Gebiet sich nähern und durch mehrfache Strassen mit demselben in Verbindung stehen. Ninguta und Ssan-ssin sind namentlich die Orte im Sungari - Lande, von welchen mehrfache Strassen nach den linken Ussuri-Zuflüssen führen. Von Ninguta laufen nicht weniger als drei solcher Strassen aus, und zwar einmal über den oberen Ssuifun an den Lefu und Daubiche, dann an den Kengka-See und endlich an den Muren, einen der grössten und jedenfalls wichtigsten der linken Nebenflüsse des Ussuri; von Ssan-ssin führt eine viel began- gene Strasse an den Noor*). Damit sind der Ausbreitung der Chinesen im westlichen Ussuri- Gebiet viel günstigere Bedingungen geboten: es schliesst sich mehr oder weniger unmittel- bar, wenn auch nur mit zerstreuter und sparsamer Bevölkerung, an das Sungari-Gebiet an. Betrachten wir uns die einzelnen linken Zuflüsse des Ussuri genauer, so ist das üppige, aber im unteren Theile sumpfige Thal des Lefu nur von ganz wenigen Chinesen bewohnt). Am Ssian- che, einem anderen Zufluss des Kengka-Sees, wie an diesem selbst ist ihre Zahl auch nur gering; westwärts aber vom See und nach dem oberen Ssuifun hin, wo die Strassen nach Ninguta zu- sammenlaufen, wird sie grösser®). Der Ssungatschi hat nur in der Nähe seines Austritts aus dem Kengka-See eine chinesische Ansiedelung ‘). Am Muren soll es im unteren Laufe, von dem allein 1) Kopsya$, cm. Byauıners, Onne. abc. vacrıu Upu- | 10a. p. Yecypu, T. I, crp. 42, 56, 61, 66: nach eigenen woper. 064. (3an. Cu6. Ora. Ybın. Pycex. Teorp. O6m., | Ermittelungen und nach Wassiljef. Upxesaubckiü, T. IX, N, crp. 353, 379,381). Beumwxos»s, O603p. u np. | Iyrem. »#% Yccyp. zpa&, crp. SS, 208. Apxum. Harıariü, erp. 201; Iyrew. u np. cp. 29. Yecypiückie Massussı. — Has. Hnn. Pycex. Teorp. O6m., 2) Korsun,l.c. p. 353. T. VII, 1874, Ora. I, erp. 372, 373). Am oberen Ssuifun 3) Maack (Iyrem. no ao.. p. Vecypu, T. I, crp. 9 u | zweigt sich der Weg von Ninguta einerseits nach Hun- 45) giebt aueh den Ort Chaizo als den äussersten Chi- | tschun, andererseits nach den Flüssen Maiche, Zymuche, nesen-Sitz am Ussuri an; doch versetzt er ihn an das | Ssutschan u. s. w.ab. Ausserdem laufen unzählige kleinere, rechte Ufer und lässt die Chinesen dort unter Golde | von den Man-dse gebahnte Fusspfade nach dem Küsten- wohnen, was nur auf Chai-tsching-ju-Ischa oder Tumurgu | und dem östlichen Ussuri-Gebiet ab (s. Prshewalskij | | | \ der Golde passt. und Palladij,ll. cc.). 4) Die Quellen des Noor sollen von denen des Woken, 5) Maack, 1. c. p. 58. Prshewalskij,l. c. 214. eines Zuflusses des Sungari, nur durch einen Berg ge- 6) Maack, 1. c. p. 60, 61. Prshewalskij, 1. e. pag. trennt sein (Benwxko»%, O6o3p.p. Veeypu.—Btera. Teorp. | 68, 211. O6m. Y. XXV, II, crp. 197. S. auch Maax», Oyrem. uo 7) Maack,l.c.p. 63. Chinesen im Küsten- und Ussuri-Gebiet. 67 « wir einige Kunde haben, auch nur ein paar kleine chinesische Dörfer geben '). Bevölkerter mit Chinesen sind der Duma und der Kirki, weil die Berge und Wälder in ihrer Umgegend und an ihren (Quellen reich an der so hoch geschätzten Ginseng-Wurzel sein sollen, weshalb auch ein Weg von dort an den Sungari führt?). Am meisten Chinesen giebt es aber am Noor, dem letzten ansehnlichen Zufluss des Ussuri von links: nicht bloss mit Feld- und Gemüsebau, sondern vor- nehmlich auch mit Handel beschäftigt, wohnen sie dort meist in kleinen Dörfern, welche oft mit eben solchen der Golde abwechseln®). Während daher an den rechten Zullüssen des Ussuri die chinesische Bevölkerung nach Norden und mit der Entfernung von der Hauptader des Landes abnimmt, findet an seinen linken Nebenflüssen, aus den oben erwähnten Gründen, eher das um- gekehrte Verhältniss statt. Es bleibt uns nur noch übrig, einige Worte über den Ursprung der Ussuri-Man-dse zu sagen. Er ist im Allgemeinen derselbe wie derjenige der Sungari-Chinesen, nur mit dem Unter- schiede, dass das Ussuri- Gebiet und die Meeresküste ihre chinesische Bevölkerung oft schon aus zweiter Hand, aus dem Sungari-Lande erhalten. Das grösste Contingent direkter Auswanderer nach dem Ussuri und der Küste senden wiederum dieselben drei, der Mandshurei zunächst gele- genen chinesischen Provinzen, Schantung, Schansi und nächst ihnen Tschili*). Doch ist der Charakter der Auswanderer, die sich hieher oder dorthin wenden, ein vielfach verschiedener, was wesentlich durch das verschiedene Verhalten der chinesischen Regierung diesen Ländern gegenüber bedingt wird. Während sie das Sungari-Land der Einwanderung chinesischer acker- bauender Colonisten öffnete und die Gründung grosser Ackerbaueolonien dort gestattete, hielt sie Beides vom Ussuri-Lande fern?) und lenkte dahin vielmehr den Strom einer beweglichen, industriellen Bevölkerung, aus Furcht, wie es heisst, der mandshurischen Befehlshaber in Ninguta und Girin vor der Ansammlung dort einer allzustarken chinesischen Population. Zugleich ge- währte sie den Ussuri-Man-dse eine grosse Freiheit, indem sie zu ihnen nur ab und zu Beamten aus Ninguta oder Ssan-ssin schickte, die einen willkürlichen Tribut von jedem Hause erhoben, im Uebrigen aber sie ganz unbehelligt liess®). Die Folge dieser Maassregeln war, dass der bessere Theil der chinesischen Auswanderer, namentlich Alle, die mit ihren Familien hinauszogen, in der Absicht, sich wirklich eine neue Heimath zu gründen und sesshafte, 1) Dorshidarof, der den Muren in seinem unteren Laufe besucht hat, fand an demselben nur ein chinesisches Dorf an der Einmündung eines ziemlich grossen Flusses, wie er vermuthel, desselben, der auf chinesischen Karten den Namen Jergun trägt, und ein zweites nahe seiner Mündung in den Ussuri (Maack I. c. p. 64). 2) BeuwkoB%, O603p. u np. crp. 199; Iyrem. u np. erp. 25. Maak%, Iyrem. no a0.. p. Vecypu, T. I, erp. 65. 3) Maack,l.c.p. 42, 66. 4) Bocrounoe Honopze, 1866, erp. 56, 57. 3) Wenn nichtsdesioweniger auch im Ussuri - Lande, wie wir oben sahen, Ackerbau betrieben wird, so ge- schieht dies doch nur im Kleinen, im nächsten Umkreise der Fansen, von deren Besitzern, allein oder mit Hülfe von einigen Arbeitern, wobei der äusserst fruchtbare Boden und die klimatischen Verhältnisse die Mühe reich- lich lohnen. Ausgebreiteten Ackerbau, geregelte Feld- wirthschaften, mit Allem was drum und dran hängt, wie im Sungari-Lande, giebt es aber dort nicht. Die Ussuri- Man-dse selbst klagen darüber, dass die chinesische Regierung ihnen nicht erlaubt hat Ackerbaucolonien zu begründen (Hasısaaiü, Yecypiück. Maususer, Tamb- xe, crp. 370— 372). 6) Harıaaiü, Tams-ae. g* 68 Die Völker des Amur-Landes. ackerbauende Bewohner derselben zu werden, dem Sungari-Lande sich zuwandte; dem Ussuri- Gebiet hingegen flossen nur die schlechteren Elemente zu—Leute, die keine Familienbande kannten, die auch in ihrer Heimath nur ein unstätes, vagirendes Leben geführt hatten, arme und niedrige Arbeiter und Tagelöhner, insbesondere aber allerhand verkommenes und verdächtiges Volk, Uebelthäter und Verbrecher, die in der Flucht ihre Rettung suchten, aus der Gesellschaft aus- gestossene Sträflinge und ähnliches Gesindel, das in der Ungebundenheit und Gesetzlosigkeit, in dem Mangel aller staatlichen Aufsicht und Controle im Ussuri-Lande einen besonderen Vorzug sah. Aehnliche Elemente strömten ihm aus denselben Gründen auch aus Liao-tung und dem Sungari-Lande zu. Viele dieser Leute tragen sogar an sich die Spuren der körperlichen Strafen, mit denen sie in der Heimath begangene Verbrechen zu verbüssen hatten'). Wie roh, verkommen, sittenlos diese Bevölkerung ist, geht aus den Schilderungen der Reisenden zur Genüge hervor. Prshewalskij findet an den Ussuri-Man-dse keinen hellen Zug hervorzu- heben; drastisch schildert er hingegen das wüste Leben der im Zymuche- und Ssutschan-Thale überwinternden Goldwäscher, Seetängfischer und anderen Gesindels, ihre Trunksucht, ihr leiden- schaftlich betriebenes Kartenspiel, bei welchem Mancher all’ sein Hab und Gut in einer Nacht ver- spielt, und das oft von Mord und Todtschlag begleitet wird?). Von irgend welchen gemein- nützigen Einrichtungen, Schulen u. dgl., wie im Sungari-Lande, findet sich hier auch bei dem besseren Theile der Man-dse, den kleinen sesshaften Ackerbauern, den von Ssan-ssin oder Nin- guta herübergekommenen Kaufleuten, nicht das Geringste vor. Dass unter solchen Umständen der chinesischen Bevölkerung im Ussuri-Gebiet auch jene moralische, civilisatorische Macht und Bedeutung abgeht, die sie im Sungari-Lande den Mandshu gegenüber gewonnen hat, versteht sich von selbst. Dazu fehlte es den Chinesen im Ussuri-Gebiet an der ersten und nothwendigsten Bedingung — der Familie. Kein chinesisches Weib betritt das Ussuri-Land. Die dortigen Man-dse sind daher genöthigt, wenn sie nicht, wie es allerdings meistens geschieht, ein einsames Leben führen wollen, mit Orotschen- oder Golde-Weibern Ehen oder Concubinate einzugehen?). In beiden Fällen aber wachsen die Kinder, wenn sie auch von früh an chinesisch sprechen lernen — was übrigens unter den mit den Chinesen untermischt wohnenden oder viel verkehrenden Eingeborenen auch sonst vielfach der Fall ist — unter dem Einfluss ihrer respeetiven Mütter um nichts besser als die Orotschen- und Golde-Kinder auf und fallen auch in ihrem späteren Leben, von einigen Modifikationen im Charakter, im äusseren Habitus u. s. w. abgesehen, nach 1) VeoabueBB, Zaxankaiickiir kpai (Moper. Cöopnu. 1864, Ns 6, U. neow., erp. 190). 2) Uyrem. 5% Yecyp. kpaii, erp. 85, 86, 90, 3) So viel ich chinesische Fansen am unteren Ussuri — und übrigens auch einzeln gelegene Häuser chinesi- scher Händler am oberen Amur — besucht, habe ich in denselben fast immer nur Männer, selten auch Weiber von Eingeborenen, niemals Chinesinnen gesehen, Aehnlich lauten für verschiedene Theile des Ussuri - Gebietes die Angaben von Wenjukof (O6o3p. p. Yecypu u np. erp. 241,242; Uyr. no orp. Poce. erp. 100, 101), Maximowicz (Zar. Una. Pycer. Deorp. O6. 1861, Rır, II, Cmbep, erp. 5), Ussolzef, (3axankaiier. vpair. —Moper. C6opn. 1864, N: 6, J. ueow., erp. 190), P.v. Helmersen (Peter mann’s Geogr. Mittheil. 1866, p. 8%), Budischtischef (Onncanie abe. yacrı Hpnm. 06..— 3a, Cu6. Ora. DTeorp. Oöur., T. IX u X, 1867, erp. 182), pag. 130), Prshewalskij (lIyr. »% Yecyp. kp. erp. 83, 105), u. A. Schmidt (Histor. Bericht ete. I. c. Ohinesen. Handelsstationen am Amur. 69 ihrem ganzen Sein und Treiben diesen Nationalitäten anheim. So ist es der chinesischen Regie- rung allerdings gelungen, das Anwachsen einer mächtigen chinesischen Bevölkerung im Ussuri- Gebiet zu verhindern, allein sie hat damit, kurzsichtig genug, nur ihren eigenen Interessen entgegen gearbeitet und der Besitznahme dieses Landes und leichteren Assimilirung seines Volkes durch die Russen wesentlich Vorschub geleistet '). Dies die Gebiete chinesischer Massenbevölkerung im Amur-Lande. Sie sind die Centren, die Heerde, von denen alle über das Amur-Land zerstreuten chinesischen Einzelelemente ausstrahlen. Von dort gehen die zahlreichen chinesischen Handelsleute aus, die zu allen Amur-Völkern vor- dringen, um ihre mandshu-chinesischen Waaren und Produkte im Tausch gegen deren Jagdausbeuten abzusetzen. Und nicht bloss vorübergehend besuchen sie dieselben, sie haben an manchen Punkten auch festen Fuss unter ihnen gefasst, mehr oder weniger bleibenden Aufenthalt genommen, kleine Handelsposten oder Handelsstationen errichtet. Wir werden den Handel, den die Chinesen — ob umherstreifend oder an einen Orte fixirt — mit den Amur-Völkern betreiben, später, am betreffenden Orte, ausführlich besprechen, zunächst interessiren uns ihre Handelsstationen von einem anderen Gesichtspunkte. Im Gefolge des Handels dringt nämlich auch chinesisches Wesen, chinesische Cultur, Sitte oder Unsitte zu den Amur-Völkern, und jede chinesische Handelsstation ist daher wiederum ein kleiner Heerd, von dem chinesischer Einfluss auf die Amur-Völker aus- strahlt. Liegt es uns daher, um diesen Einfluss im Verlauf unserer Betrachtungen über die Amur-Völker überall zu ermitteln und zu ermessen, zunächst ob, das Verbreitungsgebiet der Chinesen im Amur-Lande näher kennen zu lernen, so müssen wir durchaus auch diesen ihren kleinen, unter die Amur-Völker vorgeschobenen Handelsstationen nach ihrer ungefähren Zahl, Lage u. dgl. Rechnung tragen. Es ist schon für die verschiedene Stellung und Beziehung der Mandshu und der Chinesen zu den Amur-Völkern höchst bezeichnend, dass während wir bei jenen nur mit Wachtposten und ständigen Beamtensitzen zu thun hatten, bei diesen nur von Handelsposten und ständigen Sitzen von Handelsleuten die Rede ist. Und nicht minder bezeichnend ist es, dass diese letzteren nicht bloss jene an Zahl stark übertreffen, sondern auch weit über die Grenzen hinausreichen, innerhalb welcher jene liegen. Wo die faktische Macht des Mandshu aufhört, hat der Chinese durch die Macht des Handels noch festen Fuss zu fassen verstanden. Und das, trotzdem er selbst manchen Einschränkungen und Bedrückungen von Seiten der mandshurischen Macht- haber sich unterziehen muss. Am geringsten ist die Ausbreitung der chinesischen Händler am oberen Amur, oberhalb der Dseja-Mündung, wohin sie aus Aigun und den anliegenden chinesischen Dörfern sich begeben. Ich traf sie dort nur an vier Punkten, und der letzte dieser Händler, stromauf- wärts gegangen, hatte seinen Sitz noch etwa eine Tagereise unterhalb des Wachtpostens Ulussu- modon. Sie bleiben also dort noch im Manägirn-Gebiet zurück, und unter den Orotschonen linden sich keine mehr. Die Gründe, welche sie abhalten, nach dieser Richtung hin weiter und 4) Vrgl. auch Palladij,l. ce. 70 Die Völker des Amur -Landes. in grösserer Anzahl vorzudringen, scheinen mir folgende zu sein. Zunächst und hauptsächlich die geringe und dabei nur nomadische Bevölkerung in diesem Theile des Amur - Stromes. Das schmälert und erschwert nicht bloss den Handel, sondern macht auch die Händler zu halben Nomaden. Da die Manägirn am Amur keine festen Wohnsitze haben, so können auch die chinesischen Händler ihre Sitze nicht bei ihnen aufschlagen, wie sie es mit den Völkern des un- teren Amur-Landes thun, sondern müssen selbst durch Errichtung eines Hauses und Anbau von etwas Gemüse für Wohnung und Nahrung sorgen. Verödet aber im Herbst, mit dem Abzug der Manägirn, der Amur gänzlich, dann bleibt auch ihnen nichts übrig, als nach Aigun oder einem anderen Orte, woher sie gekommen, zurückzukehren, um erst wieder im Frühling, wenn auch die Nomaden zum Fischfang wieder an den Amur kommen, auf ihren Handelsposten sich einzufinden. Ein anderer den chinesischen Händlern am oberen Amur nachtheiliger Umstand » ist die Concurrenz, die sie dort von Seiten der Dauren erfahren, und die ihnen um so mehr Abbruch thut, als die letzteren, schon durch ihre festen Wohnsitze am mittleren und oberen Komar und ihre beständigen Beziehungen zu den Manägirn, in günstigerer Lage sich befinden und ausserdem, wie es scheint, auch von den mandshurischen Beamten vor den Chinesen begünstigt werden. Ja, es dürfte das weitere Vordringen am oberen Amur den chinesischen Händlern von ihrer Regierung sogar direkt untersagt sein, denn nirgends ist diese so misstrauisch-ängstlich, so bemüht jeden Grenzverkehr zu verhindern als gerade an der russischen Grenze, am lange und blutig bestrittenen oberen Amur. Darum reichen dort ausnahmsweise die chinesischen Handels- posten auch nicht über die mandshurischen Wachtposten hinaus, sondern bleiben weit unterhalb derselben zurück. Ausser an den oberen Amur gehen aber von Aigun und den umliegenden chi- nesischen Niederlassungen keine Händler aus, denn die Dseja und Bureja mit ihren Zuflüssen scheinen ausschliesslich von daurischen Kaufleuten besucht zu werden. Ein viel weiteres Feld als am oberen Amur haben die chinesischen Händler im unteren Laufe dieses Stromes. Auf der Strecke zwischen der Sungari- und der Ussuri-Mündung giebt es allerdings, so viel ich erfahren konnte, keine beständigen Aufenthaltsorte chinesischer Kaufleute, theils wegen der sehr geringen Bevölkerung, theils auch wegen der Nähe jener Ströme und also auch der an denselben gelegenen Handelspunkte. Unterhalb der Ussuri-Mündung, im dichter bevölkerten Theile des Golde-Gebietes, giebt es aber deren mehrere. Als solche lernte ich z. B. selbst die Dörfer Da, Onmoi, Mylki, Zjanka, Köurmi kennen — alle im Sommer und Winter von einigen handeltreibenden Chinesen bewohnt. An anderen Orten, welche auch die Golde im Sommer verlassen, um für den Fischfang günstiger gelegene Punkte aufzusuchen, halten sie sich nur den Winter über auf, während sie den Sommer dazu benutzen, um sich mit neuen Waaren zu versorgen und unterwegs mit den Golde zu handeln. Die Wahl der genannten Dörfer zu bleibenden Aufenthaltsorten seitens der chinesischen Kaufleute erklärt sich übrigens durch ihre günstige Lage. Alle liegen sie nämlich an solchen Punkten, wo die Naturprodukte, namentlich das Pelzwerk, von verschiedenen Völkern her auf natürlichen Bahnen zusammenströmen. So mündet bei Da der im unteren Laufe noch von Golde, im oberen von Orotschen bewohnte Da- oder Naiche-Fluss: von Onmoi aus lassen sich ebenfalls nicht bloss die Anwohner des Amur, Chinesen. Handelsstationen am Amur. 71 sondern auch die Golde und Orotschen des gegenüber einmündenden Chongar-Flusses besorgen oder ausbeuten; Zjanka und Köurmi endlich liegen in derselben Weise gegenüber, resp. in der Nähe der Gorin-Mündung, so dass die Chinesen von dort aus auch ihre allwinterlichen Handelsreisen zu den Samagirn ausführen. Zjanka ist dabei ein echter kleiner Handelsposten der Chinesen, indem sie dort ihr eigenes, mit einem Gemüsegarten versehenes Haus besitzen. Die beiden letzt- genannten Orte liegen übrigens schon über den äussersten Mandshu-Posten hinaus, nahe der Grenze des Golde-Gebietes, mit welchem auch die faktische Mandshu-Herrschaft ihre Grenze erreicht. Die chinesischen Kaufleute ziehen jedoch noch weiter, durch das ganze Oltscha-Gebiet und halten sich dort an verschiedenen Orten auch beständig auf. So namentlich in den Oltscha- Dörfern Adi, Kidsi und Pulj, wo ich sie im Winter 1855 selbst kennen lernte. Alle drei Orte sind von ihnen auch wieder sehr geschickt gewählt. Denn Adi ist das grösste aller Oltscha- Dörfer und zugleich nahe dem Golde- und dem Samagirn-Gebiete gelegen ; Kidsi liegt einerseits in der Mitte des Oltscha-Gebietes und andererseits durch den Kidsi-See, von welchem ein Schleppweg nach der Meeresküste führt, wie durch die Flüsse Pä und Jai, von denen es eine Strasse nach dem Tumdshi-Fluss und dem Kaiserhafen giebt, zugleich ın unmittelbarer Nähe der Orotsehen; und Pulj endlich hat den grossen Vorzug, dass es einmal in naher Nachbarschaft der Amur- Giljaken, und dann auch an der Schwelle der Strasse liegt, die im Winter über das Adara-Gebirge nach dem Liman hinüberführt, und auf welcher nicht bloss Liman-Giljaken, sondern, wie wir oben sahen, auch die Oroken von Sachalın an den Amur herüber kommen, Dies ist aber auch die äusserste einigermassen beständige Handelsstation der Chinesen im unteren Amur-Lande; denn weiterhin machen sie nur noch längs dem bis zur letzten, östlichen Wendung des Amur- Stromes von den Giljaken — mit Ausnahme des Dorfes Tlals — unbewohnten linken Ufer desselben zeitweise Handelsreisen zu den Negda am Amgunj'). Das rechte, verhältnissmässig dicht bevölkerte Ufer des Amur und von seiner letzten Wendung nach Ost ab auch das linke bleiben ihnen verschlossen. Denn die Giljaken, obwohl — wie wir sehen werden — selbst eifrige Händler, gestatten doch keinem Chinesen den Zutritt in ihr Land, vielleicht in der richtigen Befürchtung, dass die Händler den Herrschern den Weg bahnen könnten. Liegt es ihnen doch, nach den Erfahrungen, die sie selbst auf ihren Handelsreisen an den Sungari machen, in der That nahe, Mandshu und Chinesen, ob sie gleich dieselben der Nationalität nach unterscheiden, doch der Macht- und Herrscherstellung nach, ihnen — den Giljaken — wie den übrigen Amur- Völkern gegenüber, für identisch zu halten, Auch bezeichnen sie die Chinesen zuweilen schlechtweg mit dem Namen «Mandshu» — ein Umstand, der zu manchen Verwechselungen dieser Völker auch von Seiten der Reisenden Veranlassung gegeben hat?). 1) Bomuar», IceneA. 85 Upn-amyper. kpab (Moper. | (Ixen. 35 Hpu-amyper. kpab. — Mopenx. C6opn. 1859, N: 4, C6opu. 1859, N: 2, Y. neor,, crp. 334 u Ap.). Y, neo»., erp. 115—118, 125, 126; N? 2, U. ueor., crp. 332 2) So führen. z. B. Orlof (vrgl. Tuxmeupenn, Vc- | ao 337; N 3, 4. neow., erp. 195 u Ap.), u. A. die chine- Top. 0603p. o6pas. Poce.-Amep. Komn., €. Ierep6. 1863, | sischen Händler vom unteren Amur und vom Amgunj Y.I, crp. 84 u ap.), Tschichatschof (Tichmenjef, | immernur als «Mandshu»auf.Ebenso Pargatschefskij l. e. p. 89 fl), Beresin (eod. p. 91 sq.), Boschnjak | (Ho&sara 3uns,. nyrem% BBePxn no p. Amypy. — Bbcru. Die Völker des Amur-Landes. Der Ausgangspunkt aller Chinesen, die man als reisende oder sesshafte Kaufleute im unteren Amur-Lande antriflt, ist der Sungari und insbesondere die letzte mandshu-chinesische Stadt an demselben, Ssan-ssin oder Itschä-choton. Zwar kommen bisweilen chinesische Händler im Sommer auch den Ussuri abwärts!), oder im Winter vom Poor längs der Pächssa-Strasse an den Amur?), allein auch diese Wenigen stammen mittelbar vom Sungari her, indem sie meistens doch erst von Ssan-ssin an den Ussuri gezogen sind und mit dieser Stadt auch später in bestän- diger Verbindung bleiben. Wie die meisten Sungari-Kaufleute sind also auch die Amur-Händler Schansi-Chinesen, gewinnsüchtige, unternehmende Leute, die, von keinen Familienbanden gefesselt, ihr Glück in der Ferne suchen. Wir werden sie später noch genauer kennen lernen. Dieselbe Rolle, welche den Amur-Völkern gegenüber die Mandshu und Chinesen auf dem Festlande spielen, gebührt auf der Insel Sachalin den Japanern. Sie sind die Beherrscher zum wenigsten eines Theiles dieser Insel und das Culturvolk, mit welchem die Bewohner derselben in langjähriger, naher Berührung und Beziehung gestanden haben und zum Theil noch stehen, und dem sie daher unzweifelhaft manchen Cultureinfluss zu verdanken haben. Gleich wie wir daher dort die Ausbreitung der Mandshu und Chinesen betrachten mussten, ist es uns hier zunächst von Interesse, das Gebiet kennen zu lernen, welches die Japaner auf Sachalin inne haben oder bis vor Kurzem noch inne hatten®). Die Herrschaft der Japaner hat sich immer nur auf den südlichen Theil von Sachalin erstreckt; sie hat auch zur Zeit ihrer grössten Aus- breitung nur so ziemlich das ganze Aino-Gebiet umfasst, die beiden anderen Völker Sachalin’s aber, Oroken und Giljaken, niemals berührt. Da sie von verhältnissmässig neuem Ursprunge ist und aus kleinen Anfängen erst in den letzten Jahren zu grösseren Dimensionen gelangte, in Folge von Ereignissen, welche gerade um die Zeit stattfanden, als ich die Insel kennen lernte, gegenwärtig aber in weiterer Folge derselben Ereignisse wieder ganz aufgehört hat, so glaube ich sie nach ihrem Umfange nicht besser zeichnen zu können, als indem ich ihre Geschichte in wenigen Zügen skizzire. Alsder Japaner MogamiTok’'nai 1785 und 86 die Insel Sachalin oder Krafto (Karafuto) — wie sie japanisch heisst — bereiste®), gab es auf derselben noch keinerlei feste Ansiedelungen Unn. Pycer. Teorp. Oöm. 4. XXI, 1858, Ora. II, crp. 161, 1) Maaxp, Uyrem. no aoa. p. Yeeypu, T. I, erp. 66. 165) die in Pulj und Adi sich aufhaltenden Chinesen. In 2) S. oben p. 66. Folge derselben Verwechselung lasst Peschtschurof die Mandshu fast bis zur Mündung des Amur sich aus- breiten; er nennt sie dabei «von Natur furchtsame Krä- mer» (s. Petermann’s Geogr. Mittheil. 1857, p. 305), was nur auf die Chinesen passen kann, keineswegs auf die Mandshu. Ebenso dürften die «Mandschu», die nach Prshewalskij (Ilyr. 8% Yecyp. xpa&b, erp. 11) mit ihren Waaren an die Mündung des Komar kommen, nach dem Obigen Chinesen sein; u. S. w. 3) Ich erinnere nochmals daran, dass meine Betrach- tungen auf diejenigen Zustände und Verhältnisse Bezug haben, welche ich selbst in den fünfziger Jahren im Amur- Lande und auf Sachalin vorfand. 4) Es war dies, nach der zu Anfang des XVH. Jahr- hunderts, auf Befehl des Statthalters von Matsumai, Fürsten Kinfiro, unternommenen Expedition, die erste japani- scherseils zur Untersuchung von Sachalin ausgeführte Reise (Siebold, Nippon, I, p. 126, 127). Japaner. Ausbreitung auf Sachalin. 73 von Japanern. Erst als ein Jahr darauf die Schiffe von La Perouse an der Westküste von Sachalin und in der Bai Aniwa sich sehen liessen, beschloss die japanische Regierung, wie Golownin erzählt, aus Furcht, die Europäer könnten sich der Insel bemächtigen, den südlichen Theil derselben, den die Japaner bis dahin nur des Handels wegen besucht hatten, durch An- siedelung in Besitz zu nehmen, den nördlichen aber den Chinesen zu überlassen '). Vielleicht hat, wenn dieser Beschluss nicht sogleich ausgeführt worden, auch das bald darauf, in den Jahren 1792 und 93, erfolgte Erscheinen Laxmann’s in den Häfen von Jesso und bei den südlichen Kurilen mit zur Realisirung desselben beigetragen. Der angeführte Grund zur ersten Ansiedelung der Japaner auf Sachalin ist jedenfalls ganz glaubwürdig, da auch die spätere Erweiterung ihrer Niederlassungen daselbst, wie wir sehen werden, aus ähnlichen Beweggründen hervorging’). Bald darauf lernen wir die ersten Ansiedelungen der Japaner auf Sachalin in der That kennen: Krusenstern und seine Begleiter besuchten 1805 zwei derselben in der Bai Aniwa, an den von den Holländern Salmbai und Tomari-Aniwa genannten Punkten). Die letztere Niederlassung heisst bei den Aino Kussun-kotan. In beiden gab es sowohl japanische Officiere wie Kaufleute, und beide schienen, nach dem Zustande der Gebäude wie nach den Angaben der Japaner zu urtheilen, unlängst begründet zu sein®). Sehr wahrscheinlich beschränkten sich die Niederlassungen der Japaner zu der Zeit auf die ihnen zunächst gelegene Bai Aniwa. Höchstens könnte man glauben, dass es noch eine japanische Handelsniederlassung in Ssiranussi, an der Westküste gleich oberhalb des Caps Crillon, einem alten, unzweifelhaft auch von den Ja- panern besuchten Handelsplatze, von dem später noch öfters die Rede sein wird, gegeben habe; doch scheint dies, wie wir sogleich sehen werden, in der That nicht gewesen zu sein. Nach der Bai Aniwa allein richteten auch Chwostof und Dawydof in den Jahren 1806 und 1807 die Raubzüge, die sie auf Geheiss des von Japan abgewiesenen russischen Gesandten Resanof gegen die japanischen Niederlassungen auf Sachalin auszuführen hatten). Die Zerstörungen, die sie dort 4) Zanueru »ı. karı. ToAoBHuHa O0 npukamoy. eTO BB | p. 289 ff. nıabuy y Anonuese. C. lerep6ypr» 1816, 4. II, crp. 168. Wenn daher N. Busse (Ocrpo#& Caxaıune u dkcmeAnuia 1853 u 1854 r. C. Herepöypr» 1872, crp. 72), die Angabe Golownin’s reproducirend, sagt, die japanische Regie- rung habe die ersten Ansiedelungen auf Sachalin zu An- fang dieses Jahrhunderts begründet, und zwar aus Furcht, dass die Russen sich die Insel aneignen könnten, so ist dies nicht ganz correct. 2) So soll auch erst die Besitzuahme der nördlichen Kurilen durch die Russen die Japaner zur Ansiede- lung auf den ihnen zunächst gelegenen südlichen Kurilen, Kunaschir und Iturup, bewogen haben (Golownin,l. c. p. 157; vrgl. auch Siebold, 1. c. p. 127). 3) Krusenstern, Reise um die Welt, St. Petersburg 1810, Bd. II, pag. 62 fl. Langsdorff, Bemerkungen auf einer Reise um die Welt, Frankfurt a./M. 1812, Bd. I, Schrenck’s Amur-Reise, Band III. 4) Hinsichtlich der Ansiedelung in der Salmbai zog Krusenstern (Il. c. p. 65) diesen Schluss daraus, dass sowohl die Wohnhäuser der japanischen Officiere, als besonders auch die Packhäuser noch ganz neu, ja einige noch nicht einmal beendigt waren. In Tomari - Aniwa (Kussun-kotan) erzählten die japanischen Officiere Langs- dorff (l. c. p. 293), dass einer von ihnen sechs, der andere schon acht Jahre auf Sachalin lebte. Vielleicht ist daher diese Ansiedelung die ältere von beiden, wie sie schon damals auch die grössere war. Nach Polonskij (Rypmapı. — 3an. Uno. Pycer. Teorp. Oö. Uo ora. Iruorp. T. IV, 1874, erp. 559) wäre die Niederlassung der Japaner in der Bai Aniwa sieben Jahre vor dem ersten Angriff, den sie daselbst von Chwostof erfuhren, also im Jahre 1799 erfolgt. 5) Eine ausführliche Auseinandersetzung und Beleuch- 10 74, Die Völker des Amwr-Landes. anrichteten, nöthigten die japanische Regierung zu grösserer Wachsamkeit und Umsicht für ihre Colonien und veranlassten sie unter Anderem, im Jahre darauf einen geschickten und zuverlässigen Mann, den Geometer Mamia Rinsö, nach Krafto abzusenden, um diese Insel sowohl wie auch das anstossende untere Amur-Land für ihre Zwecke auszukundschaften!). Wir werden auf diese auch in ethnographischer Beziehung höchst interessante Reise, deren Bekanntmachung man Ph. F. v. Siebold verdankt?), in der Folge noch vielfach zurückkommen; jetzt erwähne ich ihrer nur, weil man aus ihr entnehmen kann, dass es zu der Zeit auf der Westküste Sachalın’s keine japanischen Ansiedelungen gab. Auch von einer solchen in Ssiranussi, wohin Mamia Rinsö zunächst ging und wo er drei Tage mit Vorbereitungen zur weiteren Reise zubrachte, ist bei ihm nicht die Rede; nur des Handels der Japaner an diesem Orte erwähnt er in seinem Bericht °). So gering aber an Zahl und Umfang die japanischen Ansiedelungen auf Sachalin im Anfange auch waren, so hatten sie doch gleich zur Folge, dass ein Theil der Aino von den Japanern abhängig wurde. Die Veranlassung dazu gab namentlich der Umstand, dass die letzteren, um den an den Küsten Sachalin’s so lohnenden Fischfang in grösserem Umfange zu betreiben, der Hülfe der Aino bedurften. Da es nun unter diesen, bei der Sorglosigkeit, die alle Natur- völker kennzeichnet, stets welche gab, die nach aufgezehrtem, unzureichendem Wintervorrath, Mangel und Noth litten, so konnte es den Japanern nicht schwer fallen, gegen Nahrung und Kleidung Arbeiter unter den Aino zu finden. Die einmal Gewonnenen sanken aber durch die Unmöglichkeit, in die sie sich versetzt sahen, weiterhin für sich selbst zu arbeiten, durch kleine Vorsehüsse, die sie zu Schuldnern der Japaner machten, durch mancherlei Versprechungen, Einschüchterungen, überhaupt durch den Druck des ihnen überlegenen, mit ihren Schwächen schon von Jesso her bekannten Culturvolkes, in kurzer Zeit zu beständigen, völlig abhängigen Ar- beitern und Knechten der Japaner herab. So wurde, wie Fr. Schmidt‘) richtig bemerkt, aus der anfangs freiwilligen Arbeit der Aino für die Japaner bald eine erzwungene. Natürlich suchten dabei die letzteren, um ihrer Arbeiter gewiss zu sein, sie stets in ihrer Nähe zu behalten, und tung dieser Ereignisse gab der Admiral Schischkof im Vorwort zu Dawydof’s Beschreibung der von Chwo- stof und ihm ausgeführten Reisen (Asykparnoe nyrem. Bb Anepuky MOpek. OpuNep. XROCcToBa u AaBbıAoBa. €. Herep6. 1810, 4. I, Hpeaysbaona., erp. XIT—XXVI). 4) Siebold, Nippon I, p. 129; VII, p. 197. Man kann aus dem oben Angeführten leicht ersehen, in welch’ voll- kommenem Widerspruch mit allen historischen Thatsachen die Behauptung Newelskoi’s steht— auf die er jedoch immer und immer wieder zurückkommt (vrgl. sein post- humes Werk: IloAsurn pycck. MOpck. ODHl. Ha kpalinem» »ocr. Poceiu, crp. 152, 256, 275, 302) — dass nämlich die Japaner erst nach den Russen, und zwar erst von 1810 an, und also auch nach dem Besuch der Bai Aniwa durch Chwostof undDawydof, nach Sachalin zukommen und sich dort niederzulassen begonnen hätten. Diese Behaup- tung ist ebenso falsch, wie eine zweite, im selben Satze (l. c. p. 256) von ihm geäusserle, dass nämlich Sachalin zuerst, und zwar im Jahre 1740, von Russen beschrieben worden sei (als ob es ein Jahrhundert zuvor nicht einen Vries gegeben hat!), und wie auch noch eine dritte, dass die Oroken zu Anfang des XVI. Jahrhunderts aus dem Udj-Gebiet ausgewanderte russische Tungusen seien. Die letztere werde ich später noch genauer besprechen und bei der Gelegenheit auf die allen diesen Behauptungen zu Grunde liegende Tendenz hinweisen. 2) Tö-tats ki ko, d.i. Reise nach der östlichen Tatarei (Nippon, VII, p. 167—196). 3) L. c. p. 187. 4) Histor, Bericht ete. |. c. p. 106. Japaner. Ausbreitung auf Sachalin. 75 so sammelte sich um die japanischen Niederlassungen eine zahlreiche Bevölkerung abhängiger Aino, es bildeten sich ganze Dörfer derselben, während ihre früheren Wohnsitze verödeten. Zugleich dehnten die Japaner ihre Niederlassungen auf Sachalin mehr und mehr aus. Doch fand dies bis zum Jahre 1854 nur sehr langsam und allmählich statt. Nächst der Bai Aniwa breiteten sie sich namentlich längs der Westküste Sachalin’s von Ssiranussi nordwärts aus. Im Herbst 1853, als neben Kussun-kotan russischerseits der Murawjofsche Posten gegründet wurde, hatten die Japaner drei grosse oder Hauptniederlassungen auf Sachalin: Kussun-kotan, Ssira- nussi und Endungomo (Tunai, Mauka)®, zwischen denen, in den Aino-Dörfern oder auch abseits von denselben, an der Meeresküste zahlreiche, zur Aufnahme der Fischvorräthe dienliche Scheunen und Packhäuser und ab und zu auch einzelne, nur im Sommer benutzte japanische Wohnhäuser lagen. Diese zogen sich nordwärts auch noch eine Strecke über Endungomo hinaus fort: das letzte, nördlichste Haus der Art fand Lieut. Rudanofskij, der Südsachalin im Winter 1853/54 vom Murawjofschen Posten aus bereiste, in der Bucht Tokmako, nur wenig nördlich von Endungomo, und die letzten japanischen Scheunen in Tubu, Notossam und Paikassabussi. Uebrigens hatten die Japaner in dem Winter auch Endungomo zeitweise verlassen, wie sie es bis dahin in der Regel zu thun pflegten, schon aus dem Grunde, weil ihre Schiffe beim Ueberwintern in den nur wenig geschützten Buchten dieses Theiles von Sachalin manchen Gefahren ausgesetzt waren. Dennoch war um Endungomo für die Fischereien der Japaner im Sommer eine so zahlreiche Aino-Bevölkerung wie kaum irgendwo auf Sachalin con- centrirt. Rudanofskij schätzte allein die Menge, die ihn bei seiner Ankunft empfing, auf 300 Mann, nach Angabe der Aino selbst aber sollte ihre Zahl dort etwa 700 betragen?). Wie Endungomo der Fischerei, so lebte Ssiranussi vornehmlich dem Handel. Diese Niederlassungen trugen somit im Vergleich mit Kussun-kotan, wo es beständig auch einige japanische Officiere gab, einen anderen Charakter — den reiner Fischerei- und Handelsstationen. So wesentlich waren überhaupt den Japanern auf Sachalin «diese letzteren Interessen, dass ihre grösste Be- fürchtung bei Errichtung des Murawjofschen Postens dahin ging, die Russen könnten ihnen die Aino abspenstig machen und dadurch ihren dortigen Fischfang und Handel vernichten. Als daher dieser Posten, beim Ausbruch des Krimkrieges, im Mai 1854 aufgehoben wurde, beeilten sich die Japaner ihre Niederlassungen auf Sachalin mittlerweile möglichst auszudehnen und zu verstärken, um bei eventueller Wiederkehr der Russen im faktischen Besitz des ganzen Aino-Gebietes der Insel zu sein. Rasch verbreiteten sich die übertriebendsten Gerüchte über diese Ausbreitung der Japaner nicht bloss unter den Aino, sondern auch unter ihren nörd- lichen Nachbaren, den Giljaken. Als ich im Winter 1854/55 im Nikolajevschen Posten die Zurüstungen zu meiner ersten Reise nach Sachalin traf, trugen mir Liman-Giljaken die 4) Schmidt, Historischer Bericht etc. 1. c, pag. 105. 2) Die obigen Nachrichten sind dem handschriftlichen A.D. Brylkin, Statist. und topograph. Nachrichten über | Reisejournal des Hrn. Rudanofskij, das er mir freund- das südliche Sachalin (Beitr. zur Kenntn. des Russ. Reichs, | lichst zur Benutzung mittheilte, entnommen. Ob es in Bd. XXV, p. 278). extenso irgendwo abgedruckt ist, weiss ich nicht. 10* 76 Die Völker des Amur -Landes. seltsamsten Erzählungen darüber zu: neben der wahren Nachricht, dass die Japaner in diesem Jahre in grösserer Anzahl auf Sachalin erschienen und auch zum Winter nicht fortge- zogen seien, erzählten sie auch, dass dieselben bereits im Sommer durch Sendlinge, die bis zum Cap Lasaref und nach Tschomi gekommen wären, das Treiben der Russen im Liman und am Amur ausgekundschaftet hätten, dass ihre Schiffe bis zum giljakischen Dorfe Pilja-wo vorgedrungen seien und dort winterten, dass ihrer Drohung gemäss, fortan kein Giljake, der sich bei ihnen sehen liesse, mit dem Leben davon kommen würde u.s. w. Ohne Zweifel wurden diese Nachrichten zum Theil durch Aino vermittelt, welche vor den Japanern flüchteten und, um ihre Unabhängigkeit zu wahren, in den Grenzdörfern der Giljaken Zuflucht suchten. Da sich Aehnliches sicherlich auch schon früher, bei Errichtung der ersten japanischen Niederlassungen auf Sachalin und zumal auf seiner Westküste, wiederholentlich zugetragen hat, so erklärt sich daraus die oben erwähnte gemischte Bevölkerung in den südlichsten, an das Aino-Gebiet grenzenden giljakischen Dörfern. Jetzt nahmen die Japaner auch die Ostküste Sachalin’s, auf der sie bis 1854 gar keine Niederlassungen gehabt hatten, in Angriff, und an beiden Küsten ging ihre Ausbrei- tung ziemlich gleichmässig vor sich. Im Jahre 1857 lag ihre nördlichste Ansiedelung an der Westküste in Naioro, nur wenig südlich vom Kussunnai-Flusse!). Im Jahre darauf wurden russischerseits die Posten Kussunnai an der West- und Manu& an der Ostküste gegründet °), deren Lage insofern von besonderer Wichtigkeit ist, als zwischen ihnen der schmalste Theil der Insel sich befindet, mit der kürzesten und leichtesten, quer über dieselbe führenden Strasse, die seit je dem Verkehr zwischen den beiden Küsten gedient hat?). Gleichsam als Gegenzug, errich- teten bald darauf auch die Japaner hart daneben ihre Niederlassungen Kussunnai und Wari®). Als Schmidt die Insel bereiste (1860), traf er die Japaner an der Westküste .schon bis zur Grenze des eigentlichen Aino-Gebietes vorgerückt. Ihre nördlichste Ansiedelung lag in Usto- monaipu, in der Bai d’Estaing, aber ihre Fischrereien dehnten sich noch nördlicher aus, denn in Urotzi sah er eine grosse, von ihnen errichtete Niederlage gesalzener Lachse, und noch weiter darüber hinaus, nördlich von dem Aino-Dorfe Orokes, am Cap Chazkopespo, stiess er auf Japaner, die sich zu zeitweiligem Aufenthalt eine Rindenhütte errichtet hatten und mit Sammeln und Trocknen von Seetang, Laminaria esculenta, beschäftigt waren®). Orokes ist aber, wie wir oben sahen‘), der nördlichste Ort mit reiner Aino-Bevölkerung; auf ihn folgt nord- wärts eine ziemlich wüste Küstenstrecke, welche das Aino-Gebiet von dem der Giljaken trennt, und jenseits derselben beginnen mit Pilja-wo schon Dörfer mit gemischter Bevölkerung aus Giljaken und Aino, wobei die letzteren sich nur als durch die Japaner dahin versprengt 1) Schmidt, Histor. Ber. ete. |. c. p. 77. kun, Iucerma ce» Caxaruna (3a. Cu6. Ora. Unn, Pycer. 2) Schmidt, l. e. p. 106. Deorp. Oöm. Ku. VII, Upryrere 1864, erp. 4). 3) Schon Rudanofskij ist diese Strasse im Januar 5) Schmidt, Histor. Ber. etc. l. c. p. 73—77. 1854 gegangen. 6) S. oben p. 18. 4) Schmidt, Histor. Bericht ete. l.c. p. 106. A. Bppı.a- Japaner. Ausbreitung auf Sachalin. 77 betrachten lassen. So standen die Japaner an der Westküste von Sachalin, wenn sie nicht auch in das Giljaken-Gebiet sich ausbreiten wollten, schon im Jahre 1860 am Ziele ihrer Wünsche. Nur wenig später gewannen sie dieselbe Stellung auch an der Ostküste. Dort war im Jahre 1860 ihr nördlichster Punkt Mogun-kotan!). Im Sommer des folgenden Jahres nahmen sie schon die fischreichsten Stellen an der westlichen Mündung des Ty- oder Poronai-Flusses in Besitz und gründeten daselbst ihre Niederlassung Sisska, in welcher sie auch zum Winter einige Mann zurückliessen ?). Von dort aus verlangten sie, dass auch die letzten, östlichsten, bis dahin noch unabhängigen und darum wohlhabendsten Aino, die von Taraika, ihre Oberhoheit anerkannten. Noch im selben Jahre sollte zu dem Zwecke ein japanischer Beamter nach Taraika gehen und eine japanische Ansiedelung an diesem Orte gegründet werden, und jetzt, schrieb ‚Brylkin 1864°), ist dies ohne Zweifel schon ausgeführt. Dass es in der That geschehen sein sollte, berichtete später auch Schmidt‘). Ja, nach Mizul°), sollen die Japaner von Taraika aus zur Zeit des Fischfanges sogar nach Nyi gehen. Vermuthlich sind dies jedoch nicht sowohl regel- tmässige, als vielmehr nur einzelne, behufs Kenntnissnahme von der weiteren Küste von den J apanern ausgeführte Fahrten gewesen, da Nyi weit von Taraika, schon im Gebiet der Giljaken liegt und die Küste bis kurz davor unbewohnt ist. Jedenfalls lässt sich nicht annehmen, dass die Japaner ihre Herrschaft auf Sachalin jemals über das Aino-Gebiet hinaus auszudehnen beabsichtigt hätten. Denn sie mussten wohl wissen, dass sie an den Giljaken kein so dienstwilliges und leicht zu unterjochendes Volk wie an den ihnen schon von Jesso her bekannten Aino finden würden. Diese Bekanntschaft der Japaner mit der Sprache, wie mit der Art und Weise der Aino hat der Ausbreitung ihrer Herrschaft über Südsachalin wesentlichen Vorschub geleistet. Auch ist die japanische Colonisation Sachalin’s naturgemäss stets von Jesso ausgegangen: sie ist nämlich von den beiden Fürsten von Matsumai und von Hakodate betrieben worden, denen die sechs Bezirke japanischer Ansiedelungen, die es auf Sachalin gab, in administrativer Be- ziehung auch unterworfen blieben; und zwar erkannten die drei südlichen Bezirke, Ssiranussi, Kussun-kotan und Tunaitscha, die Oberhoheit des Fürsten von Matsumai, die drei nördlichen, Tunai (Endungomo), Kussunnai und Manu& oder Wari, welcher letztere Bezirk sich bis zum Golfe der Geduld erstreckte, die Oberhoheit des Fürsten von Hakodate an®). Diesen Verhält- nissen machte der 1875 zwischen Russland und Japan abgeschlossene Traktat ein Ende, welchem zufolge alle russischen Kurilen, von Urup bis Schumschu, an Japan abgetreten wurden, und dieses dagegen auf den Besitz von Südsachalin zu Gunsten Russlands verzichtete. 4) Brylkin, l. c. p. 20. 5) L. c. p. 120. 2) Brylkin, I. c. p. 53. Muuyas, Ouepk” ocrpona 6) Brylkin, Statist. und topogr. Nachrichten über das Caxaıuna, crp. 119. südliche Sachalin, 1. c. p. 273—287. Dort findet man auch 3) L. c. p. 36, 53. ein genaues Verzeichniss aller japanischen Ansiedelungen, 4) Histor. Ber. etc. 1. c. p. 106, 114. so wie auch der Aino-Dörfer auf Sachalin. 78 Die Völker des Amur-Landes. Ausser der Ausbreitung der ostasiatischen Culturvölker, Chinesen und Japaner, ist hier endlich auch die räumliche Stellung zu bezeichnen, welche die Russen zu der Zeit im Amur-Lande einnahmen, als ich die Bekanntschaft seiner Völker machte. In der Einleitung ist bereits erwähnt worden, wie rasch in den letzten Decennien die Besitznahme und Colonisation des Amur-Landes von Seiten Russlands vor sich ging; es ist hervorgehoben worden, dass damit zugleich die Nationaleigenthümlichkeiten der Amur-Völker rasch sich zu verwischen begannen, und dass es daher eine Gunst der Verhältnisse genannt werden muss, wenn wir diese Völker noch vor dem Verlust ihrer Eigenart kennen zu lernen Gelegenheit fanden. Nur die ersten An- fänge russischer Besitznahme und Colonisation fielen in die Zeit meines Aufenthaltes im Amur- Lande oder gingen ihr unmittelbar voraus. Nur diese wären hier daher genauer zu bezeichnen. Bekanntlich datiren jedoch die ersten Berührungen der Russen mit den Amur-Völkern schon mehr als zwei Jahrhunderte zurück, und nachweislich haben später auch immer welche statt- gefunden. Es liegt uns daher nahe, zuvor auch ihnen einige Rechnung zu tragen. Aus den Schriften der Historiographen Sibirien’s, G. Müller, J. E. Fischer u. A., kennt man zur Genüge die Kriegs- und Raubzüge russischer Kosaken und Freibeuter im XVII. Jahr- hundert im Amur-Lande, die sich den Lauf des Amur-Stromes abwärts bis zu dessen Mündung und dem angrenzenden Theile des Ochotskischen Meeres erstreckten und an vielen Punkten zur Errichtung zeitweiliger Winterquartiere, befestigter Lager, Verschanzungen, Dörfer, ja auch einer Stadt, Albasin am oberen Amur, führten. Manche Einzelheiten dieser Ereignisse werden später gelegentlich berührt, manche in ethnographischer Beziehung für das Amur-Land hoch- wichtige Folgen derselben genauer erörtert werden, eine gesammte wiederholte Schilderung aller jener Vorgänge wäre hier um so weniger am Platz, als die Berührungen der Russen mit den Amur-Völkern dabei von zu kurzer Dauer, von zu ausschliesslich feindlicher Natur waren, um, von zahlreichen Zerstörungen und Verwüstungen abgesehen, auf das Leben, die Anschauungen, die Sitten und Gebräuche der letzteren einen nachweisbaren Einfluss auszuüben. Bekanntlich setzte den damaligen Unternehmungen der Russen der zu Nertschinsk 1689 abgeschlossene Traktat ein Ende, nach welchem China die Herrschaft über das ganze Amur-Land eingeräumt wurde. Man darf jedoch nicht glauben, dass damit die Berührungen der Russen mit den Amur- Völkern in deren eigenem Lande ganz aufhörten. Die Triebfedern, welche die ersten russischen Kosaken nach den Amur-Strom gelenkt hatten, Hoffnung auf reiche Beute an kostbarem Pelzwerk, an edlen Metallen, an wer weiss welchen noch unbekannten Schätzen in diesem weiten und noch unbekannten Lande und dabei die Aussicht auf ein freies, ungebundenes, un- eontrolirbares Hantiren unter seinen Völkern, wirkten fort und waren traktatmässig nicht zu unterdrücken. So schwere Strafen der Nertschinsker wie der später, 1728, vom Grafen Ragu- sinskij mit China abgeschlossene Vertrag auf das Ueberschreiten der russisch-chinesischen Grenze auch festsetzten, so fand Solches doch mehr oder weniger auf der ganzen Strecke vom Argunj und der Schilka bis zum Ochotskischen Meere statt. Russische Pelzjäger, Kaufleute, Kosaken, Abenteurer und Ausreisser aller Art, auch entlaufene Sträflinge u. dgl. begaben sich tief in das Amur-Land hinein, bald nur zeitweilig, bald auch zu längerem Aufenthalt, ja, Russen im Amur-Lande, nach dem Nertschinsker Traktat. 79 manche liessen Sich ganz dort nieder. Zum Theil trug auch der unbestimmte und unbekannte Verlauf der Grenzlinie in jenen Wald- und Gebirgswildnissen, so wie ihre vollkommene Unhalt- barkeit den russisch-tungusischen Gebirgsnomaden gegenüber, zu beständigen Verletzungen der Grenzverträge bei. Middendorff hat diese Verhältnisse sehr eingehend geschildert und aus Handschriften, aus Archivpapieren, aus eigenen Erkundigungen und Erfahrungen eine lange Reihe von Thatsachen mitgetheilt, die den besten Beweis liefern, dass der Verkehr zwischen den Russen und den Amur-Völkern, wenn über denselben auch nichts verlautete, doch hier oder dort fast ununterbrochen stattfand!). Er glaubt ihm sogar einen Einfluss auf die Gesichts- bildung der Bewohner des unteren Amur-Landes zuschreiben zu dürfen ?). In einzelnen Fällen, namentlich ın den Grenzdistrikten, durch welche Middendorff’s Reise ging, mag vielleicht ein solcher Einfluss in der That kenntlich sein, im Grossen und Ganzen kann ich jedoch diese Ansicht nicht theilen; ja, ich glaube vielmehr, dass die Nationaleigenthümlichkeiten der Amur- Völker durch jenen Verkehr kaum irgend gelitten haben können, da die Russen in dieser Zeit das Amur-Land doch nur mehr oder weniger einzeln, zeitweise, als Fremdlinge und unter Ver- hältnissen besuchten, die ihnen nicht gestatteten oder zum wenigsten nicht gerathen erscheinen lassen mussten, mit ihrer Eigenart hervorzutreten, sondern sie eher nöthigten, sich den Sitten und der Lebensweise der Eingeborenen zu accomodiren. Den meisten Verkehr hatten die Russen jedenfalls mit den Völkern des oberen Amur- Landes, den Orotschonen, Manägirn, Biraren. Die ersteren standen ihnen schon aus dem Grunde am nächsten, weil sie an den oberen Lena-Zuflüssen, an der Olekma, am Tungir u. s. w. auch unbestritten russisches Gebiet bewohnen und an der Schilka und am Argunj ihnen unmittelbar benachbart sind. Zudem nehmen sie den Theil des Amur - Landes ein, in welchem die Russen vor dem Nertschinsker Traktat wirkliche Ansiedelungen, Dörfer mit Ackerbau?) und eine Stadt, das mehrmals und so heldenmüthig vertheidigte Albasin, hatten. Selbstverständlich musste sich daher bei den letzteren auch nach dem Traktat die Anschauung erhalten, dass dies eigentlich ihr Land sei, welches ihnen von den Chinesen nur entrissen worden, und dass die Orotschonen, wie an der Olekma, am Tungir u. s. w., so auch an dem oberen Amur und seinen Zuflüssen nicht China, sondern Russland den Tribut schuldeten. Zu alledem endlich lag dort vor den Russen die breite, verführerische, so oft mit Erfolg von ihnen begangene Amur-Strasse, die mitten in das Orotschonen-Gebiet hineinführte, und sie lag vor ihnen offen und unbewacht, denn die mandshu-chinesischen Wachtposten am Amur beginnen erst viel weiter abwärts, im Manägirn-Gebiet, und die einmal jährlich zu be- stimmter Zeit stattfindende Fahrt chinesischer Beamten zur Revision des Grenzzeichens an der Gorbiza-Mündung konnte ihnen den Strom unmöglich sperren. Kein Grenztraktat hätte daher je die unternehmenden und gewinnsüchtigen russischen Pelzjäger, Kosaken und Abenteurer ver- 1) Middendorff, Reise etc. Bd. IV, p. 100—106, | 392. Stuckenberg, Hydrogr. des Russ. Reichs, St. Pe- 142—175: tersburg 1848, Bd. II, p. 778. Vrgl. auch Middendorff, 2) L. c. p. 197. Reise etc. Bd. IV, p. 150. 3) Müller, Sammlung Russ. Gesch. Bd. I, p. 391, 80 Die Völker des Amur-Landes. hindern können, von der Schilka und dem Argunj in das benachbarte Amur-Land hinüberzu- streifen. Dort lag ihr ergiebigstes Jagdrevier, von wo sie sich die geschätzten Zobel und, als diese seltener wurden, zahlreiche Eichhörnchenfelle holten. Alljährlich im Herbst zogen sie {ruppweise, mit allem Nöthigen versehen, auf diese Jagden, die nach ihrer Hauptausbeute schlecht- weg den Namen «Eichhörnchenjagden» (Sbırospe und davon das Verbum 6b.akogarp) erhielten. Nach Middendorff’s Erkundigungen gingen sie nicht bloss das Stanowoi-Gebirge und das linke Amur-Ufer entlang bis zum Ur, nicht bloss den Amur auf Flössen abwärts fast bis zur Albasicha, sondern namentlich auch auf dem rechten Amur-Ufer, im Gebiet der Albasicha, Panga und sogar bis zum Komar'). Im Oetober 1856 sah ich die Kosaken in den unteren Argunj-Dörfern theils noch mit Vorbereitungen zur «Eichhörnchenjagd» beschäftigt, theils schon im Aufbruch begriffen. Monate lang verweilen sie in jenen Wildnissen, und vielfach sind die Berührungen, welche dort zwischen ihnen und den Waldnomaden, seien es russische Tungusen, oder ehi- nesische Orotschonen und Manägirn, stattfinden. Auch Händler, die gegen Branntwein oder andere Waaren, und russische Grenzkosaken, die als Tribut für die Regierung den Tungusen ihre Ausbeute abnehmen, finden sich dort ein. Middendorff traf z. B. am Uritschi, auf trak- tatmässig entschieden chinesischem Boden, eine ganze Abtheilung solcher Kosaken nebst ihren unmittelbaren Befehlshabern, die von den Orotschonen Tribut einsammelten und natürlich zugleich auch einen vortheilhaften Pelzhandel betrieben®). Manche der Jäger und Händler nahmen auch einen bleibenderen Aufenthalt am Amur, oder gingen gar weiter stromabwärts. So erzählt schon Müller, dass um das Jahr 1738 ein Nertschinsker Kosakensohn, Danilo Ssoldatof, mit seiner ganzen Familie an der Albasicha-Mündung gewohnt habe und einmal sogar bis nach Aigun gegangen sei, wo ihn die Chinesen gefangen genommen, auf die Aussage hin aber, dass er sich verirrt habe, wieder losgelassen hätten ?). Besonders oft mögen Läuflinge ihre Zuflucht im Amur-Lande gesucht und weite Wanderungen in demselben ausgeführt haben, oder auch ganz dort geblieben sein, in der Regel jedoch ohne irgend welche Spur von sich zu hinterlassen. Nur in seltenen Fällen verdankt man ihnen auch einige Nachrichten über das Amur- Land. Besonders bemerkenswerth sind namentlich die Fahrten des Läuflings Gurij Wassiljef, der den ganzen Amur-Strom bis zu dessen Mündung hinabgeschifft ist. Nach Ladyshinski fanden diese Fahrten zwischen den Jahren 1815 und 1826 Statt‘). Nach einem auf den Angaben Wassiljef’s selbst beruhenden Schreiben des Barons Schilling von Cannstadt aus Irkutsk °), erreichte er aber im letztgenannten Jahre erst die Amur-Mündung. Von dort wandte er sich zuerst nach Süden, brachte den Winter an der Grenze zwischen den Giljaken und Aino (also 1) Middendorff, Reise etc. Bd. IV, p. 160, 168, An- 5) An den Direktor des Asialischen Departements in merkung 2. St. Petersburg, datirt vom Januar 1832 (A. Pomauost%, 2) Reise etc. l. c. p. 160. IIpneoeannenie Amypa x» Poceim. — Pycckoe (1080, 3) In Büsching’s Magazin für die neue Histor. und | C. Herepöyprz 1859, Irous, Ora. I, erp. 364. I. Tux- Geogr. 2. Thl., 2. Aufl., Hamburg 1769, p. 491, 503. Vrgl. | menpe»», Herop. O603p. o0pas. Poce.-Amepuk. Komm. u auch Middendorff, 1. c. p. 167, Anm. 2. abücrs. ea AO HacTosaımaro spemenm Y. II, C. Herep6ypr&, 4) Middendorff, Reise etc. Bd. IV, p. 156, Anm. i. | 1863, erp. 43). Russen im Amur-Lande, nach dem Nertschinsker Traktat. 81 auf Sachalin) zu und ging dann, da er von den ersteren oftmals gehört hatte, dass nördlich vom Amur Russen wohnten, im Frühling 1827 wieder an die Mündung dieses Stromes zurück und nordwärts von derselben längs der Küste weiter. Ehe er jedoch den Tugur erreichte, in etwa 35 Werst Entfernung von demselben, musste er nochmals unter den Giljaken überwintern. Mit diesen ging er dann im Frühjahr 1828 in Hundeschlitten zur Tugur - Mündung und von dort endlich mit Rennthier-Tungusen nach Udskoi Ostrog, wo er sich der russischen Local- obrigkeit stellte. Die auf Gurij Wassiljef’s Aussagen beruhenden Aufzeichnungen enthalten auch in ethnographischer Beziehung so viel des Interessanten, dass wir in der Folge noch mehr- mals auf dieselben zurückkommen werden '). Kaum minder als von Westen her fand ein Verkehr der Russen mit den Amur- Völkern auch von Norden, über das Stanowoi-Gebirge statt. Hier waren es besonders die Manägirn und Biraren, mit denen sie in Berührung kamen. Und wie dort die russischen Orotschonen, so waren es hier ebenfalls russische Tungusen, die diese Berührung vermittelten und gewisser- massen veranlassten. Denn ihnen gegenüber war die durch den Nertschinsker Traktat fest- gestellte Grenze, weil sie den das Leben der Gebirgsnomaden bestimmenden Naturverhält- nissen keine Rechnung trug, seit jeher unhaltbar. Vom Stanowoi-Gebirge hinab zogen sie sich daher, der Jagd nachgehend, im Dseja- und Bureja-System weit in das chinesische Gebiet hinein, ab und zu bis an den Amur streifend. In ihrem Gefolge fanden sich häufig jakutische Händler ein. Wie sollten nicht trotz aller Grenzverbote desselben Weges auch russische Pelz- jäger, Kosaken u. dgl. vordringen? In der That erzählt schon Müller, dass im Jahre 1737 die Geodäten Skobelzyn und Schetilof am Gilui und seinen Zuflüssen mehrfach auf Jagdhütten russischer, nach Nertschinsk gehöriger Pelzjäger gestossen seien”); er erwähnt, an einer anderen Stelle?) und vielleicht jene Nachrichten nur generalisirend, der «verbotenen Zobel- jagd, die von Nertschinsk aus an dem Flusse Seja vorzugehen pfleget». Den zahlreichen, von Middendorff aufgebrachten Nachweisen *), dass häufig auch Jakuten als Händler den russi- schen Tungusen in das Dseja- und Bureja-Gebiet nachzogen und mitunter sogar bleibenderen "Aufenthalt dort nahmen, können wir nach L. Schwarz’s Angaben°) hinzufügen, dass auch russische Kaufleute, Kosaken aus Udskoi Ostrog und anderen Orten, die unbestimmten Grenzver- hältnisse benutzend, alljährlich weite Reisen in jenen traktatmässig chinesischen Gegenden ausführten. Um den religiösen Bedürfnissen dieser zerstreuten orthodoxen Bevölkerung nachzu- kommen und zugleich unter den noch heidnischen Tungusen das Christenthum zu verbreiten, begaben sich zuweilen auch russische Priester dahin®). Später, schon nach Middendorff’s 4) Middendorff hat in seinem Reisewerke (Bd. IV, | dendorff, 1. c. p. 168, 169. p. 156—160) die wichtigsten dieser Nachrichten nach den 3) Sammlung Russ. Gesch. Bd. III, 1758, p. 509. handschriftlichen Aufzeichnungen Ladyshinskij’s wie- 4) L. c. p. 165 ff. S. auch oben p. 38. dergegeben. Er weist auch darauf hin, dass Takinf bei 5) HoApo6usrü oTueTR 0 pesyaprarax® uscabAa. Mare- Beschreibung des Amur-Stromes (Crarucr. onuc. Kuraick. | maruy. OrA. Cu6uper. IrcneA. Unn. Pycer. Teorp. O6m. Unnepiu, €. Ierep6. 1842, Y. II, crp. 216 u cırba.) die | 1864, Tr. III, crp. 69, 76. Angaben Wassiljef’s ausgebeutet hat. 6) So ging z. B. im Jahre 1826 der Priester Germogen 2) In Büsching’s Magaz. 1. c. p. 491. Vrgl. auch Mid- | Djatschkovskij mit demselben Jakuten (Wantscha), Schrenck's Amur-Reise, Band III, 11 2 Die Völker des Amur-Landes. Reise, wurden dort an mehreren Punkten russische Kapellen errichtet: so am kleinen Myni nahe seiner Einmündung in den Ssilimdshi, im Dseja-Gebiet, die Inkanj-Kapelle; an den Quellen des Dolnikan, eines linken Zuflusses der Bureja, die Bureja-Kapelle, und am Tugur — die Burukan- Kapelle. Diese Punkte wurden mit der Zeit zu festen Handelsplätzen, an denen russische und jakutische Kaufleute, russische und chinesische Tungusen (resp. Manägirn, Biraren und Negda), sowie regelmässig auch russische Priester und behufs Tributerhebung, welche übrigens den Handel nicht ausschloss, auch Kosaken von Udskoi Ostrog sich einfanden '). Schwarz hat im Jahre 1852 alle drei Kapellen besucht und ihren geographischen Ort bestimmt; die Inkanj-Kapelle war übrigens im Jahre zuvor von den Mandshu, die ihre Revisionsreise diesmal ausnahmsweise über das weit südlicher gelegene Grenzzeichen hinaus bis zum Udj-Thale ausgedehnt hatten, zerstört worden, die beiden anderen aber fand er noch ganz unversehrt ?). Die Burukan-Kapelle und der gleichnamige Handelsplatz liegen übrigens schon jenseits des Bureja-Gebirges, am Tugur, der dort nur durch eine schmale und niedrige, mit einem Schleif- wege versehene Wasserscheide (Ukakyt) vom Nemilen, dem nördlichen Hauptzuflusse des Amgunj, getrennt wird. Wir sind also damit in’s untere Amur-Land hinübergetreten, und wie westlich vom Bureja-Gebirge mit den Manägirn und Biraren, so fand hier ein Verkehr der Russen mit den Negda und ihren nächsten Nachbaren nach Süden und Osten, den Samagirn und Giljaken statt. Wie dort treffen wir auch hier wiederum in das angeblich und vermeimtlich chinesische Gebiet hineinstreifende russische Tungusen, Jakuten und russische Kaufleute und Kosaken an?). Der regste Verkehr fand namentlich, Dank jener nahen Lage des Tugur und des Handelsplatzes Burukan zum Amgunj, mit den Negda statt. Dieser Handelsplatz ist von den drei erwähnten der bedeutendste und wird regelmässig von russischen und jakutischen Kaufleuten aus Udskoi Ostrog und Jakutsk besucht, die ihre Waaren auf zahlreichen Lastthieren, Pferden und Rennthieren, hinbringen‘). Mehrere Negda hatten sich, wie oben erwähnt°), mit ihren Familien ganz dort niedergelassen; andere kamen zeitweise des Handels wegen hin. Mit den russischen Waaren nahmen manche Negda, vom Priester wie vom Kaufmann‘), auch den christlichen Glauben an. Aus welchen Motiven, bleibt dahingestellt. Doch will Lieut. Boschnjak in den Häusern der auch Middendorff zum Führer diente, im Bureja- | Stämmen der Umgegend wurde. Auch dorthin kam zu- Gebiet bis zum Jorach, unterhalb des Zusammenflusses | weilen ein Priester aus Udskoi Ostrog (vrgl. Schmidt, des Niman und der Bureja, hinunter. Histor. Bericht etc. p. 161). 1) Schwarz, 1. c. p. 76. Oben ist nach Midden- 3) Middendorff, l. c. p. 164, 165 u. a. Bomuak’», dorff’s Angabe schon bemerkt worden, dass früher auch | IxeneA. 8» Upu-anyper. xpab (Moper. C6opn. 1859, N 2 dieDauren, um Handel zu treiben, bis nach Inkanj gingen, | Y. ueo»., erp. 331—333). Sch warz,l. ec. p. 69. was später unterblieb. 4) In den vierziger und fünfziger Jahren kam nament- 2) Später— Schmidt sagt in der Beschreibung seiner | lich der reiche Kaufmann Nowgorodof aus Jakutsk all’ Reise von 1862 «vor einigen Jahren» — wurde eine Ka- | ander Jahr selbst hin (Boschnjak,l. c. p. 332). pelle am Ssuluk, einem Quellzufluss des Amgunj, erbaut, 5) S. oben p. 30. welche an Stelle der Bureja- Kapelle zum Handelsplatz 6) Middendorff, 1. c. p. 175. russischer und jakutischer Kaufleute mit den tungusischen Russen im Amwr-Lande, nach dem Nertschinsker Traktat. 38 der fünf getauften Negda-Familien, die er (1852) am Amgunj antraf, eine grössere Sauberkeit als bei ihren heidnischen Landsleuten bemerkt haben!). Von Burukan gingen Russen wie Jakuten unbehindert an den Amgunj hinüber, den sie handeltreibend befuhren und an dessen Ufern sich auch wohl Einer oder der Andere dieser letzteren niederliess?). Mit dem Amgunj aber lag ihnen auch die Strasse an den unteren Amur oflen, von der sie ohne Zweifel oft genug Gebrauch machten, um so mehr als die Herrschaft der Chinesen über die dortigen Völker, die Giljaken und Oltscha, gleich wie auch über die Negda, kaum jemals mehr wie eine nominelle war. So erzählt schon Mamia Rinsö in seinem Reisebericht (1808), dass er auf dem Mankö (Amur) zwischen den Dörfern Horomö und Harm& (offenbar dem giljakischen Dorfe Kalm) vier Fahr- zeuge gesehen habe, die ihm durch ihr fremdartiges Aussehen auflielen. Auf seine Erkundigungen, woher sie wohl gekommen sein mögen, wurde ihm gesagt, dass es Fahrzeuge von Russen wären, die sich bereits seit einiger Zeit am Flusse Hongö (Amgunj) aufhielten, am Ufer Rinden- zelte aufgeschlagen hätten und sich mit Fischfang beschäftigten °). Noch einen Umstand gab es endlich, der an der äussersten Nordostgrenze des Amur-Landes unwillkürlich zu manchen Berührungen der Russen mit den Amur-Völkern, namentlich mit den Giljaken, Veranlassung gab: es waren dies die fast ununterbrochenen Unternehmungen, die im vorigen Jahrhundert russischerseits von Udskoi Ostrog nach den Schantarischen Inseln ausgingen. Middendorff hat die Geschichte dieser Unternehmungen sehr ausführlich ge- schildert und nach den Aufzeichnungen, die er im Archiv von Udskoi Ostrog aufstöberte, eine lange Reihe derselben nahmhaft gemacht‘). Hoffnung auf gute Ausbeute an schätzbarem Pelz- werk, an edlen Metallen, vielleicht auch auf reichen Tribut von noch unbekannten Völkern war auch hier das Hauptmotiv, welches bald einzelne unternehmende Leute nach den Schantarischen Inseln trieb, bald kleine Handelscompanien Expeditionen dahin abzusenden bewog. Die Re- gierung sah ihrerseits diese Unternehmungen nicht ungern, da sie eventuell ihre Tributskasse bereichern und ihre Macht erweitern konnten. Die schwere Schifffahrt um die Schantaren, die schlechten Fahrzeuge, ihre mangelhafte Ausrüstung und oft wohl auch ungeschiekte Führung, sowie die zusammengewürfelte, undiseiplinirte, beute- und abenteuerlustige Mannschaft, gaben jedoch oft Veranlassung, dass die Schiffe frei- oder unfreiwillig anstatt der Inseln, die sich als unbewohnt erwiesen, die im Angesicht derselben gelegene, von Giljaken bewohnte Festlands- 4) L. c. p. 333. Im Dorfe Wjachtu auf Sachalin zeigte | jakutischen Familie (dem alten Jakuten Ssawa nebst ihm ein altes Negda-Weib, das in ihrer Jugend vom Am- gunj dahin gebracht worden war, einige ihr dort von Russen geschenkte Blättchen slavonischer Kirchenge- sänge, deren eines sie ihm gegen etwas Tabak auch ab- trat; desgleichen einige Bogen eines slavonischen Kalen- ders, welche sie jedoch so werth hielt, dass sie sich ihrer nicht entäussern mochte (Bomuar®, IkeneA. B6 Upu- amypcr. kpab. — Moper. Cöopu. 1858, N 12, U. ueos., erp. 192). 2) So fand z. B. Lieut. Boschnjak (Moper. Cöopn. 1859, N 2, I. ueo»., erp. 331) das Dorf Mangi nur aus einer zwei Jakutinnen) und einem Tungusen bestehend. 3) Tö-tats ki ko (Siebold, Nippon, VII, p. 177). In Rinsö’s Bericht, wie ihn Siebold wiedergiebt, heisst es, sie hätten am Ufer «Karia’s» aufgeschlagen. Eine Er- klärung dieses Fremdwortes ist dabei nicht gegeben, und wenn ich statt dessen «Rindenzelte» sage, so geschieht dies nur vermulhungsweise. Oder sollte man dem Reisen- den wirklich das russische Wort «karjo» (kopse, Baum- rinde) genannt haben? 4) Reise etc. Bd. IV, p. 97—114. ie 54 Die Völker des Amur-Landes. küste anliefen. Dort aber lagen die von demselben Stamme und dichter bevölkerten Ufer des unteren Amur-Stromes, die Amur-Mündung, ja sogar die Insel Sachalin in verlockender Nähe. Wie manche der Schantaren-Fahrer mögen daher, der Verlockung nachgebend, dort ihr Glück gesucht haben? So erfahren wir z. B., dass der nach Udskoi gehörige Bauer Kudrjaschef'), der sich 1817 auf den Schantaren aufhielt, angeblich durch Hungersnoth an die Amur-Mündung getrieben worden sei und sich dort bis zum Jahre 1821 aufgehalten habe. Eines anderen russischen Ansiedlers an der Amur-Mündung erwähnte der Arzt Stankewitsch in einem hand- schriftlichen Berichte aus Udskoi vom Jahre 1841). Viel früher, 1789, überwinterte der jakutische Bürger Terentjef mit zwölf Mann unfern von der Amur-Mündung, also unter den Giljaken, auf einer Fahrt, die er von Udskoi Ostrog nach der Insel Sachalin unternommen hatte). Wiederholentlich ist von Läuflingen, besonders Jakuten die Rede, die im Dienste russischer Handelscompanien standen und nach den Schantaren geschickt wurden, statt dessen aber an den Amur oder nach Sachalin flüchteten. Durch sie kam nach Udskoi auch die Nach- richt von einem im November 1790 auf Sachalin gestrandeten, vielleicht russischen Seefahr- zeuge, das von Giljaken und haarigen Rennthier-Tungusen (Oroken) in grosser Anzahl besucht wurde®). Auch Mamia Rinsö hörte (1808) auf Sachalin, dass russische Fahrzeuge häufig die Gewässer im Westen der Insel besuchten, und dass ehemals Russen nach Noteito (in der Gegend des Caps Ljak) und Usijoro (um die Bai d’Estaing) gekommen seien, bis sie endlich ihres räuberischen Benehmens wegen von den vereinten Eingeborenen theils vertrieben, theils ermordet worden seien. Mamia Rinsö nennt sogar die Namen dieser Russen: Kamutsi, Simena, Momu und Wasire°). In den drei letzteren lassen sich in der That unschwer die russischen Taufnamen Ssemjon, Foma und Wassilij erkennen. Der erstere erscheint zunächst fraglich, aber auch über ihn erhalten wir später Auskunft. In Folge der häufigen Entweichungen nach Sachalin hatte sich unter den Russen die Ansicht festgesetzt, dass es auf der Insel russische Ansiedelungen gebe‘). Als daher im Jahre 1852 der Lieut. Boschnjak das nördliche Sachalın besuchte, erkundigte er sich bei den dortigen Giljaken, ob es nicht irgendwo auf der Insel angesiedelte Russen gebe, und erhielt endlich im Dorfe Tangi an der Westküste folgende Auskunft. Vor etwa 35 bis #0 Jahren, hiess es, sei an der Ostküste Sachalin’s beim Dorfe Ngabi (offenbar Ngabil) ein Schiff gestrandet; die Mannschaft habe sich längere Zeit im Dorfe aufgehalten, dort ein neues Fahrzeug gebaut und sei auf diesem um das Südende der Insel herum nach der Westküste derselben gegangen. Dort hätten die Leute beim Dorfe Mgatsch 1) Middendorff, 1. e. p. 157. Romanof (Ipucoea. | der Motive, welche den japanischerseiis nicht acceptirten Anypa x» Poccim. — Pycexoe C.100, 1859, Irons, Ora. I, | russischen Gesandten Resanof veranlassten, den be- erp. 362) nennt ihn Kudrjawzof. . kannten Raubzug Chwostof’sundDawydof’s nach Sa- 2) Middendorff, l. ce. chalin anzuordnen, sogar die Ansicht an, dass die Russen 3) Von den früheren Ueberwinterungen von Russen | um die Mitte des vorigen Jahrhunderts sich dieser Insel im giljakischen Gebiete wird später die Rede sein. bemächtigen wollten und eine Colonie hingebracht hätten, 4) Middendorff, 1. c. p. 102, 103. welche später verschollen sei (Asykp. nyrem. 55 Ame- 5) Tö-tats ki ko (Siebold, Nippon, VII, p. 169, 181). | pııxy moper. opun. Nsocropa u Aassr oma. C. Herep- 6) Der Admiral Schischkof führt, bei Besprechung | Gypr» 1810, Hpeaysb.., crp. XIV). Russen im Amwr-Lande. Ansiedelungen, Besitznahme. 85 wiederum Schiflbruch gelitten und seien sämmtlich umgekommen, bis auf einen Mann Namens Kämz, der sich nach dem Dorfe gerettet habe. Zu ihm seien bald zwei Russen, die vom Amur kamen, Wassilij und Nikita, gestossen, die grosse Angst vor dem russischen Zaren hatten, — ohne Zweifel Läuflinge. Alle drei hätten sich darauf im Dorfe Mgatsch niedergelassen und dort gleich den Giljaken von Thierfang und Handel mit den Japanern gelebt, bis sie alle drei auf Sachalin auch ihr Ende gefunden'). Lieut. Boschnjak scheint bei diesen Mittheilungen von dem obigen, sehr übereinstimmenden Berichte Mamia Rinsö’s nichts gewusst zu haben. Man erkennt aber in dem Kamutsi des letzteren sogleich den Haupthelden seiner Erzählung wieder. So treu hat die Tradition selbst die Namen dieser zeitweisen, fremden Bewohner der Insel unter den Giljaken aufbewahrt. Dass später auch der Läufling Gurij Wassiljef ein paar Jahre unter den Giljaken, und zwar sowohl auf Sachalin, als auch an der Festlandsküste zubrachte, ist oben schon erwähnt worden. Wie häufig übrigens russische Kaufleute, Kosaken, Flüchtlinge und anderes Volk, entgegen den bestehenden Traktaten, das Amur-Land auch besuchten, einen grösseren Einfluss auf die Sitten seiner Völker können sie, wie oben erwähnt, schon aus dem Grunde nicht gehabt haben, weil sie sich unter ihnen immer nur mehr oder weniger einzeln und vorübergehend aufhielten. Ein solcher Einfluss konnte und musste sich erst von dann ab einstellen, als russischerseits grössere, feste und bleibende Ansiedelungen im Amur-Lande gegründet wurden und damit die Colonisation und Besitznahme desselben begann. Der Anfang dazu wurde kurz vor meinem Besuche des Amur-Landes gemacht, und zwar ging man zunächst an der Mündung und im unteren Laufe des Amur-Stromes vor. Die Ungunst klimatischer Verhältnisse im Ochotskischen Meere, die ungeheuere Entfernung und Abgeschiedenheit seiner Häfen von allen grösseren Centren Sibirien’s nöthigten südwärts vorzurücken, und die augenfällige Bedeutung des Amur-Stromes, als der einzigen natürlichen und bequemen Wasserstrasse aus dem Inneren Sibirien’s nach den russischen Besitzungen am Stillen Ocean — eine Bedeutung, die man nach den russischen Frei- beuterfahrten mehr und mehr erkannte und auf die immer wieder hingewiesen wurde®), — drängte 4) Bomuar®, IceneA. 86 Ipu-amyper. kpab (Moper. C6opu. 1858, N 12, Y. neo»., crp. 192). Einer der Gi- ljaken zeigte Hrn. Boschnjak auch einen Spiegel, den sein Vater von dem’ erwähnten Kämz zum Geschenk er- müssten oberhalb Gorbiza zwei Schiffe gebaut werden, um auf ihnen, unter dem Vorwande, entlaufene Mannschaft zu suchen, die Schilka und den Amur abwärts zu gehen. Die Expedition nach Japan kam bekanntlich unter Führung halten hatte und den er so werth hielt, dass er ihn um keinen Preis weggeben wollte. 2) Dem langen Verzeichniss dieser Hinweisungen bei Middendorff (Reise etc., Bd. IV, p. 175, 176) kann ich noch folgende hinzufügen. Schon im Jahre 1791 wies der Akademiker Erich Laxmann in der Instruction, die er behufs Ausrüstung einer neuen Expedition nach Japan entwarf, auf die grosse Bedeutung hin, die der Amur- Strom für die Schifffahrt der Russen im Stillen Ocean und die Colonisation Sibirien’s habe, und auf die Nothwen- digkeit ihn zu annectiren. Zu dem Zwecke, meinte er, Adam Laxmann’s (des Sohnes von Erich L.) zu Stande; der Vorschlag, den Amur in Besitz zu nehmen, wurde hingegen von der Kaiserin Katharina II. verworfen, um nicht Collisionen mit der chinesischen Regierung hervor- zurufen und dadurch den Zwecken der japanischen Expe- dition zu schaden (s. Hosouckiü, Kypması. — 3aı. Unn. Pycer. Teorp. Oö. Io orA. Iruorp. T. IX, 1871, erp. 470, 474). J. D. Cochrane (Narrat. of a pedestr. journey through Russia and Siberian Tartary, London 1825, Vol. I, p- 418) hob ebenfalls die commerzielle Bedeutung des Amur-Siromes für Sibirien hervor, 86 Die Völker des Amwr-Landes. unaufhaltsam zur Besitznahme dieses Stromes. Am 29. Juni (10. Juli) 1850 wurde in einer Bai des Ochotskischen Meeres, die den Namen «Bai des Glückes» erhielt, durch den Capit.-Lieut. (späteren Admiral) Newelskoi, der im Jahre zuvor auf der Brigg «Baikal» die Küste vom Tugur-Busen bis zum Amur-Liman untersucht hatte, und den Schiffsfähnrich Orlof der Pe- trovskische Posten (eigentlich Petr. Winterquartier — «Petrovskoje Simowjo») gegründet?). In unmittelbarer Nähe vom nördlichen Eingang in den Amur-Liman und nur etwa 45 Werst gerad- liniger Entfernung vom Amur gelegen, sollte dieser Posten nur ein Uebergangspunkt nach dem letzteren sein. Und in der That nahm Newelskoi noch im selben Jahre Besitz von der Amur- Mündung, indem er von Petrovskoje zu Boot in den Amur ging und dort am 6./18. August in einer Bucht des linken Ufers, etwa 35 Werst oberhalb der Ausmündung des Stromes in den Liman, nahe dem giljakischen Winterdorfe Kuik (oder nach russischer Bezeichnung Kuegda), an dem von den Giljaken Tschorbach?) genannten Punkte, unter Aufhissung der russischen Kriegsflagge den Nikolajevschen Posten gründete ®). Diese Gründung war jedoch insofern nur eine provisorische, als die dort hinterlassenen 6 Mann Befehl erhielten, nachdem der Amur-Strom und Liman sich beeist hätten, nach Petrovskoje zurückzukehren und sich erst mit der letzten Winterbahn wieder dorthin zu begeben, um an den Bau von Häusern zu schreiten. Letzteres scheiterte aber an dem Widerstand der Giljaken und konnte erst vom 9./21. August 1851 ab begonnen werden, als Capit. Newelskoi mit einer grösseren Anzahl von Leuten hinkam und dort 25 Mann unter Anführung des Flottenlieut. Boschnjak hinterliess. Damit war also erst die de- finitive Gründung des Nikolajevschen Postens oder der nachmaligen Stadt Nikolajevsk geschehen‘). Waren es zunächst auch nur ein paar Blockhäuser, die sich dort erhoben, so hatte man damit doch wieder festen Fuss am Amur gefasst. Von dort lernte man das untere Amur-Land, die anstossende Küste des Nordjapanischen Meeres und die Insel Sachalin näher kennen, und 1853 wurden mit denselben geringen Mitteln noch andere kleine Posten begründet: der Mariinskische am Eingange in den See von Kidsi, an der Stelle des kleinen Oltscha-Dorfes Choto°), der Alexandrovsche in der Bai de Castries 6), der Konstantinovsche in der Bai Hadshi, skoi’s eigener Angabe verzeichnet. 4) Bomnarp, Iccm. 86 Ipu -amyper. kpab (Moper. Cöopn. 1858, N: 12, Y. neo»., crp. 180). Pomano»%, Ipnc. Anmypa (Pyccx. C.10so, 1859, Ioas, Ora. I, crp. 123). 5) Am 7./19. August (Pomauos», Ipnc. Anypa.—Pyc- 1) A. Pomanos», IIpucoeA. Anypa xp Pocein (Pycer. Caoro, 1859, Iro.as, Ora. I, crp. 117). Tuxmeupe»%, Hc- Topu4. 0003p. 0o0pa3or. Pocc.-amep. RKoun. Y. II, erp. 72. Heseapckoü, Hoasuru pycck. MOpck. OSHN. Ha kpaiin. Bocr. Poceciu, erp. 107. 2) D. h. «Fisehfels», von «tscho»—Fisch und en Stein, Fels. Der Anlaut im letzteren Worte hält unge- fähr die Mitte zwischen p und b und nähert sich in den zusammengesetzten Wörtern mehr dem letzteren. 3) In Newelskoi’s posthumem Werke (IloAas. pycck. u np. erp. 111) ist der 1./13. August als Tag der Gründung des Nikolajevschen Postens angegeben; nach Romanof (Hpnc. Anypa.—Pycer. C.1050, 1859, Iro.ıs, Or. I, erp. 118) und Tichmenjef (Hcerop. 0003p. u up. 4. II, crp. 72) wäre es hingegen der 6./18. August. Das letztere Datum ist auch in meinen Tagebüchern auf Grund von Newel- eroe C.10B0, 1859, Tro.ıap, OrA. I, crp. 130). Bush (Reindeer, dogs and snowshoes: a journ. of Siber. tray. and explor. London 1872, p. 86) giebt irrthümlich 1851 als Jahr der Erbauung des Mariinskischen Postens an. Nebenbei be- merkt, findet man in demselben Werke (p. 89) auch die Angabe, dass der Amur von den Russen erst 1843 ent- deckt worden sei (!). 6) Am 5./17. August, nach Romanof (l. c.), wie nach meinen, auf Newelskoi’s Angaben beruhenden Auf- zeichnungen. Russen im Amur-Lande. Ansiedelungen, Besitznahme. 87 die den Namen Kaiserhafen erhielt’), und der Murawjovsche in der Bai Aniwa auf Sachalin ?). Die drei letzteren, an der Meeresküste gelegenen Posten konnten jedoch einem Angriff von der Seeseite zunächst nicht Widerstand leisten und mussten daher schon im folgenden Jahre, beim Ausbruch des Krimkrieges, zeitweise wieder geräumt werden. Als ich am 22. Juli (3. Aug.) '1854 auf der Corvette «Olivuza» die Bai Aniwa besuchte, fand ich den Murawjovschen Posten bereits verlassen °); im Kaiserhafen und in der Bai de Castries, die wir am 25. und 30. Juli (6. und 11. Aug.) anliefen, waren nur kleine Wachen von 10, resp. 7 Mann Kosaken mit je einem Unterofficier hinterlassen worden. Auch die beiden am Amur gelegenen Posten waren bis dahin nur sehr unbedeutend, denn der Nikolajevsche zählte, als ich ihn am 7./19. August 1854, also genau drei Jahre nach seiner Gründung, zuerst betrat, etwa ein halbes Dutzend kleiner Blockhäuser, und der Mariinskische war noch kleiner. In Folge der Nothwendigkeit, die Küste zu verlassen und um so festeren Fuss am unteren Amur zu gewinnen, wuchsen aber beide von jetzt ab ansehnlich. Wenige Wochen nach meiner Ankunft im Nikolajevschen Posten, siedelte sich der Capit. Newelskoi mit fast sämmtlicher Mannschaft von Kosaken und Matrosen vom Petrovskischen Posten dorthin über und machte somit diesen Ort zum Regierungssitz des faktisch oceupirten unteren Amur-Landes. Fast gleichzeitig kam dorthin auch die Mannschaft der Fregatte «Diana», die dem Vice-Admiral Putjatin zum Ersatz der unbrauchbar gewordenen Fregatte «Pallas» geschickt worden war und von dieser auch deren Mannschaft erhielt‘). Zum Winter gab es daher im Nikolajevschen Posten schon eine ganze Reihe grösserer und kleinerer Häuser, die rasch aus dem an Ort und Stelle niedergehauenen Walde aufgezimmert worden waren. Darunter auch mein bescheidenes Blockhaus, das sich als letztes zum Walde hin an die sogen. Sslobodka, die Reihe der Kosaken- häuser, anschloss. 4) Am 23. Mai (4. Juni) 1853 wurde die Bai Hadshi vom Lieut. Boschnjak entdeckt und «Hafen des Kaisers Nikolai» genannt (Mopexr. Coopn. 1859, N 3, Y. neo». crp. 205, 206). Im selben Jahre, am 1./13. August gründete Newelskoi daselbst den Konstantinovschen Posten. (Das obigeDatum findet sich sowohl bei Romanof [l.c. p. 130], wie in meinen Aufzeichnungen, während inNewelskoi’s obenerwähntem posthumen Werke [p. 237] dafür—offen- bar durch Verwechselung mit dem Tage der Gründung von Nikolajevsk — der 6./18. August angegeben ist). Erst drei Jahre später (am 11. Mai 1856) wurde dieselbe Bai vom Capit. Fortescue aufdem englischen Kriegsschiff «Barracouta» aufgefunden und nach seinem Schiff benannt (Tronson, Person. Narr. of a Voyage in H.M. S. Barracouta, London 1859, p. 267— 271). 2) Nach Boschnjak (3auntie yacru o-Ba Caxazuma u 3HMOBKa BB Ünmeparopckoü raBaun.—Moper. Cöopn. 1859, N 10, Y. neo®., crp. 397) am 21. September (3. October), nach Newelskoi’s posthumem Werke (p. 252, 255) am 22. September (4, October). In demselben Jahre, und zwar nach Romanof (l.c.p. 129) am 21. Juli (2. August), nach Newelskoi (l. c. p. 269) am 30. August (11. September) — und diesmal wird wohl die letztere Angabe die rich- tigere sein — wurde auch bei Kussunnai, an der West- küste Sachalin’s, durch den Schiffsfähnrich Orlof ein Pos- ten gegründet und Iljinskischer Posten benannt; allein derselbe wurde sogleich wieder verlassen und erst meh- rere Jahre später (1857) definitiv wieder eingenommen. Dieselben Data hinsichtlich der Gründung russischer Pos- ten im Amur -Lande, wie bei Romanof, finden sich auch in Ssgibnef’s Artikel: Amypcraa akcneanuia1854r. Pa3cra36 oyeruAaua (Apesuaa u noraa Poccia, C. Herep6. T. III, 1878, crp. 222). 3) Es war schon am 30. Mai (11. Juni) geschehen. 4) Die ausrangirte und desarmirte Fregatte «Pallas» wurde in den Kaiserhafen gebracht, um dort, im Falle sie vom Feinde entdeckt werden sollte, vernichtet zu werden, was im Frühling 1856 auch in der That geschah (vrgl. Tronson, 1. c. p. 270). 88 Die Völker des Amur-Landes. Eine viel grössere Erweiterung des Nikolajevschen wie des Mariinskischen Postens brachte aber, unter gleichzeitiger Entstehung neuer Ansiedelungen, das Jahr 1855. Bereits im Frühling kam sämmtliches Marine- und Beamtenpersonal von Petropawlovsk in Kamtschatka, den Gou- verneur Contre-Admiral Sawoiko an der Spitze, an den Amur. Es folgten bald zwei Drittel von der Mannschaft der am 11./23. December 185% in der Bai von Simoda auf Nippon durch ein Erdbeben zerstörten Fregatte «Diana» !). Inzwischen hatte, sogleich nachdem der Amur seine Eishülle abgeworfen, auch der General-Gouverneur Murawjof ein halbes Bataillon transbaikali- scher Kosaken zu Fuss und eine Ssotnja (ein Hundert) Kosaken zu Pferde, nebst den ersten ackerbauenden Colonisten mit ihren Familien den Amur abwärts gebracht. So strömten dem un- teren Amur von der Land- wie von der Seeseite zahlreiche russische Elemente zu. Was davon der Marine gehörte oder mit ihr in Beziehung stand, nahm seinen Aufenthalt im Nikolajevschen Posten, der nun beträchtlich anwuchs und von dem aus zwei kleinere Wachtposten, der eine am Cap Lasaref, am südlichen Eingange in den Liman, der andere beim giljakischen Dorfe Pall-wo, zur Aufsicht über die desarmirten und in den Amur geborgenen Kriegs- und Trans- portschiffe, errichtet wurden. Die Landtruppen wurden hingegen um den Mariinskischen Posten angesiedelt: die Kosaken zu Fuss beim Dorfe Kidsi und die zu Pferde auf der im Angesicht des letzteren gelegenen Insel Ssutschu. Ein Theil der ersteren wurde auch an der Bai de Castries, in einiger Entfernung von der Meeresküste stationirt. Den ackerbauenden Colonisten endlich wurden mehrere Punkte zwischen den beiden Posten zur Ansiedelung angewiesen, theils im Oltscha-, theils im Giljaken-Gebiete: beim Dorfe Aure entstand auf diese Weise die An- siedelung Irkutskoje, bei Tentscha — Bogorodskoje, in der Nähe von Chylk das ansehnliche Dorf Michailovskoje; eine kleine Partie wurde in der Nähe des Dorfes Angkalm angesiedelt, fiel aber in kurzer Zeit bis auf einen Mann dem Typhus zum Opfer, und eine fünfte Nieder- lassung endlich bildete sich am Litsch-Flusse, wenig oberhalb des Nikolajevschen Postens. Wie man sieht, beschränkten sich die russischen Ansiedelungen bis dahin nur auf den untersten Lauf des Amur-Stromes; oberhalb des Mariinskischen Postens hingegen gab es noch keinerlei Anfänge derselben. Ja, auch im Sommer 1856, als ich auf der Rückreise nach Europa den gesammten Amur aufwärts ging, traf ich an demselben auf der ganzen Strecke vom letztgenannten Orte bis nach Ustj-Strelka nur fünf kleine provisorische Wachtposten, an den Punkten, wo man Niederlagen von Lebensmitteln für die vom unteren Amur nach Transbaikalien zurückkehrenden Truppen errichtet hatte. In dem der Sungari- Mündung gegenüber liegenden, stromaufwärts gegangen, ersten dieser Wachtposten (Sungarijskij 1) Eine ausführliche Beschreibung dieses Ereignisses | Japan, perform. in {he years 1852 — 1854, und. the comm, durch Augenzeugen findet man in den officiellen Berichten | of commod. M. €. Perry, New-York 1856, pag. 587. des Vice-Admirals Putjatin und des Capitains der Fre- | Das letzte Drittel der Diana-Mannschaft wurde an Bord gatte, Lessovskij, an die russische Regierung, im | der amerikanischen Brigg «Greta» am 29. Juli 1855 von Moper. C6opn. 1855, N 4, Ora. IV, erp. 293—296; N: 7, | dem englischen Kriegsschiff «Barracouta» gefangen ge- Ora. II, erp. 231 — 257. Vrgl. auch Hawks, Narral., of | nommen (s. Tronson,l. c. p. 139 fl.). the Exped. of an Amer. Squadron to the China seas and Ethnographische Karte des Amur-Landes. 89 Piket), waren zur Zeit als ich ihn berührte, am 15./27. Juli, auch diese Vorräthe noch nicht angelangt. Der zweite befand sich gleich oberhalb des Eintritts des Amur-Stromes in das Bureja-Gebirge (Chinganskij Piket), gleich allen anderen am linken Ufer desselben; der dritte und grösste lag nahe der Dseja-Mündung (Ustjseiskij Piket), an der Stelle der jetzigen Stadt Blagoweschtschensk; der vierte gegenüber der Komar-Mündung (Kamarskij P.), und der fünfte endlich am Flüsschen Kotomanga (Kotomandskij P.)”. So wurden zur Zeit meines Aufenthaltes im Amur-Lande russischerseits nur die ersten Schritte zur Besitznahme und Colonisation eines Theiles desselben gemacht. Erst nach Beendigung des Krim-Krieges, als das Amur-Land den Russen von der Seeseite wieder zugänglich wurde, und besonders nach dem Abschluss des Aiguner Traktates (1858), durch welchen die jetzigen Grenzen zwischen Russland und China festgestellt wurden und der grösste Theil des Amur-Landes auch de jure in russischen Besitz kam, begann jene energische, fast fieberhafte Colonisirung, deren eingangs erwähnt worden und die auch auf die ethnographischen Verhältnisse des Landes von dem grössten Einflusse sein musste. Diese Vorgänge liegen jedoch schon ausserhalb des Bereiches unserer Schilderungen. Zum Schluss dieser Uebersicht erlaube ich mir noch einige theils historische und kritische, theils allgemein zusammenfassende Bemerkungen anlässlich der beifolgenden, die oben besprochene geographische Verbreitung der Amur-Völker bildlich veranschaulichenden Karte zu sagen. Sie ist die erste speciell auf das Amur-Land sich beziehende ethnographische Karte. Schon auf der dem ersten Bande dieses Werkes beigegebenen Karte hatte ich die an dem Amur und seinen Zuflüssen wie auf Sachalin wohnhaften Völker verzeichnet, ohne jedoch ihre respectiven Gebiete abzugrenzen. Später, im Jahre 1873, erschien eine ethnographische Karte des asiatischen Russlands von Wenjukof, auf welcher auch der russische Theil des Amur-Landes aufge- nommen ist?). Bei dem verhältnissmässig kleinen Maassstabe der ganzen Karte, entfallen aber auf das Amur-Land nur wenige Quadratzoll. Dem entsprechend sind auch die Angaben meist nur summarisch, indem die einzelnen tungusischen Stämme, welche ja fast das ganze Amur- Land einnehmen, nicht oder höchstens nur durch einige, jedoch meistens nicht an der richtigen Stelle gesetzte Aufschriften unterschieden werden und von einer Abgrenzung ihrer respectiven Gebiete keine Rede ist. Dabei sind diese zusammengefassten tungusischen Stämme des Amur- Landes von den beiden anderen, auf der Karte unterschiedenen Völkern, den Giljaken und Aino, zumeist auch noch falsch abgegrenzt. So giebt diese Karte eigentlich nur ein an- näherndes Gesammtbild von der bei weitem überwiegenden tungusischen Bevölkerung des Amur- 4) Vrgl. dieses Werkes Bd. I, p. XIX—XXI. desselben Autors «Onsıt5 BOeHHaro 0603pbHia Pycckux% 2) Irworpasnueckan kapra Aaiatcroi Pocciu. Mac. | rpaunus 8% Aszin, €. Herep6ypr» 1873» beigegeben, aber EN 1 i b B5 aurı. Arünb 250 Bepcre mau 10,500,000° Dem Werke | auch einzeln zu haben. Schrenck’s Amur-Reise, Band III. 12 90 Die Völker des Amur - Landes. Landes, in die sich zu jener Zeit längs dem Amur, dem Ussuri, am Kengka-See und den Ssuifun abwärts nach dem Golfe Peter’s des Grossen bereits russische Colonisation ergossen hatte’). Dieses letztere Moment geht unserer Karte noch so gut wie gänzlich ab, da sie die ethnographischen Verhältnisse des Amur-Landes aus der Zeit wiedergiebt, als die Russen nach einer Pause von 200 Jahren erst wieder in das Amur-Land vorzudringen begannen, um es fortan nicht wieder zu verlassen. Indem die Golonisirung besonders den Hauptflüssen, dem Amur und dem Ussuri folgte, hat sie die ethnographischen Verhältnisse hauptsächlich dort abgeändert, wo auch die eingeborene Bevölkerung am dichtesten zusammensass. Dort mögen daher seitdem viele Ortschaften der letzteren verdrängt, verschoben, reducirt worden, ja sogar völlig, selbst dem Namen nach verschwunden sein. Und die Zukunft wird in dieser Richtung raschen und unerbittlichen Laufes noch mehr thun. Indem nun unsere Karte die von diesen Veränderungen noch nicht berührten 4) Zum Belege meines obigen Ausspruchs über diese Karte, so weit sie das Amur-Land betrifft, mögen folgende Detailbemerkungen dienen. Trotzdem, dass die Giljaken durch ihre Sprache von allen ihren Nachbaren scharf unterschieden sind, ist ihr Gebiet auf der Karte von We- njukof nur auf Sachalin richtig angegeben, auf dem Festlande hingegen nach allen Seiten falsch abgegrenzt. So beginnt es im Norden nicht am Tugur-Busen, sondern erst östlich vom Ulban-Busen; im Süden, am Amur- Strome, lässt er es noch über den Kidsi-See hinaus bis nach. Ssofijsk (an der Stelle des Oltscha-Dorfes Dshai), also bis in die Mitte des Oltscha- Gebietes hinein- reichen. Von dort zieht er die Südgrenze der Giljaken. nach der Bai de Castries, wo doch schon LaPerouse ganz richtig Orotschen angab. Dagegen rückt er sie von der Liman-Küste, von der Amur-Mündung und von dem zu- nächst angrenzenden Theile der Küste des Ochotskischen Meeres westwärts weg und setzt dorthin einen tungusi- schen Stamm, während in Wirklichkeit der Amur-Liman ringsum nur von Giljaken bewohnt wird.—Den Aino auf Sachalin räumt die Karte nach Norden ein zu weites Ge- biet ein, indem es den ganzen Ty- oder Poronai - Fluss umfassen und bis an die Tymy-Quellen reichen soll, wäh- rend es in der That am Golfe der Geduld abbricht und am Ty ein unbewohntes, von Giljaken und Oroken vielfach begangenes Terrain liegt. —Die Oroken, welche auf der Karte seltsamer Weise «Orokapen» heissen (worüber später), sind nur in demjenigen Theile Sachalin’s ange- geben, in welchem es gar keine Bevölkerung giebt, und fehlen an ihren wirklichen Sitzen.— Die Aufschriften für die einzelnen tungusischen Stämme des Amur - Landes stehen fast durchweg an falscher Stelle: die Orotschen z. B. sind nur im südlichsten Theile ihres ausgedehnten Gebietes angeführt, die Mangunen (Oltscha) fast ganz in das Golde-Gebiet gerückt, dieSamagirn an den Am- gunj versetzt, an Stelle der Negda, die gar nicht genannt sind, gleich wie auch die Biraren, Manägirn, Oro- tschonen. Die Dauren, deren es doch ausser am Nonni und Komar auch an der Bureja und am Amur welche giebt und die man gewiss nicht, gleich den letzgenannten Völkern, schlechtweg unter der allgemeinen Bezeichnung Tungusen subsumiren darf, fehlen auf der Karte gänz- lich, während die wenigen, erst neuerdings über den Tu- men-Fluss in das russische Gebiet hinübergezogenen Ko- reaner angegeben sind. Noch weniger Berücksichtigung finden die verschie- denen tungusischen Völker des Amur-Landes auf der eth- nographischen Karte des asiatischen Russlands, welche der Statistische Atlas des Russischen Reiches von Iljin (Omsitp crarucr. arıaca Pocciiickois Unmepiu, C. Herep- öypr» 1874, kapra 14), allerdings in noch kleinerem Maass- stabe, brachte. Denn diese kennt im russischen Theile des Amur-Landes (von Chinesen und Mandshu abgesehen) an indigenen Völkern, ausser den ebenfalls falsch abge- grenzten Giljaken und Aino, nur noch «Tungusen» (im Allgemeinen) und «Golde», deren Gebiet aber am Amur von oberhalb der Bureja bis nach Mariinsk ange- geben ist. Dieselben Fehler endlich wie auf der Wenjukof’- schen Karte wiederholen sich auch auf der von Peter- mann neuerdings entworfenen ethnographischen Karte des Russischen Reiches (Geogr. Mittheil., 1877, Taf. 1), die für das asiatische Russland ganz auf den Angaben jener beruht. Trotz des viel kleineren Maassstabes giebt sie die obige, als falsch dargethane Begrenzung des Giljaken- Gebietes genau wieder. Die Namen der einzelnen tungu- sischen Amur-Völker sind aber auf ihr ganz weggelassen, so dass das Amur-Land, mit Ausnahme der kleinen Strecke im unteren Laufe seines Hauptstromes, gleich dem an- stossenden Theile von Ostsibirien nur von «Tungusen» bewohnt erscheint. Ethnographische Karte des Amwr-Landes. 91 ethnographischen Verhältnisse des Amur-Landes fixirt, wird sie in Zukunft einen Maassstab für die ersteren abgeben können. Und das kann ihr wissenschaftliches Interesse nur erhöhen. Von welchem Werthe wäre uns z. B. gegenwärtig eine genaue ethnographische Karte des Amur- Landes aus der Zeit der ersten russischen Invasion? Wie Vieles liesse sich daraus für die im nächsten Abschnitt zu behandelnden Fragen entnehmen! Was den anderen oben berührten Punkt, das auf der ethnographischen Gesammtkarte des asiatischen Russlands so anschauliche Uebergewicht der tungusischen Bevölkerung im Amur- Lande betrifft, so fällt dasselbe auf unserer Karte beim ersten Anblick allerdings weniger in die Augen, und zwar aus dem Grunde, weil auf derselben die tungusischen Völkerschaften nicht unterschiedslos zusammengeworfen, sondern ebenfalls durch verschiedene Farbentöne auseinander gehalten worden sind. Man braucht sie jedoch bloss zusammenzufassen und den stammver- schiedenen Giljaken und Aino gegenüber zu halten, um ein deutliches Bild davon zu gewinnen, wie gross ihr räumliches Uebergewicht über die letzteren ist und wie sehr hingegen diese nur auf den äussersten Rand des Continents und die anliegenden Inseln beschränkt bleiben. Und so muss uns schon aus den räumlichen Verhältnissen der Völkerverbreitung im Amur-Lande der Gedanke entgegentreten, dass die Giljaken und Aino durch tungusische Völkerschaften an den Rand des Continents gedrängt worden sind — ein Gedanke, der in den historischen und ethnologischen Betrachtungen der folgenden Abschnitte eine fernere Begründung finden wird. 2. Abschnitt. Veränderungen und Verschiebungen in den Verbreitungsgebieten der Amur-Völker in historischer Zeit, nach russischen, chinesischen, japanischen Nachrichten; nebst Sichtung und Deutung der im Amur-Lande gebräuchlichen oder auf dasselbe bezüglichen Völkernamen. Ist es schon nicht leicht, ja oft kaum möglich, die gegenwärtigen Verbreitungsgebiete halbnomadischer Jäger- und Fischervölker auf weitem, noch wenig durchforschtem Raume mit einiger Genauigkeit gegen einander abzugrenzen, wie viel mehr Schwierigkeiten bieten sich der Untersuchung dar, wenn es sich um die Fragen handelt, ob und welche Veränderungen und Verschiebungen in den Verbreitungsgebieten dieser Völker im Laufe der Zeit vor sich gegangen sind? wann und woher dieses oder jenes von ihnen in seine jetzigen Wohnsitze eingerückt ist? und welches andere Volk es aus denselben verdrängt hat? Auch muss ich von vornherein be- merken, dass ganz bestimmte und ausreichende Antworten auf diese Fragen in Beziehung auf die Völker des Aıur-Landes in den nachstehenden Blättern nur selten zu finden sein werden. Feste, unläugbare, selbstredende Thatsachen giebt es in dieser Richtung nur sehr wenige, wohl aber manche Erscheinungen und Verhältnisse, an welche sich Combinationen und Vermuthungen knüpfen lassen, die eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich haben dürften. Dass auch im Amur-Lande in historischer Zeit manche Veränderungen und Verschiebungen . in den Wohnsitzen seiner Völker vor sich gegangen sind, kann wohl keinem Zweifel unterliegen. Wie sollten die grossen Völkerbewegungen, die nachweislich ringsum sich vollzogen, ihre Wellen nicht auch in das Amur-Land getrieben haben? Und wie ist es denkbar, dass die wiederholten Kriege, deren Schauplatz das Amur-Land gewesen oder an denen viele seiner Völker Theil genommen, nicht auch mancherlei Verschiebungen in ihren Verbreitungsgebieten zur Folge gehabt hätten? Man bedenke nur, dass ehe die Mandshu im XVII. Jahrhundert den Kaiserthron von China eroberten, ihre Vorfahren durch erfolgreiche Kriege sich bereits zweimal zu Beherrschern dieses mächtigen Reiches aufgeschwungen hatten: das erste Mal als Khitan oder Liao im X. Jahrhundert (907—1125), und dann im XII. (1125— 1243) als Jutschi Völkerverschiebungen im Ostsibirien und dem Amwr-Lande. 93 (Njutschi, Dschurdschi) oder Kin, wie ihre Dynastie auf dem Throne sich benannte. Das Hervorbrechen dieser kriegerischen Horden aus ihren Wäldern und Bergen musste nothwendig das ganze südliche Amur-Land in Mitleidenschaft ziehen. Die unmittelbar darauf folgende Be- wegung der Mongolen unter Tschingis-Chan und seinen Nachfolgern, die selbst aus dem Quelllande des Amur-Stromes hervorging und unter Anderem die Macht der Kin in China brach, rief wiederum eine Reihe von Völkerbewegungen hervor, welche sich von Westen und Norden her auch in das Amur-Land fortpflanzen mussten. Indem die Burjaten, ein mongolischer Stamm, in das Quellland des Amur-Stromes und weiter, zum Baikal-See vordrangen, stiessen sie an dem letzteren auf die türkisch-tatarischen Uranwohner desselben, die Jakuten, welche, vor jenen Eindringlingen zurückweichend, in das Lena-Thal hinabstiegen und längs diesem Strome ihre Ausbreitung nordwärts nahmen). Dort aber stiessen sie ihrerseits auf zahlreiche Tungusen-Stämme, welche ihnen einen hartnäckigen Widerstand entgegensetzten und, wie es noch im vorigen Jahrhundert in ihren Ueberlieferungen frisch fortlebte, erst nach vielen blutigen Kämpfen das Feld räumten ?). Während ein Theilder Tungusen nach Westen, bis an den Jenissei auswich®), ein anderer nach dem äussersten Norden, bis zum Eismeer verdrängt wurde, zogen noch Andere ostwärts, längs den rechten Lena-Zuflüssen dem Stanowoi - Gebirge, dem Ochot- skischen Meere und dem Amur-Lande zu. Da die zähen und lebenskräftigen Jakuten in ihrer Ausbreitung nicht inne hielten, bis sie im Norden wie im Nordwesten und Nordosten die Eismeer- küsten erreichten‘), so mussten auch die unter den Tungusen und anderen Völkern?) dadurch veranlassten Bewegungen in den angedeuteten Richtungen noch lange fortdauern. Noch hatten sich aber diese Wellen nicht verlaufen, als von Westen her eine neue und noch folgenschwerere Bewegung anbrach, — der Andrang russischer Eroberer, der auf die ethnographischen Verhältnisse 4) Nach Gmelin (Reise durch Sibirien, von dem Jahr 1733 bis 1743, Göttingen 1751, Bd. II, p. 344, 345) gab es noch zu seiner Zeit unter den Jakuten eine alte Erzäh- lung von dem Drucke, den sie von den Burjaten er- litten hätten und durch den sie zum Fortziehen das Lena- Thal abwärts bewogen worden seien. Vrgl. auch Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. VI, 1761, p. 147; Fischer, Sibir. Gesch. St.Petersb. 1768, Bd. I, p. 108,109; Schlözer, All- gem. Nord. Gesch. Halle 1771, p. 416; Cremano»» , Euu- ceück. ry6. C. Ierepöypr 1835, 4. II, crp. 45; Ritter, Asien, Bd. II, p.5; Middendorff, Reise in den äuss. Nord. und Osten Sibir. Bd. IV, p. 1542, 1545. Auch der Name «Baikal» soll jakutischen Ursprungs sein und soviel wie «reiches Gewässer» bedeuten (vrgl. Laxmann, Si- birische Briefe, herausgeg. von Schlözer, Göttingen 1769, p. 37, Anmerk.). 2) Gmelin, 1. c. p. 345; Müller, 1. c. p. 150, 151; Fischer, l. c. p. 110; Schlözer,l. c. 3) Den Zeitpunkt, wann die Tungusen an den Je- nissei kamen, versetzt Stepanof (Ennceückan ry6. 4. II, crp. 43) in das XII. oder XIH. Jahrhundert, was wohl zu weit zurückgegriffen sein dürfte, da sie erst im XIV. Jahr- hundert durch die Burjaten aus ihren Sitzen am Baikal- See verdrängt wurden (s. Middendorff, 1. c.). 4) Ueber das allmähliche Vordringen der Jakuten im XVI. und XVII. Jahrhundert sowohl im Lena-Thale, bis zu den Küsten des Eismeeres, als im Nordwesten, nach dem Taimyr-Lande, und im Nordosten, nach der Jana, In- digirka, Kolyma, ja in unserem Jahrhundert bis an das Ochotskische Meer, s. Middendorff, Reise etc. Bd. IV, p- 1324, 1467, 1543. Ihres vielfachen Vordringens in das Amur-Land ist oben wiederholentlich gedacht worden. 5) So unter den Jukagiren, Tschuwanzen u. a. Sehen doch Manche darin auch die Ursache, welche die Ur- einwohner desHochnordens, wie z.B. die Omoken, Stamm- verwandte oder Vorfahren der Jukagiren (s. oben p. 2), dahin trieb, das Festland der Sage zufolge zu verlassen und nach einem noch unbekannten Polarlande auszuwan- dern; so Markham (s. Whymper, Tray. and advent. in the territ. of Aliaska, London 1868, p. 251), Neumann (Use. Cuöuper. Ora. Unn. Pycer. Teorp. Oö. T. III, Hp- kyrer% 1872, erp. 34; T. IV, erp. 155) u. A. 94 Die Völker des Amur-Landes. von ganz Sibirien natürlich den grössten und nachhaltigsten Einfluss ausüben musste. Unaufhaltsam vorrückend, ergoss sich der Strom dieser nicht sowohl zahlreichen, als unerhört kühnen Er- oberer im XVII. Jahrhundert von Norden und Westen auch in das Amur-Land, um über das- selbe, gleich wiederholten Sturmfluthen, vielfach verheerend von einem Ende zum anderen hinwegzugehen. Vom Festlande endlich musste manche jener Bewegungen auch auf die nahe gelegene Insel Sachalin hinüberspielen, wo übrigens ausserdem auch von Süden her, durch Vor- gänge wie die allmähliche Ausbreitung der Japanischen Macht nach Norden, manche Verände- rungen in der ursprünglichen Abgrenzung seiner Völker erfolgen mussten. Welche Verschiebungen nun in den Wohnsitzen der Amur-Völker in Folge jener Ereig- nisse in der That stattgefunden haben, können wir nur aus den historischen Nachrichten entnehmen, die sich bei den angrenzenden, an den erwähnten Ereignissen mehr oder weniger betheiligten Culturvölkern, bei den Russen wie bei den Chinesen und Japanern über das Amur-Land erhalten haben. Leider reichen jedoch diese Nachrichten, so weit wir sie hier brauchen können, nicht sehr weit zurück. Die ältesten Nachrichten über das Amur-Land lassen sich jedenfalls bei den unmittelbar angrenzenden Chinesen erwarten; allein diese Nachrichten betreffen nur die eigentliche Mandshurei, die Vorfahren und Stammverwandten der jetzigen Mandshu, die, wie schon oben angedeutet, zu wiederholten Malen eine so hervorragende Rolle in der Geschichte China’s gespielt haben, nicht aber die Jäger- und Fischervölker des nördlichen und östlichen Amur-Landes, die den Gegenstand unserer Betrachtungen bilden. Auch liegt die Prüfung und Verwerthung dieser Nachrichten, selbst wenn sie indirekt eines oder das andere der letzteren Völker beträfen, auf dem mir ganz fremden Gebiete sprachlich-historischer Forschung über China und seine Grenzländer. Die wenigen Nachrichten hingegen über die hier in Betracht kommenden Völker, die sich in chinesischen Quellen finden und von den Sinologen durch Uebertragung in europäische Sprachen allgemein zugänglich gemacht worden, reichen nicht weiter zurück als bis in den Anfang der Regierungszeit der jetzt herrschenden Dynastie. So alt sind ungefähr auch die ältesten russischen Nachrichten über die Amur-Völker; denn sie datiren aus der Zeit, da sich die Russen bei der Eroberung Sibirien’s dem Amur-Lande näherten, was ungefähr gleichzeitig mit dem Regierungsantritt der Mandshu-Dynastie in China stattfand. Viel jünger, und zwar nicht über das Ende des vorigen Jahrhunderts zurückreichend; sind endlich die Nachrichten, welche man den Japanern über Sachalin und das Amur-Land verdankt. Sehr weitgehende Veränderungen in den Wohnsitzen der Amur-Völker lassen sich in so kurzem Zeitraume — von etwa 200 Jahren — überhaupt nicht erwarten. Wenn dennoch einige recht starke Verschiebungen in dieser Zeit stattgefunden haben, so liegt der Grund davon in den wichtigen, tief eingreifenden Ereignissen, welche sich während derselben im Amur-Lande abspielten, in jenen oft erwähnten Raub- und Kriegszügen russischer Kosaken und Freibeuter und ihren Con- flieten mit der mandshu-chinesischen Macht. Kleinere Grenzverschiebungen der einzelnen Völker- gebiete können und müssen im Laufe dieser Zeit vielfach erfolgt sein, allein diese sind aus den vorhandenen historischen Nachrichten am schwersten zu ersehen. Denn einerseits stehen die Gebietsgrenzen umherstreifender Jäger- und halbnomadischer Fischervölker überhaupt nicht so Giljaken. Erste gedruckte Erwähnung derselben. 9 fest und sind uns bei den Amur-Völkern auch in der Gegenwart nicht hinreichend bekannt, andererseits leiden die betreflenden historischen Nachrichten, da man sie meist den Aufzeichnun- gen und Berichten einfacher, ungebildeter, praktischen Interessen nachgehender Leute verdankt, für unsere Zwecke in der Regel an allzu grosser Unbestimmtheit, mitunter auch an Unklarheit, und, was das Schlimmste ist, sie führen die Amur-Völker nicht selten unter Namen auf, die uns heutzutage vollkommen fremd sind und die also zuvor noch einer Deutung bedürfen. Ob nun diejenigen Deutungen und Erklärungen, die man in den nachstehenden Blättern finden wird, immer die richtigen sind, muss zunächst dahin gestellt bleiben, — meinerseits hofle ich, da sie nicht unmotivirt sind, dass sie sich zum wenigsten in den meisten Fällen bewähren und dadurch den Schlüssel zur richtigeren Auffassung mancher historischer Nachrichten über das Amur-Land und der in denselben enthaltenen ethnographischen Thatsachen bieten dürften. Beginnen wir wiederum mit den Völkern des unteren Amur-Landes und unter diesen mit dem äussersten, den Giljaken. Die erste gedruckte Erwähnung der Giljaken findet sich auf der von Nicolaus Witsen 1687 in Amsterdam herausgegebenen, Peter dem Grossen gewidmeten Karte «Nieuwe Land-Karte van het Noorder- en Ooster-Deel van Asia en Europa»') und in dem 1) Eine eingehende Beschreibung und Würdigung dieser Karte gab Müller (Sammlung Russ. Gesch. Bd. I, p- 203 ff. und Bd. VI, p. 29 fi.). Mir liegt ausser der sel- tenen Originalausgabe dieser Karte noch eine weder von Müller in seiner «Nachricht von Land- und See-Carten, die das Russ. Reich und die zunächst angränzenden Län- der betreffen» (Samml. etc. Bd. VI), noch von Adelung in seinem Artikel «Ueber die älteren ausländischen Karten von Russland» (Beitr. zur Kenntn. des Russ. Reichs, her- ausgeg. von Baer und Helmersen, Bd. IV) erwähnte, von Allard in kleinerem Maassstabe besorgte und mit einigen Verbesserungen versehene Copie der Witsen- schen Karte vor. Sie trägt den Titel: «Tartaria, sive Magni Chami Imperium ex credendis Amplissimi Viri D-ni Nicolai Witsen, Cos: Amst: Aliorumque probandorum, et hodie vigentium Geographorum Archetypis congestum, auctum, et in lucem editum a Carolo Allard, Amst: Bat: Cum Privilegio Potentissimorum D. D. Ordinum Hollandiae et Westfrisiae», ohne Jahreszahl. Die holländischen Inschriften der Originalausgabe sind in lateinischer Sprache wieder- gegeben. Die Karte hat fast genau denselben Rahmen, im Osten jedoch mit Hinzunahme von Korea und dagegen im Westen mit Ausschluss des Wolga-Laufes. Ich nenne sie eine Copie der Witsen’schen, weil sie diese in der That, zumal im Norden und Osten, in allen Stücken bis in das kleinste Detail wiederholt. Auch auf ihr findet man z. B. dieselben Curiosa wie bei Witsen, dass nämlich un- verstandene russische Worte und Ausdrücke für Ortsnamen genommen sind. So steht am Zusammenfluss der Schilka und des Argunj mit grosser Schrift der Landschaftsname: «Otsel Poscheb,, offenbar weil es in einer russischen Angabe (und zwar einer Karte!) hiess: orce.an mome.ıp Anyp® (d.h. von hier, vom Zusammenfluss der Schilka und des Argunj, beginnt der Amur); im unteren Laufe der Lena und öst- lich von ihr finden sich ebenso die Landschaften: «Ot- more» (aus: 076 Mopa — vom Meere),«Nasabate» (na ana — im Westen) und «Wostok» (BOCTORB — Osten); das Ge- birge, welches die Zuflüsse der Lena von denen des oberen Amur trennt (Stanowoi), trägt bei Witsen die Aufschrift: «het gebergte gori» oder bei Allard «montes Gori», (russisch: ropsı — Berge) u. s. w. Speciell das Amur-Land betreffend, wiederholt sich auf der Allard’schen Karte auch die Eigenthümlichkeit der Witsen’schen, dass auf ihr so viele Flüsse in Folge unvermittelter Eintragung verschiedener Nachrichten, doppelt verzeichnet sind; so der Ussuri als Schur oder Usiur und als Uschuri, die Dseja als Sia und als Zija, der Urkan als Urka und als Urki u. s. w. Hingegen giebt die Allard’sche Karte den Lauf des Sun- gari anders als die Witsen’sche: auf der letzteren geht dieser Fluss unter dem Namen Singal zum Amur und gleichzeitig in weiter Bifurkation als Schingal oder Quen- tung zum Meere; die Allard’sche Karte aber reisst ihn auseinander und lässt den Singal zum Amur, den Quentung — was bekanntlich der chinesische Name für den Sungari ist — zum Meere fliessen. Gelegentlich sei hier auch eines Kärtchens erwähnt, das der 3. Ausgabe des Witsen’schen Werkes «Noord en Oost Tartarye» vom Jahre 1785 (Band I) beigegeben ist und auf welcher auch der Amur doppelt eingetragen ist: einmal unter dem Namen Amur, mit sei- nen Zuflüssen Schur (Ussuri), Schingal (Sungari) u. a. und mit dem Lande Giletskaja an seiner Mündung, und ein an- deres Mal weiter östlich, unter dem Namen Helung (be- 96 Die Völker des Amur-Landes. bald darauf, 1692, erschienenen bekannten Werke desselben «Noord en Oost Tartarye». An vielen Stellen dieses diekleibigen, an bunt durcheinandergewürfelten Nachrichten überreichen Werkes sind die Giljaken genannt, und zwar unter vielfacher Modification eines und desselben Namens; so als «Chilakken, Chilanen, Gilakı, Giliaki, Gilacı, Gilaitski und Gilanki», oder «Giliakische und Gilaitse Volken» und ıhr Land als «Gilaitskie, Giletskaia, Gilens- kije und Gilanska gewest oder landtschap»'). Dabei sind manche, zwar oft entstellte, aber dennoch charakteristische Züge aus ihrem Leben und Treiben mitgetheilt, auf die wir später bei Gelegenheit zurückkommen werden. Verschiedener noch als der Name lauten bei Witsen die Angaben über die Wohnsitze der Giljaken. Denn bald heisst es nur sehr allgemein, dass sie am rechten. Ufer des Amur und südwärts ihre Sitze haben °), bald, dass sie um die Mündung des Amur-Stromes und an der Seeküste nördlich und auch südlich von derselben ?), so wie auf einer sehr grossen, der Amur-Mündung gegenüber liegenden Insel wohnen, Giliat genannt‘), welche offenbar Sachalin ist; bald sollen sie sich an der Seeküste südwärts beinahe bis nach China®) und nordwärts bis zum Flusse Anadyr erstrecken®), und bald endlich werden ihre Wohnsitze am nördlichen Ufer des Amur-Stromes unweit Nertschinsk’), also ganz fern von der See angegeben. Dem entsprechend sind die Giljaken auch auf der Karte an drei Orten ange- geben: einmal an der Seeküste gleich nördlich von der Amur-Mündung («Zemle Giletskaja» — Giljaken-Land)‘), dann hoch im Norden, an dem Anadyr, und endlich weit im Westen, an den Quellen eines nördlichen Amur-Zuflusses, der auf der Karte den Namen Urka trägt und vermuthlich der Urkan ist. Wie fast alle auf Witsen’s Karte oder in seinem Werke vorkommenden sibirischen Orts- und Völkernamen, verrathen auch die obigen Bezeichnungen für die Giljaken und ihr Land durch ihre Endungen unzweifelhaft ihren russischen Ursprung. Witsen giebt auch selbst wie- derholentlich sowohl in den betreffenden einzelnen Fällen, wie in der Einleitung zu seinem Werke an, dass er vielfach aus russischen Quellen geschöpft habe”). Für die Karte dienten ihm kanntlich der chinesischen Bezeichnung für den Amur), mit den Zuflüssen Songora, Quentung u. a., das Land Ni- uchi oder Nikanskaja (der Mandshu und Chinesen) durchströmend und von dem Volke Jupi an der Mün- dung bewohnt. Die oben besprochene Allard’sche Karte fand ich in zwei Exemplaren in unserer akademischen Bibliothek. 1) Ausgabe 1692, 2. Thl. p. 9, 29, 30, 32, 33, 36, 104, 520, 528, 543; Ausg. 1705, p. 11, 67, 68, 77, S6, 87, 88, 96, 106, 112, 267, 838, 847, 884. 2) Ausg. 1692, 2. Thl. p. 29; Ausg. 1705, p. 67. 3) Ausg. 1692, 2. Thl. p. 33, 36; Ausg. 1705, p. SS, 106. ) Ausg. 1692, 2. Thl. p. 34; Ausg. 1705, p. 96. ) Ausg. 2 1692, 2. Thl. p. 104; Ausg. 1705, p. 267. 6) Die Flüsse, an deren Mündungen sie wohnen, wer- den ausdrücklich genannt und zwar in doppelter Les- 4 5 art (Ausg. 1692, 2. Thl. p. 32; Ausg. 1705, p. 86 und 105), darunter die spätere, correclere lautet: Lama, Ochota, Towoi (offenbar Ta-ui), Tadui, Penchion (Penshina), Kam- tschatka, Tschiundon und Anadir. 7) Ausg. 1705, p. 77. 8) Auf der Allard’schen Karte sind hier ausserdem noch die «Holaki» vermerkt. 9) Nach Müller (Samml. Russ. Gesch. Bd. I, p. 202) ist ihm beim Zusammenbringen der Nachrichten über Si- birien ganz besonders auch behülflich gewesen der «Dum- noi djak» Andr. Winius,dessen er jedoch nicht erwähnt. Neuerdings machte Spasskij (Crba.Pyccr. o pbrb Amypb 86 XVII croAısbriu, im Bere. Unn. Pycer. Teorp. O6nt., y. VI, 1853, Ora. II, crp. 47 u caba.) eine «Erzählung vom Flusse Amur» bekannt, die er in einer Sammlung von Handschriften aus dem XVIH. Jahrhundert fand und | die offenbar noch vor Abschluss des Nertschinsker Trak- Giljaken. Aelteste gedruckte Erwähnungen derselben. 97 namentlich als Hülfsmittel, wie er selbst sagt, sowohl einige sibirische Holztafeln, als besonders auch eine Karte Sibirien’s, welche auf den 1667 vom Zar Alexei Michailowitsch erlassenen Befehl vom Befehlshaber von Tobolsk Peter Godunof und seinen Gehülfen gemacht und in Moskau im Holzschnitt, mit Angabe der Entfernungen der auf ihr verzeichneten Orte, gedruckt worden war!). Dank Middendorff’s Beleuchtung der ältesten sibirischen Karten?), wissen wir, dass dies der sogenannte erste «Sibirische Riss» (Ssibirskij tschertesh) war, der zwar seitdem ver- loren gegangen ist, von dem sich aber eine verbesserte und vervollständigte Ausgabe in Reme- sof’s Atlas erhalten hat. Dieses aus 24 handschriftlichen Blättern bestehende Kartenwerk °) wurde ebenfalls für verloren gehalten, bis es 1842 von Wostokof im Rumjanzof’schen Museum aufgefunden wurde. Obwohl Remesof das ganze Werk erst im Jahre 1701 vollendete, war die erste (im Atlas die letzte) Karte doch schon 1673 entworfen worden: sie ist ethnogra- phischen Inhalts — die erste ethnographische Karte Sibirien’s, die in bunten, grell geschiedenen Farbenflecken die Wohnsitze der zahlreichen sibirischen Völker darstellt *). Ein anderes, viel- leicht das wichtigste Blatt, welches die Uebersichtskarte von ganz Sibirien enthält, hat Midden- dorff, der die Bedeutung des Remesof’schen Werkes überhaupt erst in das richtige Licht setzte, in vierfach verkleinertem Maassstabe, der russischen Ausgabe seines Reisewerkes beige- geben’). Auf dieser Karte findet man an der Amur-Mündung und der Seeküste nördlich von derselben die Aufschrift «Giljaken-Land» (Haperso T'nıaucko), ebenso wie auf der Witsen’- schen «Zemle Giletskaja». Vergleicht man überhaupt diese Karte mit der Witsen’schen, so erscheint es unzweifelhaft, dass die letztere, so weit sie Sibirien betrifft, nicht bloss mit Hülfe, sondern geradezu auf Grundlage jenes eben besprochenen ersten «Sibirischen Risses» entworfen worden ist®). Dieser erste «Riss» aber und die spätere, vervollständigte und verbesserte Ausgabe von Remesof’s Karten sind für das Amur-Land nach den Nachrichten zusammengestellt, welche die russischen Kriegszüge aus demselben heimbrachten, welche jedoch in ihrem vollen Um- fange, wie sie in den Berichten der Anführer und Theilnehmer an jenen Expeditionen niederge- . legt sind, damals noch ungehoben in den sibirischen Archiven ruhten. Von Witsen rührt, nach Müller’s Auseinandersetzungen ’), auch die Karte her, welche die tates (1689) verfasst ist. Sie trägt die Aufschrift: «Crazanie 0 Beaukoü pbrb Amypt, koropaa pasrpanmaa Pycexoe ce- aenie c» Kuraiinsı» (Erzählung vom grossen Flusse Amur, der die Grenze zwischen den russischen Ansiedelungen und den Chinesen bildet). In ihr erkemnt man eine der von Witsen benutzten russischen Quellen. Die Nach- richten, die sie giebt, finden sich bei Witsen in wört- licher Uebersetzung wieder. So unter Anderem auch jene Angaben über die Lage des Giljaken-Landes (Tn.ıaneraa semaa) an der Amur- Mündung und an der Meeresküste nördlich und südlich von derselben, über die Flüsse, die im Giljaken-Lande sich in die See ergiessen: Lama, Ochota, Tawui, Todui, Penshin, Kamtschatka, Tchuldan und Anadyr, u. s. w. i 4) Witsen,l. c. Voor-rede; desgl. Ausg. 1692, 2. Thl. Schrenck's Amur-Reise, Band III. p- 536, 537; Ausg. 1705, p. 859. Vrgl. auch Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. I, p. 204. 2) Reise etc. Bd. IV, p. 34—38, 176, 177. 3) Unter dem Titel: «Yepre;kuaa kuura.... Bceir Cu- 6upu»; s. Middendorff, 1. c. 4) Nach Middendorff,1.c. Ich habe den Remesof’- schen Atlas nicht in Händen gehabt. 5) Iyrem. na cbB. m Bocr. Cuöupn, 4. I, crp. 37. Die Karte führt den Titel: «Tepremx®& BChx% cHÖHpcKHXB Tpa- AOBBb H 3eMe.Ab). 6) Dafür sprechen auch die oben (p- 95, Anm. 1) an- geführten, durch Uebertragung russischer Aufschriften entstandenen Curiosa auf der Witsen’schen Karte. 7) Samml. Russ. Gesch. Bd. VI, p, 32. 13 98 Die Völker des Amwr-Landes. älteste, in holländischer Sprache erschienene Beschreibung der Reise von Ysbrants des begleitet'): sie ist von ihm aufGrundlage seiner eigenen Karte entworfen und nur nach den Nachrichten verändert — und nicht immer zum Besseren — welche Ysbrants Ides auf seiner Reise erkundet und ihm zugestellt hat. Auf dieser Karte sind die Giljaken nur einmal, und zwar, wie auf Remesof’s Uebersichtskarte, nur an der Meeresküste zwischen dem Amur und Tugur verzeichnet. Hin- gegen sehen wir auf der viel späteren Karte von Strahlenberg?) alles Land an den nördlichen Zuflüssen des Amur-Stromes, von der Dseja bis zum Meere, als «terra Giliakorum» bezeichnet, während es in seinem bekannten Werke über den nördlichen und östlichen Theil von Europa und Asien heisst, dass die «Kilani», die von den Jakuten «Kilett» und von den Russen «Kilaki» genannt werden, um die Mündung des Amur-Stromes wohnen°). So unglaublich klangen übrigens die Nachrichten, die er von ihnen mittheilte — obwohl sie, wie wir später sehen werden, keineswegs aller Wahrheit entbehrten — und so abenteuerlich war jedenfalls seine Ableitung derselben von den Awaren, die im XIH. Jahrhundert durch den Schach von Persien Mangu aus der Gegend zwischen dem Kaspischen und Schwarzen Meere nach China versetzt worden seien — wobei er in dem noch bestehenden gleichlautenden Namen Kilan (Gilan) für eine persische Provinz am Kaspischen Meere eine Bekräftigung seiner Ansicht sah — dass Gmelin die ganze Angabe Strahlenberg’s in Zweifel zog. Höchstens, meinte er, könnten die «Kilani» ein Geschlecht der Tungusen sein, wie es deren in Sibirien so viele giebt, die sich mit besonderem Namen belegen, nicht aber ein eigenes, verschiedenes Volk, das noch dazu, wie Strahlenberg angab, durch seine Fertigkeit in einer so wichtigen Kunst wie das Schmieden von Waflen sich auszeichnete, — wie könnte es, sagt er, ein solches Volk geben, ohne dass ganz Sibirien darum wüsste?‘) Und dennoch war es schon Gmelin’s Reisegefährte, der, ohne das Amur-Land zu betreten, den grössten Beitrag zur historischen Kenntniss seiner Völker und unter ihnen auch der Giljaken lieferte. Müller hob zuerst den reichen Schatz von Nachrichten, die sich in den sibirischen Ar- chiven über das Amur-Land angesammelt hatten und von denen Witsen nur einige Brocken zugekommen waren. Später wurde auf diesem Felde noch mehrfache Nachlese gehalten. Dadurch sind die am weitesten zurückgehenden Nachrichten zu Tage gebracht worden, die man bisher über die hier in Rede stehenden Amur-Völker hat. Ihnen zufolge erhielten die Russen die 1) Driejaarige Reize naar China, te lande gedaan, door den Moskovischen Afgezant, E. Ysbrants Ides, etc. Am- sterdam 1704. Die Karte trägt den Titel: «Nova Tabula Im- perii Russiei, ex omnium accuratissimis, quae hactenus extiterunt, Imprimis viri Ampliss: Nie: Witzen delinea- tionibus conflata, quam ipsa locorum lustratione edoctus, multum emendavit Everardus Ysbrants Ides»; mit einer Widmung an Peter den Grossen. 2) Nova Descriptio Geographica Tartariae Magnae tam orientalis quam occidentalis in particularibus et generali- bus Territoriis una cum Delineatione totius Imperii Rus- siei imprimis Siberiae accurale ostensa. Mit einer Wid- mung an Friedrich I, König von Schweden; ohne Jah- reszahl. f 3) Ph. Joh. v. Strahlenherg, Das Nord- und Östliche Theil von Europa und Asia, Stockholm #730, p. 386. Müller (Samnıl. Russ. Gesch. Bd. VI, p. 69) sagt, die Karte sei zugleich mit dem genannten Werke im Jahre 1731 erschienen. 4) J.G. Gmelin, Reise durch Sibirien, von dem Jahr 1733 bis 1743, Göttingen 1751—1752, Bd. II, Vorrede. Giljaken. Brste Kunde von denselben. Erklärung des Namens. 99 erste Kunde von den Giljaken noch ehe sie das Amur-Land betraten. Als der Jenisseiskische Kosakenanführer Maxim Perfiljef in den Jahren 1639 und 1640 den Witim und seinen linken Nebenfluss Zypir (Zipa) fast bis zum Baunt -See aufwärts drang, erzählten ihm die dorti- gen Tungusen von dem Volke der Dauren, das am oberen Witim und an der Schilka wohne und mit den Chinesen Handel treibe, so wie von einem an der Ausmündung des letzteren Flusses in das Meer, also an der Amur-Mündung, wohnhaften Volke «Kilorzy», das sich durch seine Sprache von allen anderen Völkern unterscheide und ebenfalls mit den Chinesen, die zur See hinkämen, in Handelsverkehr stehe). Wir erhalten hier also von den beiden zu der Zeit äussersten Völkern am Amur-Strome Nachricht, denn dass unter den «Kilorzy» die Giljaken zu verstehen sind, scheint keinem Zweifel zu unterliegen und ist auch schon von Fischer bei Wiedergabe dieser Nachricht bemerkt worden. Es ist eben nur eine von den mehrfachen Ver- sionen dieses Namens, wie wir deren oben schon welche kennen gelernt haben: sie stimmen alle unter einander in dem Hauptlaute Kil oder Gil überein und differiren nur in den Endungen. Diese älteste Version führt aber unmittelbar zur Erklärung, wie und woher der Name «Gilja- ken» für dieses Volk entstanden ist. Die Giljaken selbst bezeichnen sich unter einander keineswegs, wie von Manchen be- hauptet worden, mit diesem Namen: sie thun es nur den Russen gegenüber, weil sie wissen, dass sie von diesen so genannt werden. Unter einander nennen sie sich nur «Nib(a)ch»?), d. h. Mensch, indem ihnen, wie so vielen Völkern auf ähnlicher, niederer Culturstufe, der Begriff Mensch mit demjenigen eines Individuums ihres Stammes und ihrer Sprache zusammenfällt und der allgemeinere, abstrakte Begriff noch fehlt. Den Russen wurden die Giljaken, jener Nach- richt zufolge, zuerst von den Witim-Tungusen genannt. Sieht man von der russischen Endung des Namens, wie er von den Kosaken wiedergegeben worden, ab, so mag er bei den Tungusen Kilor oder Kiler gelautet haben. Die Tungusen hatten ihn von den Dauren am Witim und an der Schilka, mit denen sie in Verkehr standen, und diese wiederum von den Chi- nesen, welche sowohl mit ihnen, wie mit den Völkern des unteren Amur-Landes Handel trieben, indem sie zu den letzteren, wenn auch nicht zur See, wie die Tungusen erzählten oder die Russen verstanden haben wollten, doch zu Boot, den Amur abwärts fuhren. Die Bezeichnung Kilor oder Kiler muss also chinesischen Ursprungs sein, mit tungusischer Unterlage und vielleicht auch mit etwas tungusischer Abänderung. In der That findet man ein Volk dieses oder eines ähnlichen Namens unter denjenigen, die von mandshu-chinesischen Geographen oder nach mandshu-chine- sischen Quellen aus dem unteren Amur-Lande aufgeführt werden. So zählt die chinesische Reichs- 4) J.E. Fischer, Sibir. Gesch. I. Thl. St. Petersburg | T. III, C. Herepöyprz 1848, crp. 51, 52) heisst er aber bald 1768, p. 527—530. Hier wie an einem anderen Orte seines | Perfiljef und bald Perfirjef und wird als Kriegsmann Werkes (p. 477) nennt Fischer den Urheber dieser Nach- | des Jenisseiskischen Ostroges (Eunceiicraro ocrpora cay- richten Perfirjef und bezeichnet ihn als Jenisseiski- | kmısıir ye1osbr%) angeführt. schen (Kosaken-) Ataman. In Pojarkof’s Originalbericht 2) Die Klammern um den einen Vokal sollen andeuten, von seinem Zuge an den Amur (Aono.ım. x» art. ucrop. | dass er bei der Aussprache kaum vernommen wird. 13% 100 Die Völker des Amur-Landes. geographie der Dynastie Tsing!) im Distrikt Ssan-ssin, welches das untere Amur-Land mit der Küste umfasst, ausser Mandshu und Chinesen noch folgende Völkerschaften auf: Kiler- chadshi, Wiyaka (Fiaka), Lerkoje, Oruntschun und Kiyakla. In Timkovski’s von Klaproth herausgegebenen Reise nach Peking”) werden von dem unteren Amur und der Meeresküste die Kileng und die Fiaka genannt. Der Archimandrit Palladij°) zählt aus der Provinz Girin folgende Völker auf, die, vor Besitznahme des unteren Amur-Landes durch die Russen, ihren Tribut in Zobelfellen an den Pekinger Hof lieferten: die Chädshä oder Chädsin, die Fiaka, die Kiler, die Kuä, die Orontscho und die Kjakala. Es sind dies lange nicht alle Aufzählungen chinesischer Völkernamen aus dem unteren Amur-Lande, sondern nur die- jenigen, in welchen die Kiler oder Kileng vorkommen; von anderen wird später die Rede sein. Man darf jedoch nicht erwarten, dass die von den Chinesen unterschiedenen Völker mit den uns jetzt aus denselben Gegenden bekannten immer genau zusammenfallen. Bei der sehr geringen Kenntniss der Chinesen vom unteren Amur-Lande, konnte und musste es vielmehr geschehen, dass sie zuweilen verschiedene Völker, besonders die weiter entlegenen, von einander nicht unterschieden oder unter einem Colleetivnamen zusammenfassten, und in anderen Fällen hin- gegen, wo es nähere und bekanntere Gegenden galt, nur wenig dialektisch verschiedene Zweige oder Stämme eines und desselben Volkes mit verschiedenen Namen belegten. Kein Wunder daher, dass man in den bisherigen Deutungen jener mandshu-chinesischen Völkernamen, bei welchen der obige Gesichtspunkt nicht immer eingehalten worden und welche zudem auch von Männern ausgingen, denen die persönliche Bekanntschaft mit den unteren Amur-Völkern fehlte, einander widersprechende Angaben findet. So hielt Klaproth anfangs dafür, dass Fiaka und Chedshen die Mandshu-Bezeichnungen für die Giljaken seien *); später °) glaubte er hin- gegen in den Kileng, wie sie sich selbst nennen sollen, die Giljaken der Russen zu erkennen. Palladij aber hielt noch neuerdings die Fiaka für Giljaken, die Kiler hingegen für Amgunj- Tungusen, also Negda. Zieht man die angeblichen Wohnsitze dieser Völker, sowie die wenigen Mittheilungen über ihre respectiven Charakterzüge, Lebensweise, Kleidung u. dgl. in Betracht, so muss man zwar der letzteren Deutung mehr Recht geben, kann ihr aber auch nicht ganz beistimmen. Die Beschreibung der Fiaka im Atlas zu Timkovski’s Reise, als eines rohen, aber tapferen Volkes, das im Winter in Pelzen von Hundefellen gekleidet geht, passt unstreitig besser auf die Giljaken als die der Kileng, deren Kleidung aus Hirsch- (oder 4) Tai Tsing hoei tien. Peking 1818, Bd. XI, 2; nach Ritter, Asien, Bd. II, p. 444. Pauthier (Chine mo- derne ou ..descript. histor., geogr. et liter. de ce vaste empire, Paris 1853, I. partie, p. 168. — L’Univers) führt aus dem genannten chinesischen Werke dieselben Völker in derselben Reihenfolge, aber mit etwas anderer Lesart auf; in seiner französischen Wiedergabe lauten sie: Tchi- tch&, Fei-ya-khe, Li-eurh-kou-y&, Golun-tchun und Go-khe-la. 2) G. Timkovski, Voyage ä Peking ä travers la Mon- golie, en 1820 et 1821. Trad. du Russe par N**"*, revu par J. B. Eyries; publ. avec des correct. et des notes par J. Klaproth. Paris 1827. Atlas, Tab. VII, Explie. p. 25. 3) Aopomu. zambrku na ıyru 07% Ieruna ao Baaro- wbmeucka ype3ap Maupuskypiro, »6 1870 r. (3an. Pycer. Teorp. Oöım. Ho oöım. Teorp. T. IV, 1871, erp. 399). 4) Asia polyglotta, Paris, 1823, p. 290, 301. Die Gi ljaken hält er dabei für Kurilen des Continentes, wo- rüber später. 5) Atlas zu Timkovski’s Reise, 1. c. Giljaken. Erklärung ihres Namens. Chinesische Bezeichnungen der Amur-Völker. 101 vielleicht auch Reh- oder Rennthier-) Fellen schon auf ein in höherem Grade der Jagd erge- benes, tungusisches Volk hinweist'). Die angeblichen Wohnsitze der fraglichen Völker scheinen ebenfalls zu Gunsten dieser Deutung zu sprechen, indem die Kileng hauptsächlich am Amgunj?), die Fiaka an der Meeresküste bei der Amur-Mündung wohnen sollen. Dass die Fiaka auf die Giljaken zu beziehen sind, erscheint ferner fast unzweifelhaft, wenn Iakinf?) nach mandshu- chinesischen Quellen und ohne eigenen Commentar anführt, dass es auf Sachalin drei Völker, Fjakä (Para), Eluntschun und Kuä giebt, offenbar Giljaken, Oroken und Aino. Auch unter den Angaben der alten Jesuiten-Missionäre giebt es endlich welche, die man nicht anders als im obigen Sinne deuten möchte; so die Angabe Gerbillon’s®), dass der unterste Theil des Amur- Stromes bis an das Meer ‘von dem Volke Fiatta oder Fiattu°) bewohnt sei, das eine ganz verschiedene Sprache spreche, nur von Fischen sich nähre und das er den Schilderungen, die er erhielt, zufolge mit den Irokesen vergleichen müsse. Darauf hin erklärte schon Müller‘), dass die Giljaken von den Mandshu mit dem Namen Fitta bezeichnet würden. Hingegen berichteten die Jesuiten - Missionäre ”), die auf Befehl des Kaisers Kang-hi die eigentliche Man- dshurei und einen Theil des unteren Amur-Landes bereisten, um eine Karte von denselben zu entwerfen, von den Fiatta in ganz abweichendem Sinne. Ihnen zufolge ist dies nur die Mandshu-Bezeichnung für die Sprache der Ketscheng oder Ketsching, eines Volkes, das längs dem Amur-Strome von Tondon an bis zu seiner Mündung und an der Meeresküste ost- wärts vom Ussuri und Amur wohne, so wie vermuthlich auch desjenigen Volkes, welches die Seeküste nordwärts von der Amur-Mündung bis zum 55. Breitengrade, der äussersten Nord- ostgrenze des Chinesischen Reiches, inne habe®). Hier sehen wir also schon, dass die Bezeichnung Fiatta oder, wie Klaproth will, Fiaka in Folge mangelhafter Kenntniss als Collectivbezeich- nung für eine Anzahl verschiedener Völker des Amur-Landes oder ihrer Sprache, und dar- unter auch für die 'Giljaken gebraucht wird. Und dasselbe muss man aus den Angaben des Chinesen U-tschen schliessen, der wie oben schon angeführt, 17 Jahre — von seiner Geburt an — in Ninguta, wohin sein Vater verbannt war, zubrachte und später, nach China zu- rückgekehrt, im Jahre 1722 eine Beschreibung seiner Geburtsstadt entwarf. Abwärts von den Cheidsin oder Chädshen am Amur-Strome lässt er das Land der Fei-ja-cha folgen, deren Beschreibung aber nur zum Theil auf die Giljaken, mehr — wie z. B. die Nasenringe, 4) Auch die Abbildungen der Kileng und Fiaka (At- las, Tab. VID), so roh und unähnlich sie im Ganzen wie in den Einzelnheiten sind, gestatten eher eine solche Deu- tung. 2) Khenkhoün bei Klaproth (l. c.), Henkon auf den Karten von d’Anville (Nouy. Atlas de la Chine, de la Tartarie Chinoise et du Thibet. La Haye 1737, NN: 1,18). 3) Craruer. Oune, Kuraick. Unnep. C. Herepo. 1842, Y. II, crp. 30, Hpunbu. 4) J.B. du Halde, Descript. de l’Emp. de la Chine et de la Tartarie Chinoise, Paris 1735, T. IV, p. 37. 5) Klaproth(Atlas, 1. ce.) erklärt ausdrücklich «Fiattan» für einen Fehler, statt «Fiaka». 6) Von dem Amur-Flusse, in Büsching’s Magaz. für die neue Historie und Geogr. 2. Th}. 2. Aufl. Hamburg 1769, p. 506. 7) Regis, Jartoux und Fridelli, 1709. 8) Du Halde, Descript. etc. T. IV, p. 7, 12. Ritter (Asien, Bd. II, p. 446, 447) hat die einander wider- sprechenden Angaben der Jesuiten-Missionäre und Klap- roth’s in Eins verschmolzen, was die grösste Verwir- rung giebt. 102 Die Völker des Amur-Landes. die Birkenrindenböte, der Fischfang im Meere u. dgl. — auf die Golde, Oltscha und Oro- tschen passt'). Ganz entschieden spricht sich endlich in diesem Sinne Iakinf aus, indem er angiebt, dass alle die verschiedenen Stämme, welche abwärts von den Chädshe an beiden Ufern des Amur-Stromes wohnen und auch den nördlichen Theil von Sachalin einnehmen, unter dem gemeinsamen Namen Fjakä (Paxa) verstanden werden°). Aus alle dem lässt sich der Schluss ziehen, dass die Fiaka der mandshu-chinesischen Geographen oder Berichterstatter keineswegs immer nur auf die Giljaken zu beziehen sind: mögen Einzelne, besser unterrichtete unter dieser Bezeichnung in der That die Giljaken gemeint haben, so gab es Andere, welche sie mit den benachbarten tungusischen Stämmen zusammenwarfen, indem sie dort, wo ihre ethnogra- phische Kenntniss des unteren Amur-Landes aufhörte, was bald früher, bald später eintrat, das Gebiet der Fiaka, dieses Volkes ihrer ultima Thule, beginnen liessen. Aehnlich verhält es sich mit den Ketscheng und Kileng. Ich werde später nachzuweisen suchen, dass unter den ersteren meistens die Golde, zum wenigsten ein Theil derselben, und die Oltscha verstanden wurden. Aus den obigen Angaben ist aber zugleich zu ersehen, dass diese Bezeichnung, aus ähnlichen Gründen wie bei den Fiaka, mitunter auch auf andere, weiter abwärts am Amur wie an der Meeresküste wohnende Völker, bis hinab zu den Giljaken ausgedehnt wurde. Was endlich die Kileng oder Kiler betrifft, so liegt ein Beweis für den Collectivbegriff, der dieser Bezeichnung chinesischerseits gegeben wurde und noch wird, schon in der Verbindung derselben mit den Ketscheng oder Chädshe, wie man sie in der Reichsgeographie der Tai-Tsing findet. Die dort erwähnten Kiler-chadshi umfassen die Völker des unteren Amur-Landes, die von den Chadshi (Golde) inclusive an bis hinab zu den Fiaka der Meeresküste sich erstrecken. Die Anwendung der Bezeichnung Kileng, Kile oder Kil von Seiten der Chinesen lässt sich aber auch im Speciellen fast für jedes einzelne dieser Völker nachweisen. So ist oben schon der Kileng vom Amgunj erwähnt worden, unter denen nach Wohnort und Beschreibung die Negda zu verstehen sind. Wenn es in der betreflenden Nachricht über dieselben heisst, dass sie sich auch selbst Kileng nennen°), so ist dies nur insofern richtig, als sie sich den Chinesen gegenüber so bezeichnen, wie sie von ihnen genannt werden, gleichwie es ja auch die Giljaken mit ihrer Bezeichnung den Russen gegenüber thun. Denselben Namen aber, den sie den einen, für sie wichtigsten und maassgebendsten Fremden gegenüber gewissermassen acceptirt haben, gebrauchen sie natürlich leicht auch allen anderen gegenüber. Als ich mich bei den Golde nach dem Namen der Samagirn oder des Volkes am Gorin, so wie desjenigen am Kur erkundigte, nannten sie mir das eine wie das «Freund» bedeutet; giljakisch heisst es «amalan. 1) In Wassiljef’s Uebersetzung: 3anucku o Hmuryrt 2) Takuue%, Crarucr. Onnc. Kuraiicr. Ummepim, 4. II, (3a. Pycer. Teorp. Oöm. 4. XII, 1857, erp. 90 — 93). Dort heisst es auch, dass die Fiaka, Cheidsin und | crp. 12. Churcha oder Chulcha einander mit dem Worte «andä» 3) Klaproth, im Atlas zu Timkovyski’s Reise, anreden. Dies ist aber ein tungusisches Wort, das auch | pag. 25. den Golde, Oltscha etc. zukommt und soviel wie Giljaken. Erklärung ihres Namens. Chinesische Bezeichnungen der Amur-Völker. 103 andere wiederholentlich «Kıle», offenbar weil sie bei den Chinesen diesen Collectivnamen tragen und sich dann ihnen gegenüber auch selbst mit demselben bezeichnen. Ebenso nannten mir ferner auch die Giljaken die Samagirn «Kil». Bei der vollkommenen Verschiedenheit der Golde- und der Giljaken-Sprache liegt also der Schluss, dass dies nur ein Fremdname sein könne, überaus nahe. Von reisenden chinesischen Kaufleuten am Amur habe ich endlich zuweilen sogar die nördlichen, entfernteren Golde, in der Regel die Oltscha, ja auch die Giljaken mit diesem oder einem ähnlichen Namen bezeichnen hören. Ein solcher Kaufmann z. B., den ich in Amtscho am Amur traf, erkundigte sich bei mir eifrig darnach, ob die weiter unterhalb woh- nenden «Kilam» oder «Kilang» viele Zobel hätten, wobei er, um sich verständlicher zu machen, dies Thier auch in der Kilam-Sprache nannte: das Wort lautete «Zombr» und liess das giljakische «Zumr» deutlich erkennen. Ganz ähnlich wurden die Giljaken auch dem Missio- när Venault, als er behufs Nachforschung über den von ihnen ermordeten de la Bruniere den Amur abwärts ging, von seinen chinesischen Begleiterrn «Ki-li-mi» genannt'). Aus all’ dem Gesagten geht hervor, dass die Chinesen unter der Collectivbezeichnung Kil, Kile, Kilang, Kilam u. dgl. so wohl die Völker der linken, nördlichen und westlichen Zuflüsse des unteren Amur-Stromes, des Kur, Gorin, Amgunj, als auch die Anwohner des Hauptstromes selbst in seinem untersten Laufe und zwar vornehmlich die ihnen am wenigsten bekannten Giljaken, als- dann aber auch die Oltscha, und zuweilen sogar einen Theil der Golde verstehen; oder mit anderen Worten, gleichwie die Fiaka und Chädshen, so lassen sie auch die Kile und Kileng im unteren Amur-Lande um so früher oder um so weiter oberhalb beginnen, je geringer ihre Kenntniss von dem Lande und seiner Bevölkerung ist. Die entferntesten unter diesen Völkern, die Negda und noch mehr die Giljaken, mussten daher am häufigsten und allgemeinsten unter dieser Col- leetivbezeichnung verstanden werden. Von den Chinesen gelangte nun, wie wir oben sahen, durch die Dauren und Witim- Tungusen die erste Kunde von dem Kiler-Volke an der Amur-Mündung zu den Russen, bei denen dieser Name, mit russischer Endung versehen, zu «Kilorzy» wurde. Nur wenig später, als sie selbst ihre Züge den Amur abwärts ausführten, mussten sie im unteren Laufe desselben wiederholentlich von den stromabwärts wohnenden Kile oder Kileng hören, bis sie das letzte jener Völker erreichten und in diesem in der That ein von den ihnen schon vielfach bekannten tungusischen Stämmen ganz verschiedenes Volk kennen lernten, für welches sie nun den ihnen überlieferten Namen, natürlich nur mit russischer Endung versehen, als Kiljaki, Kiljaizy, Ki- ljany u. s. w. beibehielten, woraus dann, dem Geiste der Sprache gemäss, Giljaki, Giljaizy, Giljany u. s. w. wurde. So kommen wir auf alle jene Versionen dieses Namens, die schon Witsen aus russischen Quellen wiedergiebt, und die sich theils aus den oben angeführten ver- schiedenen Versionen der chinesischen Bezeichnung für das Volk der Kile und theils aus der will- kürlichen Wahl der russischen Endung erklären. 4) Venault, Excurs. dans les parties inter. de la Man- | [T. II], p. 216—223). dehourie (Nouv. Ann. des Voyages, V-® Ser., T. XXX, 1852 10% Die Völker des Amur-Landes. Es konsite jedoch nicht fehlen, dass manche von den russischen Kosaken, welche den Amur abwärts schifften, die Stammverschiedenheit der Giljaken den angrenzenden tungusischen Völkern gegenüber auch nicht erkannten. Diese mussten daher, indem sie jene Bezeichnung, gleich den Chinesen, mehr oder weniger als Colleetivnamen brauchten, die Giljaken schon viel weiter oberhalb am Amur, als ihre wahre Grenze liegt, beginnen lassen. Bei der späteren genaueren Muste- rung der betreffenden Angaben werden wir z. B. sehen, dass nach Einigen mit dem Oltscha-Gebiet, nach Anderen noch früher, schon bald unterhalb des Ussuri, und also mitten im Golde-Gebiet, das Land der Giljaken anhebt. Und, bezeichnend genug, wiederholt sich dasselbe, wie ein Nachklang aus jener Zeit, noch bis auf den heutigen Tag. Es ist oben hervorgehoben worden, wie schwankend und falsch alle neueren russischen Angaben über die Südgrenze der Giljaken am Amur sind, wie allgemein diese Grenze tief in das Oltscha-, ja sogar in das Golde-Gebiet hinein und in diesem bis zum Ussuri hinauf verlegt wird'). Und das hat seinen Grund zum grossen Theil in dem Umstande, dass die Bezeichnung «Giljaken» von den Russen auch jetzt noch oft als Colleetivname für alle Anwohner des unteren Amur-Stromes und der angrenzenden Meeresküste gebraucht wird. Beim gemeinen Mann ist es fast durchweg gang und gäbe, Oltscha, Golde, ja, wie ich mich ebenfalls selbst überzeugt habe, sogar die Oro- tschen von de Castries und vom Kaiserhafen schlechtweg Giljaken zu nennen. Wer von den Reisenden daher seine Angaben auf die Aussagen russischer Ansiedler oder Kosaken gründete — und das haben Viele gethan — konnte nicht anders als falsche Nachrichten über die Gebietsab- grenzung der Giljaken und der übrigen, oben genannten Völker geben. Aber selbst ein Reisen- der wie Boschnjak, der die Grenze zwischen den Giljaken und Oltscha (bei ihm Mangunen) nach der Grundverschiedenheit ihrer respectiven Sprachen scharf und richtig bezeichnet, spricht dennoch in demselben Artikel von «Kidsi-Giljaken», während es doch in Kıdsi gar keine Giljaken im engeren und wahren Sinne giebt?). Die Auffassung dieser Bezeichnung als Col- lectivnamen für viele Völker des unteren Amur-Landes macht die ältesten russischen Angaben für die Frage nach der etwaigen Verschiebung der Wohnsitze der Giljaken und ihrer Nach- baren oft unbrauchbar, gleichwie dies, aus demselben Grunde, auch mit allen chinesischen Nachrichten über die Kile oder Kileng der Fall ist. Scheint es nach den obigen Erörterungen unzweifelhaft, dass der russische Name Giljaken für das Volk um die Amur-Mündung aus dem chinesischen Kile oder Kileng entstanden ist, so bleibt noch die Frage übrig, wie sich die Entstehung dieser letzteren Bezeichnung erklären lässt. Aller Sprachforschung fremd, erlaube ich mir in dieser Beziehung nur eine Vermuthung zu äussern, auf die ich durch einige Thatsachen geleitet worden bin. Man bemerkt leicht, dass sehr vielen Namen tungusischer Völker, Stämme oder Geschlechter die Endsilbe gir anhängt. Von den zahlreichen Fällen der Art unter den Tungusen Sibirien’s abgesehen °), weise ich 1) S. oben p. 26 und p. 90, Anm. 1, p. 244—246) aus verschiedenen Gegenden Sibirien’s auf- 2) S. oben p. 26, Anm. 2. gezählten Tungusen-Stämmen findet man eine Menge 3) Unter den von Georgi (Bemerk. auf einer Reise | solcher Namen. im Russ, Reiche im Jahre 1772, Bd. I, St. Petersb, 1775, Giljaken. Erklärung ihres Namens. Erste Berührung mit den Russen. 105 unter den im Amur-Lande wohnhaften oder umherstreifenden tungusischen Stämmen beispiels- weise auf die Manägir, Ullagir, Bojagir, Lalegir, Guragir, Samagir, auf manche Ge- schlechter der Negda, wie die Muktegir, Tschutktschagir, Njassekagir, Tschemako- gir!) u. s. w. hin?). Bemerkenswerth ist dabei, dass dies sämmtlich Anwohner der linken, nördlichen und westlichen Zuflüsse des Amur-Stromes sind. Was diese Endsilbe gir bedeutet, weiss ich nicht. Die mir zu Gebote stehenden tungusischen Wörterverzeichnisse®) geben darüber keine Auskunft. Wie dem aber auch sei, aus gir wird nach chinesischer Aussprache kil, und den Namen «Sama-gir» habe ich die Chinesen «Sama-kil» aussprechen hören. Ebenso lauten den Chinesen auch die Namen der übrigen obengenannten tungusischen Völkerstämme auf kil aus. Es kommt mir daher nicht unwahrscheinlich vor, dass sie diesen gemeinsamen Auslaut zum Colleetivnamen für alle jene Völker des nördlichen und unteren Amur-Landes mit Einschluss auch der in ihren Augen nicht wesentlich verschiedenen Giljaken gemacht haben. Aus Kil und Kileng entstand aber, wie oben dargethan, die russische Bezeichnung Kiljaki und Giljaki. Und so ergiebt sich, wenn meine Vermuthung richtig ist, die eigen- thümliche Thatsache, dass der chinesischerseits durch Entstellung eines tungusischen Wortes entstandene Collectivname für eine Anzahl fast ausschliesslich tungusischer Stämme gegenwärtig auf dasjenige Volk beschränkt ist, welches im gesanfmten unteren Amur-Lande allein von nicht tungusischem Ursprunge ist. Kehren wir nach dieser Abschweifung zur Prüfung der historischen Nachrichten über die Wohnsitze der Amur-Völker und zunächst der Giljaken zurück. Sehr bald nachdem die Russen von der Existenz der Giljaken erfahren hatten, lernten sie dieselben auch selbst kennen. Denn ihr erster Zug in das Amur-Land, unter Wassilij Pojarkof, führte sie in den Jahren 1644 und 1645 durch das gesammte am Amur gelegene Gebiet der Giljaken hin- durch. Erst vier Tagereisen unterhalb des Ussuri — den Pojarkof übrigens als oberen Amur auffasste — hörte das Volk der Djutscheren (JIfoyepbi), von denen später die Rede sein wird, auf, es folgten die Natken (Harkn) und auf diese die Giljaken, welche, wie der Bericht sagt, den untersten Theil des Amur-Stromes bis an das Meer inne hatten. Durch die Gebiete der beiden letzteren Völker ging Pojarkof je 14 Tage, bis er die Amur-Mündung erreichte, wo ihn die späte Jahreszeit zum Ueberwintern nöthigte. An welchem Punkte diese erste Ueberwinterung der Russen unter den Giljaken stattfand, ist mit Sicherheit nicht zu ermitteln, — vielleicht am Cap Tschnyrrach oder Tschehyrkrach, wie es die Giljaken selbst nennen, am linken Amur-Ufer, denn dort sah ich Unebenheiten in dem mit dichtem Walde und auffallend üppigem Strauchwerk bewachsenen Boden, die sehr wohl Reste ehemaliger Erdhütten sein könnten. Von dort ging Pojarkof im Sommer 1645 zur See längs der Küste bis an den Fluss Ulja, den er 4)Middendorff (Reise etc., Bd. IV, p. 1523) schreibt, | ich vermuthen, dass der Name tungusischen Ursprungs ist. die Endsilbe verkennend, «Muktegr, Tschuktscha- 3) Klaproth, Asia polyglotta. Sprachatlas. Paris ger, Njässekagr, Tschemakogr». 1823, p. XL ff. Castren’s Grundzüge einer tungus. 2) Wo dieselbe Endsilbe in dem Namen eines nicht tun- | Sprachlehre nebst kurzem Wörterverzeichniss, heraus- gusischen Volkes vorkommt, wie «Jukagir», da möchte | gegeben von A. Schiefner, St. Petersb. 1856. Schrenck's Amur-Reise, Band III. 14 106 Die Völker des Amur-Landes. nach zwölf Wochen erreichte und an dem er wiederum überwinterte, um erst im folgenden Jahre nach Jakutsk zurückzukehren '). Von dieser Seereise sind jedoch keinerlei Details bekannt. Ich gebe hier gleich auch die Berichte der Nachfolger Pojarkof’s, soweit sie die Giljaken und ihre nächsten Nachbaren betreflen, um alsdann die Angaben gegen einander zu halten und einige Bemerkungen an dieselben zu knüpfen. Im Jahre 1651 betrat Jerofei Chabarof, den Amur abwärts schiffend, den unteren Lauf desselben. Sieben Tagereisen vom Sungari ab wohnten noch Djutscheren, alsdann begann mit einem grossen, auf einem Berge am rechten Ufer gelegenen Dorfe das Volk der Atschanen (Ayansı), in deren Gebiete, noch mehrere Tagereisen abwärts, Chabarof am 29. September Halt machte und an einer Stelle des linken Ufers, wo es ein grosses Dorf gab, zum Winter- lager eine Festung, Atschanskoi gorod, errichtete. Von dort sollte man noch zehn Tagereisen bis zu den Giljaken haben, die bis an das Meer und um dasselbe herum wohnten). Cha- barof besuchte jedoch diese nicht, sondern trat im nächsten Frühling, nach siegreich über- standener Belagerung seiner Festung seitens der Djutscheren und Atschanen, wieder den Zug stromaufwärts an. Unterwegs, vermuthlich in der Gegend der Sungari-Mündung, ver- fehlte er aber den Kosaken Iwan Nagiba, der ausgeschickt war, ihn aufzusuchen und von der Ankunft frischer Mannschaft und Munition am oberen Amur zu benachrichtigen. Nagiba ging mit seinem kleinen Gefolge von 26 Mann Kosaken und Freiwilligen von Banbulajev gorod (ober- halb der Dseja) vier Wochen lang den Amur abwärts; da hörten sie von einem gefangen ge- nommenen Natken, dass Chabarof sich noch weiter unterhalb, bei den Giljaken befinde. Sie behielten daher diesen Mann als Wegweiser, sahen sich aber nach einer Fahrt von abermals drei Wochen mitten im Strome von einer Menge giljakischer Fahrzeuge so eingeschlossen, dass sie weder vor- noch rückwärts konnten. Drittehalb Wochen verbrachten sie in dieser Lage, im Flusse vor Anker liegend, bis endlich Hunger und Verzweiflung sie nöthigten, die Reihen der Belagerer zu durchbrechen und sich nach einem nahe gelegenen Dorfe durchzuschlagen, um sich der vor demselben zum Dörren ausgehängten Fische zu bemächtigen. Dies gelang ihnen jedoch erst nach heissem Kampfe, in welchem über 30 Giljaken blieben. Drei Tage später be- fanden sie sich an der Amur-Mündung°). Auch dort von den Giljaken bedrängt, ausser Stande {) Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. II, 1736, p. 302, 303. Desselben, Nachrichten von dem Amur -Flusse, in Büsching’s Magazin für die neue Historie und Geogr. 2. Thl. 2. Aufl. Hamburg 1769, p. 505. Vrgl. auch Fi- scher, Sibir. Gesch. Bd. I, 1768, p. 788, 789. Den Ori- ginalbericht Pojarkof’s s. in den Aono.anenHia KB AKTaNmB HCTOPHYEeCKHMB, COOP. H u3AaunH, apxeorpaw. Kommucciero, €. Derep6. 1848, T. III, erp. 55 (die betreffende Stelle des Berichts). 2) Müller, Samnil. l. c. p. 320 ff.; Fischer, l. c. p. 808 fl.; AAono.ın. Kb aktam® ucropuy. T. III, crp. 364, 368. 3) Nach Müller, 1. c. p. 328 ff. Als Tag der Ankunft Nagiba’s an der Amur-Mündung giebt Müller hier den 26. Juni und an einem anderen Orte (Büsching’s Magaz. Thl. 2, p. 508) den 2. Juli (drei Tage nach Petri-Pauli) an, was jedoch keineswegs zutrifft, wenn die Fahrt, wie es ebenda heisst, am 4. Mai angetreten wurde und — die oben angeführten Zeiträume zusammengenommen — zehn Wochen gedauert hat. Bei Fischer (l. c. p. 817) heisst es statt dessen zu Ausgang des Juli-Monats, was aber nach jener Rechnung wieder etwas zu spät wäre. In dem ausführlichen, drastisch gehaltenen Bericht des Kosaken Iwan Uwarof, eines Theilnehmers an diesem Zuge (8. Aonoan. X aktam» nerop. T. III, p. 354 fl.), fehlen fast alle jene Daten, bis auf den Tag der Abreise (4. Mai) und die Angabe, dass sie bereits nach zehn Tagen Fahrt unter Bist" Giljaken. Erste Berührungen mit den Russen. 107 die Rückreise stromaufwärts zu machen, bauten sie sich ein grösseres Fahrzeug und traten die Seefahrt längs der Küste nordwärts an. Allein am 13. Tage nach der Abreise!) wurde das Schiff von treibendem Eise zerdrückt?), wobei sie ihren ganzen Vorrath an Lebensmitteln wie an Pulver und Blei verloren und nur nach vieler Mühe mit dem nackten Leben davonkamen. Fünf Tage lang gingen sie zu Fuss längs der Meeresküste weiter, von Wurzeln, Beeren, Seetang, Seehunden und anderen Auswürfen der See sich nährend°®). Dann bauten sie sich ein neues Fahrzeug, mit welchem sie in 14 Tagen rudernd den Fluss Utschalda erreichten, an dem Giljaken und Tungusen wohnten. Dort verweilten sie bis zum 15. December, worauf sie ihre Reise landeinwärts fortsetzten und nach 14 Tagen oder, einer anderen Nachricht zufolge, in vier Wochen an den Tugur-Fluss kamen, an welchem sie eine zahlreiche Bevölkerung von Tungusen mit reichlichen Lebensmitteln fanden. Im nächsten Frühling, 1653, ging Nagiba den Tugur abwärts bis zur Mündung und trat von dort mit fünf Mann die Rückreise längs der See und dann über’s Gebirge nach Jakutsk an, während er die übrigen Leute unter Iwan Uwarof zurückschickte, um unter den Tungusen am Tugur eine «Jassaschnoje Simowjo», d.i. eine Winterhütte zur Tributeinsammlung zu errichten ®). Die nächste und letzte Berührung der Russen mit den Giljaken, von der wir aus jener Zeit der ersten russischen Kriegszüge im Amur-Lande wissen, fand unter Chabarof’s Nachfolger, dem Kosaken Onufrij Stepanof statt. Bereits den Winter 1653/54 hatte Letzterer im Lande der Dju- tscheren, «in der Giljaken Nachbarschaft»?) zugebracht. Im Herbst 1655 kam er mit dem inzwischen aus Jakutsk entsandten «Ssyn bojarskoi» Fedor Puschtschin wiederum in das untere Amur-Land, und zwar diesmal über die Djutscheren hinaus zu den an dieselben grenzenden Giljaken®). Diese hatten kurz vorher eine Gesellschaft von 30 Jakutskischen Kosaken, die von Ochotsk über Land zu ihnen gekommen waren, ermordet und wurden nun von Stepanof dafür gezüchtigt.. Auch baute er unter ihnen einen Ostrog, dem er nach seiner Lage auf einem Bergabhange den Namen Kossogorskoi gab”). In diesem brachte er den Winter zu, nahm von den Giljaken reichen zahlreichen Djutscheren und Natken sich befanden, die ihnen hinfort beständig zusetzten und nirgends Ruhe liessen; die Belagerung durch giljakische Fahrzeuge im Amur soll nur zwei Wochen gedauert haben. 4) Nach Uwarof’s Bericht (l. c. p. 355) am 10. Tage. 2) Müller (l. c. p. 330) hielt Treibeis im Ochotski- schen Meere zu solcher Jahreszeit für. undenkbar. Wir wissen hingegen, Dank den Erfahrungen Middendorff’s, Starizkij’s u. A., dass es zu'den charakteristischen Er- scheinungen jenes nordwestlichen Winkels des Ochot- skischen Meeres gehört. S. dieses Werkes Bd. II, p. 758; desgl. meine «Strömungsverhältnisse imOchotskischen und Japanischen Meere» (Mem. de l’Acad. Imp. des sc. de St. Petersb. VII. Ser. T. XXI, N 3), p. 10. 3) Fischer (l. c. p. 818) sagt auch von Walrossen, wie es übrigens auch in Uwarof’s Bericht heisst, doch giebt es bekanntlich keine im Ochotskischen Meere; es dürften aber darunter Walfische gemeint sein, an denen dieses Meer reich ist. 4) Seltsamerweise sagt Uwarofin seinem Berichte, er habe den Nagiba mit fünf Mann, deren Namen genannt werden, nach Jakutsk entlassen, während er doch sonst be- ständig Nagiba als den Anführer des Zuges hinstellt. 5) Müller, Samnl., 1. c. p. 343. In Stepanof’s Be- richt an den Jakutskischen Wojewoden Michail Lody- shenskij (Aonoasn. Kk% akramp ucrop. T. II, crp. 524) heisst es «BB Arouepcroit 3emab, He AONABIBB Tuaankie sem.au»,d.h. im Lande der Djutscheren, oberhalb des Giljaken-Landes. 6) Müller, l. c. p. 354, 355; Fischer, I. c. p. 84. 7) InStepanof’s Bericht heisst der Ostrog «Kossogir- skoi»; s. Aono.ın. kp akt. ucrop. T. IV, C. Herepo. 1851, erp. 82. 14* ' 108 Die Völker des Amur-Landes. Tribut an Pelzwerk und begab sich im Frühling 1656 wieder den Amur aufwärts. Zwei Jahre später kehrte ein Theil seiner Mannschaft, der sich dem Abgesandten des neuen Befehlshabers, Paschkof, nicht hatte fügen wollen und flüchtig geworden war, an den unteren Amur zurück, überwinterte an der Mündung desselben (1658/59) und ging mit reichem, von den Giljaken erhobenem Tribut wieder stromaufwärts zurück’). Anderweitige Nachrichten über die Gi- ljaken liegen aber von diesem Besuche derselben durch die Russen nicht vor. So lauten die ältesten russischen Nachrichten über die Gil jaken und ihre nächsten Nachbaren. Was lässt sich nun aus denselben über die damalige gegenseitige Abgrenzung dieser Völker ent- nehmen? Der Zug Nagiba’s lehrt uns die Giljaken an der Küste des Ochotskischen Meeres westwärts wenigstens bis zum Flusse Utschalda, und zwar in Gesellschaft von Tungusen kennen, die offenbar auch damals zeitweise der Jagd und des Fischfanges wegen bis an das Meer heran- streiften, wie es noch heutzutage geschieht °). Zwar ist die Lage des Utschalda-Flusses bis jetzt nicht ermittelt?), indessen lässt sich kaum zweifeln, dass er östlich und vielleicht unweit von den grossen Meerbusen — dem Ulban- und Ussalgin-Busen — zu suchen ist, welche tief in das Land einschneiden und welche wohl auch die Veranlassung dazu gaben, dass Nagiba und seine Gefährten dort die weitere Fahrt längs der Küste, von deren Beschaffenheit sie durch die Giljaken und Tungusen hörten, aufgaben und statt dessen lieber den Winter abwarteten, um, wohl in Gesellschaft und unter Führung der Tungusen, landeinwärts an den Tugur zu ziehen. An diesem Flusse erwähnen weder Nagiba noch Uwarof der Giljaken, sondern nur zahl- reicher Tungusen, obgleich sie, wie ihre Berichte zeigen, diese Völker von einander wohl zu unterscheiden wussten. Es scheint demnach, dass die Giljaken damals noch nicht bis an den Tagur-Fluss verbreitet waren. Damit stimmt es überein, wenn in der Erzählung von der ersten Fahrt der Russen nach den Schantarischen Inseln, auf welcher sie den ganzen Sommer 1712 und den Winter bis zum Mai des folgenden Jahres an der Tugur-Mündung zubrachten, der Giljaken gar nicht erwähnt wird®), während doch auf späteren Fahrten der Russen an der weiter östlich gelegenen Küste Conflikte mit den Giljaken stattfanden. Ebenso steht es damit im Einklange, wenn Müller noch im Jahre 1737 nach in Jakutsk gesammelten Nachrichten schrieb, dass die Tungusen längs der Küste des Ochotskischen Meeres nicht viel weiter als bis an den Tugur-Fluss sich erstreckten und darauf die Giljaken folgten). Nördlich von der Tugur-Mündung, an den Tugur-Busen sind aber die Giljaken schon damals gegangen, denn 1) Müller, l.c. p. 367; Aono.an. k» arram» ucrop. T. IV, erp. 176. 2) S. oben p. 15. 3) Middendorff, Reise etc. Bd. IV, p. 178. Ganz un- begreiflich ist es, wie Stuckenberg (Hydrogr. des Rus- sischen Reiches, Bd. II, St. Petersburg 1844, p. 749) die Utschalda mit dem Udj identificiren konnte. Dadurch ver- wirrte er die so einfache und klare Erzählung vom Zuge der Schiffbrüchigen gänzlich und sah sich zu einer zwei- ten, ebenso unzulässigen Annahme genöthigt, dass näm- lich unter ihrem «Tugur» der Utschur, ein Nebenfluss des Aldan, gemeint sei. Wie kämen sie aber alsdann, die- sen abwärts schiffend, an das Meer? Und wie unzutreflend ist jene Voraussetzung in ethnographischer Beziehung: alsdann hätten ja Giljaken am Udj gewohnt! 4) Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. II, p. 98. 5) Geogr. und Verfass. von Kamtschatka, p. 57 (An- hang zu Steller’s Beschr. von dem Lande Kamtschatka. 7 Frankfurt und Leipzig 1774). Giljaken. Besuchten ehemals die Schantaren. 109 auf einer alten russischen handschriftlichen Karte, deren Ursprung Middendorff aus mehrfachen Gründen in die Mitte des vorigen Jahrhunderts setzt, findet man die Angabe eines «Giljaki- schen Schleifweges» (Tnıarcraa mepeBo.10ra), der über die stielförmig verengte Stelle der Halb- insel Ssegneka hinüber vom Ulban- nach dem Tugur-Busen führte'). Auf diesem Wege, quer über den Ulban-Busen und die Halbinsel Ssegneka, können die Giljaken auch an die Tugur- Mündung gekommen sein. Derselbe Weg lag ihnen auch aus einem anderen Grunde nahe: quer über den Ulban-Busen zur Halbinsel Ssegneka und längs dieser nordwärts mussten sie gehen, wenn sie auf Küstenfahrten, ohne sich allzu sehr vom Lande zu entfernen, die Schantarischen Inseln erreichen wollten. Von diesen Inseln ist in den oben angezogenen Berichten noch keine Rede, obwohl Po- jarkof und Nagiba auf ihrer Rückreise vom Amur sie gesehen haben müssen. In den ältesten Nachrichten über dieselben, die auf das Jahr 1709 zurückzuführen sind und auf Erzählungen in Udskoi Ostrog gewesener Kosaken und dortiger Tungusen beruhen, heisst es, dass die Schantar-Inseln keine beständigen Bewohner haben, sondern nur von Giljaken der Jagd wegen besucht werden). Müller meinte, dass auch ihr Name giljakischen Ursprunges sei, indem «schantar» auf giljakisch so viel wie Insel bedeute ?), was jedoch keineswegs der Fall ist‘). Als die Russen unter dem Kosaken Semjon Anabara im Sommer 1713 zuerst nach den Schan- taren kamen, fanden sie dieselben ın der That unbewohnt; nur auf einer der drei von ihnen besuchten Inseln, auf der es reichlichen Wald und gute Jagd gab und auf der sie auch über- winterten°), fanden sie ein Weib vor, dessen Sprache sie nicht verstanden, — vermuthlich eine .4) Middendorff, Reise etc. Bd. IV, p. 116, Anm. 2. Die Karte befindet sich in der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften. Müller (in Büsching’s Magaz. für die neue Hist. und Geogr. 2. Thl. 2. Aufl. 1769, p. 508) spricht ebenfalls von einem Schleppwege, den die Gi- ljaken zu gebrauchen pflegen und der daher «vor Alters im Russischen Giljazkaja perewoloko genannt» wird. Dies war jedoch, wie er sagt, ein Schleppweg, der zur Umge- hung der nördlichen Landspitze-an der Amur - Mündung diente, indem er von einem Bache, der nach Süden in den Meerbusen der Amur-Mündung fällt, nach einem anderen Bache führte, der nach Norden in die See fliesst. Müller fügt hinzu, dass der letztere Bach auf chinesischen Karten den Namen «Gole» trägt, und das lässt den Schleppweg er- kennen, denn offenbar ist «Gole» auf das an der Meeres- küste gelegene giljakische Dorf Kolj oder Kulj und viel- leicht auch auf einen gleichnamigen Bach zu beziehen. Es ist hier also entweder der Uebergang vom Amur nach dem See Tschlja und von diesem nach Kulj, oder aber aus dem gleich oberhalb Nikolajevsk in den Amur fallenden Kamr-Flusse nach dem Hisska-Bache und diesen abwärts zum Meere nur wenig östlich von Kulj zu verstehen. Beide Wege werden noch heutzutage von den Giljaken begangen, um vom unteren Amur nach der Seeküste oder umgekehrt zu gelangen. In keinem Falle kann aber unter der von Müller erwähnten «Giljatskaja perewoloka» der Schleppweg am Ukakyt — vom Nemilen an den Tugur — gemeint sein, wie Middendorff (Reiseete.Bd.IV,p. 198) vermuthet, da alsdann weder die angegebenen Localitäten, noch die Bezeichnung «Giljakischer Schleppweg» zutreffen würden. Bei Stuckenberg (Hydrogr. des Russ. Reiches, Bd. II, p. 774) ist von demselben Schleppwege wie bei Müller die Rede. 2) Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. III, p. 97. 3) L. ce. p. 96. Desgl. in Büsching’s Magaz. für die neue Histor. und Geogr. 2. Thl. 2. Aufl. p. 510. 4) Insel heisst im Giljakischen pöllo - mif, ein zu- sammengesetztes Wort, indem mif Erde oder Land be- deutet; so Za-mif— das Amur-Land, Laer-mif — Sachalin, Chagi-mif — Zwiebel-Land, die kleine Inselgruppe im süd- lichen Theile des Amur - Limanes, u. s. w. Was »ollo bedeutet, weiss ich nicht. Nach Middendorff (Reise etc. Bd. IV, p. 108) kommt der Name «Schantar» zuerst auf der im Jahre 1720 nach den Arbeiten der Geodäten Jewrei- nof und Lushin entworfenen handschriftlichen Karte vom äussersten Osten Sibirien’s vor, und zwar trägt auf derselben die südlichere von den beiden östlichsten Inseln dieser Gruppe den Namen «Schandarskij». 5) Nach Middendorff (l. ce. p. 98) ist es wahrschein- lich die Grosse Schantar-Insel gewesen. 110 Die Völker des Amur-Landes. Giljakin, die sich aber nach einiger Zeit auf der Insel verlor, ohne dass man von ihr später irgend welche Kunde erhalten hätte!). Ob dieses Weib in der That von ihren Landsleuten auf der Insel zurückgelassen, oder, wie Middendorff meint), von den Kosaken selbst auf dem Fest- lande geraubt und nach der Insel gebracht worden war, muss dahingestellt bleiben. Auch die folgenden Fahrten nach den Schantaren bestätigten, dass sie keine beständigen Bewohner hatten. Auf der zweiten Fahrt, im Jahre 1718, unter dem Ssyn bojarskoi Filkejef, der jedoch selbst nicht hinkam °), winterte man auf der Grossen Schantar-Insel, die sich als unbewohnt erwies. Durch Unvorsichtigkeit beim Feueranmachen, heisst es, gerieth der Wald auf der Insel in Brand, und in Folge dessen verloren sich dort die Zobel. Auf der Rückreise, im nächsten Sommer, wollten die Kosaken längs der Festlandsküste zwischen dem Tugur und Amur dem Fischfang nachgehen, wurden aber zum grössten Theil von den Giljaken erschlagen *). Bemerkenswerth ist, dass auch die Nachrichten über den zeitweisen Besuch der Schantarischen Inseln durch die Giljaken nur mangelhaft und ungewiss sind. Direkt angetroffen hat man dort die Giljaken bei keinem der zahlreichen Besuche dieser Inseln, soviel von ihnen bekannt ist. Die betreffenden Angaben beruhen daher nur auf den oben bereits erwähnten Aussagen der benachbarten Tun- 1) Müller, I. c. p. 99. 2) Reise etc. Bd. IV, p. 103. 3) Müller, der in Jakutsk Filkejef selbst noch ge- sprochen hat, sagt ausdrücklich, dass ‘er sich in Folge von Differenzen mit seiner Mannschaft an der Tugur-Mün- dung mit zwei Kosaken an’s Land setzen liess (Samml. Russ. Gesch. Bd. III, p. 107). Darnach sind also die An- gaben von Ssokolof (Onnuch Yackaro Öep. u Mlanrapck. OETp. nopyY. Koamuna. — 3an. Tuaporp. Aenapr. 4. IV, C. Derepö. 1846, erp. 3, Upum. 4) und von Middendorff (Reise etc. Bd. IV, p. 99, Anm. 1), die Filkejef selbst nach den Schantaren gelangen lassen, zu berichtigen. 4) Vermuthlich knüpft sich an dieses Ereigniss, die Erzählung, welche Ssokolof, offenbar in wörtlicher Ab- schrift aus einem Schiffsjournal, im Morskoi Sbornik (1855, N: 6, Cuber, erp. 107, — es ist die von Midden- dorff,l. c. p. 99, Anm. 2, angedeutete Notiz, die er in Folge falschen Citates nicht hat wieder auffinden können) mittheilt. Der Matrose Petrof, der an der Expedition Iwan Schestakof’s nach den Schantaren, im Jahre 1730, theilgenommen, erzählte nämlich, dass sie auf der Grossen Schantar-Insel drei Mann Russen vorgefunden und an Bord genommen hätten, welche über sich folgende Auskunft gaben: sie hätten etwa 20 Jahre auf der Insel zugebracht; als sie des Fischfangs wegen nach dem Lande der Gilja- ken gekommen wären, hätten diese sie bewältigt und 17 von ihnen todtgeschlagen; nur sie drei seien den Giljaken entgangen und nach der Grossen Schantar-Insel entkom- men, auf der sie von der Zeit an gelebt hätten. Man sieht, die Erzählung lautet jener oben erwähnten ganz ähnlich, nur treflen, im Falle es dasselbe Ereigniss sein sollte, die 20 Jahre Aufenthaltes auf der Insel nicht zu, da ihrer nur 12 sein müssten. Doch ist diese Zahl nur ungefähr ange- geben und könnte nach dem Stil der Erzählung, der deut- lich eine Lücke verräth, ebensogut auch auf die Zahl der ursprünglich auf der Insel vorhandenen Russen bezogen werden, wobei nur die Zabl der Aufenthaltsjahre ausge- lassen wäre; denn es heisst im russischen Original: kurba UXB ÖbLIO HA TOMB OCTPoRBb ABTB C» 20, KOTOPbIe XOAHAH Bb Ty 3eM.IO Ada PbIOHOIf AOBAH... u. Ss. w. Uebrigens ist diese Mittheilung auch noch aus dem Grunde interessant, weil sie gewissermassen eine Bestätigung dafür abgiebt, dass Schestakof im Jahre 1730 (nicht 1729, wie es bei Middendorffa.a.0. heisst) in der That auf den Schan- taren gewesen ist, woran Middendorff auf Grundlage der kurzen und ungenügenden Nachrichten bei Müller (l. ec. p. 130 ff.) Zweifel äussert. Nach ihm brauchten sogar die Inseln, die Schestakof auf der Hin- und Herfahrt zwischen Kamtschatka und Udskoi Ostrog sah, gar nicht die Schantaren gewesen zu sein, da man die Südspitze jener Halbinsel umschiffte und an die Ostküste derselben kam. Letztere Behauptung scheint mir jedoch ganz unbegründet zu sein, da die Fahrten Schestakof’s,nach den von Müller aus dessen eigenem Berichte angeführ- ten Daten, nur im Ochotskischen Meere, zwischen der Westküste von Kamtschatka, Udskoi Ostrog und Ochotsk stattfanden. Auch spricht sich Müller selbst nirgends zweifelnd oder ungewiss darüber aus, dass die Schantaren von Schestakof besucht worden, sondern bedauert nur, in Ermangelung des Schiflsjournals nichts Näheres von dieser Reise anführen zu können. Giljaken. Besuchten ehemals die Schantaren. 111 gusen und auf angeblichen Spuren, welche der zeitweise Aufenthalt der Giljaken auf manchen dieser Inseln hinterlassen hat. So soll, nach Krascheninnikof'), die Insel Chudoi (d. i. sehlechter) Schantar ihren Namen daher erhalten haben, weil sie gar keinen Wald trägt, was jedoch nicht immer der Fall gewesen: ehemals sei sie vielmehr gut bewaldet und auch reich an Zobeln gewesen, aber seitdem die Giljaken einmal beim Verlassen der Insel das Feuer auszu- löschen vergessen hätten, sei aller Wald auf derselben verbrannt). Krascheninnikof kann jedoch diese Nachricht nur aus Ueberlieferungen und Erzählungen geschöpft haben, da er selbst niemals auf den Schantaren, ja nicht einmal in deren Nachbarschaft gewesen ist. Zudem erinnert sie sehr an die obenerwähnte Erzählung von dem Waldbrande auf der Grossen Schantar-Insel, was gerade nicht dazu dient, ihre Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Wichtiger erscheint die Angabe Kosmin’s, dass er im Nordosten der Grossen Schantar-Insel unweit vom See Boljschoje zer- fallene Jurten gesehen habe, in welchen ehemals Giljaken gewohnt haben sollen®). Doch be- gegnen wir auch bezüglich dieser Nachrieht einem Zweifel, indem die Ueberlieferungen, welche Middendorff in Udskoi Ostrog erkundete, diese Jurten ausdrücklich den russischen Pelzjägern zuschrieben ®). Trotz dieser wenigen und ungewissen Nachrichten, zweifle ich nicht, dass die Giljaken ehemals die Schantaren besucht haben. Die oben angeführte, dahin lautende Angabe der Tungusen, die man gleich bei der ersten Nachricht über diese Inseln erhielt, verdient allen Glauben. Während die Tungusen am Ochotskischen Meere hauptsächlich der Jagd nach- gehen und nur zeitweise des Fischfanges wegen bis an das Meer heranstreifen, halten sich die Giljaken beständig an demselben auf und sind daher, wie schon Müller richtig vermuthete°), auch seetüchtiger als jene. Vollkommen glaublich erscheint es demnach, dass sie auch die grossen, im Angesicht ihrer Küste gelegenen, reich bewaldeten und noch unbewohnten Inseln, auf denen sie ungestört der Jagd auf schätzbare Pelzthiere, Zobel u. s. w., und an den Küsten ergiebigem Fisch- und Thierfange nachgehen konnten, von Zeit zu Zeit besuchten. Ja, ich möchte glauben, dass während ihre Verbreitung längs der Festlandsküste westwärts anfangs nicht einmal bis an den Tugur, später nicht über denselben hinaus reichte, sie die Schantarischen Inseln bis zur westlichsten: von allen, bis zu der über den Tugur-Busen hinaus gelegenen Bären-Insel (Medwäshij) besuchten. Zum wenigsten ist der Name «Ngorbak», den angeblich die Tungusen dieser Insel geben °), unzweifelhaft giljakischen Ursprungs, indem «Ngarbach» 1) Onucanie sem.au Kamyarku (Mo.as. Coöp. yuen. ıy- rem. no Pocein. T. I, C. IHerepö. 1818, crp. 135). 2) Middendorff meint, dass es wohl nicht gelingen dürfte, dem Namen «Chudoi Schantar»,der auf keiner Karte verzeichnet sei, seine richtige Stelle anzuweisen (Reise etc., Bd. IV, p. 108, Anm, 1). Nach Krascheninnikof’s Angaben, die er nicht beachtet zu haben scheint, lässt sich aber kaum zweifeln, dass darunter die Kleine Schan- tar-Insel (Ma.asıis Ilanrtape) gemeint sei, gleichwie nach Middendorff (l. c.) auch unter dem Namen «Ssuchoi (trockener) Schantar». Auf der «Karte von der Lage von Kamtschatka» in Steller’s betrefiendem Werke findet man übrigens eine Insel «Hude Schantar» westlich von der Insel Bjelitschij, wie es auch Krascheninnikof angiebt; doch will dies nicht viel sagen, da die Schan- taren dort sämmtlich in einer Reihe, ungefähr von West nach Ost liegen. 3) 3a. Tuaporp. Aenapr. 4. IV, crp. 46. 4) Reise etc. Bd. IV, p. 108, Anm. 1. Middendorff fügt hinzu, dass ihm Letzteres auch viel wahrscheinlicher vorkomme. 5) Samml. Russ. Gesch. Bd. III, p. 97. 6) Middendorff, ]. c. p. 110. 112 Die Völker des Amur-Landes. im Giljakischen so viel wie «Thierfels» bedeutet !), Sehr zahlreich sind aber die Giljaken auf den Schantaren sicherlich niemals gewesen, da einmal ihre Zahl auch auf der angrenzenden Festlandsküste nicht gross ist, und da andererseits die Schifffahrt um diese Inseln in Folge der reissenden und wechselnden Strömungen, der treibenden Eismassen, der häufigen Nebel, der starken Brandungen u. s. w. eine schwierige und gefahrvolle ist. Es war daher natürlich, dass sobald die Russen sich auf den Schantaren zeigten, dort überwinterten, sie überhaupt in Besitz nahmen, die Giljaken von denselben fernblieben, gleichwie sie sich auch später, 1829, als eine Partie Russen an der Mündung des Grossen Uikon Winterquartiere nahm, von der Tugur- Mündung zeitweise zurückzogen?). Und sehr wahrscheinlich traten die Giljaken, eben weil sie sich durch die Russen von den Schantaren verdrängt sahen, so feindselig gegen dieselben auf, sobald diese von dort herüber auch in ihr Gebiet auf dem Festlande eindrangen. Kein Wunder, dass sie alsdann, von ihrer Ueberzahl Gebrauch machend, die Eindringlinge schlechtweg nieder- metzelten. Da nun die Fahrten der Russen nach den Schantaren, wie Middendorff nachge- wiesen, von jenen ersten Zügen an fast ununterbrochen stattfanden, so ging den Giljaken dieses ihr ehemaliges Jagdgebiet für immer verloren. So scheinen sie im Nordwesten ihres Verbrei- tungsgebietes im Laufe der Zeit auf den Inseln an Terrain verloren, auf dem Festlande hingegen etwas mehr nach Westen sich vorgeschoben zu haben. Viel weniger lässt sich aus jenen ältesten russischen Nachrichten vom unteren Amur-Lande über etwaige Grenzverschiebungen im Süden des giljakischen Gebietes, am Amur-Strome, ent- nehmen. Es werden uns in denselben nur die Grenznachbaren der Giljaken genannt und. höchstens noch die Zahl der Tagereisen bezeichnet, die erforderlich waren, um ihre respectiven Gebiete zu passiren. Zudem lauten sämmtliche Angaben verschieden, indem nach Pojarkof an die Giljaken stromaufwärts die Natken, nach Chabarof dieAtschanen und nach Stepanof die Djutscheren grenzten. Es fragt sich daher zunächst, ob und wie sich diese Völker mit den uns gegenwärtig aus dem unteren Amur-Lande bekannten identificiren und jene scheinbar sich widersprechenden Nachrichten mit einander in Einklang bringen lassen? Wie schon Müller?) und nach ihm Fischer‘) richtig bemerkten, verstand Pojarkof unter der Bezeichnung Natki dasselbe Volk wie später Chabarof unter dem Namen Atschany. Die Vermuthungen aber, die Fischer zur Erklärung dieser verschiedenen Bezeichnungen aus- sprach, sind sammt und sonders falsch®). Diese Verschiedenheit erklärt sich vielmehr sehr ein- (b) 1) Von nga-Thier und pach-Stein, Fels (s. oben p. 86, [ leicht in seiner eigenen Sprache Atschani heisse, von Anm. 2). Aehnliche giljakische Ortsnamen sind Tschchar- bach, Tschorbach, Tebach u. s. w. 2) Kosmin; nach den Erzählungen des Priesters von Udskoi Ostrog, Djatschkovskij, der es bei Bereisung seiner Diöcese im Winter 1829/30 in Erfahrung brachte (3an. Tmap. Aen. Y. VI, crp. 36). 3) Samml. Russ. Gesch. Bd. II, p. 320. 4) Sibir. Gesch. Bd. II, p. 809. 5) Fischer meinte nämlich, dass dieses Volk viel- den Djutscherenaber Natki genannt werde; oder, dass das eine der Name des ganzen Volkes, das andere der ei- nes besonderen Geschlechtes sei; oder endlich, dass die Natken und Giljaken ein und dasselbe Volk seien. Letz- teres kam ihm sogar als das Wahrscheinlichste vor, und zwar aus dem Grunde, weil in den späteren Nachrichten, im Berichte Stepanof’s, die Natken gar nicht mehr erwähnt und die Djutscheren als Nachbaren der Gi- ljaken genannt werden. Allein alsdann müsste man auch Güjaken. Ihre Südnachbaren: Natken und Atschanen. 113 fach dadurch, dass unter den «Natken» wie unter den «Atschanen» nicht ein Volk, sondern, nach unseren Unterscheidungen, zwei Völker, die Golde und die Oltscha — wie es auch später oft geschehen — zusammen verstanden worden sind, wobei Pojarkof den Namen für das ver- meintliche eine Volk den ersteren, Chabarof aber den letzteren entlehnte. Dass der Name Natken eigentlich auf die Golde zu beziehen ist, glaube ich aus folgenden Gründen schliessen zu dürfen. Eines Volkes dieses Namens geschieht schon in der ältesten Nachricht Erwähnung, welche die Russen vom Amur erhielten‘). Als nämlich Tomskische Kosaken im Jahre 1639 den zum Ochotskischen Meere fallenden Fluss Ulja erreichten und dort eine Tributhütte (Jassaschnoje Simowjo) erbauten, kamen dorthin Tungusen vom Udj, die ihnen unter Anderem erzählten, dass am Flusse Omut — in welchem schon Müller den Amgunj vermuthete?) — Tungusen wohnten, die mit einem am unteren Amur ansässigen Volke «Natkani» Handel trieben. Dieses Volk redete seine eigene Sprache. Ihm vertauschten die letzterwähnten Tungusen ihre Zobel gegen Silber, kupferne Kessel, Glaskorallen und mancherlei seidene und wollene Zeuge, welche Gegenstände jedoch die Natkani nicht selbst verfertigten, sondern anderswoher bekämen. Von einem Volke, das ebenfalls am Amur — den die Udj- Tungusen Mamur nannten — wohne, aber Feldbau und Viehzucht treibe und Branntwein brenne, erhielten die Natkani auch Mehl auf dem Strome zugeführt. Wir lernen hier also ein am unteren Amur oberhalb des Amgunj wohnendes Volk kennen, das die Amgunj-Tungusen, also Negda, und nach ihnen auch die Tugur- und Udj-Tungusen mit dem Namen «Natka» bezeichneten (denn das ni oder ny |H51] am Ende ist oflenbar nur russisches Anhängsel für den Plural). Ich will sogleich anführen, dass auch Middendorff in denselben Gegenden unter den Völkerschaften, mit denen die tungusischen Stämme des Südabhanges des Stanowoi-Gebirges in Berührung kommen, die «Ngatku» genannt wurden, und zwar als ein Volk, das am Amur ober- die Atschanen durch Identificirung mit den Giljaken beseitigen. Beides ist ganz unzulassig. Wir werden später eine andere Erklärung für die Angabe Stepanof’s fin- den. 4) Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. II, p. 295. 2) Auf Witsen’s Karte trägt der seiner Lage nach dem Amgunj entsprechende Fluss den Namen «Chamu)». In seinem Werke «Noord en Oost Tartarye» (Ausgabe 1692, 2. Thl, p. 32, 520; Ausg. 1705, p. 86, 838) heisst er auch «Gamun» und «Chamuna», welches letztere jedoch nur die russische Genitivform von «Chamun» (XamyH®) ist, wie er in den russischen Berichten und Erzählungen aus dem XVH. Jahrhundert (Crasanie o sea. p. Amypt, im B&cra. Pycex. T’eorp. O6m. 4. VII, 1853, Ora. II, crp. 19; Aono.ın. KB akt. ucTop. T. XI, C. Herepö. 1869, crp. 220, 221) ge- nannt wird. Dieser letztere Name des Flusses kommt dem jetzt üblichen schon sehr nahe. Auch erkannte schon Müller in ihm den Amgunj (Samml. Russ. Gesch. Bd. II, p. 378). Gelegentlich sei bemerkt, dass der Amgunj auf der Schrenck 's Amur-Reise, Band III. russischen Karte von Posnjakof (Tenepa.asn. kapra Aai- ATckoü Poccim, u3A. BOeHHO-TONOrPp. Aeno, 1825 r.) «Nep- kon» (Heukou%) heisst, auf der deutschen Weimar’schen aber «Hinkan», was Middendorff (Reiseber,, im Bull. de la cl. phys. - math, de l’Acad. Imp. des sc., T. IV, p. 238, Anm. *); desgl. Beitr. zur Kenntn. des Russ. Reichs, Bd. IX, 2. Abth., p. 622, Anm. 1) zu der Vermuthung führte, dass die russische Bezeichnung wohl der richtige chine- sische Name dieses Flusses sei, die deutsche aber nur eine Copie, bei welcher die russischen Buchstaben für französische abgelesen wurden. Es verhält sich jedoch damit gerade umgekehrt: die russische Bezeichnung bei Posnjakof ist beim Copiren der d’Anville’schen Karte (Carte gener. de la Tart. Chinoise, 1732, im Nouy. Atlas de la Chine etc.), auf welcher der Amgunj «Henkon» heisst, durch Ablesen der französischen Buchstaben für russische entstanden. Schon Müller (l. c. p. 378) identi- fieirte den Henkon der «Chinesischen Landkarte» mit dem Amgun und Chamun. 15 11% Die Völker des Amur-Landes. halb des Amgunj wohne und eine andere als die tungusische Sprache rede'). Stimmt nun die obige Schilderung der Tungusen von den Natka, ihrem Wohnort und ihrer Lebensweise nach, mit den Angaben Pojarkof’s über die Natken und Ghabarof’s über die Atschanen, die ebenfalls ohne Ackerbau und Viehzucht nur vom Fischfang lebten, und passt sie nach dieser Seite ebensowohl auf die Golde wie auf die Oltscha, so ist doch nicht anzunehmen, dass auch die Tungusen, zumal die Negda, diese beiden von ihnen nicht so entlegenen Völker nicht unterscheiden sollten. Die Erfahrung lehrt’ vielmehr, dass bei Naturmenschen ganz im Gegen- theil die Neigung vorherrscht, selbst kleinere Abzweigungen eines und desselben Volkes, einzelne Geschlechter u. s. w. für verschiedene Völker und dialektische Differenzen für besondere Sprachen anzusehen und mit besonderen Namen zu belegen. Erwägt man daher die viel grössere Ver- schiedenheit des Golde- als des Oltscha-Dialektes von dem der Negda und der angrenzenden Tungusen, so unterliegt es keinem Zweifel, dass die letzteren unter den eine eigene Sprache redenden Natka eher die Golde als die Oltscha verstanden haben. Auf die Golde passt ferner auch ganz vorzüglich, was in der obigen Erzählung der Tungusen von der handelsvermitteln- den Rolle der Natka gesagt ist, die den Negda ihre Zobel gegen allerhand mandshu-chinesi- sche Produkte abnahmen und die andererseits von ihren ackerbautreibenden Nachbaren, unter denen sich damals auch die Djutscheren befanden, Mehl stromabwärts zugeführt erhielten. Vielleicht lässt sich endlich auch die Entstehung des Namens Natka für die Golde aus ihrer Sprache erklären. Sie selbst bezeichnen sich zwar nicht mit diesem Namen, allein «nai» heisst im Goldischen «Men- schen, Leute» und wird einem einzelnen Ortsnamen-angehängt, um die Bewohner dieses Ortes zu bezeichnen). Auch giebt es einen verhältnissmässig grossen, mitten im Golde-Gebiet gele- genen Ort, der den Namen «Naiche» trägt; ob aber die Etymologie desselben mit jenem Worte zusammenhängt, vermag ich nicht zu sagen. Ist Natka die tungusische Bezeichnung für die Golde, so ist es auch verständlich, wes- halb wir diesem Namen in Pojarkof’s wie später in Nagiba’s Berichten begegnen, während er bei Chabarof und Stepanof nicht vorkommt. Die beiden ersteren nahmen ihren Rückweg von der Amur-Mündung mehr oder weniger durch das Gebiet der Küsten-Tungusen des Ochot- skischen Meeres, bei denen jene Bezeichnung für die Golde üblich ist. Pojarkof überwinterte namentlich an der Ulja-Mündung, also an dem Orte, wo den Russen durch Udj-Tungusen 4) Middendorff, Reise etc. Bd. IV, p. 1536. Scheint diese Angabe auch keinen Zweifel darüber zu lassen, dass «N gatlku» eine tungusische Bezeichnung für jenes Amur- Volk war, so sagt Middendorff doch an einem anderen Orte (Reiseber., im Bull. de la cl. phys.-math. de l’Acad. Imp. des sc., T. IV, p. 235; desgl. Beitr. zur Kenntn. des Russ. Reiches, Bd. IX, 2. Abth., p. 618), dass er von diesem Volke durch die Giljaken Nachricht erhalten habe. Indessen sind es auch in diesem letzteren Falle doch nur dem Tugur - Busen benachbarte Grenz-Giljaken gewesen, die dem Reisenden offenbar den unter ihren Nachbaren, den Tungusen, für jenes Volk üblichen Namen angaben; denn so viel und so oft ich mich bei den Giljaken am Amur, im Liman und auf Sachalin nach den ihnen bekannten Völkern erkundigte, den Na- men Ngatku habe ich niemals gehört. Für die Oltscha und Golde haben sie jedenfalls andere Bezeichnungen, von denen späterhin die Rede sein wird. 2) So z.B. Dondon-nai — Leute oder Bewohner von Dondon u. s. w. In der Oltscha-Sprache lautet dasselbe Wort «nei». Giljaken. Ihre Südnachbaren: Natken und Atschanen. 115 die erste Kunde von dem Natka-Volke zugekommen war, und verfasste den Bericht über seine Züge im Amur-Lande erst nach seiner Rückkehr, in Jakutsk'). Es ist daher erklärlich, wenn er sich für das Volk, das er am Amur kennen gelernt hatte, auch des bei den angrenzenden Tun- gusen üblichen Namens bediente. Ebenso Nagiba, der auf seiner Rückkehr einen Winter unter den Tugur-Tungusen, den nächsten Nachbaren der Negda weilte, von denen jene Bezeichnung für die Golde sogar ausgegangen zu sein scheint. Dass Beide dabei den Unter- schied zwischen Golde und Oltscha übersahen und den für die ersteren angenommenen Namen auch auf die letzteren übertrugen, so dass die Natken ihnen zufolge bis an die Giljaken reichten, darf uns nicht weiter wundern, wenn wir uns der vielen oben erwähnten Fälle ähnli- cher Art aus der neuesten Zeit erinnern?). Im Gegensatz zu den Beiden, berührten Chabarof und Stepanof das Gebiet jener Tungusen gar nicht, sondern kehrten von ihren Winterquartieren am unteren Amur stromaufwärts wieder zurück, so dass sie dem Namen Natka für die Golde nirgends begegneten. Dass der Name Atschany, den Chabarof für alle Amur-Bewohner zwischen den Djutscheren und Giljaken, also im Umfange der Natken Pojarkof’s für unsere Golde und Oltscha zusammen gebrauchte, den letzteren entlehnt ist, liegt noch mehr auf der Hand. In der That braucht man nur die russische Endsilbe zu entfernen, um in dieser Bezeichnung den Namen Oltscha nur wenig verändert wiederzuerkennen. Und dies ist auch der Name, den sich dieses Volk selbst giebt. Ich werde auf denselben später noch zurückkommen. Nach dem Volke nannte Chabarof auch die Festung, die er zum Winterlager errichtete, Atschanskoi gorod. Wo dieselbe lag, ist aus seinem Berichte nicht zu ersehen. Da es jedoch der äusserste Punkt war, den er am Amur erreichte, und da der angeführte, hier zum ersten Mal uns entgegentre- tende Name des Oltscha-Volkes von diesem selbst erkundet sein musste, so darf man, glaube ich, annehmen, dass sie schon im Oltscha-Gebiet lag. Oder es müsste denn sein, dass man beim Erkunden des Namens zufällig mit im Golde-Gebiet weilenden Oltscha zu thun hatte, was jedoch weniger wahrscheinlich ist. Chabarof muss also auf dem Amur recht weit unterhalb des Ussuri vorgedrungen sein. Das war aber bei der immerhin kurzen Dauer seiner Fahrt von der Sungari-Mündung ab°) nur möglich, wenn er dem Hauptstrome und nicht dem stark ausgebuchteten rechten Ufer folgte. Und so scheint es auch in der That zu sein, da er sonst die Ussuri-Mündung gewiss nicht übersehen hätte. Lernen wir aber durch Pojarkof und Chabarof auch schon die jetzigen Nachbaren der 4) Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. II, p. 320. In diesem Umstande sah Müller sogar einen Grund, in den Fällen, wo die Differenz zwischen Pojarkof’s und Cha- barof’s Nachrichten allzu gross ist, den letzteren, die an Ort und Stelle geschrieben zu sein scheinen, den Vor- zug zu geben. Hinsichtlich der Natken und Atschanen löst sich jedoch die Differenz nach dem Obigen zur Ge- nüge auf, ohne dass man dem einen oder dem anderen Berichterstatter den Vorzug zu geben brauchte. 2) S. oben p. 26. 3) Ganz genau ist die Dauer dieser Fahrt nicht zu er- mitteln; so viel sich aber aus Chabarof’s Bericht ent- nehmen lässt, scheint er etwa am 15. Sept. an der Sun- gari-Mündung gewesen und von dort ab 14 Tage stromab- wärts gegangen zu sein, da er am 29. September den Ort erreichte, wo er sein Winterlager aufschlug. 15* 116 Die Völker des Amur-Landes. Giljaken am Amur kennen, so lässt sich doch aus ihren Berichten keineswegs ersehen, wo zu jener Zeit die Grenze zwischen diesen Völkern lag, da die Angaben der Entfernungen in Tage- reisen, ohne jegliche Bezeichnung oder Erwähnung erkennbarer Localitäten, allzu unbestimmt sind und keinerlei feste Anhaltspunkte bieten. Etwas mehr scheint auf den ersten Blick aus Stepanof’s Berichte entnommen werden zu können, da er zur Ueberwinterung unter den Gi- ljaken eine Festung, Kossogorskoi Ostrog, erbaute. Allein, wie Romanof nachgewiesen hat, lag dieser Ort höchst wahrscheinlich auf der bei Kidsi im Amur gelegenen Insel Ssutschu. Er fand dort die Reste eines niedrigen Erdwalles, mit Gruben innerhalb desselben, den Spuren ehe- maliger Erdwohnungen, — das Ganze auf der schiefen Ebene eines Bergabhanges gelegen, so dass der Name Kossogorskoi Ostrog vollkommen gerechtfertigt erschien !). Daraus schliesse ich, dass Stepanof gar nicht unter den Giljaken, sondern unter den Oltscha winterte, die er, wie später Romanof u. A.?), von den Giljaken nicht unterschied. Und daraus erklärt sich auch seine Angabe über die an die Giljaken grenzenden Djutscheren: er fasst nämlich unter jenem Namen alle Völker am unteren Amur-Strome — Golde, Oltscha und Giljaken — zusammen, wie es auch neuerdings noch wiederholentlich geschehen ist. So löst sich der Wider- spruch zwischen den Angaben Stepanof’s und seiner Vorgänger, Pojarkof und Chabarof, über die unteren Amur-Völker hinlänglich auf, und zugleich erweisen sich die ersteren, in Folge jener eolleetiven Ausdehnung des Namens Giljaken auf ganz verschiedene Völker, als die unbestimmtesten und zu unseren Zwecken unbrauchbarsten °). Von den späteren, jedoch auch noch aus dem XVII. Jahrhundert herrührenden russischen Nachrichten über das Amur-Land und speciell über die Wohnsitze der Giljaken in demselben, wie wir sie in der von Spasskij publieirten «Erzählung vom Amur» und bei Witsen finden, ist oben schon die Rede gewesen®). Die betreffenden Angaben lauten nur ganz allgemein, ja sie sind sogar zum Theil falsch, weil sie eben nur zusammengestellten Erzählungen, nicht Originalbe- richten, wie die oben besprochenen, angehören. Die nächsten eingehenden Nachrichten über die Wohnsitze der Giljaken, namentlich am Amur-Strome, kommen uns erst über ein Jahrhundert später, und zwar von ganz anderer, von japanischer Seite zu. Man verdankt sie dem japanischen Reisenden Mamia Rinsö, der auf Geheiss seiner Regierung in den Jahren 1808 und 1809 die Westküste Sachalin’s bereiste und 1810 auch das untere Amur-Land oder Santan, wie die Japaner es nannten, besuchte. Vom 1) A. PomauosB»%, Oyepkb MECTHOCTH MekAy 3aı. Ae Kacrpu u p. Amyponm® (Bbere. Uno. Pyccex. Teorp. O6m. Yy. XXIX, 1859, Ora. Hacaba. u Mar., crp. 126, Hpım. 4). Schon Müller (Samml. Russ. Gesch. Bd. I, p. 355) er- klärte sich den Namen Kossogorskoi Ostrog aus der Lage des Ortes «an der abhängigen Seite eines Berges». Im Originalbericht Onufrij Stepanof’s heisst übrigens diese Festung nicht Kossogorskoi, sondern Kossogirskoi Ostrog (Aono.ın. k& akt. ucrop. T. IV, 1851, crp. 82). 2) S. oben p. 26, 90, 104. 3) Fischer war, wie oben (p. 112, Anm. 5) erwähnt, im Gegentheil geneigt, die Angaben Stepanof’s für am meisten maassgebend zu halten. Daher hat er wohl auch auf seiner Karte des alten Sibirien’s (Sibir. Gesch. Bd. II, Tab. II) die Natken, die nach ihm vielleicht nur ein und dasselbe Volk mit den Giljaken sein könnten, unterhalb der Atschanen angegeben, während es nach unserer obigen Deutung dieser Namen umgekehrt hätte geschehen sollen. A 4) S. oben p. 96 fl. Giüjaken. Japanische Nachrichten über dieselben. 117 Cap Rakka (Lak) auf Sachalin ging er auf das Festland hinüber, folgte der Küste desselben südwärts bis zum Cap Musibo (an der Bai Taba), zog sein Boot über den vielbegangenen Schleppweg nach dem Flüsschen Taba hinüber, schiflte dieses abwärts in den See von Kidsi und gelangte so nach dem grossen, am Amur gelegenen Dorfe Kidsi. Von dort ging er den Amur aufwärts bis zu dem damaligen Handelsorte Deren, verweilte dort einige Tage und kehrte dann, indem er dem Amur bis zu seiner Mündung abwärts folgte und den Liman dreimal kreuzte, wieder nach Sachalin zurück. Auf dieser Reise kam er in nahe Berührung mit den Giljaken und ihren südlichen Nachbaren am Amur-Strome, den Oltscha. Beide waren ihm und den Ja- panern überhaupt schon bekannt: die ersteren sowohl als beständige Bewohner des nördlichen Sachalin’s, wie als häufige Handelsgäste in Ssiranussi, die letzteren nur als zeitweise vom Con- tinent herüberkommende Händler. Unter den Giljaken von Sachalin, am Cap Noteito ?), hatte Mamia Rinsö sogar den ganzen Winter von 1809/10 zugebracht. «Smerenkur» lautet der Name, den sie in seiner Reisebeschreibung, wie überhaupt bei den Japanern tragen. «Ssü- merenkur» nannte ihn mir ein vielgereister Oltscha aus Tyr, der selbst wiederholentlich bei den Japanern auf Sachalin gewesen war, mit dem ausdrücklichen Bemerken, dass dies der Name sei, den die Aino und nach ihnen auch die Japaner den Giljaken geben. In der That ist sein Ursprung aus der Aino-Sprache sogleich aus der Endsilbe ersichtlich, denn «kur, kuru, guru» bedeutet in derselben «Mensch» °). Vielleicht lässt sich aber auch die übrige Etymologie dieses Namens erklären, denn «ssıimari» heisst bei den Aino von Sachalin «Fuchs» *), und so würde «Ssumarinkur» so viel wie «Fuchsvolk» bedeuten. Was den Giljaken diese Be- zeichnung seitens der Aino zugezogen haben könnte, vermag ich nicht mit Bestimmtheit zu sagen: vielleicht der Umstand, dass sie, den Handel zwischen den Aino und den Mandshu- Chinesen vermittelnd, die Hauptabnehmer des von jenen erbeuteten Pelzwerks und darunter auch der auf Sachalin häufigen Fuchsfelle sind; oder aber, was mir noch wahrscheinlicher vorkommt, der Name entstand daher, weil die Giljaken ehemals, bei grösserem Reichthum als die Aino, zum grossen Theil selbst in Fuchsfelle gekleidet gingen). Anders verhält es sich mit der bei den 1) Siebold, dem wir die Bekanntmachung der so schätzenswerthen Reisen Mamia Rinsö’s verdanken (Tö- tats ki ko, .d. i. Reise nach der östlichen Tatarei, in Nip- pon, VII, p. 167—196), hält es für höchst wahrscheinlich, dass unter C. Rakka das C. Tekka gemeint sei und jener erstere Name nur durch Verwechselung der einander sehr ähnlichen japanischen Schriftzeichen für Te und Ra ent- standen sei (l. c. p. 199, Anm. 6). Nach eigener Bekannt- schaft mit diesen Localitäten, muss ich dies jedoch ent- schieden in Abrede stellen. C. Rakka ist unzweifelhaft die niedrige vorspringende Landzunge von Lak, da die Japaner bekanntlich, in Ermangelung des Lautes / in ihrer . Sprache, denselben durch r ersetzen; C. Tekka aber ist das etwas südlicher gelegene C. Tyk. 2) Zwischen dem C. Lak und dem C. Tyk. Zu meiner Japanern üblichen Bezeichnung für die des Zeit gab es dort kein Dorf. 3) Klaproth, Asia polyglotta, Paris 1823, p. 302, 309; Siebold, Nippon, VII, p. 198, Anm. 5. 4) Nach Fr. Schmidt; s. meine «Bemerk. über die Säugethierfauna Süd-Sachalin’s und der südl. Kurilen» (Bullet. de la cl. phys.-math. de l’Acad. Imp. des sc. de St. Petersb. T. IV, p. 420; Mel. biol. T. IV, p. 105). Nach Klaproth (Asia polygl. p. 306; San kokf tsou ran to sets, ou Apercu gener. des trois royaumes, trad. de l’origin. japonais-chinois, Paris, 1832, p. 245; dsgl. in Langs- dorff’s Bemerk. auf einer Reise um die Welt, Frankf. a./M. 1812, Bd. I, p. 301) — «schumari» und «schiumarin. 5) In der aus dem XV. Jahrhundert stammenden Er- zählung vom grossen Amur-Strome (Bern. Hnn. Pycer. Teorp. Oö. 4. VII, 1853, Ora. II, crp. 20) heisst es, dass 118 Die Völker des Amur-Landes. Handels wegen vom Festlande nach: Sachalin herüberkommenden Amur-Anwohner tungusischen Stammes. Ich muss sogleich bemerken, dass es nicht bloss Oltscha, sondern in gleichem Maasse auch Golde sind, die aber von den Aino und Japanern nicht unterschieden, sondern mit dem gemeinsamen Namen «Santan» oder «S’janta» belegt werden. Nach dem Volke wird dann auch das von ihm bewohnte Land, das Amur-Land, mit demselben Namen bezeichnet). Mamia Rinsö’s Vorgänger, der japanische Reisende Mogami Tok’nai, der jedoch über Sachalin nicht hinausgekommen ist, versetzte das Land Santan in den der Insel zunächst gelegenen Theil des Festlandes: nach ihm erstreckte es sich von der Mündung des Amur- Stromes längs dem rechten Ufer desselben und längs der Meeresküste bis etwa zum 50° n. Br. Für den Namen des Volkes und des Landes hatte er aber eine weit hergeholte Erklärung aus dem Chinesischen ?),. Mamia Rinsö hingegen, der das Santan-Land selbst besucht hat, er- kannte alsbald, dass jener Name weder von den Chinesen, noch aus dem Lande und von dem Volke selbst herrührte, sondern ihm nur von den Aino und Japanern gegeben sei. Sein geübteres Ohr liess ihn den Namen Santan auch als «S’janta» und «Z’janta» hören®). Auch mein vielgereister Oltscha aus Tyr gab «S’janta» als den Namen an, mit welchem die Aino und nach ihnen die Japaner sein Volk bezeichnen. Und das führt uns auf den, wie ich glaube, richtigen Ursprung dieses Namens. Er stammt von den Giljaken her. «Jant» oder «Janta» ist nämlich der giljakische Name für die Golde. Da nun die Giljaken einerseits die unmittelbaren Nachbaren der Aino auf Sachalin und andererseits die meisten, gewiss auch die ältesten Ver- mittler ihres Handels mit den Amur- Völkern bis hinauf zu den Mandshu sind, so ist es kaum, anders denkbar, als dass die Aino die erste Bekanntschaft mit dem grössten und ausgebreitesten jener Völker, den Golde, durch die Giljaken gemacht haben. Und damit wird es verständlich, wenn sie für dasselbe auch den giljakischen Namen, nur im Geiste ihrer Sprache leicht abgeändert, acceptirten und diesen Namen auch auf die in ihren Augen zum selben Volke gehörigen Oltscha ausdehnten °). die Giljaken auf der grossen, der Amur-Mündung gegen- | daher sie San-tan, d. h. Bergrothe, genannt wurden. überliegenden Insel Zobel- und Fuchsfellkleider tragen. Siebold fügt, indem er diese Erklärung wiedergiebt 1) Adam Laxmann hörte auch, bei seinem Besuche | (Nippon, VII, p. 198, Anm. 3) hinzu, das man jenes Land der Insel Jesso (1792), die Japaner von «Sandan-aino» | schon auf einer nach einem japanischen Original copirten (Sandan - Leuten) reden, die nach Sachalin des Handels | Karte von Japan, die Reland im Anfange des vorigen wegen kämen; er hielt sie aber für Koreaner (vrgl. IHo- | Jahrhunderts zu Amsterdam herausgegeben hat, mit dem 10ouckiü, Kypuası. — 3an. Uno. Pycer. Teorp. Od. Ho | chinesischen Buchstaben Han than bezeichnet findet. Ora. Iraorp. T. IV, 1871, crp. 493, 541). Ganz falsch 3) Tö-tats ki ko (Siebold, Nippon, VI, p. 178, 198, wurde Krusenstern von Japanern auf Jesso wie auf | Anm, 3; dsgl. Nippon, I, p. 131). . Sachalin dahin unterrichtet, dass diese letztere Insel, oder, 4) Wenn daher in einem aus dem Jahre 1789 datiren- wie er in Aniwa hörte, auch nur ihr nördlicher Theil, | den russischen Schreiben, das Middendorff unter den von den Aino «Sandan» genannt werde (s. dessen Reise | Archivpapieren in Udskoi Ostrog fand (Reise ete. Bd. IV, um die Welt, Bd. II, p. 49, 52, 63). p. 102, Anm.), angegeben wird, die Insel Sachalin heisse 2) «Santan» sollte demnach nur eine neuere Benen- | tungusisch «Jankur», so lässt sich darin, nach der Anfangs- nung sein: vormals hiessen Land und Volk Itan oder | wie nach der Endsilbe, leicht die oben erläuterte, durch Kitan, was rothgestreifte Wilde bedeutet. Mit der stei- | die Giljaken vermittelte Aino-Bezeichnung für die . genden Kultur verliessen die barbarischen Völker die | ihre Insel besuchenden tungusischen Amur - Völker er- Küslen und Ebenen und zogen sich in die Gebirge zurück, | kennen. Giljaken. Japanische Nachrichten über dieselben. 119 Wurde aber der Name Santan oder S’janta von Aino und Japanern auf Sachalin auch schlechtweg für die Oltscha wie für die Golde gebraucht, so ist dies doch bei Mamia Rinsö in seiner Reisebeschreibung keineswegs der Fall. Er hielt sich am Amur nur in den Gebieten der Giljaken und Oltscha auf. Ueber das letztere ging er südwärts nicht hinaus. Nur einzeln traf er in demselben auch Golde an und lernte für sie auch einen eigenen Namen kennen, auf den wir später zurückkommen werden. Seine S’janta sind daher ausschliesslich Oltscha. Und mit grosser Genauigkeit giebt er, stromabwärts schiffend, an, wo die S’janta aufhören und ihre nördlichen Nachbaren, die Smerenkur, beginnen. Man erkennt in den meisten Ortschaften, die er in der Reisebeschreibung oder auf der Karte anführt'), noch die heutigen Dörfer wieder. In Aorei (Aure) befand er sich noch unter den S’janta; mit Horomo oder Horo, dessen Entfernnng von dem ersteren er auf 4 Ri (etwa 15 Werst) abschätzt, beginnt das Gebiet der Smerenkur, und von dort ab, sagt er, sind Menschen, Wohnungen, Geräthe und Lebensweise gerade so wie auf Krafto (Sachalin)?). Dieses Horo ist unzweifelhaft Chjare, das erste giljakische Dorf, stromabwärts ge- gangen. Zum Beweise dafür dient auch der Umstand, dass gleich oberhalb von Horo auf Rinsö’s Karte der Ort Furu angegeben ist, in welchem man leicht das heutige vorletzte Oltscha-Dorf Pulu erkennt. So lag die Grenze zwischen den Giljaken und Oltscha zu Rinsö’s Zeit (1810) schon genau da, wo ich sie 45 Jahre später ebenfalls fand). Ausser am Amur-Strome lernen wir durch Mamia Rinsö auch die damalige Südgrenze der Giljaken an der Meeresküste kennen. Im Amur-Liman besuchte er nämlich das Dorf Tsjomen, das aus ansehnlichen, zerstreut an einem Flüsschen gleichen Namens gelegenen Woh- nungen der Smerenkur bestand‘). Genau so ist, wie ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann, noch heute Tschomi, das äusserste an der Meeresküste nach Süden gelegene Dorf der Giljaken, beschaffen. Und dass es auch damals das letzte war, beweist die punktirte Linie, die auf Rinsö’s Karte von Horo am Amur zur Meeresküste gleich südlich von Tsjomen ver- läuft und die ohne Zweifel die Südgrenze des Smerenkur-Gebietes auf dem Festlande bezeichnen soll. Von dort nach Süden bis über die Bai Taba hinaus erstreckte sich, wie man ebenfalls aus Mamia Rinsö’s Angaben entnehmen muss, auch damals nur eine unbewohnte Küste: er umschiflte auf. seiner Rückreise nach Sachalin das Cap Wasibuni (C. Lasaref, von den Oltscha Wasfun genannt) bis in die von Siebold mit Recht nach ihm benannte Strasse, gleich wie er auf der Hinreise einem Theile der Küste nördlich von Taba gefolgt war, und nennt zwar auf derselben eine Reihe von Ortsnamen, allein mit dem ausdrücklichen Bemerken, dass die Küste unbewohnt und jene Orte nur Ankerplätze seien?). So gab es auch dort zu 4) Ausser der von Siebold (Nippon, VI, Tab. XXV) | ebenfalls von Rinsö her. Auf dieser letzteren Karte wiedergegebenen, mit Mamia Rinsö’s Namen bezeich- | ist auch alles Detail über das Amur-Land zu finden. neten Karte, rührt auf der an demselben Orte mitge- 2) Tö-tats ki ko (Siebold, Nippon, VII, p. 177). theilten Tok’nai’schen Karte der das Amur-Land und 3) S. oben p. 13, 16, 26 u. a. die gegenüberliegende Westküste Sachalin’s darstellende 4) Tö-tats ki ko, 1. c. p. 178. Theil, wie Siebold (Nippon I, p. 170, Anm. 162) bemerkt, 5) L. c. p. 170, 178. 120 Die Völker des Amur-Landes. Rinsö's Zeit schon dieselben Grenzverhältnisse zwischen den Giljaken und ihren südlichen Nachbaren, wie sie zu meiner Zeit auch bestanden. Im Allgemeinen lassen sich also längs der gesammten festländischen Südgrenze der Gi- ljaken seit der Zeit unserer ersten Bekanntschaft mit diesem Volke, d. i. in etwa 200 Jahren, keinerlei Verschiebungen wahrnehmen. Doch sind die ältesten Nachrichten so mangelhaft, dass man etwaige Veränderungen auch nicht mit Bestimmtheit in Abrede stellen kann: sie lassen uns kaum mehr erkennen, als dass die Grenznachbaren der Giljaken nach Süden vor zwei Jahrhunderten dieselben waren wie jetzt. Nur soviel steht unzweifelhaft fest, dass die Grenzver- hältnisse, die ich dort in den 50-er Jahren fand, genau ebenso auch vor einem halben Jahrhun- dert bestanden. Gehen wir endlich nach der Insel Sachalin hinüber, so tritt uns dort ein noch grösserer Mangel an brauchbaren älteren Nachrichten entgegen. In den oben besprochenen Berichten von den ältesten Zügen, welche die Russen bis zur Amur-Mündung und über dieselbe hinaus ausführten, wird ihrer speciell gar nicht gedacht, sondern in einem derselben nur im Allgemeinen bemerkt, dass die Giljaken auch die benachbarten, im Meere gelegenen Inseln inne haben !), was jedoch eben so gut auch auf die Schantaren bezogen werden konnte°). Erst in der oben erwähnten, ebenfalls aus dem XVII. Jahrhundert herrührenden «Erzählung vom grossen Amur-Strome», und zum Theil nach ihr auch bei Witsen, heisst es bestimmter, der Amur-Mündung gegenüber liege eine grosse Insel, auf welcher zahlreiche «Giljakische Völker» wohnen). An einer anderen Stelle bemerkt Witsen von dieser Insel, dass sie Giliat heisse‘). Was sonst an den angegebenen Orten von dieser Insel mitgetheilt wird, knüpft zwar an Thatsächliches und Wahres an, trägt aber doch durchweg, wie z. B. in der Angabe vom hohen Schilfdiekicht, das ihre Küste unzu- gänglich mache u. dgl. m., den Charakter auf Hörensagen beruhender Erzählungen. Und in der That zuverlässige, wenn auch kurze Berichte, wie diejenigen über das Amur-Land, haben wir über Sachalin und seine Völker aus jener Zeit nicht, da diese Insel von den Russen im XVII. Jahrhundert gar nicht berührt worden ist. Später, im XVII. Jahrhundert, als die Fahrten nach den Schantaren russischerseits in Aufnahme kamen, wurde zwar Sachalin, wie oben erwähnt), wiederholentlich von russischen Läuflingen, Schiffbrüchigen u. s. w. besucht, allein ohne dass uns irgend welche Nachrichten über dasselbe hinterlassen worden wären. Eben so wenig Anhaltspunkte bieten die ältesten chinesischen Nachrichten über Sa- chalin. Als die Jesuiten Regis, Jartoux und Fridelli im Jahre 1709 die Karte des unteren Amur-Stromes aufnahmen, erzählten ihnen die Eingeborenen, dass der Amur-Mündung gegen- 1) In Pojarkof’s Bericht (s. Müller, Sammil. Russ. | crp. 20). Witsen, Noord en Oost Tart., Ausg. 1692, 2. Thl. Gesch. Bd. II, p. 302). p. 32; Ausg. 1705, p. 87. Vrgl. auch Müller, in Bü- 2) In der That verwechselte Fischer bei dieser Gele- | sching’s Magaz. für die neue Histor. und Geogr. 2. Thl. genheit Sachalin mit den Schantaren (s. dessen Sibir. Gesch. | 2. Aufl. p. 506. Thl. U, p. 788) und die Karte: Sibiriae veteris Tab. II). 4) L. c. Ausg. 1705, p. 96. 3) Cnuaceriü, GBba. Pycer. 0 p. Anypb »» XVII croa. 5) S. oben, p. 84. (Bberu. Unn. Pycer. Teorp. O6m. 4. VII, 1853, Ora. I, Giljaken auf Sachalin. Japanische Nachrichten über dieselben. 121 über eine Insel liege, die von einem ihnen ähnlichen Volke bewohnt sei. In Folge dessen schickte der Kaiser Kang-hi bald darauf zur Erforschung der Insel einige Mandshu aus, die in Böten der Eingeborenen nach derselben übersetzten, jedoch nach dem Zeugniss der Jesuiten ihre Auf- gabe nur sehr ungenügend lösten, indem sie den südlichen Theil der Insel ganz unberührt liessen und auch im nördlichen nur die Namen der Ortschaften aufzeichneten, durch die sie kamen, während sogar der Gesammtname der Insel unerforscht blieb '). Auch von den die Insel bewohnen- ‚den Völkern erfahren wir durch sie nicht einmal die Namen. Die ersten eingehenden Nachrichten über die Völker Sachalin’s verdanken wir wiederum den Japanern, und zwar denselben Reisenden, Mogami Tok’nai (1785 und 1786) undMamia Rinsö (1808— 1810). Bereits ein Jahrhundert vor jener Mandshu-Expedition, in den Jahren 1613 —1615, wurden von Jesso aus unter dem Statthalter Kinfiro einige Japaner nach Krafto geschickt, um eine Karte von diesem Lande aufzunehmen, doch drangen sie nicht sehr weit vor, und über die Völker desselben lieferten sie wohl kaum irgend welche Auskunft; wenigstens weiss Siebold, dem wir die Nachricht verdanken”), darüber nichts zu sagen. Weitere Unternehmungen nach Sachalin gingen von den Japanern nicht aus, bis Mogami Tok’nai und bald nach ihm Mamia Rinsö die Insel betraten. Zwar wurde Sachalin um die- selbe Zeit auch von europäischen Seefahrern — La Perouse (1787), Brougthon (1797) und Krusenstern (1805) — geographisch aufgedeckt, ja an seiner Ostküste schon etwa 1'/, ‚Jahrhunderte früher von dem Holländer Vries betreten, allein mit seiner Bevölkerung kamen sie doch nur an einzelnen Küstenpunkten in Berührung und konnten daher in ethnographischer Beziehung auch nicht mehr als einzelne Notizen geben, von denen später gelegentlich die Rede sein wird. Jene Japaner haben hingegen nicht bloss beide Küsten — die Westküste beinahe bis zu ihrem Nordende, die Ostküste bis zur Bai der Geduld — sondern auch einen Theil des Innern von Sachalin kennen gelernt?). Ihnen verdankt man die erste Kenntniss von den drei _ auf Sachalin wohnhaften indigenen Völkern, Giljaken, Aino und Oroken. Da jedoch ihre Nachrichten, und zumal diejenigen Mamia Rinsö’s, nicht so weit zurückliegen, und da auf dem Continent, wie wir gesehen, seitdem durchaus keine Grenzveränderung zwischen den Giljaken und ihren südlichen Nachbaren stattgefunden hat, so lassen sich auch auf der Insel in diesem 1) Du Halde, Descr. de l’Emp. de la Chine et de la | dicht vor der Mündung des Amur liegende Felsen Bezug. Tart. Chin. Vol. IV, Paris 1735, p. 12, 13. Nach Angabe der abgesandten Mandshu sollten die Bewohner des Fest- landes die Insel sehr verschieden benennen, je nach den Dörfern, die sie auf derselben zu besuchen pflegten, doch wäre der allgemeine Name, der ihr zukäme, «Saghalian anga hata», d.h. Insel der Mündung des Schwarzen Flusses, eine Bezeichnung, welche die Jesuiten auf ihre Karte setzten, und aus welcher bekanntlich der jetzt übliche Name entstand. Nach Klaproth (Asia polygl. p. 301) bedeuten aber die Worte «Sachalian anga chada» nur «Felsen (nicht Insel) der schwarzen Mündung» und hätten nur auf einige Schrenck’s Amur-Reise, Band III. Ich muss bemerken, dass die Ufer des Stromes an seiner Mündung, namentlich das linke, allerdings felsig sind, wenn auch nicht sehr hoch; einzeln aus dem Wasser em- porsteigende Felsen giebt es aber vor derselben nicht. Ueber noch andere Namen Sachalin’s, deren es so viele giebt, bei Gelegenheit weiter unten. 2) Nippon, I, p. 126. 3) Mogami Tok’nai ging z. B. von der Bai der Ge- duld längs dem Poro-nai.(Ty- oder Plyi -Fluss) quer über die Insel nach Otsisi (in der Nähe von Dui). Siebold, Nippon, I, p. 128. 16 122 Die Völker des Amur -Landes. kurzen Zeitraume keine irgend erheblichen Grenzverschiebungen erwarten. In der That giebt Mamia Rinsö an, dass das Gebiet der Smerenkur auf der Westküste Sachalin’s nördlich von der noch von Aino bewohnten Landschaft Kitosi anhebt'). Diese erstreckte sich aber nach der betreflen- den Karte mit ihrem‘ Nordende bis nach Porokotan?), und dies ist, wie wir oben sahen?), zu- gleich das Pilja-wo der Giljaken, ihr letztes Dorf nach Süden, in welchem sie schon mit Aino untermischt wohnen. Eine solche gemischte Bevölkerung zieht sich gegenwärtig, wie oben aus- führlicher dargethan, auch noch eine Strecke nördlich von Pilja-wo fort. Vielleicht ist dies zu jener Zeit noch nicht oder nicht in dem Maasse der Fall gewesen und grenzten die beiden be- treffenden Völker schärfer gegen einander ab, obschon eine Vermischung durch Ehebündnisse zwischen ihnen immer stattgefunden hat. In solchem Falle würde die ganze Veränderung, die sich dort seit Mamia Rinsö’s Besuch dieser Gegenden bis zu dem meinigen in dem Grenzverhältniss zwischen Giljaken und Aino zugetragen hat, nur darin bestehen, dass eine stärkere oder weiter reichende Vermischung beider eingetreten ist, wohl in Folge davon, dass manche Aino sich schon damals aus Fureht vor den Japanern nordwärts zu den Giljaken flüchteten, wie Solehes später, als die japanische Colonisation sich rasch auszubreiten begann, ganz notorisch stattfand). Für die Ostküste Sachalin’s fehlt es gänzlich an Nachrichten, um über eine etwaige Verschiebung der Grenze des giljakischen Gebietes an derselben zu urtheilen, da der befreflende Theil der Insel weder von früheren, noch von den beiden genannten japanischen Reisenden besucht worden ist. Fasst man alles über die Giljaken bisher Gesagte zusammen, so lässt sich der Schluss ziehen, dass so weit unsere historischen Nachrichten über dieses Volk reichen, die allerdings keinen sehr grossen Zeitraum umfassen, eine irgend erhebliche Veränderung oder Verschiebung ihrer Wohnsitze nicht stattgefunden hat. Ob und wie sich aber eine solche in vorhistorischer Zeit zugetragen haben könnte, darüber lässt sich nur vermuthungsweise nach anderweitigen That- sachen und Erscheinungen urtheilen, welche wir später zu besprechen gedenken. Fehlte es uns für die Giljaken an weit zurückgehenden historischen Nachrichten, so ist dies hinsichtlich der AinO keineswegs der Fall. Indessen gilt dies auch nur für einen Theil dieses Volkes; namentlich für denjenigen, der ausserhalb des Rahmens dieses Werkes liegt. Je weiter nach Süden, desto früher tauchen die Aino, nach Maassgabe und in Folge ihrer Berührung mit den Japanern, aus dem Dunkel vorhistorischer Zeit empor: zuerst lernt man sie auf’ Nippon, dann auf Jesso und zuletzt auf Sachalin und den Kurilen kennen. Da ihr gesammtes Verbreitungsgebiet 1) Tö-tats ki ko (Siebold, Nippon, VII, p. 191). auch schon die nebenbei befindliche, «Mamia Rinzo 1808» 2) Auf der Karte, auf die wir uns beziehen (mit der Auf- | überschriebene Karte beweist, auf welcher derselbe Ort schrift «Mogami Tok’nai» 1786, s. oben p. 119, Anm, 1) | «Porokotan» heisst. steht «Torokotan», offenbar nur in Folge eines Druckfehlers 3) S. oben p. 16, 17. oder der Verwechselung von p und t japanischerseils, wie 4) S. oben p. 76. Aino. Aelteste und spätere japanische Nachrichten. 123 aus Inseln besteht, die durch Meerengen mit zum Theil reissenden Strömungen von einander getrennt sind, und die Japaner sich nur langsam von Insel zu Insel nordwärts ausbreiteten, so liegen die ältesten Nachrichten über die südlichen und über die nördlichen Aino weit ausein- ander, und während jene 2'/, Jahrtausende alt sind, reichen diese nur ebenso viele Jahrhunderte zurück. Nach Siebold') war zur Zeit der Begründung Japan’s unter dem Stifter der Mikado- Dynastie, Zinmu, um das Jahr 660 vor Chr., der Norden Nippon’s von Aino bewohnt, die in der Geschichte von Japan «Asuma Jebisu», d. i. Ostwilde, genannt werden. Sie sassen nament- lich in den heutigen Landschaften Mutsu, Dewa und dem nördlichen Theile von Jetsigo, welche daher damals «Jebisu no Kuni», das Land der Wilden, hiessen?). Noch im VH. Jahrhun- dert nach Chr. wohnten die Aino in den beiden erstgenannten Provinzen südwärts bis zum 38° n. Br., lagen aber beständig mit den Japanern im Kriege. Zu Anfang des IX. Jahrhunderts erstreckte sich die Herrschaft der Mikado bereits über ganz Nippon; dennoch hatten die nord- wärts vordringenden Japaner noch beständig mit den Aino zu kämpfen, bis diese endlich ganz unterworfen wurden und theils mit den Ueberwindern verschmolzen, theils vernichtet oder ver- trieben wurden. Viele von ihnen, die sich dem Joche der Japaner nicht hatten beugen wollen, flüchteten über die Ssangar-Strasse zu ihren Landsleuten nach Jesso. Nach dieser Insel waren die Japaner schon und zuerst im Jahre 658 unter dem Fürsten Abehirafu gelangt und hatten Ansiedelungen an der Mündung des Siribesi gegründet, die jedoch 729 von den Aino zerstört wurden). Gegen Ende des XII. Jahrhunderts (1189) flüchtete der japanische Feldherr Jositsune nach Jesso und streute, wie Siebold sagt‘), die ersten Samen der Cultur unter den Aino der Ostküste aus. Erst im XV. Jahrhundert (1443) wurden aber die Aino, und zwar zunächst diejenigen des südlichen Jesso, der Mikado-Herrschaft unterworfen. Wann die Japaner, nordwärts vorrückend, zuerst nach Sachalin (Krafto) hinübergingen, steht nicht fest, aber zu Anfang des XVII. Jahrhunderts (1605—1622) schickte schon der Statthalter von Matsmai, Kinfiro, Expeditionen zur Aufnahme einer Karte von Sachalin ab, die jedoch mit vieler Mühe nur bis Ussijam und Naritari vordrangen ®) und auf welche dann nach längerem Zwischenraum die Reisen Mogami Tok'nai’s und Mamia Rinsö’s folgten. Die südlichen Kurilen endlich 4) Aardr. en volkenkund. toelicht. tot de ontdekk. van Maert. Gerr. Vries; benev. eene verhand. over de Aino- 3) Siebold, Nippon, I, p. 125. 4) L. c. p. 126, 168. taal en de voortbrengs. der Aino-landen. Amsterdam 1858, p. 92, 116. 2) In der Chinesischen Geschichte ist nach Siebold (l. c. p. 116), dem wir diese Nachrichten entnehmen, zu- erst unter der Dynastie der Han (189 v. Chr. bis 30 n. Chr.) vondem Volksstamm der«Mao-mim» (Aino)dieRede, die auf der gegenüberliegenden Seite der östlichen See wohnten und am ganzen Leibe behaart sein sollten. Des- gleichen wird in der Geschichte der Sui-Dynastie (608 bis 622 n. Chr.) eines Volkes «Mozin» erwähnt, das aus 50 Horden bestand und im Gebirge im Nordwesten des Landes Woke (Japan) wohnte. 5) Nicht im XIV. Jahrhundert, wie Siebold, Aardr. en volk. toel. p. 93, im Widerspruch mit seiner Angabe in Nippon, I, p. 126, sagt. 6) Kannemon, Jeso-ki, ou Descer. de l’ile de Jesso, trad. du japon. par Titsingh (Annales des Voyages, publ. par Malte-Brun, T. XXIV, Paris 1814, p. 162). Desglei- chen, offenbar nach derselben Quelle, Klaproth in den Zusätzen zu Rinsifee’s San kokf tsou ran lo sets, ou Apercu gener. des trois royaumes, Paris 1832, p. 192. Vrgl. auch Siebold, Nippon, I, p. 126, wo übrigens der erst- genannte Ort Usisjam heisst (bei Klaproth,a.a. O., auch Utsusijam). 16* 124 Die Völker des Amur-Landes. wurden japanischerseits nicht eher als 1672 zufällig von einem durch Sturm verschlagenen Küstenfahrer entdeckt'!). Die ersten Nachrichten, welche Europäer von den Aino und zwär zunächst von denjenigen Jesso’s brachten, stammen aus dem XVI. und XVH. Jahrhundert. Wir verdanken sie den Jesuitenpatres Aloisius Froes (1565) und Hieronymus de Angelis (1622), dem Abgesandten der Englischen Handelseompanie John Saris (1613) und dem Chef des holländischen Handels in Japan Francoys Caron (1639 und 40). Wenige Jahre später (1643) lernte der holländische Seefahrer Vries die Aino nicht bloss auf Jesso, sondern auch auf Sachalin, in den Baien Aniwa und Patientie, sowie auf den südlichen Kurilen kennen). Doch geben alle genannten Schriftsteller ihre zum Theil sehr interessanten Notizen über die Aino, ohne diese mit irgend welchem Eigennamen zu bezeichnen. Dem Namen «Aino» begegnet man in der europäischen Literatur zum ersten Mal in einem 1619 in München erschienenen Werke Eliud Nieolai’s?), in welchem auch zum ersten Mal von Jesso als einer besonderen Insel die Rede ist, indem es heisst, alle früheren Karten begingen den Fehler, dass sie «oberhalb Japan (Nippon) eine grosse Insel auslassen, von den Japonensern Jezo, von den Inwohnern Aino-moxoti (Aino-mosiri, d. i. Aino-Insel) genannt». Sei es nun aber, dass dieses Buch nicht genugsam bekannt wurde, oder dass man aus dem Namen der Insel denjenigen des Volkes nicht herauslas, genug die Aino blieben noch lange ohne besondere Bezeichnung, und selbst La Perouse und Broughton, die auf Sachalin und Jesso mit ihnen in Berührung kamen, haben für dieselben keinen Eigen- namen *). Erst seit Krusenstern’s Reise erhielten sie europäischerseits den Namen Aino, 1) Kannemon, Jeso-ki, l. c. p. 210; Rinsifee, San kokf tsou ran to sets, p. 209; Siebold, Nippon, I, p. 126. 2) Witsen, Noord en Oost Tart. Ausg. 1692, 2. Thl. p- 46 — 62; Ausg. 1705, p. 128 — 152. Siebold, Aardr. etc. p. 93 f. Bickmore, The Ainos or hairy men of Yesso, Saghalien and the Kurile islands, p. 14 sqq. (Amer. Journ. of science, May, 1868). Letzterer giebt an, Hie- ronymus de Angelis sei, Krusenstern zufolge, im Jahre 1620 nach Sachalin gekommen, vermuthlich als erster Europäer. Ich wüsste aber durchaus nicht, wo Krusenstern dies gesagt hätte. Auch bei Siebold finde ich nichts davon. 3) Newe vnd warhaffte relation, von deme was sich in beederley, das ist, in den West- und Ost-Indien zugetragen etc. (vrgl. Siebold, Nippon, I, p. 151). 4) Beide bezeichnen die Aino nur nach den resp. In- seln, die sie bewohnen. So nennt Broughton die Aino von Jesso nur Bewohner von Insu, wie sie selbst diese Insel nennen sollen (A Voyage of discov. London 1804, pag. 89, 272; vrgl. auch Klaproth,in Langsdorff’s Bem. auf einer Reise um die Welt, Bd. I,p. 303). Gelegentlich muss ich bemerken, dass der Name, den die Aino von Jesso ihrer Insel geben sollen, auch nach Golownin (3auuern 0 NPuRrAO4, erO BB mabuy y Anonuers, U. III, crp. 156, ’ Ipım. 1) ähnlich lautet, nämlich «Einso-zi» oder schlecht- weg «Einso», woraus durch Entstellung bei Japanern und Europäern ihr jetziger Name entstand. Andererseits aber liegt die Vermuthung nahe, dass «Einso» oder, wie ich es lieber schreiben möchte, «Ainso» (bei Golo wnin russisch: Yiru30)ausdemobenangegebenen «A in o-mosiri» entstanden ist undalso auchnur Aino-Inselbedeutet. Wie Broughton mit den Bewohnern von Jesso thut, so bezeichnet La Pe- rouse dieAino von Sachalin auch nur als «Segaliens» oder «Oku-Jessois» (daman mit den Japanern unter Oku-Jesso, d. i. Gross-, Hoch-, Ober- oder, nach Siebold [Nippon, VII, p. 198], inneres Jesso, das nördlich von Jesso gelegene Land verstand), obgleich er übrigens von ihnen gehört haben wollte, dass sie selbst ihr Land «Tschoka» nennen (Voyage aut. du monde, Paris 1797, T. II, p. 36, 115, 118). Krusenstern erkundigte sich jedoch sowohl auf Jesso, wie auf Sachalin vergeblich nach diesem Namen (Reise um die Welt, Bd. II, p. 51), und nach Fr. Schmidt (Pe- termann, Geogr. Mittheilungen, 1869, p. 432) verdankt er seinenUrsprung nur einem Irrthum, indem «tschokan» in der Aino-Sprache soviel wie «ich» und «wir» bedeutet. (Auch nach Klaproth [in Langsdorff’s Bemerkung. auf einer Reise um die Welt, Bd. I, p. 302] heisst «ich» bei den Aino von Sachalin «tschogai»; nach desselben Vokabula- Aino. Aelteste und spätere europäische Nachrichten. 125 mit dem sie sich selbst bezeichnen sollen!) und der darin seine Erklärung findet, dass das Wort «aino» oder «ainu» bei allen zum selben Stamme gehörigen Bewohnern von Jesso, Sachalin und den Kurilen so viel wie «Mensch» bedeutet?). Durch Krusenstern’s Reise wurde auch der von einigen japanischen Karten her bekannte, auf eine nördlich von Jesso gelegene Insel bezüg- liche Name «Karafuto, Karafto» oder «Krafto» mit Sachalin identificirt?). Man hielt ihn für japani- rium im San kokf etc., p. 252, heisst es «toogai» und bei den Aino auf Kamtschatka «wir» — «tschogaich»). Vebri- gens führt La Pe&rouse in seinem Verzeichniss von Aino- Wörtern (l. c. p. 118) noch einen zweiten Namen an, den die Eingeborenen ihrer Insel geben sollen, wenn auch seltner als jenen; er lautet: «Tanina». Von diesem ver- meintlichen Namen Sachalin’s ist aber später nie mehr zu hören gewesen. Millet Mureau, der Herausgeber der La Perouse’schen Reise, macht endlich die kurze Bemerkung, dass die Chinesen Sachalin «Ta-ham» nennen (l. e.p. 83, Anm. c.), was jedoch vermuthlich nur eine Ent- stellung für «Ta-hai», d. i. grosse Insel, ist. Denn auch Ia- kinf (Crarucr. Onnc. Kuraick. Unu. C. Herepo. 1842, 4. II, erp. 30, 224, IIpum.) giebt an, dass Sachalin bei den Chi- nesen «Da-tshe-u» (Aa-uskey), d.h. grosse Insel, genannt werde. In der Geschichte der Tang-Dynastie soll diese Insel «Lu-gui» heissen (Iakinf, 1. c. p. 31). 41) Krusenstern, Reise um die Welt, Bd. II, St. Pe- tersburg 1811, p. 51; Langsdorff, Bemerk. auf einer Reise um die Welt, Frankfurt a./M., Bd. I, p. 282. 2) Klaproth, in Langsdorff’s Bemerk. ete. 1. c. p- 282, Anm., p. 301; desselben, Asia polyglotta, p. 300, 309; San kokf tsou ran to sets p. 245. 3) Krusenstern,l.c. p. 49,52 u. a. Bereits 1802 war vom Karten - Depot in St. Petersburg eine Karte heraus- gegeben worden, auf welcher die Insel «Karafuto» nach einer japanischen Karte aufgenommen war, welche der Japaner Kodai, den Ad. Laxmann im Jahre 1792 nach seiner Heimath zurückbringen musste, nach Russland ge- bracht hatte (Krusenstern, 1. c. p. 30). In Matsmai sah Laxmann bei einem japanischen Beamten ebenfalls eine Karte, auf welcher sowohl Jesso, als auch eine andere Insel dargestellt war, die den Namen «Karap» trug (Ho- A0Hckiä, Rypuası. — 3an. Pycer. Teorp. O6m. Ho Ora. Iruorp. T. IV, 1871, erp. 493, 541). Kurz vorher, 1785 oder 1786, war in Jedo das Werk Rinsifee’s «San kokf tsou ran to sets» erschienen (von Klaproth in’s Französi- sche übersetzt und mit einigen Zusätzen versehen, unter dem Titel: San kokf etc. ou Apercu general des trois ro- yaumes, Paris 1832), in welchem (p. 187) auch von dem nördlich von Jesso gelegenen, durch eine Meerenge von ihm getrennten Lande «Karafuto» oder «Karafto»die Redeist. Auf den dem Werke beigegebenen Karten ist dieses Land als eine weit südlich von der Amur - Mündung gelegene Halbinsel des Festlandes dargestellt, doch will Rinsifee für die Richtigkeit dieser Darstellung nicht einstehen, da einige Geographen es schlechtweg als Insel an der Küste des östlichen Tattan (Tartarei) bezeichnen, Daneben ist übrigens auf diesen Karten genau der Amur - Mündung gegenüber eine grosse von West nach Ost gelagerte Insel, Namens «Sagariin», dargestellt, von welcher der japanische Autor vielleicht aus mandshurischen oder chinesischen Quellen Kunde erhalten hatte. So erscheinen hier Nord- und Süd-Sachalin auseinandergerissen, und während jenes den Japanernnur noch eine unbekannte, fern abliegende Insel war, hatten sie dieses schon als nahe gelegenes Land erkannt, das sie sich, Dank seinen Handelsverbindungen mit den Mandshu, als direkt zum Festlande hinüber- führende Halbinsel dachten. Uebrigens lässt sich die Be- kanntschaft der Japaner mit dem Namen «Krafio» für Sa- chalin auch noch weiter zurück verfolgen; denn in der Be- schreibung Jesso’s vonAraiTsikugo-no-kami (Jeso-ki, ou Descr. de Jesso, trad. du japonais par feu M. Titsingh. —Annales des Voyages, publ. par Malte-Brun, T. XXIV, Paris 1814, p. 191, 205), der sich um das Jahr 1720 eine Zeit lang auf dieser Insel aufhielt, heisst es, dass die dortigen Aino die Insel Oku- oder Oki-Jesso (Sachalin) «Krato» oder «Karalo» nennen. Ja, noch früher be- richtete der japanische Dolmetscher Kannemon, der vor dem Jahre 1652 Jesso besuchte, «Krato» oder «Kraft» sei eine Provinz der Tartarei, von wo die Bewohner Jesso’s eine besondere Art Zeuge («Kraft-ori», offenbar über Sa- chalin kommende chinesische Zeuge) bezögen (s. dessen Jeso-ki, ebenfalls von Titsingh übersetzt, I. c. p. 162, 164). Bei dieser Gelegenheit sei bemerkt, dass es diese beiden von Titsingh übersetzsen Jeso-ki’s zu sein schei- nen, welche Klaproth während seines Aufenthalts in Ir- kutsk zur Vervollständigung der von Rinsifee im San kokf tsou ran to sets über Jesso gegebenen Nachrichten benutzt hat. Dies möchte ich sowohl aus dem mit den Jeso-ki’s fast identischen Inhalte seiner Zusätze zu dem letztgenannten Werke, als auch aus der Angabe der Jah- reszahlen folgern, wann die beiden benutzten Beschrei- bungen von Jesso verfasst worden waren (s. Klaproth’s Vorwort zum San kokf etc. p. IV). Nur ist die eine Jah- reszahl (für Kannemon’s Jeso - ki), wohl in Folge eines Druckfehlers, um ein Jahrhundert verjüngt angegeben (1752 statt 1652). 126 Die Völker des Amur-Landes. schen Ursprungs'), allein nach Schmidt rührt er von den Aino der benachbarten Inseln, Jesso, Kunaschir, Iturup, her und ist von den Japanern nur angenommen worden°). Vermuthlich ist er daher auch den Aino auf Sachalin selbst eigen °). Wenn übrigens Vries die Eingeborenen im Golfe der Geduld auch mit keinem besonderen Namen bezeichnet, so unterliegt es doch nach seiner Beschreibung derselben keinem Zweifel, dass er es in der That mit Aino und nicht etwa mit Oroken oder Giljaken zu thun hatte, die, wie oben dargethan, in jenem Theile Sachalin’s, wenn auch in geringer Zahl, mit den Aino zusammen- stossen. Somit lernen wir dieses Volk im Jahre 1643, vor mehr als zwei Jahrhunderten, schon an demselben Orte kennen, der auch gegenwärtig seine Nordgrenze an der Ostküste Sachalin’s bildet. Dass sie sich seitdem nicht weiter nordwärts ausgebreitet haben, da die Meeresküste nördlich von der Bai der Geduld doch auf weiter Strecke noch unbewohnt ist, lässt sich vielleicht dem Umstande zuschreiben, dass die Japaner erst zu Ende des vorigen Jahrhunderts ihre ersten Ansiedelungen auf Sachalin begründeten und dieselben, wie wir oben sahen, lange Zeit hindurch nicht weiter ausbreiteten ‘), also auch auf die entfernteren Aino keinen so erheblichen Druck ausübten, um sie zum ferneren Ausweichen nach Norden zu bewegen. Verhältnissmässig weiter und rascher scheint die Ausbreitung der Aino über die Kurili- schen Inseln vor sich gegangen zu sein. Oben ist schon erwähnt worden, dass sie noch vor An- kunft der Russen auf Kamtschatka alle Kurilischen Inseln bis nach Poromuschir, der vorletzten, von Süden gegangen, inne hatten®). Steller und Krascheninnikof geben ausdrücklich an, dass diese Insel von Aino («Kurilen») bewohnt wird, die von der Insel Onekotan herüberge- 1) Klaproth, Asia polyglotta, p. 301;-Siebold, Nip- pon, VII, p. 198. 2) Petermann, Geogr. Mittheilungen, 1869, p. 432. Auch die oben angeführten Angaben Kannemon’s und Arai Tsikugo’s über «Krato» und «Kraft» sprechen dafür, dass dies ein den Japanern fremdes, ihnen durch die Aino zugetragenes Wort sei. 3) Rinsifee (San kokf tsou ete. p. 187, 284) giebt hin- gegen an, der wahre Name des von den Japanern Kara- futo genannten Landes sei «Taraikai» oder «Tarakai»,worauf- hin Klaproth (San kokf etc. p. 188, Nota; Asia polygl. p- 301) und Siebold (Nippon, VII, p. 198) letzteren für den indigenen Aino- Namen der Insel halten. Schmidt (Petermann, Geogr. Mitthl. 1869, p. 432) hebt aber mit Recht hervor, dass dieser Name wohl von dem im Golfe der Geduld gelegenen Dorfe Taraika stamme, das früher besonders mit der Mandshurei in Handelsverbindungen stand. Die letzteren sind hier jedoch insofern von keinem Belange, als der Gebrauch des Namens Tarakai für Sa- chalin von den Japanern herrührt. Diese haben offenbar den Namen jenes Dorfes von den Aino gehört und ihn fälschlich für denjenigen der ganzen Insel genommen. In Kannemon’s Jeso-ki wird in der That Taraika’s noch als einer besonderen Localität Krato’s erwähnt (An- nales des Voyages, T.XXIV,1814,p.162), während über ein Jahrhundert später Rinsif&e den Namen Taraikai auf das ganze Land bezieht. Neuerdings ist übrigens noch ein an- derer Name als Aino-Bezeichnung für Sachalin ange- geben worden: nach Dobrotworskij (Aumeko-pycck. c.10Bapb.—Yuen. 3aı. Kazancr. Yunsepc. 1875, Upı.ao;k., erp. 32) soll nämlich diese Insel bei den Aino «Trepun- mosiri» heissen (Mizul hatte in seinem Oyepkb oCTpoBa Caxad. Bb CeAIBCKO-XO3AÜCTB. OTHom. C. Herepöyprv 1873, erp. 126, als solchen Namen «Trenun-mussir» oder auch schlechtweg «Mussir», d. h. Insel, angegeben), und sollen demgemäss die Aino von Jesso ihre Landsleute auf Sa- chalin «Trepun-mosiri-utara» nennen. Schliesslich sei hier erwähnt, dass die Japaner ausser der oben bespro- chenen Bezeichnungen für Sachalin noch manche andere haben; so soll es auch «Narubesi» genannt werden (San kokf etc. p. 189), ferner «Kita-sima», d. h. nördliche Insel (von Jesso; vrgl. Siebold, Nippon, VII, p. 198), oder auch schlechtweg «Kita-Jeso»,nördlichesJesso (Arai Tsikugo, Jeso-ki, l. c. p. 205), u. 5. w. 4) S. oben p. 731. 5) S. oben p. 18. Aino auf den. Kurilischen Inseln. 127 kommen sind, und zwar, wie man glauben muss, vor nicht gar langer Zeit, denn zwischen den Be- wohnern dieser beiden Inseln bestand ein nahes Gastfreundschaftsverhältniss, während hingegen die Bewohner der entfernteren Inseln öfters Raubzüge nach Onekotan ausführten, welche vielleicht auch den Grund zur Auswanderung eines Theiles der Bevölkerung dieser Insel nach Poromuschir abgaben'), Die folgende, letzte der Kurilischen Inseln, Schumschu, hat hingegen ihre Bevölke- rung nicht mehr von Süden, sondern von Norden, von der nahe anliegenden Halbinsel Kam- tschatka erhalten. Es sind nicht Aino, sondern Itälmenen oder Kamtschadalen, die anfangs diese Insel nur des Thierfanges wegen besuchten, seit der Ankunft der Russen aber in Kam- tschatka, aus Furcht diesen zinsbar zu werden, sowie in Folge von Zwistigkeiten unter einander, sie beständig zu bewohnen anfingen?). Für diese Ausbreitung der Aino und Itälmenen über die Kurilen sprechen auch die Namen der erwähnten Inseln, denn «Poro mosiri» oder «Poro- moschiri» heisst in der Aino-Sprache «grosse Insel» ®), und «samatsch» soll in der itälmenischen Sprache «Insel» bedeuten®). Uebrigens hatten sich die Itälmenen der Insel Schumschu und der Südspitze nicht unvermischt den Aino der ferneren Inseln gegenüber erhalten: seit langen Jahren waren sie in Ehebündnisse mit den letzteren getreten, und da sie zwischen dem Festlande und der nächsten Insel hin und her zogen, und andererseits auch Aino — die, wie Steller sagt, ebenso zur See umherschweifen, wie die Tataren zu Lande — wiederholentlich nach Kamtschatka kamen, so hatte sich im ganzen Süden der Halbinsel ein Mischvolk aus Itälmenen und Aino gebildet, welches von den nördlicher wohnenden Kamtschadalen im Aeussern wie in der Sprache manche Differenzen zeigte°). Kein Wunder daher, wenn die Russen anfänglich die Bewohner des südlichen Kamtschatka für dasselbe Volk mit den Bewohnern der Inseln, den Aino, hielten und sie auch wie diese mit dem Namen Kurilen bezeichneten‘). Und dieselbe Bezeichnung, in adjectivischer Form, übertrugen sie auch auf manche Localitäten in Südkamtschatka, wie die Namen Kurilskoje 4) Steller, Beschr. von dem Lande Kamtschatka, p. 7, | Müller (l. c. p. 18) lässt die Kurilen auf Kamtschatka 23, 24; Kpamenununnkos», Onucanie 3emau Kamyarku (Hoss. coöp. yuen. nyrem. C. IIerepo. 1818, T. I, erp. 145, 146). 2) Steller, 1. c. p. 7,30; RpamenuunukoB%, Tan ‚re, T. I, crp. 143; T. II, crp. 2, A. 3) Nicht einfach «Inseb, wie Steller (l. e. p. 7) den Namen «Buru muschi» und das, wie er meint, von den Russen daraus gemachte «Paramusir» erklärte. 4) Steller, l. c. p. 6. Daher nennen auch die Be- wohner der Südspitze Kamtschatka’s diejenigen der Inseln «Sumtschuai», d. h. Insulaner (Steller, 1. c.p. 7). 5) Steller, I. c. p. 7, 23; Kpamennnununkos”p, Tamb se, T. I, erp. 143; T. I, cıp. 4. 6) Daher der Widerspruch zwischen den früheren An- gaben Müller’s, in seinem Artikel «Geographie und Verfassung von Kamtschatka aus verschiedenen schriftl. und münd]l. Nachrichten gesammlet zu Jakuzk, 1737» (im Anhange zu Steller’s Beschreibung von Kamtschatka) und denjenigen Steller’s und Krascheninnikof’s. an der Ostküste bis nach Awalscha und an der Westküste bis zum Flusse Kompakowa wohnen; er spricht von Bolscherezkischen Kurilen (p. 21); er hält die Bewohner von Schumschu, die er übrigens auch von Norden kom- men lässt, für ganz ebensolche Kurilen wie diejenigen von Poromuschir (p. 45) u. s. w. Krascheninnikof giebt zwar für die Kurilischen Inseln südlich von Onekotan Müller’s Nachrichten in getreuer Uebersetzung wieder, für die nördlicheren aber wie für Südkamtschatka igno- rirt er sie vollständig, da er hier seinen eigenen Erfah- rungen und Erkundigungen, so wie denjenigen Steller’s folgen konnte. Später (Samml. Russ. Gesch. Bd. III, 1758, p- 79) trat auch Müller den Angaben Steller’s und Krascheninnikof’s bei und erklärte, dass es nur «ge- meiner Gebrauch» bei den Russen auf Kamtschatka sei, die Bewohner der ersten Insel und des Festlandes südlich von Bolscherezk Kurilen zu nennen, während es doch nur Kamtschadalen mit dialektisch verschiedener Sprache seien, 128 Die Völker des Amur-Landes. osero, Kurilskij Ostrog, auf einer Insel im genannten See gelegen, Kurilskaja Lopatka u. dgl. m. beweisen. Was nun die Entstehung des Namens «Kurilen» für die Aino der südwärts von Kamtschatka gelegenen Inselkette betrifft, so ist es bei den russischen Autoren seit Golownin, ich möchte fast sagen, Brauch geworden, den Namen des Volkes von dem der Inseln, diesen aber von ihren rauchenden Vulkanen (kypamiaca conkm) abzuleiten!). Schon Steller wies aber darauf hin, dass die bei den Russen gebräuchliche Bezeichnung Kurilen für die Bewohner der gleichnami- gen Inseln mit dem Namen zusammenhängt, den die Itälmenen, von Bolschaja reka bis Lopatka, diesem Volke geben und der «Kuschi» oder «Kusi» lautet). Fälschlich leitete er aber selbst diesen letzteren Namen von einer besonderen, bei diesem Volke üblichen Art zu tanzen ab, so dass «Kuschi» so viel wie «Tanzende» oder «Springende» bedeuten sollte °). Bei ihren Nachbaren auf Sachalin, den Giljaken, haben die Aino einen ganz ähnlich lautenden Namen, «Kughi» *), der auch unter den Giljaken des Festlandes allgemein im Gebrauch ist’). Ohne Zweifel haben alle diese Namen denselben Ursprung, indem sie sämmtlich, wie Klaproth es von dem Namen Kurilen angiebt, aus dem Worte «kur» oder «kur», das in der Aino-Sprache «Mensch» bedeutet, entstanden sind®). Auch wurden die Kurilischen Inseln, wie der Japaner Arai Tsikugo schon im Jahre 1720 unter anderen schätzbaren Nachrichten über dieselben bemerkt, von den Aino unter dem Gesammtnamen «K uru-misi» (d.h. Menschen-Land) zusammengefasst”). Hier liegt also die einfache Erklärung jenes Namens für Volk und Land. 4) Toxosauma, 3am. 0 HPUK.AIOY. eTO BB mabay y }luonuesBp, 36 1811, 1812 u 1813 r. U. III, C. Herepöypr» 1816, erp. 158; A. Cruönes», Byurp Beupesckaro Bb Kanu. »6 1771 r. (Pyccr. Crapıuma, 1876, Mapr», crp. 534). Polonskij (RKypması.—3aı. Teorp. Oöm. Ho OrA. Iraorp. T. IV, 1871, ctp. 369) malte es noch weiter aus, indem er meinte, dass der von den rauchenden Vulkanen entlehnte Name sich um so mehr erhalten musste, als diese Inseln dem nahenden Schiffer aus dem Nebel, in welchen sie fast beständig gehüllt sind, wie aus diekem Rauche auftauchen und dabei selbst wie rauchend erscheinen. Auch inBick- more’s Artikel über die Aino (Amer. Journ. of Science, May, 1868, p. 18) wird diese Ableitung des Namens Ku- rilen wiederholt. Als Curiosität möchte ich Tronson’s Angabe anführen, dass der Name Kurilen für die Inseln von einem im Süden Kamtschatka’s gelegenen gleich- namigen See (Kurilskoje osero) herrühre, dessen An- wohner höchst wahrscheinlich nach den Inseln ausgewan- dert seien (Tronson, Pers. Narral. of a Voyage to Japan, Kamitsch., Siberia, Tartary etc. in H. M. S. Barracouta, London 1859, p. 158). 2) Steller, l. c. p. 6, 7, 30. 3) Steller, l. c. p. 248, Anm. a. 4) Ich schreibe gh, wenn das g stark guttural lautet, zwischen g und ch. 5) Middendorff hörte von den Giljaken am Tugur- Busen die Kurilen «Kuwi» nennen (s. dessen Reiseber., im Bull. de la cl. phys.-math. de 1’Acad. Imp. des sc. T. IV, p. 233, 235; desgl. Beitr. zur Kenntn. des Russ. Reiches, Bd. IX, 2. Abthl., p. 615, 618). 6)Klaproth, Asia polyglotta, p. 300. Im San kokf tsou ran to sets (p. 183, 184) heisst es, «kur» bedeute «Stamm, Tribus». 7) Arai Tsikugo, Jeso-ki, ou Deser. de Jesso, 1. c. p-. 192, 207, 211. Vrgl. auch Klaproth’s Zusätze zum San kokf tsou ran to sets, pag. 191, 193, 194 — nach derselben japanischen Quelle. Im Jeso-ki (pag. 211) berichtet der japanische Autor, dass nach Erzählung der Bewohner von Oku-Jesso (Sachalin-Aino) im Meere ostwärts zwei Inseln liegen mit Namen «Guru- mise», und knüpft daran die seltsame Vermuthung, dass diese Angabe sich auf Grönland beziehen könne, von dem er durch die Holländer gehört habe. Die Redaction der «Annales» macht ihrerseits die Bemerkung, dass «Guru- mise» wahrscheinlich die Inseln «Goliai» im Norden Sacha- lin’s seien. Offenbar meinte sie unter Goliai die Insel Gi- liat, von der Witsen nach alten russischen Berichten er- zählte (s. oben p. 120). Beiden ist aber entgangen, was doch Be ic Aino. Bezeichnung derselben bei den Giljaken und Mandshu-Chinesen. 129 Der bei den Giljaken übliche Name für die Aino ist auch zu den Mandshu und Chi- nesen gedrungen. So nennt ITakinf nach einer chinesischen Topographie die drei auf Sachalin wohnhaften Völker «Fjakä, Eluntschun und Kuä», welche letzteren ohne Zweifel die Aino sind‘). Ebenso zählt der Archimandrit Palladij unter den Völkern der Provinz Girin, von denen nach chinesischen Angaben ehemals ein reicher Tribut an Zobelfellen für den Pekinger Hof erhoben wurde, auch die «Kuä» (Aino) auf?). Jetzt wird es uns auch erklärlich, wenn in der chinesischen Reichsgeographie?) unter den tributpflichtigen Völkerschaften des Distriktes Ssan- ssin unter anderen auch die «Lerkoje»*) oder, wie Pauthier®) schreibt, «Li-eurh-kou-y&» ge- nannt werden. Es sind.dies die Sachalin-Aino. Denn «Laer, Laerch» oder «Laer-mif» ist der gilja- kische Name für Sachalin ®), und «Koje» oder «Ku-ye» muss nach dem Obigen auf die Aino bezogen werden. «Laer-kughi» würde daher die genaue giljakische Bezeichnung für die Sachalin-Aino lauten, was mit den obigen Namen in der chinesischen Reichsgeographie nahe übereinstimmt ?). Gleichwie also die Aino und Japaner die Bezeichnung S’janta für die Golde (und Oltscha) den Giljaken entlehnt haben, so verdanken demselben Volke auch die Mandshu und Chinesen ihren Namen für die Aino. Mit den Handelswaaren, welche die Giljaken, wie wir später sehen werden, zwischen den Aino und Japanern und den Mandshu-Chinesen hin und her tragen, haben sie bei denselben auch jene Völkernamen vermittelt. Um die Reihe der oben gelegentlich besprochenen Namen der Insel Sachalin abzuschliessen, mag hier im Vorübergehen noch der, wie mir scheint, leicht erklärlichen Etymologie des zuletzt erwähnten, giljakischen Namens dieser Insel gedacht sein. «Laer-mif» ist, glaube ich, aus «La-erri- mif» entstanden, was, da «La» der giljakische Name für den Amur ist, «erri» aber Strom, Fluss und «mif» Land, Erde bedeutet, so viel wie «Amur-Strom-Land» besagt°). Es hätte demnach der gilja- kische Name für Sachalin dieselbe Bedeutung, welche, den Jesuiten-Missionären zufolge, jene vom Kaiser Kang-hi zur Erforschung dieser Insel abgesandten Mandshu durch die Bezeichnung nahe genug lag, dass Guru-misi dasselbe was «Kuru-misi» und also Kurilische Inseln sind. Die Japaner nennen die zwischen Jesso und «Kamsikattka oder Kamsaska» gelege- nen 37 Inseln «Tsi sima», d.h. die tausend Inseln (Rinsifee, San kokf ete. p. 193, 195). 1) Iakun®», Crarucruy. Onuc. Kuraüick. Hmm. 4. II, erp. 30, Hpmwku. Fälschlich sind aber daselbst die Kuä als Bewohner des mittleren, die Eluntschun (Oroken) als diejenigen des südlichen Theiles der Insel angegeben, während es umgekehrt lauten sollte. 2) Apx. Haraariü, Aopomm. sam. ua nyru orp Ie- xıma 40 Baarorbım., vpe3p Manyp;rypiro, 86 1870 r. (3arı. Pycex. Teorp. Oöm. IIo oöm. Teorp. T. IV, 1871, crp. 399). 3) Tai Tsing hoei tien, Bd. XI; s. Ritter, Erdkunde von Asien, Bd. III, p. 444. 4) Ritter fügt in Klammern hinzu: «Koje der Kartem». 5) Chine moderne, ou descr. hist,, geogr, et litter. de Schrenck’s Amur-Reise, Band III. ce vaste empire, Paris 1853, 1. partie, p. 168. 6) Den Namen «Laer» für Sachalin hörte auch Midden- dorff bei den Giljaken am Ochotskischen Meere (s. dessen Reisebericht, im Bullet. de la cl. physico-math. de V’-Acad. Imp. des sc. T. IV, p. 233; desgl. Beitr. zur Kennt- niss des Russ. Reichs, Bd. IX, 2. Abthl. p. 615). 7) Sollte nicht vielleicht auch der Name «Huye», den nach Du Halde (Descr. de ’Emp. de la Chine, T. IV, p- 13) einige Personen in Peking der Insel Sachalin haben beilegen wollen, und von welchem die zur Untersuchung derselben abgesandten Mandshu meinten, dass er weder den Eingeborenen des Festlandes, noch denjenigen der Insel bekannt sei, nur eine Entstellung des Wortes Kughi oder Kuä, also der Bezeichnung für ein Volk dieser Insel sein? 8) Das Amur -Land selbst heisst bei den Giljaken «La-mif», 17 130 Die Völker des Amur-Landes. «Saghalian anga hata» haben ausdrücken wollen, wenn auch dieser Ausdruck, nach Klaproth, nicht ganz correkt ist!). Unwillkürlich drängt sich daher der Gedanke auf, ob ihnen nicht der giljakische Name der Insel in der Form «La-erri-mif» verdollmetscht worden ist. Fasst man alles vorstehend über die Aino Gesagte zusammen, so lässt sich der Schluss ziehen, dass sie in historischer Zeit aus dem südlichen Theile ihres ursprünglichen Wohngebietes, aus Nippon, durch die Japaner verdrängt worden sind und sich hingegen weiter nach Norden gezogen haben. Die grosse, gebirgige, im Mittelpunkt ihres Verbreitungsgebietes gelegene Insel Jesso scheint das Aino-Land insonderheit zu sein, das sie bis zur Ankunft der Japaner allein inne hatten und das bei ihnen auch nur schlechtweg Aino-Insel (Aino-mosiri, Ainso) hiess. Südsachalin und die nächsten Kurilen, Kunaschir, Iturup, mögen sie von dort aus schon in ältester Zeit eingenommen haben; zur weiteren Verbreitung nach beiden Richtungen, nord- und nordostwärts, drängten sie aber gewiss auch die von Nippon nach Jesso und weiter vordringen- den Japaner. Auf Sachalin scheint dabei die Ausbreitung der Aino ruhiger und langsamer vor sich gegangen zu sein als auf den Kurilischen Inseln, wo die spärlichere Natur sie zum Thierfang auf grösserem Raume, zum beständigen Leben in See und Umherschweifen auf den Inseln nöthigte, wodurch sie jedoch eine grössere Seetüchtigkeit und damit zugleich auch eine grössere Befähigung zur weiteren Ausbreitung gewannen. Von dem dritten Volke der Insel Sachalin, den Oroken, sind die historischen Nachrichten äusserst spärlich. Die erste Kunde von ihnen erhielt man, wenn auch ohne dass ihr Name ge- nannt wurde, durch die bald nach 1709 vom Kaiser Kang-hi nach Sachalin abgesandte Expe- dition. Die zurückgekehrten Mandshu berichteten, dass es dort zwar keine Pferde gäbe, dass aber die Insulaner an verschiedenen Orten eine Art zahmer Hirsche hielten, die sie zum Ziehen der Schlitten gebrauchten?). Dies passt nur auf die rennthierhaltenden Oroken. Erst zu Ende des XVIH. und Anfang des XIX. Jahrhunderts lernten sie die japanischen Reisenden Mo- gamı Tok’nai und Mamia Rinsö näher kennen. Sie nennen sie «Orotsko» und die von ihnen bewohnte Landschaft «Orikata». Auf der von dem Ersteren entworfenen Karte von Sachalin ?) bezeichnet eine punktirte Linie den Umfang dieser Landschaft. Die Linie beginnt am Golfe der Geduld, ungefähr übereinstimmend mit der Angabe in Mamia Rinsö’s Reisebeschreibung, wo es heisst, bei Si und Taraika fange das Land der Orotsko an‘), und läuft in einem Bogen, das Flusssystem des Poro-nai oder Ty umfassend, wieder zur Ostküste zurück, wo sie etwas nördlich vom Cap Delisle de laCroyere und noch südlich vom Tymy-Flusse endigt. Nur in ihrem südlichen Theile entspricht diese Grenzlinie ihrem jetzigen Verlaufe, und auch nur dort kann sie 1) S. oben p. 121, Anm. 1. 3) Siebold, Nippon, VII, Tab. XXV: die «Mogami 2) Du Halde, Descr. de l’Emp. de la Chine, T. IV, | Tok’nai 1786» überschriebene Karte. Paris 1735, p. 13. 4) Tö-tats ki ko (Siebold, Nippon, VII, p. 189). Oroken. Japanische und chinesische Nachrichten über dieselben. 131 von den Japanern nach eigener Beobachtung angegeben sein. Mogami Tok’nai bereiste nämlich die Ostküste Sachalin’s bis zum Golfe der Geduld und durchschnitt auf seiner Fahrt von dort längs dem Poro-nai nach Otsisi an der Westküste auch den südlichen Theil des Oroken- Gebietes'). Er fand diese Gegend damals, in den 80-°r Jahren des vorigen Jahrhunderts, nur wenig bewohnt, genau wie es noch heute der Fall ist, da es ein Passage-Land für Giljaken und Oroken ist, in welchem höchstens nur einzelne, zeitweise besetzte Jurten der letzteren zu - finden sind ?). Im Westen und Norden entspricht die von den Japanern angegebene Begrenzung des Oroken-Gebietes der gegenwärtigen gar nicht, denn sie schliesst nicht bloss das ganze Tymy-Thal, durch welches ihre alljährlichen Wanderungen gehen, sondern auch ihre viel weiter im Norden, an der Küste um Käkr-wo gelegenen Hauptsitze aus demselben aus; ja, sie nimmt an der Meeresküste nördlich vom Cap der Geduld für die Oroken nur den Theil in Anspruch, der gegenwärtig, wie oben nachgewiesen, so gut wie ganz unbewohnt ist. Daraus darf man jedoch nicht schliessen, dass sich die Oroken seitdem um soviel weiter nach Norden und Westen ausgebreitet haben; vielmehr lässt sich die erwähnte Differenz dem Umstande zuschreiben, dass der nördlich vom Golfe der Geduld und vom Poro-nai gelegene Theil Ostsachalin’s weder von den genannten, noch von früheren japanischen Reisenden jemals besucht worden ist und jene Angaben daher nur auf Nachrichten beruhten, die man von den Eingeborenen hie und da einzog und die in dem betreffenden Falle um so weniger ein genaues und zuverlässiges Re- sultat ergeben konnten, als es sich um ein zum grossen Theil wanderndes Volk handelte. Sind uns doch auch heutzutage die Grenzen ihres Wohn- und Wandergebietes nur ihren allerersten Hauptzügen nach bekannt! Von anderer als japanischer Seite giebt es über die Oroken so gut wie gar keine histori- schen Nachrichten. Russischerseits wusste man von diesem Volke bis zu meiner Reise gar nichts. Zwar hatten verschiedene Mitglieder der sogen. Amur-Expedition, Boschnjak, Orlof, Ruda- nofskij, sie schon vor mir kennen gelernt, allein ihre Berichte erschienen im Druck erst nach meinen brieflichen Mittheilungen an die Akademie. Seitens der Mandshu und Chinesen waren sie nur dem Namen nach bekannt. So werden sie in der chinesischen Reichsgeographie®) in der Zahl der zum Distrikt Ssan-ssin gehörigen tributpflichtigen Völker aufgeführt, unter dem man- dshurischen Namen «Oru.ntschun» oder, in verdorbener chinesischer Lesart, «Golun-tschun» ®). Iakinf nennt sie ebenfalls nach chinesischen Quellen «Eluntschun» und räumt ihnen, unter den drei auf Sachalin wohnhaften Völkern, fälschlich den südlichen Theil der Insel ein°). Ganz neuerdings endlich führte sie Palladij, auf Grundlage mandshu-chinesischer Angaben, unter dem Namen «Orontscho» als eines der Völker an, welche vor Zeiten ihren Tribut an den Pekinger Hof in Zobelfellen nach Girin zu stellen hatten ®). 1) Siebold, Nippon, I, p. 128. Chine moderne, I. partie, p. 168. 2) S. oben p. 20. 5) Crarucr. Onue. Ruraiick. Unn. C. Herepoyprv 1842, 3) Tai Tsing hoei tien, 1818, Bd. XI; s. Ritter, Asien, | U. II, erp. 30, Hpuntbu. Bd. III, p. 444. 6) Aoposun. sam. na nyra 07% Iernua ao Baarorbın. 4) In derselben Reichsgeographie nach Pauthier, | (3an. Pycex. DTeorp. O6. Wo oöm. Teorp. T. IV, 1871, rl 132 Die Völker des Amur-Landes. Von japanischer wie von mandshu-chinesischer Seite werden also die Oroken mit dem- selben, hier und dort nur etwas abgeänderten Namen bezeichnet. Ganz ähnlich lauten auch die Namen, die sie bei ihren nächsten Nachbaren, den Aino und Giljaken haben; denn von jenen werden sie «Orochko» genannt'), und von den Giljaken habe ich sie an der Westküste Sacha- lin’s «Orongta» und im Tymy-Thale, wo ich selbst wiederholentlich mit ihnen zusammenträf, «Orokö» nennen hören). Denselben Namen, mit unbedeutender Abänderung, tragen aber be- kanntlich auch einige tungusische Völker des Festlandes: so namentlich die Orotschen an der Küste des Nordjapanischen Meeres und die Orotschonen am oberen Amur; ja auch der Name Oltscha ist, bei der unter den Tungusen häufigen Verwechselung des r und/, ebenfalls nur als gleichlautend mit Ortscha oder Or(o)tscha zu betrachten. Auch werden die Oltscha von ihren Nachbaren, den Giljaken «Orongr» und «Orongsch» genannt?). Die Etymologie aller dieser nahe gleichlautenden Namen liegt auf der Hand und ist hin- sichtlich eines derselben (der Orotschonen) auch schon von verschiedenen Seiten angedeutet worden ®). «Oro» oder «oron» heisst nämlich bei den tungusischen Völkern des Amur-Landes°) crp. 399). Palladij fügt zwar zur Erklärung jenes Namens in Klammern «Orotschonen» hinzu, allein sofern dar- unter dasVolk dieses Namens vom oberen Amur verstan- den sein soll, ist die Erklärung falsch, denn dieses Voik gehörte zu der Provinz Helong-kiang oder dem oberen Amur-Lande. In der Provinz Girin oder dem unteren Amur-Lande giebt es an ähnlichen Namen nur die Oro- tschen der Meeresküste und die Oroken von Sachalin; jener wird aber in der Aufzählung besonders unter dem Namen Kjakala erwähnt, und so bleiben für die Oron- tscho nur die letzteren übrig. 1) Bpsıakunp, Oncpma c» Caxaaıma (3au. Cu6. OrA. Pycexr. Teorp. O6. Ku. VII, 1864, erp. 21). 2) Nur bei den Amur-Giljaken habe ich für die Oroken auch den Namen «Tosong» gehört, den ich mir aber nicht zu erklären vermag. Sollte er nicht Trosong lauten und mit Tro, der giljakischen Bezeich- nung für einen Theil von Sachalin, von der später die Rede sein wird, zusammenhängen ? 3) Dass die Oroken auf der oben besprochenen ethno- graphischen Karte des Asiatischen Russlands von Wenju- kof, wie in dem Werke, dem sie beigegeben (Onzıte Bo- euuaro 0003p. pycck. rpaunmusı 36 Asiu, C. Herepo. 1873, erp. 58) unter dem Namen «Orokapen» (Opoxausı) aufgeführt sind, ist oben schon erwähnt worden. Von früher erschienenen Werken bin ich auf diesen Namen nur noch in einem im Pariser «Bulletin de la Societe geo- graphique» (VI-e Ser. T. IV, Ann. 1872, Juillet— Decembre, p. 172) aus dem «Alaska Herald» mitgetheilten Auszuge gestossen. Dieser zeichnet sich aber dadurch aus, dass er die Namen der drei Völker Sachalin’s in einer Form wie- dergiebt, welche sie kaum erkennen lässt: er wiederholt nämlich im Französischen genau die Schreibart, die der Verfasser des englischen Alaska Herald-Artikels wählen zu müssen glaubte, um die russischen Bezeichnungen dieser Völker getreu wiederzugeben. «Les indigenes (de l’ile de Sakhaline), heisst es im Bull. de la Soc. geogr., forment trois races: les Heelyakee, les Orokappee et les Oyeene» (nach den russischen Bezeichnungen: Gi- ljaki, Orokapy(?) und Ainy). Kein Wunder daher, wenn Hellwald (Das Volk der Ainos. — Ausland, 1873, p. 913) in dieser Angabe keines der drei Völker erkannte, indem er in Bezug auf dieselbe sagt: «der Aino geschieht also keine Erwähnung, und es wird auch nicht gesagt, ob diese Namen etwa Aino-Stämme bezeichnen, was nicht wahrscheinlich ist». Was nun aber den seltsam entstellten Namen «Orokapy» bei Wenjukof und in den erwähnten nichtrussischen Artikeln betrifft, so möchte ich noch Fol- gendes bemerken. In Tichmenjef’sGeschichte der russ.- amerikan. Handelscompanie (Her. 0603p. 06pa3. poce.- amep. Koun. 9. U, crp. 117) wird nämlich dieses Volk nach den ersten Berichten, welche die Companie von einigen ihrer nach Sachalin geschickten Beamten erhielt, unter dem Namen «Orokaty» oder «Orngory» ange- führt, in denen man leicht die oben besprochenen Japa nischen, resp. giljakischen Bezeichnungen «Orolsko, Orikata» und «Orongrv» erkennt. Aus «Orokaty» konnte nun bei flüchtiger Wiedergabe leicht auch «Orokapy» entstehen. 4) Schon von Gerbillon (s. Du Halde, Descript. de V’Emp. de la Chine, T. IV, Paris, 1735, p. 37); später von Klaproth (Orig. de lanat. des Mandchoux, in den Mem. relat. a l’Asie, T. I, Paris 1824, p. 453; Asia polygl., p. 289) u. A. 5) S. dieses Werkes Bd. I, p. 167. Oroken. Ursprung des Namens. 133 wie auch bei denen Sibirien’s!), das Rennthier, namentlich das zahme, und jene Namen bedeuten daher sämmtlich nur so viel wie «Rennthiervolk» oder «Rennthierhalter». Zwar ist diese Bezeichnung gegenwärtig nur auf zwei der Amur-Völker anwendbar, auf die Orotschonen im äussersten Westen des Amur-Landes und auf die Oroken im äussersten Osten desselben, allein, dass sie sich auch bei einigen anderen erhalten, dient zum Beweise, dass diese Stämme ehemals auch Rennthiernomaden gewesen und erst nach dem Verlust ihrer Rennthiere durch Ansiedelung am Amur und an der Meeresküste zu Fischervölkern geworden sind). Von welcher Seite ist aber diesen Völkern der Name «Rennthierhalter» zuerst gegeben worden? Denn dass sie sich selbst nach einem ihnen wenn auch noch so wichtigen Hausthiere genannt haben sollten, ist nicht wohl denkbar. Klaproth sagt ausdrücklich, dass die Mandshu mit dem allgemeinen Namen «Orotschon» alle übrigen Tungusen belegen®). Für den mandshurischen Ursprung dieses Namens spricht in der That der Umstand, dass er nur unter den Tungusen des Amur- Landes vorkommt und den Russen nicht eher bekannt wird, als bis sie einen rennthierhaltenden tungusischen Stamm kennen lernen, der unter mandshurischer Herrschaft stand, die jetzigen Orotschonen des oberen Amur-Landes, was verhältnissmässig spät geschah ®). Dass dieses letztere, den Mandshu nahe genug wohnende, ihnen bis vor Kurzem tributpflichtige und noch heutzutage Rennthiere haltende Volk einen allgemein üblich gewordenen mandshuri- schen Namen erhielt, ist leicht verständlich. Schwieriger gestaltet sich die Frage hinsichtlich der Völker des unteren Amur-Landes, der Oltscha und Orotschen, für welche die Mandshu heutzutage andere Bezeichnungen haben, sowie hinsichtlich der Oroken von Sachalin, welche sie, wie oben erwähnt, erst in verhältnissmässig sehr später Zeit, im ersten Viertel des vorigen Jahr- hunderts kennen lernten. Lassen wir zunächst die Orotschen, von denen später besonders die Rede sein wird, bei Seite und behalten wir jetzt nur die Oltscha und Oroken im Auge, so ist doch nicht anzunehmen, dass die Giljaken die bei ihnen für diese ihre nächsten Nachbaren üblichen Namen von den Mandshu entlehnt hätten? Noch weniger wahrscheinlich wäre anderer- seits die Annahme, dass sie selbständig zu derselben Bezeichnung für diese Völker gekommen wären, welche die Mandshu den Orotschonen geben, zumal dieselbe auch ihrer Etymologie nach nicht giljakischen, sondern tungusischen Ursprungs ist. Nach alledem glaube ich die einzige 4) A. Schiefner, Alex. Castren’s Grundzüge einer | Fischer und Jäger niedergelassen haben (Bpaure.as, IIy- tungus. Sprachlehre, nebst kurz. Wörterverzeichniss, St. | reım. no Cuö. u ‚Ieaos. mop1o, C. Herepöypr» 1841, 4. I, Petersburg 1856, p. 76, 109, 130. erp. 7, 26, 138, 175). 2) Derartige Wandlungen im Leben der Völker sind 3) Asia polygl., p:289. Fürst Kostrof (Ouepku Typy- aus der Geschichte Sibirien’s in Menge bekannt. So be- | xauck. xpas.— 3aı. Cu6. OrA. Pycer. Teorp. O6. Ku. IV, steht, um nur einige Beispiele namhaft zu machen, nach | 1857, erp. 81) gab neuerdings an, dass dieMongolen die Wrangell und Matjuschkin die jetzige, allerdings | Tungusen «Orotschonen» oder «Orontschonen» nicht zahlreiche Bevölkerung am grossen und kleinen | nennen; allein nach Klaproth (l. c.) ist ihr Name bei den Anui aus Tungusen, Lamuten (Küsten-Tungusen), Mongolen «Cham-nojon». Jedenfalls ist die Bezeich- Jukagiren und Tschuwanzen, die sämmtlich früher | nung Orotschon nicht mongolischen Ursprungs. Rennthiernomaden gewesen sind, aber ihre Rennthiere 4) Wir werden darauf weiler unten noch zurück- zu verschiedenen Zeiten durch Seuchen oder Wölfe | kommen. eingebüsst und sich darauf an den genannten Flüssen als 134 Die Völker des Amur-Landes. Lösung dieser Frage in der Annahme zu finden, dass diese Völker die ihnen noch zur Zeit, da sie fern von ihren jetzigen Wohnsitzen als Rennthiernomaden im Gebirge lebten, von den Mandshu oder deren Vorfahren ertheilte Bezeichnung acceptirten, oder doch wenigstens Fremden gegenüber sich zu eigen machten, so dass sie auch unter ihren späteren Nachbaren, den Giljaken, natürlich in etwas veränderter Gestalt, üblich wurde. In der That gaben mir die Oltscha auf wiederholte Nachfragen an, dass sie sich selbst mit diesem Namen bezeichne- ten), den ich übrigens auch zuerst von ihnen selbst hörte, da die Russen für sie eine andere, später zu besprechende Bezeichnung (Mangunen) haben. Glehn?) nennt auch die Oroken von Sachalin schlechtweg Oltscha, freilich ohne dabei zu erwähnen, dass dies der Name sei, den sie sich selbst beilegen. Da er aber nichts davon zu wissen scheint, dass auch die Mangu- nen (Oltscha) am Amur sich so nennen, und für diese vielmehr gelegentlich den eben er- wähnten, russischerseits üblichen Namen gebraucht), so wird er jene Bezeichnung Oltscha wohl selbst unter den Oroken gehört haben. Und dies kommt mir um so wahrscheinlicher vor, als die Oroken, wie oben schon angedeutet‘) und wie auch ihre Sprache und ihr ge- sammter Habitus darthun, an den Oltscha ihre nächsten Verwandten haben, ja, wohl nur ein, vielleicht nicht einmal vor sehr langer Zeit, auf dem oben bezeichneten Wege vom Festlande nach der Insel hinübergewanderter Stamm der letzteren sind’). Gleich den Giljaken, gäbe es daher auch Amur- und Sachalin-Oltscha. Da jedoch die beiden Stämme, der auf dem Fest- _ 4) Er lautete in der Regel zwischen ÖOltseha und | Unterthanen erklären zu dürfen. So wurde sie weiter und Oltza, so dass ich, diesem Mittellaute Rechnung tragend, | weiter gesponnen; man glaubte sie bald aus den eigenen Angaben der Oroken herauszulesen, ja man meinte aus denselben sogar den Zeitpunkt entnehmen zu können, wann ihre Uebersiedelung stattgefunden habe. Doch lauten die darauf bezüglichen Behauptungen so verschieden, dass man aus ihnen deutlich ersieht, wie ein Jeder die Angabe erhielt, die er selbst als richtig voraussetzte; denn bald sollte es zu Anfang, bald zu Ende des XVI., bald zu An- fang und bald um die Mitte des XVII. Jahrhunderts ge- schehen sein, je nach dem, wie man sich den Zeitpunkt der Eroberung des Lena- und Udj-Gebietes durch die Russen dachte. Ja, man verstieg sich so weit, dieOroken von Sachalin sogar für ein Mischvolk zwischen Russen und Tungusen zu erklären, und zwar auf Grund sowohl ihres Aeusseren, als auch wiederum ihrer eigenen Aus- sagen (l. c. p. 305, 306). Um endlich dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hiess es endlich, dass die schon aus einer Mischung von Russen und Tungusen entstandenen Oro- ken auf Sachalin sich noch mit den Aino vermischt (p- 306) und bis an die Südspitze der Insel verbreitet hätten. In solchen und ähnlichen oben schon erwähnten Scheingründen (s. p. 74, Anm. 1) suchte Newelskoi die Berechtigung zu seinem mit den Wünschen der damaligen Regierung nicht übereinstimmenden, aber jedenfalls küh- nen, energischen und verdienstvollen Vorgehen im Amur- Lande und auf Sachalin. den Namen eigentlich Öltscha schreiben müsste, was nur der Kürze wegen nicht geschieht. 2) Reiseber. von der Insel Sachalin (Beitr. zur Kenntn. des Russ. Reichs, herausg. von Baer und Helmersen, Bd. XXV, p. 196 u. a.). 3) L. c. p. 197. . 4) S. oben p. 20. 5) Nach Schmidt (Historisch.Bericht etc. — Beitr. zur Kenntn, des Russ. Reichs, Bd. XXV, p. 121) geben sie auch selbst an, mit den Oltscha zu einem und demselben Stamme zu gehören. Ganz falsch und nur tendenziös ist die von Newelskoi in seinem posthumen Werke (Hoasurn Pyeccx. MOpckux® oPH. ya kpaüu. socr. Pocciu) unzählige Male (so p. 151—153, 256, 275, 293, 295, 299, 302, 305 u.a.) und in den verschiedensten Versionen wiederholte Be- hauptung, dass die Oroken von Sachalin Nachkommen von Tungusen des Udskoi-Gebietes seien. Veranlassung zu dieser Ansicht mag zunächstder Umstand gegebenhaben, dass sie sich, gleich den letzteren, der Rennthiere bedienen, was bei keinem der übrigen Völker Sachalin’s oder des unteren Amur-Landes der Fall ist. Sie passte aber ferner auch zu den annexionslustigen Absichten des Chefs der Amur - Expedition. Auf Grund derselben glaubte er die Oroken, als Emigrirte eines (wenn auch erst später) von den Russen in Besitz genommenen Landes, für russische Oroken. Abzweigung von den Oltscha. — Orotschen. Im Süden Ta-dse genannt. 135 lande verbliebene und der nach der Insel fortgezogene, seit der Trennung in ihrer Lebensweise völlig auseinandergegangen sind und zu den übrigen Differenzen, wie es nicht anders sein kann, gewiss auch sprachliche in vielleicht nicht geringerem Grade als zwischen manchen anderen tungusischen Völkern des Amur-Landes sich eingestellt haben, so bleiben wir dabei, die Sachalin- Oltscha als besonderes Volk mit dem Namen Oroken zu bezeichnen. Ist nun «Oltscha» der Name, den sich die Mangunen am Amur geben, und lautet ebenso auch derjenige, den sich die Oroken auf Sachalin beilegen, so ist die Entstehung der giljakischen Bezeichnungen Orongr oder Orongsch für jene und Orongta oder Oroko für diese leicht erklärlich. Von den Giljaken, die zuerst mit den nach Sachalin hinübergewanderten Oroken in Berüh- rung traten, entnahmen dann auch ihre Nachbaren, die Aino, ihren ganz ähnlich lautenden Namen Orochko für dieses Volk, und den Aino verdanken wiederum die Japaner ihre Bezeichnung Orotsko für diese Rennthiernomaden. So glauben wir die seltsame Thatsache erklären zu können, dass den Oroken von weit entlegenen und ganz verschiedensprachigen Völkern, mit nur unerheblichen Modifikationen, eine und dieselbe Benennung ertheilt wird. Sehr anders als mit den Oltscha und Oroken verhält es sich, glaube ich, trotz des nahe gleichlautenden Namens, mit den Orotschen des continentalen Küstengebietes, sowohl was den Gang ihrer allmählichen Ausbreitung, als auch was die Entstehung der für sie jetzt üblich ge- wordenen Bezeichnung betrifft. Bei ihrer weiten Meridianerstreckung, bis zu den Grenzen von Korea, bieten die Orotschen die Analogie mit den Aino, dass sie'im südlichen Theile ihres Verbreitungsgebietes, in Folge der Berührung mit einem Colturvolke Ostasiens, den Chinesen, weit früher bekannt werden als im Norden. Südlich vom 46. Breitengrade, wo sich ihnen Chinesen, je weiter nach Süden, mehr und mehr beimischen, tragen sie bei diesen den Namen «Ta-dse» (Ta-tse, Ta-tsche und Ta-dshe), den gegenwärtig auch die Russen für sie ange- nommen haben!). «Ta-dshe» ist aber nach Klaproth?) nur aus «Ta-ta» entstanden, einer Be- zeichnung, welche die Chinesen ursprünglich (vom IX. Jahrhundert an) den im Nordwesten von ihnen wohnenden mongolischen Völkern gaben, die jedoch später zu einem Colleetivnamen wurde und auch auf die tungusischen Völker oder, wie Ritter sich ausdrückt, auf das Völkergemisch im Nordosten überging®). So heissen «Schui-tadshe», Wasser-Tataren, die Altvorderen der Mandshu bei den chinesischen Autoren, «Jupi-tatse», Fischhaut-Tataren, die in Fischhäute sich kleidenden Völker des unteren Amur-Landes, — vielleicht richtiger Fischhaut-Barbaren, da Ta-tse auch gleichbedeutend mit dem Chinesischen «Pe-ti», Barbar oder eigentlich Nordbarbar, sein soll®). In. nähere Berührung traten aber die Chinesen mit den von ihnen jetzt schlechtweg als Ta-dse bezeichneten Süd-Orotschen wohl erst seit Installirung in China der jetzt herrschenden 1) S. oben p. 23. 3) Vrgl. Ritter, Asien, Bd. I, p. 274 fl. 2) Asia polygl. p. 203. 4) Klaproth,. c. p. 260; Ritter, 1. c. p. 277. 136 Die Völker des Amur-Landes. Mandshu-Dynastie, die das Amur-Land ihrer bald frei-, bald unfreiwilligen Einwanderung und Ansiedelung öffnete. Die Jesuiten-Missionäre, die zu Anfang des XVII. Jahrhunderts auf Geheiss des Kaisers Kang-hi einen Theil des unteren Amur-Landes bereisten, wähnten die Meeresküste östlich vom Amur, welche sie selbst nicht besucht haben, von denselben Ketscheng (Golde und Oltscha) bewohnt, die sie am Amur kennen gelernt hatten!). Dem entspricht auch die Angabe in d’Anville’s Atlas?), dass an der Meeresküste gegenüber der Insel Sachalin das Volk Ketscheng wohne, — eine Angabe, welche sich noch auf viel späteren russischen Karten wiederholt ®). In der chinesischen Reichsgeographie der Tai-Tsing sind aber die Orotschen unter einem mandshu- rischen Namen, als «Kiyaklan»*) oder, mit stärkerer chinesischer Entstellung, als «Go-khe-1a»°) angeführt. Auch Palladij nennt, nach mandshu-chinesischen Quellen, unter den tributpflichtigen Völkern der Provinz Girin die «Kjakala» und bezieht diesen Namen auf die Ta-dse der Meeres- küste‘). Von den Golde am Ussuri wurde mir dieses Volk wiederholentlich mit dem gleich wiederzuerkennenden Namen «Käkar», einmal aber auch nur ganz allgemein und unbestimmt als «Lamuka» (Seebewohner) bezeichnet. Merkwürdig, dass jener Name für die Orotschen auch unter den Giljaken üblich ist. Schon Mamia Rinsö erfuhr während seines Aufenthaltes unter den Sachalin-Giljaken von einem Volke «Kiakkara», das auf dem gegenüberliegenden Fest- lande wohne”), und sah später, als er selbst das Festland betrat, in der Bai Taba Fahrzeuge der- selben, die von Weitem, wie er meinte, aus der Nähe von Körai (Korea) kamen®). Midden- dorff hörte bei den Giljaken am Ochotskischen Meere von einem Volke «Kjächkal», das am Amur und jenseits desselben wohne‘°). Ein in der Geographie des Amur-Landes für seine Mittel sehr gut bewanderter Giljake aus Yikyrn im Tymy-Thale, der viele Handelsreisen nach dem Festlande ausgeführt hatte und die Aino- und Oltscha-Sprache kannte, nannte mir, neben anderen, mir schon bekannten Völkern auf dem Continent, auch die «Käkab, die an der Meeres- küste von der Bai de Castries ab südwärts wohnen sollten. Oben ist auch schon mehrfach eines an der Ostküste Sachalin’s gelegenen, gegenwärtig von Giljaken und nebenbei von Oroken bewohnten Dorfes erwähnt worden, das nach jenem Volke den im Uebrigen giljakischen Namen «Käkr-wo»!°) trägt. Welchem Umstande es diesen Namen zu verdanken hat, darüber soll später # 4) Du Halde, Descrp. de l’Emp. de la Chine, T. IV, | T. VII, 1871, Ora. II, crp. 93, 123). pag. 12. 2) Nouy. Atlas de la Chine. Carte 1-e (1734) et 18-® 3) So namentlich auf der vom Kriegstopograph. Depot herausgegebenen Karte von Posnjakof: Tenepaasuan kapra Asiateroit Pocein, 1823 r. 4) Vrgl. Ritter, Asien, Bd. III, p. 444. 5) Pauthier, Chine moderne, I. partie, p. 168. 6) Apx. Harsaaaiir, Aoposn. sam. u np. (3an. Pycek. Veorp. 05m. Ho o6m. Teorp. T. IV, 1871, erp. 399); ero- ‚ze, Veeypiückie Mansussı (Hasberia Pycer, Teorp. O6m. 7) Tö-tats ki ko (Siebold, Nippon, VI, p. 169). 8) L. c. p. 171. Siebold sucht, durch zufällige Laut- ähnlichkeit verleitet, für diesen Namen eine weit ab- liegendeErklärung, in dem er sagt «Kiak kara» erinnere an die Bergkirgisen, Kara genamnt, d. i. die Schwarzen (1. ec. p. 199). 9) Reisebericht, im Bull. de la cl. physico-math, de l’Acad. Imp. des sc. T. IV, p. 235; Beitr. zur Kenntn. des Russ. Reichs, Bd. IX, 2. Abth., p. 618. 10) «Wo» heisst im Giljakischen «Dorf». Orotschen. Waren nie Rennthierhalter. Ursprung des Namens. 137 eine Vermuthung geäussert werden. Bleiben wir zunächst noch beim Namen Käkal oder Käk(a)r stehen, so möchte ich daraus, dass er bei den Giljaken ganz ebenso wie bei den Golde und, mit geringer Modifikation, auch bei den Mandshu lautet, den Schluss ziehen, dass die ersteren ihn von den letzteren entnommen haben, nicht umgekehrt. Denn die Golde sind den Orotschen auf der ganzen Linie vom Chongar bis zu den Ussuri-Quellen unmittelbar benach- bart, sie stehen mit einander in vielfacher Beziehung und Berührung, wie ich denn selbst wiederholentlich vorüberziehende Orotschen auf goldischem Gebiet angetroffen habe; zwischen den Giljaken und Orotschen hingegen breitet sich eine weite Strecke unbewohnten Landes aus, und die Berührungen dieser Völker mit einander können nur äusserst gering sein. So oft die Giljaken in Handelsinteressen längs der Westküste Sachalin’s bis nach Ssiranussi hinab- ziehen, so fremd und unbekannt bleibt ihnen die öde, nur sehr sparsam von Orotschen be- wohnte Festlandsküste. Auch das nach Süden hin breiter werdende und im Winter in seiner Mitte nicht mehr gefrierende Meer schliesst die Berührung zwischen den Orotschen und den gegenüber wohnenden Sachalin-Giljaken — wie natürlich in noch höherem Grade auch den Aino — aus. Jenen Bezeichnungen nach scheinen also die Giljaken die Orotschen zuerst durch Vermittelung der Golde kennen gelernt zu haben. Nimmt man nun auch den Umstand in Betracht, dass die Orotschen noch heutzutage im südlichen Theile ihres Verbreitungsgebietes zahlreicher sind und nach Norden hin immer sparsamer werden, so drängt sich Einem der Gedanke auf, dass sie sich von Süden aus, etwa von den Grenzen Korea’s und dem Quell- gebiet des Ussuri längs dem Küstengebirge und der Seeküste allmählich nordwärts ausgebreitet haben. Ist dies aber der Fall, so können sie auch nicht ursprünglich Rennthierhalter gewesen sein, wie die Oltscha und Oroken, sondern man hat sie sich gleich als einfache Jäger und Fischer zu denken, wie sie es noch sind. Allein, wie liesse sich alsdann ihr jetziger, das gerade Gegentheil davon besagender Name erklären? Bekanntlich lernte man die Orotschen europäischerseits zuerst unter diesem Namen kennen, und zwar durch La P&rouse, der mit ihnen im Jahre 1787 in der Bai de Castries in Berührung kam'). Da er zugleich eine wenn auch kurze, doch anschauliche und anziehende Schilderung von denselben entwarf und man ihm überhaupt die erste Kenntniss dieser Meeres- küste verdankte, so fand auch der von ihm aufgebrachte Name «Orotschen» eine allge- meine Aufnahme. Ohne Zweifel hat ihn La Perouse von den Eingeborenen der Bai selbst gehört. Man könnte somit meinen, dass dies die Bezeichnung sei, welche die Orotschen sich selbst geben und die ihnen daher auch mit Recht zukomme. Und doch ist dies keineswegs der Fall und der Name Orotschen nur fälschlich auf dieses Volk übertragen worden. Wie oben erwähnt?), hat nämlich die Bai de Castries, Dank ihrer geographischen Lage, eine gemischte Be- völkerung aus Oltscha und Orotschen. So war es auch schon zur Zeit, als La Perouse diese 1) LaPerouse, Voyage autour du monde, publ. et re- | p. 62 sq. dige par Milet-Mureau, T. III, Paris, an V (1797), 2) S. oben p. 22, 27. Schrenck’s Amur-Reise, Band III. 18 138 Die Völker des Amur-Landes. Bai entdeckte. Das geht unzweifelhaft aus dem Umstande hervor, dass er dort Häuser und namentlich zahlreiche Grabmäler von ganz verschiedener Construction fand. La Perouse meint zwar, dass die einen dieser letzteren den reichen, die anderen den armen Individuen eines und desselben Volkes angehört haben mögen, allein seinen Beschreibungen und Abbildungen nach ') erkennt man in denselben sogleich die grundverschiedenen Grabmäler der Oltscha und der Oro- tschen. Ich habe mich während meines zweiten Aufenthaltes in der Bai de Castries, im Sommer 1855, auch selbst vom Vorhandensein dort beider Arten von Grabmälern überzeugt. Es kommt mir daher nicht einen Augenblick zweifelhaft vor, dass La Perouse sich über den Namen des Volkes nicht von Orotschen, sondern von Oltscha unterrichten liess. Von diesen musste er, da sie sich in der That selbst so nennen, eine Bezeichnung hören, die, bei der unter den tungu- sischen Amur-Völkern so häufigen Verwechselung der Consonanten / und r, ebensowohl Oltscha, wie ich sie gehört habe, als auch Or(o)tscha lauten konnte. La Perouse hat übrigens den Namen Orotschen keineswegs auch auf die Bewohner der südwärts am Japanischen Meere gelegenen Küste ausgedehnt, da er dieselbe nach dem Besuch in der Bai de Castries nicht mehr berührt hat. Dies geschah erst später, russischerseits, als man Besitz vom Amur-Lande und vom ganzen Küstengebiet am Nordjapanischen Meere nahm. Und es geschah natürlich, indem man zwar einerseits die Verbreitung desselben Küstenvolkes bis zur Bai de Castries kennen lernte, andererseits aber von der gemischten Beschaffenheit der Bevölkerung in dieser Bai und von der Zugehörigkeit eines Theiles derselben zu den Oltscha, ja zum Theil auch von der Existenz dieses letzteren Namens für die sogenannten Mangunen in Unkenntniss blieb°). Und so ist auf das Küstenvolk am Nordjapanischen Meere mit nur geringer Modifikation der Name eines anderen, am Amur wohnhaften Volkes übertragen worden, ein Name, der ihm selbst und seinen nächsten Nachbaren im Süden wie im Norden, den Golde wie den Giljaken, voll- kommen fremd ist. Es ist dies aber um so mehr zu bedauern, als dadurch einmal die Zahl der einander sehr ähnlichen, leicht zu Verwechselungen führenden Namen der Amur-Völker — Orotschonen, Oltscha, Oroken — noch um einen, Orotschen, vermehrt worden ist, und als ferner aus der Etymologie dieses Namens leicht Consequenzen über die ehemalige Lebensart und über die Ausbreitung des betreffenden Volkes gezogen werden können, welche auf dasselbe keineswegs anwendbar sein dürften. Denn dass die jetzt sogenannten Orotschen keine Renn- thiernomaden gewesen sind und als solche auch nicht von Norden, sondern von Süden aus sich über das Küstengebiet des Nordjapanischen Meeres verbreitet haben, ist oben bereits dargethan worden. Am besten thäte man daher, den Namen Orotschen schlechtweg fallen zu lassen und durch einen anderen zu ersetzen, etwa durch den Namen Käkar, oder durch denjenigen, 4) La P&rouse,l.c. p. 67; Atlas, Pl. N: 33. p- 43, 45, 188, 220; T. XV, p. 245 u. a.; Mel. phys. et 2) In meinen Reiseberichten an die Akademie habe | chim. T. II, p. 350, 353, 452; Mel. russes, T. II, p. 63, ich auch selbst, und zwar im Druck mit unter den Ersten, | 350 u. a.); ich that es sowohl weil sich dieser Name da- den Namen Orotschen für das Küstenyolk am Nord- | mals russischerseits schon festgesetzt hatte, als auch weil japanischen Meere gebraucht (Bull. de la cl. phys.-math. | mir zu der Zeit der richtige Einblick in die oben geschil- de l’Acad. Imp. des sc. de St. Petersbourg, T. XIV, 1856, | derten Verhältnisse noch fehlte. Orotschen.. Deutung der Bitschi von La Perouse. 139 den sie sich selbst geben, wenn es nämlich einen solchen für alle Orotschen und Ta-dse von der Bai de Castries bis zum Ssuifun hinab giebt. Noch weiss man aber gar nicht, wie sich die ÖOrotschen selbst nennen. Und aus diesem Grunde, wie um etwaigen anderen Missverständ- nissen zu entgehen, habe ich es auch hier vorgezogen, noch bei dem jetzt üblichen Namen zu bleiben und nur auf dessen Unzuträglichkeiten hinzuweisen. Ehe ich weiter gehe, muss ich gelegentlich erwähnen, dass La Perouse in der Bai de Castries ausser Orotschen auch einige Individuen eines anderen Volkes antraf, welches er nach Angabe der ersteren «Bitschi» nennt'). Sie sollten weiter südlich am Amur-Strome wohnen und waren jetzt nur besuchsweise, in vier Böten, die La Perouse auch selbst hatte einlaufen sehen, nach der Bai de Castries gekommen. Ein Volk dieses Namens giebt es jedoch weder am Amur-Strome, noch überhaupt im Amur-Lande. Wohl aber sind mir dort zwei Lo- calitäten dieses Namens bekannt: ein Fluss Bitschi, der in den Udyl-See mündet und dessen Boschnjak in seinem Reisebericht erwähnt), und ein Dorf Bitschu an der Mündung des Gorin-Flusses in den Amur, das ich selbst im Winter 1855 besucht habe. Erwägt man, dass aufdie Frage, aus welchem Volk die Individuen seien, leicht zur Antwort der Ort genannt wird, von dem sie kommen, so darf man annehmen, dass es Eingeborene der einen oder der anderen jener Localitäten waren, also entweder Samagirn (resp. Negda)®, oder Golde. Die ersteren sind jedoch keine eigentlichen Amur-Anwohner; auch liegt der Bitschi-Fluss nicht südlich, sondern nördlich von de Castries oder von Kidsi, bei welchem man auf dem Wege von der Bai den Amur erreicht; endlich wüsste ich auch nicht, dass Samagirn oder Negda solche weite Handelsreisen machten. Die Böte der Bitschi waren aber, nach der Beschreibung und Abbil- dung von La Perouse zu urtheilen ®), recht grosse, vielrudrige, mit verschiedenen Handels- waaren, Zeugen, Cerealien etc. beladene Fahrzeuge. Sehr wahrscheinlich sind es daher Golde von Bitschu gewesen, die, auf einer Handelsreise nach Sachalin begriffen, nachdem sie vom Amur über den Kidsi-See bei Taba an’s Meer gelangt waren, einen Abstecher nach der nahen Bai de Castries machten, um gelegentlich auch dort etwas Handel zu treiben. So lernen wir in den Bitschi von La Perouse jene S’janta der Sachalin-Aino und Japaner, von denen oben die Rede gewesen, auf ihrer Fahrt nach der Insel kennen. Bekanntlich bestärkte ihre Er- zählung von dem Wege, den sie zu machen hätten, um aus dem Amur nach der Bai de Castries zu gelangen, den berühmten Seefahrer in seiner Ansicht über die Unschiffbarkeit des sogen. Golfes der Tartarei. Indem er keine Ahnung von der Annäherung des Amur-Stromes durch den Kidsi-See an das Meer hatte und sich nicht anders denken konnte, als dass die Bitschi durch die Amur-Mündung in’s Meer gelangten, bezog er ihre Angabe, dass sie die Böte eine Strecke weit über Land zu ziehen hätten, auf eine wenn auch nur schmale und niedrige Landenge 1) Nach französischer Schreibart «Bitchys» (La Pe- 3) S. was oben (p. 32) über die Anwohner des Udyl- rouse,l.c.p.62.u.a.). See’s gesagt worden. Nach Boschnjak (l. c.) führt eine 2) Bomuarp, IreneA. 86 Ipu-amypck. xpab (Moper. | Winterstrasse vom Bitschi-Fluss zum Amgunj. C6opn. 1859, N 1, Y. ueo»., crp. 123). 4) Voyage autour du monde, I. c. Atlas, Pl. N: 62. 18* 140 Die Völker des Amur-Landes. zwischen Sachalin und dem Festlande und zog daraus den Schluss, dass die vermeintliche Insel wenigstens zur Zeit der Ebbe durch Entblössung des Meeresbodens in eine Halbinsel sich ver- wandele '). Im Vorhergehenden ist, zumal bei Besprechung der Oroken und Orotschen, so vielfach auch schon der Oltscha erwähnt worden, dass es jetzt, da von ihnen speciell die Rede sein soll, fast nur noch Einiges nachzutragen und zusammenzufassen giebt. Keines der Amur- Völker ist seit jeher so vielfach mit seinen Nachbaren, sowohl den ober- wie den unterhalb am Amur wohnenden, verwechselt und zusammengeworfen worden, wie die Oltscha. Darum darf man von vornherein nieht erwarten, aus einer Vergleichung der ältesten historischen Nachrichten über dieselben irgend welche Verschiebung ihrer Grenzen ersehen zu können. Sowohl mandshu- chinesischer-, wie russischerseits werden sie in diesen Nachrichten nur unter gemeinsamen Namen meist mit den Golde, zuweilen auch mit den Giljaken aufgeführt, so dass weder die Süd-, noch die Nordgrenze ihres Gebietes zu erkennen ist. In der allerunbestimmtesten Weise sind die Oltscha bei den alten Jesuiten-Missionären mit allen ihren Nachbaren zusammen unter dem Collectivnamen «Ketsching, Ketscheng» oder «Ketscheng-tatse» begriffen, indem dieser Name alle Völker am unteren Amur-Strome, von Dondon abwärts bis zu seiner Mündung, ja auch die Bewohner der Sachalin gegenüber liegen- den Meeresküste bezeichnen sollte?). Eine schon etwas beschränktere und bestimmtere Bedeutung und richtigere Form hat jener mandshurische Name in der 1722 verfassten Schrift des Chinesen U-tschen°®): sein Volk «Cheidsin» oder «Chädshen» am unteren Amur reicht nämlich nicht mehr bis an die Mündung desselben, wo vielmehr ein anderes Volk, die Fei-ja-cha (Giljaken) ‘), seine Wohnsitze hat. Noch um etwas präeisirter, wenngleich immerhin eollecti- visch, erscheint er in der Reichsgeographie der Tai-Tsing, insofern dort ausser den Giljaken auch das Volk an der Meeresküste, die Orotschen, unter besonderem Namen (Kiyakla) auf- geführt wird. Nur finden wir ihn dort, nach Ritter’s Wiedergabe°), mit der chinesischen Be- zeichnung für die tungusischen Völker der linken unteren Amur-Zuflüsse combinirt, als «Kiler- chadshi». In der vom Archimandrit Palladij ebenfalls nach mandshu-chinesiscben Quellen gegebenen Aufzählung der ehemals nach Girin tributpflichtigen Völker sind endlich auch die Kiler abgetrennt, und so bleibt der Name Chädshä oder Cheidsin, wie der Autor meint‘), nur auf die Golde, oder, wie ich hinzufügen muss, auf die Golde und Oltscha beschränkt, denn 4) La Perouse,l. c. p. 72. 4) Wenigstens zum grössten Theil; s. oben p. 101. 2) Du Halde, Descr. de ’Emp. de la Chine et de la 5) Erdk. von Asien, Bd. III, p. 444. Tart. Chin. T. IV, p. 7, 12, 13 u. a. Nach französischer 6) Hazaaaiü, Aoposn. 3am. va nyru 076 MNerıma 10 Schreibart: «Ketching» etc. Baarogbwmeucra (3an. Pyecer. Teorp. Oöım. Ho O6m. Teorp. 3) Uebersetzt von Wassiljef: 3a. o Huaryrs (3an. | T. IV, 1871, crp. 399). Pycex. Teorp. Oöm. Y. XII, 1857, erp. 90—93). Oltscha. Ursprumg ihres mandshu-chinesischen Namens. 141 für die letzteren giebt er keinen besonderen mandshu-chinesischen Namen und unterscheidet sie auch überhaupt in keiner Weise von den ersteren. Dass in der That beide Völker mandshu- chinesischerseits unter dem erwähnten Namen verstanden werden, unterliegt keinem Zweifel. Hinsichtlich der Golde bedarf es kaum einer weiteren Erörterung. Schon die Jesuiten-Missionäre geben an, dass das Volk Ketscheng mit dem Dorfe Dondon am Amur beginne; dieses Dorf existirt aber noch unter demselben Namen, und von ihm abwärts breiten sich die Golde noch beinahe über zwei Breitengrade am unteren Amur aus. Es sind dies die unteren oder, wie ich sie schon im ersten Bande dieses Werkes unterschieden habe, unterhalb des Geong-Gebirges, das ın der Nähe von Dondon an den Amur ausläuft, wohnenden Golde, die von den oberhalb, am Ussuri wohnhaften manche dialektische Verschiedenheiten zeigen und den Oltscha in sprachlicher Beziehung weit näher stehen als die letzteren!). Dass auch die Oltscha denselben Namen bei den Mandshu tragen, erfuhr ich von ihnen selbst: der mehrfach erwähnte, viel- gereiste Oltscha in Tyr, dem ich manche schätzenswerthe Auskunft verdanke, theilte'mir mit, dass seine Landsleute von den Mandshu «Chydsha» genannt werden. Diese kleine Modifikation desselben Namens verrieth mir auch deutlich seinen Ursprung. Denn «chydji» oder «chydshi» bedeutet in der Oltscha-Sprache «unterhalb« oder «stromabwärts». Aehnlich wird es wohl auch im Goldi- schen lauten, welches wiederum dem Mandshu am nächsten steht. «Chydshi-nei» würde also in der Oltscha-Sprache nur so viel wie «Leute von unterhalb» bedeuten, und daraus dürften alle jene oben angeführten Modifikationen dieses Volksnamens bis zu den Ketscheng der Jesuiten- Missionäre entstanden sein. Den Mandshu waren zur Zeit der russischen Kriegszüge am Amur, des Kaisers Kang-hi und der Reise der Jesuiten-Missionäre die unteren Amur-Völker noch sehr fremd. Nur wenn Angehörige dieser Nationalitäten selbst nach Ninguta kamen, brachten sie, um die Erlaubniss zum Handeln zu erlangen, der mandshu-chinesischen Obrigkeit einen bestimmten Tribut in Pelzwerk dar, wie es zu meiner Zeit die Oltscha und Giljaken in Ssan-ssin auch thaten. Von Dondon abwärts hatten die Golde auch nicht die mandshurische Haartracht?), die von den Mandshu durch ganz China eingeführt worden ist, — was den besten Beweis liefert, dass die von da ab wohnenden Völker des unteren Amur-Landes nicht direkt unter der mandshu-chinesischen Herrschaft standen, gleich wie zur Zeit meiner Reisen noch die Oltscha, Negda, Giljaken und nördlichen Orotschen. Nach alledem ist es verständlich, wenn die Mandshu diese ihnen noch so fremden und unbekannten Völker schlechtweg nur mit einem ihrer geographischen Lage entnommenen Collectivnamen, als das «untere oder unterwärts (am Amur) wohnende Volk» bezeichneten, — eine Bezeichnuug, die später, nach- dem sie die Giljaken und Orotschen als besondere Völker kennen gelernt und benannt hatten, auf die Golde und Oltscha, denen sie zuallererst galt, beschränkt ward. Gleichwie von mandshurischer Seite, so werden auch in den ältesten russischen Nach- 4) Vrgl. z. B. auch die im I. Bande dieses Werkes, bei | Amur-Landes angeführten Thiernamen. Abhandlung der einzelnen Säugethiere und Vögel des 2) Du Halde,l. c.p. 12; U-tschen, s. Wassiljef,l.c. 142 Die Völker des Amur-Landes. richten die Oltscha unter gemeinsamem Namen mit den Golde aufgeführt, als ein Volk, das Pojarkof «Natkem, Chabarof «Atschanem» nennt!). Der erstere Name ist oben schon von der tungusischen Bezeichnung für die Golde abgeleitet worden, und in dem letzteren glaube ich den Namen «Oltscha» wiederzuerkennen, den sich dieses Volk selbst giebt. Der von Plath?) ausgesprochenen Ansicht, dass «Atschani» und «Ketschen» ziemlich dasselbe Volk sei, kann ich nicht beistimmen. Daraus würde folgen, dass Chabarof diesen Namen den Mandshu ent- lehnt habe. Allein da «Ketschen» selbst nur eine von den späteren Jesuiten-Missionären ent- stellte Form für «Chädshöw» oder «Chydsha» ist, so würde die russische Bezeichnung des Volkes in diesem Falle etwa Chädsheny lauten, was mit jener Chabarof’schen, mit Ausnahme der gleichgültigen Endsilbe, nichts gemein hat?). Aus «Oltscha» folgt hingegen, wie oben schon bemerkt, die russische Form «Altschany» und also auch «Atschany», wie man sie bei Chabarof findet, ganz von selbst. Ist unsere Deutung richtig, so läge in der Nachricht Cha- barof’s auch die älteste Erwähnung des Namens ‚Oltscha, wenngleich in einer etwas ent- stellten Form und mit Ausdehnung desselben auch auf die südlichen Nachbaren der Oltscha, die Golde. Die erste Unterscheidung der Oltscha von den Golde und damit auch die erste Erwäh- nung derselben unter besonderem Namen findet sich in Jakinf’s Statistischer Beschreibung des Chinesischen Reiches). Bei Besprechung des Amur-Stromes heisst es daselbst, dass vom Ussuri ab bis zur Mündung drei Völker an demselben wohnen, die «Jant°), Orlik und Giljaken», über die auch manche treffende und charakteristische Einzelheiten mitgetheilt werden. Da wir in den ersteren schon die Golde, nach ihrer giljakischen Bezeichnung, kennen, so unterliegt es keinem Zweifel, dass unter «Orlik» die Oltscha gemeint sind. Laut lakinf’s eigener Angabe°) sollte, da er bekanntlich selbst nicht am Amur gewesen ist, die oben erwähnte Beschreibung desselben in seinem Werke nach den Erzählungen chinesischer Kaufleute und einer chinesischen 4) Der dritte unter den alten russischen Kosaken- führern, der sie persönlich kennen lernte, Stepanof, zählte die Oltscha und Golde schlechtweg zu den Gi- ljaken, worüber s. oben p. 116. 2) Die Völker der Mandschurey, Bd. I, Göttingen 1830, p. 63. 3) Neuerdings ist bei russischen Schriftstellern auch wiederholentlich von einem Volke «Chodseny» und «Chodsheny», worunter namentlich Ussuri-Golde zu verstehen sind, die Rede; so bei Maack (IIyremecrz. na Anyp3z,C. Herepo. 1859, crp. 159 u ap.; Iyrem. no ao.nuub p- Yeypu, C. Derep6. 1861, crp. 9 u Ap.), Brylkin (Kpar- kili OYePRB 0 Ty3emu. Veypiiickaro kpaa. — 3an. Cu6. Or. Pycer. Teorp. O6m. Ku. VII, 1864, Cube», crp. 1 u Ap.) u. A. Mit welchem Rechte, werden wir später sehen. Gleichwie Plath, identificirt dabei auch Maack (in sei- nem erstgenannten Werke, a. a.0.) die «Chodseng» (X o4- 3eur®) mit den Atschony (Auoausı, sie!) Chabarof’s, indem er den letzteren Namen nur für eine Entstellung des ersteren hält. Als Gründe dafür giebt er an, dass die angeblichen Wohngebiete beider zusammenfallen und dass er nirgends am Amur von einem Volke «Atschonen» gehört habe. Wie hinfällig aber diese Gründe sind, lässt sich schon daraus ersehen, dass er die nur von Fischfang lebenden «Atschanen» Chabarof’s weit hinauf, ober- halb des Ussuri versetzt, wo zu jener Zeit die acker- bauenden Djutscheren wohnten. Dort will er auch die Spuren von Chabarof£’s Winterfeste, Atschanskoi gorod, gefunden haben, und zwar auf dem steilabfallenden Berg- vorsprunge Kyrma, also am rechten Amur-Ufer, während Chabarof (Aono.an. kb aktamp ucrop. T. Il, crp. 364) ausdrücklich sagt, dass er die Festung am linken Ufer er- baute. 4) Crarucruy. Onucanie Kuraiickoi Unnepim. 4. I, C. Herepö. 1842, crp. 222— 224. 5) Auf Seite 220 des genannten Werkes heissen sie gelegentlich auch «Ant». 6) L. c. p. 224, Opuntbu. (**) Oltscha. Aeltere russische Bezeichnungen für dieselben. 143 topographischen Karte entworfen sein. Ich muss gestehen, dass mir diese Angabe, nach den angeführten Völkernamen zu urtheilen, mindestens fraglich erschien. Neuerdings hat Midden- . dorff in der That nachgewiesen, dass jene Nachrichten über den Amur keineswegs aus chine- sischer, sondern aus russischer Quelle stammen, indem Iakinf den nur handschriftlich vor- handenen Bericht des Läuflings Gurij Wassiljef ausgebeutet hat, der nach Ladyshenskij zwischen den Jahren 1815 und 1826 wiederholentlich im Amur-Lande gewesen und den Strom bis zu seiner Mündung hinabgeschifft ist!). Die ziemlich ausführlichen Mittheilungen Midden- dorff’s aus Wassiljef’s Bericht stellen die Sache ausser allen Zweifel: Aus den Benennungen, die Letzterer den unteren Amur-Völkern ertheilt, lässt sich aber zugleich ersehen, dass er sich einige Zeit unter den Giljaken aufhielt und von ihnen manche Auskunft über ihre näheren und ferneren Nachbaren erhielt. Denn «Jant» ist, wie schon mehrmals erwähnt, die Bezeichnung, welche die Giljaken den Golde geben und die bis dahin, und auch später, nirgends, sei es in russi- schen, oder in chinesischen Nachrichten über das Amur-Land vorkommt?). Daraus lässt sich schon vermuthen, dass auch der Name «Orlık» oder «Orlich», wie ihn Middendorff nach Wassiljef schreibt, desselben Ursprungs ist. Und in der That glaube ich ihn für eine im Munde eines russischen Läuflings sehr verständliche Entstellung der giljakischen Bezeichnung «Orongr» oder «Orongsch» für die Oltscha halten zu dürfen °). Trotz der verschiedenen Bezeichnungen für die drei am unteren Amur wohnhaften Völker, giebt Wassiljef doch nichts an, wodurch sie sich, sei es im äusseren Habitus, sei es in der Lebensart, oder in der Sprache u. s. w., von ein- ander unterscheiden. Ja, er verwechselt sogar zum Theil ihre Wohngebiete, indem er die Jant nur vom Ussuri bis zum Dondon-Fluss, von dort abwärts bis Zikdochi, das oberhalb der Gorin- Mündung liegen soll‘), die Orlik und noch weiter unterhalb bis zur Amur-Mündung die Giljaken wohnen lässt. Dieser Abgrenzung zufolge wären die Jant Wassiljef’s nur die oberen, oberhalb des Geong-Gebirges wohnenden Golde und die Orlik die unteren Golde, während die Oltscha mit den Giljaken zusammengeworfen sind. Dies Alles bestärkt mich in der Ansicht, dass Wassiljef jene Bezeichnungen für die unteren Amur-Völker nur nachträglich von den Gi- ljaken erfragt und in seiner Weise irrthümlich gedeutet hat. Erst als man in den 50er Jahren russischerseits wieder an die Besitznahme des Amur- Landes ging und von den Giljaken an der Amur-Mündung stromaufwärts vorrückte, lernte man die sprachlich von ihnen so ganz verschiedenen Oltscha unterscheiden, obwohl sie, wie wir 4) Middendorff, Reise etc. Bd. IV, p. 156 fi. Vrgl. auch oben p. 80, 81. 2) Wenn Iakinf angiebt, am Amur unterhalb der Ussuri-Mündung wohnten Tungusen, die von den Rus- sen «Jant» genannt würden, so erklärt sich dies dadurch, dass er selbst aus den Aussagen eines Russen schöpfte und sich so zu jenem Ausspruch berechtigt glaubte. In Was- T. III, 1878, cerp. 314) bezieht den Namen « Orlik» auf die Golde; seltsamerweise meint er, diese würden von den Mandshu so genannt, weil sie die Adler hoch schätzten und häufig welche in Käfigen gefangen hielten. Nun ist allerdings «Orjol», dimin. «Orlik», das russische, keineswegs aber das Mandshu- oder das Golde-Wort für «Adler»! siljef’s Bericht, so weit ihn Middendorff mittheilt, kommt nichts Aehnliches vor. 3) Sgibnef (Anyper. IkeneAa. — Apesn. u nor. Poccia, 4) Gegenwärtig giebt es dort keinen Ort dieses oder eines ähnlichen Namens. 144 Die Völker des Amur-Landes. gesehen, meist auch später, und zwar bald, in Folge collectiver Auffassung des Namens Giljaken, mit diesen und bald mit den ihnen stammverwandten Golde verwechselt wurden '). Der Name, der sich russischerseits für sie festsetzte, lautete «Mangunen», was jedoch nur so viel bedeutet wie «Amur-Leute», denn «Mangu» heisst bei den Oltscha, Golde und Orotschen der Amur- Strom. Dieser Bezeichnung der Oltscha begegnet man auch anderwärts und schon früher, na- mentlich beim japanischen Reisenden Mamia Rinsö, nur dass er bei der Namensableitung die Sache gewissermassen umkehrte. Als er nämlich zu den Oltscha am Amur kam, gewann er die Einsicht, dass dieselben nur von den Aino und Japanern S’janta genannt würden, eigentlich aber «Mankö» hiessen, und meinte nun, dass in Folge dessen auch der Strom, der durch ihr Land fliesse, denselben Namen trage ?). Wie leicht man in der That zu der irrthümlichen Ansicht ge- langen kann, dass dies der Name sei, den sich das Volk selbst gebe, davon habe ich mich selbst zu wiederholten Malen überzeugen können. Von Oltscha wie vonGolde erhält man nämlich nieht selten auf die Frage, wer sie seien, zur Antwort: «bu Mangu-neiv, resp. «Mangu-nai, womit sie jedoch nur sagen wollen, dass ihr Wohnort am Amur und nicht an einem seiner Nebenflüsse liege. In demselben Sinne werden beide Völker bisweilen auch von den Orotschen nur schlecht- weg als «Mangu-nai», Amur-Leute, bezeichnet, wogegen diese umgekehrt die Orotschen «Lamuka», Meeresanwohner, nennen). So ist der Name Mangunen einer unter den Einge- borenen des Amur-Lnndes gebräuchlichen Bezeichnung entlehnt, die weder ein Volksname überhaupt ist, noch auch den Oltscha allein zukommt *). Uebrigens ist dieser Name unter den Russen, in Folge ihrer oben erwähnten mangelhaften Unterscheidung des betreffenden Volkes, immer noch wenig eingebürgert. Ich habe ihm daher in diesem Werke durchweg den Namen Oltscha vorgezogen, den sich das Volk gegenwärtig selbst beilegt. Dass dem so ist, unterliegt keinem Zweifel: ich habe mich davon gleich auf meiner ersten Reise durch das Oltscha-Gebiet, im Winter 1855, überzeugt°). Durch diesen Namen, dessen Etymologie oben bereits besprochen worden), gewinnen wir einen Einblick in die Vorgeschichte der Oltscha, indem es Dank demselben mehr als wahrscheinlich wird, dass sie ehemals als Rennthiernomaden in den westwärts gelegenen Gebirgen gelebt haben, gleichwie ein Stamm derselben, die Oroken, es noch heutzutage auf Sachalin thut, und erst durch den Ver- lust ihrer Rennthierheerden zur Niederlassung am Amur-Strom und zum Fischerleben gedrängt worden sind. Aehnlich ist es ja, im Grossen wie im Kleinen, auch manchen tungusischen 1) S. oben p. 26. kommen, sondern schon alte Bewohner des Binnenlandes 2) Tö-tats ki ko (Siebold, Nippon, VII, p. 178). 3) Ebenso erzählt Korsun (3an. Cu6. Ora. Pyccr. Teorp. O6m. Ka. IX, X, Hpsyrex% 1867, crp. 379), dass die am Ima, einem Nebenfluss des Ussuri, wohnenden, von der Meeresküste herangewanderten Orotschen sich selbst «Lamukan» nennen und auch von den Chinesen so genannt werden, was hingegen von den Orotschen am Biki nicht gilt, — offenbar, meine ich, aus dem Grunde, weil diese nicht vor ihren Augen von der Seeküsle ge- sind. 4) Aus «Mangunen» ist dann auch «Manguten» ge- macht worden; so bei Fr. Müller, Allgem. Ethnographie, Wien 1873, p. 343. 5) S. meinen Reisebericht, im Bull. de la cl. physico- mathem. de l!’Acad. Imp. des sc. de St. Petersb. T. XIV, p. 188; Mel. phys. et chim. T. II, p. 451. 6) S. oben p. 132 fl. Oltscha. Ursprung des Namens «Amur». 145 Stämmen Sibirien’s ergangen. Hinsichtlich der Oltscha kann ich aber noch hinzufügen, dass, wie weit ihnen dieses Ereigniss auch zurückliegen mag, die Erinnerung an dasselbe sich bis auf den heutigen Tag in ihren Sagen erhalten haben soll. Anknüpfend an die oben erwähnte Bezeichnung der Oltscha, Golde und Orotschen für den Amur, muss ich hier im Vorübergehen auch die vielfach ventilirte Frage nach dem Ursprung des heute allgemein üblichen russischen Namens für diesen Strom berühren. Man hat verschie- dene, zum Theil weit hergeholte Erklärungen dieses Namens gegeben. Bald sollte er einem kleinen rechten Nebenflusse des Amur, dem gegenüber der ehemaligen russischen Feste Albasın einmündenden Emur oder Emuri (Albasieha) entnommen sein‘); bald wurde auf die mongolische Bezeichnung «Kara-muren für den oberen Amur hingewiesen, welche dieselbe Bedeutung wie der mandshurische Name «Sachali» oder «Sachalin-ula» (schwarzer Fluss) hat?); bald sollte sogar ein Gruss der Tungusen, mit dem sie den ersten Entdeckern des Stromes entgegen kamen und der in ihrer Sprache «amur», d. i. glücklichen Frieden! lautet, den Namen des Stromes veranlasst haben?). Alle diese Erklärungen sind schon aus dem Grunde völlig unhaltbar, weil sie sich auf den oberen Amur beziehen, der bei den Russen anfänglich gar nicht diesen Namen trug, sondern nach der übereinstimmenden Bezeichnung. welche ihm alle anwohnenden tungusischen Völker geben und die «Schilkar, Schilkir, Ssilkar, Ssilkir», auch «Ssirkab lautet, ebenfalls Schilka, wie noch jetzt sein nördlicher Quellarm, hiess. Den Namen «Amur» erhielt der Strom anfangs nur in seinem unteren Laufe, bei Pojarkof vom Ussuri ab, als dessen Fortsetzung er angesehen wurde, während er oberhalb Schingal oder Schungal hiess*). Chabarof brauchte den Namen Amur schon von der Sungari-Mündunz ab°), und noch später wurde er, wie Ritter richtig bemerkt, bis auf die Plateauhöhe, an den Zusammenfluss der Schilka und des Argunj verlegt®). Nur am unteren Amur darf man daher auch den Ursprung dieses Namens suchen. Und in der That ist er unverkennbar gleich in der ersten Nachricht zu finden, welche die Russen von diesem Strome erhielten. Als nämlich, wie Müller erzählt”), Tomskische Kosaken im Jahre 1639 an der Mün- dung des Ulja-Flusses in das Ochstskische Meer winterten, erfuhren sie durch Udj-Tungusen, dass «Mamur» der Name eines Flusses sei, an welchem die Natkani (Gelde)”) wohnten, die den Amgunj-Tungusen (Negda) ihre Zobel gegen Silber, kupferne Kessel, Glaskorallen, seidene und wollene Zeuge u. drgl. Sachen abnähmen, welche sie selbst wieder von einem oberhalb 4) Iaxzzes, Crarzerem. onsc. Kurze. Uno. C. De- repGyprs, L IL 1842, cıp. 5, Opewöe. ("”), 216, penis. Eine namentlich von russischen Schriftstellern gegen- wärtig fast allgemein geiheilte Ansicht. 2) Iakinf, Le. p. 3. 3) Stuckenberg, Hyärogr. des Russ. Reiches, Bä_ IL, | St. Petersburg 1844, p. 782; nach den Memoiren des Gener. d’Aurray, der die chinesische Grenze selbst be- | reist hat. Im Mongelischen heisst, Iakinf [L ce. p. 5) zu- folge, «amor » still, friedlich. %) Müller, Samml Russ. Gesch. Bä. IL, p. 302. Po- Sehrenck 's Amur-Baise, Bund IL |jarkef’s Bezeichnung «Schungal» für die später ge- bräuchliche «Schingal» weist deutlich auf die Entstehung derselben aus «Sungal, Sungari» bin. Nach dem Obigen | wird es auch verständlich, wenn es in den alten russischen Nachrichten heisst, die Dseja falle in die Schilka (oberen Amur), diese in den Schingal (Sungari) und dieser endlich in den Amur. 5) Müller, L ce. p. 32%. 6) Ritter, Asien, Bd. IL p. 28. 7) Samml Russ. Gesch. Bd. IL p. 29. 8) S. oben, p. 113. 146 Die Völker des Amwr-Landes. wohnenden, Ackerbau, Viehzucht und Branntweinbrand treibenden Volke (Djutscheren, Man- dshu) bezögen. Man erkennt leicht in der Erzählung der Udj-Tungusen den Namen wieder, welchen der untere Amur bei seinen tungusischen Anwohnern, den Oltscha, Golde, Negda, ja auch bei den Orotschen der Meeresküste trägt, und der «Mangu '), Mamgw ?), auch «Mamw ?) lautet. Andererseits ist es vollkommen begreiflich, dass die russischen Kosaken aus Mamur «Amur» machten‘). So verdankt dieser Name seinen Ursprung den tungusischen Völkern des unteren Amur-Landes. Wie die Etymologie ihrer oben erwähnten Bezeichnung für den Amur- Strom lautet, weiss ich nicht. Jedenfalls ist es aber nach dem Obigen ganz unzulässig, dieselbe für das Wort ««mur» zu suchen und dieses gar für giljakischen Ursprungs zu halten, wie Fischer und nach ihm Ritter u. A. gethan haben’). Die Giljaken haben mit jenen Bezeichnungen des Amur-Stromes nichts zu thun: sie nennen ihn, wie wir schon sahen, ganz ‘anders — «La» oder «La-erri». War es bei den bisher besprochenen Völkern nicht wohl möglich, eine irgend erhebliche Veränderung oder Verschiebung der Wohnsitze in historischer Zeit wahrzunehmen, so verhält es sich anders mit den Golde. Zuerst lernen wir sie unter ganz anderen, mehr oder weniger eolleetiven Namen kennen, russischerseits als Natken und Atschanen, mandshu-chinesischer- seits als Ketscheng, Chädshen, Cheidsin u. s. w. — Bezeichnungen, deren Ursprung, Etymologie und Umfang oben schon ausführlich besprochen worden sind. Sie haben sämmtlich auf die Amur-Golde Bezug; die Golde vom Ussuri hingegen blieben den Russen anfänglich ganz unbekannt, da letztere auf ihren Kriegszügen im XVII. Jahrhundert diesen Fluss gar nicht berührten, und von den Jesuiten-Missionären, die im Jahre 1709 im Auftrage der Pekinger Regierung das untere Amur-Land besuchten, werden sie nur unter dem chinesischen Namen «Yupi-tatse», d.i. Fischhaut-Tataren oder Barbaren, erwähnt‘), der nach dem eigenen Zeugniss der Chinesen?) auch auf die anderen Völker von ähnlicher Lebensweise am unteren Amur wie an der Meeresküste ausgedehnt wurde. Neuere russische Reisende, wie Maack und Bryl- kin, haben die Golde vom Ussuri und vom Amur oberhalb der Ussuri-Mündung, obgleich sich 1) Nach Mamia Rinsö «Mankö»; s. oben, p. 144. 2) So beiden Negda; nach Middendorff, Reise etc. Bd. IV, p. 1524. 3) Wie Maack (Ilyrem. na Anyp#, crp. 155) zuweilen auch gehört haben will. 4) Gleichwie sie z. B. später aus «Ussuri», Ussura, Uschura, Schura u. drgl. machten. 3) Fischer (Sibirische Gesch. 1. Thl. p. 433; 2. Thl. p. 793) meinte, die Russen hätten den Namen «Amur» zuerst von den Tungusen am Udj und nachher von den Nat- ken und Giljaken gehört, bei denen ein jeder grosse Strom «amar» heisse. Ritter (Erdk. von Asien, Bd. II, p- 298) sagt, offenbar dasselbe wiedergebend, «amur» oder «yamuı» bedeute bei den genannten Völkern, wie bei den tungusischen Uferanwohnern am Ostmeer, «grosses Wasser». Das ist weder für die tungusischen Amur -Völker, noch für die Giljaken richtig. In der Sprache der letzteren würde grosses Wasser «pilja tschach» und grosser Fluss «pija erri» heissen, welche letztere Bezeichnung sie dem Amur in der That zuweilen geben. 6) Du Halde, Descr. de l’Empire de la Chine, T. IV, p- 10 sq. 7) U-tschen, übers. von Wassiljef (3an. o Huaryrt. — 3an. Teorp. O6m. Y. XII, 1857, crp. 90—93). Golde. Zusammengehörigkeit der Amur- und Ussuri-Golde. 147 dieselben den Russen gegenüber ebenfalls Golde nennen, als besonderes Volk bezeichnen wollen, und zwar unter dem Namen «Chodsenm» oder «Chodshen», in der Meinung, dass dies der Name sei, den sie sich selbst beilegen!). Man erkennt aber in demselben leicht die oben ausführlicher besprochene Bezeichnung, welche die Mandshu auch den weiter unterhalb am Amur wohnen- den Golde und den Oltscha geben und die mit der von den Jesuiten-Missionären gebrauchten Bezeichnung «Ketscheng» identisch ist. Auch in sprachlicher Beziehung lässt sich eine solche Trennung der Ussuri-Golde von ihren Landsleuten am unteren Amur, so viel es mir scheint, nicht rechtfertigen. Dialektische Differenzen bestehen unter den Golde in den verschiedenen Theilen ihres weiten Gebietes ohne Zweifel, und namentlich werden dieden Mandshu zunächst wohnenden auch sprachlich denselben am nächsten stehen, wie dies schon von den alten Missionären bemerkt worden ist?). Indessen so gross dürften die Differenzen nicht sein, um auf Grund derselben einen Theil der Golde unter besonderem Namen von den übrigen abzutrennen?), vollends in der von Maack angenommenen Begrenzung. Mir kam vielmehr die dialektische Verschieden- heit zwischen den Amur-Golde unter- und den oberhalb des Geong-Gebirges grösser als die- jenige zwischen den letzteren und den am Ussuri oder auch oberhalb des Ussuri am Amur wohnen- den vor. Ich sehe daher keinen Grund ein, diesen gegenwärtig allgemein angenommenen und eingebürgerten Namen auch nur theilweise durch einen anderen und zumal einen solchen zu er- setzen, der, in Folge seiner mehr oder weniger colleetiven Auffassung, leicht zu Missverständ- nissen und Verwechselungen führen könnte. Der Name «Golde» ist erst seit Kurzem bekannt. Im Druck kommt er vielleicht zum ersten Mal in meinem Reisebericht vor‘). Ich fand ihn unter den wenigen Russen des Nikolajevschen und Mariinskischen Postens schon im Gebrauch. Dennoch ist er sicherlich nicht russischen Ursprungs, wie Maack°) und Brylkin®) zu glauben scheinen. Ich wüsste wenigstens durchaus nieht, wie die Russen von selbst auf einen solchen Namen, dessen Etymologie uns ganz unbekannt 1) Maar, Oyrem. ua Amyps, C. Ierepo. 1859, erp. 145 u cıaba.; ero ke, Iyrem. no Aaoa. p. Yeypu, €. He- repöypr®& 1861, T.I, erp. 9; Bpsiakun®, 3ambu. 0 cBoü- CTBAXbB A3bIka XOoA3EHOBTB u XoAsencrkiü cAoBapb (im Anhang zu Maack’s letztgenanntem Werke); ero ke, Kparkiü ouepk&b 0 Ty3emu. Yeypiück. kpaa (3an. Cu6. OrTA. Teorp. OOm. Ku. VII, 1864, Cm&cs, crp. 1). Dieselbe, wie man aus dem Obigen ersieht, vielfach variirte Bezeich- nung erkennt man auch in den «Khoadsongen», deren Fr. Müller in seiner Allgem. Ethnographie, p. 343, er- wähnt. 2) Du Halde,l. c.p. 12. 3) Auch Wenjukof (Oöo3p. p. Veypm.—Btera. Deorp. O6m. 9. XXV, 1859, Ora. II, crp. 233; ero se, Hyrem. no orpaumamp Pyceck. Asin u 3a. 0 unxs, C. Ierepöyprs 1868, crp. 86) spricht sich in diesem Sinne aus. 4) Datirt vom Nikolajevschen Posten, den 7. Mai 1855, vorgelegt der Akademie am 9./21. November desselben Jahres (Bull. de la cl. phys.-math. de l’Acad. Imp. des sc. T. XIV, p. 188; Mel. phys. et chim. T. II, p. 451). Un- abhängig von meinem Reisebericht, findet sich der Name Golde etwas später bei Permikin, in seinem «Ilyresoii skypu. mas. no p. Amypy» (3a. En6. Ora. Teorp. O6m. Ka. II, €. Herepö. 1856). So fremd war aber den Russen damals noch dieser Name, dass in der ohne mein Wissen angefertigten Uebersetzung meines Reiseberichtes, im Btcra. Pycer. Teorp. O6m. 1857 r. En. I, die Golde als «3o10r0e nıema» (goldnes Volk) wiedergegeben wurden, wofür Hr. Romanof seltsamerweise mich selbst verant- wortlich machte (Pyceroe C.xoso, 1860, Maü, Ora. II, erp. 36). 5) Ilyrem. no aoa. p. Yeypu, T. I, crp. 9. 6) Ban. Cn6. Ora. Teorp. O6. Ku. VII, 1864, Cmbc», erp. 1. 19* 148 Die Völker des Amur-Landes. ist, gekommen wären? Was ganz entschieden gegen den russischen Ursprung dieses Namens spricht, ist der Umstand, dass wir ihm ausser und früher als bei den Russen von ganz anderer, von japanischer Seite begegnen, wenn auch in einer auf den ersten Blick schwer wieder- zuerkennenden Form. Schon auf Sachalin hörte nämlich Mamia Rinsö (1809) von einem Volke des Festlandes, «Kordekke» genannt; im Jahre darauf begegnete er einzelnen Indi- viduen desselben, und zwar als Fremdlingen am Amur (Mankö) oberhalb Kidsi und in Deren, also im Oltscha-Gebiet, wohin sie des Handels wegen stromabwärts kommen. Er fand sie ganz wie die Santaner (Oltscha) gekleidet. Sie sind es, nach ihm, welche die bei den Smeren- kur (Giljaken) so hoch geschätzten, aus aneinander gehefteten Eisenplättchen bestehenden Harnische verfertigen, von denen später die Rede sein wird; sie bauen Fahrzeuge für die Sme- renkur u. s. w.!). Siebold ist zwar der Ansicht, dass die Kordekke «unbezweifelt die Korjaken» sind”), allein er lässt sich dabei offenbar nur durch eine zufällige Lautähn- lichkeit bestimmen, denn wie kämen die weit ab, im Norden des Ochotskischen Meeres und auf Kamtschatka wohnenden Korjaken an den Amur-Strom? und was haben sie überhaupt mit den Amur-Völkern zuthun? Umsich die «Kordekke» Mamia Rinsö’s zu erklären, braucht man sich vielmehr nur zu erinnern, dass die Japaner den ihnen fehlenden Laut / durch r er- setzen; restituirt man daher den ersteren und erwägt man zugleich die Verwandtschaft der Laute % und g, so erhält man für jenen Volksnamen «Koldekke» und «Goldekke». Und auf die Golde passt denn auch Alles, was oben nach Mamia Rinsö’s Bericht über die Kordekke angeführt worden ist. Diese Uebereinstimmung in den Bezeichnungen der Golde von japanischer und von russi- scher Seite weist auf einen gemeinsamen Ursprung derselben hin. Welches könnte aber dieser Ursprung sein? Am nächsten läge die Vermuthung, dass sie sich selbst so nennen. In der That bezeichneten sie sich mir gegenüber auf die Frage, wer sie seien oder wie sie hiessen, wiederholentlich als «GFold&». Dennoch will ich nicht behaupten, dass sie es auch unterein- ander thun. Es kann dies vielmehr nur eine von ihnen im Verkehr mit den Russen acceptirte Bezeichnung sein, gleichwie ja auch die Giljaken sich den letzteren gegenüber Giljak, unter einander aber Nib(a)ch nennen. Vielleicht dürfte der Ursprung dieses Namens ganz wo anders zu suchen sein. Mamia Rinsö hörte ihn jedenfalls nicht von den Golde, sondern während seines Aufenthaltes auf Sachalin, von den Giljaken. Den Russen blieb er anfangs, im XVIH. Jahrhundert, als sie das Golde-Gebiet stromabwärts fahrend besuchten, noch fremd; erst als sie in den 50-er Jahren unseres Jahrhunderts an die Wiederbesitznahme des Amur-Landes schritten und von der Amur-Mündung aus vorgingen, indem sie zunächst unter den Giljaken sich festsetzten, tauchte unter ihnen der Name Golde für die früheren Natken und Atschanen auf. Diese Umstände führen schon zu der Vermuthung, dass der Name Golde 1) Tö-tats ki ko (Siebold, Nippon, VII, p. 169, 172, 2). L. c. p. 199. 174, 194, 195). Golde. Ursprung des Namens. Veränderungen im Verbreitungsgebiet. 149 in russischer und Kordekke in japanischer Version giljakischen Ursprungs sein könnte. Nun lautet zwar, wie schon mehrfach erwähnt '), die giljakische Bezeichnung für die Golde «Jant», allein fragt man die Giljaken nach den stromaufwärts von ihnen am Amur wohnhaften Völkern, so zählen sie dieselben in folgender Reihenfolge auf: «Orongsch, Jant, Tschol- dok oder Tscholdoch?), Mandshu». Da nun die Wohnsitze der Golde unmittelbar an die der Mandshu stossen, so entfallen auf dieselben sowohl die Jant, wie die Tscholdok, indem jene offenbar die unteren, diese die oberen Golde, vielleicht vom Geong-Gebirge oder von Dondon an gerechnet, sind. Aus «Tscholdok» könnte aber, wie es mir scheint, leicht in japani- scher Version «Kordekke» und in russischer «Golde» entstanden sein. Gleichwie also die Namen «Janty» oder «Anty» bei einigen russischen Schriftstellern?) für die Golde und «S’janta» oder «Santan» bei den Aino und Japanern, so dürften auch diese Bezeichnungen für dasselbe Volk, «Golde» und «Kordekke», ihren Ursprung giljakischer Vermittelung zu ver- danken haben. In causalem Zusammenhange mit der mehrfach erwähnten Differenz zwischen den unteren und den oberen Golde, die ihnen von mancher Seite sogar verschiedene Namen zugezogen hat, stehen die Veränderungen, die sich in historischer Zeit in der Umgrenzung ihres Verbreitungsgebietes zugetragen haben. Während gegenwärtig die Golde ein zusammenhängendes Gebiet einnehmen, das etwa von der Gorin-Mündung ab den Amur und den Ussuri aufwärts fast bis zu den Quellen des letzteren und bis in den Sungari hinein sich erstreckt, ist dies zur Zeit, da wir die Golde zuerst kennen lernen, nicht der Fall gewesen. Als Pojarkof (1644), Chabarof (1651) und Stepanof (1655) ihre kühnen Kriegs- und Raubzüge den unteren Amur hinab ausführten, war die Strecke vom Sungari bis weit über die Ussuri-Mündung hinaus von den «Djutscheren» oder «Shjutscheren» und «Dshjutscherem, wie sie auch genannt werden, bewohnt, — einem Volke, das, ungleich den nur vom Fischfang lebenden Natken oder Atschanen, Ackerbau und Vieh- zucht betrieb‘). An beiden Ufern des Amur-Stromes wie am unteren Sungari breiteten sich ihre zahlreichen, je 60 bis 80 Häuser zählenden Dörfer aus. Pojarkof lässt sie schon am oberen Amur, von der Dseja-Mündung an beginnen, Chabarof aber erst vom Sungari an. Wie weit sie sich den Amur abwärts erstreckten, lässt sich aus den genannten Berichten mit Genauigkeit nicht entnehmen, da in diesen die Entfernungen nur nach Tagereisen angegeben werden: nach Po- jarkof reichten sie bis vier Tagereisen unterhalb des Ussuri, nach Chabarof, der die Ussuri- Mündung nicht bemerkte, 7—8 Tagereisen unterhalb des Sungari. Die Jesuiten-Missionäre, die diese Gegenden im Jahre 1709 besuchten, geben aber ausdrücklich an, dass Tondon das 4) S. oben, p. 118, 142, 143. 3) ITakinf, nach Wassiljef; s. oben, p. 142. 2) Auch Middendorff hörte bei den Giljaken am 4) Müller, Samm]. Russ. Gesch. Bd. II, 302, 320, 355; Ochotskischen Meere von einem am Amur wohnhaften | Aono.an. x& arrans ucrop. T. II, erp. 55, 364, 524, T. IV, Volke «Tschjoldö» (s. dessen Reisebericht, im Bull. de | crp. 82, 95; Cxas. o Be.ıukoii pbrb Anypb u np. (Cnac- la cl. physico-math. de l’Acad. Imp. des sc. T. IV, p. 235; | criit, Cuba. Pycer. o p. Amypb 3» XV. cro.. — Btceru. dsgl. in den Beitr. zur Kenntn. des Russ. Reiches, Bd. IX, | Teorp. O6. 4. VII, 1853, Ora. U, erp. 18, 19). 2. Abth. p. 618). 150 Die Völker des Amur-Landes. erste Dorf der Ketscheng seit), — offenbar das jetzige Dondon, mit welchem, wie wir oben sahen, die unteren Golde beginnen. Die Djutscheren schoben sich also am unteren Amur quer zwischen den Ussuri- und den (unteren) Amur-Golde vor, — ein Ackerbau, Viehzucht und manche ländliche Industrien betreibendes Volk zwischen halbwilden, ausschliesslich vom Fisch- fang und von der Jagd lebenden Stämmen. Von den russischen Kosaken und Freibeutern werden sie wiederholentlich als «chinesische ackerbauende Leute» (kmraückie nmoteBbIe Au) be- zeichnet). Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, dass die Djutscheren ein Mandshu- Stamm waren, und zwar, wie schon der Name beweist, Nachkommen jener Jutschi, Njutschi, Dshurdschi, die ım XI. Jahrhundert die Macht der Khitan stürzten und sich an deren Stelle zu Beherrschern des Chinesischen Reiches unter dem Namen der Kin erhoben, einer von den Stämmen, aus deren Vereinigung im XVII. Jahrhundert die Mandshu hervorgingen?). Aus ihrer Heimath am Sungari nordwärts vordringend, waren sie einerseits an den Amur oberhalb des Bureja-Gebirges gelangt, wo sie jedoch unter den zahlreicheren angesessenen Dauren nur wenig Fuss gefasst zu haben scheinen, wie man aus dem Umstande schliessen möchte, dass Chabarof z. B. sie dort gar nicht kennen gelernt hat; andererseits verbreiteten sie sich vom Sungari den Amur abwärts bis über die Ussuri-Mündung hinaus, wo sie in das Gebiet der Golde vordrangen. Man darf aus der oben hervorgehobenen Gleichartigkeit und Zusammengehörigkeit der Ussuri- und der Amur-Golde mit'grosser Wahrscheinlichkeit den Schluss ziehen, dass sie in conti- nuirlicher Verbreitung den Ussuri und einen grossen Theil des Amur unterhalb dieses letzteren, bis etwa zur Gorin-Mündung, inne hatten. Diese Continuität ihres Verbreitungsgebietes an beiden Strömen wurde durch das Vordringen der Djutscheren unterbrochen, und zwar entweder ganz, indem die Golde vor dem überlegenen Feinde sich zurückzogen, oder, was mir wahrscheinlicher dünkt, zum grössten Theil, indem die Zurückgebliebenen sich der Herrschaft der Djutscheren fügten, ihnen dienstbar wurden und sich ihrer Sitte und Lebensart anbequemten, wie sie es noch heutzutage den Mandshu und Chinesen gegenüber thun. Eine natürliche Folge davon war, dass die Golde von oberhalb Dondon und des Geong-Gebirges sich auch in sprachlicher Beziehung anderen Einflüssen als ihre unterhalb dieser Grenze wohnenden Landsleute ausge- setzt sahen, wodurch wohl zum grossen Theil jene sprachliche Differenz zwischen den oberen und den unteren Golde entstand, deren wir oben erwähnten. Dieser Verbreitung der Djutscheren am Amur, weit in das Golde-Gebiet hinein, setzten die Kriegs- und Raubzüge der Russen ein unbeabsichtigtes Ende. Da die kühn vordringenden russischen Eroberer weder selbst mit dem Anbau des Landes sich abgaben, noch für eine regel- 4) Du Halde, Descer. de l’Emp. de la Chine, T. IV,p. 7. | Göttingen, 1830, I. Thl. p. 64; Ritter, Asien, Bd. I, 2) Cra3. o sea. pbrb Amypb,l. c. p- 404, u. A. Uebrigens sprach sich schon Witsen 3) Klaproth, Descript. de la Chine sous le rögne de | (Noord en Oost Tartar. Ausg. 1692, 2. Thl. p. 103; Ausg. la dynastie Mongole, trad. du Persan de Rachid-eddin, | 1705, p. 266) ganz in diesem Sinne aus. Desgleichen Ger- Paris 1823, p. 28; desselben, M&m. relat. ä l’Asie, Paris, | billon (Du Halde, Descr. de ’Emp. de la Chine, Paris T. I, 1824, p. 449; Plath, Die Völker der Mandshurey, | 1735, T. IV, p. 37) u. A. Golde. Wandern in das von den Djutscheren verlassene Gebiet ein. 151 mässige Zufuhr von Lebensmitteln Sorge trugen, sondern ihren Unterhalt nur daher bezogen, dass sie die Dörfer und Aecker der Eingeborenen plünderten, so beschloss die chinesische Re- gierung, ihre ackerbauenden Völker vom Amur und unteren Sungari zurückzuziehen und da- durch die Russen dort gewissermaassen auszuhungern. Als Stepanof und Puschtschin im Frühling 1656 aus ihrer Winterfeste, Kossogirskoi Ostrog im Oltscha-Lande, wieder den Amur aufwärts fuhren, fanden sie die Dj utscheren dort nieht mehr vor; eben so wenig am unteren Sungari: ihre Dörfer waren eingeäschert, ihre Felder unbestellt; kaum fanden sich einzelne Menschen — vermuthlich den Djutscheren dienstbar gewesene Golde — von welchen sie erfuhren, dass ein Abgesandter des chinesischen Kaisers, Namens Ssergudai, den Djutscheren den Befehl überbracht hatte, ihre Wohnsitze am Amur und unteren Sungari zu verlassen, die Häuser in Brand zu stecken, die Aecker zu verwüsten und an den Churcha, einen Nebenfluss des Sungari, überzusiedeln). Diese Maassregel der chinesischen Regierung hatte in der That den Erfolg, dass der untere Amur und der Sungari von den russischen Freibeutern fortan nicht mehr heimgesucht wurden, allein sie schränkte zugleich die Ausbreitung der Mandshu (Dju- tscheren) ein und verwandelte weite, fruchtbare, angebaute Strecken am Amur und Sungari in Wüsteneien. Statt der ackerbauenden Djutscheren breiteten sich nun allmählich ichthyo- phage Golde am unteren Amur und Ussuri in dem von jenen verlassenen Gebiete aus. So stellte sich die durch die Djutscheren, wenn auch vielleicht niemals ganz unterbrochene Continuität in der Verbreitung der Golde am Amur und Ussuri wieder her; ja, so fassten sie auch Fuss am Sungari, an dem sie früher, wie es scheint, niemals heimisch gewesen sind. Die Nähe dort der Mandshu und Chinesen, besonders der letzteren, welche ihnen manche ihnen zum Bedürfniss gewordene Nahrungs- und Luxusartikel im Handel zutragen und denen sie sich auch möglichst zu assimiliren trachten, scheint sogar die Golde hauptsächlich an den Sungari gelockt zu haben, da sie dort gegenwärtig, den Nachrichten der Reisenden zufolge?), wenn auch auf das rechte Stromufer beschränkt, doch in verhältnissmässig ansehnlicher Zahl vorhanden zu sein scheinen. In dem ehemals von Djutscheren bewohnten Theile des Amur-Stromes hingegen traf ich, genau zwei Jahrhunderte nach ihrer Auswanderung, die Golde im Vergleich zu dem unterhalb Dondon gelegenen Gebiete und zum Ussuri nur in geringer Anzahl. Insbesondere überraschte es mich, an dem mächtigen, vielgetheilten, inselreichen Strome oberhalb der Ussuri-Mündung, wo er durch fruchtbare, am rechten Ufer hin und wieder von kleinen Gebirgen unterbrochenen Prairien hinfliesst, nur wenige und meist kleine Golde-Dörfer anzutreffen. Und obgleich die Insassen derselben ausschliesslich vom Fischfang leben, stösst man am Ufer des Stromes zu- weilen noch auf einzelne Cerealienhalme. Das sind Thatsachen, die in den oben besprochenen Ereignissen der Völkerverbreitung in diesem Stromtheile ihre Erklärung finden. 1) Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. II, p. 355, 356; | wurden, Kurga; es ist jedoch nicht schwer, in demselben ‚Aono.s. Kb akTam ucropny4. T. IV, crp. 82. Im Original- | den bei Ssan-ssin in den Sungari mündenden Churcha bericht Stepanof’s, am letzteren Orte, wie bei Müller | (chines. Mu-tuan) zu erkennen, heisst der Fluss, an welchen die Djutscheren versetzt 2) Maximowicz, Barabasch; s. oben, p. 29. 152 Die Völker des Amur-Landes. Nach all’ dem Obigen wird man, glaube ich, den Schluss berechtigt finden, dass wie nahe auch die Golde und Oltscha einander dort stehen, wo sie seit Jahrhunderten unter gleichen Verhältnissen neben einander wohnen, und wie oft sie auch mit einander verwechselt worden, wir uns doch die Geschichte ihrer ursprünglichen Ausbreitung im Amur-Lande sehr verschieden zu denken haben. Denn während die Oltscha ehemalige Rennthiernomaden sind, die aus den westwärts gelegenen Gebirgen nach Verlust ihrer Rennthiere in das Amur-Thal niedergestiegen und zu Fischern geworden sind, hat die Verbreitung der Golde in das Amur-Land höchst wahrscheinlich von Süden her stattgefunden. Die nahe Verwandtschaft derselben mit den Mandshu lässt vermuthen, dass ihre Heimath derjenigen dieser letzteren benachbart war, also ebenfalls am Fusse des Schan-alin- oder Tschang -pe-schan-Gebirges lag, und dass während die Mandshu von dort aus in dem Flussgebiet des Sungari sich ausbreiteten, die Golde nach dem Ussuri hinabstiegen und diesen abwärts an den unteren Amur-Strom ge- langten. Von den drei noch übrigen Völkern des Amur-Landes, den Negda, Samagirn und Kile am Kur, fehlt es uns an allen historischen Nachrichten, um über etwaige Verschiebungen und Veränderungen ihrer Wohnsitze zu urtheilen. Da sie den Rennthier-Tungusen des Stanowoi- Gebirges näher wohnen und mit ihnen auch näher verwandt sind als die Amur-Stämme, so lässt sich wohl vermuthen, dass sie aus jenen Gebirgen des Festlandes, und zwar nachdem schon die Oltscha zum Amur-Strom ausgewandert waren, in die betreffenden Thäler des Amgunj, Gorin und Kur hinabgestiegen sind. In den ältesten russischen Nachrichten werden die Negda nur schlechtweg als Tungusen vom Amgunj (Omut) bezeichnet'). Die erste Erwähnung ihres jetzt gebräuchlichen Namens, wenn auch in etwas anderer Form, finde ich im Bericht des Schiffslieutenants Kosmin über seine Arbeiten zur Aufnahme der Meeresküsten am Udj-Busen und auf den Schantaren. Da heisst es, der Priester Djatschkovskij habe, von seiner Amtsreise im Februar 1830 nach Udskoi Ostrog zurückgekehrt, erzählt, dass in Burukan bei der Ankunft russischer Leute das Gerücht sich verbreitet habe, ein russisches Schiff werde an die Tugur-Mündung kommen und alle umwohnenden Eingeborenen, wie Giljaken, «Negedanzen» u.s. w., müssten sich alsdann taufen lassen ?). Middendorff, der die Negda am Nemilen aufsuchte, nennt sie «Nigidal» und «Nigidaler»°®), was aber, glaube ich, auch nur der Bezeichnung entnommen ist, welche die 1) Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. II, p. 295. Siehe | des sc. T. IV, p. 237; Beitr. zur Kenntn. des Russ. Reichs, auch oben, p. 113. Bd. IX, 2. Abthl. p. 621; Reise in den Norden u. Osten 2) Onue» Yacr. Öep. u Ilauraper. ocrp. 8% 1829, 1830 | Sibir. Bd. IV, p. 1523 u. a.- Er schreibt übrigens den u 1831 rr. (3an. Dıraporp. Aenapr. Mopex. Munucrp. 4. IV, | Namen dieses Volkes auch «Nigidahl» und fügt hinzu, C. Herepöypr® 1846, crp. 36). der Plural laute «Nigidatter». 3) Bullet, de la cl. physico - mathem. de l!’Acad. Imp. Negda. Bezeichnung derselben seitens der Russen und der Giljaken. 153 Russen am Amur und in Udskoi Ostrog diesem Volke geben und welche «Neidalzy, Nigidalzy» und «Nischdalzy» lautet'). Schon diese Schwankungen der russischen Bezeichnung, Negedanzy und Nei- oder Nigidalzy, weisen darauf hin, dass das / nieht zum ursprünglichen Namen ge- hört, sondern nur russisches Anhängsel ist. Ein Mann dieses Volkes, den ich im Sommer 1855 im Dorfe Tyr am Amur traf, bezeichnete sich mir gegenüber als «Negda» vom «Amhun». Denselben Namen habe ich wiederholentlich im Amur-Lande brauchen hören, ohne mir freilich gegenwärtig über die einzelnen Fälle genauere Rechenschaft geben zu können. Auch Midden- dorff giebt endlich auf der von ihm meist nach chinesischen Angaben zusammengestellten, un- edirt gebliebenen Karte («Erster Versuch einer hydrographischen Karte des Stanowoi-Gebirges und seiner Ausläufer zwischen dem 45. und 62. Grade n. Br.») den zum Theil von Negda be- wohnten See Orell unter dem Namen «Negda-See» an?). Nach alledem scheint mir diese jedenfalls ursprünglichere Form vor der aus ihr abgeleiteten russischen Bezeichnung «Nigidalzen» und der von Middendorff gebrauchten «Nigidal» und «Nigidaler» den Vorzug zu verdienen. Fast möchte ich nach dem oben Angeführten glauben, dass «Negda» der Name ist, den sich das Volk selbst giebt, zumal ich mir sonst die Entstehung der russischen Bezeichnung gar nicht zu er- klären weiss. Middendorff giebt freilich an, dass sie sich selbst «Ylkän» nennen’); sollte dies aber nicht vielleicht der Name sein, den ihnen ihre Nachbaren, die Tungusen am Tugur oder im Stanowoi-Gebirge geben? Der giljakische Name für die Negda lautet, wie ich mich durch wiederholte Nachfragen bei den Giljaken (z. B. Judinin Tebach u. a.) überzeugt habe, «Rhdy» und «Rhdyngu»%). Mit Hülfe desselben lässt sich, glaube ich, auch der Name dieses Volkes im Reise- bericht Mamia Rinsö’s wiedererkennen. Als der japanische Reisende im Dorfe Noteito unter Giljaken an der Westküste Sachalin’s winterte (1809), wurden ihm verschiedene Völker ge- 1) Unter dem ersteren Namen erwähnt ihrer nament- lich Orlof, in seinem Bericht vom Jahre 1848 an die Hauptverwaltung der Russisch-Amerikanischen Companie über seine Fahrt zum Orte Burukan am Tugur, wo er in Gesellschaft vieler Tungusen auch 20 Personen beiderlei Geschlechts aus diesem am Amgunj wohnhaften Volke antraf (I. Tuxmenpess, WMcrop. 0603p. o6pa3. Pocc.- Amepux. Konn. 4. II, crp. 62, Ilpım.). Dieselbe Bezeich- nung, «Neidalzy», findet sich beständig bei Boschnjak (Ixcn. 86 Ilpu-amyper. kpab. — Moper. C6opn. 1839, N: 2, Y. neos., crp. 332). Dem Namen «Nigidalzy» begegnet man z. B. in den Briefen des Erzpriesters (nachmaligen Erzbischofs von Jakulsk und noch späteren Mitropolits von Moskau) Innokentij an den Mitropolit Philaret, in denen er nach Berichten des Priesters von Udskoi Ostrog von der schon im Jahre 1845 erfolgten Bekehrung einiger Individuen sowohl dieses Volkes, als auch anderer Stämme des Amur-Landes zum Christenthum spricht (vrgl. Tich- menjef,l.c.p. 63). In Schenurin’s Artikel «OÖ nogom® uyrtu u35 Hukoa. nocTa, yro Ha p. Anypt, 36 Yackiit Oc- Schrenck's Amur-Reise, Band III. por» (3a. Cu6. OrtA. Uns. Pycex. Teorp. 06m. Ku. III, 1857, Cmt&cp, crp. 11) heisst das Volk «Nischdalzy», und derselbe Name findet sich in den von Romanof (Ipne. Amypa x» Pocein. — Pycex. C.10B0, 1859, Iroup, OrA. I, crp. 363) kurz reproducirten Angaben des Bauern Kudrjav- zef oder Kudrjaschef, der in den Jahren 1818 und 1819 mit einigen Angehörigen dieses Volkes am Orte Burukan zusammentraf und an den Amgunj ging. Sollte aber «Hum- AaAbusr» nicht bloss ein Druckfehler für «Huru- AaAbU5I» sein? 2) S. oben, p. 16. Näheres über diese Karte s. in Mid- dendorff’s Reise etc. Bd. IV, p. 142. 3) Reise etc. Bd. IV, p. 1524. A. a. O. sind auch die Namen angegeben, mit welchen die Negda verschiedene andere Völker bezeichnen; so sollen sie die russischen Tungusen«Dumgytka», dieGiljaken«Giljäka», die Jakuten «Jöko» nennen. Die letzteren Namen deuten jedenfalls auf russische Vermittelung hin. 4) Das h hinter dem r soll die schnarrende Aussprache des letzteren bezeichnen. 20 154 Die Völker des Amur-Landes. nannt, die im Amur-Lande zusammenkämen, darunter auch die «Adä»'). Siebold versucht zwar diese Völkernamen zu deuten und thut es, wie wir oben sahen, zum Theil in der abenteuer- lichsten Weise, indem er z. B. die Kordekke (Golde) für Korjaken hält, bei den Kiakkara (Orotschen) an die Bergkirgisen denkt u. s. w., allein den Stamm der Idä weiss er dennoch in keiner Weise zu ermitteln °). Erwägt man aber, dass Mamia Rinsö seine Angaben von den Giljaken bezog und dass aus «Rhdy» im sachalinischen Dialekt des Giljakischen «Rhda» wird, so liegt es nahe, zumal bei der schnarrenden, etwas undeutlichen Aussprache des r, den Namen «lIdä» nur für eine Entstellung von «Rhda» zu halten und ihn somit auf das Volk der Negda zu beziehen. Neueren Datums noch als die Kenntniss der Negda ist diejenige der Samagirn vom Gorin. Als Middendorff die Negda am Nemilen besuchte, hörte er bloss von dem Volke der «Scha- magren», das weit jenseits des Amgunj wohnen sollte, von welchem aber Einige alljährlich in Böten den Nemilen aufwärts bis nach Chamykan kämen; leider waren sie jedoch in dem Jahre (184%) nicht erschienen). Erst als die Russen, zu Anfang der fünfziger Jahre, sich am unteren Amur festsetzten, lernte man auch die Samagirn kennen. Ich habe sie im Winter 1855 in ihren Wohnsitzen am Gorin aufgesucht, und mein Reisebericht) enthält wohl die erste gedruckte, auf Autopsie beruhende Nachricht über dieselben. Der Name «Samagir» ist uns gleichwohl schon lange bekannt,.da es nur ein tungusischer Geschlechtsname ist, der sich bei der weiten Verbreitung und Versprengung des Tungusen-Stammes auch an manchen anderen Orten wiederholt. So berichtete schon Pojarkof, dass er an der Dseja (im Winter 1644) einen «Schamagir»-Tungusen, Namens Topkuni, als Geissel eingezogen und über das Land ausgefragt habe°). Georgi zählt unter den Tungusen der Baunt-Gegend auch den «Tscha- magir»- und unter den Bargusinischen den «Schamagim»-Stamm auf®); auch Radde wurde für die Bargusin-Gegend und die nördliche Angara der «Samagir»-Stamm angegeben‘). Hier liegt also die Vermuthung nahe, dass es versprengte Glieder des tungusischen Samagir-Geschlechtes waren, wie man es noch in der Baikalgegend findet, die nach dem Verlust ihrer Rennthiere aus dem Stanowoi- oder dem Bureja-Gebirge nach dem Gorin hinabstiegen und dort den Grund zu dem jetzigen Samagir-Volke legten, das im Laufe der Zeit durch veränderte Lebensweise und durch Verkehr und Vermischung mit seinen jetzigen Nachbaren, den Golde, Oltscha und Negda, sowie in Folge mandshu-chinesischen Einflusses zu einem vom ursprünglichen nach Sprache und Sitte vielfach verschiedenen Gepräge gelangten. So lässt sich bei ihnen, gleich wie 1) To-tats ki ko (Siebold, Nippon, VII, p. 169). chim. T. I, p. 452. 2) L. c. p. 199. 5) Aouo.m. kb artanıp ucropusu. T. III, crp. 52, 53. 3) Middendorff, Reisebericht (Bulletin de la classe 6) J. G. Georgi, Bemerk. einer Reise im Russisch. physico -math. de l’Acad. Imper. des sc. T. IV, p. 238; | Reich, im Jahre 1772, St. Petersburg 1775, Bd. I, p. 245. Beiträge zur Kenntn. des Russ. Reichs, Bd. IX, 2. Abthl. 7) G.Radde, Bericht über Reisen im Süden von Ost- p. 622); desselben, Reise etc. Bd, IV, p. 1536. Sibirien (Beitr. zur Kenntn. des Russ. Reichs, Bd. XXI, 4) Datirt vom 7. Mai 1855; s. Bull. de la cl. physico- | p. 233, Anmerk.); desselbon, Osepo Baikaıs (Bbere. Hau. math. de l’Acad. Imp. des sc. T. XIV, p. 189; Mel. phys. et | Pycex. Teorp. O6. 4. XXI, 1857, Ora. U, crp. 145). Samagirm, Kile am Kwr. Ehemalige Gebirgs- und Rennthiernomaden. 155 bei den Oltscha, aus dem Namen, den sie tragen, ein Stück ihrer Vergangenheit und Geschichte herleiten. Ob übrigens die Samagirn sich selbst in der Gesammtheit mit diesem Namen be- zeichnen, habe ich von ihnen nicht erfahren können. Wahrscheinlich aber ist es wohl, da einer- seits ihre nächsten Stammverwandten und Nachbaren, die Negda, mit denen sie in vielfachem Verkehr stehen, sie ebenfalls so nennen !), und da ich sie andererseits auch von den Chinesen als «Sama-kil» habe bezeichnen hören. Durch Vermittelung der Negda, mit denen die Russen früher als mit den Samagirn in Berührung kamen, ist auch die russische Bezeichnung «Sa- magirzy» für das Volk am Gorin entstanden. Mit dem Obigen steht es nicht im Widerspruch, wenn die Samagirn, wie ich mich selbst überzeugt habe, Fremden gegenüber sich auch «Kile» nennen, da dies, wie oben ausführlich dargethan?), der Collectivname ist, den ihnen, sowie den meisten anderen tungusischen Stämmen des unteren Amur-Landes, ja mitunter selbst den Giljaken, die Chinesen ertheilen. «Kil» lautet endlich auch der Name, den ich von den Giljaken für die Samagirn habe brauchen hören. Daher unterliegt es, glaube ich, kaum einem Zweifel, dass wenn Mamia Rinsö nach Angabe von Sachalin-Giljaken eines Volkes «Kirem» im Amur-Lande erwähnt®), darunter die Samagirn zu verstehen sind, und keineswegs, wie Siebold meint®), der Volksstamm, der den Landstrich «Kyrin-ula», also die Gegend von Girin am Sungari bewohnt. Was endlich die Kile am Kur betrifft, so ist oben schon erwähnt worden, dass die erste Kunde von ihnen erst seit meiner Reise stammt, obgleich ich sie selbst auch nicht besucht habe, sowie dass uns sogar der richtige Name derselben bisher noch unbekannt ist, da «Kile» nur ein bei den Chinesen und demzufolge auch bei den Golde u. a. gebräuchlicher Collectiv- name für verschiedene tungusische Völker des unteren Amur-Landes ist’). Wie schon die jetzigen Wohnsitze dieses Volkes am Kur, dessen Quellen im Wanda-Gebirge, einem Zweige des Bureja-Gebirges, liegen, vermuthen lassen, sind es wahrscheinlich wohl Jäger und vielleicht ehe- malige Rennthiernomaden dieser Gebirge gewesen, die sich als Fischer am Kur niederliessen und diesen Fluss abwärts bis zum Amur ausbreiteten. Während aber die veränderte Lebens- weise, der Handel und Verkehr mit den Golde und Chinesen ihnen im Laufe der Zeit ein wesentlich anderes und mehr oder weniger eigenthümliches Gepräge verleihen mussten, blieben sie mit ihrer Jagd, die ihnen die nothwendigen Handelsmittel liefert, auf jene Gebirge ange- wiesen, wo sie mit Biraren, gewiss ihren nächsten Stammverwandten, und bei weiteren Streif- zügen mit Manägirn, ja auch mit russischen Rennthier-Tungusen zusammenstossen mussten, von denen allen sie auf den ersten Blick schwer zu unterscheiden sein dürften. Ich kann mich daher der Vermuthung nicht entschlagen, dass wenn Middendorff unter den Buralen (Biraren) an der Bureja einen antraf, der sich als «Guragv» bekannte), dies ein Kile vom Kur war. Denn 4) Middendorff, Reise etc. Bd. IV, p. 1524. 4) L. c. p. 199. 2) S. oben, p. 102 ff. 5) S. oben, p. 34 und 102 ff. 3) Tö-tats ki ko (Siebold, Nippon, VII, p. 169). 6) Middendorff, Reise etc. Bd. IV, p. 1505. 20* 156 Die Völker des Amur -Landes. bei dem so häufig vorkommenden Auslaut der tungusischen Geschlechtsnamen auf «gir», wäre «Kuragir», und bei härterer Aussprache «Guragir», gerade die Bezeichnung, welche man für die Anwohner des Kur zu erwarten hätte. Bemerkt aber Middendorff an einem anderen Orte!), anknüpfend an die von Milowanof erwähnten Birar-Tungusen am oberen Ssilim- dshi?), es seien «richtiger vielleicht Guragr, die zum Stamme der Manegir gehören», so steht dies bei der allgemeinen nahen Verwandtschaft aller dieser Stämme untereinander und der noch so sehr geringen Kenntniss derselben, zumal der sogen. «Guragr», jener Vermuthung vor der Hand nicht im Wege. Weit mehr Verschiebungen in den Verbreitungsgebieten der Völker als am unteren Amur- Strome haben in den letzten Jahrhunderten, so weit uns historische Nachrichten vorliegen, im oberen Amur-Lande stattgefunden. Und dies aus dem Grunde, weil das obere Amur-Land in viel hö- herem Grade sowohl von den Angriffen und Verheerungen der russischen Kosaken- und Frei- beuterschaaren, wie von den. zur Abwehr derselben chinesischerseits ergriffenen Maassregeln betroffen wurde. Man braucht, um sich davon zu überzeugen, nur die Völkervertheilung, welche die Russen auf ihren ersten Zügen im oberen Amur-Lande antrafen, mit derjenigen zu verglei- chen, welche wir, wie oben geschildert, zwei Jahrhunderte später daselbst vorfanden. Geht man den Amur von der Sungari-Mündung aufwärts, so ist hier zunächst eines Volkes zu erwähnen, welches den russischen Berichten zufolge im XVII. Jahrhundert um den das Bureja- Gebirge durchbrechenden Theil des Stromes, sesshaft war, und dessen Spur sich gegenwärtig weder dort, noch anderswo mit Sicherheit auffinden lässt. Es sind dies die Goguli. So nennt sie Chabarof, der auf seinem Zuge stromabwärts im Jahre 1651 ihre Dörfer am Amur, im Ge- birge wie ober- und unterhalb desselben antraf®). Jetzt breitet sich, wie wir sahen, unterhalb des Gebirges eine unbewohnte Prairie aus, auf welcher nur zeitweise, zum Fischfang einige wenige halbnomadische Golde vom Sungari sich einfinden; im Gebirge aber und oberhalb desselben am Amur wohnen nur spärliche Biraren. Was waren nun die Gogulen und wo sind sie geblieben? Der Uebersetzer und Ergänzer von Ritter’s Asien, Hr. Ssemenof, meint, dass es dasselbe Volk sein könnte, welches man später unter dem Namen Golde kennen gelernt hat‘). Dieser Vermuthung, die nur auf einer entfernten Lautähnlichkeit der betreffenden Namen beruht, kann ich jedoch keineswegs bei- stimmen. Chabarof lernte auf seinem Weiterzuge die Golde (bei ihm Atschanen)? selbst kennen, aber nicht eher, als nachdem er durch das ganze Gebiet der Djutscheren, d. i. von der Sungari-Mündung ab noch 7 bis 8 Tagereisen den Amur abwärts gegangen war. Erst nach- 1) Reise etc. Bd. IV, p. 167. 4) 3emaerba. Asin R. Prrrrepa. Ieper. cv aono.au. 2) S. oben, p. 36. cocrası. U. Cemenossıme, T. I, C. Herepöyprv 1856, 3) Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. II, p. 320; Ao- | erp. 187, Hpum. (***). 10.11. Kb aktamp ucrop. T. III, crp. 364. 5) S. oben, p. 106, 112 fi. Gogulen. Deutung ihrer Nationalität. Abzug vom Amur. 157 dem die Djutscheren, wie oben erwähnt, auf Geheiss der chinesischen Regierung ihre Sitze am Amur und unteren Sungari verlassen mussten, konnten die Golde sich auch westwärts von der Ussuri-Mündung und bis in den Sungari hinein ausbreiten, aber die Mündung des letztge- nannten Stromes am Amur zu überschreiten, blieb ihnen auch in der Folgezeit untersagt'). Und gleichwie nach ihren Wohnsitzen, können die Gogulen auch nach dem, was sich aus Chabarof’s Bericht über ihre Lebensweise entnehmen lässt, unmöglich Golde gewesen sein. Denn diese waren damals, wie sie es auch noch sind, ausschliesslich Fischer; von den Gogulen aber heisst es, dass sie gleich den Djutscheren von Ackerbau und Viehzucht lebten und sich von den letzteren vornehmlich nur dadurch unterschieden, dass ihre Dörfer viel kleiner waren, indem sie in der Regel nicht über 10 Häuser enthielten, während diejenigen der Djutscheren deren 60 bis 80 zählten. Schon aus diesem letzteren und mehr noch aus einem anderen Grunde, den ich sogleich anführen will, möchte ich mir über die Nationalität der Gogulen eine andere Vermuthung er- lauben. Es ist bemerkenswerth, dass Chabarof der einzige ist, der eines Volkes dieses Namens erwähnt. Weder vor, noch nach ihm ist von einem solchen die Rede. Sein Vorgänger am Amur, Pojarkof, nennt nur ein Dorf Goguli, das am Einfluss des Ssilimdshi in die Dseja lag und in welchem eine kleine daurische Festung sich befand ?). In dem Stromtheile, in welchem nach Cha- barof die Gogulen sassen, lässt Pojarkof, und zwar schon von der Dseja ab, die Djutscheren wohnen. Während also Chabarof diese beiden Völker von einander unterscheidet und die Sungari-Mündung als Grenze ihrer respectiven Wohngebiete angiebt, fasst Pojarkof sie unter dem gemeinsamen Namen Djutscheren zusammen. Wer von ihnen mehr Recht hatte, müssen wir dahingestellt sein lassen. So viel scheint mir aber aus dem Gesagten als wahrscheimlich her- vorzugehen, dass es jedenfalls nahe verwandte, vielleicht nur dialektisch leicht von einander verschiedene Stämme des Mandshu-Volkes waren, so dass man die Gogulen auch als Dju- tscheren von oberhalb der Sungari-Mündung bezeichnen könnte, gleichwie wir z.B. unter den Golde nach dialektischer Verschiedenheit obere und untere oder Golde von ober- und von unterhalb des Geong-Gebirges unterschieden haben. Ferner wird es alsdann wahrscheinlich, dass, als die Djutscheren chinesischerseits den Befehl erhielten, ihre Wohnsitze am Amur zu ver- lassen und nach dem Sungari-Lande überzusiedeln, dieses Gebot auch auf ihre oberhalb des Sungari am Amur wohnhaften Vettern, die Gogulen sich erstreckte, indem es der mandshu- chinesischen Regierung darauf ankam, ihre Hauptsitze am Sungari den Russen durch Entvöl- kerung der Amur-Ufer möglichst unzugänglich zu machen. Aus diesem Grunde wurde von ihr die gleich oberhalb der Sungari- Mündung am Amur gelegene Gegend auch später in ganz unbevölkertem Zustande erhalten. So verschwanden gleich den Djutscheren auch die Gogulen vom Amur-Strome: wo vor zwei Jahrhunderten ihre Dörfer und Aecker lagen, breitet 4) S. oben, p. 28, 35. Auch die wenigen Golde, die man | dern indem sie vom Sungari mit Lastpferden über die zeitweise oberhalb der Sungari-Mündung am Amur an- | Prairie ziehen. trifft, kommen dahin nicht diesen Strom aufwärts, son- 2) Aono.u. Kb akTam ucropny, T. II, crp. 54. 158 Die Völker des Amur - Landes. sich jetzt unterhalb des Bureja-Gebirges eine öde, unbetretene, hochgrasige Prairie aus, und nur in den Theil ihres ehemaligen Gebietes, der im Gebirge selbst und oberhalb desselben lag, sind — dem Einzuge der Golde in das von den Djutscheren verlassene Gebiet analog — spärliche, halb nomadische, halb sesshafte Biraren eingerückt. Oberhalb der Gogulen breitete sich zur Zeit der ersten russischen Invasion im XVII. Jahrhundert am Amur und seinen grösseren Neben- und Quellflüssen das Land der Dauren aus. So viel ich weiss, findet sich die erste gedruckte Erwähnung dieses Namens auf Witsen’s oben besprochener Karte vom Jahre 1687 !), auf welcher das obere Amur-Land die Aufschrift «Dauria» trägt, sowie in seinem bald darauf erschienenen Werke «Noord en Oost Tartarye», in welchem der Dauren unter verschiedentlicher Abänderung dieses Namens, wie «Daurianen, Dauhri, Daori», oder zuweilen — da Witsen’s Mittheilungen hauptsächlich russische Nachrichten und Erzählungen zu Grunde lagen — mit deutlich erkennbarer Anlehnung Form, wie «Daoertzen, Doursky und Dawersky Volk» u. dgl., Erwähnung geschieht). Zum Theil dieselben und zum Theil noch andere Versionen dieses Namens kommen auch bei den späteren Schriftstellern und Reisenden vor. So bemerkt Ysbrants Ides, der im Jahre 1693 auf seiner Reise nach Peking das ganze sogenannte daurische Land südlich vom Amur durchzog, dass die Bewohner desselben «Daorm oder in alter Sprache «Dauri heissen SR nennt sie aber an anderen Stellen seines Werkes, offenbar nach russischer Version, auch «Daorzi und «Daourzem‘). Bei den alten Jesuiten-Missionären heissen sie «Tagouri»°®); auf der Grosier’s Werk über China ®) begleitenden Karte «Tahuri». Pallas nennt sie mit dem Namen, den ihnen die heutigen Tungusen in Daurien geben sollen, «Daguren»?), und unter demselben Namen werden sie auch in einer russischen, über die Nertschinsker Berg- und Hüttenwerke handelnden Schrift vom Jahre 1780 angeführt®). Nach Ritter werden in der chinesischen Reichsgeographie der Tai- Tsing vom Jahre 1818 unter den Völkernsdes Departements He-long-kiang (Amur) auch die «Dachov» aufgezählt °). Aus derselben Quelle führt sie Pauthier '°) unter dem chinesischer lauten- an die russische 1) Karte van het Noorder- en Ooster-Deel van Asia en Europa etc. Volkes als des Landes sei (Du Halde, 1. c. p. 36). 6) Descript. gener. de la Chine, Paris 1787, T. I. Im 2) So z. B. Ausg. 1692, 2. Thl. p. 27 fi., 31 ff., 520, 528; Ausg. 1705, p. 64 fl., 85 f., 92, 838, 847 u. a. m. 3) Driejaarige Reize naar China, Amsterdam 1704, p- 70. 4) L. c. p. 129. 5) Du Halde, Descript. de ’Emp. de la Chine, T. IV, p- 15; d’Anville, Nouy. Atlas dela Chine, La Haye, 1738, Pl. N 1 et 18. Der Pater Gerbillon macht auch die Bemerkung, dass das Land der Solon von den Russen «Dauyr&» genannt werde, was jedoch eher der Name des Texte dieses Werkes(p. 148 fi.)werden die Dauren auch «Tagouri» genannt. 7) Reise durch verschiedene Prov. des Russ. Reiches, St. Petersburg, Bd. IN, 1776, p. 238, 428. $) In deutscher Uebersetzung in Pallas’ Neuen Nord. Beyträgen, Bd. IV, 1783, p. 200. 9) Ritter, Die Erdkunde von Asien, Bd. III, p. 442. 10) Chine moderne, ou descript. hist., geogr. et lilter. de ce vaste empire, I-® partie, Paris 1853, p. 168. Dauren. Verschiedene Versionen ihres Namens. Erste Kunde von diesem Volk. 159 ° * den Namen «Ta-hou-eurh» an. «Dachum soll endlich nach Klaproth der Name sein, unter welchem dies Volk in einer chinesischen Beschreibung Russlands angeführt wird), und den- selben Namen trägt es auch in lakinf”s Beschreibung des Chinesischen Reiches ?). Man sieht, es sind nur Versionen eines und desselben Namens. Und zwar ist dies der Name, den sie sich selbst geben: «Dauoro» nannten sie sich mir gegenüber ®); «Dauor» oder «Dahor» giebt Maack als ihre Bezeichnung für sich selbst an‘), und «Dahur» würde dieselbe nach den Angaben des Archimandrits Palladij lauten®). Doch getraue ich mir keineswegs, irgend welche Ansieht hinsichtlich der Etymologie dieses Namens auszusprechen ®). Die erste Kunde von den Dauren kam den Russen, noch bevor sie das Amur-Land be- traten, fast gleichzeitig von zwei verschiedenen Seiten zu. Im Jahre 1639 hörten nämlich Toms- kische Kosaken, die an der Mündung des Flusses Ulja in das Ochotskische Meer winterten, von herangewanderten Udj-Tungusen, dass sie mit einem Volke Handel trieben, welches an den Flüssen Tschia (Dseja) und Ssilkar (Schilka und oberem Amur) seine beständigen Wohnsitze habe und von Ackerbau lebe, und dem sie ihre Zobel gegen Getreide vertauschten ?). Zwar wird der Name des Volkes in dieser Nachricht nicht genannt ®), allein aus den Angaben erhellt zur Genüge, dass damit die Dauren gemeint waren. Andererseits erfuhr der Jenisseiskische Kosaken- anführer Maxim Perfiljef, als er in den Jahren 1639 und 1640 den Witim und seinen Nebenfluss Zypir (Zipa) aufwärts ging, von den dortigen Tungusen, dass am oberen Witim von der Einmün- dung der Karga in denselben bis zum See Jerawna, so wie längs der Schilka bis zu deren Mündung, d. i. also wohl am oberen Amur bis zum Sungari, das Volk der Dauren wohne, welches von Acker- bau und Viehzucht lebe, Silbererze schmelze und mit den Chinesen grossen Handel betreibe, indem es von ihnen gegen Zobelfelle seidene Zeuge und mancherlei andere Waaren beziehe). Vier Jahre später, auf Pojarkof’s Zuge an den Amur, fand an der Dseja die erste Berührung zwischen den Russen und den Dauren statt, die anfangs zwar friedlich vor sich ging, bald aber jene blutigen und für die Dauren verheerenden Kämpfe nach sich zog, welche aus der Geschichte des Amur-Landes hinlänglich bekannt sind. Ungleich ihrer jetzigen zerstreuten Verbreitung, nahmen die Dauren damals ein weites, zusammenhängendes Gebiet ein, das den oberen Amur und seine Nebenflüsse, Dseja, Komar u. a. umfasste, längs seinen Quellflüssen, der Schilka und dem Argunj, weit 4) Klaproth schreibt französisch «Dakhour» (Deser. de la Russie trad. du Chinois. — Mem. relat. ä l’Asie, T. I, 1824, p. 93, 94). 2) Iarun®%, Crarucr, onuc, Ruraick, Unn. C. Derepo. 1842, 4. UI, crp. 12. 3) S. meinen Reisebericht (Bull. de la cl. physico-math. de l’Acad. Imp. des sc. T. XV, p. 248; Mel. russes tires du Bull. T. III, p. 354). 4) Maax$, Iyreu,. na Amyp%, crp. 254. 5) Haraaaiü, Aopoma. sambrku u op. (3a. Pycer. Teorp. O6. Io o6in. Teorp. T. IV, 1871, crp. 444). 6) Nur beiläufig die Bemerkung, dass Witsen diesen Namen aus dem Mongolischen herleitete, indem «daur» mongolisch «Grenze» und «Dauria» also das «Grenzland » bedeuten sollte (Noord en Oost Tartarye, 1705, p. 89). Nach Klaproth (Asia polygl. p. 273) heisst aber die Grenze im Mongolischen «sacha». 7) Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. II, p. 295. 8) Die betreffende Angabe bei Ritter (Asien, Bd. I, p- 602), der dies übersehen, wäre demgemäss zu berich- tigen. 9) Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. II, p. 296; Fi- scher, Sibir, Gesch, I, Thl, p. 528; s. auch oben, p. 99. 160 Die Völker des Amur - Landes. e hinauf reichte und ostwärts vom letzteren bis an den Nonni und seine Zuflüsse sich erstreckte. An der Dseja trafPojarkof, stromabwärts gehend, die ersten Dauren an der Mündung des Um- lekan !). Ohne Zweifel zogen sie schon damals, Handel treibend, längs der Dseja und ihrem Haupt- zuflusse, dem Ssilimdshi, wie an anderen nördlichen Zuflüssen des oberen Amur-Stromes auch weiter zu den Tungusen hinauf, zumal sie von ihnen die zum Handel mit den Chinesen so unumsgänglichen Zobelfelle erhielten; vom Umlekan ab aber sassen sie an der Dseja und weiterhin am Amur in zahlreichen und grossen Dorfschaften, mit verschiedenartigem Feld- und Gemüse- bau?) wie mit Viehzucht beschäftigt, ihre Häuptlinge oder Fürsten auch in kleinen, von Holz- werken, Erdwällen und Gräben geschützten Festungen, welche Chabarof in seinem Berichte sogar Städte nennt?), und die von den Dauren ursprünglich zur Vertheidigung gegen die mit der Er- oberung China’s auch nach dieser Seite hin sich ausbreitende Macht der Mandshu erbaut worden waren®). Am Amur unterhalb der Dseja erstreckten sich die Dauren bis in die Nähe des Bureja-Gebirges, wo nach Chabarof das Gebiet der Gogulen begann. Hier waren sie aber schon damals mit Mandshu untermischt, die Pojarkof schlechtweg Djutscheren nennt), wie auch die Anwohner des Amur-Stromes unterhalb der Sungari-Mündung, während Chabarof diesen Namen, wie wir oben sahen, nur den letzteren ertheilt. Einen dieser Mandshu traf Po- jarkof schon an der Dseja: es war, wie er ihn nennt, der Djutscheren-Fürst Tschinega, der ihn in seinem Winterquartier an der Umlekan-Mündung aufsuchte®) — vermuthlich ein Mandshu-Beamter, der sich behufs der Tributerhebung unter den dortigen Dauren aufhielt. Oberhalb der Dseja-Mündung am Amur lag reines, wenn auch ebenfalls der mandshu-chmesi- schen Regierung tributpflichtiges Dauren-Land. Dort sass eine zahlreiche Bevölkerung und befanden sich auch die meisten daurischen Festungen, unter ihnen auch diejenigen des Fürsten Lavkai, von dessen Reichthümern die Russen schon durch die Witim-Tungusen gehört hatten. Besonders waren von den Dauren auch die Mündungen der Nebenflüsse des Amur besetzt, da diese ihnen die besten Wege darboten, um zu den in den Verzweigungen des Stanowoi-Gebirges umherstreifenden tungusischen Völkern zu gelangen und sich durch Tauschhandel in den Besitz ihrer Jagdausbeute an Zobeln u. dgl. zu setzen. Der grösste der hier zum Amur mündenden Flüsse, der Komar, scheint damals sogar in seinem ganzen Laufe oder wenigstens bis hoch hinauf von den Dauren bewohnt gewesen zu sein’), — ein Umstand, der wohl auch für die 1) Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. II, p. 298; Ao- 10H. Kb AKTAMB ucTop. T. III, crp. 52. Mündung des Ssilimdshi in die Dseja lag, trägt bei Müller (l. c. p. 300) und bei Fischer (Sibir. Gesch. 2) Pojarkof nennt sechserlei Feldfrüchte, welche die Dauren an der Dseja und am Amur bauten: Gerste, Hafer, Hirse, Buchweizen, Erbsen und Hanf, und als Ge- müse und Gartenfrüchte: Gurken, Mohn, Bohnen, Knob- lauch, Aepfel, Birnen, Wallnüsse und Haselnüsse (Aono.ım. Kb aktamp ucrop. T. II, crp. 55). Müller (l. c. p. 301) erwähnt der Birnen und Wallnüsse nicht. 3) Müller,l. c. p. 308; Aono.an, x» akrams ucrop. T. II, erp. 359 u caba. Die daurische Festung, die an der |2. Thl. p. 783; desgl. seine Karte: Veter. Sibir. Tab. II) den Namen «Moldikitschid», wahrend sie in Pojarkof’s Originalbericht «Moldykiditsch» heisst (Aono.ım. x aktamı ucrop. T. Ill, erp. 53). 4) Müller, l. c. p. 313. 5) Müller, l. c. p. 302: Aono.an, n up. l. c. p. 6) Müller, l. c. p. 299; Aono.m. u up. l. c. p. 7) Crasan. o zeauk, pbrb Amypb u op. (Cuaccriüi, Bberu, Uno. Pycer. Teorp. O6. 1853, Ora. I, crp. 18). Dauren. Spuren alten Feld- und Bergbaues in Daurien. 161 Russen maassgebend war, um an der Mündung desselben eine Festung zu errichten (Komarskoi Ostrog), die zur Zeit ihrer Kämpfe mit den Dauren und ihren damaligen Oberherren, den Mandshu-Chinesen, neben Albasin eine Hauptrolle spielte’). Noch weiter den Amur hinauf, an seinen Quellflüssen, der Schilka und dem Argunj, waren die Dauren zu jener Zeit ebenfalls heimisch, und bekanntlich hat dieses Land, trotzdem es später seiner daurischen Bevölkerung vollkommen verlustig gegangen, den Namen Daurien bis auf den heutigen Tag beibehalten. Dort hatten sich die Dauren, dank ihrer grösseren Entfer- nung von den Hauptsitzen der Mandshu, unabhängiger von diesen zu erhalten vermocht, ja dorthin waren, um der sich ausbreitenden Macht der Mandshu zu entgehen, auch manche ihrer Landsleute aus den südlicheren und östlicheren Theilen ihres Gebietes geflüchtet, wie z. B. der Fürst Gantimur, der aus diesem Grunde seine Heimath am Nonni-Fluss verlassen und sich mit seinem ganzen Gefolge an der Nertscha niedergelassen hatte ?). Wie weit das Gebiet der Dauren an den Quellllüssen des Amur reichte, lässt sich nicht genau ermitteln; gewiss ist, dass sie im Norden und Westen noch an den Zuflüssen der Schilka von umherstrei- fenden Tungusen, im Süden von mongolischen Völkerschaften umgeben waren. Schwieriger noch ist die Frage, bis in welche Zeit die Ansässigkeit der Dauren an den Quellllüssen des Amur- Stromes zurückreicht? und ob und in wie weit die zahlreichen Spuren alter Cultur, die man in Daurien und Transbaikalien findet, Reste ehemaliger Bewässerungskanäle, Gräben und Rinnen auf den Feldern, eiserne, gegossene (nicht geschmiedete) Pfllugscharen, kupferne und eiserne Waffen, Steigbügel und anderes Geräth, Steingräber, alte Schmelzheerde, Schürfe, Schlacken- halden u. dgl. m., auf die Dauren zurückzuführen sind? Ohne diese Fragen, über die verschiedene und zum Theil recht unklare und verworrene Ansichten geäussert worden, definitiv beantworten zu wollen, möchte ich hier auf einige Umstände aufmerksam machen, welche zu einer anderen Lösung derselben nöthigen dürften. Es fehlt nieht an älteren und neueren Geographen, welche alle Spuren alten Feld- und Bergbaues in Transbaikalien und Daurien schlechtweg einem Volke und zwar den Dauren zu- schreiben. So spricht schon Georgi in seiner Reisebeschreibung die Ansicht aus, dass die alten Barguten, welche die Sage als Urheber der zahlreichen Spuren alten Ackerbaues bezeichnet, die man am Bargusin, an seinen Zuflüssen und nordwärts bis zur oberen Angara hinauf findet, vermuthlich ein und dasselbe Volk mit den Dauren gewesen seien®). Ebenso hält in neuerer In dem von Gerbillon wiedergegebenen Schreiben, das die zum Abschluss eines Friedens mit den Russen abge- sandten chinesischen Mandarine im Jahre 1688 an die russischen Bevollmächtigten richteten, ist von dem Lande der «Humari» die Rede, in welches die Russen von Albasin (Yaksa) aus eingefallen waren (Du Halde, Descript. de V’Emp. de’la Chine, T. IV, p. 121). Demzufolge findet man auf d’Anville’s Karte der Chinesischen Tartarei (Nouv. Atlas de laChine, Pl. 148) längs dem Humari-bira (Chumar, Schrenck's Amur-Reise, Band II, Komar) das Volk der «Humari» angegeben, — eine Angabe, welche sich auch aufder Karte zu Grosier’s «Deser. gener. de la Chine» wiederholt und die nur auf die Komar- Dauren Bezug haben kann. 4) Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. II, p. 339. 2) Fischer, Sibir. Gesch. Thl. I, p. 774, 775. Vrgl. auch Ritter, Erdk. von Asien, Bd. TI, p. 610, 3) J.G. Georgi, Bemerk. einer Reise im Russ. Reich, im Jahre 1772, Bd. I, p. 127, 128. Lopatin (Kparkiit 21 162 Die Völker des Amur-Landes. Zeit Hagemeister auf Grundlage jener Spuren von altem Feld- und Bergbau, welche man allenthalben in Transbaikalien zerstreut findet und die er den Dauren zuschreibt, diese für die Aborigenen des Landes). Viel wahrscheinlicher ist jedoch die Ansicht Ritter’s, welcher zufolge die Barguten nieht Dauren, sondern Burjaten und zwar aus dem Stamme der Barga- Burjat (Bargut-Buriat der chinesischen Reichsgeographie) waren, einem Stamme, der noch heute das Land im Norden des Baikal-Sees bis an die obere Lena bewohnt). Damit fiele denn auch jeglicher Grund fort, eine ehemalige Verbreitung der Dauren über das Stromsystem des Amur hinaus bis zum Baikal-See anzunehmen, und nur die ostwärts vom Scheidegebirge, in dem noch heutzutage sogenannten Daurien sich findenden Spuren ehemaliger Cultur liessen sich eventuell noch den Dauren zuschreiben. Mit den Resten ehemaligen Bergbaues, den alten Schürfen, Schmelzöfen, Schlackenhalden u. dgl., geschah und geschieht dies in der That, ja es scheint die Ansicht, dass sie daurischen Ursprungs seien, noch immer die gangbarste zu sein. Georgi spricht sich wiederholentlich dahin aus, dass die Dauren, die alten Insassen des nach ihnen benannten Landes, dort auch Bergbau trieben, bis sie, in Folge der Besitznahme ihres Landes durch die Russen, dasselbe freiwillig verliessen und in’s Chinesische Reich zogen, worauf auch ihr Berg- und Schmelzwesen vergessen ward?). Ritter ist offenbar derselben Ansicht, wenn er die Dauren «ein friedliches, bergmännisch nicht ungeübtes Culturvolk» nennt, «das vor den ersten rohen Entdeckern, den Kosakeneommando’s Chabarof’s und seiner Nachfolger, aus seinen Erzgebirgen fast ohne Gegenwehr zurückwich und eine fast men- schenleere Einöde zurückliess, die von dem nunmehr russischen Bergbau zum zweiten Mal hie . oryer» 0 AbiictBiaxB Burtuncroii IremeAumim. — 3an. Cuö. Or.. Pycer. Teorp. Oöm. T. IX,X,crp. 509), der 1865 einige der alten Grabmäler um Bargusinsk untersuchte, giebt ebenfalls an, dass man dort gegenwärtig das Volk, dem sie angehörten, Barguten nenne. Nach Kehliberg (Ho.ımsn, 1014 Bb 3a6aük. kpab. — 3a. Pycex. Teorp. Oöm. 1861, Ku. I, Ora. Hzcaba. u Marep., crp. 182) werden dort hingegen die alten Irrigalionskanälie stets «chinesische» genannt, 4) FH. Taremeücrep»e, Crarucruy. 0603p. Cuöupu, cocras.ı. no Bercou. E. H. B. nose.rbniro npı Cu6öupckomb komur. C. Herepöypr» 1854, 4. II, erp. 23. Pawluzkij (Rparkoe onucanie TaKB HaspIBaeNm. UyAckuxB ApeBHocTeii u ıp. — 3an. Cuö. Ora. Pycer. Teorp. O6m. Ku. IX u X, Upryrerp 1867, crp. 480) meint hingegen, dass wenn diese Ansicht überhaupt richtig sei, doch immer nur die Reste ehemaliger fester Ansiedelungen (Städte), alter Grabhügel und Gräber den Dauren zugeschrieben wer- den könnten, keineswegs aber auch die Bergwerksreste, da die in denselben sich findenden Gegenstände auf ein viel höheres Alter hinweisen. 2) Ritter, Asien, Bd. II, p. 116. Ueber die Barga- Burjat vrgl. auch Klaproth, Asia polyglotta, p. 270. Eine ganz abweichende, aber zugleich auch ganz unhalt- bare Ansicht über den Ursprung der bei Bargusinsk sich findenden Spuren alten Ackerbaues sprach Spasskij (3a- 6aiik. Tyurycpı. — Cnöuper. Bbere. €. Herepö. Y. XVII, 1822, Ora. U, crp. 28) aus: er meinte, dass sie weder von den Vorfahren der Tungusen, noch von denen irgend eines anderen sibirischen Volkes, sondern wahrschein- lich von den zuerst hingekommenen Russen herrühren dürften. 3) J.G. Georgi, Bemerk. einer Reise im Russ. Reich, im Jahre 1722, St. Petersb. 1775, Bd. I, p. 406, 418; des- selben, Geograph.-physik.u.naturhist. Beschreib. des Russ. Reichs, Thl. I, Königsberg 1797, p. 222. Aa. aa. Oo. heisst es zwar, dass die alten Insassen Daurien’s auch «Dutsche- ren, Bogdani und Bogdochani» genannt wurden, doch hält Georgi alle diese Bezeichnungen für identisch unter einander und mitden Dauren und Mandshuren— indem «Bogdani und Bogdochani» nur verschiedene Benen- nungen für die Mandshuren, die«Dutscherem» nur ein Stamm der ehemaligen Dauren oder Mandshuren seien — und bleibt daher schliesslich für die Urheber jener Bergarbeiten bei dem Namen Dauren stehen, Dauren. Fälschlich für die Urheber alter Bergwerke gehalten. 163 und da colonisirt wurde» !). Ich kann jedoch diese Ansicht keineswegs theilen, sondern bin vielmehr der Meinung, dass die Dauren zu der Zeit, welche der russischen Invasion unmittelbar voraus- ging, keinen Bergbau betrieben, und dass die Reste alter Berg- und Schmelzwerke in Daurien aus älterer Zeit und von einem anderen Volke, vermuthlich von den alten Jutschi, Njutschi oder Dshurdschi herrühren, die im XII. Jahrhundert unter dem Namen Kin eine zeitweise Herr- schaft über das Chinesische Reich gewannen. Forscht man nach, worauf jene Ansicht beruhen könnte, so erweist sich als einzige Nach- richt der Art jene mehrfach erwähnte Erzählung der Witim-Tungusen, durch welche den Russen die erste Kunde von den Dauren kam, und zwar als von einem reichen Volke, das in seinem Lande an der Schilka verschiedentliche Erze, Kupfer-, Blei- und Silbererze habe, die- selben schmelze und gegen Zobel zu verhandeln pflege. Indem Fischer in seiner Sibirischen Geschichte diese Nachricht wiedergab, glaubte er dieselbe auf die Dauren am Argunj beziehen zu müssen °), da es dort bekanntlich Reste alter Berg- und Schmelzwerke gab und Gmelin da- selbst Kupfer- und Bleierze gefunden hatte. Aber wie bewährte sich die Erzählung der Witim- Tungusen? Bekamntlich gab sie mit Veranlassung zum ersten Vordringen der Russen in das Amur-Land: jenes Volk, von dem sie handelte, aufzusuchen, es mit Tribut für die russische Krone zu belegen, die Silber-, Kupfer- und Bleierze auszukundschaften und an den Punkten, wo sie sich befinden, Festungen zu errichten, war dem Anführer der ersten Expedition, Wassilij Po- jarkof, vom Wojewoden von Jakutsk, Peter Golowin, direkt vorgeschrieben ?). Und je ver- lockender den Kosaken und Freibeutern selbst die Aussicht auf die schätzbaren Metalle, besonders auf das Silber war, um so eifriger forschten sie denselben nach. Aber weder stiessen sie selbst auf die Erze, noch erhielten sie von den Eingeborenen, trotz vielfacher Nachfragen und nicht selten auch gewaltsamer, inquisitorischer Verhöre, eine ihr Vorkommen bestätigende Angabe. Vielmehr hiess es immer und immer wieder *), dass es weder an der Schilka und Dseja, noch am Sungari und Amur, noch auch an irgend welchem Nebenflusse derselben Silber-, Kupfer-, Zinn- oder Bleierze gebe; dass sie diese Metalle, gleichwie auch die verschiedenartigen, seidenen und baumwollenen Zeuge und andere Waaren nur vom Chan Borboi gegen Zobelfelle erhielten, dass jedoch auch dieser Fürst die Metalle und Zeuge nicht in seinem Lande gewinnen respective verfertigen lasse, sondern dieselben seinerseits aus China im Handel gegen die Zobelfelle be- ziehe°). Ueber den Sitz des Fürsten Borboi erfuhr Pojarkof nur, dass man von der Umlekan- Mündung bis dahin zu Pferde über das Gebirge und über die Schilka weg sechs Wochen zu reisen habe. In Chabarof’s Bericht wird, wie es scheint, derselbe, über alle Dauren gesetzte 4) Ritter, Asien, Bd. I, p. 566, 595. Bei neueren rus- 3) Aono.n. X arramp neropım. T. II, crp. 51. sischen Schriftstellern begegnet man dieser Ansicht wie- 4) Pojarkof’s Bericht (l. c. p. 52, 53) ist voll solcher derholentlich; so z. B. bei Sgibnef (Amypceras Irene. | Aussagen. Pascka3b oueruama. — Apesuna u uowan Poceis, T. II, 5) Ausser dem oben eitirten Originalbericht Pojar- 1878, erp. 228) u. A. kof’s (a. a. ©.) vrgl. auch Müller, Samml, Russ. Gesch. 2) Fischer, Sibir. Gesch. I. Thl. p. 529, Anmerk. | Bd. II, p. 300. 58, 59. 21* 164 _ Die Völker des Amur-Landes. Fürst «Bogdoi» genannt!) — oflenbar ein Mandshu, da er eine eigene, den Dauren unver- ständliche Sprache reden sollte?) — und sein Sitz in einer Stadt am Nonni-Fluss (Naun-koton, Tsitsikar)®) angegeben; doch habe, heisst es, über ihn noch ein viel mächtigerer Chan — ohne Zweifel der Kaiser von China — zu gebieten. In einem zweiten Bericht Chabarof’s wird über den Fundort edler Metalle nach der Aussage eines aus dem Bogdoischen (mandshurischen) Heere gefangen genommenen Nikaner’s (Chinesen) die noch bestimmtere Nachricht gegeben, dass alles Silber und Gold, gleichwie auch die schätzbaren seidenen und baumwollenen Zeuge, die man im Bogdoischen Gebiete antrefle, aus dem Nikanischen (Chinesischen) Lande komme; es werden die einzelnen Fundorte näher beschrieben, die Art und Weise, wie die Erze gewonnen werden u. s. w.‘) Beziehen sich diese von Pojarkof und Chabarof eingezogenen Nachrichten auch hauptsächlich auf die Gegenden am Amur, an der Dseja und am Sungari, wo der Schauplatz ihrer Fahrten und Kriegsthaten lag, so erstrecken sie sich doch andererseits vom oberen Amur auch über die Gegenden an den Quellflüssen desselben, an der Schilka und dem Argunj, und es ist vollkommen undenkbar, dass während eifrige Nachforschungen den Russen Nachrichten über edle Metalle selbst aus dem -fernen China zuführten, in ihrer Nähe, am Argunj oder an der Schilka von denselben Dauren Berg- und Schmelzarbeiten betrieben wurden, von denen sie keinerlei Kunde erhielten. Zu demselben Resultat führt auch eine genauere Prüfung der späteren Nachrichten über Dau- rien. Der erste europäische Reisende, der eingehendere Nachrichten über dieses Land gab, war Vs- brants Ides, der Gesandte Peter’s des Grossen an den Chinesischen Kaiser. Obgleich damals (1693) noch nicht 40 Jahre seit dem Abzuge der Dauren aus ihrem Lande vergangen waren, so fand er doch die alten Berg- und Schmelzwerke in einem Zustande, der dafür sprach, dass sie seit Jahrhunderten unberührt gelegen hatten: die Silbergruben z. B., welche sich unweit Argunskoje am Flusse Sserebrjanka befinden, und die noch eine grosse Menge Schlacken von ehemals geschmol- zenem Metall aufzuweisen hatten, waren, wie er sagt, in den vielen Jahren, da sie wüst gelegen, von den eingestürzten Bergen bedeckt und von oben eingefallen°). Aus derselben Zeit rühren auch die Angaben Witsen’s her: ihm erzählte der zum Abschliessen eines Friedenstraktates mit China abgesandte Statthalter von Brjansk, Fedor Alexejewitsch Golowin, dass er die Silberminen Daurien’s besucht und dort alte Gruben gesehen habe, die vor vielen hundert Jahren im Betriebe gewesen seien. Auch die Mongolen («Mugalen»), sagt er, sind der Meinung, dass diese Silber- vonChabarof’s Mannschaft aber, nach Ermordung ihres Mannes, gefangen genommen und nach Jakutsk gebracht 1) Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. II, p. 310; Aono.n. Kb arTamp ncrop. T. III, erp. 259 u caba. Die erste, sehr eingehende Nachricht über den Fürsten Bogdoi er- hielt Chabarof von einem daurischen Weibe, Namens Mogoltschak, das er gefangen nahm und das sich eine Schwester des Fürsten Lavkai nannte; sie hatte selbst beim Fürsten Bogdoi einige Zeit in Gefangenschaft zu- gebracht, bis ihr Bruder sie loskaufte. Ebenso heisst der Fürst auch in der Aussage des Tungusenweibes Damansa, das unter den Dauren am Amur sich aufgehalten hatte, worden war (Aono.u. Kb aktamp mcTop. T. II, crp. 347). 2) Wie esschon Pojarkof angab (Aono.an. KB arTamb ucrop. T. IH, crp. 53). . 3) Ueber diese Stadt s. eine spätere Anmerkung. 4) Aono.u. Kb aktanı ucrop. T. IH, erp. 367. 5) Ysbr. Ides, Driejaar, Reize naar China, Amster- dam 1704, p. 63. Dauren. Fälschlich für die Urheber alter Bergwerke gehalten. 165 gruben vor uralten Zeiten abgebaut wurden. Witsen erhielt auch zu wiederholten Malen Proben dieser Erze und liess sie in Amsterdam auf ihren Silbergehalt untersuchen '). Ganz ähn- lich wie Vsbrants Ides sprach sich über den Zustand der alten Bergwerke Gmelin aus, der wiederum etwa 40 Jahre später (1735) Daurien bereiste: «man hat, sagt er, in den Arsunski- schen Bergwerken über tausend alte Heerde gefunden, aber alle waren mit Erde zugeschüttet, woraus man abnehmen kann, dass es schon sehr lange sein müsse, dass die Alten hier ge- schmolzen haben, welches noch dadurch bestätigt wird, dass man in dem Kultuk einige zu dem Bau des Schachtes aufgerichtete Balken von Birken fand, an denen nichts mehr als die äussere Rinde übrig war»). So spricht schon der Zustand, in welchem man die ehemaligen Berg- und Schmelzwerke Daurien’s fand, unzweifelhaft für ihr sehr hohes Alter. Noch andere Gründe gesellen sich aber dem hinzu. Wären die Dauren die Urheber dieser Berg- und Schmelzwerke gewesen, so hätte sich zu Golowin’s und Ysbrants Ides’ Zeit die Kenntniss davon bei den ihnen ehemals benachbarten Tungusen, die zum Theil in das von jenen geräumte Gebiet einzogen, in dem kurzen Zeitraume von etwa 40 Jahren ganz gewiss noch erhalten. Ysbrants Ides fand aber unter den Tungusen, die er in der Gegend zwischen Nertschinsk und Argunskoje zahlreich antraf, nichts davon: hinsichtlich des Ursprungs der aus hartem Felsgestein errichteten und zum Theil verfallenen Schanzen, deren er in den Thälern viele Hunderte sah und die viel- leicht eben so_alt waren, wiesen sie vielmehr auf eine sehr entfernte Zeit hin, da sich die Mongolen und westlichen Tataren zusammenthaten und das Reich Njutschi überfielen°). Ysbrants Ides schreibt daher auch die ehemaligen Bergwerke den alten Njutschi und Mon- golen zu®). Noch weniger als den Tungusen wäre es den kühn vordringenden, nach Bereiche- rung aller Art, zumal durch edle Metalle, stets ausschauenden russischen Kosaken und Frei- beutern entgangen, wenn die vor ihnen zurückweichenden Dauren noch im Betriebe befindliche Berg- und Schmelzwerke in ihrem Lande hinterlassen hätten. Sicherlich hätten sich die Russen sogleich derselben bemächtigt und sie auf eigene Hand auszubeuten versucht. Auch wäre ihnen alsdann gewiss russischerseits die Bezeichnung «Daurische Gruben» geworden und geblieben. Statt dessen werden sie von den Russen nur «Tschudische Gruben» (Iyaekisı komm) genannt) erschienenen Witsen’schen Werkes «Noord en Oost Tartarye» (Ausg. von 1692) schon von manchen Dingen 4) Witsen, Noord en Oost Tartarye. Tweede Druck, 1705, p. 83. 2) J.G. Gmelin, Reise durch Sibirien von dem Jahre 1733 bis 1743, Göttingen 1751— 1752, Bd. II, p. 57. Aus der Anzahl der Heerde meinte übrigens Gmelin schliessen zu dürfen, dass die Alten (wer diese waren, lässt er un- bestimmt und der Dauren erwähnt er überhaupt mit keinem Worte) sich um das Blei nicht bekümmert, son- dern nur wegen des Silbers gearbeitet hätten. 3) Ysbrants Ides, I. ce. p. 62. 4) So spricht er sich namentlich in seinem schlicht gehaltenen Reiseberichte aus (l. c. p. 63); in dem Nach- trage zu demselben, in welchem auf Grund des inzwischen und Gegenden die Rede ist, die er selbst nicht gesehen hat, heisst es von denselben Silberminen von Argunskoje (1. c. p. 129), dass dort vor Zeiten die «Njutschi oder Daurzen» viel Silber geschmolzen hätten. Indessen sind auch hier offenbar nicht die unlängst aus ihrem Lande ausgewanderten Dauren gemeint, sondern es scheint nur ein eben solches Zusammenwerfen der Bezeichnungen für die alten Insassen des Landes zu sein, wie man es später wiederholentlich, z. B. bei Georgi (s. oben, p. 162, Anmerk. 4) u. A. findet. 5) Laut einer russischen Schrift vom Jahre 1780 über 166 Die Völker des Amur-Landes. und also, gleich anderen ähnlichen Bergbauresten im übrigen Sibirien und gleich den alten Grabhügeln Nordrusslands, für das Werk eines uralten, unbekannten Volkes gehalten. Der Bergbau wurde aber in Daurien erst auf Befehl der Regierung und nicht früher unternommen, als bis sie wiederholentliche Proben silberreichen Erzes erhalten hatte. Zwar lief schon im Jahre 1679, so erzählt Georgi!), beim Nertschinskischen Wojewoden und durch ihn beim Tobolski- schen eine Anzeige daurischer Tungusen ein, dass es bei ihnen Gold-, Silber- und Bleierze gebe, doch hatte sie nur eine fruchtlose Untersuchung zur Folge. Fast 20 Jahre später, 1698, legten einige Burjaten, Aranschi Damanja und seine Kameraden, dem Nertschinskischen Wojewoden reiche Silberstufen aus einem alten Bergwerke ?) vor, und nun erst, 1702, befahl die Sibirische Kanzlei, den Bergbau daselbst in Angriff zu nehmen. So führt Alles zu dem Schlusse, dass die Dauren, die vor der russischen Invasion das Land an der Schilka und dem Argunj inne hatten, dort keinen Bergbau betrieben, sondern gleich ihren Landsleuten am oberen Amur nur von Ackerbau und — worauf wir später noch zurückkommen werden — in Folge ihrer Nachbarschaft mit den Mongolen, besonders ausgebreiteter Viehzucht lebten. Waren aber die Dauren zu der Zeit, als wir sie kennen lernen, im XVH. Jahrhundert, kein bergbautreibendes Volk, so sind sie es höchst wahrscheinlich auch früher nieht gewesen, da sonst, bei dem conservativen Charakter eines noch ziemlich primitiven Volkes in Allem was seine Lebensart und seine Existenzquellen betrifft, der Bergbau sich auch später unter ihnen erhalten hätte; zum wenigsten ist kein Grund einzusehen, wie und wodurch sie denselben, bei dem lange nicht erschöpften Erzreichthum ihres Landes, mit der Zeit ganz und gar hätten ver- lernen und vergessen können. Es müssen daher die Reste alter Berg- und Schmelzwerke in Daurien einem anderen, den Dauren in jenem Lande vorausgegangenen Volke zugeschrieben werden. Oben ist schon erwähnt worden, dass Ysbrants Ides dieselben den alten Njutschi und Mongolen zuschrieb, gestützt auf eine Sage der Tungusen, dass die vielen alten Schanzen aus der Zeit herrühren, da diese letzteren an die Eroberung des Reiches der Njutschi gingen. Zu diesem gehörte, heisst es an demselben Orte, das ganze Land von Nertschinsk oder, wie die Chinesen es noch bis jetzt nennen, Njutschi?) und dem oberen Amur bis nach Liao-tung hin. In dem Theile dieses Landes, von welchem hier die Rede ist, an den Quellflüssen des Amur, waren einige Zeit vor Ysbrants Ides’ Reise grosse Mühlsteine und mit Eisen beschlagene Wagenräder gefunden worden, und da diese bei den Mongolen nirgends zu finden, bei den an die Landschaft Liao-tung angrenzenden Njutschi hingegen noch im Gebrauch waren, so zog er daraus den Schluss, dass dieses letztere Volk vormals auch im russischen Daurien gewohnt habe. Folgerichtig hätte er alsdann auch die ehemaligen Bergwerke Daurien’s nur den Njutschi die Nertschinskischen Berg- und Hüttenwerke; deutsch | die Nertschinskische Hütte steht. in Pallas’ Neuen Nord. Beytr. Bd. IV, p. 208. 3) Ysbr. Ides (l. ce. p. 62) schreibt holländisch «Nieu- 1) Bemerk. einer Reise im Russ. Reich, Bd. I, 1775, | cheu» und «Niucheu». Sollten nicht auch die russischen p- 418; Geogr.-physikal. und naturhist. Beschreibung des | Namen Nertscha, Nertschinsk und Nertschinskij Sawod Russ. Reiches, Thl. I, 1797, p. 222. dureh Entstellung aus «Njulschi» entstanden sein? 2) Im Dreifaltigkeitsberge (Troizkaja gora), wo jetzt Dauren. Njutscht — die Urheber der alten Bergwerke Daurien’s. 167 und nicht auch den Mongolen zuschreiben sollen. Dieselbe Ueberlieferung der Tungusen ist uns auch von anderer Seite zugekommen. Auf ihr beruht jene Angabe Georgi's, dass die Dutscheren, die er selbst für einen Stamm der ehemaligen Dauren oder Mandshuren hielt, und die eben jene Njutschi, Jutschi, Dshurdschi, Vorfahren der heutigen Mandshu, sind, die alten bergbauenden Insassen Daurien’s waren'). Sie hat ferner Veranlassung zu der noch gegenwärtig üblichen russischen Benennung einer der Hütten des Nertschinskischen Bergbezirkes gegeben; denn die etwa 50 Werst von Nertschinskij Sawod entfernte Djutscherskische Silber- hütte (Iroyepceriü 3aBop) hat unzweifelhaft ihren Namen daher erhalten, weil dort einer durch die Mongolen auf die Tungusen gekommenen Ueberlieferung zufolge ehemals Djutscheren gewohnt und Bergbau getrieben haben°). Darf man auf diese Ueberlieferung bauen, so lässt sich auch die Zeit, aus welcher die Reste ehemaligen Bergbaus in Daurien stammen, ungefähr bestimmen. Denn gewiss dürfte derselbe noch zur Zeit der grössten Ausbreitung und Machtent- faltung der Njutschi betrieben worden sein, und diese fand im XII. und XII. Jahrhundert statt, als sie sich unter dem Namen Kin zu Beherrschern China’s emporschwangen (1115 — 1234) ?). Sein Ende aber erreichte er, als die Mongolen unter Tschingis-Chan und seinen Nachfolgern die Macht der Kin niederwarfen und an ihrer Statt die Herrschaft über China errangen. Ja, die in Daurien sesshaften Njutschi mussten die ersten sein, welche die Macht der vom Onon und Kerlon (oberen Argunj) hervorbrechenden Eroberer an sich erfuhren, — eine Macht, der sie wohl theils unterlagen, theils durch die Flucht zu ihren Stammgenossen am Sungari sich ent- zogen. Demnach ist es ganz falsch, wenn Georgi‘) und später €. Ritter®) die Djutscheren als bergbaukundige Leute, Grubenarbeiter und Metallschmelzer bezeichnen, die von den Russen aus ihren Sitzen verdrängt wurden. Denn als die Russen nach Daurien kamen, im XVII. Jahr- hundert, fanden sie dort lange keine Djutscheren mehr vor, sondern Dauren, die, wie oben dargethan, keinen Bergbau trieben; am Amur aber sassen zwar noch Djutscheren, welche nach blutigem Zusammenstoss mit den Russen auf Befehl der chinesischen Regierung sich zu- rückzogen, allein Bergbau hatten sie ebensowenig wie die Dauren, vielmehr lebten sie auch nur von Ackerbau und Viehzucht. An der Hand dieses historischen Ereignisses, der Niederwerfung der Njutschi durch die Mongolen, lässt sich endlich auch ein Haltpunkt zur annähernden Ab- schätzung der Zeit gewinnen, wann die Dauren an die Quellllüsse des Amur gekommen sein 1) S. oben, p. 162, Anmerk. 4. Amur ist «Dutscherskoi Sawod» angegeben. Auf der 2) Georgi, Bemerk einer Reise im Russ. Reich, Bd. I, p- 362, 404, 406, 411; Geogr.-physik. u. nalurhist. Beschr. des Russ. Reiches, Thl. II, p. 1099; Pallas, Neue Nord. Beytr. Bd. IV, p. 207. Nach Georgi hat die Djutscherski- sche Hütte wegen ihrer Lage am Kaluktscha - Bache, der zur unteren Borsa, einem linken Zufluss des Argunj, mündet, früher Kaluktschinskische, später Borsinskische gehiessen, bis sie ihren jetzigen Namen erhielt. Auch auf der den dritten Band von Pallas’ «Reise durch ver- schiedene Provinzen des Russ. Reiches» (1776) begleiten- den Karte der Strecke zwischen dem Jenissei und dem grossen Karte Ostsibirien’s von Schwarz (Kapra pbun, o6öaacreii Amypa, 10:kuoii yacrn Tensı m Enucen ır ocTp. Caxa.ınna, C. IIerepö. 1861) lautet der Name nicht ganz correct «Dutscharskij» (Sawod). 3) So meint auch Fischer (Sibir. Gesch, Thl. I, p. 115), dass die alten Denkmäler Daurien’s von den Njutsche unter der Regierung der Kin gestiflet sein dürften. 4) Geogr.-physikal. und nalurhist. Beschreib, des Russ. Reiches, Thl. II, p. 1086. 5) Asien, Bd. II, p. 335. 168 Die Völker des Amur- Landes. mögen. Denn man darf wohl annehmen, dass sie erst nachdem die Njutschi den Mongolen unterlegen waren und nachdem diese in ihrem Eroberungsgange südwärts sich gewandt hatten, allmählich vom oberen Amur in das verödete Land an der Schilka und dem Argunj einzogen. Und somit wären sie lange nicht so alte Bewohner dieses Landes, wie man bisher nach den fälschlich ihnen zugeschriebenen Resten ehemaligen Bergbaues gemeint hat. Der letzte Theil des weiten Gebietes, das die Dauren zur Zeit der russischen Invasion einnahmen, lag am Nonni. Dort scheinen sie, dank günstigerem Klima und der grösseren Nähe China’s, den meisten, durch Ackerbau, Viehzucht und Handel erzielten Wohlstand, sowie die frühzeitigste Verdichtung erreicht zu haben, andererseits aber, in Folge ihrer unmittelbaren Nach- barschaft mit den Mandshu, auch zu allererst ihrer Oberherrschaft verfallen zu sein. Schon auf ihren ersten Zügen, unter Pojarkof und Chabarof, erhielten die Russen Kunde von dem Reichthum der dortigen Dauren an Vieh, Getreide, mancherlei Waaren, sowie von ihrer Stadt am Nonni-Fluss (Naun-koton, dem späteren Tsitsikar), in welcher es Kaufläden mit allerhand kostbaren Gegenständen gebe und die zugleich die Residenz des oben erwähnten reichen, über die Dauren gebietenden Fürsten Borboi oder Bogdoi, eines Statthalters des Kaisers von China, sei°). Später, 1686, hörten sie durch einen gefangen genommenen Chinesen oder Mandshu, dass noch eine zweite Stadt am Nonni gebaut werden sollte: wie Müller vermuthet, Mergen ?). Dies geschah übrigens schon zu einer Zeit, als die Bevölkerung dort in Folge besonderer Um- stände noch mehr zugenommen hatte; denn dieselben Ereignisse, welche, wie wir sogleich sehen werden, die übrigen Theile des daurischen Gebietes ihrer Bevölkerung fast gänzlich beraubten, hatten am Nonni im Gegentheil eine Verdichtung derselben zur Folge. Im Vorübergehen muss ich hier eines auf diesen Theil des daurischen Gebietes bezüglichen Volksnamens erwähnen, der uns schon in den alten Nachrichten über dasselbe entgegentritt, 1) Ysbrants Ides (l. c. p. 70) nennt die unlängst er- baute Hauptstadt der Dauren am Nonni-Eluss «Naun-koton» (d. i. Naun-Stadt); «Xixigar» dagegen ist bei ihm der Name eines etwa \, Meile vom Nonni entfernt gelegenen Fleckens, zugleich aber auch derjenige einer ganzen Landschaft, da er auch von anderen Xixigarschen Dörfern spricht (l. e. p. 67). Ebenso werden diese Namen von Witsen gebraucht, der in der 2. Ausgabe seines Werkes für diese Gegenden ausser Ysbrants Ides’ Reisebericht auch andere Nachrichten benutzte; nur nennt er die Stadt meistens schlechtweg wie den Fluss «Naum» (Noord en Oost Tartarye, 1705, p. 79— 82, 88, 91 —95 u. a.). In den allen russischen Berichten, so weit Müller sie wieder- giebt, heisst die Stadt «Tschitschigar», und zwar wird ihrer zuerst bei Gelegenheit der Reise des Gesandten Spafari (1675 — 1677), der dort die ersten Unterhandlungen mit den Chinesen hatte und von dort aus Befehle an die Russen nach Albasin schickte (Sammlung Russ. Gesch. Bd. II, p. 382, 383), und später noch mehrfach erwähnt (l. ec. p. 396 u. a.). Bei den alten Jesuiten-Missionären, wie auf d’Anville’s Karten heisst sie ebenfalls nur «Teiteicar» (Du Halde, Descript. de l’Emp. de la Chine, T. IV, p. 15 bis 17; d’Anville, Nouy. Atlas de la Chine, Pl. 1 et 18). Nach Wassiljef (Onne. Manpu:kypiu.— 3a. Pycer. Teorp. Oöm. Ku. XII, 1857, erp. 28) hat an der Stelle von Tsitsi- kar früher das Dorf Bukei gelegen; zum Range einer Stadt wurde dieser Ort erst im Jahre 1791 erhoben. 2) S. oben p. 163, 164. 3) Samml. Russ. Gesch. Bd. II, p. 398. Als Ysbrants Ides diese Gegenden besuchte (1693), bestand schon die Stadt Mergen, und halte die äusserste (westlichste) chi- nesische Wacht am Yalo-Flusse den Befehl, sobald sie Fremde sich nähern sah, die Obrigkeit der Stadt davon zu benachrichtigen, wie dies auch mit ihm geschah (Driejaar. Reize naar China, p. 65). Desgleichen erwähnen ihrer die alten Jesuiten-Missionäre, denen zufolge sie vom Kaiser Kang-hi erbaut worden ist (Du Halde, Descr. de V’Emp. de la Chine, T. IV, p. 15, 36). Dauren. Die «Targaziner» ein Zweig derselben, 169 der aber von mehr als zweifelhaftem Werthe ist, da er bald ein besonderes Volk bezeichnen soll, bald für gleichbedeutend mit dem Namen Dauren gehalten, und bald endlich nur auf die Be- wohner einer einzelnen Localität im Dauren-Lande bezogen wird. Unter den wechselvollen Ereignissen, welche die ehemalige Stadt Albasin während der kurzen Zeit ihres Bestehens zu verzeichnen hatte, wird auch erzählt, dass im Jahre 1686, als sie nach ihrer Zerstörung durch die Chinesen russischerseits wieder aufgebaut wurde, die erste Nachricht davon durch einige Leute aus dem «Volke der Targatschinen», die auf dem Zobelfange von Albasinischen Ko- saken angefallen worden waren, nach Tsitsikar gelangte. Der dortige Statthalter schiekte darauf, um sicherere Nachrichten zu erhalten, Dauren aus, die einen russischen Bauern in der Nähe von Albasin festnahmen und dadurch die Angabe der Targatschinen bestätigten '). Auf der, nur ein Jahr nachdem diese Ereignisse stattgefunden, erschienenen Witsen’schen Karte der Tartarei, sowie in der ersten Ausgabe seiner «Noord en Oost Tartarye» (1692) wird, offenbar nach russischen Quellen, ein Volk «Targanskie» am Yalo, einem rechten Zuflusse des Nonni, nahm- haft gemacht). Der erste Reisende, der dieses Volk selbst kennen lernte und genauere Nach- richten über dasselbe gab, war Ysbrants Ides‘). Von Daurien kommend, traf er am 5. Sep- tember 1693 ostwärts von der ersten chinesischen Wacht am Yalo die ersten Targazinischen Hütten und ging am folgenden Tage schon an den letzten derselben vorüber. Nach ihm bilden die «Targaziner» eine eigene, dem Kaiser von China tributpflichtige Horde, leben von Ackerbau und Viehzucht, sind äusserst geschickte Bogenschützen und reden eine meist mit dem Tungusi- sehen übereinstimmende Sprache°). In dem Nachtrage zu seinem Reisebericht ®) sagt Ysbrants Ides noch, dass die Tungusen (des russischen Daurien’s) sich fü? eines Geschlechts mit diesen Targazinern oder Dauren und für deren Abkömmlinge halten. Dies könnte leicht so aufge- fasst werden, als wären die beiden letzteren Bezeichnungen ganz gleichbedeutend, und Ritter stellt sie auch ohne Weiteres zusammen ?). Indessen braucht es noch keine solche Identifieirung zu sein; mit dem Früheren zusammengenommen, sollte es wohl nur heissen, dass es nahe ver- wandte tungusische Völker seien. Erwägt man nun, wie leicht unter noch wenig fortgeschrittenen Völkern eine Zersplitterung in kleinere Einheiten vor sich geht, so wird man in denselben auch nur verschiedene Zweige eines und desselben Volkes sehen dürfen. Spricht doch Ysbrants Ides bisweilen in gleicher Reihe mit den Targazinern auch von den «Xixigarssem (Tsitsikarern) als einem besonderen Volke °). Wie diese, so möchte ich daher auch jene nur für einen Zweig der Dauren halten, einen Zweig, der, am Yalo wie vielleicht an anderen Zuflüssen des Nonni näher zum Gebirge wohnend, neben dem Ackerbau und der Viehzucht auch noch der Jagd in höherem Grade als die weiter ab in der Ebene sitzenden Dauren zugethan war und damit im Zusammen- 1) Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. II, p. 397. gleiter, Adam Brand (Neu-vermehrte Beschreibung seiner 2) P. 31. grossen Chinesischen Reise etc. 3. Druck, Lübeck 1734, 3) Ausserdem ist auf der Witsen’schen Karte am | p. 125), nur nennt er das Volk «Targutziner». Dalai-noor ein Volk «Kargatsini» angegeben. 6) L. ce. p. 129. 4) Driejaar. Reize naar China, p. 65 fl. 7) Asien, Bd. II, p. 323. 5) Genau dasselbe sagt auch Ysbr. Ides’ Reisebe- 8)L. c. p. 129. Schrenck's Amur-Reise, Band III. [50] DD 170 Die Völker des Amur-Landes. hange auch manches Abweichende in seiner Lebensweise hatte. Vieles davon mag sich in der Folge unter gemeinsamer mandshu-chinesischer Herrschaft ausgeglichen haben; jedenfalls ist später von den Targazinern als besonderem Volke, so viel mir bekannt, nicht weiter die Rede, und gegenwärtig wird diesem Namen russischerseits eine ganz andere Bedeutung gegeben. Bekanntlich schickt die chinesische Regierung alljährlich aus Tsitsikar, Mergen und Aigun Beamte zur Besichtigung der russisch-chinesischen Grenze an der Schilka und dem Argunj aus. Die eine Partie derselben begiebt sich aus Tsitsikar an einen Punkt am Argunj, gegenüber Alt- Zuruchaitujevsk; die zweite — aus Mergen an den Ort Onochoi, gegenüber dem Dorfe Olotschins- kaja am Argunj; und die dritte endlich geht von Aigun den Amur und die Schilka aufwärts bis - zum Flüsschen Gorbiza'). Nachdem die ersteren das Grenzzeichen (zwei mit Angabe des Jahres und Datums, wann die Revision stattgefunden, versehene Brettchen, von denen das eine an einen Baum gehängt, das andere am Fusse desselben in die Erde vergraben wird) am betreffenden Orte erneuert haben, begeben sie sich den Argunj abwärts zur Vereinigung mit der zweiten Partie, worauf beide zusammen die dritte bei deren Rückkehr in Ustj-Strelka aufsuchen und sodann alle gemeinschaftlich den Amur abwärts zurückkehren ?). Pallas berichtet nach den Erkundigungen des Studenten Ssokolof, dass diese mandshu-chinesischen Beamten nebst ihrem Gefolge von den Russen «Mergenzy» genannt werden?). Nach dem Archimandrit Palladij hingegen werden sie als «Torgatschiny» bezeichnet*). Beide haben zum Theil Recht, denn unter jenem Namen werden die aus Mergen und unter diesem die aus Tsitsikar an den Argunj kommenden Grenzbe- sichtiger verstanden, während die von Aigun ausgehenden Beamten wiederum eine eigene Bezeichnung, «Bogdoizy»°), haben. Von ihnen haben unstreitig die meiste Bedeutung für das russische Grenzland die Torgatschinen, denn ihnen allein ist während ihres Aufenthaltes an ihrem Bestimmungsorte ein offener Handel mit den Russen oder den ihnen untergebenen Völkern möglich, da Alt-Zuruchaitujevsk traktatmässig nächst Kjachta der zweite zum russisch-chinesi- schen Grenzhandel bestimmte Ort ist. Die übrigen können nur heimlich etwas Handel treiben, wie es von den Mergenzen auch in der That geschieht. Selbstverständlich versorgen sich daher die Torgatschinen vor Antritt ihrer Reise auch in reichlicherem Maasse mit allerhand zum Handel am Argunj tauglichen Waaren und nutzen ihren etwa einen Monat dauernden Aufent- 1) Da diese letztere Grenzlinie gegenwärlig abge- 3) Pallas, Reise durch verschiedene Provinzen des ändert ist, so wird wohl auch die frühere Ordnung in der | Russ. Reiches, Bd. III, 1776, p. 428. Sie selbst sollen sich Abfertigung der chinesischen Beamten zur Revision der- selben eine entsprechende Aenderung erfahren haben. 2) Middendorff (Reise etc. Bd. IV, p. 161) wurde von Kosaken in Ustj-Strelka erzählt, dass die erste Partie, nachdem sie die zweite bei Olotschinskaja aufgesucht, so- gleich wieder den Argunj aufwärts zurückkehre, die zweite und dritte aber sich in Ustj-Strelka vereinigten und zusammen den Amur abwärts schiflten. Ebenso soll es Ladyschinskij in seinen handschriftlichen Bemer- kungen angeben. «Hussai» nennen. Middendorff wurden sie von Kosaken in Ustj-Strelka «Margänzy» genannt. Doch führt er selbst an, dass sie nach den handschriftlichen Bemerkungen von Ladyschinskij aus «Mergynj» (Mergen) kommen sollen (Reise ete. Bd. IV, p. 161, Anmerk. 1). Die ältere- Angabe von Pallas war ihm nicht gegenwärtig. 4) Haaaariii, Aoposmasın sambreku u np. (3a. Pycck. Teorp. O6. Ho o61m. Teorp. T. IV, 1871, crp. 442). 5) Wie die Kosaken in Ustj-Strelka sagten, «Bogdoie» (Middendorff, 1. c.). Dauren. Abzug aus dem Lande an der Schilka und dem Argun). 171 halt in der Nähe von Alt-Zuruchaitujevsk mit möglichstem Vortheil für sich aus. Dank diesem Handel sind sie bei den verschiedenen Völkern des russischen Daurien’s auch am meisten bekannt. Daraus erklärt sich die Angabe von Pallas, dass die daurischen Steppen-Tungusen die Chi- nesen «Tergezin» nennen '). Es sind eben diese chinesischen Grenzbesichtiger und Händler, die sie darunter verstehen. Dass dies übrigens der Nationalität nach keine Chinesen zu sein brauchen, versteht sich von selbst. Ssokolof berichtete z. B., dass die aus der Stadt Naun (Tsitsikar) kommenden Grenzbesichtiger weder chinesisch, noch mongolisch verstünden und also wohl die Sprache der Daguren redeten °). Woher kommt ihnen aber der Name Torgatschinen? Nach Analogie der für die zweite, ebenfalls vom Nonni kommende Partie von Grenzbesichtigern üblichen russischen Bezeichnung «Mergenzy», die dem Abfertigungspunkte dieser Beamten entlehnt ist, liesse sich vermuthen, dass Tsitsikar auch Targazin heissen müsse. Und in der That findet sich bei Witsen die Angabe, dass die Stadt Naun anders auch «Targatsien» genannt werde°). Bei welchem Volke es diesen letzteren Namen trägt oder trug, ist nicht gesagt, vermuthlich jedoch bei den Russen in Daurien, und dies vielleicht aus dem Grunde, weil die Stadt unfern der Mün- dung des Yalo-Flusses liegt, der, wie wir oben sahen, durch das Gebiet der Targaziner läuft. Doch bleibt dies nur eine Vermuthung, und bedarf jene Angabe Witsen’s noch der Bestäti- gung. Sollte sie übrigens auch ihre volle Richtigkeit haben, so erscheint es, angesichts der oben besprochenen Nachrichten von Ysbrants Ides u. A.,immerhin nicht wohl zulässig, unter Tar- gazinern ebenso nur die Angehörigen einer Stadt (Tsitsikar’s), gleichviel von welcher Natio- nalität (Chinesen, Mandshu, Dauren, Solonen) sie seien, zu verstehen, wie es mit den Mergenzen unzweifelhaft der Fall ist. Die oben geschilderte weite Ausbreitung der Dauren erlitt nun durch die russische In- vasion im XVII. Jahrhundert eine rasche und beträchtliche Einschränkung. Das Land an den Quellfllüssen des Amur-Stromes, Schilka und Argunj, das später allein den Namen Daurien behielt, scheinen sie beim ersten Andrange der Russen fast ohne allen Widerstand geräumt zu haben. Selbst solehe unter ihnen, wie der Fürst Gantimur und sein Gefolge, die einst, um der Herrschaft der Mandshu zu entgehen, nach Daurien geflüchtet waren, zogen es vor, das Land beim Anzuge der Russen wieder zu verlassen und in das von ihren alten Feinden besetzte Gebiet jenseits des Chingan-Gebirges zurückzukehren *). Es scheint mir dieses rasche und volle Zurück- weichen der Dauren von der Schilka und dem Argunj dafür zu sprechen, dass sie dort nicht sehr zahlreich gewesen, was ihre Angst vor den heranrückenden Russen erheblich vermehrt haben dürfte. Grösseren Widerstand leisteten sie am Amur, wo sie dichter und zahlreicher zusammen sassen und manche befestigte Punkte hatten. Von keineswegs kriegerischem Sinne, hätten sie sich übrigens selbst von der kleinen Schaar kühner und tapferer Kosaken leicht unterwerfen lassen und sich 4) Pallas, Reise durch verschiedene Provinzen des | lonen (Middendorff, 1. c.). Russ. Reiches, Bd. III, p. 238. 3) Noord en Oost Tartarye, 1705, p. 94. 2) Pallas, Reise etc. Bd. III, p. 428. Nach Lady- 4) Fischer, Sibirische Gesch. 2. Thl. p. 775; s. auch shinskij waren die «Mergenzy» Mandshu und So- | oben, p. 161. 22* 172 Die Völker des Amur-Landes. zur Tributzahlung an die russische Krone bequemt, wenn sie nicht schon den zu grosser Macht gelangten Mandshu tributpflichtig gewesen wären und an ihnen einen Rückhalt gefunden hätten. So war ein blutiger Conflikt unvermeidlich , wobei die weitaus grössere Kriegstüchtigkeit der Russen, ihre Entschlossenheit, sich gegen die Ueberzahl der Feinde zu behaupten, so wie ihre Bewaflnung mit Schiessgewehren die Zahl der Dauren stark lichteten. Man braucht z. B. nur daran zu denken, wie es bei Erstürmung der Festung Guigudar’s (Guigudarov gorod) durch Chabarof herging, wo die Dauren 661 Mann an Todten verloren und in der gefallenen Stadt 243 ihrer Weiber und Mädchen und 118 Kinder erbeutet wurden, während die Russen nur # Todte und 45 Leichtverwundete zählten !). Wiederholentlich heisst es in ihren Berichten, Alles sei kurz und klein gehauen, die Dörfer gestürmt, die Weiber und Kinder gefangen genommen worden u. s. w.?). Gewiss wären daher die Dauren am Amur bei fortgesetztem Kampfe mit den Russen ganz vernichtet worden, wenn die chinesische Regierung nicht einen anderen Modus zur Abwehr des Feindes ergriffen hätte. Den Umstand benutzend, dass die russischen Kosaken und Freibeuter weder für eine regelmässige Zufuhr von Lebensmitteln sorgten, noch sich an den Anbau des Landes machten, sondern nur davon lebten, was sie von den Dauren erbeuteten, erliess sie 1654 an diese den Befehl, ihre Aecker und Gärten unbesäet zu lassen und vom Amur und seinen Zuflüssen, der Dseja u. a.,nach dem Nonni überzusiedeln ?). Zugleich schickte sie zahl- reiche, mit Feldgeschützen und Schiessgewehren versehene Heere, in welche auch viele Dauren und Djutscheren eingereiht waren, gegen die kleine, aber gefürchtete Schaar der Russen aus. Zwar wussten sich die letzteren noch eine Zeit lang dadurch zu helfen, dass sie ihre Streifzüge ausdehnten und von den Djutscheren am unteren Amur und Sungari Lebensmittel erbeuteten, allen zwei Jahre später wurde ihnen durch Versetzung der Djutscheren an den Churcha auch diese Quelle der Verpflegung genommen‘). Von nun an mehren sich in ihren Berichten die Klagen über die Noth, welche die russischen Kriegsleute am Amur durch Hunger und Kälte, durch Mangel an Munition, durch die Ueberzahl und bessere Bewaflnung der Feinde u. dgl. m. zu erdulden hätten). In der Folgezeit, wenn auch spät, 1672 und 1673, wurden zwar zur Ab- p- 496) sagt, die Dauren seien an den Schingal (Sungari) 1) Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. II, p. 315; Fi- und Naun versetzt worden; im oben eitirten Originalbe- scher, Sibirische Gesch. 2. Thl. p. 804; Aon. kp akrram ucrop. T. II, crp. 360. Müller und Fischer schreiben den Namen des daurischen Fürsten beständig «Gugudar», ja auf der zu dem Werke des letzteren gehörigen Karte heisst die Festung sogar «Gagudarey», während der Name nach Chabarof’s und anderen Originalberichten «Guigu- dar» und «Guigudarov gorod» lautet. 2) ....«TbxbB AaypOB% BB HeHR NOPyOmAu BChXB Ch TO.IOBbI HA TOAOBY ... MHOTUXB AIOACH NOOHAN ... AChIPb TIOHMAAH .,. JAYChI TPOMHAm)...u.S. W. (Ao0no.AN. Kb AKT. ucrop. T. III, crp. 360, 362, 364, 372 u np.). 3) Aono.n. x aktam® ucrop. T. III, crp. 526. Müller (Samml. Russ. Gesch. Bd. II, p. 337; desgl. in Büsching’s Magaz. für die neue Historie und Geogr. 2. Thl. 2. Aufl. richt Onufrij Stepanof’s wird jedoch nur der letztere Fluss genannt. 4) S. oben, p. 151, 5) So heisst esz. B. inStepanof’s Bericht, im J. 1654: «a x.ıböa ma Amypb maıo, ay Boraoickux® 0AeiI, Kakb OHH 136 NYIUCKB CTPbAATB, 136 TEXB UXB IYIMIeRB eM- AOTB BEPCTEI ua 2 u ÖOABINE, a y HACB BE BOlicKb TOCy- Aapesa CuapaAy OAua nyııka ı Ta mo.AkoBaa Aa 2 skerba- HLIXB MAAbIXb) (AONO.AH. Kb AKTamB ucTop.T. III, crp. 527). Oder, im J. 1656:. . . «C’b C.IY3RHABIMI AO ABM m AMYPCKHMIL OXOYHNH Ka3akamuı CTAAu BCh TO.A0AULI U XOAOAUBI H BCEME ockyAaıı, XAbOHBIXB 3ANaCOBL BL BOCK HE CTAAXO HH- CROABKO H CBUHIY II TOPOXy WETB, BCE u3 1epsKa.ım u BIPeAB Dauren. Abzug vom oberen Amur. Verödung desselben. Spätere beschränkte Rückkehr. 173 hülfe der Noth und definitiven Festsetzung im Lande russische Ackerbaucolonien von Nertschinsk aus am oberen Amur begründet, die bei der Fruchtbarkeit des Landes vielen Erfolg hatten und unter denen die einige Werst unterhalb Albasin’s gelegene Ansiedelung Pokrovskaja Sloboda die ansehnlicehste war!), allein die Uebermacht der Mandshu-Chinesen blieb nach wie vor dieselbe, und es ist bekannt, wie die Russen, trotz heldenmüthiger Vertheidigung der von ihnen besetzten Punkte, allendlich nach dem Nertschinsker Traktat das Amur-Land haben räumen müssen. So verödete das Land am oberen Amur bis zur Dseja hinab vollständig, indem es erst seine daurische und nachher die wenige russische Bevölkerung verlor. In solchem Zustande der Verödung suchte die chinesische Regierung es auch später zu erhalten, indem sie darin eine gewisse Garantie gegen einen abermaligen Einfall der Russen sah. Namentlich war sie beflissen, dort fortan keine sesshafte, Ackerbau und Viehzucht treibende Bevölkerung mehr zu dulden. Vor Allem lag es nahe, dass nach Abzug der Russen die an den Nonni versetzten Dauren nach ihrer alten Heimath, wo sie oder ihre Väter in Wohlstand gelebt hatten, zurückstreben würden. Die Rückkehr an den Amur wurde jedoch den Dauren nur unter gewissen Beschränkungen gestattet. Feste, auf Ackerbau und Viehzucht begründete Ansiedelungen der Dauren finden sich nämlich später nur in dem Theile des Amur-Stromes ein, der unterhalb der Dseja und der inzwischen zu grösserem Umfang und grösserer Geltung gelangten mandshu-chinesischen Stadt Aigun®) bis zum Bureja-Gebirge sich erstreckt®). Weiter aufwärts am Amur, wo doch ehemals die meisten Dörfer und Festungen der Dauren lagen, wie im Unterlaufe des Komar-Flusses blieb ihnen aus dem oben angeführten Grunde die Ansiedelung untersagt, und ohne Zweifel lag es den Beamten von Aigun und den bis über die Komar-Mündung am Amur vorgeschobenen man- dshurischen Wachtposten ob, unter Anderem auch auf die strenge Einhaltung dieser Maassregel Acht zu haben. Nur im oberen Laufe des Komar begegnet man wieder sesshaften, feldbauenden Dauren, oflenbar weil die chinesische Regierung sie dort für himlänglich weit entfernt vom Amur hielt, um die Oede desselben irgend erheblich zu beeinträchtigen. Vielleicht brauchten sie . SRUTb H Kakb YbMR OHTaTıa, u BIPeAb U6 3HAeM%, Kakb HAMB XOJONEMB TOCYAAPEBbIMB CTAAO FOCYAapeBbIND ACAKOND U CBOUMH FO.AOBANH IIPOMbIIMAATB, U HONG BCh BB BOUCKb OTOA0AAAH H OCKYAaıAu, INTAeMCA TPaABORW H KO- PeubeMB, U OMuAaeMmB TocyAapera yRKaay, a coütu c» Be- aukia pbku Amypa 0e3%L rocyAapeza yrasy ne cmbem® un kyaa; a Boraoückie Bouuckie AAN H0AB HAMu CTOATD 6.113KO, H HAM IPOTHBB UX»b BOTAOUCKUXB BCAKUXB AIO- Ach CTOATB U AparTua .cCTa10O HEeYUbME, NOPOXy H CBUHLY wbrB uNCKOABRO » (Aor. u np. T. IV, crp. 82). Aehnlich an vielen anderen Stellen. 4) Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. II, p. 372. 2) Nach den alten französischen Missionären wurde die Stadt Aigun («Aykom») schon unter dem chinesischen Kaiser Yung-lo, aus der Dynastie der Tai-Ming, gegründet, und zwar am linken Ufer des Amur-Stromes (Du Halde, Descr. de l’Emp. de la Chine, T. IV, p. 15). In den russi- schen Nachrichten ist von ihr zuerst im Jahre 1676 die Rede, und zwar als von einer alten Stadt oder Festung, die eine halbe Tagereise unterhalb der Dseja am nörd- lichen Amur-Ufer lag. 1683 wurde sie stärker befestigt und zum Waffenplatz eines ansehnlichen Heeres gemacht, zwei Jahre später aber auf das rechte Amur-Ufer etwas weiter stromabwärts verlegt, wo das heutige Aigun oder Sachalin-ula-choton der Mandshu steht (Müller, Samnl. Russ. Gesch. Bd. I, p. 377, 381). Wassiljef (Onucauie Maupuswypiu. — Bau. Pycex,. Teorp. O6. Ku. XII, 1857, erp. 29) giebt als Gründungsjahr dieses letzteren 1684 an. 3) S. oben, p. 51. 174 Die Völker des Amur-Landes. von dort, dank diesem Umstande, im XVII. Jahrhundert gar nicht fortzuziehen, oder es sind Dauren, die sich damals vom Amur und dem unteren Komar dahin zurückzogen, oder endlich spätere, vom -Nonni herübergekommene Ansiedler. Ganz anders als mit den sesshaften Ackerbauern nahm es die chinesische Regierung mit den mehr oder weniger umherziehenden Kaufleuten. Ihnen stand das ganze zum Regierungsbezirk von Tsitsikar gehörende obere und mittlere Amur-Land offen, und nur über die äussersten Wachtposten am oberen Amur hinaus mit den Russen in Verkehr zu treten, war auch ihnen untersagt. Dank dieser Erlaubniss und der Neigung und Befähigung der Dauren zum Handel, besonders mit den ihnen stammverwandten und von altersher bekannten tungusischen Jagdvölkern im Norden des Amur-Landes, sehen wir sie bald jene weite Ausbreitung als Kaufleute längs der Dseja, dem Ssilimdshi, der Bureja und deren Zuflüssen gewinnen, von welcher oben bereits ausführlich gespro- chen worden ist!). Nur auf einen Umstand möchte ich hier noch besonders aufmerksam machen, der sowohl für den Umfang dieser Ausbreitung der Dauren, als auch für die Rolle bezeichnend ist, welche sie dabei den tiefer stehenden Amur-Völkern gegenüber spielen. Obgleich die Dauren das untere Amur-Land nicht betreten dürfen und es andererseits auch den Völkern dieses letzteren ehinesischerseits untersagt ist, auf dem Amur die Sungari-Mündung und auf dem Sungari die Stadt Ssan-ssin zu überschreiten, so sind die daurischen Kaufleute doch selbst den am weitesten von ihnen entfernten Giljaken bekannt. So oft ich mich bei diesen nach den den Amur aufwärts wohnenden Völkern erkundigte, immer wurden mir über die Mandshu hinaus noch die «Jam- Mandshw genannt. Lange blieb es mir unbekannt, welches Volk sie darunter verstehen. Wie ich jetzt nicht mehr zweifle, sind es die Dauren. Trotz jenes Verbotes der chinesischen Regierung, kommen nämlich daurische Kaufleute von den Quellen der Bureja oder des Ssilimdshi über das Jam-alin-Gebirge nach dem am Tugur gelegenen Orte Burukan ?), wo andererseits zu Zeiten, des Handels wegen, Tungusen vom Tugur wie vom Ochotskischen Meere, Negda vom Amgunj und Giljaken vom Amur sich einfinden. Gegen die allbeliebten Zobelfelle erhalten sie dort von den Dauren wohl ziemlich dieselben Waaren wie von den Chinesen am Amur und müssen von ihnen natürlich gelegentlich auch erfahren haben, welche Rolle sie in dem jenseits des Jam-alin gele- genen Lande, an der Bureja, dem Ssilimdshi und der Dseja bis zum Amur hinab spielen: dass sie dort allen Handel betreiben, von den Biraren und Manägirn den Tribut für die chinesi- sche Regierung einsammeln u. s. w.°). Erwägt man nun dass die Giljaken, wie oben bereits bemerkt‘), die Mandshu und Chinesen, obwohl sie dieselben der Nationalität nach unter- scheiden, nicht selten beide schlechtweg als «Mandshu» bezeichnen, so ist es ganz verständ- lich, wenn sie den vom Jam-Gebirge herüberkommenden Dauren, die jenseits dieses letzteren dieselbe Rolle wie die «Mandshu» am Amur spielen, auch den Namen «Jam-Mandshu» 1) S. p. 38, 52. erzählt, dass die Dauren dem Jakuten Trofim sogar 2) Vrgl. auch die Angaben eines Augenzeugen, des | imponirend zu schildern wussten, wie sie eine grosse Priesters Djatschkovskij, bei Kosmin, in den 3ar. | Stadt am Amur besässen, an welcher der Strom querüber Tıraporp. Aenapr. Moper. Muuner. 4. IV, erp. 36. durch eine mächtige Kette gesperrt sei, 3) Middendorf[f (Reise ete. Bd. IV, p. 166, Anm, 1) 4) S. p. 71. Biraren, Manägirn, Orotschonen. Durch den Abzug der Dauren bedingte Verschiebungen. 175 ertheilen. Ob sie daneben, der verschiedenen Nationalität Rechnung tragend, noch einen anderen Namen für die Dauren haben, ist mir nicht bekannt. Bei den russichen Tungusen sollen sie «Djulü», bei den Biraren «Dahu-halj» heissen '), — eine Bezeichnung, in welcher sich der Name Dahur oder Daur leicht wiedererkennen lässt. So lange die Gogulen und Dauren am Amur sassen, waren die Biraren, Manägirn, Orotschonen auf das Stanowoi-Gebirge und seine südlichen Abdachungen und Verzweigungen beschränkt. In keiner Nachricht aus der Zeit der russischen Invasion wird ihrer vom Amur- Strome erwähnt. Erst durch den Abzug jener Völker vom Amur und dank der chinesischen Politik, im Oberlaufe desselben keine sesshafte Bevölkerung zu dulden, gewannen sie freien Spielraum, sich so weit südwärts, bis an den Amur, ja zum Theil über denselben hinaus auszu- breiten, wie wir es oben kennen gelernt haben. Nach Maassgabe als sie gegen Süd vorrückten, drangen andere, russische Tungusen-Stämme von Norden mehr und mehr auch in die südli- chen Verzweigungen des Stanowoi-Gebirges ein. Die Biraren und Manägirn sahen sich dabei genöthigt, indem sie aus ihrer alpinen Heimath hinabstiegen und längs der Bureja, dem Ssi- limdshi, der Dseja in die niedrigen Vorberge und grasreichen Prairien gelangten, auch ihr alpines Hausthier, das Renn, gegen ein anderes Reit- und Lastthier, das Pferd, zu vertauschen, während die Orotschonen im gebirgigen Oberlaufe des Amur bei ihrem altgewohnten Renn- thier verblieben. Ganz dasselbe ging auch an den Quellflüssen des Amur-Stromes, in Daurien vor sich, indem in das von den Dauren geräumte Gebiet, wie Ritter sich ausdrückt ?), «Tun- gusische Wildlinge» einrückten, die, aus dem Gebirge in die waldlose Ebene gelangt, ihr Renn- thier gegen das Pferd vertauschten oder sogar, gleich den Mongolen, der Viehzucht sich an- bequemten und so aus Wald- oder Rennthier- in Pferde- und Steppen-Tungusen sich umwandelten®). So fand unter den Amur-Völkern eine Reihe von Wanderungen und Wande- lungen statt, zu denen sämmtlich ein Ereigniss, die Invasion der Russen im XVII. Jahrhundert, den ersten Anstoss gab: wie sie im unteren Amur-Lande die Uebersiedelung der Djutscheren an den Churcha und dadurch die Ausbreitung der Golde westwärts bis an den Sungari veran- lasste, so rief sie im oberen Amur-Lande den Abzug der Gogulen und Dauren vom Haupt- strom und seinen Quellflüssen hervor, der wiederum jene Bewegungen unter den tungusischen Stämmen im Süden und sogar im Norden des Stanowoi-Gebirges zur Folge hatte. Fügen wir nun diesen allgemeineren Bemerkungen noch einige speciell auf die Biraren, Manägirn und Orotschonen bezügliche historische Daten hinzu. 4) Middendorff, Reise etc. Bd. IV, p. 1536. Das bi- 2) Erdkunde von Asien, Bd. II, p. 323. rarische «halj» wird wohl soviel wie das goldische und 3) Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. VI, p. 152, u. A. mandshurische «hdla», d. i. Stamm, Geschlecht, bedeuten. Die Völker des Amur-Landes. Die älteste Kunde von den Biraren rührt vom ersten Zuge der Russen an den Amur unter Pojarkof her: nach seiner Rückkehr von demselben (16%6) berichtete er, dass an den Quellen des Ssilimdshi («Ssilimba») zahlreiche rennthierhaltende Biral-Tungusen (Tyurycsı Bupausı) wohnen). Fünfunddreissig Jahre später (1681) wurde Ignatij Milowanof von Nertschinsk nach der Dseja und dem Ssilimdshi abgeschickt, um die früher errichteten Wacht- und Tribut- posten zu besichtigen und in Erfahrung zu bringen, wo es fruchtbares Land gebe und ein neuer Posten begründet werden könnte. Inzwischen hatte der Abzug der ackerbauenden Dauren vom Amur und von der Dseja bereits stattgefunden, und Milowanof sah an beiden Flüssen zahlreiche Spuren ihrer ehemaligen Aecker und Dörfer. Vom Ssilimdshi («Sselinba») berichtete er aber, dass es mit geringer Macht unmöglich sein würde, die dortigen Birar-Tungusen tributpflichtig zu machen, sowie dass daurische Leute an die Mündung dieses Flusses kämen, um von ihnen Tribut für die chinesische Krone zu erheben. Er nennt dabei die Biraren Pferde-Tungusen (kontpie Bupaperie Tyuryepi)”. So hatten sich dieselben mittlerweile schon weiter abwärts am Ssilimdshi gezogen und sich den dortigen Naturbedingungen gemäss in Pferdenomaden umge- wandelt. Die Dauren erschienen aber bei ihnen nur zeitweise, als tributempfangende Beamte oder Händler ?). Drei Jahre später meldete auch der Kosakenanführer Gerassim Zypandin, dass er in Udskoi Ostrog zwei Biraren-Häuptlinge vom Ssilimdshi als Geisseln aufgetrieben und zurückbehalten habe *). So lernen wir aus den frühesten russischen Nachrichten die Biraren schon unter diesem ihrem Namen kennen. Ich glaube auch, dass sie sich selbst, wenigstens Fremden gegenüber, in der That so bezeichnen, denn ich habe diesen Namen von ihnen selbst erkundet, ohne ihn je früher gehört zu haben°). Nicht anders wird es Radde gegangen sein, der während seines Aufenthaltes im Bureja-Gebirge am Amur mit den Biraren in häufige Be- rührung kam und sie stets mit diesem Namen bezeichnet). Dennoch bedeutet derselbe nur so viel wie «Flussanwohner», wobei sie unter dem «Fluss» (döra) schlechtweg nicht etwa den Amur, sondern den Njuman-bira verstehen, der aus diesem Grunde auch bei den Russen den nur durch Entstellung jenes Wortes entstandenen Namen Bureja erhalten hat. Der Njuman-bira war nämlich der Hauptstrom ihres Gebietes: von ihm aus sind sie vermuthlich in früherer Zeit an den nahen Oberlauf des Ssilimdshi hinübergegangen ; ihm folgend, haben sie sich später, nach dem Abzuge der Gogulen und Dauren, bis an den Amur, ja über denselben hinaus verbreitet. Am Amur, wo sie ehemals bebautes, fruchtbares Land fanden, ıst ein Theil von ıhnen, wie wir oben sahen, sogar zu sesshaften Ackerbauern geworden, wozu es ihre nahen Stammverwandten, 1) Aono.an, x& arram ucrop. T. III, erp. 53. 1869, erp. 202. 2) Oruuera Croapuuky ı Boesoab OeA. Aemeutber. Boeikosy, OTB nocAaann. 8b 1681 r. Aa 0603p. Anypa epıu6 - Boapceraro WUrnarpsa MuaoRamora, milgelheilt von Spasskij, im Bbern. Pycer. Teorp. O6. 1853, 4. VII, Ora. U, crp. 40, 41. 3) Milowanof,]. c. p. 39. 4) Aono.an,. Kb aktamp ucropny. T. XI, C. Herepöypr 5) S. meinen Reisebericht, datirt Irkutsk, d. 15. Nov. 1856, im Bull. de la el. phys.-math. de l’Acad. Imp. des se. de St. Petersbourg, T. XV, p. 247; Mel. russes, T. II, pP: 353. 6)«Birar-Tungusen», s. Radde,Bericht über Reisen im Süd. und Ost. Sibir. (Beiträge zur Kenntn. des Russ. Reiches, Bd. XXIII, p. 526 u. a.). Biraren. Ursprung des Namens. — Manägirn. Erste Kunde von denselben. rl die Manägirn und Orotschonen, nicht, oder wenigstens nicht in dem Maasse, gebracht haben. Durch diese Verbreitung rücken sie auch den Sitzen der mandshu-chinesischen Regierung, Aigun und namentlich Tsitsikar, der Hauptstadt der Provinz Helong-kiang (Amur), um Vieles näher. In der chinesischen Reichsgeographie der Tai-Tsing werden sie in der Zahl der zu diesem Distrikt gehörenden Völker aufgeführt, und zwar unter demselben, selbst in chinesischer Version noch leicht kenntlichem Namen, als «Builar»') oder «Pie-li-eurh» (Pilar)?. Ebenso und noch übereinstimmender lautet der vom Archimandrit Palladij?) für dieses Volk gebrauchte, vielleicht aus derselben Reichsgeographie entlehnte Name «Bilar». Man erkennt ihn endlich leicht auch in dem oben schon mehrfach erwähnten, von Middendorff auf seiner Reise durch den nördlichen Theil des Biraren-Gebietes ganz selbständig erkundeten Namen «Byral- oder Bural- Tungusen»®). Die kleine Modification in demselben liesse sich vielleicht, in Folge des Umstan- des, dass die Reise Middendorff’s in Gesellschaft russischer Tungusen geschah, auf russi- sehen Einfluss, namentlich auf eine Anlehnung an die russische Bezeichnung «Bureja» für den Njuman-bira zurückführen’). Eben so weit wie über die Biraren reicht auch die älteste Nachricht über die Manägirn zurück. Im Jahre 1647 machte nämlich der «Promyschlennik» Grigoriji Wishevzof im amt- lichen Verhöre zu Jakutsk die Aussage, dass er die beiden vorhergehenden Jahre, seinem Erwerbe nachgehend, am Tugir (Tungir), einem Zuflusse der Olekma, zugebracht habe, woselbst zu ihm unter Anderen auch drei «Managir-Tungusen» (Manarnpn) kamen®). Wo dieser angeblich zahlreiche Stamm seine Wohnsitze hatte, ist nicht speciell gesagt, doch heisst es weiter, dass sie alljährlich im Winter auf Rennthieren nach der Schilka (Amur) hinabgehen, um dort mit den Dauren Handel zu treiben, wozu sie der Njuga (Njuksha), einem Zuflusse des Tungir, aufwärts bis zum Gebirge folgen und alsdann zum Ui (Urkan) hinüber und diesem entlang bis zu seiner Mündung in die Schilka gehen, wo sie schon dem Fürsten Lavkai untergebene Dauren treflen. Daraus lässt sich ersehen, dass die Manägirn damals noch Rennthiernomaden waren, die hoch im Stanowoi-Gebirge, an dessen Nord- und Südabhange, an den Quellen der Njuksha, des Urkan und — da ihr Stamm zahlreich sein sollte — wohl auch der zunächst ostwärts gelegenen Flüsse, des Oldoi, Ur u. a., umherstreiften. In Po jarkof’s Bericht über sei- nen gleichzeitigen Zug, der vom Stanowoi-Gebirge die obere Brjanda und die Dseja abwärts ging, wird der-Manägirn nicht erwähnt: den ersteren Fluss fand er unbewohnt, an der unteren (zweiten) Brjanda sassen Rennthier-Tungusen vom Stamme Ullagir, am unteren Ur viehzuchttreibende 1) Ritter, Asien, Bd. II, p. 442. tionell durch y wiedergeben) umgewandelt, wie z. B. aus 2) Pauthier, Chine moderne, I. partie, p. 168. «Kidsi» Kysy (Keıspı) gemacht wurde u. s. w. Darnach 3) Aopousıa zamnbrku u up. (3a. Pycex. Teorp. O6. | müsste auch aus «bira» byra (6sıpa) entstehen, und daher Io o6m. reorp. T. IV, 1871, erp. 445). vielleicht die Version «Byral-Tungusen». 4) Middendorff, Reise etc. Bd. IV, p. 167, 1505 u. a. 6) Pacnpocasıa pbuu mpomsımAaenaro yeaopbka Tpur. 5) Auch wird bei Wiedergabe tungusischer u. a.Wör- | Buskesmo»a (Aono.s, kb akt. ucrop. T. IH, crp. 102). ter das i russischerseits leicht in ve (das wir hier conven- Schrenck’s Amur-Reise, Band III. 23 178 Die Völker des Amwr - Landes. Bajagir-Tungusen und an der Dseja vom Umlekan ab Dauren!). Von diesen beiden Tun- gusen-Stämmen ist jedoch später im Amur-Lande nicht weiter die Rede, wonach sich schon vermuthen lässt, dass es nur einzelne versprengte Glieder ihres Stammes waren, wie solehe in den Ländern mit nomadischer tungusischer Bevölkerung stets vorzukommen pflegen. Von den Bajagirn ist zudem notorisch bekannt, dass sie ein, wie Middendorff sich ausdrückt, nach allen vier Winden verstreutes Geschlecht sind, von denen sich einzelne Repräsentanten durch ganz Sibirien finden lassen ?). Wie die Manägirn zur Zeit von Pojarkof’s Zuge an der Brjanda und Dseja fehlten, so gab es, nach Ussolzef, auch zwei Jahrhunderte später noch keine am Gilui?), diesem westlich von der Brjanda vom Stanowoi-Gebirge herabkommenden rechten Zu- flusse der Dseja. Angesichts dieser Thatsachen muss man daher die Heimath der Manägirn, von welcher aus sie sich später bis an die Dseja und über dieselbe hinaus verbreitet haben, erst westlich vom Gilui, d. h. also in demjenigen Theile des Stanowoi-Gebirges suchen, auf welchen die obige Angabe Wishevzof’s zum Theil direkt hinweist. Am nächsten und näher als der Dseja waren sie dort dem oberen Amur, und zu diesem stiegen sie auch, wie jene älteste Nach- richt besagt, längs den direkt hinführenden Flüssen, dem Urkan u. s. w., des Handels mit den Dauren wegen allwinterlich hinab. Dies ist aber gerade derjenige Theil des Amur-Stromes, in welchem sich die Russen im XVII. Jahrhundert am ehesten und meisten festsetzten, ın welchem ihre grössten und besten Festungen wie später ihre Ansiedelungen lagen, und in welchem sie sich auch am längsten und nachhaltigsten behaupteten. Darin liegt der Grund, weshalb die weitere Ausbreitung der Manägirn im Amur-Lande erst später als diejenige der Biraren stattfinden konnte. War diesen die Möglichkeit dazu schon gleich nach dem Abzuge der Go- gulen und Dauren vom Amur geboten, so konnte hingegen die Ausbreitung der Manägirn aus ihrer Gebirgsheimath nach Süden und Osten nicht eher beginnen, als nachdem aueh die Russen den oberen Amur geräumt hatten, was erst 35 Jahre später, in Folge des Nertschinsker Traktates geschah. Als daher 1681 Ignatij Milowanof zur Besichtigung der Dseja abgesandt wurde, fand er dort noch keine Manägirn vor, während die Biraren sich am Ssilimdshi bereits so weit abwärts gezogen hatten, dass die chinesischen Beamten den Tribut von ihnen an der Mündung dieses Flusses in die Dseja einsammeln konnten‘). Wie bald nach dem Abzuge der Russen vom Amur die Ausbreitung der Manägirn begann und welchen Verlauf sie nahm, lässt sich nicht genauer bestimmen, da mit jenem Abzuge leider auch so ziemlich alle Nachriehten über das Amur-Land auf lange Zeit hinaus versiegten. So viel scheint mir jedoch aus dem 1) Aonoan. x% axramp ucrop. T. II, crp. 51, 52. Bei | Aldan, Tungir (Olekma), vom Amur etwas unterhalb Ustj- Müller (in Büsching’s Magaz. für die neue Histor. und | Strelka, vom Dabukyt, Oldoi, Ur, von der Botama, vom Geograph. 2. Thl. 2. Aufl. p. 494) heisst der zweite der | Temtjon und von Udskoi Ostrog. genannten Stämme «Buiagir». 3) VcoapmeB»p, Hyrem. xp Bepur. p. Tun.ron ıı ua pbky 2) Middendorff (Reise etc. Bd. IV, p. 1479, 1512) | 3ero, ıbrom» 1856 r. (Bberte. Pycer. Teorp. O6m. 4. XXI, erwähnt z. B. einzelner Bojagern — wie er den Namen | 1858, Ora. II, crp. 153). schreibt — die er zum Theil selbst gesehen, von den 4) S. oben, p. 176. Quellen der Cheta, westlich vom Jenissei, vom Wilui, Manägirn. Ausbreitung an den Amur, den Komar und die Dseja. 179 Obigen als wahrscheinlich hervorzugehen, dass sie zunächst auf ihrem altgewohnten Wege, die Flüsse Urkan, Oldoi u. s. w. abwärts, zum gänzlich verödeten oberen Amur hinabstiegen und alsdann, diesem Strome folgend, an den Komar und die Dseja gelangten, längs welchen sie sich so weit aufwärts ausbreiteten, als sie unbesetztes und ihren Bedürfnissen entsprechendes Terrain fanden. Zur Dseja führte sie übrigens vielleicht auch noch ein zweiter Weg, ich meine den Ur abwärts. Daher vielleicht, wie hauptsächlich wohl aus dem Grunde, weil die Prairien an der unteren und mittleren Dseja und ihren Zuflüssen den Pferdenomaden, zu welchen die Manägirn, nach den Vorbergen und der Ebene hinabgestiegen, allmählich geworden waren, die günstigsten Be- dingungen boten, fand sich dort in der Folge auch die zahlreichste Manägir-Bevölkerung ein. Nirgends, weder an der Dseja, noch am Komar oder am Amur, wandte sie sich aber dem Ackerbau und einer sesshaften Lebensweise zu, wozu jedoch der Grund nicht allein in dem tiefwurzelnden Nomadensinn der Tungusen, sondern vornehmlich wohl in jener oben berührten Politik der chinesischen Regierung zu suchen ist, diese der russischen Invasion zunächst und am meisten ausgesetzten Gegenden in möglichst ödem und wüstem Zustande zu erhalten. Bemerkenswerth ist ferner, dass die Manägirn, trotz ihrer oben angegebenen weiten Aus- breitung im Amur-Lande und ihrer Umwandlung in Pferdenomaden, in den Augen der Mandshu- Chinesen doch dieselben Rennthier-Tungusen blieben, die sie ehemals waren. Die chinesische Reichsgeographie der Tai-Tsing kennt für sie keinen besonderen Namen, wie für ihre nahen Stammverwandten, die Biraren, sondern subsummirt sie unter der allgemeinen, auch ihre west- lichen Nachbaren, die Orotschonen, umfassenden und auf diese auch gegenwärtig noch passenden Bezeichnung «Oruntschun»!) oder «Go-lun-tschun»?), d. h. Rennthiervolk. Darin liegt, glaube ich, auch von chinesischer Seite eine Bestätigung der von uns oben aus anderen Gründen abgeleiteten Behauptungen, dass nämlich die Manägirn noch unlängst als Rennthiernomaden in unmittelbarer Nachbarschaft der Orotschonen sassen, dass sie von dort aus zum oberen Amur und diesen abwärts zum Komar und zur Dseja sich ausbreiteten, und dass diese Ausbrei- tung erst in verhältnissmässig später Zeit erfolgte. Die älteste mir bekannte Nachricht übrigens, in welcher von den Manägirn schon als von Anwohnern des Amur-Stromes die Rede ist, gehört der Neuzeit an. Sie ist dem russischen Läufling Gurij Wassiljef zu verdanken, dessen Aussagen in den handschriftlichen Aufzeichnungen Ladyshinskij's niedergelegt, später aber, wie Middendorff nachgewiesen °), von lakinf in seiner Statistischen Beschreibung des Chinesischen Reiches ohne Nennung der Quelle ausgebeutet worden sind. In diesem Werke heisst es demgemäss, dass unterhalb Ustj-Strelka in den Bergen an beiden Ufern des Amur Tungusen-Stämme wohnen, die von den Russen die Namen «Minegren» (Munerpn) und «Orotschonen» erhalten haben *); und an einer anderen Stelle — offenbar auch nach einer anderen Quelle — dass man in Transbaikalien die Tungusen des rechten Amur-Ufers unter- 1) Ritter, Asien, Bd. III, p. 442. 4) Jakun®%, Crarucer. once. Kuraick. Unn. €. Herep- 2) Pauthier, Chine moderne, I. partie, p. 168. öypr» 1842, 4. II, erp. 217. 3) Reise etc. Bd. IV, p. 156, Anm. 1; s. auch oben, p. 81. 99% 23 180 Die Völker des Amur-Landes. halb Ustj-Strelka «Mangiren» (Manrnppi), diejenigen des linken Ufers aber «Orotschonen» nenne). Die neueren Amur-Reisenden erwähnen der Manägirn stets unter demselben, nur in den Vokalen verschiedentlich abgeändertem Namen; über den Ursprung desselben findet man aber bei ihnen höchstens nur Nachklänge der von lakinf ausgesprochenen Ansicht. So hält Gerstfeldt?) diesen Namen für russischen Ursprungs bloss aus dem Grunde, weil er in den chinesischen Volkszählungstabellen (in der Reichsgeographie der Tai-Tsing, s. oben) fehlt. Ja, auch Maack, der sich am längsten unter den Manägirn aufhielt, meint, dass sie sich zwar gegen- wärtig selbst «Manjachyr» nennen, dass es jedoch noch dahingestellt bleibe, ob sie diesen Namen nicht von den Russen acceptirt hätten). Dem kann ich nun keineswegs beistimmen: wie sollten die Russen auf diesen Namen, der im Russischen durchaus keine Bedeutung hat, gekommen sein? Dass er vielmehr von tungusischem Ursprung ist, dafür spricht, wenn wir auch seine Etymologie zunächst nicht kennen, schon die Endsylbe desselben ®). Auch tritt er uns gleich bei der ersten Berührung der Russen mit den Manägirn, in jener Nachricht aus dem XVII. Jahrhundert ent- gegen. Offenbar. bezeichneten sie sich schon Wishevzof gegenüber, also zu einer Zeit, da sie noch gar keinen russischen Namen haben konnten, als Managir, gleichwie sie es zwei Jahr- hunderte später Maack und mir gegenüber thaten. Mir klang dabei der Name, den sie sich selbst beilegten, bald «Manägir» und bald «Monjager» oder «Manjager», woraus sich jene Schwankungen in den Vokalen bei Wiedergabe desselben durch verschiedene Reisende leicht erklären lassen. Am genauesten und bestimmtesten unter den drei hier in Rede stehenden Völkern lauten “die Nachrichten über die Ausbreitung der Orotschonen im Amur-Lande. Und dies aus dem Grunde, weil sie einerseits am spätesten erfolgte und andererseits an der unmittelbaren Grenze der russischen Bezitzungen, ja von denselben aus und also gewissermassen vor den Augen der Russen stattfand. Bemerken wir zuvörderst, dass obwohl man gegenwärtig russischerseits unter Orotschonen die Rennthier-Tungusen versteht, welche oberhalb der Manägirn am Amur und seinen Nebenflüssen, ja auch über dieselben hinaus, im Stanowoi-Gebirge an den oberen Zu- flüssen der Olekma und im Chingan-Gebirge an einigen Zuflüssen des Nonni umherstreifen, so ist ihnen dieser Name doch nicht, wie die oben angeführte, zum Theil dem Gurij Wassiljef nachgesprochene Angabe Iakinf’s fälschlich besagt, von den Russen ertheilt worden. Sein mandshurischer Ursprung ist oben ausführlich besprochen worden°). Da er nur so viel wie «Rennthiervolk» bedeutet, so könnte er auf sehr verschiedene Tungusen-Stämme Anwendung finden. Wie weit er bei den Mandshu oder deren Vorfahren zurückreicht, wissen wir nicht, allein der Umstand, dass er den Oltseha am unteren Amur, die ihr Rennthiernomadenthum längst aufgegeben, sowie den Oroken von Sachalin verblieben ist, weist auf ein hohes Alter des- 4) L. c. p. 1, Anm.; s. auch oben, p. 41. erp. 68. 2) O npnöpexcn. skureaaxe Amypa (Bbera. Pycer. Teorp. 4) S. oben, p. 104, 105. Ocm. 4. XX, 1857, Ora. I, erp. 293, Hpumbu. 2). 5) S. oben, p. 132 11. 3) Maar», Hyrem. na Anmyp®z, C. Ierepöypr» 1859, Orotschonen. Späte Einbürgerung dieses Namens bei den Russen. 181 selben hin. Dass die chinesische Reichsgeographie der Tai-Tsing ihn neben den Orotschonen auch auf die Manägirn ausdehnt, noch aus der Zeit, da diese Rennthiernomaden waren, was nicht so weit zurückliegt, ist oben schon erwähnt worden. Bekannt wird diese mandshurische Bezeichnung für die Rennthier-Tungusen seit den alten Jesuiten-Missionären!). Bei den Russen ist hingegen der Name Orotschonen erst seit Kurzem im Gebrauch und hat als Fremdwort natürlich auch nicht jene collective Anwendung wie bei den Mandshu, sondern bezieht sich als specieller Eigenname nur auf die Rennthier-Tungusen am oberen Amur in den oben ange- führten Grenzen. In den Berichten aus der Zeit der ersten russischen Invasion im Amur-Lande kommt er noch gar nicht vor. Wo die Russen damals Rennthier-Tungusen im Amur-Lande trafen, nannten sie dieselben, gleichwie sie es auch in Sibirien thaten, nach deren eigenen Stamm- oder Geschlechtsnamen, wie die Bezeichnungen Birar-Tungusen, Ullagir, Ma- nagir u. a. beweisen. Erst sehr viel später, nachdem das ganze Amur-Land traktatmässig chinesisches Land geworden war und die Russen, nunmehr einzeln und in kleinen Partien von Daurien aus in dasselbe vordringend, dort zuvörderst auf Rennthier-Tungusen stiessen, die wenigstens nominell den Mandshu-Chinesen tributpflichtig waren und bei ihnen den Namen Orotschonen trugen, acceptirten sie ebenfalls diesen Namen; und da dieselben Nomaden sich bis über den Nordabhang des Stanowoi-Gebirges und an die Quellflüsse der Olekma er- streckten, so wurde jener Name russischerseits auch in dieser weiteren Ausdehnung üblich. Die älteste mir bekannte Nachricht, die von dem Gebrauch des Namens Orotschonen bei den Russen Zeugniss giebt, rührt von einem Dr. Schneegass her, welcher in den ersten Jahren unseres Jahrhunderts (vor 1805) durch Sibirien nach Japan reiste, um sich dort, wie es heisst, mit den russischen Erdumseglern (Krusenstern) zu vereinigen). Indem er von den Solonen und Dauren spricht, die jenseits des Argunj in der Mandshurei ihre Wohnsitze hätten, sagt er, «in derselben Gegend um den Fluss Amur herum ist auch eine grosse Anzahl Oro- tschonen, nämlich Olenni-Tungusen?) gelagert», —eine Nachricht, die durch ihre erklärenden Schlussworte deutlich verräth, dass sie auf russischen Angaben beruht. Beinahe aus derselben Zeit — aus den Jahren zwischen 1815 und 1826 — stammt die oben angeführte, durch La- dyshenskij der Vergessenheit entzogene Aussage des Läuflings Gurij Wassiljef. Bei un- seren Reisenden, die Daurien im vorigen Jahrhundert besuchten, Messerschmidt, Gmelin, Pallas, Georgi, so wie in Müller’s und Fischer’s Schriften kommt er nicht vor. Er mag daher erst ganz zu Ende des vorigen Jahrhunderts unter den Russen des angrenzenden Daurien’s üblich geworden sein. Daraus folgt nun freilich keineswegs, dass die Orotschonen damals erst an den Amur gelangt sind; allein sehr viel früher kann es auch nicht gewesen sein. Denn wie 4) Gerbillon, s. Du Halde, Deser. de ’Emp. de la | Gefolge der Grossbrit. Gesandschaft in den Jahren 1793 Chine, T. IV, p. 37. und 1794; aus dem Englischen übersetzt und mit einigen 2) Siehe den Anhang: «Beyträge zur Länder- und | Anmerkungen begleitel von J. A. Hüttner, Bd. II, Wien Staatenkunde der Tartarey; aus russ. Berichten», zu John | 1805, p. 359. Barrow, Reise durch China von Peking nach Canton im 3) D. h. Remnthier-Tungusen. 182 Die Völker des Amur-Landes. die Ausbreitung der Manägirn vom Stanowoi-Gebirge nach Süd und Ost, so kann auch diejenige der Orotschonen erst nach der durch den Nertschinsker Traktat beschlossenen völligen Räumung des Amur-Landes durch die Russen begonnen haben. Ja, sie ist sogar nach- weislich später als jene erfolgt. Denn gleichwie an den Quellflüssen der Bureja und des Ssi- limdshi den südwärts sich bewegenden Biraren Rennthier-Tungusen vom Stanowoi-Gebirge nachdrängten, so rückten hier den Manägirn die Orotschonen nach und nahmen manche ursprünglich von jenen inne gehabten Gebiete ein. Während z. B. ehemals, wie wir oben sahen, die Manägirn noch im Norden des Stanowoi-Gebirges, an der Njuksha umherstreiften und an den Tungir kamen, auch den Urkan abwärts zu den Dauren gingen, breitet sich dort gegen- wärtig unbestrittenes Orotschonen-Gebiet aus und läuft die Grenze zwischen beiden Völkern von der linken Oldoi-Quelle längs diesem Flusse oder noch östlicher, längs dem Niwer zum Amur hinab!). Aehnliches fand, als die Ausbreitung dieser Völker den Amur erreicht hatte, auch an diesem statt. Orlof, der einen grossen Theil des Orotschonen-Gebietes bereist hat, ist es gelungen in Erfahrung zu bringen, dass die Orotschonen des linken und des rechten Amur- Ufers zwei verschiedenen, wenn auch nahe verwandten Stämmen angehören, die auch zu ver- schiedenen Zeiten an den Amur gelangt sind 2). Beide stammen aus dem Jakutskischen Gebiete, also nördlich vom Stanowoi-Gebirge, vermuthlich vom Tungir, von der Olekma u. s. w. her. Diejenigen vom linken Amur-Ufer, dem Ninagan’schen Stamme angehörig, sind von älterer Verbreitung. Sie sind es offenbar, die unmittelbar nach West und Nordwest von den Manägirn, als diese noch Rennthiernomaden waren, ihre Heimath hatten und diesen auf dem Fusse gefolgt sind, bis sie an den Amur gelangten, wo sie, ihre Vorgänger drängend, bis an den Oldoi und Niwer sich ausbreiteten®). Viel später, erst vor etwa 30 Jahren, sagt Orlof, also um das Jahr 1827, wanderten freiwillig, wohl aus benachbarter Heimath, Rennthier-Tungusen vom Scho- logon’schen Stamme an das rechte Amur-Ufer heran, die nun den anderen Theil der Amur- Orotscehonen abgeben. Auch Middendorff wurde 1844 von den Kosaken am Beginn des Amur erzählt, dass vor etwa zwölf Jahren, also um 1832, Tungusen aus dem Ssologon- Geschlecht («Ssologonzy»), die früher jenseits des Oldoi an den Quellen der Dseja-Zuflüsse gehaust hätten, auf chinesisches Gebiet zwischen dem Argunj, dem Amur-Anfang und der Albasicha übergetreten wären. Ihnen seien vor vier Jahren auch die Böljöt gefolgt, zwölf der russischen Krone Tribut zahlende Häupter aus dem Kangalas-Stamme, welche, nach Ver- sicherung der Tungusen, ursprünglich am Aldan lebten und wegen schwerer Zeiten, so wie um Bedrückungen zu entgehen, von dort auswanderten‘). Die Orotschonen des rechten Amur- 1) S. oben, p. 42. sassen amUritschi,in grosser Armuth. Sie warenerst seit 17 2) Opao»», Amyperie Opouueusr (Bberungg Pyccr. | Jahren dort angeschrieben. Der Häuptling zeigte unserem Teorp. OOm. 4. XXI, 1857, Ora, II, erp. 96, 97). Reisenden ein Papier der Behörde von Jakutsk vom Jahre 3) Zur Zeit von Middendorff’s Reise (1844) som-.| 1683, um seine Erzählung von ihrer Herkunft zu bewahr- merten Niniganj-Tungusen ihrer Rennthiere wegen | heiten (Middendorff, Reise etc. Bd. IV, p. 1510, 1511). an den Quellen desOldoi, Niwer («Liwer») und Gilui («Kile»); 4) Middendorff, Reise etc. Bd. IV, p. 1511. Fast etwa zehn rennthierlose Familien desselben Geschlechts | möchte man es aber nur für einen Druckfehler halten, Orotschonen. Einwander. in das Amur- Land. — Solonen. Erste Erwähnung derselb. 183 Ufers breiteten sich, meist in der Nähe des Hauptstromes sich haltend und ohne auf das linke Ufer hinüberzugehen, bis zu den Quellen der Albasicha und dann längs diesem Flusse bis zu dessen Mündung aus, wo gegenwärtig ihre äusserste Grenze am südlichen Amur-Ufer liegt. Auch sie hatten dabei, wie Orlof ausdrücklich bemerkt, Manägirn zu verdrängen, welche übrigens noch jetzt zeitweise des Fischfangs wegen über die Albasicha-Mündung hinaus in das Orotschonen-Gebiet streifen '). Der Grund aber, weshalb es den Orotschonen gelang, den Manägirn an beiden Ufern ein nicht unbedeutendes Terrain abzugewinnen, dürfte nicht etwa in ihrer grösseren Zahl — diese ist im Gegentheil sehr gering — auch nicht in irgend welcher sonstiger physischer oder geistiger Ueberlegenheit, sondern einzig und allein in dem Umstande zu suchen sein, dass der rauhe, nordische Gebirgscharakter der beiderseitigen Ufer des Amur- Stromes in diesem seinem Theile den Rennthiernomaden einen günstigeren Boden als den Pferde- nomaden bietet, während die letzteren im Gegentheil sich von der Natur um so mehr begünstigt sahen, je weiter sie stromabwärts zogen ?). Das letzte der indigenen Völker des Amur-Landes, von dem hier die Rede sein muss, sind die Solonen. Die Nachrichten über dasselbe sind übrigens so mangelhaft und ungenügend, dass sich aus ihnen, wie wir oben sahen, kaum etwas Bestimmteres über seine jetzigen Wohnsitze entnehmen lässt, — wie viel weniger über etwaige, im Laufe der Zeit erfolgte Veränderungen und Verschiebungen derselben. Nur bei Gelegenheit der Erklärung des Namens dieses räthsel- haften Volkes sind auch einige Vermuthungen über den Ursprung oder die ursprüngliche Hei- math desselben ausgesprochen worden, an die ich einige Bemerkungen knüpfen möchte. Die älteste Erwähnung des Volkes der Solonen von Seiten europäischer Schriftsteller ist bei den alten Jesuiten-Missionären zu finden. Nach Gerbillon nimmt nämlich, wie oben schon erwähnt, die Provinz Solon den westlichsten Theil des Gouvernements Tsitsikar ein, das eigentlich vom Zusammenfluss des Argunj und der Schilka («Ergone» und «Saghalien oula») beginnen soll?). wenn Middendorff an demselben Orte die Ssologon- Tungusen auch schlechtweg S’olorn-Tungusen nennt, während er wenige Seiten vordem (p. 1502 und 1504) S’o- lorn für einen Handelsplatz erklärt. Oben (p. 49) ist schon dargethan worden, dass die wenigen Nachrichten, die er über «S’olorn» hatte, sich auf die Solonen beziehen. 1) S. oben p. 42. 2) Gelegentlich sei hier auf die von dem oben Ausein- andergesetzten ganz abweichende und meinem Dafürhalten nach auch ganz irrthümliche Ansicht Maack’s über den Ursprung der Amur-Orotschonen und Manägirn hin- gewiesen. Nach ihm (Oyrem. na Anyps, erp. 68) wären beide genannten Völker nur Nachkommen der Lavkajef’- schen Tungusen. Es ist schwer zu sagen, was man sich darunter denken soll, daLavkai ein daurischer Fürst war und das Volk, dem er angehörte und das damals am obe- ren Amur wohnte, die Dauren, zwar von tungusischem Stamme ist, aber doch nicht schlechtweg als Tun- gusen bezeichnet werden kann. Bekanntlieh wurden die Dauren auf chinesischen Befehl vom Amur versetzt; sollten aber auch Einzelne von ihnen zurückgeblieben sein, wie können aus diesen in zwei Jahrhunderten zwei verschiedene Völker, Orotschen und Manägirn, ent- standen sein? Von einer späteren Heranwanderung an den Amur anderer Stämme ist bei Maack überhaupt nicht die Rede. 3) Du Halde, Descr. de l’Emp. de la Chine, T. IV, pag. 36, 46. 184 Die Völker des Amur-Landes. In diesem Lande, bei Mergen am Nonni, lernten die vom Kaiser Kang-hi mit der Anfertigung der Karte von China beauftragten Missionäre die Solonen oder «Solon-tatse» kennen und schildern sie als kühne und geschickte Jäger, die, mit Bogen und Pfeilen bewaflnet, alljährlich auf die Zobeljagd in die Gebirgswildnisse ausziehen. Sie selbst, heisst es da‘), halten sich ihrem Ursprunge nach für Mandshu, indem sie meinen Nachkommen derjenigen Njutschi zu sein, die sich nach der Niederlage, welche ihr unter dem Namen Kin über Nordehina herrschender Stamm im Jahre 120% durch die Mongolen erlitt, nach den jetzt von ihnen bewohnten Gegenden retteten. Zwar ist nicht speeiell gesagt, von wo aus sie flüchteten, allein da wir oben die Njutschi auch in Daurien, am Argunj, in der unmittelbaren Nachbarschaft der Mongolen und namentlich der Heimath ihres Besiegers Tschingis-Chan’s kennen gelernt haben, so liegt es nahe, die Richtigkeit jener Angabe der Solonen vorausgesetzt, ihre Vorfahren in den Njutschi am Argunj zu vermuthen. Und dies um so mehr, als eine Flucht von dort sie noth- wendig die rechten Zuflüsse des Argunj hinauf und über das Chingan-Gebirge an den Nonni führen müsste, wo in der That ihre jetzigen Wohnsitze liegen. Denselben Weg haben ja, wie wir oben sahen, 4'/, Jahrhunderte später auch die Nachfolger jener Njutschi, die Dauren, zurückgelegt, als sie, von den Russen gedrängt, das Land am Argunj räumen mussten. Da aber am Nonni schon vordem, ja vielleicht schon vor der Einwanderung der Njutschi-Solonen, Dauren wohnten und ihre Zahl nunmehr durch die fast gleichzeitigen Uebersiedelungen ihrer Landsleute vom Argunj und vom Amur noch ansehnlich wuchs, so konnte es nicht fehlen, dass die ohnehin nur wenig zahlreichen Solonen mehr und mehr nach dem für Ackerbau und Vieh- zucht minder günstigen oberen Laufe des Nonni und seiner Zuflüsse gedrängt wurden, wo sie sich naturgemäss auf die Jagd im wildreichen Gebirge angewiesen sahen. Als Nachkommen eines ehemals mächtigen, tapferen und kriegerischen Volkes konnten sie dort zu den geschiekten, kühnen, allen Gefahren Trotz bietenden Jägern werden, als welche die alten Missionäre sie rühmen. Dabei mussten sie jedoch, mit dem Verfall und der Abnahme landwirthschaftlicher Beschäftigungen, an Wohlstand und Bildung nothwendig hinter den industrielleren Dauren zurückbleiben. Ich finde es daher damit, wie mit Allem, was oben über die Abstammung der Solonen von den alten Njutschi gesagt worden, vollkommen im Einklange, wenn der Archi- mandrit Palladij, ohne jene Ansicht zu theilen, ja vielleicht ohne sie zu kennen, sich in der folgenden Weise über dieses Volk ausspricht?). Nach den Erzählungen der Chinesen, sagt er, gehörte einst alles Butcha-Land°) den Solonen und war ihr Name so berühmt, dass Dahuren und Orontscho es für eine Ehre hielten, für Solonen zu gelten; auch jetzt noch stellt man sich in Peking dieselben als ein kriegerisches und tapferes Volk vor. Vielleicht war es einmal so. Gegenwärtig aber stehen die Dahuren in allen Stücken höher als die Solonen, und jedes- mal, wenn wir einen Dahuren fragten, was er sei, Solon oder Dahur, gab er eiligst zur 1) Du Halde,]. c. p. 14, 16. IIo o6m. reorp. T. IV, 1871, erp. 443). 2) ‚Koposku. aan. na ıyru oT% Neruma ao Baarorbun., 3) D. h. Land der Tributpflichtigen. upe3® Maupwrypiro, 86 1870 r. (3an. Pycer. Teorp. O6. Solonen. Ursprung des Volkes und seines Namens. 185 Antwort «Dahur», mit einem Tone, als wollte er sagen: civis romanus sum. In dieser Er- zählung; lässt sich die Tradition, dass die Solonen einst einem herrschenden Volke angehörten, nieht verkennen. Wie den Chinesen, so wird dies ohne Zweifel auch den Mandshu bekannt sein, und es ist vielleicht zum grossen Theil auch das Bewusstsein gemeinsamer Stammesange- hörigkeit, was die letzteren bestimmt, die Solonen so gern im Kriegsdienst, im Achtbannerheer und besonders in den Wachtposten und Garnisonen der entlegensten Grenzorte vom Amur bis nach Kuldsha hin zu verwenden!). Angesichts dieser Thatsachen scheint mir die oben ent- wickelte Ansicht über den Ursprung der Solonen unter allen die meiste Wahrscheinlichkeit für sich zu haben. Ganz anderer Ansicht über den Ursprung der Solonen ist der Archimandrit Palladij. Er hält es für das Wahrscheinlichste, dass die Soelonen Nachkommen der Urjanchen seien, eines wenig bekannten Volkes, welches ehemals das Land nördlich vom Pallisadenzaune bewohnte und nach chinesischen Schriftstellern der Min-Dynastie ein Rest der Khitan war, der unter den Mongolen von mongolischen Chefs regiert wurde). Ich erlaube mir über die Halt- oder Unhaltbarkeit dieser von Palladij a. a. OÖ. nur kurz angedeuteten Ansicht, welche er auch selbst nur eine Hypothese nennt, kein Urtheil. Uebrigens bemerkt er, dass der Name «Solon» oder «Solun», der in China schon zur Zeit der vorigen Dynastie bekannt war?), noch zu einer anderen Vermuthung über den Ursprung dieses Volkes führt, die er jedoch selbst nur für wenig wahrscheinlich hält. Ihr zufolge wären die Solonen nur die Nachkommen einer Golonie von Koreanern, welche etwa zwischen dem VII. und X. Jahrhundert ihre Heimath verliessen und sich nach der Mandshurei begaben. «Solongo» sei nämlich die mongolische Bezeichnung für Korea, woraus die mandshurische «Solcho» für die Koreaner entlehnt sein könne ®). Ohne mir ein Urtheil in dergleichen historisch - linguistischen Fragen zu erlauben, muss ich bekennen, dass mir diese Herleitung der Solonen doch etwas weit hergeholt erscheint. Auf eine vielleicht nur zufällige Lautähnlichkeit im Namen hin werden Koreaner und Mongolen zu Hülfe ge- nommen, um den Ursprung eines schliesslich doch tungusischen Volkes zu erklären! Auch von anderer Seite wird übrigens dem Namen «Solon» ein mongolischer Ursprung zu- geschrieben. Pallas leitete ihn vom mongolischen Worte «ssolon», Schütze, her ?), — eine Ansicht, 4) Nach Iakinf (Craruer. onne. Kuraiscr. Unn. 4. I, 1852, crp. 253) sind 47 Companien von Solonen und nur 37 aus den viel zahlreicheren Dauren den Garnisonen in den verschiedenen Provinzen zugezählt. Unter den im Gebiet von Kuldsha stationirten Truppen gab es zur Zeit von Putimzef’s Reise (1811) 6000 Solonen (Ritter, Asien, Bd. I, p. 4413) u. s. w. 2) Haa.sariir, Aoposn, 3am. ur up. (3an. Pycer. Teorp. Oö. Io oöm. Teeorp. T. IV, crp. 444). 3) Nach chinesischen Schriftstellern soll er richtiger «So&@lo» heissen (Palladij, 1. c. p. 443). 4) Nach Klaproth (Asia polygl. p. 257; Mem. relat, Schrenck's Amur-Reise, Band III, a l’Asie, T. I, 1824, p. 174, 199) ist «Solongos» der mon- golische Name für Korea und seine Bewohner. Palladij hält es für unzweifelhaft, dass er aus «Sinlo» (auch «Sylu» und «Sinlu») entstanden ist, welches drei Jahrhunderte hin- durch (bis zum X. n. Chr.) ein starkes, ganz Korea um- fassendes Reich war; damals sei jene Colonie nach der Mandshurei verpflanzt worden. > 5) Pallas, Reise durch verschiedene Provinzen des Russ. Reiches, Bd. II, p. 238; desselben, Samml, histor. Nachrichten über die Mongolischen Völkerschaften, St. Petersburg, 1776, Bd. I, p. 2, Anm. (*). 24 186 Die Völker des Amur-Landes. die später mehrfach wiederholt worden ist!) und vermuthlich darum so vielen Anklang ge- funden hat, weil sie zu der oben erwähnten Schilderung der Jesuiten - Missionäre von den Solonen als kühnen Jägern und geschickten Bogenschützen passt. Nach Pallas verstehen die Mongolen unter «Solon» sowohl die unter chinesischer Herrschaft stehenden Tungusen, die im Chingan - Gebirge und in den östlicher, zum Amur hin gelegenen Wildnissen umherstreifen, als auch die russischen Tungusen in Daurien, und von den Mongolen, meint er, hätten diesen Namen auch die Chinesen angenommen. In der That begegnen wir ihm z. B. ın einer chinesischen Reisebeschreibung aus dem Jahre 1712), und zwar wird in derselben der Name «Solun» auf Tungusen angewandt, welche die Reisenden zwischen Irkutsk und Jenis- seisk antrafen®). Desgleichen geschieht in einer von Klaproth übersetzten chinesischen Be- schreibung Russlands der «Solon» Erwähnung, die an den Ufern des Argunj wohnen und von den Russen beunruhigt werden‘). Diese weite Auffassung des in Rede stehenden Namens bei den Mongolen wie bei den Chinesen scheint mir jedoch gewissermassen schon darauf hinzuweisen, dass derselbe ursprünglich weder von den Einen, noch von den Anderen herrührt, sondern von Beiden, gleichviel ob mittel- oder unmittelbar, entweder von den So- lonen selbst, oder von einem ihrer nächsten, tungusischen Nachbarvölker, den Dauren oder Mandshu, entlehnt und alsdann auf alle in ähnlicher Weise wie dieSolonen umherstreifenden Tungusen-Stämme ausgedehnt worden ist. Fast unwillkürlich drängt sich Einem an Ort und Stelle, im Amur-Lande, eine Erklärung des Namens Solon auf, die von jener fern abliegt und jedenfalls den doppelten Vorzug hat, dass sie einmal den Sprachkreis der tungusischen Völker nicht überschreitet und dass sie ferner mit der Lage der jetzigen Wohnsitze der Solonen, ja, wenn man will, auch der ehemaligen ihrer vermuthlichen Vorfahren, der Argunj-Njutschi, in Uebereinstimmung bleibt. Bei den tungu- sischen Völkern des Amur-Landes, den Oltscha, Golde, vermuthlich auch bei den mit diesen letzteren nahe verwandten Mandshu u. a., heisst nämlich «ssolo» oben oder oberhalb, wie «chydji, chydshiv unten oder unterhalb. Es passirt Einem dort nicht selten bei Begegnun- gen mit Eingeborenen auf die Anfrage, wer sie seien, von den Oltscha z. B. nur die Antwort «chydji»- oder «ssolo-nei», d. h. Leute von unter-, resp. von oberhalb, zu be- 1) So z.B. von Spasskij (3adaür. Tyurycpı. — Cuo. Bbern. C. Ierepo. 4. XVIU, 1822, Ora. I, crp. 22) u. A. Auch Pauthier (Chine moderne, I. partie, p. 168) fügt, bei Aufzählung der nach der chinesischen Reichs- geographie der Tai-Tsing zum Gouvernement He- long-kiang gehörigen Völker, dem Namen «So-lun» in Klammern «archers», Bogenschützen, hinzu. Der Fürst Kostrof (Ouepku Typyxancraro pas. — 3an. Cu6. Ora. Pycex. Teorp. O6ın. Ru. IV, 1857, erp. 81) meint zwar, dass der Name «Solon» dem betreffenden Volke von den Mandshu gegeben sei, schreibt ihm aber doch die Be- deutung «Schütze» bei. 2) Sie ist vom Missionär Gaubil in’s Französische übersetzt und von Müller nach einem Auszuge von Souciet deutsch wiedergegeben worden, in der Samm- lung Russ. Gesch. Bd. I, p. 327 —348. 3) Müller, 1. c. p. 335. In einer Anmerkung heisst es zugleich, dass dies die Bezeichnung der Chinesen so- wohl für die russischen, wie für die chinesischen Tun- gusen sei. Doch vermag ich nicht zu sagen, ob und in wie weit diese Angabe von Müller oder von Gaubil herrührt, da es in der deutschen Uebersetzung nur im Allgemeinen heisst, die Anmerkungen seien durchgängig verbessert und wo nöthig vermehrt worden, der französi- sche Text mir aber zur Vergleichung nicht vorliegt. 4) Klaproth, Mem, relat. ä l’Asie, T. I, p. 93, 94. Solonen. Ursprung des Namens. 187 kommen. Dieselben Ausdrücke konnten natürlich auch zur Bezeichnung ganzer, ober- oder unterhalb wohnender Völker gebraucht werden. Gleichwie nun in der That aus dem ersteren der mandshurische Name Chydshan, Chädshen, Chodsen u. s. w. oder, in chinesischer Ver- sion, Ketsching und Ketscheng-tatse für die Golde und Oltscha wurde'), so könnte der letz- tere Veranlassung zur Unterscheidung im oberen Amur-Lande eines Volkes «Solon» gegeben haben. Ich möchte es nicht für eine nur zufällige Uebereinstimmung damit halten, wenn Gerbillon sagt, Solon sei bei den Mandshu die westlichste, von den Russen Dauvr&@ genannte Provinz, die eigentlich, d. h. so weit die faktische Herrschaft der Mandshu reichte, dort beginnt, wo sich der Argunj in den Amur ergiesst. Dieselbe wurde vielmehr ohne Zweifel so bezeichnet, weil sie den obersten Lauf des Amur - Stromes umfasste. Zu ihr gehörte auch das Quellgebiet und der obere Lauf des Nonni, eines für die Mandshu, wie auch für die Dauren, nicht minder wich- tigen Stromes, an welchem die Hauptstadt der Provinz, der Sitz der Regierung, Tsitsikar, liegt. Und hier wie dort, am Amur wie am Nonni, waren die Solonen das oberste Volk: am Amur — in früherer Zeit, denn am Argunj, den man als dessen obersten Lauf betrachten kann, hatten ihre Vorfahren, die Njutschi, gesessen, eine Thatsache, die vielleicht auch den Mandshu als ihren nächsten Stammgenossen traditionell bekannt war; am Nonni aber sind sie es noch bis zum heutigen Tage. Kein anderes der Amur-Völker hatte mehr Recht auf diesen Namen: weder die Dauren, denn diese erstreckten sich am Amur weit abwärts, bis in die Prairien hinein, und am Nonni sassen sie unterhalb der Solonen, ja hatten diese zum Theil selbst auf- wärts gedrängt; noch auch die Manägirn und Orotschonen, die jetzt eine solche Bezeich- nung beanspruchen könnten, denn diese stiegen erst später zum Amur hinab, als jener Name sich längst festgesetzt hatte. In letzterer Beziehung glaube ich übrigens, dass die Solonen ihren jetzigen Namen nicht schon am Argunj, sondern erst in ihrer nachmaligen Heimath, am oberen Nonni erhielten, wohin sie immerhin, wie oben erwähnt, schon im XIH. Jahrhundert gekommen sein können und wo sie in der Wald- und Gebirgsnatur auch erst zu jenen kühnen und geschickten Jägern wurden. Am Nonni, wo ausserdem Mandshu, Chinesen und im Unterlaufe auch Mon- golen zusammenstossen, konnte dann der bei den ersteren für die Solonen übliche Name am leichtesten auch zu den letztgenannten Völkern übergehen. Dass endlich auch die Solonen selbst sich gegenwärtig Fremden gegenüber desselben Namens zur Bezeichnung ihres Volkes bedienen, der sich bei ihren Beherrschern, den Mandshu-Chinesen, festgesetzt hat, ist selbst- verständlich?), und haben wir Aehnliches auch bei anderen Amur -Völkern gesehen. Wie sie sich unter einander bezeichnen, ist noch unbekannt. 4) S. oben, p. 141. zur Kenntn. des Russ. Reichs, Bd. XXV, p. 36) traf am 2) Schmidt (Histor. Bericht über die Thätigkeit der | Amur im Bureja-Gebirge Solonen aus der Ansiedelung physik. Abtheilung der Sibirischen Expedition. — Beitr. | Ui-bira, die sich ihm gegenüber selbst so nannten, 24* 188 Die Völker des Amwr-Landes. Was die in so vielfacher Beziehung zu den Amur-Völkern stehenden ostasiatischen Cul- turvölker, die Mandshu, Chinesen und Japaner betrifft, so gehören die Fragen über deren Ursprung, Ausbreitung, Entstehung ihrer Namen u. s. w. selbstverständlich nicht in den Rah- men dieses Werkes, sondern fallen historischen und linguistischen Forschungen der respeetiven Specialisten anheim. Hier können sie nur in soweit berührt werden, als die in Rede ste- henden indigenen Amur-Völker an ihnen Theil haben oder durch dieselben betroffen werden. In soleher Weise ist es im Obigen bei Gelegenheit auch schon wiederholentlich geschehen, und namentlich die Ausbreitung und gegenwärtige räumliche Stellung der genannten Culturvölker im Amur-Lande ausführlich besprochen worden. Ihre anderweitigen, politischen, socialen, com- mereiellen und drgl. Beziehungen zu den Amur-Völkern werden später, an den betreffenden Orten ebenfalls zur Sprache kommen. So bleibt uns hier nur übrig, einigen Bemerkungen über die Namen, die sie bei den Amur -Völkern tragen, Raum zu geben. Bekanntlich ist der Name Mandshu erst in verhältnissmässig neuerer Zeit, vor etwa drei Jahrhunderten entstanden '), als die verschiedenen, dieses Volk gegenwärtig bildenden Stämme sich unter einem Oberhaupt zusammenthaten und ihren Kriegs- und Eroberungsgang gegen China antraten, dem sie seine jetzige Kaiserdynastie gaben. Mit der Erweiterung der Mandshu- Macht drang auch ihr Name bis zu den entferntesten Amur-Völkern, und gegenwärtig ist er bei ihnen allen im Gebrauch. Zur Zeit jedoch, als die Züge der Russen nach dem Amur-Lande statt- fanden, scheint dies noch nicht oder jedenfalls nicht in dem Maasse der Fall gewesen zu sein. Wenigstens ist es sehr auffallend, dass in den Berichten der Russen, trotzdem diese mit allen Amur-Völkern wie mit den Mandshu selbst in vielfache Berührung kamen, der Name «Man- dshu», sei es auch nur als Bezeichnung der Eingeborenen für dieselben, kein einziges Mal vor- kommt. Pojarkof scheint sie, gleich wie die Gogulen, mit unter dem Namen Djutschery begriffen zu haben; namentlich dürften von ihm Mandshu gemeint sein, wo es sich um ein- zelne, unter den Dauren angetroffene Djutscheren handelt). Erst in Chabarof’s Berichten findet sich eine besondere Bezeichnung für die Mandshu, die fortan in allen russischen Schrift- stücken aus jener Zeit üblich wird. Chabarof erfuhr (1650), dass ein Fürst Bogdoi, ein Statthalter des Chans (Kaisers von China), über alles Land und Volk am Amur und Sungari herrsche, und nannte daher seine Stammgenossen, die Kauf-, Kriegs- und Dienstleute, die sich 1) Genau lässt sich der Zeitpunkt, wann es geschehen, nichtbestimmen. Nach Remusat gelangteAishin Gioro, der zuerst seinen Unterthanen den Namen «Mandshu» gab, um das Jahr 1520 zur Herrschaft (Plath, Die Völker der Mandschurey, Göttingen 1830, Thl. I, p. 235). Gorskij (O nponexo:xA. poAonay. usa mapere. Aumacrin Iuup. — Tpyası vrenoB% Hernacroit mucciu, U. I, 1852, erp. 215. Vrgl. auch Ssemenof, 3Bem.erba. Azin Rapıa Purtepa, T. I, erp. 441) versetzt ihn hingegen in das XIV. Jahr- hundert, und zwar in die Jahre 1368—1398. Wenn Klap- roth (Asia polygl. p. 290) sagt, «alle unter China stehen- den Tungusischen Stämme führen den gemeinschaft- lichen Namen Mandshu», so ist dies nach dem Obigen nicht richtig und beruht auf der damaligen Unkenntniss ß der Amur - Völker. Zusammenstellungen der verschie- denen über den Ursprung des Namens Mandshu ge- äusserten Ansichten (von Langles, Klaproth, J. Schmidt, Gorskij) sind bei Plath {l. c. p. 234), €. F. Koeppen (Die Religion des Buddha, Berlin, Bd. Il, 1859, p. 167) u. A. zu finden. 2) Wie z. B. der Djutscherische Fürst Tschinega (Aono.an. x» arramı ucrop. T. III, crp. 52, 53). Mandshu, Chinesen. Bezeichnungen für dieselben im Amur-Lande. 189 des Handels und der Tributerhebung halber unter den Dauren aufhielten, «Bogdoi’s oder Bogdoische Leute» (Borzoestr oder Boryoiickie nom) oder auch schlechtweg «Bogdojer» (Borzom) und ihr Land das «Bogdoische Land» (Borgoückas zemaa)”. So scheint mir, seiner Form und dem Zeitpunkt seines Aufkommens nach zu urtheilen, dieser Name für die Mandshu unter den Russen entstanden zu sein, — nicht durch direkte Vermittelung der Mongolen, indem diese den Kaisern der Mandshu-Dynastie das Epitheton «bogdo» (heilig) beifügen und sie dem- nach «Bogdo-Chane» nennen, wie Fischer und Spasskij wollen?). Ob jedoch Bogdoi der wirkliche Eigenname des erwähnten Fürsten, oder aber vielleicht nur eine generelle, dem Titel oder der Stellung desselben zukommende und von den Mongolen herrührende Bezeichnung desselben war, vermag ich nicht zu sagen. Um so auffallender ist die damalige Unkenntniss oder wenigstens der Nichtgebrauch des Namens Mandshu von Seiten der Russen, als letztere die mandshurische Bezeichnung für die Chinesen schon damals und zwar von diesen selbst in Erfahrung brachten und fortan viel- fach gebrauchten. Ein mandshurischer Kriegsknecht aus Ninguta («Njulgutskoi gorod»), von Ge- burt ein Chinese, der bei der Belagerung der russischen Festung Atschanskoi gorod im März 1652 durch die Mandshu von den Russen gefangen genommen war, erzählte, von Cha- barof zum Verhör gebracht, unter Anderem auch, dass sein Volk von den Mandshu «Nikan» genannt werde®?). Witsen hatte, nach russischen Quellen, ebenfalls Kenntniss davon und er- wähnt dessen zu verschiedenen Malen, ja, er fügt auch eine Etymologie dieses Namens hinzu. Derselbe sollte aus dem Chinesischen entnommen sein und so viel wie «nichtsnutzig, albern, plump, ungeschickt» oder auch «Knecht» und «Bauer» bedeuten‘), — eine Etymologie die nach den Angaben neuerer Kenner der Mandshu-Sprache in der That ihre Richtigkeit zu haben scheint?). Im Munde so hochmüthiger Eroberer wie die Mandshu wäre eine derartige Bezeichnung für das unterjochte Volk keineswegs undenkbar. Wie dem übrigens auch sei, der Name Nikan „ar 1) Aono.an. kB akt. nerop. T. III, crp. 259 u ca., 359 u cı. 2) Fischer, Sibir. Gesch. p. 812, Anm. (41); Cuac- eriii, Cuba. Pycer. o pbrb Anypb (Bbern. Pycer. Teorp. Oöm. 4. VII, 1853, Ora. II, erp. 26). Falsch sind auch die vielleicht zum Theil durch Fischer’s Ansicht veranlass- ten Formen «Bogdani» und «Bogdochani, die Georgi als verschiedene (russische) Benennungen für die Man- dshu angiebt (s. oben, p. 162, Anm, 4). 3) Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. H, p. 325; Aono.ın. KB akTamb umerop. T. II, crp. 367. Der Aussage dieses gefangenen Chinesen, dessen Name im russischen Be- richte Kabyscheika lautet, über den Reichthum des Nikaner Landes an Gold, Silber, Perlen u. drgl. ist oben schon gedacht worden. 4) Witsen (Noord en Oost Tartarye, Ausg. 1692, 2. Thl. p. 2; Ausg. 1705, p. 2) sagt einmal, die Njutschi oder Mandshu («Bogdoizen») nennen die Chinesen scherzweise «Nicon», was so viel heisst als «ondeugend, gek, plomp of bob». An einer anderen Stelle (Ausg. 1705, p- 11) heisst es, die Njutschi hätten ehemals China «Nica corum», d.h. Reich der Barbaren, genannt, gegenwärtig aber nennen sie es «Tulimpa corum», d. i. Reich der Mitte. An einer dritten Stelle endlich (Ausg. 1705, p. 64) findet man die Erklärung, die Tataren («Njutschi»), die China erobert, hätten den Chinesen aus Verachtung den Na- men«Nikanemoder«Nikander», der in der chinesischen Sprache «Knechte» oder «Bauern» bedeute, gegeben und ihre Hauptstadt Nanking in «Nikang», Knechtsstadt, umbenannt. 5) Sacharof (Ho.ausrii manbykypeko-pyCckiit CAOBAapb, €. Herepöyprs 1875, erp. 228) giebt an, das Wort «nikan» komme vom chinesischen «chanj» und bedeute soviel als «Chinese, chinesisch», habe aber auch die Bedeutung «Bauer» und «Bauerlümmeb». Auch Klaproth (Asia polygl. p- 290) führt «Nikam» als den Mandshu-Namen für China und die Chinesen an, ohne ihn jedoch weiter zu erklären, 190 Die Völker des Amur-Landes. für die Chinesen ist mit geringen Abänderungen von den Mandshu zu allen übrigen Amur- Völkern gedrungen. Ich habe ihn im unteren Amur-Lande unter den Golde, Oltscha und Giljaken gehört. Zwar nennen sie gewöhnlich die chinesischen Kaufleute auch schlechtweg Mandshu, allein bei genauerer Nachfrage wissen sie sehr wohl anzugeben, dass jene ersteren eigentlich einem ganz anderen, von den letzteren unterworfenen Volke angehören, welches mir die Golde und Oltscha«Nekam, die Giljaken bald «Nek» und «Nekagw!), bald «Nenga» nannten). Da die Mandshu-Beamten bei den Amur-Völkern, in Folge der Erpressungen, die sie sich ihnen gegenüber erlauben, allgemein verhasst und gefürchtet sind, so liegt es im Inter- esse der Chinesen selbst, wenn sie sich als Händler gefahrlos unter den Eingeborenen des Amur- Landes aufhalten wollen, bei ihnen die Kenntniss von ihrer Zugehörigkeit zu einem anderen, eben- falls unterdrückten Volke zu erhalten und zu verbreiten. Ich traf im Dorfe Pulj, nahe der Grenze zwischen dem Oltscha- und Giljaken-Gebiet am Amur, einen chinesischen Kaufmann, der sich angelegentlich bemühte, mir den Unterschied zwischen seinen Landsleuten, den friedlichen und betriebsamen «Nicha», und den herrschsüchtigen und arbeitsscheuen Mandshu auseinander- zusetzen. Wir waren dabei von Samagirn, Oltscha und Giljaken umringt. So mögen die Chinesen zum grossen Theil selbst ihren mandshurischen Namen unter den Amur -Völkern verbreitet haben. So allgemein aber bei den genannten Völkern der Name Nikan für die Chinesen ist, so werden diese in einem grossen Theile des Amur -Landes, namentlich im Sungari- und Ussuri- Gebiet wie an der angrenzenden Meeresküste, doch mit einem anderen Namen, und zwar als «Man- dse» (russisch «Mansa» oder «Mandsa», Plur. «Mandsy») bezeichnet, — einem Namen, dessen sie sich dort gegenwärtig Fremden gegenüber auch selbst bedienen®). Man begegnet diesem Namen ebenfalls schon im Berichte Chabarof’s, indem in der Aussage des obenerwähnten ge- fangen genommenen Chinesen Kabyscheika, von dem grossen, gegen tausend Jurten zählenden «Mansa-Dorfe» (Mansauckoü yıycp) die Rede ist, aus welchem das gegen Atschanskoi gorod zie- hende mandshurische Heer einen Zuschuss von 420 Mann erhielt ‘). Wie jener erstere Name, spricht von «Nekanem in dem von uns sogen. Culturstück des Amur-Stromes, ohne jedoch, wie es scheint, zu ahnen, dass es Chinesen sind. 4) Analog, der Form nach, den giljakischen Bezeich- nungen für die Negda «Rdhy» und «Rdhyngu» (s. oben, p. 32). Sollte daher das angehängte Wörtchen «gu» nicht den Collectivbegriff bezeichnen, oder so viel wie «Volk» bedeuten, wie das ainische «kur» oder «gu? 2) Als Curiosum und zum Belege, wie grundfalsch und unbedacht die Angaben flüchtiger Reisenden bis- weilen sein können, wo es sich um den Namen, den sich ein Volk selbst giebt, handelt, diene die Bemerkung, dass Gamof (N3% uyres. 3ambr. acrponoma, onpeabaası. BL 1859 r, mberu. pp. Amypa ı Yeypu. — 3a. Pycer. Teorp. O6. 1862, Ku. I, Ora. Uscaba. u Marep., erp. 122) allen Ernstes behauptet, die Golde und Giljaken bezeich- neten sich selbst mit dem Namen «Nikanzem,. Pesch- tschurof (Petermann, Geogr. Mittheil. 1857, p. 304) 3) Upmxesaapceriit, Hyremecrgie 85 Yeypiück. kpab, erp. 78; Bapadauı, Cyarap. axemeA. 1872 vr. (Boeunsrü Coopn. 1874, N 2, erp. 324). Selbst sollen sich diese chi- nesischen Colonisten der Mandshurei «Pao-tui-tse» oder «Pao-tui-rrdi», d. h. Fussgänger oder Umher- treiber, nennen, ohne jedoch dieser Bezeichnung eine schlechte Bedeutung beizulegen. Daraus soll im officiellen Stile «Pao-fu» gemacht worden sein, was dasselbe be- deutet. Vergl. Palladij (Vcyp. Maupuser. — Ha». Pycer. Teorp. O6m. T. VII, 1871, Ora. II, crp. 369); desgl. Ba- rabasch,l. c. j 4) Aono.u, KB artam® ucrop. T. III, erp. 367. Chinesen. Ursprung des Namens «Man-dse» für dieselben. 191 Nikan, mandshurischen, so soll dieser mongolischen Ursprungs sein. Nach Davis!) und Was- siljef?) haben ihn die Mongolen, zur Zeit ihrer Herrschaft über China, aus der Bezeichnung «Man» oder «Man-tse» entnommen, welche die Chinesen einem südlich von ihnen wohnenden Volke oder den «Südbarbarem» gaben. Ersterer kannte ihn jedoch nur in der Anwendung auf Südchina, Letzterer hingegen schon in seiner Ausdehnung auf die Chinesen der Mandshurei. Denn er macht jenen Hinweis auf die Man in seiner russischen Uebersetzung der vom Chinesen U-tschen zu Anfang des vorigen Jahrhunderts verfassten Beschreibung von Ninguta, in welcher auch von den Man-dse die Rede ist?). Wie aber jene chinesische Bezeichnung der Südbarbaren durch die Mongolen auf die Chinesen an ihrer äussersten Nordgrenze, im Sungari- und Us- suri-Lande, übertragen werden und sich dort einbürgern konnte, darüber sprechen sich fast gleichzeitig und sehr übereinstimmend ein anonymer Pekinger Correspondent der Russischen Geographischen Gesellschaft‘) und der Archimandrit Palladij’) aus. Ihnen zufolge gaben die Mongolen nach Eroberung von Nordehina den Südchinesen spottweise diese Bezeichnung, als Mischlingen mit den barbarischen Urbewohnern, den Man. Dieselbe wurde dann durch die Co- lonien von Südchinesen, welche Kublai-Chan, theils zur Sicherung gegen etwaige Einfälle in sein Reich, theils auch zum Betriebe von Ackerbau und von Goldwäschereien, nach der Man- dshurei und an die Grenzen von Korea schickte, in das Sungari- und Ussuri-Land getragen, wo sie in der Folge auf alle chinesischen Einwanderer überhaupt ausgedehnt wurde®). Diese Angaben der russischen Sinologen ergänzend, fügt Marthe’) hinzu, dass man in der That kaum fehl gehen wird, wenn man in den von ihnen besprochenen Man-dse die «Mangi» oder «Manz des Marco Polo°), die «Manse» des Rubruquis und das «Mangia» (Mansen-Land) Plano Carpini's 1) La Chine, ou deser. gener. des moeurs el des cou- tumes du gouy. etc. de ’Empire Chinois. Trad. de l’Angl. par Pichard, rev. et augm. d’un append. par Bazin aine. Paris 1837, T. I, p. 180. 2) 3au, o Hunryrb (3an. Pycex. T’eorp. O6m. 4, XI, 1857, cTp. 86). 3) Und zwar heisst es dort (Wassiljef, 1. c.), das rauhe Klima von Ninguta sei allmählich mit der wachsen- den Zahl der Chinesen wärmer geworden, was die Mandshu veranlasse zu sagen, die Man-dse hätten die Wärme gebracht. Undenkbar ist es in der That nicht, dass der von den Chinesen betriebene Anbau des Lan- des einen günstigen Einfluss auf die localen klimatischen Verhältnisse von Ninguta ausgeübt hat, 4) I. K., O Manpusax$ u Kopeiiuaxp (Ussber. Pycer. Veorp. Oöm. T. VI, 1870, Ora. II, crp. 19, 20). 5) Aoposm, zam. ya oyru 07% Ieruma ao Baarosbın. (3a, Pycer. Teorp. Oö. IIc o6m. Teorp. T. IV, 1871, erp. 422); ero sxe, Ycypiick. Manpuser (Ussber. Pycer. Teorp. O6m. T. VH, 1871, Ora. II, erp. 369). 6) Palladij und der erwähnte Anonymus widerlegen damit auch die Angabe Przewalski’s, dass «Man-dsa» so viel wie «Vagabund» heisse. Letzterer muss vermuthlich diese Ansicht in einem seiner vorläufigen Reiseberichte geäussert haben, denn im Reisewerke selbst (Ilyrem. #6 Yeypiück. kpat, 1870, crp. 78) sagt er ausdrücklich, er habe die Chinesen oft nach der Bedeutung jenes Na- mens ausgeforscht, jedoch nie eine befriedigende Ant- wort erhalten; gewöhnlich hiess es, dies sei der eigent- liche Name der Chinesen. Hingegen ist mir wohl eine derartige Angabe von Budischtschef bekannt, indem dieser von einem französischen Missionär, welcher lange Zeit in China zugebracht hatte und 1862 am Amur war, ge- hört haben will, dasWort«Mandsa»bedeute so viel wie «Va- gabund» (Byauıme»%, Onuc. abe. vacru Ipumoper. 06.1. — 3an. Cu6. Or. Teorp. Oöm. T. IX, X, 1867, crp. 182). Viel- leicht liegt dem eine Verwechselung mitder oben erwähnten chinesischen Bezeichnung zu Grunde, welche die Man- dse sich selbst geben und die allerdings eine ähnliche Bedeutung haben soll (s. oben, p. 190, Anm. 3). 7) Zeitschr. der Gesellschaft für Erdkunde’zu Berlin, Bd. VI, p. 452. 8) Auf diese wies auch schon Wassiljef (l. ec.) hin. 192 Die Völker des Amur-Landes. wiedererkennt. Dabei macht er jedoch auch auf den Umstand aufmerksam, dass wenn man die Stelle im Rubruquis, an welcher von den Völkern Taule und Manse die Rede ist!), mit ihm dahin deuten will, dass «Taule nur für Gaule steht, also Kaolı, Korea bedeutet, so folgt aus der- selben, dass die Man-dse auch schon vor den Colonien Kublai-Chan’s, von welchen die rus- sıschen Quellen das Aufkommen dieses Namens im Ussuri-Lande ableiten wollen, in oder nahe bei Korea zu finden waren. Mit Marthe überlassen wir natürlich die schliessliche Lösung dieser Frage den Geschichtsforschern und Sinologen. Es bleibt uns noch übrig, die bei den Amur-Völkern für das dritte der ostasiatischen Gulturvölker, mit denen sie in Berührung stehen, für die Japaner üblichen Namen zu be- sprechen. Bekanntlich giebt Steller?) an, dass die Kamtschadalen oder Itälmenen die Ja- paner «Sühsamam oder «Sühsemen» nennen, und dies, wie sie ihm ausdrücklich erzählten, aus dem Grunde, weil die Japaner ihnen die ersten eisernen Nadeln gebracht, während sie sich vor- dem nur selbst welche aus Zobelknochen gemacht hätten; die Nadel heisse aber auf itälmenisch, und zwar in allen Dialekten, sühse. Dasselbe, aber nur unbestimmter und offenbar Steller nachsprechend, erzählt auch Krascheninnikof°); nur sollen nach ihm auf itäl€menisch die Nadel «schischj» und darnach die Japaner «Schischamam heissen. Dass diese Erklärung falsch ist und nur auf einem Missverständniss beruht, wird sich aus dem Folgenden ergeben. Mit ganz ähnlichem Namen wie von den Kamtschadalen werden nämlich die Japaner auch von den Amur- Völkern, zum wenigsten denjenigen von der Insel Sachalin und dem Unterlaufe des Amur- Stromes bezeichnet. Die Giljaken auf dem Festlande wie auf der Insel nennen sie «Ssisam» ‘) und die Oltscha und Golde «Ssissa»°). Bei dem Mangel jeglicher Berührung zwischen den Amur-Völkern und den Kamtschadalen und der völligen Verschiedenheit ihrer Sprache, weist der fast gleichlautende Name, den sie für die Japaner haben, darauf hin, dass sie ihn 4) Marthe, Taule et Manse (Zeitschrift der Ge- sellschaft für Erdk. zu Berlin, Bd. VI,p.4751.). Die betref- fende Stelle des Rubruquis lautet: «Narravit mihi ma- gister W. quod ipse vidit nuncios quorundam hominum, qui dieuntur Taule et Manse, qui habitant in insulis, quorum mare congelatur in hyeme, ita quod tune possunt Tartari ceurrere ad eos». 3 2) Beschreibung von dem Lande Kamtschatka, p. 3, 249, 320. 3) Onucanie zemau Kamyarkıı (Ilo.ın. coöp. yuen. ıyre- ıecrsiit ıo Poceiu, T. II, crp. 49). 4) Wenn daher in einem von Middendorff im Archiv von Udskoi Ostrog aufgefundenen, aus dem Jahre 1744 datirenden handschriftlichen Papier von den «Ssysaizy» die Rede ist, die ein Fahrzeug an der Amur - Mündung vernichtet hätten (yrgl. dessen Reise in den äuss. Nord. etc. Bd. IV, p. 165), so sind darunter unzweifelhaft Ja- paner zu verstehen, nach ihrer giljakischen, von den Rus- sen sich mundgerecht gemachten Bezeichnung. Midden- dorff hatte übrigens selbst auch den Namen «Ssissan» unter den Giljaken am Ochotskischen Meere gehört, ihn aber auf die südlichen Kurilischen Inseln beziehen zu müssen geglaubt (vrgl. Bull. de la cl. physico-math. de V’Acad. Imp. des sc. T. IV, p. 233; desgl. Beitr. zur Kenntn. des Russ. Reiches, Bd. IX, 2, Abthl. p. 615). 5) Desselben Namens für die Japaner bedienen sich auch die chinesischen Kaufleute am Amur und Sungari. Venault hörte noch im Sungari- Lande von einem im Norden gelegenen Reiche «Si-san», das er auf seiner Reise den Amur abwärts (1850) zu erreichen hoffte. Unter- wegs erfuhr er von chinesischen Kaufleuten, dass sie selbst nie nach Si-san gingen, sondern mit demselben nur durch Vermittelung der Jupi-tatse Handel trieben. Er ver- muthet nach allen Erkundigungen, die er eingezogen, dass «Si-san» die Insel Karaftu (Sachalin) sei (s. dessen Excurs. dans les parties inter. de la Mandchourie, — Nouv. Ann. des Voyages, V-® Ser., T. XXX, 1852 [T. II), p. 207, 215, 222, 224). Japaner. Ihr Name bei den Kamtschadalen und Amur-Völkern. 193 N) . aus derselben Quelle geschöpft haben. Und diese Quelle ist leicht gefunden. Es sind die Aino: für die Amur-Völker die Aino von Sachalin, für die Kamtschadalen die Aino der Ku- rilen; wie die eine Brücke, Sachalin, von Jesso, der Hauptinsel der Aino, nach dem Amur- Lande, so führt die andere, die Inselkette der Kurilen, von Jesso nach Kamtschatka hinüber. Dass dieAino von Jesso für die Japaner eine ähnliche Bezeichnung haben, ist aus japanischen wie aus europäischen Quellen bekannt. In der vom Japaner Kannemon im XV. Jahrhundert verfassten, von Titsingh übersetzten Beschreibung von Jesso ') heisst es, dass die Eingeborenen dieser Insel die Japaner «Samo» nennen. Broughton giebt «Ssitscham» (englisch geschrieben: «Seecham») als Bezeichnung der Aino von Jesso für die Japaner an®). Nach Klaproth’s Angabe lautet sie «Siyamo»°). Dass die Aino von Sachalin die Japaner «Ssisan» und «Ssisam» nennen, haben sowohl Rimskij-Korssakof‘), Rudanofskij, Schmidt u. A., wie ich selbst wiederholentlich gehört. Für die Aino der Kurilen kenne ich zwar keine spe- cielle Angabe, doch kann es nach dem Obigen keinem Zweifel unterliegen, dass auch sie die- selbe Bezeichnung für die Japaner haben. Auch wird es sicherlich nur einer auf Missver- ständniss beruhenden Verwechselung zuzuschreiben sein, wenn Krascheninnikof?) sagt, die Kurilen bezeichneten die Russen mit dem Namen «Ssiissian», denn dies ist offenbar dasselbe «Ssisan», also wohl ihr Name für die Japaner. Eine ähnliche Verwechselung liess sich auch La Perouse zu Schulden kommen, indem er aus den Angaben der Aino von Sachalin ent- nehmen zu dürfen glaubte, dass sie die Insel Jesso «Schischa» (franz. «Chicha») nennen °). Obwohl er jedoch diesen Namen in seinem Reisewerke beständig in dem angegebenen Sinne braucht, so war er dessen doch nicht ganz gewiss, denn in seinem Verzeichniss der Aino-Wörter ”) heisst es, Schischa sei der Name einer Insel oder eines Volkes südlich von Tschoka (Sachalın). Der Herausgeber seiner Reisebeschreibung, Milet-Mureau, übersah jedoch diese letztere An- gabe, und indem er daran festhielt, dass Schischa Jesso sei, corrigirte er Krascheninnikof’s (Steller kannte er nicht) oben angeführte Erklärung des Namens Schischaman dahin, dass dies nicht «Nadel-Männer», sondern nur «Männer von Schischa» (Jesso) bedeute, und dass also darunter nicht die Japaner, sondern vielmehr die Eingeborenen von Jesso, also die Aino zu verstehen seien®). Indessen so stolz auch Milet-Mureau darauf war, dass Franzosen die «Unkenntniss» der Russen über die ihnen benachbarten Inseln aufdecken und sie eines Anderen belehren mussten, so hatten in der That die Letzteren doch weit mehr Recht. Denn unter «Schischa» verstanden die 4) Jeso-ki, ou Deser. de l’ile de Jesso etc. comp. par | p. 303. Vinterpr.Kannemon et publ. en1652; trad.par Titsingh, 3) San kokf tsou ran to sets, p. 247. Ambass. holl. au Japon (Ann. desVoyages, T. XXIV, Paris 4) B. P.-R., Cayu. ı sambrkm na BuHToR. mryuBb «Boc- 1814, p. 148). Vrgl. auch Klaproth, im San kokf tsou | ror#» (Moper. C6opu. 1858, N 5, U. neo®w., cTp. 9). ran to sets, ou Apercu gener. des trois royaumes, p. 228, 5) Onue. zem.m Ramuarkır (Hoan. coöp. yuen. nyrem. nach derselben Quelle. T. II, erp. 6). 2) Broughton, A Voyage of discoy. to {he North. 6) Voyage de La Perouse autour du monde, red. par Pacif. Ocean, London, 1804, p. 390. Offenbar dieselbe An- | Milet-Mureau, Paris, an V (1797), T. II, p. 83 et suiv. gabe wiederholt Klaproth in Langsdorff’s Bemerk. 7)L. c. p. 118. auf einer Reise um die Welt, Frankfurt a./M., 1812, Bd. I, 8) L. c. p. 112, Anmerk. b. Schrenck's Amur-Reise, Band III. 25 194 Die Völker des Amur-Landes. von La Perouse befragten Aino von Sachalin, indem sie nach Süden zeigten, nicht die Insel Jesso!), sondern, wie wir aus der Uebereinstimmung dieses Namens mit Ssissa und Ssisam unzweifelhaft schliessen dürfen, nur die von dort herüberkommenden Japaner. «Sühsaman» oder «Schischaman» der Kamtschadalen sind also nicht Aino von Jesso, sondern, wie Steller undKrascheninnikof ganz richtig angaben, Japaner; nur erhielten sie diesen Namen nicht nach dem itälmenischen Worte für die Nadel, sondern umgekehrt die Stahlnadel bezeich- neten die Kamtschadalen, weil sie von den Japanern herrührte, als «sühse» oder «schisch», d.h. japanisch. Für die ihnen schon früher bekannte knöcherne Nadel werden sie dagegen unzwei- felhaft eine besondere Bezeichnung gehabt haben °). Zum Sehlusse sei auch des Namens erwähnt, mit welchem die Amur-Völker die Russen bezeichnen. Er scheint bei allen durchweg derselbe zu sein. Von den Völkern des unteren Amur- Landes, mit denen ich selbst längere oder kürzere Zeit verkehrt habe, den Giljaken, Oltscha, Orotschen, Golde, Samagirn, habe ich die Russen stets «Lotscha» nennen hören. Denselben Namen hörte Radde bei den Biraren?). Eben so wird es sich mit den übrigen Völkern des Amur-Landes verhalten. Es ist aber dies dieselbe Bezeichnung, welche mit kleinen Modifica- tionen sowohl die Chinesen, als auch andererseits alle sibirischen Völker für die Russen haben. So werden diese in der von Gaubil in’s Französische und nach diesem in einem Auszuge von Müller in’s Deutsche übersetzten «Chinesischen Reise-Beschreibung von Peking durch Sibirien», aus dem Jahre 1712, «Olossem» genannt *). Bald «Oloszu» und bald «Lo scha» (franz. «Lo cha») heissen sie auch in der von Klaproth übersetzten chinesischen Beschreibung Russlands°). Auch der zu Ninguta geborene und aufgewachsene Chinese U-tschen, dessen oben mehrfach er- wähnt worden, bezeichnet die Russen, die zu seiner Zeit in das Amur-Land einfielen, als «Leute aus dem Reiche Lo-tschä»°). So oft ich endlich selbst mit Chinesen und Mandshu im Amur- Lande zusammengetroffen bin, immer habe ich sie die Russen «Lotscha» nennen hören. Was die sibirischen Völker betrifft, so sind ähnliche Bezeichnungen für die Russen («Lotscha, Lota, 1) Begreiflicher Weise erkundigte sich daher auch Krusenstern (Reise um die Welt, Bd. II, p. 51, 52) sowohl in der Rumjanzof-Bai auf Jesso, wie in der Aniwa- Bai auf Sachalin vergeblich nach den Namen Schischa (der bei ihm in buchstäblicher Wiedergabe der französi- schen Schreibart und zugleich in Folge eines Versehens oder Druckfehlers «Chica» lautet) und Tschoka, mit wel- chen La Perouse diese Inseln bedacht hatte. 2) Dass die Stahl- und die knöcherne Nadel, trotzdem sie den Kamtschadalen zu verschiedener Zeit bekannt wurden und gewiss auch von verschiedener Form waren, dennoch von ihnen mit demselben Worte bezeichnet wer- den sollten, ist schon aus dem Grunde undenkbar, weil es einen so hohen Grad von Generalisationsvermögen vor- aussetzen würde, wie man ihn bei keinem auf so niedriger Stufe der Cultur stehenden Volke findet. 3) Radde, Bericht über Reisen im Süden von Ostsibir. (Beitr. zur Kenntn. des Russ. Reiches, herausg. von Baer und Helmersen, Bd. XXIII, p. 591, Anm.). 4) Müller, Samml. Russ. Gesch. Bd. I, p. 331, 341. 5) Mem. relat. a l’Asie, T. I, p. 85, 93—95. Ander- weitige, gleichlautende Angaben s. bei Klaproth,l. ce. p. 29; Plath, Die Völker der Mandsh. p. 608, u. A. 6) Man erkennt in U-tschen den echten Chinesen wieder, wenn er sagt, zur Zeit als er ein Kind war, rebel- lirten die Leute aus dem Reiche Lo-tschä, kamen an den U-lun-kiang (Amur) und raubten von den Einwohnern im Lande Cheidsin Zobelfelle. Dabei heisst es, ihre Waflen seien sehr schrecklich (Bacuapes%, 3an. o Hınryrb.— 3an. Pycex. Teorp. Oöm. U. XII, 1857, erp. 82, 83). Russen. Ihr Name bei den Völkern Sibirien’s und des Amur-Landes. — Schluss. 195 Ljuotscha, Lutscha, Lutsa, Lutschae, Lutze, Lutschi» und drgl.) bei ihnen ganz all- gemein: so bei den Tungusen, am Ochotskischen Meere'), in Daurien?), am Jenissei bis nach Turuchansk hinab Sr bei den Jakuten®), bei den Samojeden, sowohl im Taimyr-Lande°), wie im Norden des europäischen Russland’s®) u. s. w. Wie man sich denken kann, hat es nicht an verschiedenen und darunter den abenteuerlichsten Erklärungen dieser Bezeichnungen für die Russen gefehlt”). Und doch lag es auf der Hand, in ihnen nur Verstümmelungen des rus- sischen «Rossija» und «Russkij» zu erkennen, wie dies in der That schon von Müller?) hin- sichtlich der chinesischen und später von meinem Bruder Alexander bei Besprechung der samojedischen Bezeichnung für die Russen hervorgehoben worden ist’). Der Umstand, dass die- selbe Bezeichnung, wie oben dargethan, so allgemein durch ganz Sibirien bis nach China ver- breitet und noch bei den entferntesten Amur-Völkern zu finden ist, stellt die Richtigkeit dieser Ansicht ausser allen Zweifel. Wirft man einen Gesammtblick auf alles oben Abgehandelte zurück, so lässt sich nicht läugnen, dass unsere Kenntniss von dem Ursprunge, den Wanderungen und Verschiebungen der Amur-Völker, so weit sie auf historischen Nachrichten beruht, auf Spuren, die sich in ihren 1) Klaproth, Mem. relat. ä l’Asie, T. I, p. 453. 2) Pallas, Reise durch versch. Provinzen des Russ. Reichs, Bd. III, p. 238. 3) Pallas, 1. c. p. 67, Anm.*; Kocrpo»%, Ouepkb Typyx. xpas (3an, Cnö. Ora. Pycex. Feorp. O6. Ku. IV, 1857, erp. 99). 4) Strahlenberg, Das Nord- und Östliche Theil von Europa und Asia, Stockholm 1730, p. 63. 5) Middendorff, Reise in den äuss. Nord. und Ost, Sibir. Bd. IV, p. 1442. 6) Schlözer, Allgemeine Nord. Gesch. Halle 1771, p- 293; Alex. Schrenck, Reise nach dem Nordosten des europ. Russl. Dorpat 1848, Bd. I, p. 615. 7) So z. B. meinte Strahlenberg, die Russen hiessen bei den Jakuten deshalb «Lutschae»oder«L udzae»,weil sie ihnen sagten «my lutschae kak wy» (wir sind besser als ihr). Schlözer (l.c. Anm.D.)sagt,«lutze» bedeute bei den Samojeden «Mensch» (was nach meinemBruder Alexander nicht der Fall ist)undbeidenJenissei-Ostjaken«Teufeb, und stellt die Frage, ob sich etwa der wilde Samojede beim Russen einen Menschen x&7’ 280y:nv und der er- schrockene Ostjake bei eben diesem Volke, das ihn unterjochte, den Teufel gedacht habe? Pallas (l. e. Bd. II, p- 67, Anm.*) meinte hingegen, dass der Name «Luze», den die Samojeden den Russen beilegen und aus welchem die Tungusen«Lutscha» gemacht hätten, in samojedi- scher Derivation eigentlich einen Krieger bedeute, indem «luze niusime» im Samojedischen «zornig» heisse. In Scherer’s «Nordischen Nebenstunden» (Thl. I, Frankfurt und Leipzig 1776, p. 57—68) findet sich ein besonderer Artikel: «Warum nennen die Jakuten die Russen Lutze oder Lucze?», in welchem Strahlenberg’s obener- wähnte Erklärung widerlegt und der Beweis geführt wird, dass die Samojeden das Wort dutze» für «Teufel» von den Jenissei-Ostjaken entlehnt und zu den Jakuten an der Lena gebracht hätten. Indessen findet der Autor in diesem Worte eine grosse Aehnlichkeit mit dem rus- sischen «laeschij» (abi) für «Waldteufeb, und meint da- her, die genannten Völker könnten ihr Wort dutze» dar- aus gebildet haben, was jedoch die Erklärung ihrer Be- zeichnung der Russen mit demselben hinfällig machen würde. Er sucht daher einen anderen Ursprung für die letztere, und zwar im Hebräischen.... u. S. w., U. S. W. 8) Müller, Sammlung Russisch. Gesch. Bd. I, p. 331, Anmerk.* 9) Bei den Chinesen namentlich, die das 7 gar nicht kennen, waren -jene Verstümmelungen unvermeidlich. Die Mandshu und die Amur -Völker, besonders dieje- nigen tungusischen Stammes, Golde, Oltscha, haben zwar das r, ersetzen es aber auch häufig durch I. Aehn- lich mag es sich auch mit den Tungusen und anderen Völkern Sibirien’s verhalten. a5E 196 Die Völker des Amur-Landes. Benennungen erhalten haben u. drgl. m., äusserst gering ist. Nur im Westen und Süden unseres Gebietes, wo die Amur-Völker in anhaltender oder weiter zurückreichender Berührung mit den Russen oder mit den alten Culturvölkern Ostasien’s, den Chinesen und Japanern ge- standen, konnten die Schlüsse etwas bestimmter gefasst werden. Aber auch dort bleiben sie in der Regel auf eine verhältnissmässig neuere Zeit beschränkt. Wir werden ihnen in der Folge einige. weiter zurückgehende, jedoch nur hypothetischen Charakter tragende Ergänzungen hin- zufügen, wie sie sich aus der Betrachtung der respecetiven Stammverschiedenheit oder Zu- sammengehörigkeit der Amur-Völker ergeben. U. ANTHROPOLOGISCH-ETHNOLOGISCHER THEIL. 3. Abschnitt. Abstammung und weitere Gliederung der Amur-Völker, nach Sprache und physischer Beschaffenheit, insbesondere Schädelbau und Gesichtsbildung. Gruppe der nordostasiatischen Randvölker oder Palä- asiaten. Gruppirung der tungusischen Amur-Völker. Ist schon gleich im Eingange dieser Schrift hervorgehoben worden, dass die Amur-Völker zum Theil von sehr verschiedenem Stamme — Giljaken, Aino, Tungusen— zum Theil auch Zweige einer und derselben grösseren Völkerfamilie, der tungusischen, sind, so bin ich doch die Beweisgründe dafür bisher noch schuldig geblieben. Es mag daher jetzt, nachdem wir sie räum- lich gegeneinander abgegrenzt haben, auch eine genauere Abgrenzung derselben nach ihrer Ab- stammung folgen. Bekanntlich sind bei Fragen solcher Art hauptsächlich zwei Momente, die physische Beschaffenheit und die Sprache maassgebend. Alles Uebrige, wie eine etwaige Ueberein- stimmung in manchen eigenthümlichen Sitten und Gebräuchen, in Sagen und Traditionen, in reli- giösen Anschauungen und Vorstellungen, im Nationalcharakter u. drgl. m., ist dabei nur von untergeordneterer Bedeutung. Sie kann zwar unter Umständen zur Bekräftigung der aus jenen ersteren Momenten gefolgerten Stammverwandtschaft dienen, allein ebensowohl und in der Regel wird sie sich, zumal bei benachbarten Völkern, auch auf den Einfluss gleicher Naturverhält- nisse oder historischer Ereignisse, auf langjährigen nahen gegenseitigen Verkehr der Völker, ja zum Theil auch auf die in ihren Grundzügen überall gleiche Natur des menschlichen Geistes, seines Denkvermögens, seiner psychischen Regungen u. s. w. zurückführen lassen. Die nach- stehenden Blätter werden, hoffe ich, manchen neuen Beleg dafür bringen. So sehr daher diesen Verhältnissen im weiteren Verlaufe unserer Betrachtungen Rechnung getragen werden wird, so sollen hier doch zunächst, behufs Abschätzung der Stammverschiedenheit oder Verwandtschaft der Amur-Völker, nur jene beiden ersteren Momente zur Sprache kommen. 198 Die Völker des Amur-Landes. Es scheint mir vor Allem, dass in ethnologischen Fragen, wie die obige, die Körper- beschaffenheit und die Sprache eine lange nicht gleich wichtige Rolle spielen. Darf vielmehr letztere schon im Allgemeinen eine gewichtigere Stimme beanspruchen, so tritt in unserem Falle, um dies Uebergewicht zu verstärken, noch der Umstand hinzu, dass auch das nach den beiden Seiten uns vorliegende Material von sehr ungleichem Umfange ist. Wenn es sich um die Kör- perbeschaffenheit verschiedener Völker handelt, so ist man bestrebt, die Differenzen vor Allem im Schädelbau und in der Gesiehtsbildung, alsdann auch in den Verhältnissen der übrigen Körpertheile, in der Farbe der Haut, in der Beschaffenheit des Haares u. s. w. zu suchen. Nur in Beziehung auf die ersteren ist man aber bisher durch genaue und zahlreiche Vergleichungen und Messungen zu der Präcision der Begriffe und der Weite des Umblickes gelangt, um an eine Unterscheidung der Völker, an eine systematische Gliederung des Menschengeschleehts auf Grund- lage bestimmter, eraniologischer Merkmale überhaupt denken zu können. Lässt sich je- doch schon a priori erwarten, dass auf Grundlage der Bildung eines einzelnen, wenn auch noch so wesentlichen und wichtigen Körpertheiles oder Organes auch nur ein künstliches System er- richtet werden könne, gleichwie man welche in der Botanik und Zoologie kennt, ein System era- niologisch verschiedener Typen des Menschengeschlechts, nicht ein System natürlicher Gesammt- organismen, wie die Völker, — kurz, ein eraniologisch-anatomisches, nicht ein ethnologisches Sy- stem, so hat die wachsende Erfahrung dies vollständig bestätigt. Sie hat zu der Erkenntniss ge- führt, dass die Ansicht oder richtiger Voraussetzung, jeder Volksstamm besitze eine bestimmte nationale Schädelform'), eine falsche sei, dass vielmehr ganz ähnliche Schädelformen sich bei den verschiedensten, einander ganz fern stehenden Völkern wiederholen und umgekehrt bei einem und demselben Volke die verschiedensten Verhältnisse im Schädelbau vorkommen können. Wie Ihering?) trefllich dargethan hat, kann daher die Aufgabe eraniologischer Untersuchungen, sofern sie. ethnologischen Zwecken dienen wollen, in Zukunft nur die sein, durch eine grosse Zahl von Vergleichungen und Messungen einerseits die bei einem Volke vor- herrschende, mittlere, typische Schädelform zu bestimmen und andererseits die äussersten Grenzen zu ermitteln, innerhalb welcher seine Schädelformen und alle einzelnen Maasse derselben schwanken). Je reicher und wechselvoller dabei die Vergangenheit eines Volkes gewesen, je 4) R. Wagner, Zoolog.-antropolog. Untersuchungen, | Ethnologie, herausgeg. von A. Bastian und R. Hart- Göttingen, 1861, I, p. 10. Schon Retzius setzte in einem Briefe an G. Nicolucci vom Jahre 1852, bei Aufzählung der Resultate seiner Arbeiten, an die Spitze den Satz: «des differentes races et peuples ont leurs propres formes eräniennes» (Ethnolog. Schriften von And. Retzius, nach dem Tode des Verf. gesammelt. Stockholm 1864, p. 120). Aehnlich äusserten sich später Bonte (Bull. de la Soc. d’Anthropolog. de Paris, T. VI, 1865, p. 44: «aulre cräne, aulre race»), Sanson (ebenda, p. 515: «le type eränien — le caractere essentiel des races») u. A. Vrgl. H. v. Ihe- ring, Zur Reform der Craniomelrie (Zeitschrift für mann, Berlin, Bd. V, 1873, p. 166), wo die obigen Aeusse- rungen behufs Widerlegung zusammengestellt sind. 2) L. c. p. 16% fl. 3) Dass übrigens dieser Gesichtspunkt zum Theil auch schon früher eingehalten worden ist, beweist z. B. die ein- gehende Abhandlung Welcker’s über die Brachycephalie und Dolichocephalie der deutschen Stämme, in seinen «Kraniologischen Mittheilungen» (im Archiv für Anthropo- logie, Braunschweig, Bd. I, 1866, p. 127 f., nebst dazu- gehöriger Taf. I). bedeutung der Körperbeschaffenheit für das Völkersystem. 199 weiter es sich vom Naturzustande entfernt und in allen seinen Schichten in mannigfaltige Cul- turformen eingelebt hat, je zahlreicher, vielseitiger und verschiedenartiger die Mischungen ge- wesen, die es im Laufe der Zeit erfahren hat, um so ansehnlicher werden voraussichtlich auch jene Schwankungen in seiner Schädelform sein und einer um so grösseren Zahl von Verglei- chungen und Messungen wird es bedürfen, um seine mittlere, typische Schädelform kennen zu lernen. Dass aber auch innerhalb eines der Gultur fernstehenden, sogenannten wilden oder Na- turvolkes die Schwankungen und Differenzen in der Schädelform immerhin sehr weit gehen können, ist vielfach bekannt und wird auch im Nachstehenden manche Bestätigung finden. Freilich bleibt uns von solchen Völkern in der Regel unbekannt, welche Wechselfälle, Veränderungen der Verbreitungsgebiete, Beimischungen fremder Elemente u. s. w., sie im Laufe der Zeit er- fahren haben. Was will es nun dieser im Dienste der Ethnologie an die Schädeluntersuchungen zu stellenden weiten Aufgabe gegenüber sagen, wenn uns von den Amur-Völkern je ein, zwei bis höch- stens vier Schädel vorliegen? Wissen wir doch nicht, ob sie mehr oder weniger die Mittelform, oder extreme Formen repräsentiren? ob die Inhaber derselben reinen Stammes waren, oder aus Misch- ehen mit den Nachbarvölkern entsprungen waren? Es sind dies daher nur ganz einzelne, zum Theil die ersten Bausteine, welche erst verhundertfacht ein Fundament für ethnologische Schlüsse im obigen Sinne abgeben können. So hat die erweiterte eraniologische Erfahrung das Bedürfniss nach einem noch weiteren Materiale hervorgerufen, ohne uns jedoch dabei in Aussicht zu stellen, an der Schädelform jemals ein Unterscheidungsmittel verschiedener Völker zu gewinnen. Was sie verspricht, ist nur, durch Ermittelung der bei einem Volke vorherrschenden, mittleren Schä- delform und der durch die extremsten Bildungen gebotenen Schwankungsgrenzen diejenigen eraniologischen Charakterzüge kennen zu lehren, welche im Verein mit anderen der Körper- beschaffenheit entlehnten Zügen den mehr oder weniger ausgesprochenen physischen Typus oder Habitus des ganzen Volkes und seiner einzelnen Gruppen und Glieder bestimmen. Neben und mit der Schädelform kommt also. zur physischen Charakterzeichnung eines Volkes noch eine Reihe anderer Körpertheile und Verhältnisse in Betracht, welche jedoch an sich sammt und sonders ebenso wenig, ja noch weniger wie der Schädel durchgehende, absolute Unterscheidungsmittel verschiedener Völker darbieten. So die Form der Weichtheile des Ge- sichts, der Augen, Nase, Lippen, die Grössenverhältnisse der einzelnen Körpertheile, namentlich der Gliedmassen, die Hautfarbe, die Beschaffenheit des Haares u. s. w. So scharf und prae- gnant der Unterschied in einem oder dem anderen dieser Charaktere zwischen manchen Völkern hervortritt, so fehlt es doch nicht an äusserst zahlreichen, vielfältigen, unmerklichen Zwischen- formen und Uebergängen sowohl unter den Völkern, wie zuweilen auch unter Individuen eines und desselben Stammes, so dass eine natürliche Gliederung oder Classifieirung der Völker auf Grundlage dieser Charaktere als unausführbar sich erwiesen hat. Was die Grössenverhältnisse der einzelnen Körpertheile betrifft, so fehlt es auch noch an hinlänglich zahlreichen Verglei- chungen und Messungen, welche übrigens dieselben Aufgaben wie die eraniologischen Unter- suchungen zu verfolgen haben und in keinem Falle weiter reichende Resultate versprechen können. Wie schwankend, unsicher und unbestimmt die Angaben über die Haarbeschaffenheit und Haut- 200 Die Völker des Amur-Landes. farbe — eben wegen der zahlreichen unmerklichen Zwischenformen und Uebergänge — oft zu sein pflegen, ist zur Genüge bekannt. Fehlt es doch bisher noch an einer zur Richtschnur die- nenden Farbenskala, obwohl das Bedürfniss nach einer solehen wiederholentlich ausgesprochen worden ist, und lassen sich doch daher die jedes einheitlichen Prineipes entbehrenden Angaben verschiedener Autoren auch nicht wohl mit einander vergleichen. Zudem ist jedenfalls die Hautfarbe mehr als andere physische Charaktere dem Einflusse der Atmosphärilien ausgesetzt, oder wird auch in Folge ganz äusserlicher Ursachen, z. B. durch beständigen Aufenthalt in rauchigen Wohnungen, grosse Unreinlichkeit und drgl. m., in ihrer wahren Beschaffenheit unkenntlich. Denkt man sich übrigens alle oben erwähnten, sowie noch etwaige andere physische Chara- ktere bei den verschiedenen Völkern genau ermittelt und in ihrer Gesammtheit berücksichtigt, so würde dies, aus den oben entwickelten Gründen, zwar zu einer sehr vollständigen physischen Charakterzeichnung der Völker führen, keineswegs aber ein Mittel zur Unterscheidung der ihnen zugehörigen Individuen an die Hand geben. Desgleichen würde sich auf der Gesammtheit der physischen Charaktere zwar eine anatomische oder, wenn man unter Anthropologie nur die Lehre vom physischen Menschen verstehen will, anthropologische, keineswegs aber eine ethno- logische Gliederung des Menschengeschlechts, ein Völkersystem errichten lassen. Ich meine — kein solches, in welchem die Individuen und Gruppen eines Volkes, die Völker einer und der- selben Familie nicht vielfach und mehr oder weniger weit auseinandergerissen wären, also kein natürliches Völkersystem. Immer wird ein selbst auf der Gesammtheit der physischen Chara- ktere begründetes System der Gliederungen des Menschengeschlechts in ethnologischer Beziehung nur ein künstliches bleiben, weil es nur die eine Seite des Menschen, die physische, nicht aber die andere, die psychische und geistige in Betracht zieht, deren vollster Ausdruck die Sprache ist. Wie die durch das Denkvermögen des Menschen bedingte, dieses zur Erscheinung brin- gende Sprache überhaupt zum Wesen des Menschen gehört, eine durchgehende, unüberbrück- bare Kluft zwischen ihm und der Thierwelt bildend, so giebt eine besondere Sprache den Grund- zug und das Wesen derjenigen Menschenbesonderheit ab, die wir Volk nennen. Auf der Be- sonderheit der Sprache beruht der Begriff von Volk. Nicht physische Differenzen — ob sie gleich bestehen mögen — sondern die Verschiedenheit der Sprache hat zunächst zur Unterschei- dung von Völkern geführt und thut es noch. Das Bewusstsein einer gemeinsamen, von anderen verschiedenen Sprache nöthigt die einzelnen Individuen sich, soweit eben diese Gemeinsamkeit und Besonderheit reicht, als ein Ganzes, ein Volk zu betrachten und sich, als Gliedern desselben, auch eine gemeinsame Bezeichnung zu geben, sei es auch dass diese Bezeichnung, wie so oft bei Naturvölkern, nur so viel wie «Mensch» bedeutet. In demselben Umfange, wie ein Volk sich selbst als eine Gesammtheit auflasst, also im Bereiche der gemeinsamen Sprache, wird es auch von uns als solches betrachtet und womöglich auch mit dem Namen, den es sich selbst giebt, bezeichnet. Noch hat kein Reisender, auch kein Naturforscher, wenn er zuerst ein unbekanntes Land betrat, die Bewohner desselben nach physischen Charakteren in Völker zu gliedern und durch besondere Namen zu unterscheiden gesucht, — immer sind vielmehr jene durch Besonderheit der Sprache bedingten Gesammtheiten erforscht und unter den Namen, die sie sich selbst oder Bedeutung der Sprache für das Völkersystem. 201 die ihnen ihre Nachbaren geben, als besondere Völker aufgeführt worden; wo aber grössere physische Differenzen unter den Individuen desselben Sprachenbereiches sich fanden, da hat man mehrere Typen innerhalb eines und desselben Volkes zu unterscheiden und sie, sei es durch Beimischung fremder Elemente, sei es durch den Einfluss anderer, physischer oder soeialer Verhältnisse zu erklären gesucht. So lernen wir Völker kennen und unterscheiden, ohne noch an ihnen unterscheidende physische Charaktere gefunden zu haben und lange bevor wir ihren physischen Typus auch nur entfernt zu definiren im Stande wären. Noch lässt sich z. B. nicht genau bestimmen, worin der physische Typus der Tungusen besteht, und doch kennen wir dies Volk schon seit Jahrhunderten und erkennen es in seinen vielfachen Abzweigungen, ob wir ihm am Jenissei oder in Kamtschatka, am Eismeer oder an der Schilka begegnen. Steht es aber einmal fest, dass Völker durch Besonderheit der Sprache bestimmte Gesammtheiten sind, so scheint es mir ganz und gar undenkbar, ohne Berücksichtigung der Sprache, auf alleiniger Grundlage physischer Charaktere zu einer natürlichen Gliederung der Völker, einem Völker- system zu gelangen. Man kann wohl auf dieser Grundlage allerhand künstliche, weitere und engere Abtheilungen und Gruppen, Lang- und Breitköpfe, Weisse und Schwarze, Schlichthaarige und Wollköpfe u. drgl. m., im Menschengeschlecht unterscheiden, nur keine Völker. Niemals werden die so unterschiedenen Gesammtheiten mit denen sich .decken, die wir Völker nennen, und das aus dem Grunde, weil dies von ganz verschiedenen Gesichtspunkten gebildete Begriffe, gewissermassen incommensurable Grössen sind. Will man auf rein anthropologisch-anatomi- schem Boden bleiben, so werfe man daher consequenter Weise auch die jetzigen Unterscheidungen von Völkern, mit ihren gangbaren Bezeichnungen u. s. w., weil auf sprachlicher Grundlage be- ruhend, bei Seite. Behält man sie aber bei, so ist für sie ein natürliches System nur aufsprach- licher Basis, unter Mitberücksichtigung ihrer physischen Beschaffenheit und natürlich, so weit möglich, auch historischer Thatsachen denkbar. Wenn ich für die Unterscheidung und systematische Anordnung der Völker ein solches Gewicht auf die Sprache legen möchte, so bin ich mir mancher dagegen gemachter Einwendungen bewusst, welche aufeines der hier in Rede stehenden Völker zum Theil sogar direkt bezogen worden sind und die ichdaher um so weniger mitStillschweigen übergehen darf. Man hat gemeint, dieSprache sei darum zu ethnologischen Eintheilungen untauglich, weil sie der Ausdruck des Entwickelungs- ganges eines Volkes, gleichsam ein genetischer Vorgang sei, der einem unbekannten, für uns in- commensurablen Ende entgegenstrebe, oder, mit anderen Worten, weil sie ihrer Veränderlichkeit wegen einen zu unsicheren Maassstab abgebe'). Allein’die Veränderungen, die eine Sprache in ihrem Entwickelungsgange erfährt, heben nicht ihre Besonderheit auf, und bilden sich im Laufe der Zeit Differenzen aus, zweigen sich Dialekte ab, so kennzeichnen diese am besten die Zu- sammengehörigkeit der betreffenden Völker. Hat aber erst ein Volk eine Schrift, so dient diese 4) Bastian, Das natürl. System in der Ethnologie | thropol., Ethnol. und Urgesch., in der Zeitschr. für Ethnol. (Zeitschr. für Ethnologie, Berlin, Bd. I, 1869, p. 1); der- | Bd. IV, 1872, p. (99). selbe in den Verhandl. der Berliner Gesellsch. für An- Schrenck's Amur-Reise, Band III. 26 202 Die Völker des Amur-Landes. dazu, historische Denkmale seiner Sprache aus allen Zeiten zu erhalten und damit die Gontinui- tät ihres Entwickelungsganges zu fixiren. Unterliegt nicht andererseits ähnlich der Sprache auch die physische Beschaffenheit eines Volkes vielfachen und weitgehenden Veränderungen, — durch Wechsel des Wohnorts, der Lebensweise, der Nahrungsmittel, durch Cultur und geistige Ent- wickelung und besonders durch vielfache Vermischung mit anderen Völkern? Dabei ist noch der Uebelstand, dass eine Besonderheit des Typus, wenn sie vorhanden gewesen, aus der Mannigfaltigkeit der Formen und Uebergänge nicht mehr herauszulesen und für die Zusammen- gehörigkeit der von einem Stamme auseimandergegangenen Zweige kein Kriterium mehr zu finden ist. Liesse sich z. B. die physische Besonderheit der alten Germanen jetzt noch irgendwie bestimmen? Wissen wir über dieselbe nicht viel weniger als über die altgermanische Sprache? Und an welchen physischen Kennzeichen wäre die nahe Stammverwandtschaft aller jetzigen germanischen Völker zu erkennen, wenn nicht die Sprache dafür Zeugniss ablegte? Selbstver- ständlich kann dabei, wenn von sprachlicher Basis ethnologischer Unterscheidungen und Glie- derungen die Rede ist, nur eine gründliche und umsichtige, nicht jene oberflächliche und un- kritische Sprachvergleichung gemeint sein, die aus ein paar gleich oder ähnlich lautenden Vokabeln oder gar aus unerkannten Lehnwörtern voreilige Schlüsse über Verwandtschaft der Völker zieht, wie Solches auch schon geschehen und gerügt worden ist'). Am häufigsten und stärksten wird gegen die Zulässigkeit der Sprache zur Unterscheidung und systematischen Anordnung der Völker der Umstand betont, dass manche Völker ihre Sprache im Laufe der Zeit ganz eingebüsst und statt derselben eine fremde, ursprünglich ihnen viel- leicht sehr fernstehende sich angeeignet haben. Unläugbare Thatsachen der Art sind allgemein bekannt, aber ich glaube, dass man ihnen eine zu grosse Tragweite beimisst und aus immerhin nur einzelnen, unter besonderen Umständen stattgehabten Fällen auf eine Häufigkeit und Leich- tigkeit solcher Vorgänge schliesst, wie sie der Wirklichkeit nicht entsprechen. Mit Steinthal?) bin ich der Ansicht, dass ein Sprachenwechsel nur dann möglich ist, wenn ein eulturloses oder nur wenig eultivirtes Volk mit einem ihm an Cultur und Civilisation wie an politischer Macht weit überlegenen in dauernden Conflikt geräth, wenn es von ihm unterjocht, beherrscht, in allen seinen bisherigen Lebensäusserungen beschränkt und bedrückt wird. Ist es selbst eulturfähig und stehen die beiden Völker hinsichtlich ihrer physischen Beschaffenheit nicht weit auseinander, so geht der Assimilisationsprozess verhältnissmässig rasch und leicht vor sich: das unterworfene Volk wird in seiner Gesammtmasse je mehr und mehr vom fremden Elemente durchdrungen, es entsteht ein Mischvolk, das sich Schritt für Schritt auch die Sitten, Anschauungen und die Sprache seiner Beherrscher aneignet, indem es dadurch selbst zum herrschenden wird. Durch Verschmelzung kommt es zur Ausgleichung. So mögen z. B. slavische Stämme an der Ostsee, Elbe und anderen Orten germanisirt, Celten, Iberer romanisirt worden sein u. s. w. 1) Letzteres z. B. von R. Hartmann, Untersuchungen 2) Verhandl. der Berliner Gesellschaft für Anthropol., über die Völkersch. Nord-Ost-Afrikas (Zeitschrift für Eth- | Ethnol. und Urgeschichte, in der Zeitschr. für Ethnologie, nol., Berlin, Bd. I, 1869, p. 30). Bd. IV, 1872, p. (98). Bedeutung der Sprache für das Völkersystem. 203 Anders gestaltet es sich dort, wo die zusammenstossenden Völker von sehr ungleicher physischer Beschaffenheit sind und das unterdrückte, culturlose zur Cultur auch wenig befähigt ist. Wenn es da nicht in ungleichem, blutigem Kampfe bald ausgerottet wird oder, wie es die Indianer in Nordamerika thun, vor den Unterdrückern, wenn auch nur zeitweise, zurückweichen kann, so beginnt jener chronische Prozess physischen und moralischen Hinsiechens und Verkommens, von dem eingangs die Rede war!). Unfähig sich rasch zu höherer Cultur zu erheben und mit seinen Unterdrückern zu verschmelzen, vermag es auch nicht, sich in kurzer Zeit deren Sprache anzueignen, sondern macht, mehr und mehr verkommend und hinschwindend, auch in seiner Sprache denselben Prozess der Zersetzung und des allmählichen Aussterbens durch. Wie wenig ist z. B. von den früheren Kamtschadalen oder Itäl€menen nach? Dies Wenige wie ist es arm, elend, durch fremde Beimischung vollkommen unkenntlich geworden? Und doch ist die itäl- menische Sprache noch immer nicht ganz verklungen. Noch konnte C. v.Ditmar während seines Aufenthaltes und seiner Reise in Kamtschatka in den fünfziger Jahren ein Vokabularium des Kamtschadalischen zusammenstellen. Wie sind die Jukagiren bis auf wenige, physisch nicht mehr als besonderes Volk kenntliche Individuen hingeschwunden? Und doch war es einem der Jüngsten Reisenden im Nordosten Sibirien’s (Maydell, 1870) noch möglich, Sprachproben unter ihnen zu sammeln, die der Akademiker Schiefner wissenschaftlicher Betrachtung unterzogen hat). Hier sehen wir also in Folge des Confliktes mit einem Culturvolke langsam hinsterbende Völker, und wie am Individuum das Herz, so ist an ihnen das ultimum moriens die Sprache: ist diese verklungen, so ist auch der letzte Rest einer Eigenart dahin. Von einem Sprachenwechsel kann daher bei solchen Völkern eigentlich nicht die Rede sein: sie räumen vielmehr ihren Platz einem anderen Volke ein und vererben ihm nur manche ihm ursprünglich und an anderen Orten seines Verbreitungsgebietes fremde physische und moralische Charakterzüge, manche aus ihrer Sprache entlehnte Fremdwörter u. s. w. Ich will damit keineswegs behaupten, dass nicht in anderen Fällen auch bei scheinbar grosser physischer Ungleichheit das niedriger stehende, eulturlose Volk die Sprache des mit ihm in Contakt getretenen Culturvolkes, wenn auch vielleicht mit manchen Entstellungen, angenommen habe. So mag es sich z. B. mit manchen gegenwärtig arabisch redenden Stämmen Nord- und Centralafrika’s verhalten®). Ich kenne sie nicht speciell und vermag daher auch nicht über dieselben zu urtheilen, da jeder einzelne Fall der Art be- sonders erwogen sein will. Jedenfalls aber ist die Gefahr, die durch solche Vorkommnisse der ethnologischen Gliederung auf sprachlicher Grundlage erwächst, keine sehr grosse. Denn hier wird eben, wenn keine Reste der früheren Sprache mehr vorhanden sind, die Mitberücksichti- gung der physischen Beschaffenheit der betreffenden Völker so wie historischer Thatsachen so- gleich auf die richtige Fährte führen. Und an den letzteren zumal wird es in solchen Fällen in 4) S. oben, p. 2. 3) Hartmann, Untersuchungen über die Völkerschaf- 2) Schiefner, Ueber Bar. G. v. Maydell’s jukagi- | ten Nord-Ost-Afrikas (Zeitschrift für Ethnologie, Bd. I, rische Sprachproben (Bull. de l’Acad. Imp. des sc. T. XVII, | 1869, p. 30). p- 86). Vrgl. auch oben, p. 3. 26* 20% h Die Völker des Amur -Landes. der Regel nicht fehlen; denn, wie gesagt, kann Sprachenwechsel nur beim Zusammenstoss eines eulturlosen Volkes mit einem der Cultur ergebenen eintreten, — wo aber Cultur ist, ist Geschichte. Kein Sprachenwechsel findet hingegen dort statt, wo nur culturlose oder auf nahe gleicher Gulturstufe stehende Völker in gegenseiligem, und sei es Jahrhunderte altem, nahem und viel- fachem Verkehr mit einander leben. Die Erfahrung lehrt vielmehr, dass in solchen Fällen, trotz weitgehender, die physischen Typen ausgleichender Vermischung, trotz mancher Ausgleichung in Lebensweise, Sitten und Anschauungen, ein jedes Volk an seiner Sprache mit unerschütter- licher Zähigkeit festhält. Von Culturvölkern dürfte es nicht leicht bezweifelt werden, aber auch hinsichtlich der eulturlosen wird Jedermann, der Gelegenheit hatte, sie unter solchen Verhält- nissen näher kennen zu lernen und zu beobachten, der Richtigkeit dieser Behauptung beistimmen. Es wäre mir unmöglich, die Giljaken, trotzdem ich vielleicht die meisten derselben gesehen - und persönlich gekannt habe, nach dem physischen Habitus allein auch nur mit einiger Sicherheit von den Oltscha zu unterscheiden: so sehr haben sich, unzweifelhaft in Folge von häufigen Mischehen unter diesen Völkern, die Typen derselben ausgeglichen und so wenig fehlt es beiderseits an Mittelformen und Uebergängen, die eben so gut dem einen wie dem anderen Volke angehören könnten. Ich habe auch manche Individuen aus dem noch heute durch auflälligere Eigenart seines physischen Typus ausgezeichneten Volke der Aino gesehen, die ich von den Giljaken nicht habe unterscheiden können. Nach der Sprache sind aber diese Völker immer grundverschieden geblieben: sie drückt die trotz aller Vermischung noch heute beste- hende Eigenart ihres Wesens aus und grenzt sie heutzutage noch an denselben Orten ab, wie in den Zeiten, aus welchen unsere ältesten, allerdings nieht sehr weit zurückgehenden Nach- richten über dieselben herrühren. Ja, ich habe selbst kleinere Complexe von Individuen des einen Volkes, die in den Gebietsgrenzen des anderen wohnen, Oltscha unter Giljaken und umgekehrt, an ihrer eigenen Sprache zäh festhalten sehen'). So ist gerade die Spräche dasjenige am Volke, was den festeren und bleibenderen Bestand hat, während die physische Beschaflen- heit als das Veränderlichere an ihm bezeichnet werden muss. Es scheint mir daher recht wohl möglich zu sein, dass ein Volk sich in seiner physischen Erscheinung im Laufe der Zeit durch langjährige Vermischung mit einem Nachbarstamme so weit verändert, dass es mehr oder weniger in seiner Gesammtheit manche besonders prägnante, und vielleicht auch besonders erbliche, Charakterzüge des letzteren erhält und auf diese Weise einen ihm ursprünglich fremden Typus gewinnt, während es seine eigene, althergebrachte Sprache mehr oder weniger unverändert beibehält. Physischer Typus und Sprache des Volkes würden uns alsdann in oflen- barer Disharmonie erscheinen. So möchte ich mir z. B. die Thatsache erklären, dass manche ihrer Sprache nach türkisch-tatarische Völker, wie die Jakuten und Kirgisen, eine ganz mongo- lische Gesichtsbildung haben. In der That haben die ersteren, bevor sie in das Lena-Thal ein- rückten, ihre Sitze am Baikal-See gehabt, in unmittelbarer Nachbarschaft und inniger Berührung 1) S. oben, p. 16. Sprachen- und Typenwechsel. 205 mit mongolischen Völkerschaften, namentlich mit den Burjaten, durch deren Druck sie zum Ausweichen nach Norden bewogen wurden. In der neuen Heimath stiessen sie aber auf ein anderes, mit den Mongolen verwandtes und diesen ähnliche Gesichtszüge tragendes Volk, die Tungusen, was ihnen, in Folge häufiger Vermischung mit demselben, zu einer neuen Quelle leiblieher Mongolisirung werden musste'). Dass auch die Sprache der Jakuten vielfache Spuren der nahen und anhaltenden Berührung dieses Volkes mit den Mongolen davongetragen, hat Böhtlingk bis in die Einzelheiten nachgewiesen ?). Noch älter und schon darum vielleicht durchgehender und allgemeiner scheint die physische Mongolisirung der Kirgisen zu sein, obwohl der Mongolen-Stamm, von welchem sie speeiell ausgegangen, nicht näher bezeichnet werden kann?). Durch die Kirgisen werden ferner noch gegenwärtig die ihrer Sprache nach ebenfalls zu den türkisch-tatarischen Völkerschaften gehörigen Baschkiren mehr und mehr mit mongolischem Typus versehen ®). In allen diesen Fällen, deren Zahl sowohl im Allgemeinen, als auch speeiell auf dem Boden Sibirien’s noch um Vieles vermehrt werden kann, hätten wir also nieht, wie man gewöhnlich meint, Sprachen-, sondern meiner Ansicht nach Typenwechsel. Büsst dabei auch die Sprache etwas an ihrer ursprünglichen Reinheit ein, indem sie einzelne ‚Wörter, vielleicht auch manche grammatische Formen aus der anderen entlehnt, so bewahrt sie dabei doch ihre Besonderheit und dürfte der Stamm, dem sie angehört, immer mehr oder weniger leicht sich erkennen lassen. Der umgekehrte Fall — Sprachen- ohne Typen- wechsel — scheint mir hingegen, zum wenigsten in demselben Maasse, nicht wohl denkbar. Denn wo, wie wir oben sahen, ein eulturloses Volk beim Contakt mit einem Culturvolke seine Sprache gegen eine andere vertauscht, da hat in Folge der Vermischung und Verschmelzung immer auch ein weitgehender Typenwechsel stattgefunden: die ganze ursprüngliche physische Eigenthümlichkeit kann sich bei einem Volke, das seine Sprache gewechselt, unmöglich erhalten haben °), — höchstens nur einzelne, besonders prägnante und stärker erbliche Züge, die dem An- thropologen einen Handgriff zur richtigen Beurtheilung des Falles abgeben können. Eines Beispiels von Sprachenwechsel möchte ich bier noch besonders erwähnen, und zwar aus dem Grunde, weil es sibirische Völker betrifft und auf den ersten Blick gegen die hier verfochtene 4) Vrgl. oben p. 93; desgl. Middendorff, Reise in | als körperlich «ganz unvermischt» dem mongolischen den äuss. Nord. u. Ost. Sibir. Bd. IV, p. 1543, Anmerk. 1, u. p. 1545. 2) 0. Böhtlingk, Ueber die Sprache der Jakuten, Thl. I, p. XXXVII; in Middendorff’s Reise etc. Bd. IH. Vrgl. auch des letzteren Werkes Bd. IV, p. 1546. 3) In den Aeusserungen Middendorff’s über die Kirgisen stösst man auf einen offenbaren Widerspruch. Denn einmal spricht er von ihrer noch weiter als bei den Jakuten gehenden Mongolisirung (Reise etc. Bd. IV, p- 1545, Anmerk. 2, u. p. 1546), wonach sie also von lür- kisch-tatarischem Stamme wie ihre Sprache wären, Ein anderes Mal hingegen (Reise etc. p. 1403; Die Baraba, St. Petersb., 1870, p. 57.— Mem. de l’Acad. Imp. des sc. de St, Petersb., VII-e Ser. T. XIV, N 9) bezeichnet er sie Stamme angehörig, ja sogar schlechtweg als Mongolen und führt sie als «grossarliges Beispiel» dafür an, wie ein Volk im Laufe der Zeit seine Sprache gegen eine andere vertauschen könne; demnach wären sie also nicht leiblich mongolisirt, sondern sprachlich türk-tatarisirt. 4) Middendorff, Die Baraba, . c. 5) Dies ist jedoch wiederholentlich nicht bloss für mög- lich, sondern auch für thatsächlich erwiesen gehalten wor- den; so, wenn ich mich auf ein Zeitungsreferat berufen darf, noch neuerdings von Leo Meyer, in einem in der Jahresversammlung der Gelehrten Estnischen Gesellschaft in Dorpat, am 18. Januar 1878 gehaltenen Vortrage (St. Pe- tersburger Zeitung, 1878, N 27). 206 Die Völker des Amur-Landes. Ansicht, dass unter gleich eulturlosen Völkern kein Sprachenwechsel vorkomme, zu sprechen scheint. Castren hat nämlich von einer Anzahl kleiner Völkerschaften des oberen Jenissei- Gebietes, den Arinen, Assanen, Kotten, Koibalen, sowie von einem Theile der sogen. Kamassinzen nachgewiesen, dass sie zum selben Stamme mit den bekanntlich-ihre eigene, sehr aparte Sprache redenden Jenissei-Ostjaken gehören, gegenwärtig aber sprachlich tatari- sirt und die Kotten zum Theil auch burjatisirt sind '). Diese Thatsachen stehen nach Castren’s Zeugniss ohne Zweifel fest, aber die oben entwickelte Ansicht scheinen sie mir noch nicht umzu- werfen. Denn einmal ist es wahrscheinlich oder doch möglich, dass diese kleinen, mit den Jenissei- Ostjaken verwandten Stämme dem türkisch-tatarischen Volke und den Burjaten, deren Sprachen die ihrigen verdrängten, an Cultur und Macht weit nachstanden, dass sie von diesen unterworfen und bedrückt wurden, wodurch ihre Zahl mehr und mehr schwand und die Nachbleibenden ihrer Nationalität allmählich verlustig gehen mussten. Dabei hat sicherlich auch eine starke physische Vermischung stattgefunden. Später ist auch noch der Conflikt mit den Russen einge- treten, wodurch ein Theil derselben russifieirt worden ist und also seine Sprache nochmals ge- wechselt hat. Wenn nach alledem immer noch einzelne Individuen sich fanden, die ihre ursprüngliche Sprache kannten und es dadurch Castren ermöglichten, die Verwandtschaft dieser Sprachen mit dem Jenissei-Ostjakischen zu erkennen und für das Kottische auch ein Wörter- verzeichniss und eine Sprachlehre zu entwerfen, so darf man darin, glaube ich, eher einen Beweis zähen Festhaltens an der Sprache als leichten Aufgebens und Wechselns derselben sehen. Aus dem Angeführten möchte ich den Schluss ziehen, dass man in Fällen, wo uns eine Dis- harmonie zwischen der Sprache und dem physischen Typus eines Volkes entgegentritt, dieselbe nicht eher durch einen Sprachenwechsel sich erklären darf, als wenn dafür zeugende historische Thatsachen oder Reste der alten Sprache vorliegen. Wo diese fehlen, wird man, meiner Ansicht nach, immer eher an einen in Folge von Vermischung mit anderen Stämmen stattgehabten Typenwechsel denken dürfen, wenn eine eingehende und umfassende Untersuchung des betreflen- den Volkes die fragliche Disharmonie nicht dadurch auflöst, dass sie die vermeintliche Ueber- einstimmung seines physischen Typus mit demjenigen eines anderen, ihm sprachlich fremden Volkes als eine nur scheinbare und bei genauerer Einsicht unbegründete nachweist. Ich habe mir die obigen allgemeineren Betrachtungen erlaubt, einmal weil sie auch auf die Amur-Völker und zum Theil ganz unmittelbar Bezug haben, und dann auch weil sie mir für die Berechtigung zu sprechen scheinen , bei Unterscheidung und Abgrenzung der Völker nach ihrer Stammverwandtschaft oder Verschiedenheit das grösste und entscheidendste Gewicht auf die Sprache und erst in zweiter Instanz auch auf die physische Beschaffenheit derselben zu legen. Man erwarte jedoch darum noch nicht, in den nachstehenden Blättern eingehende sprach- 1) Al. Castren’s Reiseber. und Briefe aus den Jahren | Sprachlehre nebst Wörterverzeichn. aus den genannten 1845— 1849, herausgeg. von A. Schiefner, St. Petersb. | Sprachen, herausgeg. von A. Schiefner, St. Petersburg 1856, p. 290, 320—322, 343, 360, 383, 387 u. a.; desselb. | 1858, p. I—IX. Versuch einer Jenissei -Östjakischen und Kolttischen Giljaken. Fälschlich für eines Stammes mit den Aino gehalten. 207 liche Untersuchungen zu finden: als Naturforscher muss ich diese den Linguisten überlassen und mich damit begnügen, auf die bei persönlicher Bekanntschaft mit verschiedenen Völkern auch dem Nichtlinguisten leicht wahrnehmbaren, in dem Wortschatz ihm entgegentretenden Grund- oder nur dialektischen Verschiedenheiten der respektiven Sprachen hinzuweisen, Zwei der indigenen Hauptsprachen des Amur-Landes, das Ainische und das Tungusische, sind übrigens den Linguisten auch schon vielfach bekannt, das letztere freilich mehr in den sibirischen und nur kaum in einem oder dem anderen der so zahlreich im Amur-Lande vertre- tenen Dialekte. Für die dritte, bisher noch ganz unbekannte indigene Hauptsprache des Amur- Landes, das Giljakische, wird ein ziemlich reichhaltiges, von mir und Glehn gesammeltes Wörterverzeichniss diesem Werke beigegeben werden. Eingehender als das Sprachliche soll hingegen das wenn auch sehr unvollständige und geringe Material besprochen werden, welches uns zur genaueren Beurtheilung der physischen Beschaffenheit der Amur-Völker vorliegt. Zur Zeit meiner Reise nach dem Amur-Lande galt die Ansicht, dass die Giljaken eines Stammes mit den Aino oder Kurilen seien. Der Urheber dieser Ansicht ist Klaproth: er hat sie wiederholentlich und mit grosser Bestimmtheit ausgesprochen. Die Aino oder Kurilen, sagt er, breiten sich von der Südspitze Kamtschatka’s bis nach Japan hin über alle, nach ihnen sogenannten Kurilischen Inseln aus, bewohnen Tschoka (Sachalin), die ganze gegenüberliegende Küste des Festlandes und den unteren Amur bis zum Einfluss des Ussuri in denselben. Sie sind es nach ihm, die auf dem Festlande von den Mandshu «Chedshen» und «Fiaka» oder «Fiatta» und von den Russen «Giljaki» genannt werden. So trägt, fügt er hinzu, da die Tungusen den Amur abwärts nur bis zur Ussuri-Mündung bewohnen, vom Meere aber durch die «Kurilen des Festlandes» getrennt werden und dasselbe erst an der Uda (Udj) erreichen, diese Gegend den Namen Tungusien mit Unrecht'!). Klaproth rechnete also zu den Aino oder Ku- rilen nicht bloss die Giljaken, sondern auch einen Theil der tungusischen Völkerschaften des unteren Amur-Landes, nach unserer jetzigen Kenntniss derselben, die Orotschen, Oltscha und die Golde bis zur Ussuri-Mündung. Seine Angabe stand zwar im Widerspruch mit derjenigen von La Perouse, der wenigstens von den «Orotschy» und «Bitschi»°) nach eigener Anschauung anführte, dass sie in ihrer physischen Beschaffenheit weder mit den Man- dshu, noch und viel weniger mit den Bewohnern von Oku-Jesso (Sachalin), Jesso und den Kurilen übereinstimmten und auch nicht von gemeinsamer Abstammung mit diesen sein könnten ?), allein sie musste um so mehr Gewicht haben, als er sich dabei auf seine eigenen «inguistischen Untersuchungen» berief‘). Merkwürdig ist jedoch, dass sich in keinem seiner Werke auch nur 4) Klaproth, in Langsdorff’s Bemerk. auf einer 3) La Perouse, Voyage aul. du monde, red. par Mi- Reise um die Welt, Frankfurt a./M., Bd. I, 1812, p. 283, | let-Mureau, Paris, an V (1797), T. III, p. 104, 114. Anmerk. Desselben, Asia polyglotta, Paris 1823, p. 288, | Vrgl. auch Plath, Die Völker der Mandshurey, Göttingen 300, 301; Memoires relatifs a l’Asie, Paris, T. I, 1824, | 1830, p. 51. p- 452, T. III, 1828, p. 53. 4) Siehe Langsdorff’s Reise, a. a. O. 2) S. oben, p. 137—139. 208 Die Völker des Amur-Landes. ein einziges Wort aus der Sprache der Giljaken oder der anderen oben genannten Völker des unteren Amur-Landes findet. Hätte er aber auch nur wenige Wörter aus diesen Sprachen ge- kannt, so wäre die Fabel von den «Kurilen des Festlandes» sowie Nordsachalin’s nicht ent- standen. Klaproth’s Ansicht fand bei Balbi'), Remusat?), Ritter?), Joh. Sev. Vater*) u.a. Aufnahme und damit auch allgemeime Verbreitung). Ich habe sie schon vom Amur-Lande aus, in meinen Berichten an die Akademie widerlegt und mich bestimmt dahin ausgesprochen, dass Giljaken und Aino zwei nach Abstammung und Sprache, wie nach Charakter und Lebensweise, völlig von einander verschiedene Völker sind, und dass die übrigen Völker des Amur-Landes, darunter also auch die oben genannten Bewohner der Meeresküste und der unteren Stromland- schaft, zu einem dritten, ebenso verschiedenen Stamme, dem tungusischen, gehören ®). Gleich- wohl hatte sich die Klaproth’sche Ansicht von der Identität der Giljaken und Aino so sehr eingebürgert, dass sie auch später und selbst von Reisenden, die im Amur-Lande gewesen waren, aber freilich das eine dieser Völker nur kaum, das andere gar nicht gesehen hatten, noch fest- gehalten wurde. So von Gerstfeldt”), von Maack°), ja sogar noch von Middendorff?), obgleich meine Reiseberichte an ihn, als den damaligen Seeretär der Akademie, gerichtet waren. Und ebenso wird diese Ansicht noch in den neueren systematischen Werken über Völkerkunde nachgesprochen !°). Nicht glücklicher ist es ‚den Giljaken von einer anderen Seite her ergangen. Am Nord- ende von Sachalin sah und besuchte Krusenstern im Jahre 1805 einige ansehnliche Dörfer, deren Bewohner auf ihn wie auf seinen Begleiter Löwenstern den Eindruck machten, dass sie zu einem anderen Volke gehören müssten als die Aino, welche sie im Süden der Insel kennen gelernt hatten. Ohne den Namen des Volkes in Erfahrung gebracht zu haben, schloss Krusen- stern aus dem physischen Habitus und der Kleidung der von ihm gesehenen Individuen, dass es «unstreitig» Tataren seien. Da er jedoch ebenfalls der Ueberzeugung war, ganz Sachalin 1) Atlas Ethnographique du globe, ou classificat. des peuples anciens et modernes d’apres leurs langues, Paris 1826, IX, VII-e Tableau (des langues asiat.). 2) Recherches ete. T. I, p. 148, s. Plathl. ce. 3) Erdkunde von Asien, Berlin, Bd. I, 1832, p. 88; Bd. II, p. 470 u. a. 4) Literatur der Grammat.,Lexicaund Wörtersammlung. aller Sprachen der Erde, Berlin 1847, p. 213. 5) Noch neuerdings spricht Leon de Rosny (Congres internat. des orienlal. Paris 1874, p. 64, 173, 201) von Aino oder Kurilen der Festlandsküste der Tartarei. 6) S. meine Reiseber. datirt vom Nikolajevschen Pos- ten, d. 9./21. Nov. 1855 und d. 26. Oct./7. Nov. 1856, im Bullet. de la el. physico-math. de l’Acad. Imp. des sc. de St. Petersbourg, T. XIV, p. 186, 188, T. XV, p. 171; Mel. phys. et chim. T. II, p. 448, 449, 451, T. II, p. 11. 7) © upuöpeskn. scureraxe Amypa (Bern. Pycer. Teo- rpaw. O6m. 4. XX, 1857, Ora. II, crp. 292). Vrgl. auch Petermann, Geogr. Mittheil. Jahrg. 1860, p. 99. 8) Iyrem. na Anyp», C. Ierepöyprz 1859, erp. 210. 9) Reise etc. Bd. IV (letzte Lieferung, 1875), p. 1403. 10) Fr. Müller, Allgemeine Ethnographie, Wien 1873, p- 193; O0. Peschel, Völkerkunde, Leipzig 1874, p. 414. Letzterer giebt nur in einer Anmerkung an, Wenjukof versichere dagegen, dass die Sprache der Giljaken so- wohl vom Tungusischen, wie vom Kurilischen, welches die Aino reden, verschieden sei (Journ. of the R, Geogr. Soc., London 1872, Vol. XLH, p. 385). Ist Wenjukof auch selbst nicht bei den Giljaken gewesen und kann er auch nicht als Autorität für dieselben gelten, so hätte seine Angabe, da er mit der Literatur des Amur-Landes bekannt sein musste, doch mehr Glauben verdient. Aus Müller’s Ethnographie ist die Angabe, dass die Gilja- ken mit den Aino «identisch oder stammverwandt» seien, auch in Hellwald’s eingehenden Artikel über die Aino (Das Ausland, 1873, p. 875) übergegangen. Giljaken. Fälschlich für Tataren u. Tungusen gehalten. Sprachlich ein Volk für sich. 209 müsse von Aino bewohnt sein, so hielt er diese Tataren nur für eine vom Festlande, aus der Gegend der Amur-Mündung herübergekommene Colonie, welche die Aino ganz ebenso im Norden der Insel verdränge und schliesslich auch wohl ganz ausrotten werde, wie die Japaner es im Süden derselben thun!). Bei der Unbestimmtheit der Bezeichnung «Tatarem ist esnicht zu verwundern, wenn Plath die Vermuthung aussprach, dass diese angeblichen Tataren auf Sachalin Mandshu sein könnten?). Aus der ziemlich umständlichen Beschreibung, die Krusenstern von seiner Begegnung mit ihnen entwirft, lässt sich jedoch mit Sicherheit entnehmen, dass es Giljaken waren. Inzwischen ist einer der im Atlas zu seiner Reise von diesen Giljaken abgebildeten Köpfe, und zwar derjenige des vermeintlichen tatarischen Chefs in der Bai Nadeshda°), von Gliddon, in dem bekannten Werke über die verschiedenen Racen des Menschengeschlechts, sogar als Repräsentant des Tataren-Typus reproducirt worden ®). Noch in einer dritten Weise endlich sind die Giljaken hinsichtlich ihrer Abstammung verkannt worden. Manche russische Reisende nämlich, die entweder in Transbaikalien von ihnen nur gehört, wie Parschin°), oder aber sie im Amur-Lande auch selbst kennen gelernt haben, wie Permikin®), Sswerbejef”) u. a., rechnen die Giljaken gleich wie alle anderen Amur- Völker zu den Tungusen. Dazu hat, ausser der vollständigen Unkenntniss oder Nichtbeach- tung der giljakischen Sprache, ohne Zweifel auch der Umstand beigetragen, dass die Bezeich- nung «Giljaken» russischerseits, wie wir oben gesehen, oft in colleetivem Sinne gebraucht und so schlechtweg auch ihren tungusischen Nachbaren beigelegt wird®). Ebenso stellt Kennan die Giljaken vom Amur mit den Tungusen und Mandshu in eine Gruppe von Völkern zu- sammen, von denen er meint, dass sie offenbar und unzweifelhaft von chinesischem Ursprunge seien ?). Die Giljaken sind ihrer Sprache nach weder mit ihren Nachbaren, den Aino und den tungusischen Völkerschaften, noch überhaupt mit irgend einem Volke Sibirien’s oder auch Nord- 41) Krusenstern, Reise um die Welt, St. Petersburg 1811, Bd. II, p. 163, 180. Krusenstern meinte sogar, der Hof zu Peking wisse wahrscheinlich nichts von dieser Ausbreitung der Tataren nach Sachalin, was jedoch mit seiner eigenen Angabe im Widerspruche steht, dass die chinesische Regierung, eifersüchtig auf den Besitz des Amur-Stromes, an dessen Mündung Böte zur Wache halte, um über alles dort Geschehende sogleich unterrichtet zu werden (l. c. p. 187). Das war es ja auch bekanntlich, was ihn bewog, das Vordringen in die Amur - Mündung aufzugeben. 2) Plath, Die Völker der Mandshurey, p. 41, Anm. 3, Nannten doch die alten Jesuiten-Missionäre die Mandshu sehr oft auch «Tartares Mantcheoux» (Du Halde, Deser. de /’Emp. de la Chine et de la Tartarie Chinoise, Vol. IV, passim). 3) Tafel LXXXI und LXXXIH («chinesische Tataren auf Sachalin»), nach Zeichnungen von Tilesius. Einzelne Züge sind giljakisch, im Ganzen geben aber die Abbil- Schrenck’s Amur-Reise, Band III. dungen den Typus nicht wieder. 4) J.G. Nott and Geo. R. Gliddon, Indigenous races of the earth, or new Chapters of Ethnological Inquiry, Philadelphia 1857, p. 622, Fig. 9 des zum Artikel von Gliddon gehörigen«Ethnographical Tableau». Die Repro- duetion nähert sich dem Typus mehr wie das Original, doch ist auch in ihr der Nasenrücken zu hoch, die Nase zu hervorragend u. s. w. 5) Hobaara 8% 3abairkaaseriü pair, Mockva 1844, 4. II, crp. 5, 70. 6) Hyre». :kypu. mas. mo p. Amypy (3am. Cn6. Ora. Teorp. Oöın. Ka. II, C. IIerep6. 1856, cp. 64). 7) Onuc. mas. no p. Amypy sxcneA. renep.-TyÖepn. Bocr. Cu6upu »6 1854 r. (3a. Cu6. Ora. Teorp. Oöm. Ka. III, C. IIerepo. 1857, crp. 77). 8) S. oben, p. 104. 9) G. Kennan, Tent life in Siberia and advenlures among the Koraks and other tribes in Kamtschatka and Northern Asia, London 1871, p. 219. 27 210 Die Völker des Amwr-Landes. ostasien’s und Nordwestamerika’s in nähere, stammverwandtschaftliche Beziehung zu bringen. Sie bilden ein Volk für sich, gleich den Kamtschadalen, den Aleuten, den Tschuktschen und Korjaken. Vielleicht werden Linguisten im Bau ihrer Sprache eine grössere oder geringere Annäherung an dieses oder jenes der sibirischen oder ostasiatischen Völker nachweisen, der Wortschatz ihrer Sprache ist aber, von manchen, ihren Nachbaren entlehnten Wörtern oder auch mit den Aino und Tungusen gemeinsamen japanischen, resp. mandshurischen oder chi- nesischen Fremdwörtern abgesehen, ein durchaus selbständiger und eigener. Das weiterhin folgende giljakische Wörterverzeichniss, welches von mir binnen zwei Jahren zum Theil und haupt- sächlich auf dem Festlande, zum Theil auch auf der Westküste und im Innern, wie an einem Punkte der Ostküste Sachalin’s (Nyi), und von Glehn besonders im Norden der Insel gesammelt worden ist, wird den besten Beweis dafür liefern. Schon der Klang der giljakischen Sprache ist von dem der tungusischen oder ainischen so grundverschieden, namentlich durch die Häufung der Con- sonanten und das starke Vorherrschen von Nasen-, Kehl- und Zischlauten so sehr viel härter, dass man auch ohne sie zu kennen gleich bei der ersten Begegnung mit Giljaken den Eindruck ihrer unzweifelhaften Stammverschiedenheit von den Tungusen und Aino davonträgt. Um so mehr ist daher jene mehrfach erwähnte Verwechselung oder Identifieirung derselben mit diesen Völkern zu verwundern. Aus dem giljakischen Wörterverzeichniss wird man zugleich ersehen, dass es unter den Giljaken, trotz ihres im Ganzen nur wenig ausgedehnten Gebietes und ihrer nur geringen An- zahl, doch mehrere scharf ausgesprochene Dialektverschiedenheiten giebt. Zur Ausprägung von solchen musste schon der Umstand beitragen, dass die Giljaken an verschiedenen Enden ihres Gebietes an ganz verschiedensprachige Völker stossen, und in der gegenseitigen Abgrenzung der Dialekte lässt sich der Einfluss grenzbestimmender Naturverhältnisse und der durch dieselben bedingten grösseren oder geringeren Verkehrsbeziehungen und Berührungen der einzelnen Ge- bietstheile unter einander erkennen. Zunächst machen sich in dieser Beziehung Festland und Insel als verschiedene Gebiete geltend. Auf dem Festlande bildet der fischreiche Amur-Strom, der zugleich eine Handelsstrasse zu den Mandshu und Chinesen abgiebt, die Hauptader der giljakischen Bevölkerung. An ihm findet ihre grösste Verdichtung statt. Dahin gravitiren auch die minder zahlreichen Giljaken der Fest- landsküsten des Ochotskischen Meeres und des Amur-Limanes. So weit mir bekannt, herrscht in diesem ganzen Gebiete auch nur eine Form der giljakischen Sprache, — dieselbe, die man am Amur- Strome hört; nur ist zuweilen, wo sich mehrere Bezeichnungen für einen Gegenstand finden, die eine hauptsächlich am Amur, die andere hauptsächlich am Liman oder am Ochotskischen Meere gebräuchlich, und diese ist dann meist auch die auf Sachalin allein übliche Bezeichnung). Am meisten vom Amur und vom Festlande überhaupt abgewendet und entfernt liegt die 1) So heisst z. B. der Bär, dieses, wie wir später sehen | zeichnung ist am Amur, die letztere am Liman die ge- werden,indasLeben der Giljaken tief eingreifende Thier, | bräuchlichere; auf Sachalin kennt man nur die letztere. in ihrer Sprache Aotr und tschehyf: die erstere Be- Giljaken. Sprache. Dialektverschiedenheiten. 211 [4 Ostküste und das Innere von Sachalin, wo namentlich der Tymy-Fluss, der ansehnlichste und fischreichste in der Nordhälfte der Insel, einen Hauptsitz der Giljaken bildet. Durch die in Meridianrichtung über Sachalin verlaufenden Gebirge ist dieser Theil der Insel auch von der Westküste derselben mehr oder weniger getrennt. Wo er im Osten vom Meere bespült wird, trägt er bei den Giljaken auch einen besonderen Namen, dessen Bedeutung und Begrenzung bisher jedoch nicht genauer ermittelt werden konnte. Schon Middendorff hörte die Giljaken an der Tugur-Mündung von den «Tro» aufSachalin sprechen; er vermuthete, dass dieser Name die Tungusen bezeichne'). Ich konnte soviel mit Gewissheit feststellen, dass derselbe nicht auf ein tungusisches Volk (etwa die Oroken), sondern auf die Ostküste Sachalin’s sich bezieht: «Tro- nibach» sind die dortigen Giljaken, «Tro-kerchk» das jene Küste bespülende(Ochotskische) Meer, «Tro-mif» das Land an demselben. Was aber ursprünglich unter der Bezeichnung «Tr 0» zu ver- stehen sei, ob das Land oder das Meer, vermag ich mit Gewissheit nicht zu sagen. Ich glaube aber das erstere, im Gegensatz zu «Lärch» oder «Lär-mif», welches wohl hauptsächlich auf die West- küste von Sachalin sich beziehen dürfte). Glehn, der die Tro-Küste Sachalin’s bereist hat, spricht sich darüber nicht aus. Auch über die Ausdehnung des von den Giljaken unter «Tro» verstandenen Landstriches bleiben wir noch im Zweifel. So viel ich aus ihren Angaben entnehmen konnte, ist darunter die ganze von den Giljaken bewohnte Ostküste Sachalin’s gemeint, so dass z. B. sowohl das gleich nördlich von der Tymy-Mündung gelegene Dorf Nyi, in welchem ich mich ein paar Tage auf- hielt, als auch die südlicheren Dörfer, bis Tschamr-wo hinab, noch Tr o-Dörfer sind. In solchem Umfange ist diese Bezeichnung auch in meinem giljakischen Wörterverzeichniss wie an anderen Stellen dieses Werkes gebraucht. Glehn beschränkt hingegen die Bezeichnung «Tro» auf einen geringeren Theil der giljakischen Ostküste Sachalin’s, indem er Käkr-wo, den Hauptsitz der Oroken, das nördlichste der Tro-Dörfer nennt”). Welches Moment aber dieser Bezeichnung alsdann zu Grunde läge, wüsste ich gar nicht zu sagen. Wie dem übrigens auch sei, so viel ist gewiss, dass gleichwie auf dem Festlande die Giljaken des Ochotskischen Meeres zum Amur- Strome, ebenso die Tro-Giljaken zum Tymy-Flusse, als der Haupt- Handels- und Verkehrsader ihres Landes, gravitiren. Bei ihren Landsleuten am oberen Tymy finden sie nicht bloss reiche Fischvorräthe, sondern auch manche durch Vermittelung der Amur- und Liman-, besonders der Tsehomi-Giljaken erhaltene mandshu-chinesische Waaren, und von den Tymy-Quellen führt die Ty- oder Poronai-Strasse zu den Aino am Golf der Geduld, wo bereits manches japa- nische Produkt zu haben ist. Tymy- und Tro-Giljaken stehen daher in beständiger Berührung ‚mit einander und gehören auch sprachlich ebenso zusammen, wie die Amur- und Küsten- Giljaken des Festlandes. Bei ihrer Abgeschiedenheit von den letzteren bildet aber zugleich ihre 4) Bullet. de la classe physico-math. de l’Acad. Imp. | erst von den Tro-Giljaken die Rede ist, glaubte ich den des sc. T. IV, p. 235; Beitr. zur Kenntn. des Russ. Reiches, | Ausdruck «Tro» schlechtweg auf das dortige Meer be- Bd. IX, 2. Abthl., p. 618. ziehen zu müssen. 2) In meinem Reisebericht (Bull. de la classe physico- 3) Glehn, Reiseber. von der Insel Sachalin (Beitr. zur math. de l’Acad. Imp. des sc. de St. Petersbourg, T. XV, | Kenntn. des Russ. Reiches, Bd. XXV, p. 195, 228). p- 171; Mel. phys. et chim. T. III, p. 11), in welchem zu- 27° 212 Die Völker des Amur-Landes. “ Sprache die grösste dialektische Verschiedenheit, die es innerhalb des Giljakischen giebt. Nicht nur haben sie für manche Gegenstände ganz andere Bezeichnungen, sondern auch wo diese dieselben sind, bieten der Tymy- und Tro-Dialekt oft noch ansehnliche Lautabweichungen dar. Um nur einige der auflallendsten unter ihnen hervorzuheben, will ich bemerken, dass der bei den CGontinental-Giljaken so häufige Laut isch, auf welchen auch die Infinitivform aller Zeitwörter ausläuft, von den Tymy- und Tro-Giljaken in der Regel in # umgewandelt wird; so sagen sie z. B. statt puntsch (Bogen) punt, statt ngalskotsch (schlecht) ngalskot, statt mutsch oder muntsch (sterben) munt, statt ässka(n)tsch (nicht wünschen, nicht mögen) ässkant u. s. w. Ferner werden manche Vokale und Diphtonge im Tymy- und Tro-Dialekt meist, wenn auch nicht durchgängig, durch andere ersetzt: so das y (russische ) durch a — z. B. taf statt iyf (Haus), pat statt pyt (morgen), namr statt nymr (gestern) u. s. w. — das e durch @ und zuweilen sogar durch a — z.B. jäghsunt statt Jeghsutsch (nicht wissen), jamatsch statt jematsch (wissen, verstehen) — das ö durch 0— z.B. mio statt mlö (Feuerzeugdose), no statt njö (Vorrathskammer), £lo statt 22ö (Himmel) u. drgl.m. Erwägt man, dass in der Aino-Sprache, nach Dobrotworskij!), der Laut y (russ. &) gar nicht vorkommt und die harten Vokale a, ö, o vor den weichen ja (russ. 2), e, ö vorherrschen, so liesse sich in der erwähnten Vokaleigenthümlichkeit des Tymy- und Tro-Dialektes, dem Conti- nental-Giljakischen gegenüber, vielleicht ein Einfluss der benachbarten Aino-Sprache wahrnehmen. Im Ganzen klingt dieser Dialekt in seinen Vokallauten breiter und härter als das Amur-Giljakische, während er in den Consonantenlauten wohlklingender als das letztere ist. Auch der Umstand endlich, dass der Tonfall und die Accentuirung der einzelnen Wörter bei den Tymy-und Tro-Giljaken manche Abweichungen darbieten, indem sie namentlich und zumal in den Zeitwörtern den Accent gern auf die letzte Sylbe verlegen, verleiht ihrer Sprache, derjenigen ihrer Landsleute auf dem Con- linent gegenüber, ein besonderes Gepräge. Anders verhält es sich mit der Westküste Sachalin’s. Die vom Continent abgeschiedene Lage des Innern und der Ostküste der Insel theilt sie nicht; sie ist im Gegentheil demselben zugekehrt und nur durch ein schmales, im Winter zum Theil gefrierendes Meer von ihm ge- trennt. An der schmalsten Stelle dieses Meeres, über die Mamia-Rinsö-Strasse, vom Cap Lasaref zum Dorfe Poghobi, finden auch die flachkieligen, für’s offene Meer nicht geeigneten Böte der Amur- und Liman-Giljaken eine leichte Ueberfahrt nach der Insel, längs deren Küste sie bis zur Südspitze hinabgehen, um ihre mandshu-chinesischen Waaren bei den Japanern umzu- setzen. Im Winter kreuzen Amur- und besonders Tschomi-Giljaken dieselbe Strasse in hundebespannten Schlitten über die Eisdecke, um, ebenfalls in Handelsinteressen, sei es nun die Westküste der Insel, oder die Tymy-Quellen, oder auch, die Ty-Strasse abwärts, die Aino und Oroken am Golfe der Geduld zu besuchen. So stehen die Giljaken der südlich von Poghobi, also am Nordjapanischen Meere gelegenen Westküste Sachalin’s mit ihren Landsleuten auf dem Festlande in beständigem und regerem Verkehre als mit denen am Tymy oder an der Tro-Küste. 1) M. Ao6porsopceriii, Auncko-pycek. c.10Bapp, Ra- | Bepeurera 1875 r.) erp. 63, 65. sans 1875 (Upwaose. 2x6 Vuen. Zar. Unnep. Rasaner. Yun- Giljaken. Dialektverschiedenheiten. Schlussfolgerung aus den Thiernamen. 213 Kein Wunder daher, dass auch ihre Sprache die Dialekteigenthümlichkeiten der letzteren nur in geringem Grade theilt und zumeist mit der Sprache der Continental-Giljaken übereinstimmt. Dies gilt jedoch, wie gesagt, nur von den südlich von Poghobi, nicht von den nördlich davon, an der Limanküste und bis zur Nordspitze Sachalin’s hinauf wohnenden Giljaken. Diese stehen mit dem Festlande in geringerer Berührung, weil sie von ihm durch ein breiteres, der Ueberfahrt im Sommer wie im Winter grössere Hindernisse entgegensetzendes Meer, den Amur-Liman, das «matsch-kerchk» (kleines Meer) der Giljaken — im Gegensatz zum «pilja-kerchk», dem «grossen (Oehotskischen) Meere» — getrennt sind und in Folge dessen auch abseits von der oben ge- schilderten Handelsstrasse der Continental-Giljaken liegen bleiben. Ich habe diesen Theil Sachalin’s selbst nicht kennen gelernt; nach Angabe aber einiger der dortigen Giljaken (aus den Dörfern Nganj-wo und Dshongi), die mich zugleich mit welchen aus dem Dorfe Tschehar- bach, am Nordufer der Amur-Mündung, im Nikolajevschen Posten besuchten, bietet ihre Sprache manche Differenzen von derjenigen der Continental-Giljaken dar, wenn sie auch lange nicht so verschieden ist, wie diejenige der Tymy- und Tro-Giljaken. Hier wäre also vielleicht noch ein dritter Dialekt des Giljakischen zu unterscheiden. Sprachforschern bleibe es überlassen, zu ermitteln, in welchen Berührungen und Beziehun- gen das Giljakische sowohl in seinem grammatischen Bau, wie auch im Wortschatz zu den Idiomen der Nachbarvölker steht, und wie weit sich in letzterer Beziehung auch die oben ange- deuteten Dialekte desselben durch etwaige Entlehnungen aus ihren respeetiven Nachbarsprachen von einander unterscheiden. Ich möchte mir erlauben, in dieser Hinsicht hier nur auf einen Punkt aufmerksam zu machen, welcher mir als Naturforscher bei Erkundigung über die Thierwelt Sacha- lin’s und des Amur-Landes sogleich auffiel, und der für die Frage nach der Heimath und Ausbreitung der Giljaken und damit auch nach ihrer. etwaigen, wenn auch entfernten Stammverwandt- schaft mit den ihnen benachbarten Völkern von Interesse ist. So verschieden nämlich das Gilja- kische von den Nachbaridiomen ist, so finden sich in demselben doch manche aus dem Tungu- sischen entlehnte Thiernamen'). Dass namentlich, mit alleiniger Ausnahme des Hundes, alle Hausthiere, wie Pferd, Rind, Schaf, Schwein, Katze, solche Bezeichnungen bei den Giljaken tragen, kann nicht weiter auffallen, denn diese Thiere sind ihnen fremd: sie haben sie nur bei den stromaufwärts wohnenden tungusischen Völkern kennen gelernt?) und beziehen von den Mandshu und Chinesen höchstens einzelne Produkte derselben, wie z. B. Schafsfelle, und auch diese nur als Luxusartikel®). Ebenso begreiflich sind ferner die aus dem Tungusischen entnommenen Bezeichnungen der Giljaken für solche wilde Thiere, die in ihrem eigenen Ge- biete nicht vorkommen und ihnen nur aus dem tungusischen Theile des Amur-Landes bekannt 1) S. meine Abhandlung über die Säugethiere des | gleichgültig und soll am betreffenden Orte besprochen Amur-Landes, im I. Bande dieses Werkes. werden. 2) Dass die Amur-Tungusen ihrerseits wieder man- 3) Dass man in seltenen Fällen auch eine Hauskatze, che dieser Hausthiere durch die Mongolen kennen ge- | an der Kette oder im Käfich gehalten, bei den Giljaken lernt und daher auch aus dem Mongolischen entlehnte | findet, ist im I. Bande dieses Werkes (p. 98) erwähnt. Sie Bezeichnungen für dieselben haben, ist hier zunächst | wird ihnen aber damit noch nicht zum Hausthier. 214 Die Völker des Amuwr-Landes. sind, wie Edelhirsch, Canis procyonoides u. a.'). Auffallend ist es hingegen, dass die Giljaken Namen von tungusischem Ursprunge auch für manche von solchen Thieren haben, die auch im giljakischen Theile des Amur-Landes mehr oder weniger weit und allgemein verbreitet sind, so für das Reh, das Elenn, den Dachs?). Dies sind jedoch lauter Thiere, die wenn auch auf dem Festlande verbreitet, doch der Insel Sachalin fehlen, wogegen die auch auf der Insel vorkommenden bei den Giljaken weder tungusische, noch ainische, sondern sämmtlich echt giljakische Namen tragen. Man könnte zur Erklärung dieser Thatsachen meinen, dass die von tungusischen Stämmen rings umgebenen Continental-Giljaken sich im Laufe der Zeit auch manche tungusische Thiernamen angeeignet haben können. Allein in solchem Falle würde sich dies gewiss nicht auf die der Insel Sachalin fehlenden Thiere allein beschränken, sondern auch auf andere und vornehmlich auf die im Handelsverkehre der Giljaken mit ihren tungusischen Nachbaren, sowie mit denMandshu und Chinesen besonders wichtigen Thiere, wie Zobel, Fuchs, Otter u. drgl., erstrecken, was jedoch keineswegs der Fall ist. Mir scheinen vielmehr jene Thatsachen dafür zu sprechen, dass die Giljaken ehemals nur auf der Insel Sachalin heimisch waren, später aber von dort aus auch auf den angrenzenden Theil des Festlandes übergingen, wo bis dahin vermuthlich nur nomadische Jagd-Tungusen umherstreiften. Jene ihrer Heimath fehlenden Thiere wurden ihnen daher zunächst durch die Tungusen bekannt und behielten somit auch bei ihnen ihre, natürlich in giljakischer Weise modificirten, tungusischen Namen. Ist diese Annahme richtig, so darf man sich auch nicht denken, dass die jetzigen südlichen Nachbaren der Giljaken auf Sachalin, die Aino, ursprünglich die ganze Insel bewohnt hätten und erst durch die vom Festlande herübergekommenen Giljaken aus der nördlichen Hälfte derselben verdrängt worden seien. Die Bewegung fand vielmehr in umgekehrter Richtung, von Süden nach Norden und von der Insel nach dem Continent statt. Die Aino zogen sich, wie oben schon erwähnt, durch die Japaner gedrängt, aus ihrer südlicheren Heimath, Nippon und Jesso, nordwärts nach Sachalin und den Kurilen, und vielleicht ist es dieser Andrang der Aino gewesen, der wiederum die Giljaken bewog, ihrerseits von Sachalin nach dem nahegelegenen Festlande, an den unteren Amur und bis zu den Küsten des Ochotskischen Meeres auszu- weichen). Auch stehen dort die Giljaken, wie wir oben sahen, in sprachlicher Beziehung ganz isolirt und ohne jegliche Stammverwandte da. So weit die Sprache lehrt, sind also die Giljaken, gleich den Aino, als ein indigenes Volk des äussersten, insularen Küstensaumes von Ostasien zu betrachten. Bei so isolirter Stellung der Giljaken in sprachlicher Beziehung, liesse sich erwarten, 4) Nur das Wildschwein, das zwar im Giljaken-Lande | birica, «zongrsk», scheint mir aus dem Tungusischen ab- nicht vorkommt und doch im Giljakischen eine vom Tun- | geleitet zu sein (s. d. I. Bd. dieses Werkes, p. 37). gusischen ganz verschiedene Bezeichnung (ajara und ajerda) 3) In den Traditionen der Aino von Sachalin ist von trägt, scheint hier eine Ausnahme zu bilden. Doch ist | blutigen Kämpfen mit den Giljaken die Rede (s. Dobro- vielleicht diese Bezeichnung auch nicht giljakischen Ur- | tworskij, Aunero-pycekiit e10Bapp. — Upımıo;x. Kb Vaen. sprungs. 3aı, Una, Razauck. Yungepe. 1875 r., erp. 33). 2) Auch die giljakische Bezeichnung für Mustela si- Giljaken. Körperbau. Wuchs. 215 dass sie sich auch in ihrer physischen Beschaffenheit durch manche, mehr oder weniger prägnante Eigenthümlichkeiten von den Nachbarvölkern unterscheiden müssten. Und doch ist dies keineswegs der Fall. Obwohl oder, richtiger vielleicht, weil ich so viele, ich möchte fast glauben, die meisten Giljaken selbst gesehen habe, bin ich völlig ausser Stande, einen durchgehenden physischen Einzelcharakter oder auch einen allen gemeinsamen, durch die Gesammtheit der Züge bedingten Typus zu bezeichnen, an welchem der Giljake von den übrigen Amur-Völkern, einem Oltscha, Tungusen, ja mitunter selbst von einem Aino mit Sicherheit zu unterscheiden und in seiner Nationalität zu erkennen wäre. Haben die Giljaken ehemals vielleicht einen durchgehenden Typus gehabt, so hat sich derselbe gegenwärtig, in Folge langjähriger und vielfacher Ver- mischung mit den Nachbarvölkern, verwischt und verloren; es hat statt dessen eine Mannig- faltigkeit der Bildungen Platz gegriffen, und will man dieselbe einigermassen überblicken, so wird man genöthigt, mehrere Typen unter ihnen zu unterscheiden. Betrachten wir ihren Körper- bau in seinen Einzelzügen genauer. Es ist mir leider nicht möglich gewesen, Messungen an den Giljaken anzustellen, um ihren mittleren Gesammtwuchs und die Verhältnisse der einzelnen Körpertheile unter einander und zum Ganzen genauer zu ermitteln. Jedem Versuche der Art widersetzten sich die Giljaken standhaft, offenbar aus Angst, einer Zauberei zu verfallen. Wollten sie mir doch anfangs auch nicht gestatten, sie portraitiren zu lassen, in der Befürchtung, mit dem Bilde würde auch die Macht über ihr Leben und Wohlsein in meine Hand fallen und ich brauchte nur jenes zu zer- reissen, um auch diese zu schädigen oder zu vernichten. Nicht besser ist es mir mit den Ol- tscha und Golde ergangen, und was die übrigen Amur-Völker betrifft, so bin ich mit ihnen zu kurze Zeit in Berührung gewesen, um überhaupt an derartige Messungen denken zu können. Mit den Aino von Sachalin machte übrigens schon La Perouse dieselbe Erfahrung: zwar liessen sie es zu, dass man sie portraitirte, nicht aber dass man ihre Körpertheile vermaass'). Aus dem angeführten Grunde können daher meine Angaben über den Gesammtwuchs und die verhältnissmässige Grösse der einzelnen Körpertheile bei den Amur-Völkern nur annähernde und ungefähre sein. Die Giljaken sind in der Regel von mittlerem, oft auch von kleinem Wuchse; mehr als mittelwüchsige Gestalten sind selten, und wirklich grosswüchsige habe ich unter ihnen nie- mals gesehen. Sie sind dabei von untersetztem, kräftigem Bau, kräftigerem als ihre Nachbaren, sowohl die tungusischen Völkerschaften, als die Aino°). Der Kopf erscheint verhältnissmässig 1) Voyage aut. du monde, T. III, p. 40. La Perouse vermuthete auch, dass sie es für Zauberei hielten, da eine solche Art derselben in China und der Tartarei verbreitet sei und einige Missionäre deshalb als Zauberer vor Ge- richt gezogen worden seien, weil sie beim Taufen ihre Hände den Kindern auf das Haupt legten. Die Angst vor Verzauberung beim Vermessen brauchen jedoch die Amur- Völker keineswegs aus China entnommen zu haben: sie dürfte mehr oder weniger bei allen uncivilisirten Völkern zu finden sein. So ist es mir, um ein möglichst weit ent- legenes Beispiel anzuführen, im Moment gegenwärtig, dass Du Chaillu sie bei den Aschango und Obongo im äquatorialen Afrika antraf. Vrgl. Petermann, Ueber Zwergvölker in Afrika (Geogr. Mittheil. 1871, p. 153). 2) Schon MamiaRinsö bemerkte dies von den Sme- renkur von Sachalin im Vergleich zu den Kraftöern 216 Die Völker des Amur-Landes. gross: wollte man nach seinen Maassen den ganzen Wuchs bestimmen, so würde dieser zu lang ausfallen. Der Hals ist in der Regel kurz; die Schultern recht breit; der Brustkasten geräumig; der Rumpf im Verhältniss zu den Extremitäten, wenigstens den unteren, lang, oder diese im Vergleich zum Rumpfe kurz; die Hände und Füsse auffallend klein und zierlich, — ein Zug, den sie mit ihren Nachbaren, Aino und Tungusen, theilen'), und der an den Füssen durch den chi- nesischen Schnitt des Stiefels — mit hohem Blatt und aufwärts gebogener Spitze — noch mehr in die Augen fällt. Der ganze Körper ist sehnig-muskulös, hager, ohne Fettansatz: beleibte Individuen kommen eben so wenig vor wie lange. Da mir das vollständige Skelet eines Giljaken vorliegt — wohl das erste und einzige, welches bisher nach Europa gelangt ist, — so bin ich im Stande, etwas mehr über den Bau des _ ganzen Knochengerüstes, so wie über die Beschaffenheit und die Maasse der einzelnen Knochen bei den Giljaken zu sagen, ohne jedoch für diese Bemerkungen eine allgemeine Geltung für das ganze Volk beanspruchen zu wollen, da Manches gewiss nur auf Rechnung individueller Verschiedenheit zu schreiben sein dürfte. Unser Skelet rührt von einem, nach der Beschaffenheit des später zu besprechenden Schädels zu urtheilen, zwischen 30 und 55 Jahre alten, im Hospital zu Nikolajevsk im Jahre 1866 verstorbenen Giljaken aus dem Dorfe Allof am Amur her und ist dem Museum der Akademie von dem dortigen Medieinalinspector, Dr. Pfeiffer, zugestellt worden. Trotz des starken, massiven Schädels ist das ganze Knochengerüste fein gebaut. Dabei treten jedoch die kleinen Hervorragungen, die Ansatzlinien und Flächen der Muskeln allenthal- ben sehr deutlich und scharf begrenzt hervor, — eine Eigenthümlichkeit, die auch am Knochen- gerüste der Aino°), wie an denjenigen mancher anderen, uncivilisirten oder niederen Racen bemerkt worden ist?), und welche auf die gleichzeitig’starke Entwickelung der Muskulatur bei ihnen hindeutet. | Die Wirbelsäule zählt die normale Zahl von Hals-, Brust- und Lendenwirbeln. Am Atlas ist der hintere Bogen, Arcus posterior, dick und hoch, höher als der vordere, mit doppeltem, links besonders starkem Tubereulum. Die Apertura spinalis ist oval, nicht dreieckig. Die vor- dere Wurzel am Foramen transversarium ist viel dicker als die hintere. Die Incisura vertebralis ist an der einen (linken) Seite durch eine darüber laufende, dünne, übrigens nicht ganz voll- ständige Brücke in ein Foramen verwandelt, — eine Bildung, welche von Anutschin an seinen beiden Aino-Skeleten und zwar beiderseits beobachtet worden ist‘), und die übrigens auch bei Europäern vorkommt; rechterseits ist davon bei unserem Skelet nichts zu sehen. Am Epistro- pheus ist der Processus spinosus nicht lang, aber verhältnissmässig sehr breit, dick, stark und (Aino); vrgl. dessen Tö-tals ki ko (Siebold, Nippen, | I. Hıena Aimmor» (Hsrber. Unu. Oö. aroöur. Eerecrnoan., VII, p. 194). Anrpon. u Iruorp. T. XX. Tpyası Aurpon. Ora. Ku. 2, 1) Nach Middendorff (Reise ete. Bd. IV, p. 1415) | Mocxsa 1876, erp. 142). ist ein kleiner Fuss in allgemeinerer Weise als die ver- 3) Negritos (Virchow), Kaffern und Hotten- schiedenartige Kopfbildung den Eingeborenen Sibirien’s, | totten (Fritsch); s. Anutschin,l. c. zumal den Samojeden und Tungusen eigen. 4) L. c. p. 143. 2) Anyumms, Marep. Aa anrpono.a. Bocroun, Asin, Giljaken. Skeletbau. 2417 nach unten dachförmig gespalten. An den folgenden Halswirbeln bis zum 5. ist der Dornfortsatz auch nur kurz, aber robust, mit mehr oder weniger deutlicher Zweispaltung; am 6. ist er be- sonders kurz und ohne Spaltung; am 7. hingegen robust und stark. An den Brustwirbeln sind die Processus spinosi zwar nicht besonders lang, aber diek und stark und (am 3. bis 7.) an der Spitze ansehnlich nach unten verlängert. An den Lendenwirbeln endlich sind sie ebenfalls nicht lang, aber stark und von oben nach unten verhältnissmässig breit. Das Kreuzbein besteht scheinbar aus 6 Wirbeln, indem der erste Steissbeinwirbel voll- ständig mit demselben verschmolzen ist, so dass vorn und hinten je 5 Foramina saeralia ent- stehen. Es ist wenig ausgebogen; die hintere Seite sehr rauh. Die Processus spinosi spurü sind, mit Ausnahme des obersten, sämmtlich mit einander verschmolzen, zu einer hohen, starken, nach unten an Dicke zunehmenden Leiste, die auf dem 4. Wirbel, über dem Hiatus canalis sacralıs, zu einer dicken, rundlichen, knopflörmigen Wulst anschwillt. Desgleichen nehmen die Processus obliqui spurii nach unten an Grösse zu und schliessen mit dicken, wulstförmigen Cornua sacralia, denen sich die aufwärts gerichteten Cornua coceygea des mit dem Kreuzbein verschmolzenen ersten Steissbeinwirbels so weit nähern, dass nur eine kleine Spalte zwischen bleibt. Die eben- falls zusammenfliessenden Processus transversi spurii bilden einen unebenen , wulstförmigen Rand am Kreuzbein. Die übrigen Stücke des Steissbeines sind an unserem Skelet nicht er- halten. Das Brustbein ıst auf seiner vorderen Fläche sehr rauh, namentlich das Manubrium. Dieses ist auch verhältnissmässig kurz. Der Processus xiphoideus fehlt uns. Die Rippen haben die normale Anzahl von 12 Paaren. An allen Rippen sind die Anguli deutlich; von der fünften ab sind sie oft in kleine Spitzen ausgezogen und von aussen mit rauher, wulstförmiger Erhabenheit versehen. Das Schlüsselbein ist stark und trägt am Acromialende eine ansehnliche, zu einer Protube- ranz angeschwollene Rauhigkeit. Das Schulterblatt ist am unteren Ende ungewöhnlich breit, gleichsam in eine nach vorn gebogene Platte ausgezogen, so dass der Margo anterior eine con- cave Linie bildet. Die Schultergräte ist stark; ihr hinterer Rand breit, nach abwärts ausgezogen, mit deutlich entwickelten Labien. Das Acromion ist stark und breit. Die Incisura scapularis schmal und tief!). Die Fossa subscapularis und die Fossa infraspinata haben, zumal am Rande, deutliche Muskelansatzflächen und Leisten. Das Oberarmbein ist im Verhältniss zu seiner Länge recht dick, der Gelenkkopf gross, die Tubercula minus und majus sind stark, die von ihnen herablaufenden erhabenen Linien, Spinae, und die rauhen Stellen am Oberarmbein sehr entwickelt. Am Vorderarm sind Ulna und Radius ebenfalls verhältnissmässig stark, mit ansehnlichen rauhen Erhabenheiten (Tuberositates ulnae et radii). Die Mittelhandknochen sind auf der Dorsalfläche, zumal in der ersten Hälfte, sehr rauh, auf der Volarfläche, mit Ausnahme des Daumenknochens, scharfkantig. An den Fingern 1) An den Aino-Skeleten beobachtete Anutschin (l. c. p. 144) das umgekehrte Verhältnis. Schrenck's Amur-Reise, Band III, 28 218 Die Völker des Amur-Landes. ist die erste Phalanx des Mittelfingers die längste; ihr folgt die der vierten und dann erst die- jenige des Zeigefingers. Ebenso ist die respective Grösse der zweiten Phalanx. Die Darmbeine sind in der Mitte sehr dünn, an den Rändern dick, mit ansehnlicher Crista, an welcher die Labien und Darmbeinstachel deutlich zu unterscheiden sind. Die Linea areuata ist scharf, besonders am Tuberculum iliopeetineum, stellenweise mit spitzigen Erhabenheiten. Die absteigenden Aeste der Schambeine sind sehr dünn. Das Foramen ovale ist gross, oval, oben weiter, unten enger. Das Oberschenkelbein hat in seiner Mitte nicht den von Anutschin!) am Aino-Skelet beobachteten Durchschnitt, indem dieser nahe dreieckig ist, vorn abgerundet, an den beiden Seiten abgeflacht; dabei ist der rechtsseitige Knochen in seiner Mitte eben so breit wie dick, der linksseitige dicker als breit. Die Linea aspera am Os femoris tritt sehr hervor, und zwar das Labium externum als scharfe Kante, das Labium internum als rauhe Linie. An der Tibia ist der Perimetralindex (Verhältniss des kleinsten Umfangs zur Gesammtlänge des Knochens) noch grösser, als ihn Anutschin bei den Aino-Skeleten fand, nämlich 0,233 °). Dabei ist die Tibia scharfkantig und die an ihrer Hinterfläche schräg hinabsteigende Linea poplitea sehr rauh- erhaben. Die Fibula ist ebenfalls scharfkantig, an den Ansatzstellen der Muskeln rauh, an der Innenseite zum Theil rinnenförmig. Am Calcaneus ist der hintere Höcker, der den unteren Rand der ansehnlichen und rauhen Tuberositas calcanei bildet, sehr bedeutend, ja, eigentlich sind es zwei durch eine kleine Vertiefung getrennte Höcker: ein äusserer, rauher, aber abgerundeter und ein innerer, nach vorn scharfkantiger. Der Mittelfussknochen der grossen Zehe hat ein be- sonders starkes Capitulum. Das Os metatarsi secundum ist das längste und die zweite Zehe über- haupt die längste von allen. Die Tuberositas an der Basis des Os metatarsi quinti ist ganz ansehnlich. Indem ich an die Angabe der Maasse des Giljaken-Skelets und seiner einzelnen Theile gehe, muss ich bemerken, dass manche derselben, wie die Gesammtlänge, die Länge der Wirbel- säule, manche Dimensionen am Becken, nur einen annähernden Werth haben können, da die Bandscheiben der Wirbelkörper und der Faserknorpel der Schambeinfuge durch Lederläppchen ersetzt sind. Indessen scheinen mir diese letzteren von ziemlich richtiger Dicke zu sein, so dass auch der durch dieselbe bedingte Fehler kein beträchtlicher sein kann ?). Maasse des Giljaken-Skelets und seiner einzelnen Theile. Gesammtlänge, vom Scheitel bis zur Fusssohle ...........e22-2e2eee220: (ER Länge der Wirbelsäule, vom Atlas bis zum Promontorium. .... 222222 c2220n. 551 » 4) L. c. p. 149, Fig. 7. 3) Länge und Breite der Knochen sind, sofern nicht 2) An den Aino-Skeleten betrug er nach Anutschin | das Gegentheil angegeben ist, geradlinig gemessen. (l. c. p. 151) 0,206—0,196. Giljaken. Skeletmaasse. 219 Länge ihrer einzelnen Theile, längs der Krümmung an der Innenseite gemessen: Betsktalswirbeler. 2. REIN, ee lee tr » Brustwirbel.......... 5 Ja ru, RN N Re A Er ie ME Länge des Kreuzbeines, vom Promontorium an, inel. den mit ihm verschmolzenen ersten Steissbeinwirbel............. a ra 2 » Lendenwirbel........... Dieselbe, längs der Krümmung an der Innenseite gemessen . Breite des Kreuzbeines oben... ........2r..0.. DREHTE BREI na ey > FD: KR) Länge des Brustbeines, ohne Processus xiphoideus..........22ereeeneeenn 136 » VE 7 ManubwmamWaterBis une sans asenen denne Fe EL CHEIUSSStErDE ee nennen nee alien ent. 94 » Be schlüssalbemnesit ir. sn Sets kilealnint ne) 1335) 2 SP ERS Bari EL NER SEN LE SEsles Marso anterior scapulae ce Joe ndenuen wre cenns anne nen » » » superior, bis zur Basis des Processus coracoideus...........- 5» DD CLOMIORU NT da een nenne nee ee 53 » » der oberen Extremität (Oberarm -+ Vorderarm + Hand). ............. 729 » » des Oberarmbeines in der Mittellinie ........cccccoeeeeenennen een Umfang des Gelenkkopfes an seinem äusseren Rande. .........-reren rn o ? 135 » » der Diaphyse unterhalb des Gelenkkopfes, am Foramen nutritium ...... 76 » » des Humerus in der Mitte ......-..2..25ce2 00 s0a0 rennen 69 » Kleinster Umfang desselben... . .... „u... 2.2.0 nenn een as dadenes 65 » Länge der Ulna in der Mittellinie ........2+@esesaescrerseree er ... 252 » -» des Radius » » NE EEE ERERT EIG: 1641280» » der Hand bis zur Spitze des Mittelfingers..........--eeccecceeen ae: I) 2 Jse Dispo u Be Re EEE FRE RLETT 30 » EEE MERRCALDEIS =. na sw dd ae ne SE NR 60 » Be ittelinens: 8.2 02.200 SE en ee ann 80 Querdurchmesser des grossen Beckens zwischen den Labia interna cristae oss. ilium 247 » » zwischen den Spinae anteriores superiores oss. llium......... 236 » Entfernung von der Spina anterior superior ossis ilium bis zur Mitte des oberen Baadessder; Symphysis’pahls 82 di eo same san uses na 10762 » von der Spina anter. super. bis zum Tuberculum iliopectineum...... 88 » » vom Tuberculum iliopectineum bis zur Mitte der Symphysis pubis... 66 » Gerader Durchmesser vom Promontorium zum oberen Rande der Symphysis pubis RES A Ei 4) Dieses Maass konnte nur ungefähr bestimmt wer- | schadhaft ist. den, da das Schlüsselbein beiderseits an dem einen Ende 28* 2320 Die Völker des Amur-Landes. Querdurchmesser zwischen den Lineae arcuatae interiores oss. ilium (Diam. transversa) 118 "“ Schräger Durchmesser zwischen Tuberculum iliopectineum und Symphysis sacro- lliaca-der anderen Stite (Diam. obliqua)... ..... 2... u4......... A120 Gerader Durchmesser von der Vereinigung des 2. und 3. Kreuzbeinwirbels zur Mitte der hinteren Fläche der Symphysis pubis.......... 2 Eheyeln 8,202 ana TER Querdurchmesser zwischen den Spinae uschin }) „= ua end ee 35 » » » den»Tuberaaschieg „air re ce 36 » Länge der unteren Extremität (Oberschenkel + Unterschenkel + Höhe des Fusses) 759 » Länge des Oberschenkelbeines, vom Trochanter major an..2...2.2222e220.20. 383 » Umfang ddesiGaput ’ossis femorisr ne ae ones ne nen ee ee A » » Collumossis Vemonis a Sen ee er SE 97 » » >. Os-Temoris.in ‚seiner Mitten. ea ce ern 89 »?) Längerder ‚Batella 7 .......2.2..2.0 000.00 Kon er ee 45 » Breitetderselben ..2.2 3 le) ana ne Re EEE ERSTE #7» Grösste ‘Dieke. der. Patellä . net. ss. enee Ae n e e Längetder-Tıbia in. der Mittellinie... „cu... 0. 2.200. 2.0 0.0 0 ee Be: Umfane;derselben in-der, Mikte. 1.2 2er. seen ar ee 50 » Kleinster/Umfans, derselben ......0. 2%. .3.22 20.2 enese MS ne. 73» Längel’der Kıbula an ‚der Mittellinie... ..... 2. 2% 2008 sonne are ee Umfanz\derselben in der Mitten = m. .n min see ee 36 » Kleinster Umfang\derselben.. 4... u. 0as sur a ee 35 » Länge des Fusses von der Tuberositas calcanei bis zur Spitze der 2. (längsten) Zehe 215 » » DESTALSUS Peer een ee ee en a a ET ET) D3 #398 MELATALSUS Eee erererrern ge een Den Reden ST ER 68 » > der zweitensZehe.. 2. sry c2o Banden ar LE EN 32» Höhe fdes Russesn/e ne nn Re ne ER EEE 63 » Dr #07 Caleaneussan der, Tuberositas?. . or... 2 0 a 45 » Nach den obigen Maassen war das Individuum von kleinem Wuchse, unter fünf Fuss, wo- gegen der Kopf, wie die später folgenden Schädelmaasse zeigen, verhältnissmässig gross er- scheint. So wenig ferner die Maassverhältnisse eines einzelnen Individuums für den Bau des ganzen Volkes maassgebend sein können, so will ich doch hervorheben, dass die Grössenver- hältnisse der Extremitäten an unserem Giljaken-Skelet sich sehr nahe und am nächsten den- jenigen anreihen, welche Anutschin an zwei Skeleten, einem männlichen und einem weiblichen, 1) Die Spitzen der Spinae ischii sind abgebrochen, | Oberschenkelbeines. Letzteres ist an dieser Stelle an der weshalb dieses Maass um ein paar Mm. zu gross sein | rechten Seite 28mm dick und eben so breit, an der linken dürfte. 29mm dick und 27 breit (s. oben, p. 218). 2) Dies ist zugleich auch der kleinste Umfang des Giljaken. Grössenverhältnisse der Extremitäten. Hautfarbe. 221 von Sachalin-Aino fand. Gleichwie bei diesen, erscheint auch bei unserem Giljaken die obere Extremität verhältnissmässig lang, die untere kurz, was vornehmlich durch die im Ver- hältniss ansehnliche Länge des Radius und resp. Kürze des Femur, und in geringerem Grade auch der Tibia, bedingt wird. Zum Belege möge folgende Zusammenstellung dieser Grössenver- hältnisse bei unserem Giljaken mit den von Anutschin bei den Sachalin-Aino gefundenen dienen. In Procenten des Gesammtwuchses ausgedrückt, ist die Länge der einzelnen Extremi- tätenknochen: Humerus Radius Femur Tibia bei unserem Giljaken 19,6 15,0 25,0 20,4 männl. 19,4 14,6 26,5 21,2 15,1 bei den Aino h ( weibl. 19,1 24,2 20,3') Setzt man die Länge der unteren Extremität (Femur -+- Tibia) = 100, so beträgt die- jenige der oberen (Humerus -+ Radius): beim Giljaken 76,3 bei den Aıno | van > weibl. Li) Im Verhältniss zur Länge des Humerus (— 100 gesetzt) beträgt endlich diejenige des Radius: beim Giljaken 76,4 männl. 75,5 ! bei den Aino ; l weibl. 80,7?) Allgemeinere Schlüsse wird man jedoch aus diesen Einzeldaten selbstverständlich noch nicht ziehen dürfen. Die Hautfarbe der Giljaken ist immer mehr oder weniger gelblich, oft recht dunkel, gelbbräunlich. Bei Männern und bei alten Individuen fand ich sie dunkler als bei Frauen und Kindern; die letzteren und die Mädchen auch in der Jugend sehen zuweilen recht weiss und sogar etwas rothwangig aus. Uebrigens hält es in der Regel sehr schwer, über die Hautfarbe der Giljaken, gleichwie auch anderer unter ähnlichen Verhältnissen lebender Völker, zu urtheilen, da man bei ihrer Unsauberheit, ja ihrem Abscheu vor dem Waschen nicht weiss, wie viel vom dunklen, zuweilen in’s Schwärzliche schlagenden Teint auf Rechnung des angesammelten Schmutzes zu schreiben ist). Nicht wenig mag dazu namentlich auch ihr vielfacher Aufenthalt 4) Zum Vergleich führt Anutschin (l. c. p. 145) unter 4) Sollten die giljakischen Frauen im Allgemeinen auch vielen anderen Daten an, dass dieselben Grössen nach | reinlicher als die Männer sein — was mir noch zweifel- den von Humphry (A Treat. of the hum. skel. Cambr. | haft erscheint — so müssten sie sich in einem halben Jahr- 1858, p. 106) an 25 europäischen Skeleten ausgeführten | hundert doch sehr verändert haben, wollte man der An- Messungen im Mittel betrugen: Humerus 19,5, Radius 14,1, | gabe Mamia Rinsö’s Glauben schenken, der ihnen nach- Femur 27,5, Tibia 21,1. rühmt «durch tägliches Waschen sei ihr Angesicht und 2)BeiEuropäern (nach Humphry, s. Anutschin)67,8. | ihre Haut ausnehmend zart und schön» (Tö-tats ki ko, bei 3) Bei Europäern (nach demselben) 74,8. Siebold, Nippon, VII, p. 191). 222 Die Völker des Amur-Landes. in raucherfüllter Luft beitragen, wie es im Winter die auf Sachalin noch meist üblichen Erd- jurten, im Sommer das Bedürfniss, sich der lästigen Mücken zu erwehren, mit sich bringen. Ich bin einmal Zeuge des seltenen Schauspieles gewesen, ‚wie eine Mutter ihren etwa fünf- oder sechsjährigen Jungen der mühsamen Operation des Gesichtwaschens unterwarf: sie bediente sich dabei nur des im Munde bereitgehaltenen Wasservorraths und fuhr dem heftig widerstrebenden und aus Leibeskräften brüllenden Rangen mit der flachen Hand über das Gesicht auf- und ab- wärts. Das Resultat war nichtsdestoweniger, dass der vordem schwärzliche Teint wenigstens stellenweise einer ganz leidlich weissen und, vielleicht in Folge der Reibung und des Affektes, sogar etwas rothwangigen Gesichtsfarbe wich. Hinsichtlich des Haarwuchses nehmen die Giljaken gewissermassen eine mittlere Stellung zwischen den tungusischen, mongolischen und anderen sibirischen Völkern einerseits und den Aino andererseits ein, jedoch so, dass sie den ersteren entschieden näher stehen als den letzteren: der Haarwuchs ist bei ihnen im Allgemeinen stärker als bei jenen und um Vieles schwächer als bei diesen. Dies gilt sowohl von dem Haupt-, wie namentlich von dem Barthaar. Das Haupt- haar, das auch bei den erstgenannten Völkern von ansehnlicher Länge und Dichtigkeit ist, dürfte bei den Giljaken vielleicht nur noch ein wenig stärker sein, ohne aber je die Fülle wie auf den Aino-Köpfen zu erreichen. Der Bartwuchs zeigt grössere Differenzen: er ist bei den Gi- ljaken um den Mund, am Kinn und an den Backen weit stärker als bei den nicht selten ganz bartlosen Tungusen und Mongolen. Dennoch bleibt der Bart auch bei ihnen sehr undicht, kurz und struppig und kann sich niemals auch nur im Entferntesten mit dem langen, dichten Schnurr- und Kinnbart der Aino oder mit dem eben so langen und dichten und dabei oft noch weich- und kraushaarigen Barte mancher Europäer messen. Schön nach unseren Begriffen ist der Bart bei den Giljaken niemals. In der Regel am schwächsten ist namentlich die Partie um den Mund. Middendorff giebt die Länge des Schnauz- und Kinnbartes bei einem Giljaken am Öchotskischen Meere auf 1'/, Zoll an; ich habe bei Giljaken am Amur wie auf Sachalin nicht selten auch Kinnbärte von grösserer Länge gesehen, die aber stets an den oben erwähnten Mängeln litten. Uebrigens lassen sich gerade auch im Bartwuchs nicht unbeträchtliche Verschie- denheiten unter ihnen beobachten, die mit den später zu besprechenden mehrfachen Typen in ihrer Gesichtsbildung zusammenfallen. Ueberhaupt ist alles Haar der Giljaken schlicht, hart und an Farbe völlig schwarz. Blonde oder rothhaarige Individuen sind mir nicht begegnet. Dabei erhält sich das Haarpigment in der Regel bis zum hohen Alter; doch habe ich unter ihnen auch manche grau-, ja selbst ganz weisshaarige alte Häupter gekannt. In den Gesichtszügen der Giljaken spricht sich im Grossen und Ganzen der sogenannte mongolische Typus aus: rundes, flaches Gesicht, niedrige Stirn, vorragende Backenknochen, schiefgeschlitzte Augen, kurze, dünne Nase, dazu der oben erwähnte schwache Bartwuchs und gelbliche Teint. Doch muss ich sogleich bemerken, dass sich dieser Typus bei ihnen keineswegs rein ausgeprägt findet; vielmehr kommen so ansehnliche und so häufige Abweichungen von dem- selben bald in einzelnen Gesichtszügen, bald auch in der Gesammterscheinung vor, dass man, um eine richtige Vorstellung von der Gesichtsbildung der Giljaken zu gewinnen, nothwendig mehrere Typen Giljaken. Gesichtsbildung. Drei verschiedene Typen. 223 unter ihnen unterscheiden muss. Mir sind in dieser Beziehung, von individuellen Verschiedenheiten abgesehen, drei deutlich markirte Typen entgegengetreten: zwei gewissermassen extreme Bil- dungen, die jedoch keineswegs vereinzelt dastehen oder Ausnahmefälle bilden, sondern oft genug sich wiederholen, um als typisch betrachtet zu werden, und eine dritte, mittlere Form. Die beiden ersteren lassen eine starke Annäherung an die Aino, respective die Tungusen, die beiden Nachbarstämme der Giljaken, erkennen und können daher als ainisch-giljakischer und tungusisch-giljakischer Typus unterschieden werden; der dritte Typus, den ich den mittleren oder schlechtweg giljakischen nennen möchte, zeigt die oben kurz angedeutete, aber ihrer Schroffheiten beraubte und durch fremdartige, ebenfalls ainische Anklänge gemilderte und modifieirte mongolische Gesichtsbildung. Die nach Photographien entworfenen Figg. 1—3 auf unserer Taf. II können als Repräsentanten dieser drei Typen gelten '). Beim ainisch-giljakischen Typus verschwindet der mongolische Charakter der Ge- siehtsbildung fast gänzlich: das Gesicht ist nicht rund, sondern länglich oder oval, die Stirn nicht zurückweichend, die Backenknochen treten keineswegs auffallend hervor, die Nasen- wurzel ist ziemlich hoch, der Nasenrücken ansehnlich gewölbt, die Augen sind fast oder ganz gerade gestellt, die Augenbrauen stark und scharf markirt, der Bart mässig stark. Man könnte geneigt sein solche Gesichter für kaukasische zu halten, und Middendorff, der ihnen unter den Giljaken am Tugur-Busen begegnete, bezeichnet sie auch als solche und leitet sie von einer starken Vermischung der Eingeborenen mit den russischen Abenteurern im XVH. Jahrhundert, zur Zeit der Besitzuahme des unteren Amur-Landes durch die Letzteren, her?). Da der Tugur-Busen die äusserste, den russischen Besitzungen am meisten genäherte Grenze des Giljaken-Gebietes bildet, so lag eine solche Vermuthung nicht ganz fern. Ich habe jedoch Giljaken von derartiger, auf den ersten Blick anscheinend fast kaukasischer Gesichtsbildung allenthalben auch im übrigen Verbreitungsgebiete dieses Volkes angetroffen, am Amur wie auf Sa- chalin, wo von einer russischen Beimischung nicht wohl die Rede sein kann. Hingegen erinnere ich daran, dass die südlichen Grenznachbaren der Giljaken auf Sachalin, die Aino, zum grossen Theil so wenig mongolische und so sehr an die kaukasischen Völker erinnernde Gesichtszüge 4) Die im Atlas zu Maack’s Reise auf dem Amur (Araacs kb uyrem. ua Anyp®), Taf. XVII, Fig. 14 und 15 wiedergegebenen Giljaken-Köpfe, eines Mannes und ei- nes Weibes, haben keinen Werth, da sie nicht auf Photo- - graphien beruhen, sondern nur auf Handzeichnungen, die der verstorbene Maler G. Meyer entworfen hat, und die später, ohne dessen Wissen, in Paris lithographirt worden sind. Dasselbe gilt auch von allen übrigen Darstellungen der Physiognomien der Amur-Völker auf dem erwähnten Blatt: an wem auch die Schuld liegen mag, sie sind sämmt- lich mehr oder weniger verzeichnet und geben kein rich- tiges Bild von den Gesichtszügen der betreffenden Völker, weshalb ich sie weiterhin nicht berücksichtigen werde. Ebenso unbrauchbar, weil nicht auf Photographien beru- hend, sind in physiognomischer Hinsicht die Abbildungen in dem so splendid ausgestatteten Werke von Pauly (De- scription ethnographique des peuples de la Russie, St. Pe- tersbourg 1862), das in Beziehung auf die Amur-Völker die vollen Gestalten eines Giljaken-Mannes und Weibes, eines Aino von den Kurilischen Inseln und eines Negda (unter der fehlerhaften Bezeichnung «Nendale», russ. «Henaarene») giebt. Sie könnter höchstens als Cos- tumbilder gelten, sind aber auch als solche nicht ganz correkt. 2) Reise etc. Bd. IV, p. 1406. Es gab, sagt Midden- dorff, unter den dortigen Giljaken Gesichter, die bei europäischer Kleidung von Europäern nicht zu unter- scheiden gewesen wären. 2234 Die Völker des Amwr-Landes. haben!), dass sie, wie wir später sehen werden, von manchen Reisenden für ein Volk von kaukasischer Race gehalten worden sind. Mit den Aino haben die Giljaken auch nicht bloss in kurzer, vorübergehender und vereinzelter, sondern in Jahrhunderte langer, beständiger und vielfacher Berührung gestanden. Und zwar gilt dies nicht bloss von den Giljaken von Sachalin, deren Verkehr mit ihren Nachbaren selbstverständlich unausgesetzt, bald in friedlicher, bald in feindlicher Art stattfand, sondern auch von denen des Festlandes, die noch heutzutage ihre alt- hergebrachten und gewohnten Handelsreisen zu den Aino machen, wobei sie nicht selten unter ihnen überwintern oder selbst mehrere Jahre zubringen und unter den erhandelten Waaren auch manches Aino-Weib, sei es zur Ehe, sei es, wie wir später sehen werden, als Sklavin heimbringen. Ich habe selbst Giljaken aus solchen Mischehen gekannt; so z.B. war die Mutter des reichen und unter seinen Landsleuten angesehenen Giljaken Judyn in Tebach ein Aino- Weib. Man darf also, glaube ich, mit Recht diesen Typus der Gesichtsbildung unter den Gilja- ken auf ihre langjährige und starke Vermischung mit ihren südlichen Nachbaren, den Aıno, zurückführen. Den grössten Contrast zum ainisch-giljakischen Typus bildet der tungusisch-giljaki- sche, der in unserer Fig. 2 einen ausgezeichneten Repräsentanten hat. Man wird ihn von einem Tungusen nicht unterscheiden können. Die diesem Volke zukommenden mongolischen Ge- sichtszüge sind bei ihm im vollsten Maasse ausgeprägt: das Gesicht ist rundlich, die Stirne schmal und zurücktretend, die grösste Breite des Gesichts liegt in den stark hervortretenden Backenknochen, die Augen sind durch die am inneren Winkel herabfallende obere Augenliedfalte auf schmale, schiefe Schlitze redueirt, die Augenbrauen nur schwach angedeutet, die Nasenwurzel ist eingedrückt und fast ganz platt, der Nasenrücken kaum gewölbt, die Nase breit und dünn, das ganze Gesicht bartlos. Man darf natürlich nicht erwarten, diesen Typus unter den Giljaken immer so scharf ausgeprägt zu finden, wie ihn die Figur 2 wiedergiebt; dennoch sind Gesichter mit ausgesprochen tungusisch-mongolischen Zügen in allen Theilen des giljakischen Gebietes oft genug anzutreffen. Und die Erklärung davon ist auch gewiss nicht schwer zu finden, indem die Giljaken, so weit ihr Land nicht vom Meere bespült wird und mit alleiniger Ausnahme ihrer Aino-Grenze, durchweg von tungusischen Völkern umgeben sind und Mischehen zwischen ihnen zu den gewöhnlichen Dingen gehören. So war, um nur ein paar mir selbst bekannte Fälle der Art anzuführen, der Giljake Poswein, der einzige seines Stammes, der zur Zeit meines Aufenthaltes im Amur-Lande das Russische so weit sich angeeignet hatte, dass er zur Noth als Dolmetscher dienen konnte), von Geburt ein Mischling, indem sein Vater ein Tunguse aus dem Udskoi-Gebiet war, der seine Heimath seit vielen Jahren verlassen und unter den Giljaken am Amur sich eine Familie gegründet hatte®). Eines anderen Falles ist oben schon erwähnt 4) Man vergleiche unter Anderem auch unsere Taf.IV. | keit und Willkürlichkeit seiner Angaben bald merkte. 2) Als solcher wurde er auch allgemein gebraucht, um 3) Hepmukunn, Ilyres. »xypn. 1a. ıo p. Anypy (3au. Auskunft über Land und Leute zu erhalten. Ich selbst | Cn6. Ora. Hhnn. Pycer. Teorp. O6. Kun. II, €. Ierep6. wandte mich anfangs auch an ihn, wiederholte jedoch den | 1856, crp. 76). Versuch nicht zum zweiten Male, da ich die Unzuverlässig- Giljaken. Physiognomische Typen. Gesichtsbildung der Weiber. 225 worden, ich meine des Giljaken von Kaberazbach, dessen Frau ein Oltscha-Weib war!). Und ähnlicher Beispiele giebt es viele. Beim dritten Typus, der in unserer Fig. 3 und im Profil auch in der Fig. 4 vertreten ist, hat die Gesichtsbildung im Ganzen ebenfalls ein mongolisches Gepräge, aber in viel gemilder- terer Form und mit einigen Anklängen an die Aino. Das Gesicht ist ebenfalls rundlich, die Backenknochen sind zwar auch breit und stark, springen aber lange nicht so hervor, die Augen sind in der Regel etwas schief gestellt, aber von markirten, starken Brauen überschattet, die Nasenwurzel ist weniger eingedrückt, der Nasenrücken höher gewölbt, der Bartwuchs in der Regel um Vieles stärker als bei den Tungusen. Letzteres ist freilich aus unseren Abbildungen nicht oder nur kaum zu ersehen, so dass sie in dieser Beziehung nicht ganz typisch sind. Doch giebt es zwischen den verschiedenen Typen der Uebergänge und Zwischenformen so viele und so mannigfaltige, dass eine scharfe Abgrenzung derselben überhaupt nicht möglich ist. Bildet doch dieser dritte Typus überhaupt gewissermassen nur eine Mittelform zwischen den beiden erstgenannten. Dennoch lässt er sich nicht ohne Weiteres auf jene zurückführen und ist anderer- seits so zahlreich und so häufig unter den Giljaken vertreten, dass eine Unterscheidung dessel- ben, mit der Bezeichnung des schlechtweg giljakischen, dadurch hinlänglich motivirt erscheint. Auch er weist also auf eine, wenn auch im Vergleich mit den beiden anderen Typen geringere oder entferntere‘ Vermischung mit tungusischen und ainischen Elementen hin. An den giljakischen Weibern lassen sich die drei eben besprochenen Typen der Gesichts- bildung lange nicht in demselben Maasse wie an den Männern unterscheiden. Dazu trägt wesent- lich schon der Umstand bei, dass das eine, besonders für den ainisch-giljakischen Typus und in geringerem Grade auch für die Mittelform im Gegensatz zum tungusisch-giljakischen Typus so maassgebende Moment des stärkeren Bartwuchses ganz wegfällt. Davon abgesehen, scheinen aber auch in den übrigen Charakteren die Differenzen geringer zu sein. Die Weiber haben fast ‚durchweg eine ausgesprochenere mongolische Gesichtsbildung als die Männer. Middendorff sagt zwar, dass von den beiden Frauen eines Giljaken vom Tugur-Busen, die er gesehen, die eine «nach unseren Begriffen schön genannt werden konnte»°), also, dürfen wir schliessen, keine vorspringenden Backenknochen, keine schief geschlitzten Augen u. s. w. hatte; allein man darf annehmen, dass sie dem Reisenden in sofern in günstigerem Lichte erscheinen musste, als die andere dieser Frauen nach seinem Zeugniss ganz im Gegentheil «eine extrem-chinesische Schönheit hätte vorstellen können», also die schief geschlitzten Augen ete. im höchsten Grade besass. Man wird daher nicht irren, wenn man auch bei der ersteren noch keine kaukasischen, sondern nur stark gemilderte mongolische Gesichtszüge voraussetzt?). Doch sind auch solche unter den giljakischen Weibern nur selten, während umgekehrt ganz ausgeprägt tungusisch- mohgolische Physiognomien sehr oft vorkommen. In der Regel ist das Gesicht der Giljakinnen, 1) S. oben, p. 16. schen Frauen rühmt, sagt von ihnen dennoch, dass sie den- 2) Reise etc. Bd. IV, p. 1406. jenigen der «Orotsko», also tungusischen Frauen sehr 3) Auch Mamia Rinsö, der die Schönheit der giljaki- | gleichen (Tö-tats ki ko, bei Siebold, Nippon, VII, p. 191). Schrenck's Amur-Reise, Band III. 29 226 Die Völker des Amur-Landes. wie auch aus den Figuren 1— 4 auf unserer Taf. I]l ersichtlich, rund, ja, nach Middendorff’s Ausdruck, ein «fast kreisförmiges Vollmondgesicht», dabei flach, mit vortretenden Backen- knochen, schief gestellten Augen, eingedrückter Nasenwurzel und breiter, oft so niedriger Nase, dass sie in der Profilansicht zwischen den Backenknochen ganz oder fast verschwindet. Gemein- sam mit den Männern aller drei Typen haben auch die giljakischen Weiber immer schwarze Augen, dünne, selten etwas angeschwollene Lippen (Fig. 3) und ansehnlich grosse Ohren. Zu den letzteren mag übrigens den Weibern zum Theil auch die Sitte verhelfen, in den Ohrläpp- chen mehrere grosse silberne oder kupferne, zuweilen mit Glaskugeln beschwerte Ringe zu tragen. Doch sind die Ohren keineswegs abstehend, was vielleicht dem Umstande zuzuschreiben sein dürfte, dass die Giljaken, gleichwie auch ihre tungusischen Nachbaren am Amur, den Kopf des Säuglings mit einer eng anliegenden Kappe zu bekleiden pflegen. Gleichwie die Weiber, so haben endlich auch die Kinder bei den Giljaken in der Regel eine ausgesprochenere mon- golische Gesichtsbildung als die Männer. Bei so grosser typischer Verschiedenheit in der Gesichtsbildung der Giljaken, ist natürlich auch der allgemeine Gesichtsausdruck bei ihnen ein sehr verschiedener. Selbstverständlich ist es nicht möglich, ihn auch in dieser Begrenzung so zu fixiren, dass nicht eine Menge von Aus- nahmen vorkommen sollten. Aus persönlicher Bekanntschaft mit einer grossen, vielleicht mit der Mehrzahl der Giljaken habe ich jedoch den Eindruck davongetragen, dass in ihrem Gesicht, bei gewöhnlichem, schlechtweg giljakischem Typus, in der Regel der Ausdruck von Energie und Entschlossenheit, oft auch von List, Verschmitztheit und Tücke liegt. Nähert sich das Gesicht mehr dem tungusischen Typus, so spricht sich in demselben auch mehr von der den Tungusen eigenthümlichen Indolenz und Gutmüthigkeit aus. In den Gesichtern von ainisch- giljakischem Typus habe ich hingegen sehr oft als allgemeinen Ausdruck etwas Gedrücktes, Finsteres, Melancholisches gefunden. Die giljakischen Weiber endlich tragen in ihren frühe und rasch verblühender Gesichtern vor Allem die Spuren der schweren häuslichen Mühen und Ar- beiten, mit denen sie im Uebermaass belastet sind: sie sehen meistens ernst, müde und gedrückt aus. Diese Bemerkungen können jedoch — ich wiederhole es — keine Ansprüche auf Allgemein- gültigkeit haben. Und dies noch aus dem Grunde, weil bei den Giljaken, neben den besproche- nen typischen Diflerenzen in der Gesichtsbildung, auch die individuellen Verschiedenheiten für ein uncivilisirtes Volk verhältnissmässig sehr ansehnlich sind. Es ist von Reisenden wiederholt bemerkt worden, dass ihnen die einzelnen Individuen eines uncivilisirten Volkes beim ersten Anblick desselben von solcher Aehnlichkeit unter einander erschienen, als ob sie sämmtlich ein und dasselbe Gesicht hätten, und dass es erst einer Gewöh- nung und Schärfung des Auges bedürfe, um die individuellen Verschiedenheiten unter ihnen wahrnehmen zu können'). Nicht anders verhält essich ja auch mit dem Ohr, das erst durch Ue- 4) Sehr trefflich sagt z. B. Middendorff (Reise etc. | allmählich der Blick des Schäfers entwickelt, der unter Bd. IV,p. 140%), ein solches Volk erscheine dem Reisenden | Hunderten von Thieren seiner Heerde jedes einzelne an anfangs wie eine Heerde von Schafen, bis sich bei ihm | seiner besonderen Physiognomie erkennt. Zahlreiche Be- Giljaken. Gesichtsbildung. Ausprägung individueller Verschiedenheiten. 227 bung und Schärfung die Fähigkeit gewinnt, die eigenthümlichen Laute einer ihm ganz fremden Sprache richtig aufzufassen). Ich muss gestehen, dass ich beim ersten Anblick der Giljaken ebenfalls den Eindruck von einer gewissen Gleichförmigkeit ihrer Physiognomien erhielt. Spätere Erfahrungen lehrten mich jedoch erkennen, dass die individuellen Differenzen in der Gesichts- bildung und dem Gesichtsausdruck bei ihnen weit ansehnlicher als bei den übrigen Amur- und wohl auch bei den meisten sibirischen Völkern sind. Und der Grund davon ist leicht ersichtlich. Lässt sich die Gleichförmigkeit der Physiognomien eines uneivilisirten Volkes aus der Gleich- förmigkeit der geistigen Bildung oder richtiger Unbildung aller seiner Individuen, der Gleich- förmigkeit ihrer Lebensweise und Beschäftigungen, ihrer Anschauungen, Vorstellungen und Begriffe, dem Mangel jeglicher socialer und ständischer Gliederung, kurz aus der mangelhaften Ausprägung geistiger Individualität erklären ?), so steht es um die Giljaken in dieser Beziehung um Vieles günstiger und besser als um die anderen Amur- oder manche sibirische Völker. Ungleich den tungusischen Wald- oder den mongolischen Steppenbewohnern, die nur eine Natur und eine Beschäftigung kennen, sind die Giljaken bald Fischer und bald Jäger, bald am Strom oder an der Meeresküste, bald im Wald und Gebirge; im Sommer zu Boot, im Winter auf hundebespannten Schlitten führen sie weite Reisen bald zu den Mandshu und Chinesen, bald zu den Japanern aus, durchziehen dabei die Gebiete mancher anderen Völker, der Oltscha, Golde, Aino u. s. w., und bringen neben dem Absatz eigener Waaren auch einen Austausch der Produkte zwischen jenen Culturvölkern Ostasiens zu Wege. Dazu kommt, dass sie sich in ihren Grenzen frei von der Herrschaft dieser letzteren zu machen oder zu erhalten gewusst haben, während fast alle anderen Amur-Völker ihrem Drucke mehr oder weniger unterlegen sind. Im Gefühl und Bewusstsein dieser Freiheit, die ihnen den vollen Gewinn ihrer Unterneh- mungen sichert, liegt ohne Zweifel der mächtigste Hebel derselben. Selbstverständlich müssen aber solche Unternehmungen zur Erweiterung des geistigen Gesichtskreises, zum An- und Um- satz von Erfahrungen, Anschauungen und Begriffen, zur Entwickelung des Charakters u. s. w. führen, und da sie nicht von Jedermann und auch nicht immer in gleichem Umfange ausgeführt werden können, so haben sie nothwendigerweise eine Ausbildung geistiger und physischer Ver- schiedenheiten im Volke, eine gewisse und nicht unbedeutende Ausprägung geistiger Individuali- tät zur Folge. Zugleich mussten diese Fahrten den Giljaken Gelegenheit bieten, neben den Handelsverbindungen auch manche Verwandtschaftsbande mit ihren Nachbarvölkern anzuknüpfen und so ihren Familien immer mehr und mehr fremdartige Elemente zuzuführen. Nun meint zwar Middendorff, dass bei Vermischung von Nomaden oder überhaupt unciyilisirten Völkern keine so verschiedenartigen, unentwirrbaren, Einiges vom Vater, Anderes von der Mutter ent- lehnenden Zwischenglieder wie bei eivilisirten Völkern entstehen, sondern dass die Mischlinge lege solcher Gleichförmigkeit der äusseren Erscheinung | zeichnungen giljakischer Wörter später in ihren Lauten bei uneivilisirten Völkern s. bei Waitz, Anthropol. der | vielfach und von Grund aus zu berichtigen, resp. zu ver- Naturvölker. Zweite Auflage, verm. und herausgeg. von | ändern. Dr. G. Gerland. 1. Thl, Leipzig 1877, p. 74M. 2) Vrgl. Waitz,l. c. p. 77. 1) Ich sah mich z. B. genöthigt, meine ersten Auf- 228 Die Völker des Amur-Landes. derselben mit grosser Einseitigkeit ganz in den Typus des Vaters oder der Mutter zurück- schlagen'). Es mag dies auch in der That dort seine Richtigkeit haben, wo sich, bei völliger Gleichförmigkeit des physischen und geistigen Daseins unter allen Individuen eines Volkes, eine grosse Constanz des Typus festgestellt hat. Wo hingegen, wie unter den Giljaken, jene Gleich- förmigkeit in dem Maasse nicht besteht, wo vielmehr schon eine gewisse geistige und damit auch physische Individualität sich ausprägt, da müssen auch die Resultate der Mischung denjenigen, die man bei den Culturvölkern wahrnimmt, näher kommen. Und so mussten also die vielfachen Vermischungen der Giljaken mit ihren Nachbarvölkern, den Aino und den verschiedenen tungusischen Stämmen, nicht bloss jene oben besprochenen Typen verschie- dener Gesichtsbildung unter ihnen herbeiführen, sondern zugleich auch das Maass der individu- ellen Verschiedenheit im ganzen Volke um Vieles vergrössern. So viel über die Gesichtsbildung der Giljaken nach lebenden Individuen. Es bleibt mir nun noch übrig, die osteologischen Verhältnisse des Gesichts und des gesammten Schädels der Giljaken genauer zu betrachten, — Verhältnisse, auf die man bei Erwägung der Frage nach der Stammesangehörigkeit eines Volkes das meiste Gewicht zu legen pflegt. Mir liegen vier au- thentische Giljaken-Schädel vor, drei männliche und ein weiblicher, — so viel ich weiss, die ersten, die bisher nach Europa gelangt sind. Allerdings ist ein angeblich diesem Volke gehöriger Schädel nacheinander von Pruner-Bey°) und von Barnard Davis?) beschrieben und von Letzterem auch abgebildet worden; desgleichen hat Virchow nach einem Gypsabguss einige Bemerkungen über denselben veröffentlicht ‘). Allein es lässt sich unzweifelhaft nachweisen, dass dies kein Giljaken-Schädel war. Die Geschichte desselben ist nach Barnard Davis folgende. Ein polnischer Exilirter, H. Weber, fand ihn im Jahre 1858 in der Umgegend des Kidsi- Sees°) im Amur-Lande und schickte ihn einem anderen Exilirten, A. Giller in Irkutsk, zu, der ihn zwei Jahre später nach Europa brachte und seinem Freunde und Verwandten, Dr. Isid. Kopernicki in Warschau, später in Bukarest und Krakau, schenkte. Von Letzterem erhielten ihn zeitweise Pruner-Bey ih Paris und Barn. Davis in London; auch theilte er einen Gyps- abguss von demselben Virchow mit°). Hr. Weber stiess auf den Schädel in einem Walde, wo er ihn in den Zweigen eines Baumes hängen sah. Da es nun aber um den See von Kidsi, wie oben dargethan, durchaus keine Giljaken giebt, ihr Gebiet vielmehr erst um ein gutes Stück weiter abwärts am Amur beginnt, sie auch ihre Leichen verbrennen — weshalb es überhaupt so schwer hält Giljaken-Schädel zu bekommen — so liegt gar kein Grund vor, den fraglichen Schädel für einen giljakischen zu halten. Hingegen ist oben schon mehrfach erwähnt worden, dass die Eingeborenen von Kidsi und der Umgegend, die Oltscha, von den Russen oft mit den 4) Middendorff, Reise etc. Bd. IV, p. 1404. und Urgesch. 1873, p. (135)fl. (Zeitschr. für Ethnologie, 2) Bullet. de la Soc. d’Anthropol. de Paris, 1867, Ser. | Bd. V, 1873). II, T. II, p. 571. 5) Bei B. Davis, und nach ihm auch bei Virchow, 3) Account of the Skull of a Ghiliak (Memoirs read be- | lautet der Name des Sees etwas entstellt «Kizia». fore the Anthropol. Soc. of London, Vol. III, 1870, p. 366 fl.). 6) Verhandl. der Berliner Ges. für Anthropol., Ethnol. 4) Verhandl. der Berliner Gesellsch.f. Anthropol.,Ethnol. | u. Urgesch. 1874, p. (77) (Zeitschr. für Ethnol. Bd. VI, 1874). Giljaken. Die ersten zur Untersuchung gelangenden Schädel. 229 Giljaken verwechselt oder zusammengeworfen und ebenfalls schlechtweg Giljaken oder auch Kidsi-Giljaken genannt werden '). Es läge daher scheinbar am nächsten, einen bei Kidsi ge- fundenen Schädel dem Oltscha-Volke zuzuschreiben. Indessen wäre dies im betreffenden Falle auch noch sehr fraglich; denn die Oltscha setzen ihre meisten Leichen, namentlich diejenigen der eines natürlichen Todes Verstorbenen oder Ertrunkenen, in Särgen in kleinen hölzernen Grabhäuschen bei, und nur für die durch Menschenhand Getödteten wird ein Baumgrab er- richtet, d.h. der Sarg auf Querstangen gestellt, welche zwischen drei Baumstämmen etwa einen Faden oder höher über dem Erdboden befestigt werden. Letzteres ist hingegen die ganz gewöhn- liche Bestattungsweise der Leichen bei den Orotschen. Ich habe selbst solche Baumgräber bei ihnen am Jai-Flusse, nahe seiner Einmündung in den Kidsi-See gesehen. Noch andere tungusi- sche Stämme, wie z. B. die sibirischen Rennthier-Tungusen, betten ihre Leichen, und na- mentlich diejenigen der Schamane, auch ohne Sarg in den Zweigen der Bäume’). Ob dies unter Umständen auch bei den Orotschen oder bei anderen Amur-Tungusen, den Negda, Sa- magirn u. s. w. geschieht, die mir weniger bekannt sind und die den sibirischen Rennthier- Tungusen um Vieles näher stehen als die Oltscha und Golde, weiss ich nicht, dürfte aber leicht möglich sein. Aus alledem folgt, dass der von Weber in der Umgegend des Kidsi-Sees gefundene Schädel jedenfalls einem Individuum tungusischen Stammes angehörte, wahrscheinlich einem Orotschen, vielleicht auch, wenngleich minder wahrscheinlich, einem Oltscha, in keinem Falle aber einem Giljaken?°). Von den vier mir vorliegenden Giljaken-Schädeln habe ich den einen selbst mitgebracht: ich erhielt ihn vom Dr. Orlof, der ihn einer beim Petrovskischen Posten von den Meereswellen an’s Land gespülten Leiche entnommen hatte. Dieselbe war vollkommen giljakisch gekleidet, und da ringsum auch nur Giljaken wohnen, die wenigen, zuweilen bis an das naheliegende Gebirge heranstreifenden Tungusen aber die Meeresküste in der Regel nicht betreten, noch weniger sich in See begeben, so unterliegt es keinem Zweifel, dass es die Leiche eines beim Fischen oder auf einer Ueberfahrt ertrunkenen Giljaken war. Die beiden anderen männlichen Giljaken-Schädel erhielt die Akademie in den Jahren 1864 und 1866 durch den Dr. Pfeiffer in Nikolajeysk: der eine derselben stammt aus dem Dorfe Magho am unteren Amur, von einem Individuum, das, nach der starken Verletzung der linken Stirnseite zu urtheilen, vermuthlich in einer Rauferei gefallen war; der andere gehört zu dem oben bereits besprochenen Skelet eines im Hospital zu Nikolajevsk verstorbenen Giljaken aus dem Dorfe Allof. Den vierten, weiblichen Schädel endlich brachte der Ingenieurcapitän Beljzof mit: er rührt von einem Weibe der Um- gegend von Michailovskoje am unteren Amur her, das von ihren Stammgenossen für schlechte Aufführung umgebracht wurde; hinzugekommene Russen verhinderten das Verbrennen und ver- 4) S. oben, p. 26, 104 u. a. 3) Darnach muss also auch Alles, was von den ge- 2) Reisenden.in Sibirien ist es daher wiederholentlich | nannten Herren (ll. ec.) über den Schädelbau der Gilja- begegnet, im Walde auf einen am Baume hängenden | ken gesagt worden, nicht auf diese, sondern auf die Or o- Menschenschädel zu stossen. tschen oder Oltscha bezogen werden. % 230 Die Völker des Amur-Landes. scharrten die Leiche, die einige Jahre später auf Veranlassung des Hrn. Beljzof durch den Kaufmann Iwanof in Michailovskoje ausgegraben wurde. Nachstehend folgen nun zunächst die Maasse dieser vier Schädel, und zwar, der leichteren Uebersicht und Vergleichung halber, in tabellarischer Anordnung zugleich mit denjenigen aller übrigen hier zur Vermessung gelangten Schädel der Amur-Völker, so wie einiger sibirischer Tungusen. Das Nähere über die einzelnen Schädel wird an den betreffenden Orten gegeben werden. Zuvor muss ich jedoch zum richtigen Verständniss der in den beiden Tabellen, der ab- soluten Maasse und der Verhältnisszahlen oder Indices, enthaltenen Daten einige erläuternde Bemerkungen über die von mir eingehaltene Art der Schädelmessung vorausschicken. So indieirt es auf den ersten Blick schien, bei Betrachtung einiger weniger Schädel sich strikt an eine der gangbarsten Messungsmethoden, etwa an diejenige von Baer'), von Virchow), von Welcker®) u. A. anzulehnen, so habe ich mich doch für keine derselben ganz entscheiden können. Ich habe mich vielmehr an die von Ihering entwickelten Gesichtspunkte gehalten, weil sie mir als die rationellsten erscheinen und ich überzeugt bin, dass sie sich in der Cranio- metrie immer mehr und mehr Bahn brechen werden. Demgemäss sind die Schädel beim Ver- messen nach der von ihm vorgeschlagenen Horizontale aufgestellt worden, d. ı. nach der die Mitte der äusseren Ohröffnung mit dem unteren Rande der Orbita verbindenden Linie, welche wenn auch nicht durchweg für jeden einzelnen Schädel, doch im Allgemeinen am richtigsten die Horizontalstellung des Kopfes angeben dürfte ®). Es mussten sodann die drei Hauptdimen- sionen des Schädels, die grösste Länge, Breite und Höhe desselben, nicht zwischen bestimmten anatomischen, sondern zwischen den vorragendsten Punkten des Schädels in der Horizontalebene, resp. in der senkrecht zu derselben stehenden Medianebene gemessen werden. Um zugleich die Gegend zu ermitteln, wo die grösste Breite und die grösste Höhe des Schädels liegen, und darnach die Lagenindices derselben zu berechnen °), wurde der Theil des Längendurchmessers bestimmt, welcher vor seinem Kreuzungspunkte mit dem Breiten-, resp. Höhendurchmesser des Schädels liegt. Nebenbei ist in Anmerkungen auch die Lage des grössten Breitendurchmessers in Be- ziehung auf die äussere Ohröffnung angegeben, in der Weise, wie es Baer bei seinen Schädel- messungen gethan®). Eine Reihe von Maassen ferner, wie die untere, die kleinste und die grösste Stirnbreite, die Breite zwischen den Scheitelhöckern, die grösste Breite zwischen den 4) Crania selecta ex thesaurisanthropologieis Academiae Imp. Petropol. 1859 (Mem. de l’Acad. Imp. des sc, VI-e Serie. sc. nat. T. VIII, p. 243 ff.); Baer und R. Wagner, Be- richt über die Zusammenkunft einiger Anthropol. im Sept. 1861 in Göttingen, Leipzig 1861, p. 461. 2) Gesamm. Abhandl. zur wissensch. Medicin, Frankf. 1856, p. 914; Untersuch. über die Entwickelung des Schä- delgrundes, Berlin 1857, p. 22 u. a.; Die altnord. Schädel zu Kopenhagen (Archiv für Anthropol. Bd. IV, Braun- schweig 1870, p. 57). 3) Untersuch. über Wachsthum und Bau des menschl. Schädels, 1. Thl., Leipzig 1862, p. 22 #.; Kraniolog. Mit- theilungen (Archiv für Anthropol. Bd. I, Braunschweig 1866, p. 90 ff.). 4)J. v. Ihering, Ueber das Wesen der Prognathie und ihr Verhältn. zur Schädelbasis (Archiv für Anthrop. Bd. V, Braunschweig 1872, p. 372M.); Zur Reform der Craniometrie (Zeitschr. für Ethnol. Bd. V, Berlin 1873, p- 134 fi.). 5) Kopernicki, Ueber den Bau der Zigeunerschädel (Archiv für Anthrop. Bd. V, p. 289); Ihering, Zur Ref. der Craniom. Il. c. p. 157. 6) Crania selecta, 1. c. p. 244, 245. Giljaken. Befolgte Art der Schädelmessung,. 231 Jochbögen, die kleinste Entfernung zwischen den Lineae semicireulares auf dem Scheitel und dem Hinterhaupt, die grösste Wangenbreite, die grösste Breite der Augenhöhle, der Nasenöfl- nung, des Oberkiefers am Alveolarrande u. a. m., sind ebenfalls ohne scharf bestimmte anatomische Punkte in Ebenen gemessen worden, die zur Horizontalebene parallel laufen. Sollte die Bestim- mung der Schädeldurchmesser, in der für dieselben maassgebenden Horizontalstellung, und ebenso auch diejenige der letztgenannten Maasse richtig ausfallen, so war vor Allem darauf zu achten, dass die Messung auch stets in der Horizontal- oder in einer mit ihr parallelen, resp. in der senkrecht zu ihr stehenden Medianebene ausgeführt werde. Ich glaube dies durch folgendes Verfahren erreicht zu haben. Nachdem der Schädel mit Hülfe einer Libelle in die richtige Horizontalstellung gebracht und in einiger Erhöhung über dem Tisch vermittelst in die Ohröffnungen eingreifender Zapfen eines messingnen Gestelles und einer Stütze am Oberkiefer fest und unbeweglich eingestellt war, wurden die Messungen theils mit dem Taster- oder dem Stangenzirkel, theils (wie z. B. die grösste Höhe u. a.) mit einem Apparat gemacht, wie ihn in ähnlicher Weise auch Virchow!) benutzt hat, und der aus einem breiten Metallstabe besteht, an dessen einem Ende sich ein festste- hender senkrechter Arm befindet, während an dem anderen Ende ein ebenfalls senkrechter, aber verschiebbarer Arm angebracht ist. Da diese Arme recht dick sind, so stellen ihre einander zu- gekehrten, eben polirten Seiten parallele Ebenen dar, deren Entfernung von einander an dem die Arme verbindenden Metallstabe unmittelbar gemessen werden konnte. Um aber die Gewissheit zu haben, dass die mit diesem Apparat wie mit dem Zirkel genommenen Maasse in der Horizontal-, oder einer ihr parallelen, oder auch in der zu ihr senkrechten Medianebene liegen, wurde auf dieselben bei jeder Vermessung eine Libelle gesetzt. Durch mehrmalige Wiederholung einer jeden Messung endlich wurde auch eine Garantie für ihre Genauigkeit gewonnen. Letzteres bezieht sich übrigens nicht bloss auf die obengenannten, sondern auch aufalle übrigen Maassbestimmungen, für welche es sonst kaum irgend welcher besonderen Bemerkungen bedarf. Der Horizontal-, Vertikal- und Quer- umfang des ganzen Schädels oder einzelner Theile, so wie die Entfernung der Protuberantia oceipitalis vom Foramen magnum und der Umfang des Unterkiefers von Winkel zu Winkel, wurden natürlich mit dem Messbande, der erste in der Horizontal-, der zweite in der Median- und der dritte in einer zur Horizontale senkrechten Ebene gemessen. Für alle übrigen Maasse, mit Ausnahme der Winkelbe- stimmungen, ist der Taster- oder der Stangenzirkel gebraucht worden. Diese Maasse entsprechen übrigens, sofern sie nicht ebenfalls grösste oder kleinste Dimensionen angeben, den oben in Betracht gezogenen Anforderungen Ihering’s an die Craniometrie keineswegs, indem sie sich auf die Entfernungen zwischen bestimmten anatomischen Punkten beziehen ?). Nichtsdestoweniger halte ich sie nicht für überflüssig, weil sie vielleicht für manche von anderen Craniologen mehr oder weniger betonte Verhältnisse des Schädelbaues ein erwünschtes Vergleichungsmaterial bieten können, was um so mehr zu beachten war, als die meisten der hier betrachteten Schädel era- niologisch bisher noch ganz unbekannten Völkern angehören. Ist doch Virchow bei seinen 1) Die altnord. Schädel zu Kopenhagen (Archiv für 2) Vrgl. Ihering, Zur Reform der Craniom. 1. c. Anthrop. Bd. IV, p. 58), p. 131, 163 u. a. 232 Die Völker des Amwur-Landes. umfassenden eraniologischen Forschungen zu dem Schlusse gekommen, «dass die Zahl der Mes- sungen an den einzelnen Schädeln bedeutend über das gewöhnliche Verhältniss vermehrt werden müsse, dass man namentlich die Grenzen der einzelnen Schädelknochen bestimmen und die einzelnen Näthe messen müsse, — ein Gesichtspunkt», fügt er hinzu, «der seitdem von der Mehr- zahl der Craniologen angenommen, jedoch keineswegs überall genügend ausgebeutet worden ist» '). Seine eigenen Untersuchungen zeigten z. B., wie maassgebend für die Entwickelung des grossen Keilbeinflügels und damit für die Gestalt der Schläfengegend die Länge der Spheno- frontal- und Sphenoparietal-Naht ist). So ist ferner von verschiedenen Seiten und verschiedenen Gesichtspunkten aus auf die Entfernung der Ohröflnung oder des Foramen magnum von der Nasenwurzel, von der Spina nasalis anterior, vom Kinn, desgl. auf die Entfernung der Nasen- wurzel von den letztgenannten Punkten u. s. w. mehr oder weniger Gewicht gelegt worden. 4) Virchow, Die altnord. Schädel zu Kopenhagen | der Wiss. zu Berlin, 1875, p. 9 ff., und unter demselben (Archiv für Anthrop.-Bd. IV, p. 57). Titel neuerdings in der Zeitschr. für Ethnologie, Bd. XII, 2) Virchow, Ueber einige Merkmale niederer Men- | 1880 p. 1fl. schenrassen am Schädel, in den Abhandl. der königl. Akad. Absolute Maasse Tabelle 1. = Sr ale. Oltscha. Golde. Männer. \ Weib. MAASSE. 1. ee Y. VI. = Ochotsk.| Amur | Amur |(Umgegend Baizıı Amur ER Meer. |(Magho).| (Allof). a de Castries. (Choto). Ussuri. Grösste Länge!) ...... TREE 2.217486: 487101768) 183 164 197 178 SL NER | 4 150 | -135 140 144 135 »2esHöher.#..>;,. TE 133 | 141: | 132 1.135 129 149 133 Theil des Längendurchmessers vor seiner Kreu- zung mit dem Breitendurchmesser ..... 102 | 11% | 112°| 103 94 115 102 Theil desLängendurchmessers vor seiner Kreu- - | zung mit dem Höhendurchmesser...... 113 | 114 |. 105°) 103 96 115 102 | Untere Stirnbreite (zwischen den Processus zy- gomatici 05. frontis)........ec2..0. 109 99 |: 112 | 103 95 106 96 ' Kleinste Stirnbreite (zwischen den Lineae semi- | CILCHIATES) "2 eat hin re ea 99 89 | 100 94 90 93 39 Grösste Stirnbreite (an der Sutura coronalis). | 116 _ 120 | 115 LIST Te 110 Breite zwischen den Scheitelhöckern........ 125 |. 126] 125 129 129 | 134 124 » » » Ohröflnungen ..... 110105 104 |, 114 108 Schädelmaasse. 239 Bekamntlich ist z. B. die Länge der Schädelbasis, oder die Entfernung des vorderen Randes des Foramen magnum von der Nasenwurzel, von Virchow und Welcker, wenngleich in ganz ‚ entgegengesetztem Sinne, auch mit der Pro- oder Orthognathie des Schädels in Beziehung ge- bracht worden N) Nachstehend ist freilich weder der vom Ersteren, noch der vom Letzteren vorgeschlagene Nasenwinkel zum Maasse der grösseren oder geringeren Prognathie des Schädels angenommen worden, sondern der von Ihering bezeichnete Profilwinkel, den die von der Nasenwurzel zur Mitte des Alveolarfortsatzes des Oberkiefers gezogene Profillinie mit der Hori- zontale bildet?). Die Maasse desselben an unseren Schädeln finden sich daher auch in der nach- stehenden Tabelle verzeichnet. Zum Schlusse dieser Vorbemerkungen möchte ich noch anführen, dass je weniger ich selbst aus der geringen Zahl der mir vorliegenden Schädel der Amur- Völker bestimmte ethnologische Resultate habe ziehen können und dürfen, um so weniger hielt ich mich für berechtigt, die Zahl der Maasse, die Anderen vielleicht manche Anhaltspunkte bieten dürften, zu verkürzen. 4) Welcker, Unters. über Wachsthum und Bau des 2) Ihering, Ueber dasWesen der Prognathie und ihr menschl. Schädels, p. 47; Kraniol. Mittheil. 1. c. p. 105. Verhältn. zur Schädelbasis, I. c. p. 369 fl. n Millimetern. Tabelle I. Birare. Manägir. | Orotschone. Tungusen. VII. IX. x XI. XI. XI. ANMERKUNGEN. mur(obhlb.d.| Amur (Koto-| f Wilui Untere Tun- le iureja-Geb.).| manga). Nertschinsk. | (Ajakit). guska. ( "aalı) a m re ee 173 190 182 183 177 180 4) Kommt, bei der oben bezeichneten Horizontal- . = = Z stellung, an allen unseren Schädeln zwischen der Stirn- 144. 153 153 141 150 148 nasenwulst und der Hinterhauptsschuppe, etwas oberhalb 127 132 1223 126 137 135 der Protuberantia oceipitalis zu liegen 2) Liegt bei I zwischen den Scheitelbeinen, etwas oberhalb der Schläfenbeine, in der durch die Oefinung 103 117 111 107 97 89 des äusseren Gehörganges gehenden Senkrechten; bei II und IIl zwischen den Leisten, welche von den Proc. zygomatici nach hinten laufen, 20, resp. 15mm hinter der 99 112 108 107 102 97 durch die Ohröffnung gehenden Senkrechten; bei IV zwischen den Scheitelbeinen, 5um hinter derselben Senkrechten; beiV nahe der Schuppennaht, in der durch 98 111 104 105 97 100 die Ohröffnung gehenden Senkrechten; bei VI ebenso wie bei II und II, jedoch 17mm hinter der durch die Ohröffnung gehenden Senkrechten; bei VII zwischen den 93 96 3 96 84 90 Scheitelbeinen, 12mm hinter derselben Vertikale; bei 1935 5) - " VIII nahe der Schuppennaht, 15mm hinter der durch die 22 123 118 114 118 123 Ohröffnung gehenden Senkrechten; bei IX zwischen 12% 145 135 128 131 1323 den die Arc. zygomatici fortsetzenden Leisten, 18mm N i 39 " hinter der Vertikale der Ohröffnung; bei X am 15 113 122 112 119 109 Rande der Schuppennath, Smm hinter der durch die Schrenck’s Amur-Reise, Band III. 30 34 Die Völker des Amur-Landes. Ge Oltscha. Golde. Männer. Weib. MAASSE, h. u. Bo N? v. v1. Yın. Ochotsk.| Amur | Amur |(Umgegend Bai Amur Be. Meer. |(Magho).| (Allof). en de Castries. (Choto). Ussuri. Grösste Breite zwischen den Jochbögen..... —?) | 134 | 152 | 131 —') 143 129 ' Kleinste Entfernung zw. den Lin. semicirculares | aufsdemScheitell Er. sn A 27 87 92°] 102 —';) 91 98 ‚ Kleinste Entfernung zw. den Lin. semicirculares | auf. dem’ Hinterhaupte „....: ....... =... 74 77 s0 —°) —) 78 70 ı Horizontalumfang 1. d.Ebened.grösstenLänge®) | 522 525 | 317 | 512 484 348 >04 Stirnbeinantheil an demselben............ 168 161 | 167 | 162 142 164 145 | Schläfen- u. Scheitelbeinanth.an demslb.,rechts | 126 125 122 126 121 140°) 127 » » » » » _hinks. | 128 1 ar I 122 140 130 ' Hinterhauptsantheil an demselben ........ 100 112 | 109 97 100 106 103 Vertikalumfang in der Medianebene, bis zum KOT IHACDTIDE ne te 362 372 | 355 | 373 340 400°) | 363» a) Stirnbeimantheil an demselben ........ 131 127 |) 1257) 128 118 130 120 b) Scheitelbeinantheil N a ee 116 1207121252120 109 135 126 c) Hinterhauptsantbeil » .rrrec... 115 125 | 107.1 125 113 135 116 SI N BT A SCHERER 116 ee) 104 120 109 2 BON Se RN RE 104 106 | 109 | 110 97 120 112 a ee Eee 93 104 87 | 100 95 14% 96 ' Entfernungd.Protuber.oceipitalis v.For.magn. | 48 45 48 50 58 61 51 Länge des Foramen magnum............ 37 39 32 32 34 —") 36 | Breite » » DE En 29 30 32 26 28 _ 28 ı Entfernung des For. magnum von der Nasen- wurzel (Schädelbasis) 9 „............. 111 106 | 102.| 100 95 109 95 ' Querumfangzw.denSpitzen der Proc. mastoidei | 371%) 375 | 370 | 372 360 385 375 \ Entfernung der Spitzen der Proc. mastoidei von EIDANdEL RO RN EN IE RE 104 104 | 114 | 101 95 108 103 | Entfernung d. Ohröffnung v. d. Nasenwurzel 1) | 114 107 | 109 | 103 100 111 106 | » der Nasenwurzel von der Spina nasalis anterior (Gesichtsbasis)®....... 33 56 33 #7 46 56 538 ı Entfernung des For. magnum von der Spina | nasalis anterior =r: zul a ernie he aremusze 102 97 94 94 87 100 87 | Breite der Nasenbeine an der Nasenwurzel... 6 6 10 6 10 s 10 | Kleinste Breite der Nasenbeine............ 5) 5) ) 6 BI) 7 6 Breite der Nasenbeine am unteren Ende —.) 15 17 14 16 20 —') Grösste Breite der Apertura pyriformis..... 26 28 30 30 23 29 28 Höhe der Apertura pyriformis..........: —") st Ir ST 23 35 —") Grösste Breite der Augenhöhle........... 44 40 43 38 36 40 35 I » Höhe » DE ER Sr ni de 36 34 34 33 34 40 SM | Schädelmaasse. 235 Birare. Manägir. |Orotschone. Tungusen. VII. IX. x. , Xu. Se ANMERKUNGEN. - lAmur(obhlb.d.| Amur (Koto- y Wilui Untere Tun- er Bureja-Geb.).| manga). Nertschinsk. | (Ajakit). guska. BT —') 149 143 137 139 5) 133 Ohröffnung und in der durch die Processus mastoidei gehenden Senkrechten; bei XI nahe der Schuppennaht, 43mm hinter der Vertikale der Ohröflnung: bei XII und 97 72 101 59 93 100 XIII dicht über derselben Naht, in der bezeichneten | Vertikale. | } =, 3) Wegen der beiderseits fehlenden Jochbög icht | 93 83 101 68 0 a ) € en e seits fehlende ıbögen nich | - G r | Sl 545 940 927 915 520 4) Wegen des einerseits fehlenden Jochbogens nicht | H > 143 159 158 158 155 162 | zu bestimmen, | 128 130 130 133 12323 122 . 5) Da der Jochbogen an der einen Seite schadhaft | 130 13% 135 133 122 136 ist, so ist diese Grösse nur annähernd richtig. 109 122 125 103 117 100 6) Die Lineae semicirculares sehr undeutlich. | 7) Auf dem Hinterhaupt werden die Linien allzu un- | deutlich. AS 124 a < RG 342 365 360 361 352 362 8) Stets durch Messung, nicht durch Summirung der | 2 D} 33 25 einzelnen Antheile bestimmt, daher von der auf letzte- | 0 125 122 125 ee TE, H EN rem Wege’sich ergebenden Zahl zuweilen um einige 119 128 107 113 109 114 Millimeter differirend. Dasselbe gilt für den Vertikal- | 102 107 125 123 121 123 | umfang. | 9) Da die Lambdanaht unkenntlich ist, so waren diese | - ! 111 Grö d die beiden folgend ähernd zu = rössen und di iden folgenden nur annäher 106 115 102 103 99 Kr . | 35 90 93 93 101 101 10) Da der hintere Rand des Foramen magnum zer- | 40 49 54 61 67 65 brochen ist und die Sutura coronalis superior und lamb- | doidea unkenntlich sind, so können diese Zahl und die ; 37 40 35 38 38 37 sieben folgenden nur einen annähernden Werth haben. 30 34 29 29 31 31 41) Da die Ränder des For. magnum hinten und an den Seiten zerbrochen sind, so bleiben seine Dimen- | 100 -106 9% 97 101 97 sionen unbestimmt. | 42) Vom vorderen Rande des Foramens gemessen, | 13 D 365 ) 384 374 360 368 366 wie auch in anderen Maassen mit demselben Ausgangs- | punkte. | 109 11% 116 111 106 110 43) Der Processus mastoideus der einen Seite fehlt; | daher konnten dieses und das folgende Maass nur an- 104 113 107 106 110 103 nähernd bestimmt werden, in der Voraussetzung nam- lich, dass der fehlende Fortsatz dem vorhandenen gleich yesen Sei. | 57 59 54 55 ZOME 55 14) Vom vorderen Rande der Ohröffnung gemessen. | 91 99 92 96 89 90 a a SE Basis der Spina gemessen, wie auch im | Im olgenden Maasse. 11 10 8 10 13 8 16) Defekt. Hl I B) 7 3 6 47) In Folge des am unteren Ende in der Median- | 19 19 21 19 — 1) —!4) linie defekten Zustandes der Nasenbeine nicht zu be- stimmen r 2 P) ) ? p) S : £ | 5 56 2. zn a en | 38 40 40 39 37 40 35 33 37 37 3: 37 F 30* 236 Die Völker des Amur-Landes. Sn Oltscha. Golde. Männer. Weib. MAASSE. 1. ur Im IV. v I . FR y 5 Amur £ $ VI. Ochotsk.| Amur Amur |(Umgegend Bai Amur x } Meer. | (Magho).| (Allof). nn de Castries. (Choto). Ussuri. Breite der Augenscheidewand ®).......... 20 | 19 25 21 20 25 22 Grösste Wangenbreite,zw.d.Ossazygomatica!®) | —) 123 1391 14.5 104 121 117 » Breite d. Oberkiefers am Alveolarrande 68 | 68 70 61 60 69 62 » » » harten Gaumens.......... 33 |ı 38 39 37 30 37 36 Länge d. harten Gaumens in der Medianebene®*) 51 | 59 49 55 46 33 51 Brofilwinkelege ge ee 90°, 87 90° s4° 34° 36° 91° Entfernung der Nasenwurzel von der Kinnspitze (Kesichtslangeh nu nee a ie ar —?)/123 119 —”) 104 124 —”) Entfernung d. For. magnum von der Kinnspitze — 1119 108 —_ 92 118 —_ Umfang d. Unterkiefers, v. Winkel zu Winkel?) IT OT — —:) 218 — Entfernung der Unterkieferwinkel von einander | — 1109 116 —_ —_ 105 _ Höhe des Unterkiefers in der Medianlinie.... — 34 33 _ 26 36 — Grösste Dicke des Unterkiefers. ebenda®).... — 15 16 —_ 13 16 — Höhe des Unterkiefers am Process. coronoideus _ 56 58 _ _ 62 — »» » » » condyloideus”) _ 52 52 — — 60 _ Länge des Ramus adscendens, vom Winkelan | — 59,5%) 57 —_ n 65 E= Winkel des Unterkiefers .......22...... — 1121° 1182| — — 120° — Tabelle II. x Indi Längenbreitenindex.... .. . .....u. zn Deere 70,2| 74,9| 85.21 73,8 35,4 7134 75,8 Breitenhöhenindex. ..... 22222222 222.2.. 101,5) 100,7) 88,0| 100,0 92,1 103,5; 98,5 Tangenhöhenmdexe m... .1.0: . Da - ee 71,.5| 75,417 75:010.25,83 78,7 75,6 74,7 Lagenindex des Breitendurchmessers') ..... 54,8| 61,0| 63,6| 56,3 573 58,4 5 » » Höhendurchmessers ..... ER 60,5| 61,0| 59,7) 56,3 58,5 58,4 57,3 Unterer Frontalbreitenindex............. 58,6) 52,9| 63,6| 56,3 57,9 53,8 53,9 Kleinster DR nk ee IE en 53,2 747.617 56,8. 51% 54,9 A 50,0 Grösster DER Re BEE A TR LE | 62,41 — 68,2| 62,8 68,9 56,3 61,8 Parietalbreitenindex ). 2... een 2. Bee 62 67 710127085 78,7 68,0 69,7 Aurikularbreitenindex..............°... 59,1| 538,3| 66,5| 57,4 63,4 57,9 60,7 Jugalbreitenindex 4.1.0... sr. _ 719717.80:4| 2716 _ 72,6 7205 Wangenbreitenindex....-...-.........- — 65,8| 76,7| 62,8 63,4 61,4 65,7 Oberkieferbreitenindex®)..............- 306,6| 86.4 39:86 35,3 36,6 35,0 34,8 Längenbreitenindex des Foramen magnum... | 78,4) 76,9/100,0| 81,3 52,4 —_ 77,8 Nasalindex (nach Broca®).............. 49,1| 50,0| 56,6) 63,8 50,0 51,8 48,3 Orbitalindesz.. 2....22. 2000 Se 81,5| 85,0| 79,1| 86,8 94,4 -100,0 97,4 Schädelmaasse. 237 Birare. Manägir. |Orotschone.| Tungusen. X X XIII. ANMERKUN . VIH. IR X. x. XII. Se KUNGEN ‚mur(obhlb.d.| Amur (Koto-| _ { Wilui Untere Tun- (Dshegdan- 3Zureja-Geb.).| manga). Nertschinsk. | (Ajakit). guska, dal) / ————— En 23 26 231 34 20 20 18) Am oberen Ende des Thränenbeines gemessen. pe. N) 131 1223 1223 129 115 19) Kommt zwischen den beiderseitigen Superficies E " 3 faciales der Wangenbeine, dort, wo von ihnen die 65 = 66 62 70 61 Process. temporales ausgehen, und also vor dem Anfange 36 38 40 39 39 33 der Arcus zygomatici zu liegen. 49 51 59 53 59 49 20) Wegen des einerseits zerbrochenen Wangen- 2 beines nicht zu ermitteln. 94° 94° 93° 35° 91° —_ 21) Vom hinteren Rande bis zu den Alveolen der j ’ Schneidezähne. 22 22 < 22 2 119 —”) —”) 120 —”) —”)| 22) Der Unterkiefer fehlt. 100 >= rer 113 Go == 23) Längs dem unteren Rande gemessen. 190 — — 203 a az 24) Da der Unterkiefer stark lädirt und zum Theil 100 ee er 97 per verwittert ist, so konnten an demselben nur ein paar 30 34 Maasse genommen werden. Se Tr F 25) Zwischen Spina mentalis interna und Protube- 15 oz Er 13 SI Er rantia mentalis externa. 4 55 a REN, ; 62 7 ar 26) Auf die Horizontalebene projicirt. > 50 SE Zr 2 Er el 27) Mittel zwischen den beiderseitigen Grössen, da 52 we AN! 57 et 2 die Länge des aufsteigenden Astes des Unterkiefers 5 5 linkerseits 58, rechterseits, in Folge des etwas mehr 124 — Sa 119 FE =; nach vorn gelegenen Winkels, 64mm beträgt. es Tabelle II. 32 805 s41A as 84.7 22 1) Wie beim ersten Maass und wie bei allen folgen- = B BR 3 5 ö 5 den, mit Ausnahme der drei letzten, den Längendurch- 88,2 86,3 19,7 39,4 91,3 91,2 messer des Schädels gleich 100 gesetzt. 73,4 } 69,5 67,0 69,2 77,4% 75,0 2) Für die Breite zwischen den Scheitelhöckern; s. 59,5 61,6 61,0 38,8 94,8 49,4 | Tab. I. Hyap 58,9 59,3 58,8 57,6 53,9 3) Für die Breite des Oberkiefers am Alveolarrande. 96,6 98,4 97,1 97,7 54,8 55,6 4) D. i. Verhältniss der Breite der Nasenöffnung = E - (Apertura pyriformis) zur Länge der Nasalgegend, näm- 53,8 50,5 51,1 92,7 47,9 50,0 lich zur Entfernung der Nasenwurzel von der Basis der 70,5 64,7 64.8 62,6 66,7 68,3 Spinanasalisanterior, diese Länge gleich 100 gesetzt.Vrgl. Fe > ne ES I Er ” Broca, Rech. sur Vindice nasal (Revue d’Anthropol., 71,7 76,3 74,2 70,3 74,0 13,3 | publ. sour la direct de M. P. Broca, T. I, Paris 1872, 66,5 62,1 67,0 61,5 67,2 60,6 | p-1 fl). —_ 78,4 78,6 75,9 78,5 73,9 —_ 68,9 67,0 67,0 72,9 63,9 37,6 —_ 36,3 34,1 39,5 33,9 81,1 85,0 82,9 76,3 81,6 83,8 43,9 49,2 93,7 90,9 47,3 93,1 92,1 82,5 92,5 94,9 86,5 92,5 238 Die Völker des Amur-Landes. Um nun von den vermessenen Schädeln der Amur-Völker, namentlich auch von ihrer Ge- sammtform, sowie von manchen der Messung sich entziehenden Verhältnissen ein möglichst volles und anschauliches Bild zu geben, sind von denselben, unter Einhaltung der Horizontal- stellung, photographische Abbildungen gefertigt worden‘), und zwar in je fünf Ansichten: in der Norma facialis, lateralis, vertiealis, oceipitalis und basilaris (Taff. V—IX). Betrachten wir nunmehr, unter Hinweisung auf diese Abbildungen wie auf die obigen Maasse, zunächst die Giljaken-Schädel einzeln und genauer. Der Schädel des ertrunkenen Küsten-Giljaken vom Ochotskischen Meer ( I der obigen Tabellen, Fig. 1 der Taff. V—IX) gehörte, nach der Beschaffenheit seiner Nähte zu urtheilen, einem jungen, etwa 24—30 Jahre alten Individuum ?): die Basilarfuge (Symph. sphenobasilaris) ist bei ihm geschlossen, die Nähte aber sind alle noch offen und klaflend; im Gebiss sind die Tardivi vor- handen und die übrigen Zähne schon recht stark abgerieben, was bei den Giljaken, in Folge des vielen Genusses von hartem, trockenem, gedörrtem Fisch, bereits frühzeitig zu geschehen pflegt. Der Schädel ist verhältnissmässig lang und hoch: hält man sich an Ihering’s Einthei- lung der Schädel nach ihrem Längenbreiten- und Breitenhöhenindex zugleich, so ist er als hypsi- dolichocephal zu bezeichnen °). Dieselben oder ähnliche Bezeichnungen anderer Craniologen sind auf unsere Schädel natürlich nicht schlechtweg anwendbar, da sie auf solchen Indices be- ruhen, die, weil durch andere Maasse bestimmt, mit den hier ermittelten nicht direkt vergleichbar sind. Nach der Auffassung Welcker's jedoch, der zum Breitenmaass der Schädel nicht die «grösste», sondern nur die «Schläfenbreite» nahm *), dürfte die Dolicho- wie die Hypsicephalie dieses Giljaken-Schädels noch ansehnlicher erscheinen °). Im Vergleich zum geringen Breiten- durchmesser des Schädels ist seine Breite an der Stirn eine recht ansehnliche: sie wächst nur langsam nach hinten und erreicht ihr Maximum wenig hinter der halben Länge, daher die Ge- 1) Wieschon erwähnt, verdanke ich dieselbendem durch seine Arbeiten für die Kais. Akademie der Wissenschaften schädels entspricht, s. «Unters. über Wachsth. und Bau des menschl. Schädels», p. 24) und der hier benutzte Ihe- rühmlichst bekannten Photographen Clasen hieselbst. 2) Vergl. die Tabelle zur Altersbestimmung erwach- sener Schädel bei Welcker, Kraniol. Mittheil. (Archiv für Anthropol. Bd. I, p. 119). 3) Die von Ihering (Zur Reform der Craniometrie.— Zeitschr. f. Ethnol. Bd. V, p. 162) vorgeschlagene Einthei- lung der Schädel ist folgende: Br BE PER -+.„_ | Längenbreiten- Aängenheiten” | Zäugenbreien? | index 80,0 und | | mehr. Breitenhöhen- | Platydolicho-| Platymeso- | Platybrachy- index unter 100,| cephalus. cephalus. cephalus. Pe enhlhen |Hypsidolicho-| Hypsimeso- | Hypsibrachy- darüber. | cephalus. cephalus. cephalus. 4) Kraniol. Mittheil. (Archiv f. Anthrop. Bd. I, p. 137). Der Welcker’sche Längendurchmesser (von der Inter- tuberalmitte des Stirnbeines bis zu derjenigen Stelle des Hinterhauptes, welche dem Oceipitalhöcker des Kindes- ring’sche sind zwar auch verschieden, stehen sich 'aber doch näher als die respectiven Breitendurchmesser. 5) Nach dem Baer’schen Messungsverfahren wäre hingegen seine Dolichocephalie etwas kleiner. Baer’s Längenbreitenindices sind mit den unsrigen überhaupt leichter vergleichbar, weil wenigstens die Breitendurch- messer dieselben sind. Sein Längendurchmesser (von der Glabella zum hervorragendsten Punkte des Hinterhauptes) weicht aber meist um einigeMillimeternach der einen oder der anderen Seite von dem unsrigen ab. Um einen even- tuellen Vergleich zu ermöglichen, habe ich ihn an unseren Schädeln bestimmt. Er beträgt: bei I 183mm bei VI 199mm bei XI 182mm » II 186 » » VI 178» » XII. 180» » II 174» » VII 172» » XII 174» »EIVEAS3N » IX 185 » » V 14163» » x 181 » Giljaken. Schädelbau. 239 stalt des Schädels in der Scheitelansicht eine ziemlich elliptische, jedoch vorn etwas abgestutzte ist, mit beiderseits deutlich vortretenden Jochbögen. Die Stirn tritt mässig zurück. Die Arcus supraciliares sind angeschwollen und stossen zu einer dicken Stirnnasenwulst zusammen, von welcher eine schwach erhabene Linie auf dem Stirnbein aufwärts verläuft und erst zum Scheitel hin. sich verliert. Die Stirn- und Scheitelhöcker sind nur schwach. Die Lineae semicirculares lassen sich in ihrem ganzen Verlaufe bis zu den Proc. mastoidei verfolgen und steigen recht hoch hinauf, so dass die Plana semicircularia gross sind. In der Hinterhauptsansicht ist der Schädel fünfeckig, hoch, mit abgerundeten Scheitelwinkeln; die oberen Seiten leicht convex, die unteren ziemlich senkrecht, nach unten hin etwas eingebogen, die Basis leicht ausgeschweift. Das Hinter- haupt ist gewölbt, im oberen Theil etwas von oben abgeflacht, von der Protuberantia oceipitalis zum Foramen magnum sanft gekrümmt. Letzteres ist horizontal gelegen, gross, länglich-oval, nach hinten verschmälert. Die Leisten auf dem Hinterhauptsbein, sowie auch eine Anschwellung hinter dem sehr ansehnlichen Processus mastoideus sind stark entwickelt. Die Schläfenbein- schuppe ist flach; ein Stirnfortsatz an derselben nicht vorhanden. Die grossen Keilbeinflügel sind breit, indem die Sutura sphenofrontalis beiderseits je 19, die Sut. sphenoparietalis beider- seits je 22”” Jang ist. Der Nasenfortsatz des Stirnbeins reicht tief hinab. Die Nasenbeine sind schmal, sattelförmig eingebogen und bilden keinen deutlichen Nasenrücken. Nach dem Broca'- schen Nasalindex ist die Nase mesorhin, wie bei den mongolischen Völkerschaften'). Die Augenhöhlen sind gross, nach dem Orbitalindex mikrosem °), dabei nach unten und aussen aus- gezogen; die Augenscheidewand nicht breit. Die Fovea maxillaris ist flach. Der zweite unserer Giljaken-Schädel, aus dem Dorfe Magho am unteren Amur (N II der Tabb., Fig. 2 der Taff. V—IX), gehörte einem Individuum, dessen Alter sich nach dem Zustande der Nähte und der Zähne auf zwischen 30 und 55 Jahre abschätzen lässt: die Nähte coronalis inferior, sphenofrontalis, sphenoparietalis, sphenotemporalis sind obliterirt, wenn auch deutlich zu er- kennen; die Nähte sagittalis anterior und lambdoidea fangen stellenweise ebenfalls an zu ver- wachsen. Die Zähne sind in ihrer Gesammtzahl von 32 vorhanden und stark abgerieben. Wie oben schon erwähnt, ist der Schädel linkerseits am Stirnbein eingeschlagen und von der einge- schlagenen Stelle gehen mehrere Risse durch das Scheitelbein, ein Riss längs der linken Seite des Stirnbeins nahe seiner Mitte, ein anderer schräg durch dasselbe bis zur rechten Augenhöhle, ein Riss durch das Keilbein u. s. w. Nach den Verhältnissen seiner Hauptdimensionen ist dieser Schädel als hypsimesocephal zu bezeichnen: die Breite ist im Verhältniss zur Länge etwas grösser, die Höhe im Verhältniss zur Breite etwas geringer als bei I, doch ist die Differenz, wie die betreffenden Indices zeigen, keineswegs ansehnlich. Die grösste Breite liegt in der Ebene der grössten Höhe des Schädels, während sie bei I vor derselben sich befindet. Die Stirn ist mässig zurücktretend, schmal; der Schädel wird nach hinten allmählich breiter; seine Form in der Scheitelansieht ist elliptisch, vorn leicht abgestutzt, mit geringem Vortreten der Jochbögen. 1) Broca, Rech. sur l’ind. nas. 1. ce. p. 17. thropol. T. IV, Paris 1875, p. 584). 2) Broca, Rech. sur l’indice orbitaire (Revue d’An- 240 Die Völker des Amur-Landes. Die Areus supraciliares sind nur mässig; über der Nasenwurzel bilden sie eine Wulst, von welcher eine schwach erhabene Linie aufwärts läuft und nach dem Scheitel hin sıch verliert; doch stossen die Scheitelbeine an der Pfeilnaht bis etwa zur halben Länge derselben in Form einer flachen, abgerundeten Dachfirste zusammen und fallen dann zum Hinterhaupt ab. Die Lineae semieirculares sind anfangs sehr markirt, verlieren sich aber rasch und sind auf den Scheitel- beinen, wo sie hoch hinaufgehen, und auf dem Hinterhaupt nur kaum erkennbar. Die Stirn- höcker sind schwach, die Scheitelhöcker hingegen recht ansehnlich. In der Hinterhauptsansieht ist der Schädel fünfeckig, nur wenig höher als breit; der mittlere (obere) Scheitelwinkel deutlich ausgeprägt, die seitlichen abgerundet, die oberen und unteren Seiten leicht convex, die Basis etwas ausgeschweift. Das Hinterhaupt ist ziemlich gewölbt, mit starker Protuberantia oceipitalıs; von dieser zum Foramen magnum schräg abgeflacht. Dieses ist horizontal gelegen, gross, oval, nach hinten verschmälert. Die Leisten auf dem Hinterhauptsbein, die Anschwellung hinter dem Proc. mastoideus und eine Leiste in der Fortsetzung des Jochbogens sind stark entwickelt. Die Schläfenbeinschuppe ist flach; ein Stirnfortsatz an derselben nicht vorhanden. Die grossen Keilbeinflügel sind breit, indem die Sutura sphenofrontalis rechts 21, links 25”", die Sutura sphenoparietalis rechts 15, links 14”"” beträgt. Der Nasenfortsatz des Stirnbeines reicht tief hinab. Die Nasenbeine sind an der Basis und in der Mitte sehr schmal, bilden aber einen recht scharfen, wenn auch wenig hervorragenden Nasenrücken. Die Nase ist mesorhin, der Nasalindex nur wenig grösser als bei I. Die Augenhöhlen sind im Verhältniss zur Breite etwas höher, nach dem Orbitalindex mesosem, dabei ebenfalls etwas nach unten und aussen ausgezogen; die Augenscheidewand noch weniger breit als bei I. Die Fovea maxillaris ist flach. Der Unter- kiefer stark und dick. ; Der dritte Giljaken-Schädel, von Allofam Amur (N III der Tabb., Fig. 3 der Taf, . V—IX), ge- hörte, nach dem Zustande seiner Nähte zu urtheilen, einem zwischen 30 und 55 Jahre alten In- dividuum: die Nähte coronalis inferior, sagittalis posterior und lambdoidea sind obliterirt, jedoch bis auf die erstere — und auch die nur linkerseits — von aussen leicht kenntlich; die übrigen Nähte sind nicht obliterirt. In der Lambdanaht, zwischen dem Hinterhauptsbeine einerseits und den Schläfen- und Scheitelbeinen andererseits, finden sich mehrere kleine Schaltknochen. Im Gebiss sind die Tardivi nur rechts im Ober- und links im Unterkiefer vorhanden, die anderen aber nicht zur Entwickelung gekommen. Sämmtliche Zähne sind dabei sehr stark abgerieben und abgestumpft. Nach seiner Form ist dieser Schädel das direkte Gegentheil vom ersten und in geringerem Grade auch vom zweiten: er ist verhältnissmässig breit und niedrig, nach seinen oben angeführten Längenbreiten- und Breitenhöhenindices platybrachycephal'). Auch die übrigen Breitendimensionen sind im Verhältniss zur Länge des Schädels grösser als beim ersten. Die 1) Wollte man die Höhe nicht im Verhältniss zur | oder negativer Differenz die Hypsi- oder Platycephalie Breite, sondern ebenso wie diese im Verhältniss zur Länge | bemessen, wie es Welcker (allerdings mit anderer Be- betrachten,und demnach Längenbreiten-und Längenhöhen- | stimmung der Schädeldurchmesser, als hier geschehen) indices gegen einander stellen und nach deren positiver | thut (Kraniol. Mitth. 1. c. p. 153), so wären immer unsere Giljaken. Schädelbau. 241 Breite wächst von der Stirn nach hinten erst rascher, nachher langsamer und erreicht ihr Maxi- ınum weiter nach hinten, nicht in der durch die Ohröffnung gehenden Senkrechten, sondern noch etwas hinter derselben. In der Scheitelansicht ist daher der Schädel kürzer und gedrunge- ner, breit eiförmig, vorn und hinten abgestutzt, etwas der quadratischen Form sich nähernd, mit stark vorragenden Jochbögen. Seine grösste Höhe liegt nicht hinter, sondern etwas vor der grössten Breite. Ganz besonders gross ist die Breite zwischen den Jochbögen, indem sie die grösste Breite der Schädelkapsel noch um Einiges übertrifft — ein Verhältniss, das sich an keinem der übrigen von mir vermessenen Schädel der Amur-Völker wiederholt. Die Stirn ist mässig zurücktretend. Die Arcus supraciliares sind stark gedrungen und stossen zu einer an- sehnlichen Wölbung über der Nasenwurzel zusammen, ohne dass jedoch eine erhabene Linie von dort stirnaufwärts verliefe. Die Stirn- und Scheitelhöcker sind nur schwach. Die Lineae semieireulares lassen sich in ihrem ganzen Verlaufe bis zu den Proc. mastoidei deutlich ver- folgen, steigen, zum Scheitel und Hinterhaupte einander sich nähernd, hoch hinauf und grenzen weite Plana semicircularia ab. In der Hinterhauptsansicht ist der Schädel fünfeckig, breiter als hoch; die drei oberen Winkel sind abgerundet, die oberen Seiten leicht convex, die unteren nach unten zu divergirend, die Basis in der Mitte eingeschnitten. Das Hinterhaupt ist gewölbt, von der Prot. oceipitalis zum Foramen magnum schräg abgeflacht. Letzteres ist klein, eben so lang wie breit, fast kreisrund, nur an den Seiten vorn durch die langen, aber schmalen Gelenkflächen etwas eingeengt. Die Hinterhauptsleiste ragt scharfkantig hervor. Die Processus mastoidei, die Leisten, welche sich auf dem Schläfenbein vom Proc. zygomaticus fortziehen, und alle Muskel- leisten überhaupt sind stark. Auch die flache Schuppe des Schläfenbeines ist durch kleine Leisten rauh. Ein Stirnfortsatz ist an derselben nicht vorhanden. Die grossen Keilbeinflügel sind breit: die Sutura sphenofrontalis rechts 19, links 16, die Sut. sphenoparietalis rechts 12, links 18”” lang. Der Nasenfortsatz des Stirnbeines reicht sehr tief hinab. Die Nasenbeine sind etwas breiter als bei I und II, haben eine sehr geringe Einbiegung und bilden einen wenn auch stumpfkantigen, doch deutlichen Nasenrücken. Die Nase ist dem Broca’schen Nasalindex nach platyrhin. Die Augenhöhlen sind gross, ihrem Index zufolge noch etwas mikrosemer wie bei I, dabei nach unten und aussen ausgezogen; der Zwischenraum zwischen denselben sehr breit. Wie der Schädel, so zeichnet sich auch das ganze Gesicht durch seine Breite aus: die Wangen- breite ist sehr ansehnlich, die Oberkieferbreite auch verhältnissmässig grösser als an allen anderen oben vermessenen Schädeln. Die Fovea maxillarıs ist flach. Der Unterkiefer sehr robust, dick, mit starken Muskelleisten. Der vierte, weibliche Giljaken-Schädel (W IV der Tabb., Fig. 4 der Taff. V—IX) gehörte einem Individuum von etwa 24—30 Jahren: die Nähte sind alle noch unverwachsen, manche klaffend; die Zähne oder wenigstens deren Alveolen sind im Oberkiefer in ihrer Gesammtzahl vorhanden; u u. II. Giljaken-Schädel I und II, wenn auch in geringem Längenbreitenindex 70,4 74,9 85,2 Grade, hypsicephal, III hingegen stark platycephal. Die Längenhöhenindex 71,5 75,4 75,0 maassgebenden Zahlen wären nämlich: Differenz + 11 + 05 — 102 Schrenck's Amur-Reise, Band III. 531 [2 42 Die Völker des Amur-Landes. der Unterkiefer fehlt. Der Schädel nähert sich in seiner Gesammtform, wie in allen einzelnen Verhältnissen am meisten demjenigen von Magho, MI. Er ist ebenfalls lang und hoch, nach den respectiven Indices hypsimesocephal. Die Stirn ist aufsteigend, recht breit, der Schädel nimmt nach hinten allmählich an Breite zu; seine Form in der Scheitelansicht ist elliptisch, vorn abge- stutzt, mit wenig vortretenden Jochbögen. Die grösste Breite liegt wie bei II in der Ebene der grössten Höhe. Eine Stirn- und Scheitelfirste ist nicht vorhanden, der Schädel ist auf dem Scheitel vielmehr flach abgerundet und in der Hinterhauptsansicht daher rundlich fünfeckig; der obere Winkel ist so sehr abgerundet, dass die beiden oberen Seiten fast eine continuirliche convexe Linie bilden; die unteren sind ziemlich gerade und convergiren etwas nach unten; die Basis ist gerade mit einem schwachen Einschnitt in der Mitte. Die Arcus supraciliares sind schwach, nur zur Nasenwurzel hin stärker, wo sie zu einer breiten, wenig erhabenen Wulst zusammenstossen. Die Stirn- und Scheitelhöcker sind ziemlich deutlich. Die Lineae semieireu- lares sind anfangs scharf, verlieren sich aber schon auf dem Stirnbein und werden weiterhin ganz unkenntlich — ein Umstand, in welchem die Schädel II und IV ebenfalls übereinstimmen, von den beiden anderen giljakischen, wie fast von allen übrigen hier vermessenen Schädeln aber abweichen. Das Hinterhaupt ist stark gewölbt, mit ansehnlicher, jedoch von oben abgeflachter, wulstförmiger Protuberanz. Die Muskelleisten auf dem Hinterhauptsbein wie auf den Schläfen- beinen in der Fortsetzung der Proc. zygomatiei und hinter den Proc. mastoidei treten, wenn auch weniger stark als bei den männlichen Schädeln, doch immerhin deutlich hervor. Das Foramen magnum liegt horizontal und ist klein, elliptisch, in der Mitte am breitesten. Die Schläfenbeinschuppe hat keinen Stirnfortsatz. Die grossen Keilbeinflügel sind nach hinten ausge- zogen, breit; die Sutura sphenofrontalis rechterseits 2%, linkerseits 19, die Sut. sphenoparietalis rechterseits 15, linkerseits 19”" lang. Der Nasenfortsatz des Stirnbeins reicht tief hinab. Die Nasenbeine sind an ihrer Wurzel eben so schmal wie bei I und II, dabei flach und an der Basis wie in der Mitte stark eingebogen. Der Nasalindex erreicht eine ganz ausnahmsweise Grösse!) und verräth eine in hohem Grade platyrhine Nase. Die etwas nach unten und aussen ausgezogenen Augenhöhlen sind absolut kleiner als an den männlichen Schädeln, ihre Höhe ist aber im Verhältniss zur Breite grösser, der Orbitalindex daher ansehnlicher, wie es nach Broca bei den Weibern im Vergleich zu den Männern desselben Stammes in der Regel zu sein pflegt?), und die Orbita somit in höherem Grade mesosem. Der Interorbitalraum ist breit. Die Fovea maxillaris ziemlich stark vertieft. Fasst man nun die vier Giljaken-Schädel zusammen, so bieten die drei männlichen unter ihnen drei verschiedene Formen dar: eine hypsidolichocephale, eine hypsimesocephale und eine platybrachycephale, während der vierte sich als weibliche Form an ® II anschliesst. Von diesen drei Schädeln stehen die beiden ersteren einander recht nahe, während der dritte, zumal dem ersten gegenüber, nach den Verhältnissen der Länge, Breite und Höhe eine diametral entgegen- 4) Das Maximum desselben dürfte nach Broca bis 72 2) Rev. d’Anthrop. T. IV, p. 594. und darüber reichen. Giljaken. Schwankungen der Schädelform. Schlussfolgerungen. 243 gesetzte Form darbietet: jener ist lang und schmal, dieser kurz und breit, jener hoch, dieser niedrig. Es ist leicht möglich, dass sie noch nicht die äussersten Schädelformen unter den Gi- ljaken repräsentiren, jedenfalls lässt sich schon jetzt der Schluss ziehen, dass die Schwankun- gen in der Schädelform bei ihnen sehr ansehnliche sind, indem der Längenbreitenindex zum wenigsten von 70,4 bis 85,2 und der Breitenhöhenindex von 88,0 bis 101,5 betragen, jener also um 14,8, dieser um 13,5 varliren kann. Dieser Umstand scheint mir, ebenso wie die oben besprochene Mannigfaltigkeit in der Physiognomie der Giljaken, dafür zu sprechen, dass sie im Laufe der Zeit manche Vermischungen mit anderen Völkern erfahren haben. Dennoch lassen sich die obigen Schädelformen der Giljaken nicht schlechtweg auf die bei ihren jetzigen Nach- baren, den Aino und den tungusischen Völkern, vorwaltenden Formen reduciren. Bei beiden letztgenannten Völkern kommen vielmehr, wie wir später ausführlicher nachweisen werden und wie man zum Theil auch schon aus der obigen Tabelle der Indices ersehen kann, sowohl hypsi- dolicho- und hypsimesocephale, wie platybrachycephale Formen vor. Bei den tungusischen Völkern scheint zugleich, nach den vorhandenen Maassangaben zu urtheilen, die letztere Form die vorherrschende zu sein. Ob dies auch bei den Giljaken der Fall ist, bleibt noch dahinge- stellt. Der Umstand, dass unter unseren vier giljakischen Schädeln drei hoch und lang oder mittellang sind und nur einer niedrig und kurz, scheint auf den ersten Blick dagegen zu sprechen, doch kann dies bei der geringen Gesammtzahl derselben auch nur zufällig gekommen sein. Nach der äusseren Erscheinung einer Menge giljakischer Köpfe möchte ich jedenfalls schliessen, dass die platybrachycephale Schädelform, von der uns ein praegnantes Exemplar vorliegt, unter den Giljaken häufig genug vorkommen dürfte. Und dies ist auch die echt mongolische Schädel- form'). Noch mehr tragen die einzelnen Züge an unseren Giljaken-Schädeln, und zwar auch an den hohen und langen oder mittellangen Exemplaren, einen mongolischen Charakter; so namentlich die ausnehmende Breite in den Jochbögen, die Breite und Flachheit des ganzen Ge- sichts, die grosse Breite der Wangen, des Oberkiefers und des harten Gaumens, der grosse Abstand der Unterkieferwinkel von einander, die schmalen, flachen Nasenbeine, die eingebogene Nasenwurzel u. s. w. Auch der Nasalindex ist selbst bei der’ hypsidolichocephalen Form von der Grösse, welche Broca den mongolischen Völkerschaften zuschreibt; an zweien unserer Schädel verräth er, vielleicht ausnahmsweise oder als Extrem, sogar eine platyrhine Nase. Der- selbe Charakter spricht sich auch in der grossen Breite des Interorbitalraumes aus, während der Orbitalindex hinter demjenigen, den unsere tungusischen Schädel fast durchweg zeigen und der nach Broca?) den mongolischen Völkern zukommt, ansehnlich zurückbleibt. Auffallend ist 1) Die 12 von Baer (Crania selecta ete..—Mem. del’Acad. des sc. de St. Petersb. 1. c. p. 256) vermessenen Schädel von Kalmücken, also echten Mongolen, waren sämmt- lich platybrachycephal, mit einem mittleren Längenbrei- tenindex von 83,7 und einem mittleren Breitenhöhenindex von 86,2. Unter den 20 ebenfalls authentischen Schädeln desselben Volkes, die Metschnikof (Aurpono.. ouepk®& Raamsıkogo. — Harberia O6m. amwöur. Ecrecrrosn., Au- Tpono.4. u Iruorp. T. XX; Tpyası Autpono.. OrA. Ku. 2, Mocksa 1876, erp. 211) untersuchte, fanden sich 12 bra- chycephale, 7 mesocephale und nur eine dolichocephale Form. Die respective Höhe der Schädel ist nicht ange- geben. 3 2) Rev. d’Anthrop. T. IV, p. 598. 31* 94% Die Völker des Amur-Landes. endlich an unseren Giljaken-Schädeln noch ein Charakter, der europäischen Schädeln fehlt, den sie aber fast mit allen hier untersuchten tungusischen Schädeln theilen und der Virchow auch am Aino-Schädel «in Erstaunen setzte»!): es ist die starke Ausbildung aller Fortsätze, Leisten und Erhabenheiten, die zur Muskelinsertion dienen, sowie besonders die ausnehmende Grösse der Ansatzflächen der Kaumuskeln, wie sie von den hoch hinaufreichenden, auf dem Scheitel wie auf dem Hinterhaupte einander sehr genäherten und in ihrem ganzen Verlaufe deutlich erkennbaren Lineae semicirculares angedeutet wird. Es ist dies ein Charakter, der sieh wohl auch bei anderen, auf harte und rohe Nahrungsstofle angewiesenen Naturvölkern wieder- holen dürfte. Sowohl in den Gesichtszügen, wie in der Schädelbildung herrscht also bei den Giljaken der mongolische Typus vor. Man könnte sie daher ihrer physischen Beschaffenheit nach recht wohl zu den im- weiteren Sinne mongolischen oder mongolisch-tungusischen Völkern rechnen und die mancherlei oben besprochenen niehtmongolischen Züge in ihrer äusseren Erscheinung, wie z. B. die viel stärkere Behaarung u. drgl., auf Rechnung ihrer langen und vielfachen Ver- mischung mit ihren südlichen Nachbaren, den Aino, bringen, wenn nicht ein mächtiger Einwand sich dagegen erhöbe — ihre Sprache. Denn diese steht, wie wir oben sahen, wenigstens ihrem Wortschatze nach, allen mongolisch-tungusischen Sprachen fern und bisher ganz isolirt da. Ich kann daher, dem oben hervorgehobenen zähen Festhalten eines Volkes an seiner Sprache Rechnung tragend, die Giljaken nicht zu den mongoliseh-tungusischen Völkern rechnen, sondern möchte vielmehr glauben, dass sie ehemals auch in ihrer physischen Beschaf- fenheit eigenartiger waren und sich nur im Laufe der Zeit, in Folge ihrer Vermischung mit den Tungusen, mehr und mehr mongolisirt haben. Wir werden später sehen, dass es sich auch mit den Aino, wenngleich in geringerem Grade, doch ähnlich verhält, indem sie, bei ebenfalls im Wortschatz ganz eigenarliger Sprache, in ihrer physischen Beschaffenheit vielfach einen mongolischen Typus tragen, der sich in den Gesichtszügen zwar nur wenig ausspricht und oft sogar einem fast europäischen Charakter zu weichen scheint, in der Schädelbildung aber ent- schieden vorherrschen soll?). Es giebt im Nordosten Asien’s noch eine ganze Reihe solcher Völker, die in sprachlicher Beziehung eine ganz vereinsamte Stellung einnehmen, in ihrem Aeusseren aber mehr oder weniger mongolische Züge tragen. So die Itälmenen oder Kam- tschadalen, die Korjaken und Tschuktschen?), die Jukagiren, die Jenissei-Ostjaken 4) Verhandl. der Berlin. Gesellsch. für Anthrop., Ethnol. und Urgesch., in der Zeitschr. für Ethnol., Bd. V, Berlin 1873, p. (122). 2) Virchow, l. c.; W. Dönitz, Bemerk. über Aino’s (Mittheil. der deutschen Gesellsch. für Natur- und Völker- kunde Ostasien’s, 6. Heft, Dec. 1874, Yokohama, p. 64); Anutschin,l.c. p. 168, 169. 3) Ich meine die eigentlichen, d. h. theils mit ihren Rennthieren umherwandernden, theils des Thier- und Fischfanges wegen, und oft nur zeilweise, an der Eismeer- küste sich aufhaltenden Tschuktschen (russisch: «olen- nyje», d. i. Rennthier-, und «beregowyje», d. i. Küsten- Tsch.), nicht die sogen. Cap-Tschuktschen («nosso- wyje»), die sprachlich ganz verschieden sind und zum Es- kimo-Stamme gehören. Letzteres ist bekanntlich schon von Billings (Uyrem. xaı. Bırsaunmrca upe3» Uykotck. 3eM.AIO, U3B.I. U36 pa3n. skypu. T. Capsıuegsrm%, C. He- repöypr» 1814, erp. 67) erkannt, aber fälschlich auf alle sogen. «sitzenden Tschuktischen» ausgedehnt worden. Spätere Reisende berichtigten es dahin, dass es sich nur Giljaken. Falsche Völkergruppirungen und Bezeichnungen. 245 und die fast verschwundenen oder tatarisirten Kotten, Arinen, Assanen. Neuerdings hat Friedr. Müller!) alle diese Völker und dazu noch die Aleuten und Eskimo in eine Gruppe unter dem vom geographischen Standpunkte gewählten Namen «Arktiker oder Hyperboreer» zusammengefasst. Peschel macht aus ihnen zwei Gruppen seiner über fast ganz Asien, Poly- nesien und Amerika reichenden «Mongolenähnlichen Völker», indem er die Jenissei-Os- tjaken, die Jukagiren und die Aino, mit Einschluss der Giljaken, als «Nordasiaten von unbestimmter systematischer Stellung», die übrigen obengenannten Völker aber, mit Hinzu- zählung der Thlinkit oder Koluschen und der Vancouver-Stämme, als «Beringsvölker» bezeichnet). Mir kommen jedoch weder diese Gruppirungen hinlänglich begründet, noch die Bezeichnungen für dieselben glücklich gewählt vor. Mit welchem Rechte, in der That, lassen sich die Giljaken oder gar die ehemals notorisch bis nach dem milden, vom warmen Kuro- siwo bespülten Nippon verbreiteten Aino vom geographischen Standpunkte als arktische oder hyperboreische Völker bezeichnen? Hat man ferner allen Grund die Jenissei-Ostjaken, Juka- giren, Aino und Giljaken, ihrer völlig isolirten Sprache wegen, als «Nordasiaten von unbestimmter systematischer Stellung» zu bezeichnen, so gilt dies in gleichem Grade auch von den Kamtschadalen, Korjaken und Tschuktschen. Mit welchem Rechte sind daher diese Völker von jenen abgetrennt und mit den schon durch ihre polysynthetischen Sprachen ?), wie zum Theil auch durch manche Züge der Gesichts- und Schädelbildung ®) allen jenen Völkern viel ferner stehenden Eskimo, Aleuten, Thlinkit und Vancouver-Stämmen zusammenge- stellt? Lässt man demnach diese amerikanischen Völker einstweilen bei Seite und bleibt nur bei jenen nordasiatischen stehen, so wird ihre Zusammenfassung in eine Gruppe zwar auch nur zwischen Tschuktschen und Eskimo halten. Auf den Höhen, welche die Lorenz-Bucht umgeben, fand jedoch auf das an der Berings-Strasse, zwischen dem Ostcap (Pääk) und der Anadyr-Mündung wohnende Volk beziehe, welches sich selbst «Namollo» nenne (Lütke, Voyage aut. du monde dans les ann. 1826—1829, trad. du russe, Paris 1835,T.11,p.260),vonden Tschuktschen aber «Aigwam» (Maitae.ın, Ors. Yykoter. 3kcueA. ua Bonp. akaı. Bapa. — Has. Cu6. Ora. Teorp. O6m. T. II, Upryrers 1871, N 1 u 2,crp. 68) oder «Aiguan» (Hopakzucr%, 3am.o unc- ACHHOCTH H HBIHbIIH,. NOAO;KeHin Uykyeit, skuByın. 10 6e- pery Jeaos. mopa.—Uss. Unn. Pycex. T’eorp.Oöm. T. XVI, 1880, erp. 95. Vergl. auch Petermann’s Geogr. Mitthl. 4881, p. 41) genannt werde. (Nach Wrangell — Hyr. no ebp. Öep. Cuö. u no AeAoe. mopro, C. Herep6. 1841, U. II, erp. 333 — sollte der Name «Onkilon», d.h. Seeleute, und nach Neumann — Uas. Cu6. Ora. Teorp. O6m. T. I, N 4 u 5, crp. 25 — «Ang-kali», d. h.nahe am Meere, lauten). Aus den Angaben Nordgvist’s, eines Theilnehmers an der Vega-Expedilion, welche die asiatische Küste an der Berings-Strasse allerdings nur an ein paar Punkten flüchtig berührte, geht übrigens hervor, dass die Namollo sich gegenwärtig stark mit den Tschuktschen vermischt haben müssen, Er möchte sie nur noch für ein Mischvolk auch die Vega-Expedition Steingrabhügel von reinem Eskimo-Typus, die wahrscheinlich zwei- bis dreihundert Jahre alt waren. 1) Allgemeine Ethnographie, Wien 1873, p. 188. 2) 0. Peschel, Völkerkunde, Leipzig 1874, p.413, 445. 3) F. Wiedemann, Classifik. der Bevölkerung des Russ. Reichesnach den Sprachen (St. Petersburger Kalender für das J. 1860, p. 326, 336). Die oben genannten asiati- schen Völker haben hingegen sämmtlich Sprachen mit einfacher Flexion (ebenda, p. 325). 4) Der Eskimo-Schädel z. B. ist auffallend hoch und schmal. Welcker (Kraniol. Mitthl. — Arch. für Anthropol. Bd. I, p. 159) sagt von den Eskimo, dass sie sogar «eine ausgezeichnete Stellung im Gebiete der Hypsistenocephalie einnehmen», während die Mehrzahl der Mongolen die diagonal entgegengesetzte, platybrachycephale Schädel- form haben. Ebenso sind sie auch durch eine den mon- golischen Völkern fremde, in hohem Grade leptorhine Nasenbildung unterschieden (s. Broca, Revue d’Anthrop. T. IV, p. 598). 246 Die Völker des Amur-Landes. eine collective, nicht auf der Stammeinheit der betreffenden Völker beruhende, aber doch um Vieles natürlichere sein, und gewiss würden sieh alsdann für diese Völker vom sprachlichen, wie vom geographischen Standpunkte auch richtigere und zutreflendere Gesammtbezeichnungen finden lassen. Vom ersteren Gesichtspunkte möchte ich sie namentlich als sprachlich isolirte Nordasiaten bezeichnen, gleichwie es ja auch sprachlich isolirte Völker in Europa oder überhaupt im Westen der alten Welt (viele der Kaukasischen Stämme, die Basken, vielleicht auch die ehemaligen Guanchen), in Amerika (die Aleuten, Thlinkit u. s. w.) und in anderen Welttheilen giebt. In geographischer Hinsicht aber fällt es sogleich in die Augen, dass fast alle diese Völker am äussersten Rande oder im Umkreise der Continente, entweder noch auf dem Festlande, auf seinen vorspringenden Halbinseln‘, oder auf den es begleitenden Inseln zu finden sind. Im Osten Asien’s namentlich, wo die Küste fast durchweg eine solche Configu- ration, mit Halbinseln und continentalen Inseln oder Inselketten hat, zieht sich eine ununter- brochene Reihe sprachlich isolirter Völker bis in den höchsten Norden fort. So, von etwaigen hier nicht in Betracht kommenden südlichen Völkern der Art abgesehen, die Giljaken, Aino, Kamtschadalen, Korjaken und Tschuktschen, Jukagiren, Tschuwanzen, ja, ver- muthlich auch die verschwundenen, der Sage zufolge nach einem grossen Polarlande aus- gewanderten Omoken, Schelager u. s. w. An dieselben schliessen sich geographisch die sprachlich isolirten Völker des genäherten und ähnlich configurirten Nordwestamerika’s an, die Aleuten, in gewisser Weise, wie wir sehen werden, auch die Eskimo u. s. w. Unwillkürlich drängt sich einem daher für diese Völker vom geographischen Standpunkte die Bezeichnung Randvölker und für unsere Nordasiaten im Speciellen nord- oder nordostasiatische Rand- völker auf. Nur auf ein paar dieser Völker, ich meine die im Innern Sibirien’s wohnenden Jenissei-Ostjaken und die fast verschwundenen oder tatarisirten Kotten, Arinen und Assanen, scheint diese Bezeichnung auf den ersten Blick nicht zu passen. Bei genauerer Be- trachtung wird man jedoch finden, dass auch sie ihre Wohnsitze am Rande grosser, natürlich abgegrenzter Erd- und Völkergebiete haben: zwischen den Hochebenen Central- und dem weiten Tieflande Nordasien’s, an den Abfällen des völkerscheidenden Altai-Gebirges, oder, weiter im Tieflande, zwischen dem ebenen West- und dem gebirgigen Ostsibirien und zugleich auch zwischen den weiten Gebieten finnischer Völker im Westen und Norden, tungusischer im Osten und tatarischer und mongolischer im Süden. Fasst man daher die Bezeichnung «Randvölker» in diesem Sinne auf, nach welchen sie keineswegs nothwendig Küstenbewohner zu sein brauchen, so lassen sich auch jene sprachlich isolirten Völker des Innern von Sibirien ganz natürlich unter dieselben einreihen. | Ausser dem sprachlichen und geographischen Gesichtspunkte möchte ich aber bei Betrach- tung dieser Völker auch noch einen dritten, weiteren, historischen Gesichtspunkt geltend machen. Erwägt man nämlich ihre sprachliche Vereinsamung, ihren Sitz am Rande der Conti- nente oder überhaupt verschiedener grösserer Erd- und Völkergebiete, erwägt man ferner die geringe Erstreckung ihrer Wohngebiete und ihre kleine, im Schwinden begriffene Kopfzahl, so drängt sich einem unwillkürlich der Gedanke auf, dass sie nur Reste ehemals stärkerer, Giljaken — ein Glied der Paläasiaten. 247 weiter verbreiteter und verzweigter Völker sind, gleichsam nur die Ausgehenden einer älteren Völkerformation, über welcher sich durch wiederholte spätere Fluthen neue Formationen abge- lagert haben. Da namentlich die ehemalige weitere Verbreitung und Verzweigung dieser Völker unzweifelhaft auf asiatischem Boden, näher zum Innern des Continentes lag, so möchte ich sie, so lange die Sprachforschung keine anderweitigen Beziehungen und Gliederungen nachweist, vom historisch-geographischen Gesichtspunkte in eine Gruppe unter dem Namen der Palä- asiaten oder, specieller, der nördlichen oder nordöstlichen Paläasiaten zusammenfassen. Von überlegenen, lebenskräftigeren und expansiveren Völkern überfluthet und gedrängt, sind wohl die meisten Zweige derselben allmählich verschlungen und verwischt worden, und nur einzelne haben sich hie und da auf kleinem Terrain, zwischen den von ihren Bedrängern eingenommenen Gebieten, oder, beständig zurückweichend, in etwas grösserer Zahl am Rande der Continente erhalten können. Wo sie namentlich auf Inseln oder abgeschiedeneren Halbinseln eine Heimath fanden, da konnte und musste neben der sprachlichen auch ihre physische Eigenthümlich- keit länger und in höherem Grade gewahrt bleiben. Immer aber konnte es nicht fehlen, dass sie an dieser letzteren durch die theilweise Vermischung mit dem auf sie herandrängenden Volke manche Einbusse erlitten und mehr oder weniger viele mit demselben gemeinsame Züge gewannen. So kann man sich vielleicht die oben hervorgehobene Thatsache erklären, dass die jetzigen nordasiatischen Randvölker, einst von Stämmen mit mongolischem Typus überfluthet und gedrängt, trotz ihrer untereinander gänzlich verschiedenen Sprachen, doch sämmtlich in ihrer Schädel- und Gesichtsbildung vorherrschend mongolische, daneben aber auch manche eigenartige, entschieden nichtmongolische Züge haben, und dies um so mehr, je mehr sie, wie die Aino und in geringerem Grade die Giljaken, durch ihre Verbreitung nach den anliegenden Inseln einen Schutz gegen fernere mongolisch-tungusische Einflüsse gewannen. Die Ueberfluthung und allmähliche Verdrängung der nördlichen Paläasiaten durch andere, finnische oder ural- altaische, türkisch-tatarische, mongolische, tungusische Völkerschaften mag in weit entfernten Zeiten ihren Anfang genommen und durch lange Zeiträume bald langsam, bald in zeitweise be- schleunigterer Weise sich fortgesetzt haben. Manche dieser Fluthen lassen sich auch in histori- scher Zeit, ja einzelne Wellen noch in der jüngsten Vergangenheit wahrnehmen. So ist bereits oben der im XIV. Jahrhundert erfolgten Bewegung der Burjaten an den Baikal-See, der Jakuten das Lena-Thal abwärts und der Tungusen sowohl nach Westen, bis an den Jenissei, wie nach Osten, zum Ochotskischen Meere, zum Stanowoi-Gebirge und zum Amur-Lande, gedacht worden. Nachdem die Aino bereits zu einem Randvolke Ostasien’s geworden, werden sie durch die Japaner aus einem Theile ihres Gebietes, aus Nippon, verdrängt!) und dadurch zur weiteren Ausbreitung längs den Kurilen und nach Sachalin getrieben. Vielleicht geschah es unter diesem Andrange der Aino von Süden, dass ein Theil der Giljaken die Insel Sachalin verliess und sich wieder auf das Festland, nach dem unteren Amur und zur Küste des Ochot- skischen Meeres hinzog, wie es die oben erwähnten sprachlichen Gründe anzudeuten scheinen ?). 1) S. oben, p. 123. | 2) S. oben, p. 213, 214. 248 Die Völker des Amur-Landes. Von der Bewegung tungusischer Stämme im Amur-Lande nach Osten ist oben wiederholentlich die Rede gewesen. Einen besonders sprechenden Beleg für ihr Vordringen gegen die nördlichen paläasiatischen Völker bietet das oben besprochene'), chronologisch zwar nicht näher zu be- stimmende, sehr wahrscheinlich aber vor nicht gar langer Zeit erfolgte Einwandern der Oroken, eines Zweiges der amur-tungusischen Oltscha, nach Sachalin, mitten zwischen die Giljaken und Aino. Und ganz Aehnliches hat sich neuerdings auch auf der durch manche ihrer Natur- verhältnisse?), wie durch ihre paläasiatische Bevölkerung mit insularem Charakter versehenen Halbinsel Kamtschatka zugetragen. Im Jahre 1854 schrieb C. v. Ditmar aus dem Peterpauls- hafen an die Akademie°?): «Die Lamuten (bekanntlich Küsten-Tungusen vom Ochotskischen Meer) sind eine ganz neue Erscheinung in diesen Gegenden, ja, aus dem Munde der Koräken hörte ich oft, dass erst seit 20 Jahren diese reitenden Rennthiernomaden in den koräkischen Grenzen sich gezeigt haben und nun von Jahr zu Jahr in grösserer Menge erscheinen. Die Koräken bezeugen ihnen die Gastfreundschaft, jedoch so, dass sie ihnen gleichsam eine Strasse öffnen in das an Wild und Fischen reiche Kamtschatka. Die Lamuten ihrerseits erkennen sehr wohl die freundliche Gesinnung ihrer Gastfreunde und ziehen in rascher Reise in die höheren Gebirgsthäler an dem westlichen Abfall des Kamtschatka’schen Mittelgebirges, wo sie sich seit etwa 6—7 Jahren in kleinen Horden niedergelassen zu haben scheinen und in der allerletzten Zeit ihre Streifereien sogar bis nach Bolscherezk ausdehnten». Man kann die Analogie in diesen Bewegungen — der Oroken nach Sachalin und der Lamuten nach Kamtschatka — nieht ver- kennen. Aufdie Tungusen drängen aber von Westen die Jakuten, deren Ausbreitung vom Lena- Thal ostwärts, wie vor Jahrhunderten, so noch heutzutage stattfindet und ihre Wellen, wie oben schon mehrfach hervorgehoben, immer tiefer und tiefer in das tungusische Gebiet treibt. Bekannter als diese Vorgänge im äussersten Norden und Osten Asien’s sind die vielfachen Völkerfluthen, welche ebenfalls vom Innern Asien’s nach Norden und Westen sich ergossen und wiederholentlich selbst bis zu den äussersten Enden Europa’s sich fortpflanzten. Auch dort finden sich daher Reste älterer Völkerformationen, welche namentlich am: Rande des Continentes zu Tage treten, und wo die Sprachforschung ihr entscheidendes Wort noch nicht gesprochen, kann man sie zeitweilig vom historischen Gesichtspunkte auch als paläeuropäische oder west-palä- asiatische Völker bezeichnen. Liegt mir auch ihre Betrachtung hier fern, so kann ich doch nicht umhin, aufein paar solcher europäischer Randvölker hinzuweisen. So begegnet man noch heutzu- tage am Golfe von Biscaya dem sprachlich vollkommen vereinsamten Volke der Basken, einem Reste der alten, von den Kelten verdrängten Iberier. Von einem anderen paläeuropäischen Volke, den Etruskern im Westen der Apenninischen Halbinsel, haben sich wenigstens Sprach- proben erhalten, die auch von vereinsamter Eigenart zeugen‘). Im Westen der dritten südlichen 1) S. oben, p. 134. p- 100; Mel. russes, T. III, p. 2). 2) Vrgl. unter Anderem dieses Werkes Bd. I, p. 200. 4) Aus Peschel’s Völkerkunde (p. 543) entnehme 3) C. v. Ditmar, Ueber die Koräken und die ihnen sehr | ich. die Angabe, dass es neuerdings dem Sprachforscher nahe verwandten Tschuktschen (Bullet. de la cl. historico- | Corssen geglückt sein soll, auch das Etruskische als philol. de ’Acad. Imp. des sc. de St. Petersb. T. XIII, | eine altitalische Sprache zu entziffern, dass aber die Giljaken. Beispiele europäischer und nordamerikanischer Randvölker. 249 Halbinsel Europa’s, in den Gebirgen Albanien’s, stösst man auf die Schkipetaren oder Arnauten, deren Sprache zwar zum indo-europäischen Stamme gehören, jedoch ausserhalb aller geschwisterlichen Beziehungen zu irgend einem seiner Zweige stehen soll. Auch später haben in Europa die wiederholten Fluthen indo-europäischer Völker die älteren Zweige desselben Stammes theils verschlungen, theils verdrängt, so dass sie gegenwärtig geographisch auch nur als spärliche Randvölker noch auzutreflen sind. So haben sich die Verdränger der Iberier, die Kelten, mit eigener Sprache nur am äussersten Rande Westeuropa’s, und zwar mit kymrischer Mundart nur in der Bretagne und in Wales, mit gaelischer oder gadhelischer Mundart nur im Westen Irland’s, auf der Insel Man und in Schottland erhalten '). Im Norden Europa’s werden Glieder der auf asiatischem Boden noch weite Räume einnehmenden ural-altaischen Völkerfamilie mehr und mehr nach dem äussersten Nordrande des Continents gedrängt; so die ehemals viel weiter nach Süden verbreiteten Lappen?) und die Samojeden durch finnische Völker, gegen welche wieder Skandinavier und Russen vordringen. Ganz ähnlichen Erscheinungen begegnet man auch in der neuen Welt. Ich will hier nur bei einigen Völkern des Nordens und Nordwestens von Amerika verweilen, die in gewisser Be- ziehung zu unseren nördlichen Paläasiaten stehen. Wie Ritter bemerkt, giebt die erste Ent- deckung dieses Welttheils durch die Normannen auch einigen Aufschluss über eine ameri- kanische Völkerwanderung). Als nämlich die Normannen gegen Ende des X. Jahrhunderts ihre ersten, später verschollenen Colonien auf Grönland gründeten, fanden sie dies Land unbe- wohnt, während sie in dem nur wenig später, um das Jahr 1000 von ihnen entdeckten Win- land, an der Ostküste Nordamerika’s, Eskimo antrafen, welche sie ihres kleinen Wuchses wegen Skrällinger (Abschnitzel, Zwerge) nannten. Bei der Wiederentdeckung Nordamerikas, zu Ende des XV. Jahrhunderts, fand man hingegen die Eskimo schon durch Indianer- Stämme verdrängt, und als man 1721 unter Hans Egede Südgrönland wieder betrat, gab es dort keine Normannen mehr, statt ihrer aber ein neues Volk — die Eskımo, welche, wie spätere Forschungen ergaben, in der Mitte des XIV. Jahrhunderts dorthin einge- wandert waren *). So lernen wir dieses Volk gleich auf seiner Wanderung nach Norden kennen. Der gewaltige Vorschub europäischer Colonisation in Nordamerika, der die Indianer nord- und westwärts drängte, musste auch den Druck auf die Eskimo verstärken. Erwägt man, dass sich Spuren ihrer Wohnungen an der Ostküste Grönland’s noch bis zum 76° n. Br. finden), Veröffentlichung der Beweise bis dahin (1874) noch nicht 4) Nach Konr. Maurer, in der Zweiten deutschen erfolgt sei. 4) Fr. Müller, Allg. Ethnogr. p. 483; Peschel, Völ- kerkunde, p. 543. 2) Nach Nilsson, s. Baer, Ueber den Schädelbau der Rhätisch. Romanen (Bull. de l’Acad. Imp. des sc. de St. Petersb. T. I, 1860, p. 53). 3) C. Ritter, Gesch. der Erdkunde und der Entdeckun- gen. Vorles. herausg. von H. A. Daniel, Berlin 1861, p- 214. Schrenck’s Amur-Reise, Band III, Nordpolarfahrt,Leipzig,1873, Bd.I, p. 234. Vrgl. Peschel, Völkerkunde, p. 62, 419. 5) Clavering traf 1823 noch Eskimo an der Ost- küste Grönland’s in etwa 74° N.; die zweite deutsche Nordpolar-Expedition (1870) fand allerdings nur Reste ihrer ehemaligen Wohnungen, aber biszum Cap Arendts, in 76° n. Br., hinauf (Jul. Payer, in Petermann’s Geogr. Mittheil. 1872, p. 190, 413 und Taf. 10). 250 Die Völker des Amur-Landes. so kann man sich schwer denken, dass sie im Nordwesten des Continentes nicht auch von der- selben Bewegung ergriffen worden seien. Auf diese Weise können die wenig zahlreichen, auf der asiatischen Seite der Berings-Strasse südlich vom Osteap (Pääk) bis etwa zur Anadyr- Mündung ansässigen Namollo, ein Zweig der Eskimo, leicht von Amerika herübergekommen sein. Dennoch wäre dies nur eine theilweise Rückwanderung der Eskimo nach Asien, gleich der oben erwähnten Rückwanderung der Giljaken von Sachalin nach dem asiatischen Festlande. Denn dieGesichtszüge der Eskimo wie ihre Traditionen machen es wahrscheinlich, dass sievon asiatischem Ursprunge sind. Nehmen sie auch durch ihre Sprache und ihre Schädelbildung den jetzigen asia- tischen Völkern gegenüber eine gewisse Sonderstellung ein, so tragen doch ihre Gesichtszüge, nach dem übereinstimmenden Zeugnisse aller Reisenden, die sie persönlich kennen lernten, einen unverkennbar mongolischen Typus!). Bei den Kanjagen (Kanjag-mjut), einem gegenwärtig mit den Koljuschen vielfach vermischten Eskimo-Stamme, fand Pinart die Tradition, dass ihre Vorfahren in einem nach Westen gelegenen Lande gewohnt hätten). Nach Wrangell?) sollen sie aber ihren Ueberlieferungen zufolge, ebenso wie die Tschugatschen, Kuskokwi- mer u.a. verwandte nordwestamerikanische Eskimo-Stämme, nach ihren jetzigen Wohnorten, auf Kadjak und Aljaska, am Tschugatskischen Meerbusen, am Kuskokwim-Flusse u. s. w., von Norden gekommen sein. Daraus lässt sich, in Verbindung mit der mongolischen Gesichtsbildung, auf eine Einwanderung der Eskimo aus Asien über die Berings-Strasse nach Amerika schliessen, wie dies auch schon von Chamisso®), Wenjaminof?) u. A. ausgesprochen worden ist. Ver- muthlich ist der Norden Amerika’s damals unbevölkert gewesen, was den Eskimo die Mög- lichkeit gab, ungehindert von der Berings-Strasse südwärts bis nach Aljaska, der Insel Kadjak und dem Tschugatskischen Meerbusen, wo sie auf die Koljuschen stiessen, und ostwärts bis zur Atlantischen Küste sich auszubreiten, und dadurch im Laufe der Zeit auch zu vielfacher Verzweigung des Stammes, zur Ausprägung dialektischer und anderer Differenzen führte. Eben weil sie in Amerika einen so freien und weiten Spielraum fanden, kommt es mir auch wahr- scheinlicher vor, dass die Namollo nicht sowohl auf asiatischem Boden zurückgebliebene, als 4) So nennt Chamisso (Bem. u. Ans. auf einer Ent- | den eigentlich physiognomischen Theil, so kann man deckungsreise, in Kotzebue’s Entdeckungs-Reise in die Süd-See und nach der Berings-Strasse, Bd. III, Weimar 1821, p. 176) die Eskimo von der Berings-Strasse bis nach Grönland «einen Menschenstamm von ausgezeichnet mongolischer Gesichtsbildung». Nach Lütke, (Voyage aut. du monde, T. II, Paris 1835, p. 264) treten bei den Namollo die mongolischen Gesichtszüge besonders auf- fallend an den Weibern und Kindern hervor. Virchow hat sich wiederholentlich, bei Untersuchung von Grön- land- und neuerdings von Labrador-Eskimo, dahin ausgesprochen, dass, trotz eigenthümlichem Schädelbau, ihre Gesichtsbildung doch eine mongolische sei. «Wenn man sich», sagt er, «den Kopf in zwei Theile zerlegt denkt, in den Theil, welcher das Gehirn umschliesst, die eigent- liche Schädelkapsel, und den, welcher das Gesicht bildet, sagen: der physiognomische Theil ist mongolisch, der Gehirntheil eigenthümlich, absonderlich» (Verhandl. der Berl. Ges. f. Anthrop., Ethnol. u. Urgesch., in d. Zeitschr. f. Ethnol. Bd. XII, 1880, p. [256)). 2) A. Pinart, Esquimaux et Koloches. Idees relig. et tradit. des Kaniagmioutes (Revue d’Anthropol. 1873, N 4), p. 6 (des Separatabdruckes). 3) Statist. u. ethnogr. Nachr. über die Russ. Besitz. an der Nordwestküste von Amerika (Beitr. zur Kenntn. des Russ. Reiches, herausg. von Baer und Helmersen, Bd. I, St. Petersb. 1839, p. 124). 4)A.a0. 5) Banucku 06% ocrp. Vnauamkıumcraro oTA. C. Herep6. 1840, T.1, erp. 112, 113. Giljaken. Paläasiatische Völker Nordamerikas. 251 vielmehr später, bei eingetretenem Druck von Süden, von Amerika nach Asien zurückgewan- derte Eskimo sind!). Wie dem aber auch sei, immer bleibt der asiatische Ursprung der Eskimo so gut wie unzweifelhaft. Aehnlich verhält es sich auch mit den Aleuten. In ihren Gesichtszügen scheint der mon- golische Typus noch auflallender hervorzutreten. «Beim ersten Blick», sagt Wran gell, «erkennt man in ihnen die asiatische Abstammung von Mongolen oder Mandshu, und die Japaner, welche von einem auf den Sandwich-Inseln gescheiterten Schiffe nach Neu-Archangelsk kamen, erinnerten lebhaft an die Bewohner von Unalaschka»?). Auch soll sich unter ihnen, nach Wrangell wie nach Wenjaminof£f°), die Tradition erhalten haben, dass sie, durch-andere Völker gedrängt, von einem grossen, im Westen, unter mildem Himmel gelegenen Lande nach ihren Inseln gekommen seien). Wenjaminof meint daher auch, dass sie vielleicht aus Japan über die Kurilen, Kamtschatka und die Berings-Insel nach den Aleuten eingewandert seien, also auf ganz maritimem Wege, wie man es in der That angesichts der ausserordentlichen, von keinem anderen Volke erreichten Geschicklichkeit und Kühnheit, die sie noch heutzutage auf der See, ihrem eigensten Lebenselemente, entwickeln, gern glauben möchte. Den Weg zur weiteren Ausbreitung längs dem Festlande Amerika’s fanden sie jedoch durch Koljuschen und Kanja- gen verlegt, weshalb sie auch nicht zu der Verzweigung wie die Eskimo kommen und da- gegen, auf ihre Inseln beschränkt, die mongolischen Gesichtszüge in höherem Grade als diese conserviren konnten. . Haben die Eskimo und Aleuten ehemals ihre Heimath in Asien gehabt, so entsteht die Frage, was sie zum Verlassen derselben bewogen haben kann? Man wird, glaube ich, den Grund dazu in denselben Völkerbewegungen suchen dürfen, von denen oben die Rede gewesen. Indem 4) Billings (Iyrem. kan. Busauurca upe3% Uykortck. 3eMAI0, U3B.A. 136 Pa3H. :kypu. T. Capsıueztıme, C. Ie- breitet waren, und dass sie erst nach Eroberung dieses Stro- mes durch die Lena-Kosaken ostwärls gedrängt wurden. repöypr®e 1811, crp. 68) sah die Namollo überhaupt als von Amerika nach Asien eingewanderte Kanjagen (Es- kimo) an. Ebenso nennt sie Klaproth (Asia polygl. p. 322) «Polar-Amerikaner in Asien». Uebrigens scheinen die jetzt so reducirten Namollo in Asien ehemals, nach ihrer Einwanderung aus Amerika, eine weitere Ausbrei- tung gehabt zu haben und später wieder zurückgedrängt worden zu sein. Wrangell (UIyrem. no ct». Oep. Cuönpn u JeAo». mopa, T. II. crp. 333) erfuhr im Jahre 1823 von einer Tradition, laut welcher sie vor etwa 200 Jahren die ganze Eismeerküste von der Berings-Strasse bis zum Cap Schelagskoi bewohnten, In der That findet diese Tradition darin eine Stütze, dass sich auf dieser ganzen Strecke zahl- reiche Spuren von Wohnungen erhalten haben, dievonden- jenigen der Tschuktschen ganz verschieden und gleich den Eskim o-Hüttenzum Theil in den Erdboden eingesenkt waren. Nach Wrangell giebt es mehrfache Beweise da- für, dass andererseits auch die Tschuktschen damals viel weiter nach Westen, über die Kolyma hinaus ver- So liegt der Schluss nahe, dass die Tschuktschen, in- dem sie nach blutigem Conflikt vor den Russen zurück- wichen, ihrerseits auf die Namollo drückten und sie endlich bis an das äusserste Ende des Landes, die Küste an der Berings-Strasse, verdrängten. 2) Wrangell,l.c. p. 124. Von den Kanjagen (Kad- jakern) sagt er hingegen, dass sie sich nur durch ihre Sprache als Eskimo verrathen, während sie im Aeusseren, in Folge von Vermischung mit den amerikanischen Stämmen, den ursprünglichen asiatischen Charakter ver- loren haben. 3) A. a. O. Bd. I, p. 109; Bd. II, p. 272. 4) Nach dem Steuermann Saikof hingegen, der die Aleuten in den 70-er Jahren des vorigen Jahrhunderts bereiste, behaupteten die Bewohner Aljaska’s, dass die Aleuten in den ältesten Zeiten von dort ausgegangen seien und sich von Insel zu Insel bis zu der entlegensten derselben (Attu) verbreitet hätten (Neue Nord. Beytr. Bd. III, St. Petersburg und Leipzig 1782, p. 284). 32* 252 Die Völker des Amur-Landes. die Giljaken, Aino, Kamtschadalen, Korjaken, Tschuktschen u. s. w. von den Sibirien gegenwärtig räumlich beherrschenden Völkern nach dem Nord- und Ostrande Asien’s fortge- drängt wurden, schoben sie ihrerseits die Eskimo und Aleuten vor sich hin und drängten sie endlich auf den beiden oben bezeichneten Wegen, über die Berings-Strasse und die Berings- Insel, nach Amerika hinüber. Gleichwie jene gegenwärtig auf den Nord- und Ostrand Sibirien’s beschränkten Völker, müssen wir daher auch diese durch dieselbe Bewegung aus ihrer asiati- schen Heimath hinaus und nach den gegenüberliegenden Gestaden Amerika’s hinübergedrängten Völker als Paläasiaten bezeichnen. Auch tritt wenigstens eines derselben, die Eskimo, trotz der weiten Verbreitung und Verzweigung, die es in Amerika gewann, mit einem Gliede, den Namollo — gleichviel ob diese als Rest der früheren Eskimo-Bevölkerung in Asien zurück- geblieben, oder später von Amerika wieder herübergespült worden — noch gegenwärtig auf asiatischem Boden zu Tage. . Damit glaube ich einigermassen die Stellung bezeichnet zu haben, welche die Giljaken, und desgleichen auch die Aino, unter den Völkern Nordasien’s und des angrenzenden Nord- amerika’s einnehmen. Mit eigener, gegenwärtig vereinsamter Sprache versehen, stehen sie ohne direkte Stammverwandte da, lassen sich jedoch geographisch wie historisch in nächster Be- ziehung zu denjenigen Völkern auflassen, welche wir gleich ihnen als nordasiatische Randvölker oder als nördliche Paläasiaten bezeichnet haben, und zwar besonders zu denjenigen unter ihnen, welche in Asien verblieben sind, demnächst aber in gewisser Weise auch zu denen, welehe unter dem Andrange der letzteren den asiatischen Boden geräumt haben, um nach dem nahen Amerika hinüberzugehen, Es wird zur Rechtfertigung dieser Auffassung dienen, wenn uns in der Folge, bei Betrachtung der Lebensweise, der Sitten und Anschauungen der Giljaken, mancher und der meiste Anklang an die übrigen paläasiatischen Völker entgegentreten wird. Ist in dem Obigen auch schon die Stellung des Aino-Stammes zu den übrigen Völkern Östasien’s bezeichnet worden, so geschah dies doch nur in vorgreifender Weise, ohne alle Begrün- dung von sprachlicher wie von physischer Seite. Keines der hier in Rede stehenden Völker ist aber nach beiden Seiten so bekannt, wie die Aino. Ich selbst bin mit ihnen nur wenig in Berührung gekommen, kenne nicht ihre Sprache, habe nur wenige Individuen theils in Aniwa, theils unter den Giljaken von Sachalin gesehen und auch keine Gelegenheit gehabt, gut erhaltene A ino-Schädel zu vermessen. Was hier daher über die Abstammung der Aino, ihre Sprache und physische Be- schaffenheit folgt, beschränkt sich auf eine kurze Zusammenstellung und kritische Abwägung der verschiedenen darüber geäusserten Ansichten und Angaben. Ueber kein Volk sind hinsichtlich seiner Abstammung oder Stammverwandtschaft in kurzer Zeit so viele, so weit auseinandergehende, ja, einander so sehr widersprechende Ansichten aus- gesprochen worden, wie über die Aino. Die erste dahin zielende Aeusserung findet man bei Arno. Verschiedene Ansichten über deren Abstammung. 253 La Perouse, der, auf die regelmässigeren, den Orotschen der Bai de Castries fremden, mehr «europäischen» Gesichtszüge der Eingeborenen von Oku-Jesso (Aino von Sachalin) gestützt, die Bemerkung hinwarf, dass diese Insel, so wie die vom selben Stamme bewohnten Kurilen und Jesso ihre Bevölkerung sicherlich nicht vom gegenüberliegenden Continent bezogen hätten, sondern dieselbe einer «Asien vielleicht sogar fremden Colonie» verdankten!). Die lange Zeit hin- durch einzigen Abbildungen von Aino-Köpfen im Atlas zu Krusenstern’s Reise?) schienen diese Ansicht zu bestätigen. Nicht minder auch manche spätere, denen man jedoch, sobald sie nicht auf photographischem Wege gewonnen worden, heutzutage keine Bedeutung mehr zuschreiben darf?). Am entschiedensten ist die Ansicht vom indo-europäischem Ursprunge der Aino von Bickmore ausgesprochen und vertreten worden ®). Durch ihre Gesichtszüge, meint er, nament- lich dureh die horizontal geschlitzten, weit offenen Augenlider, durch die keineswegs vorragen- den Backenknochen und durch die Haarfülle, stehen die Aino allen sie umgebenden asiatischen Völkern, Japanern, Chinesen, Koreanern, Mandshu, Giljaken und Kamtschadalen, fern und erinnern hingegen an «bärtige russische Bauern von slavischem Stamme»°). Er sieht sie daher für «einen Zweig unserer eigenen, arischen Familie» an und fügt, wie um seiner An- sicht noch mehr Gewicht zu verleihen, die Bemerkung hinzu, dass auch der Dr. Pickering, Direktor der ethnologischen Abtheilung der naturforschenden Gesellschaft zu Boston und Ethno- log der «Exploring Expedition» der Vereinigten Staaten, dieselbe vollständig theile und ihn zur Bekanntmachung dieser seiner Beistimmung autorisirt habe. Gleichwie einige indo-europäische Völker vom Hochplateau Centralasien’s über Iran nach Westen, andere, wie die Perser und Hindu, nach Süden gewandert seien, so habe sich, meint Bickmore, noch ein anderer Zweig desselben Stammes nach Osten gezogen, bis er die das heutige Japan bildenden Inseln erreichte, wo wir ihn noch heutigen Tages als Aino antreflen. Bezugnehmend auf Siebold’s Angaben über die Sprache der Aino, kommt Bickmore sogar zu dem Schlusse, dass sie ein arisches Volk seien, das eine nichtarische Sprache spreche, und zwar eine ihnen selbst eigene Sprache, welche sie, wenigstens in den letzten 2500 Jahren, von keinem anderen Volke, das sie unterjocht oder von dem sie unterjocht worden, angenommen hätten. Der letzteren Behauptung darf man gewiss beistimmen, um so mehr als man von keinem Volke weiss, dem die Aino ihre Sprache entlehnt haben könnten, und als sie auch heutigen Tages, selbst einem ihnen so weit überlegenen und so mächtig auf sie eindringenden Culturvolke gegenüber, wie die Japaner, an ihrer eigenen Sprache zähe festhalten. Nur hätte dieser Umstand billigerweise auch bei der Ableitung ihres Ursprungs in Betracht gezogen werden sollen. 1) La P&erouse, Voyage aut. du monde, red. par Milet-Mureau, T. II, Paris 1797, p. 88, 114. 2) Tab. LXXVI—LXXIX. 3) SodievonHaberscham mitgetheilten,bei Nott and Gliddon, Indigen. Races of the Earth, Philadelphia 1857, p- XI; desgl. | 5 im Ethnogr. Tableau des genannten Werkes. 4) Alb.Bickmore, The Ainos or Hairy men of Jesso, Saghalien and the Kurile Islands (Amer. Journ. of Science, May, 1868, p. 8, 9, 21, 24). 5) Uebrigens sprachen es schon Golownin und Bryl- kin aus, dass die dichten schwarzen Kinn- und Schnurr- bärte die Aino den russischen Bauern sehrähnlich machen. Vrl. des Letzteren «IIucpma cu Caxaanua» (3a. Cu6. OrtA. Teorp. Oöm. Ku: VII, Hpkyrer» 1864, erp. 14). 254 Die Völker des Amur-Landes. Nicht besser scheint mir die Ansicht zu sein, welche den Aino einen semitischen Ursprung zuschreibt. Ein in Hongkong stationirender englischer Geistlicher, Dr. Grey, soll sie nämlich für einen nach den jetzigen Japanischen Inseln versprengten Juden-Stamm halten. Worauf sich aber diese Ansicht gründet, weiss ich nicht, da mir dieselbe nur aus einer Mittheilung R. Gärtner’s bekannt ist!). Wie Diese im fernen Westen der Alten Welt, so haben Andere die nächsten Stammver- wandten der Aino weit ostwärts, in der Neuen Welt gesucht. Der deutsche Ministerresident in Japan, v. Brandt, fand aus eigener Anschauung zwischen den Aino und manchen Indianer- "Stämmen Nordamerika’s — namentlich den Utahs und Schoscehonen — eine solche Aehnlich- keit, dass er keinen Anstand nahm, sie für stammverwandt zu erklären). Von viel grösserer Bedeutung und Tragweite ist die Ansicht von Vivien de Saint-Martin über die Abstammung der Aino°). Er betrachtet sie als Angehörige einer besonderen Race, welche ursprünglich die gesammte grosse Inselwelt Asien’s von Sumatra bis nach den Philip- pinen bewohnte, und deren Abkömmlinge sich noch jetzt im Innern dieser Inseln finden, wie die Batta von Sumatra, die Dayak von Borneo, die Tagalen von Lucon, die Bizaya von Min- danao u. drgl. m. Diese weisse Race, mit ungefähr, wenn nicht ganz kaukasischen Zügen, hatte geographisch ihren Sitz zwischen den gelblichen Stämmen Östasien’s einerseits und den schwarzen Völkern Südwest-Oceanien’s andererseits. Die sie jetzt auf jenen Inseln umgebende Malayische Race sieht er nur als eine in sehr alter Zeit durch Vermischung gelber, asiatischer Völker mit derselben entstandene hybride Form an. Hatte man nun die Existenz einer von den Ma- layen ganz verschiedenen Race auf den grossen ostasiatischen Inseln schon längst erkannt, so wies Vivien de Saint-Martin zuerst darauf hin, dass sie keineswegs auf dieselben beschränkt sei, sondern sich von dort aus nach zwei Richtungen weithin verzweigt habe. Die eine Ver- zweigung ging nach Osten, über die ganze Inselwelt Polynesien’s, die andere erstreckte sich nach Norden, über alle den Ostrand Asien’s begleitenden Inseln, von Formosa bis nach Kamtschatka. Da somit diese Race nur auf Inseln wohnt und über Inseln sich ausgebreitet hat, so nennt Vivien sie die Oceanische Race‘). Ihr nördlicher Zweig umfasst nach ihm auch die Aino. Namentlich sieht er einen Beweis dafür in der starken Entwickelung bei ihnen des Bart- und übrigen Haarwuchses, wodurch sie von den bartlosen Chinesen, Mandshu und übrigen mongolischen Völkern scharf abstechen und hingegen den Dayak und anderen ähnlichen Völkern des ostasiatischen Archipels verwandt erscheinen. Bemerkenswerth ist aber, dass von demselben Gesichtspunkte, physischer Aehnlichkeit, Peschel über die Abstammung der Aino eine ganz ent- gegengesetzte Vermuthung ausspricht. Auf Grund ihres starken Haarwuchses, sowie vielleicht auch ihres angeblich schwärzlichen Teints, hält er es nicht für undenkbar, dass sie zu den Aeta 4) Zeitschr. der Gesellsch. für Erdkunde zu Berlin, 3) L’annee geographique,IX-e et X-e ann. (1870—1871), Bd. II, 1867, p. 381. Paris 1872, p. 93—97. 2) Verhandl. der Berlin. Gesellsch. für Anthrop., Ethnol. 4) Einzelne, sporadische Gruppen dieser Race findet und Urgesch., in der Zeitschr. für Ethnol. Bd. IV, 1872, | er übrigens auch auf dem Litoral Ostasien’s; so z. B. die p- (198), (241). Moi in den Bergen Cochinchina’s (l, ce. p. 94). DD Aino. Verschiedene Ansichten über deren Abstammung. 55 oder Negritos der Philippinen in Verwandtschaftsbeziehungen stehen könnten'), wonach siealso nicht zu Vivien de Saint-Martin’s weisser Oceanischer, sondern zur schwarzen Papuanischen Race zu rechnen wären. Indessen schreibt Peschel selbst dieser «ohne grosse Zuversicht» von ihm ausgesprochenen Vermuthung nur den Zweck zu, eine Vergleichung der betreffenden Idiome anzure- gen, von der allein eine Entscheidung über die ethnologische Stellung der Aino zu erwarten sei. Es fehlt endlich nicht an Stimmen, welche sich für einen continental-asiatischen und zwar mehr oder weniger bestimmt mongolischen Ursprung der Aino aussprechen. So weist ihnen Siebold?) nach Sprache und Stamm zwar eine Sonderstellung unter allen bis dahin bekannten Völkern Nordostasien’s an, findet aber doch im Aeusseren, in Form und Gestalt, in Sitten und Gebräuchen eine grosse Aehnlichkeit zwischen ihnen und sowohl den Bewohnern der Bai de Castries, wie sie uns La Perouse schildert, als auch den Stämmen der Kileng und Ketscheng, welche im Hingon (Amgunj)-Thale und an der Meeresküste südöstlich vom Amur und gegen- über der Insel Sachalin wohnen, — d. i., wie wir schon wissen, mit den Orotschen, Oltscha, Golde, Negda, überhaupt also mit den Amur-Tungusen°). So müssen sich, meint er, zwar tausendjährige Spuren vom Aino-Stamme an der Küste Asien’s auffinden lassen, allein ihn bis zu seiner Wiege zurück zu verfolgen, gestatten die mangelhaften historischen Nachriehten über jene Gegenden nicht. Seiner Vermuthung nach sind jedoch die Aino den Amur abwärts nach den jetzt von ihnen bewohnten Inseln gekommen, und zwar in sehr alter Zeit, noch ehe die Itälmenen auf demselben Wege nach Kamtschatka gelangten. Diese hätten dann von Nord- osten, sowie die Korjaken und Tungusen von Norden und Nordwesten und die Japaner von Süden auf die Aino gedrückt und sie solchergestalt auf ihre jetzige Heimath eingeschränkt‘). Wird hier den Aino nur ganz im Allgemeinen ein continental-asiatischer Ursprung zugeschrie- ben und auf ihre Aehnlichkeit mit einem Volke von mongolischer Race, den Amur-Tungusen, hingewiesen, so werden sie von Anderen, auf Grund ihrer physischen Beschaflenheit, ganz direkt zu dieser letzteren Race gestellt. So spricht sich z. B. Dr. Dobrotworskij, der über fünf Jahre auf Sachalin zugebracht und den Aino grosse Aufmerksamkeit geschenkt hat, dahin aus, dass sie nach dem Typus ihrer Physiognomien zur mongolischen Race gehören ?). Noch be- stimmter äussert sich darüber Dönitz, indem er das Resultat seiner Untersuchungen über den Körperbau und besonders über die Gesichtsbildung und Schädelform der Aino dahin zusammen- fasst, dass sie Mongolen sind und sich von den Japanern vielleicht weniger unterscheiden als die Germanen von den Romanen, sowie dass «von einer Annäherung derselben an den 1) Osc. Peschel, Völkerkunde, Leipzig 1874, p. 415. 2) Aardrijks- en volkenkund. toelicht. tot de ontdekk. van Maert. Gerr. Vries, Amsterdam 1858, p. 117, 118, 121. 3) La Perouse selbst war übrigens ganz anderer Ansicht. S. dessen Voyage aut. du monde, T. II, p. 104, 414; vrgl. auch oben, p. 207. 4) Wie sich Siebold einen Durchzug der Itälmenen .durch das von den Aino besetzte Gebiet dachte, bleibt unklar. Der Korjaken geschieht hier wohl nur daher Erwähnung, weil Siebold sie in der japanisch entstellten Bezeichnung «Kordekke» (für Golde, s. oben p. 148) erkennen zu müssen glaubte. 5) M. Zo6porsopckiir, On. yacrs ocTp. Caxa.ııma (Has, Cu6. Ora. Teorp. O6in. T. I, N: 2 u 3, Upryrer» 1870, erp. 26); ero »xe, Auncro-Pycckii Caorapp, Kazaun 1875, cp. 32 (Upmao;x. Kp Yuen. 3a. Hnn, Kasaner. Yunsepc. 1875 r.). 256 Die Völker des Amur-Landes. Typus der Westeuropäer gar keine Rede sein kann») — ein Resultat, welches mit der oben erwähnten Ansicht von La Perouse, Biekmore u. A. in direktem Widerspruch steht. So sind aus der physischen Beschaffenheit der Aino die verschiedensten Schlussfolgerungen über ihre Abstammung gezogen worden — ein Umstand, der den besten Beweis dafür abgiebt, dass diese Beschaffenheit grossen Schwankungen unterworfen ist, dass diese Schwankungen nicht hinlänglich berücksichtigt, sondern die Schlüsse immer nur auf einzelne wenige Fälle basırt worden sind, und dass endlich überhaupt die blosse Beachtung der physischen Beschaffenheit . eines Volkes, mit Hintansetzung seiner Sprache, zu den irrthümlichsten Resultaten über dessen Abstammung führen kann. Betrachten wir nun beide Momente, wie es oben auch bei den Gi- ljaken geschehen, einzeln und genauer. Seit der ersten Sammlung kurilischer Wörter, welche Strahlenberg mittheilte?), ist die Aıno-Sprache durch eine Reihe von Wörterverzeichnissen, sowie durch manche auf ihren Bau be- zügliche Abhandlungen näher bekannt geworden. Die ersteren sind zum Theil von Reisenden an Ort und Stelle, sei es auf den Kurilen (resp. Kamtschatka), sei es auf Sachalin oder Jesso niedergeschrieben ; so die Wörtersammlungen von Krascheninnikof°), La Perouse‘), Brough- ton°). Andere derselben sind, entweder ganz oder wenigstens zum grössten Theil, mit Hülfe der Japaner oder nach japanischen Quellen zusammengestellt; so die Wörterverzeichnisse und Vokabularien von Titsingh‘), Dawydof”), Klaproth®), Pfizmayer°), Siebold!°) u. A. Das 4) W. Dönitz, Bemerk. über Aino’s (Mittheil. der Deutsch.Gesellsch, für Natur- und Völkerkunde Ostasien’s, Yokohama, Dec. 1874, p. 64). 2) Das Nord- und Ostl. Theil von Europa und Asia, Stockholm 1730; auf der diesem Werke beigefügten Ta- belle: «Gentium boreo-orientalium vulgo Tartarorum Har- monia linguarum», unter der Rubrik: «Kurili oder ost- und südliche Einwohner in Kamtschatkiv. Meist Zahl- und einige wenige andere Wörter. 3) Onucanie 3emau Ramuarku (Nous. coOp. yueH. uy- remecrsiii no Poceiu, u3AaB. Umn. Araı. Hayke, T. II, C. IIerepö. 1819, erp. 267 — 272). 4) Voyage aut. du monde, T. II, Paris an V (1797), p. 116—123. 5) A Voyage of discov. to the North Pacific Ocean, London 1804, p. 390. 6) In seiner Uebersetzung des «Jeso-ki» von Kanne- mon(Annalesdes Voyages,publ.parMalte-Brun, T. XXIV, Paris 1814, p. 165—170). 7) Veröffentlicht von Krusenstern, russisch in der russischen Ausgabe seiner Reise um die Welt, Bd. III, p- 342— 380, deutsch in seinen Wörtersammlungen aus den Sprachen einiger Völker des östl. Asiens und der Nordwest- Küste von Amerika, St. Petersburg 1813, p. 1—29. Vrgl. auch Pfizmayer, Kritische Durchsicht der vonDawidof verfassten Wörtersamml. aus der Sprache der Aino’s, als Beilage zum Decemberheft des Jahrg. 1851 (Bd. VII), der Sitzungsber. der philosoph.-histor. Klasse der Kais. Akad. der Wissensch. zu Wien, p. 382 ff. Krusenstern meint zwar, Dawydof habe die Aino-Wörter selbst gesammelt, allein Siebold (Aardr.- en volkenkund. toelicht. tot de ontdekk. van Maert. Gerr. Vries, Amsterdam 1858, p. 120) hält es für höchst wahrscheinlich, dass die Sammlung von einem Japaner zusammengestellt worden ist. Abge- sehen von sprachlichen Gründen, scheint mir in der That auch der Umstand dafür zu sprechen, dass die von Re- sanof aus persönlicher Rache gegen die Japaner ver- anstaltete Expedition Dawydof’s nach Sachalin nur den Zweck der Zerstörung ihrer Colonien auf dieser Insel hatte und demgemäss auch nur sehr kurze Zeit dauerte. 8) In Langsdorff’s Bemerk. auf einer Reise um die Welt, Frankf. a. M. 1812, Bd. I, p. 300—303; Asia poly- glotta, Paris 1823, p. 302—315; San kokf tsou ran to tets, ou Apercu gener. des trois royaumes, Paris 1832, p. 242 bis 255. Die in dem letzteren Werke angegebenen, auf Kamtschatka gesammelten kurilischen Wörter sind einem Manuskript von Steller entnommen, welches Klaproth in Irkulsk erhielt (San kokf etc. p. V). 9) Vocabular. der Aino-Sprache (Denkschr. der Kais. Akad. der Wissensch. Philosoph.-histor. Classe, Bd. V, Wien 1854, p. 137— 230). 10) Aardrijks- en volkenkund. toelicht. Amsterdam 1858, p. 127—139. Aino. Sprache. Körperbau. Wuchs. 257 neueste und reichste aller bisherigen Aino-Vokabularien ist das vom jüngst verstorbenen Dr. M.Dobrotworskij sowohl nach einer grossen Anzahl im Laufe von fünf Jahren von ihm selbst auf Sachalin gesammelter Wörter (5733), als auch unter Benutzung der meisten früheren Sammlungen der Art zusammengestellte'). In diesem Werke findet man auch eingehende Be- merkungen über die Lautbildung in der Aino-Sprache, und bei Siebold und besonders in ver- schiedenen Abhandlungen Pfizmayer’s?) manche Angaben über den Bau derselben. Fehlt es daher bis jetzt auch noch an einer den Anforderungen der Philologen entsprechenden Grammatik der Aino-Sprache, so musste das vorhandene Material doch schon genügen, um ein Urtheil über die allgemeine Stellung derselben zu anderen Sprachstämmen und Zweigen zu gestatten. Nirgends wird man jedoch eine Angabe finden, die zu Gunsten einer etwaigen Verwandtschaft derselben sei es mit indo-europäischen oder semitischen Sprachen, sei es mit den Idiomen der ostasiatischen Papuanen, der Polynesier oder der Indianer-Stämme Nordamerika’s spräche. Von sprachlicher Seite ermangeln daher die oben erwähnten respeetiven Angaben über die Ab- stammung der Aino jeglicher Stütze. Die einzige Verwandtschaft, die man gefunden haben will, weist nach Asien hin. Klaproth meint, die Aino-Sprache biete mehrere Aehnlichkeiten mit dem Samojedischen und anderen nordasiatischen Mundarten dar°®). Pfizmayer führte jedoch dieselben nur auf ein geringes Maass zurück, und Siebold spricht sich ausdrückiich dahin aus, dass die Aino-Sprache eine eigenartige und selbständige sei, die in ihren Wortstämmen und Wurzeln mit keiner der Nachbarsprachen eine Uebereinstimmung zeige und unter allen nord- ostasiatischen Idiomen ganz isolirt dastehe *) — eine Stellung, wie sie nach ihm auch das Aino- Volk unter den übrigen einnehme. Auf Grund dieser Angaben über die Aino-Sprache wird man daher unsere oben entwickelte Ansicht, dass die Aino gleich den Giljaken einpaläasiatisches, im Laufe der Zeit nach dem insularen Ostrande des Continentes verdrängtes und in seiner Sprache vereinsamtes Volk sei, nicht unberechtigt finden. Die physische Beschaffenheit der Aino ist von allen Reisenden einer besonderen Aufmerk- samkeit gewürdigt worden, da sie den Japanern und anderen asiatischen Völkern gegenüber auf den ersten Blick viel Abweichendes und Eigenthümliches darbietet. Wie schon erwähnt, gehen aber die einzelnen Angaben oft sehr auseinander, nicht weil sie falsch, sondern weil sie auf ein ungenügendes Material basirt sind. Erst aus einer Gegeneinanderhaltung und Zusammen- fassung derselben lässt sich ein volles Bild von der physischen Erscheinung der Aino gewinnen. Gehen wir die einzelnen Züge derselben durch. Die beiden ältesten Nachrichten, in denen des Wuchses der Aino Erwähnung geschieht, ber. der Kais. Akad. der Wiss. Philos.-histor.Classe, Wien 1851); desselb. Abhandl. über die Aino-Sprache, Wien 1) Auncko-pycckiä caoBapp, Kazaup 1875 (Opuaox. v5 Yaen. 3an. Hmnep. Kas. Yuus. 1875 r., 487 crp. 8°). Im Vorwort bespricht der Autor auch alle früheren Wörter- verzeichnisse der Aino-Sprache. Seltsamerweise vermisst man aber unter denselben die oben erwähnten von Titsingh, Klaproth im San kokf tsou ran to sets und Siebold.. 2) Untersuch.über den Bau der Aino-Sprache (Sitzungs- Schrenck 's Amur-Reise, Band III. 1852 (Sitzungsber. Jahrgg. 1849 und 1850). 3) Klaproth, Asia polyglotta, p. 302. 4) Siebold, Ardr.- en volkenk. toelicht. p. 121. Die- selbe Ansicht findet man bei Forbes; s. Hellwald, Das Volk der Ainos (Das Ausland, 1873, p. 913). 33 258 Die Völker des Amur-Landes. enthalten nach verschiedenen Seiten extreme Angaben. Während nämlich der Pater Hieronymus de Angelis 1622 aus Japan schrieb, die Aino seien «grösser von Leibe, als Menschen ge- meiniglich zu sein pflegten»'), berichtete hingegen Joan Saris fast um dieselbe Zeit, dass die Eingeborenen des südlichen Jesso den Japanern an Grösse gleich kämen, die weiter nach Norden auf derselben Insel wohnenden aber «sehr klein, gleich Zwergen» seien?). Beiden An- gaben merkt man das Fabelhafte an, das zu jener Zeit der nördlich von Nippon gelegenen Insel- welt noch vielfach anhing. Die letztere beruht ausserdem nicht auf eigener Anschauung, sondern auf den Erzählungen eines Japaner’s, der die Insel Jesso zweimal besucht hatte. Alle späteren Angaben sprechen den Aino einen mittleren?) oder auch etwas darunter zurückbleibenden, niedrigen Wuchs®) zu. So erschienen mir auch die Individuen, welche ich in der Bai Aniwa sah. Genauere Angaben über den Wuchs der Aino, in Zahlen, verdankt man La P&rouse°) und Rollin®), Krusenstern’) und Langsdorff°), Biekmore’), St. John'°), Dönitz!'). Auch diese Angaben stimmen mit einander überein, indem sie sämmtlich den Wuchs der Aino auf etwa 5 Par. Fuss oder etwas darüber oder darunter feststellen !?). Dies wäre, nach Mohnike’s Messungen an 50 Individuen männlichen Geschlechts, so ziemlich auch die mittlere Grösse der Japaner (5'1— 2”). Natürlich ist damit das Vorkommen unter den Aino auch entschieden kleiner und grosser Individuen, wie z. B. Whittingham ein solches ohne Maassangaben beschreibt), nicht ausgeschlossen. Weniger übereinstimmend unter einander lauten die An- 4) Witsen, Noord en Oost Tartarye, Amsterdam 1692, 2. Thl. p. 58; Siebold, 1. c. p. 9. 2) Siebold, 1. c. p. 97. 3) Krascheninnikof, 1. c. 258; Broughton, |. c. p- SS; Forbes, The Western Shores of Volcano Bay, Yesso (Proceed. of the R. Geogr. Soc. Vol. X, London 1866, N IV, p. 170); v. Brandt, Verhandl. der Berl. Gesellsch. für Anthrop., Ethnol. und Urgesch. 1872 (Zeitschr. f. Ethnol., Bd. V, p. [27)); Asryerunosmu%, Kusup Pycer. u UHOPoAU. Ha ocTp. Caxauumb, C. Herepo. 1874, cerp. 39, u. A. 4) Vries, s. Witsen, l. c. p. 52; Siebold, I. c. p. 100; Hawks, Narrat. of the Exped. of an Amer. squadr. to the China Seas and Japan, und. the comm. of commod. M. C. Perry, New-York, p. 524; Habersham, s. Nott and Gliddon, Indigen. Races of the Earth, Philadelphia 1857, p. 620; Jos. Barnard Davis, Descript. of the Ske- leton of an Aino Woman, and of three Skulls of Men of the same race (Memoirs read before the Anthropolog. Society of London, Vol. III, 1870, p. 35); Blakiston, Journey round the Island of Yezo (Proceed. of the R, Geogr. Soc., Vol. XVI, London 1872, N: III, p. 192); Dobro- tworskij, l. ce. p. 33. Nur vereinzelt steht dagegen die Angabe Duchateau’s (Congr&s intern. des Oriental. T. I, Paris 1874, p. 197), dass die Aino von hohem Wuchse seien, 5) L. c. T. III, p. 40. 6) LaPerouse, Voyage etc. T. IV, p. 73, 86. 7) Reise um die Welt, Bd. II, p. 74. 8) L. c. Bd. I, p. 284. 9) L. c. p. 6, 10. 10) The Ainos: Aborigines of Yeso (The Journ. of the Anthropolog. Institute of Great Britain and Ireland, Vol. II, London 1873, p. 248). 11) Bemerk. über die Aino’s (Mittheil. der Deutschen Gesell. für Natur- und Völkerk. Ostasien’s, 6. Heft, Yo- kohama 1874, p. 66). 12) Nur unter den Angaben von Dönitz finden sich einige erheblich kleinere Zahlen, doch beziehen sich diese auf sehr junge, offenbar noch nicht ganz erwachsene In- dividuen, wie dies auch Anutschin (l. ce. p. 123) be- merkt. 43) ©. Mohnike, Die Japaner. Eine ethnogr. Mono- graphie, Münster 1872, p. 15, 16. Leon de Rosny (Moeurs des Aino, insulaires de Y&so et des Kouriles, Paris 1857, p. 3) giebt, vermuthlich nach japanischen Quellen, an, dass die Aino im Allgemeinen grösser als die Japaner seien. Nach Bieckmore (l. c. p. 10) wäre es aber nur kaum der Fall. 14) Vrgl. Bickmore, 1. c. p. 10. Auch Habersham sah manche Individuen, die, wie er sagt, in jedem Lande für gross gelten würden, Vrgl. Nott and Gliddon,l.c. p- 621. Aino. Wuchs. Grössenverhältnisse einzelner Körpertheile. 259 gaben über den Wuchs der Aino-Weiber. Während Klaproth') sie nach einer japanischen Quelle als im Allgemeinen gross bezeichnet und Bickmore, dieselbe Ansicht theilend, sie den Männern nur wenig nachstehen lässt, werden sie von Anderen geradezu klein genannt?). Oflen- bar ist beiderseits zu früh generalisirt worden; dabei mag zur letzteren Ansicht auch das in Folge übermässiger Arbeitslast oft gedrückte und gebeugte Ansehen der Aino- Weiber beige- tragen haben®). Die Wahrheit wird wohl in der Mitte liegen. Den meisten der obigen Angaben zufolge sind dabei die Aino von kräftigem, robustem Bau, ‘mit stark entwickelter Muskulatur. Rollin schreibt ihnen auch eine gewisse Fülle zu‘). Nach St. John hingegen wären sowohl muskulöse, wie füllige Gestalten nur seltene Ausnahmen und leichte, dürre, hagere Erscheinungen unter Männern wie Weibern die gewöhnlichen. Gewiss mögen in dieser Beziehung mancherlei Schwankungen und namentlich auch locale Differenzen statthaben, indem die verschiedentliche Gunst oder Ungunst der Existenzbedingungen und der Stellung der Aino zu ihren Bedrückern, den Japanern, auch auf ihre physische Entwickelung von Einfluss, sein muss. So bemerkte schon Golownin, dass die Aino von Jesso von grösserem Wuchs und kräftigerem Bau als die Bewohner der nördlichen Kurilen seien, und suchte den Grund davon in ihrem thätigeren Leben und in dem Ueberfluss an guter, gesunder Nahrung, welche den letzteren hingegen oft abgeht?). Auf Sachalin zeichnen sich, nach Awgustinowitsch, die nördlicher, etwa bei Taraika am Golf der Geduld wohnenden Aino nicht bloss moralisch, sondern auch in ihrem Körperbau vortheilhaft vor den am Südende der Insel wohnhaften aus‘). Jene waren aber auch bis dahin frei geblieben, während diese unter dem harten Druck der Japaner standen. Ueber die Grössenverhältnisse der einzelnen Körpertheile bei den Aino lässt sich bei dem “spärlichen Material, auf welchem die einzelnen Angaben beruhen, nur wenig Bestimmteres sagen. Im Allgemeinen heisst es, dass die Aino von wohlproponirtem Körperbau sind ?). Dönitz, der noch die meisten und doch auch nur fünf lebende männliche Individuen vermessen hat, zieht aus den von ihm gefundenen Maassen keine allgemeineren Schlüsse über das Ver- hältniss der einzelnen Körpertheile, weil die vermessenen Individuen noch jung waren (zwischen 15 und 19 Jahren) und mit dem zunehmenden Alter Veränderungen in den Körperverhältnissen zu erwarten waren®). Anutschin nahm aber die Mittel aus diesen Maassen und kam, indem er ‘ihr Verhältniss zum mittleren Gesammtwuchs bestimmte und mit den entsprechenden Grössen bei anderen Völkern verglich, zu folgenden Resultaten). Der Kopf wäre demnach bei den Aino verhältnissmässig gross !°), der Rumpf lang, die Arme im Verhältniss etwas länger als bei Euro- 1) San kokf tsou ran to sets, ou Apercu gener. des trois | y AInouuess, C. Herep6. 1816, 4. III, crp. 160. royaumes, p. 231. 6) Ausrycerunuosuye, Aiuaus Pycck. u uHopoAn. Ha 2)So von Whittingham (s. Bickmore, 1. c.) und | ocrp. Caxaauut, C. Herep6. 1874, erp. 39. von St. John, a. a. ©, 7) Hawks, Narrat. of the Exped. of an Amer. squadr. 3) Den Wuchs der Japanerinnen giebt Mohnike | to the China Seas and Japan und. the comm. of commod. (l. e.) im Allgemeinen als klein an, nach 30 von ihm ver- | Perry, New-York 1856, p. 524; St. John, 1. c. p. 248. messenen Individuen im Mittel auf 4 1—3”. 8) Dönitz,l. c. p. 64. 4) ... «un leger embonpoint» (l. c. p. 73). 9) Anutschin,l. c. p. 127. 5) Toarosuunup, 3anncku 0 mpuKAaoYy, eTO BB Iabuy 10) Das bemerkte auch schon Rollin, 1. e. p. 74. 33% 260 Die Völker des Amur-Landes. päern (und zwar in Folge eines verhältnissmässig längeren Vorderarmes), die Beine hingegen etwas kürzer (in Folge einer verhältnissmässig geringeren Länge des Oberschenkels), Hände und Füsse klein®). Zu demselben Resultat hinsichtlich der verhältnissmässigen Grösse der Ex- tremitäten gelangte er auch aus der Vermessung der betreffenden Knochen an zwei Aino- Skeleten von Sachalin, einem männlichen und einem vermuthlich weiblichen®). Und damit stimmt auch überein, was schon vor ihm Barn. Davis‘) bei Vergleichung des Skelets eines Aino-Weibes von Jesso mit dem von Sömmering ausführlich beschriebenen weiblichen Skelet deutscher Herkunft fand. Nur waren in diesem letzteren Falle nicht bloss das Oberschenkelbein, sondern ganz besonders auch die Knochen des Unterschenkels, Tibia und Fibula, so unverhält- nissmässig kurz, dass Davis dies als die Hauptverschiedenheit des Aino-Skelets dem erwähnten deutschen gegenüber bezeichnet. Ob sich aber diese Grössenverhältnisse im Körperbau der Aino als Regel hinstellen lassen, wird man erst aus einer grösseren Anzahl von Messungen er- sehen können. So lange zahlreichere Beobachtungen fehlen, darf man ferner auch in den von Davis und Anutschin an den betreffenden Skeleten wahrgenommenen Formverhältnissen der einzelnen Knochen noch keine für die Aino allgemein gültigen, charakteristischen Züge, noch weniger, wie besonders Letzterer wiederholentlich thut, Kennzeichen ihrer Zugehörigkeit zu einer nie- deren Race erblicken, da diese Formverhältnisse starken individuellen Schwankungen unterliegen. Dahin gehört z.B. die von Anutschin ausführlich besprochene Form der Arm- und Schenkel- knochen und besonders ihrer verschiedenen Querschnitte°), die Form der einzelnen Hand- und Fussknochen ®), desgleichen die von Davis bemerkte Enge des Beckens bei den Aino- Weibern’) u. s. w. Letzterer hebt besonders auch ihren robusten Knochenbau hervor, den jedoch Anutschin an den sachalinischen Skeleten nicht fand, so dass auch in diesem Punkte Schwankungen stattfinden. Von weiter reichender, wenn auch nicht charakteristischer Bedeu- tung scheint mir aber die von Letzterem hervorgehobene starke Entwickelung an den Knochen des Aino-Skelets aller Fortsätze, Protuberanzen, Leisten, überhaupt aller Unebenheiten und Muskelansatzstellen zu sein. Wie oben erwähnt®), findet dies auch an unserem Giljaken- Skelet statt und ist auch bei anderen rohen Völkern beobachtet worden, ja vielleicht dürfte es mehr oder weniger bei allen Naturvölkern sich wiederholen und mit dem grösseren Maass starker, die Entwickelung einer kräftigen Muskulatur fördernder physischer Gesammtanstren- gung, welche der Kampf um’s Dasein von ihnen erheischt, im Zusammenhange stehen. In keinem Punkte der physischen Beschaffenheit der Aino gehen die Angaben so weit auseinander, wie hinsichtlich der Hautfarbe. Geht man die ganze Reihe derselben durch, so be- 1) Broughton (Voyage of dise. p. 105) erschienen im 4) Mem. of the Anthrop. Soc. 1. c. p. 23. Gegentheil die Arme im Verhältniss zum Rumpfe kurz. 5) L. ce. p. 146. 2) Nach Miss Isab. Bird (Unbeaten Tracks in Japan, 6) L. c. p. 148, 163. London 1880; s. Das Ausland, 1880, p. 992) wären hingegen 7) An dem weiblichen Skelet, das Anutschin vor- die Hände und Füsse der Aino gross. lag, fehlte das Becken. 3) L. c. p. 145. 8) S. oben, p. 216. Aino. Hautfarbe. 261 gegnet man allen Farbentönen von «beinahe schwarz») durch braun, kupferfarben, röthlich, bronzefarben, gelb und gelblich bis «weiss» ?). Diese Differenzen lassen sich nur dadurch er- klären, dass einmal dem Antheil äusserer Umstände, wie Schmutz, Russ, Einfluss von Sonnen- brand, von Wind und Wetter, an der scheinbaren Hautfärbung der Aino nicht immer hinläng- liche Rechnung getragen worden ist; dass ferner die betreffenden Farbentöne der Art sind, dass sie sich in Worten nicht leicht genau wiedergeben lassen, und dass endlich die Hautfarbe der Aino sicherlich auch manchen, und nicht unerheblichen, individuellen Schwankungen unter- worfen ist. Den ersteren Umstand möchte ich namentlich den von einer überaus dunklen, bei- nahe schwarzen Hautfarbe der Aino redenden Angaben gegenüber geltend machen. Diese Angaben sind auch die minder zahlreichen (Krusenstern, Hawks°), Habersham ®). Letzterer spricht sich zwar sehr bestimmt in diesem Sinne aus: er will mehrere Hundert Aino, Männer, Weiber und Kinder, gesehen haben, und diese waren sämmtlich von dunkel schwarzbrauner Farbe, mit Aus- nahme eines einzigen erwachsenen Mannes, den man aber stark in Verdacht haben konnte, von gemischter Herkunft zu sein. Zugleich hebt er aber selbst ihren äussersten Schmutz hervor und spricht sogar den Zweifel aus, dass ein Aino sich jemals wasche. Zudem heisst es doch bei Anderen’), dass die Weiber und Kinder hellfarbiger als die Männer seien, was ja auch ganz naturgemäss ist, mit jener Angabe Habersham’s aber nicht übereinstimmt. Noch mehr widerspricht ihr endlich die Angabe Brandt’s, dass die Hautfarbe bei den älteren Individuen heller als bei den jüngeren ist‘), wobei unter den ersteren wohl Greise verstanden sein dürften, deren hellerer Teint sich daraus erklären liesse, dass sie sich weniger an den Arbeiten betheili- gen und damit auch weniger der Einwirkung des Sonnenbrandes und der Atmosphärilien ausge- setzt sind. So bestimmt also die Behauptung Habersham’s lautet, so dürfte sie doch zu rasch und obenhin ausgesprochen sein”). Die Aino, welche ich selbst gesehen habe, waren in der That nicht dunkel schwarzbraun, geschweige denn schwarz, sondern nur bräunlich-gelblich, wie sie auch Dobrotworskij°) schildert, der während seines mehr als fünfjährigen Aufenthaltes auf Sa- chalin und in seiner Thätigkeit als Arzt Gelegenheit hatte, wohl die meisten und zuverlässigsten 4) Krusenstern, 1. c. p. 74. 3) Narrat. of the Exped. of an Amer. squadr. p. 524. 2) Nach Joan Saris (1613) und Coen (in dem auf Vries’ Seereise geführten «Journael»; vrgl. Siebold, Aardr. etc. p. 96, 100). Letzterer spricht wiederholentlich von «weissem» (Aino-) Männern und Frauen in Aniwa und in der Bai der Geduld; auch sagt er, die Frauen auf Krafto seien weisser als die auf Jesso. Hieron. de Angelis be- richtete ebenfalls, die Farbe der Aino auf Jesso falle mehr in’s Weisse als in’s Braune (Witsen, Noord en Oost Tart. 1692, Thl. II, p. 58; Siebold, 1. c. p. 94). In der «Korte Beschryv. van het Eyl. Eso» in Vries’ Bericht heisst es nur, die Frauen seien nicht so braun wie die Männer (Siebold, ]. c. p. 100). Nach alledem ist Anu- tschin’s Angabe (l. c. p. 132), dass die holländischen Seefahrer des XVII. Jahrhunderts die Hautfarbe der Aino als schwarz bezeichnen, falsch. 4) Nott and Gliddon, Indigen. Races, p. 621. 5) Vries, bei Siebold,l. c.; St. John, I. c. 6) «Bei den jüngeren leicht bronzefarbig, bei den äl- teren fast weiss» (v. Brandt, in d. Verh. der Berl. Ges. für Anthrop., Ethnol. und Urgesch. 1872, p. [27].— Zeitschr. für Ethnol. Berlin, Bd. IV, 1872). 7) Barn. Davis (l. c. p. 35) hält es hingegen durch Kru- senstern’s und Habersham’s Zeugniss für definitiv erwiesen, dass die Aino von dunkler Farbe sind, obgleich, fügt er hinzu, das Land, das sie bewohnen, auf seinen Bergen mit ewigem Schnee bedeckt ist. Vermuthlich wird jedoch im Lichte der Forschung jene Färbung bald ebenso verblassen, wie dieser Schnee bereits geschmol- zen ist. 8)L. c. p. 33. 2362 Die Völker des Amur-Landes. Erfahrungen über die Aino zu sammeln. Von den Giljaken, in deren Gesellschaft ich einmal auch Aino sah, kamen sie mir ın der Hautfarbe nicht wesentlich verschieden vor. Andererseits bemerkt Dönitz, der gleichfalls die Farbe der Aino als eine fahlbräunliche oder gelbliche angiebt, dass eine Confrontation von Aino und Japanern keinen wesentlichen Unterschied in der Haut- färbung zwischen ihnen ergab: sie zeigte bei jenen nur eine mehr bräunliche als gelbliche Schattirung — eine Farbennuance, die übrigens auch bei den letzteren nicht selten zu finden sein soll’). Ein Grund, die Aino der dunkelfarbigen Papuanischen Race, den Aeta oder Ne- gritos der Philippinen zu nähern, liegt also von Seiten der Hautfärbung durchaus nicht vor; vielmehr schliessen sie sich hinsichtlich derselben unmittelbar an ihre asiatischen Nachbarvölker, die Giljaken einer- und die Japaner andererseits an. i So sehr die Angaben über die Hautfarbe der Aino auseinandergehen, so sehr stimmen sie in Beziehung auf ihren Haarwuchs überein. In der That giebt es keine noch so flüchtige Schil- derung der Aino, in welcher nicht ihres starken Haarwuchses, als des hervorragendsten Zuges ihrer äusseren Erscheinung, Erwähnung geschähe. Je weiter dabei die Nachrichten zurück- reichen, um so stärker sind in der Regel die Farben aufgetragen. Der Pater Aloisius Froes schrieb im Jahre 1565, das Land im Norden von Japan sei von wilden Menschen bewohnt, die am ganzen Körper rauh behaart seien und erschrecklich grosse Kinn- und Schnauzbärte hätten’). Dieselbe Angabe, einer starken Behaarung am ganzen Leibe, findet man bei Francoys Caron, Vries u. A.?). Der Jesuiten-Missionär Hieronymus de Angelis (1622) erwähnt zwar des übrigen Körpers der Aino nicht, spricht aber auch von Bärten, die zuweilen bis zur Mitte des Körpers herab- reichen ®), und in Kannemon’s «Jeso-ki», vom Jahre 1652, heisst es ebenfalls, fast alle Männer hätten sehr dichte, zuweilen bis zwei Fuss lange Bärte, die ausser Augen und Nase das ganze Gesicht bedeckten®). Bekanntlich schilderten auch die Russen, als sie im XVII. Jahr- hundert von Kamtschatka aus die Kurilischen Inseln besuchten und zum Theil in Besitz nahmen, die Bewohner derselben, und namentlich der entfernteren südlicheren Inseln, als am ganzen Körper stark behaart und nannten sie daher auch «rauhhaarige Kurilen» oder auch schlecht- weg «die Rauhhaarigen» (moxHaTsıe)®. Ihnen musste der starke Haarwuchs der Aino um so mehr auffallen, als sie in Sibirien allenthalben nur mit fast bartlosen Eingeborenen zu thun hatten. Auch später findet man noch manche stark aufgetragene Angaben über den Haarwuchs 4) Dönitz,l. c. p. 63. 2) Siebold (Aardr. etc. p. 93) meint, dass diese Schil- derung Abraham Ortelius bewogen habe, in seinem «Theatrum orbis terrarum» das nördlich von Japan gele- gene Eiland (Jesso) «Satyrorum Insula» zu nennen. 3) Siebold, 1. c. p. 98, 100. 4) Witsen, Noord en Oost Tart. 1692, Thl. II, p. 58; Siebold,l. c. p. 94. 5) Titsingh, Descr. de la terre de Jesso, trad. du ja- ponais (Ann. des Voyages, T. XXIV, 1814, p. 155); San kokf isou ran to sets, ou Apercu gener. des trois royaumes, trad. par Klaproth, Paris 1832, p. 230. 6) KpamenunnnukoB%, Onuc. sevau Ramyarku (Io.n. coöp. yuen. uyrem. no Pocciu, T. I, crp. 143, T. II, crp. 258); Neue Beschr. der Kuril. Ins. (Pallas, Nord. Beytr. Bd. IV, p. 117, 132, 133, 138); Ho xoscriii, Rypması (3an. Teorp. Oöm. Io Ora. Iruorp. T. IV, 1871, crp. 404, 409 u Ap.). Vielleicht ist es auch eine Anspielung auf jene alte russische Bezeichnung der Aino, wenn Bickmore seine oben eitirten Artikel über dieses Volk mit der Ueber- schrift versieht: «The Ainos or Hairy Men of Yesso, Saghalien and the Kurile Islands», obwohl er dessen nicht speciell erwähnt. Aino. Haarwuchs. 263 der Aino; so z. B. bei Broughton'), Golownin?), neuerdings noch bei St. John?) u. A. Mit La Perouse®) und Krusenstern°) fangen jedoch auch schon die Hinweisungen darauf an, dass dergleichen Angaben übertrieben sind, und dass sich ebenso stark behaarte Individuen auch unter Europäern finden lassen — eine Behauptung, die sich durch mehrfache spätere Confrontationen mehr und mehr bestätigt hat°®). Trägt man aber den Uebertreibungen auch volle Rechnung, so bleibt der Haarwuchs der Aino noch immer stark genug, um einen charakteristischen, den übrigen nord- oder central-asiatischen Völkern gegenüber besonders auffallenden Zug ihrer äusseren Erscheinung abzugeben. Nur gestattet er noch nicht, die Aino den papuanischen Völkern zuzuzählen, denn dazu gehörte sich — von anderen Charakteren ab- gesehen — auch noch das abgeplattete, eigenthümlich gekräuselte und zu Büscheln vereinigte Haupthaar der letzteren. Und davon ist bei den Aino nichts vorhanden. Ihr Haupthaar ist im Gegentheil, wie die meisten Beschreibungen und photographischen Abbildungen lehren und wie ich es übrigens auch selbst gesehen habe, schlicht herabhängend, so schlicht, dass Krusenstern’) darin eine Aehnlichkeit der Aino mit den Kamtschadalen fand. Geht mit einer starken Kräu- selung des Haares auch eine hochgradige Abplattung desselben Hand in Hand, was übrigens noch fraglich ist, so stimmt es damit überein, wenn man auch diese letztere an dem Aino- Haupthaar nicht gefunden hat. Hilgendorf’s Untersuchungen zeigten zwar eine gewisse Ab- plattung, Anutschin aber fand an dem aus einem Aino-Grabe auf Südsachalin erhaltenen Haar einen fast kreisrunden Durchschnitt, von derselben Grösse, die man gewöhnlich auch am russischen Haar findet®). Es lässt sich also auch darin bei den Aino kein von den Europäern oder von anderen asiatischen Völkern wesentlich verschiedenes, an die Papuas erinnerndes Verhalten entdecken. Was ferner die Farbe des Haares bei den Aino betrifft, so ist sie auch nicht so ausschliesslich schwarz, wie Einige angeben’), sondern bisweilen auch bräunlich und braun !°), wenn auch allerdings niemals blond. Mit dem Alter verliert sich das Pigment und das Haar wird, wie gewöhnlich, grau und weiss!!). Zu bemerken ist endlich noch, dass es mit dem Alter auch leicht ausfällt, was bei den durch ihre Haarfülle so ausgezeichneten papuanischen Völkern wohl kaum der Fall sein dürfte, und dass in Folge dessen Kahlköpfigkeit eine unter den Aino sehr häufige Erscheinung ist!?). 1) A Voyage of disc. p. 105. An anderen Stellen, wie z. B. p. 88, sind die Angaben weit mässiger. 2) 3a. »ı. kam. To1osuuna 0 Mpuk.aoy. ero Bb nıbuey y Auonness, Y. IH, crp. 160. Golownin spricht sich dabei, seinen Erfahrungen zufolge, dahin aus, dass die Bewohner der nördlichen Kurilen ebenso stark be- haart seien, wie diejenigen der südlichen, und ebenso den Namen der «Rauhhaarigen» verdienten. 3) L. c. p. 249. 4) L. e. p. 86. 5) L. c. p. 82. 6) Vrgl. Habersham (bei Nott and Gliddon, Indig. Races), v. Brandt, Dönitz, ll. cc. Hilgendorf’s Anga- ben, die mir im Original, im 7. Heft der Mittheilungen der Deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ost- asiens, nicht vorliegen, lauten in demselben Sinne (s. Anu- tschin,l. c. p. 130). 7) L. c. p. 74. 8) Anutschin, |. c. p. 131. Dort sind auch manche Thatsachen angeführt, die gegen einen causalen Zusam- menhang zwischen der Abplattung und der Kräuselung des Haares sprechen. So war auch das von Hilgendorf untersuchte Aino-Haar trotz seiner Abplattung fast ganz schlicht. 9) Biekmore, St. John, Il. cc., u. A. 10) Rollin, Habersham, Anutschin, Il. cc. 44) Bickmore u. A. 42) Dobrotworskij,l.c.p. 43. 264 Die Völker des Amur-Landes. Wie der Haarwuchs der Aino, so ist auch ihre Gesichtsbildung, den heutigen nordasiati- schen Völkern gegenüber, eine sehr auffallende. Hinsichtlich derselben gehen jedoch die Be- schreibungen weiter auseinander, als es in Betreff jenes Punktes der Fall war. Offenbar giebt es unter den Aino Physiognomien von verschiedenem Typus. Geht man die einzelnen Schilderungen durch und sieht man dabei von kleinen Differenzen ab, so lassen sich unter ihnen namentlich zwei sehr verschiedene Typen erkennen: der eine zeigt eine wesentliche Annäherung an euro- päische, der andere an mongolische Gesichtsbildung. Diese Unterscheidung zweier physiognomi- scher Typen unter den Aino finde ich auch schon bei de Rosny!) und Anutschin?), die, seltsamerweise, beide selbst keine Aino gesehen und jenen Schluss nur aus der Vergleichung zahlreicher Schilderungen und photographischer Abbildungen von Individuen dieses Volkes ge- zogen haben, während die Reisenden stets nur den einen oder den anderen dieser Typen zeichnen, oder aber Mittelformen, an denen es natürlich auch hier nicht fehlt. Jener erstere, mehr euro- päische Typus der Gesichtsbildung ist es namentlich, der uns in diesen Schilderungen besonders oft entgegentritt, und dem zufolge die Aehnlichkeit der Aino mit den Völkern kaukasischer Race, und vornehmlich mit den Russen, immer wieder betont wird°), ja nach welchem auch ihre direkte Zugehörigkeit zu dieser Race behauptet worden ist‘). Die besonders charakteristi- schen Züge dieses Typus sind: eine hohe und breite Stirn, horizontal gestellte, weit offene Augen, von starken, ebenfalls gerade verlaufenden Augenbrauen überschattet, eine an der Wurzel und im übrigen Verlaufe aufgerichtete, gewölbte, regelmässige, zuweilen auch zugespitzte Nase, keine stark hervorragenden Backenknochen, dazu der oben bereits besprochene starke Bart- wuchs an Backen, Kinn und Lippen. Es lässt sich nicht läugnen, dass diese Züge, wenn eini- germassen rein ausgeprägt, den Aino einen von den angrenzenden asiatischen Völkern durchaus verschiedenen Typus verleihen müssen. Diesen Typus geben im Allgemeinen auch die meisten der gegenwärtig bereits zahlreichen photographischen Aino-Abbildungen°), wie z. B. der von Brandt‘), St. John”), L. de Rosny°), Anutschin®) gelieferten, wieder. Desgleichen 4) Congres internat. des Oriental. T. I, 1873, Paris 1874, p. 210. repöypr» 1871, crp. 67), Awgustinowitsch (#Kusas Pycck. u unopoAu. na Caxaauns, C. Ierep6. 1874, crp. 39), 2) L: c, p. 128, 129. 3) So von La P&@rouse, (l. c. p. 88), Habersham (Nott and Gliddon,l. c. p. 621), Forbes, Bickmore, Blakiston, St. John (Il. cc.), Giglioli (Revue d’An- throp. publ. sous la direct. de M. Paul Broca, T. I, Paris 1872, p. 530), Leon de Rosny (l. c. p. 211), Herm.Ritter, (Ueber eine Reise im südwestl. Theile von Yezo.—Mitth. der Deutsch. Ges. für Natur- und Völkerk. Ostas. 6. Heft, 1874, p. 57) u. A.; unter den russischen Schriftstellern, welche meist auch auf die Aehnlichkeit der Aino mit den Russen aufmerksam machen, von Golownin, Rim- skij-Korssakof (B.-P.-C.ayu. u 3ambr. Ha BUHTOB. mkyHb «Bocror&». — Mopck. C6opn. 1858, N 5, Y. neoe. crp. 8), Brylkin (Iucpma cp Caxaıuma. — 3an. Cu6. OrA. Pycecr. Teorp. O6m. Kan. VII, Hpkyrere& 1867, crp. 14), Wenju- kof (0603p. Anonck. Apxum. Bein. I, Bepaunp u C. Ie- Anutschin,l. c., u. A. 4) S. oben, p. 255. 5) Von den älteren, nicht photographischen Abbildun- gen, wie diejenigen von La Perouse (Atlas, Pl. 50 et 55), Broughton (l. c. Taf. zu p. 96), Krusenstern (Atlas zu seiner Reise, Tab. LXXVII—LXXIX), oder die von Siebold (Nippon, VI, Tab. XYI—XVIII) nach japa- nischen Zeichnungen entworfenen, muss man, wie schon erwähnt, in physiognomischer Beziehung heutzutage ganz absehen, 6) Zeitschr. für Ethnol. Berlin, Bd. IV, 1872, Tab. II. 7) The Journ. of the Anthrop. Inst. of Gr. Brit. and Ireland, London, Vol. II, Tab. XII, XIH. 8) L. c. Tab. 44—46. 9) L. c. Tab. I und II (nach Photographien, die von Garesin auf Sachalin gemacht worden sind). Aino. Gesichtsbildung. Zwei verschiedene Typen. 265 ‘ findet man ihn auch unter den auf unserer Taf. IV zusammengestellten, nach Photographien entworfenen Aino-Typen von Sachalin vertreten'). Mustert man übrigens diese Abbildungen genauer, so wird man unter ihnen doch nur wenige finden, welche die oben erwähnten, an die kaukasische Race erinnernden Züge einigermassen rein und voll wiedergeben). Auf unserer Tafel soll namentlich Fig. 1 das Bild eines männlichen Vertreters dieses Typus liefern. Meist lassen sich vielmehr neben einzelnen kaukasischen Zügen auch solche bemerken, welche mehr an die mongolische Gesichtsbildung erinnern: bald sind z. B. die Augen etwas schief geschlitzt und lassen das Vorspringen der oberen Augenlidfalte an ihrem inneren Winkel mehr oder weniger deutlich erkennen, bald ist die Nasenwurzel stark eingedrückt und die ganze Nase breit und flach, bald springen die Backenknochen allzusehr hervor und übertreffen erheblich an Breite die Stirn u. s. w. Namentlich scheint Letzteres bei den Aino viel häufiger, als man meint, vor- zukommen und nur Dank ihrem starken Bartwuchse weniger in die Augen zu fallen. Auf unserer Tafel IV giebt Fig. 2 ein anschauliches Beispiel solcher Bildung). Sie war auch bei denjenigen Aino von Sachalin ausgesprochen, die auf La Perouse einen so europäischen Ein- druck machten, denn Rollin, der dieselben Individuen ausführlicher beschreibt, hebt ausdrück- lich ihre breiten Gesichter und Backen hervor. Ja, nach ihm hatten ihre Züge überhaupt nicht die Regelmässigkeit europäischer Gesichtsbildung. Man darf daher, glaube ich, auch die so oft hervorgehobene Aehnlichkeit der Aino mit den europäischen Völkern nicht zu genau nehmen. Wird diese doch, wie gesagt, besonders zwischen den Aino und manchen russischen Bauern gefunden *), und diese sind bekanntlich in manchen Gegenden stark mit finnischen, tatarischen und zum Theil auch mongolischen Elementen vermischt. Zuweilen beschränkt sich übrigens diese Aehnlichkeit auch nur auf den starken Bart, wie z. B. in den Angaben Brylkin's, der, ausser diesem Zuge und der von ihrer Wurzel an gewölbten und regelmässig geformten Nase, den Aino ganz mongolische Gesichtszüge zuschreibt°). Nach alledem kann ich auch diesen Typus der Aino nicht schlechtweg als einen europäischen oder kaukasischen, sondern nur als einen in manchen Zügen der kaukasischen Race sich nähernden bezeichnen. Ist oben schon einzelner, bei den Aino vorkommender, den europäischen Völkern hingegen ° fremder Gesichtszüge erwähnt, so können sich dieselben auch so weit steigern und häufen, dass sie der gesammten Gesichtsbildung derselben einen wesentlich anderen, den mongolischen Völkern sich nähernden Typus verleihen. Es fehlt daher nicht an Schriftstellern, welche, auf 4) Ich muss bemerken, dass diese Tafel schon vor längerer Zeit, und namentlich vor dem Erscheinen der oben eitirten Aino-Photographien,speciell zu demZwecke entworfen wurde, um von den verschiedenen hier in Rede stehenden Typen dieses Volkes ein anschauliches Bild zu geben. In dieser Beziehung hat sie auch jetzt, trotz jener zahlreichen Photographien, ihr Interesse nicht ver- loren. 2) So die Figuren 3 und 5 bei Brandt, alle drei männ- lichen Figuren bei St. John, der Kopf auf Taf. 46 bei Schrenck's Amur-Reise, Band III. Rosny und die Köpfe 2 und 6 bei Anutschin. 3) Ebenso der Kopf auf Taf, 44 bei Rosny, die Figuren 3 und 5 bei Anutschin, u. a. 4) Wenjukofz. B. weist auf die Bauern der oberen Wolga-Gouvernements hin. 5) «Die kleinen, etwas schief geschlitzten Augen der Aino», sagt er, «die etwas hervorragenden Backenknochen und die dicken Lippen erinnern einigermassen an den tungusischen Typus» (Brylkin,l. c). 34 266 Die Völker des Amur-Landes. eigene Beobachtungen gestützt, den Aino schlechtweg eine «mongolische» Gesichtsbildung zu- schreiben und sie demzufolge auch zur mongolischen Race rechnen '). Bei solcher Bildung ist die Stirn niedrig und wenig entwickelt, das Gesicht breit und flach, mit stark hervorragenden Backenknochen, die Augen sind klein und in Folge der mehr oder weniger weit übergreifenden oberen Augenlidfalte scheinbar schief geschlitzt, die Nasenwurzel eingedrückt, die Nase breit, flach, mit stumpfer, zuweilen sogar abgeplatteter Spitze, die Lippen dick und aufgeworfen, der Bartwuchs um Vieles schwächer. Die meisten dieser Charaktere sind namentlich von Dönitz, nach einigen von ihm untersuchten Individuen und mit Bezugnahme auf die betreffenden Bil- dungen bei den Europäern einerseits und bei den Japanern und Chinesen andererseits, ein- gehend besprochen worden. Es bleibt nur zu bedauern, dass er nicht auch photographische Abbildungen dieser Aino-Individuen geliefert hat, die nach ihm so «durchaus den Typus mon- golischer Völker» trugen. Mir ist keine Aino-Photographie bekannt, die einen solchen Typus rein und voll wiedergäbe. Die Fig. 3 auf unserer Tafel IV thut es nur annähernd und un- vollständig: die Augen sind nur sehr wenig schief geschlitzt und der Bartwuchs stark; sie giebt eher noch eine Mittelform zwischen dem erstbesprochenen und diesem Typus der Aino°). Viel bezeichnender und prägnanter sind manche der von Anutschin mitgetheilten Photographien, namentlich die Köpfe 4, 7 und 9 auf seiner Tafel I. Dieselben zeigen unter Anderem meist auch ein starkes Schwinden des sonst so üppigen Bartwuchses, dieses für die Aino im Allge- meinen so bezeichnenden und vermuthlich auch in hohem Grade erblichen Charakterzuges. Dennoch tragen auch sie noch keinen rein mongolischen Typus: dazu ist die Nase, zumal an ihrer Wurzel, noch zu sehr aufgerichtet, zu wenig breit und flach, die Backenknochen sind zu wenig vorragend, die oberen Augenlidfalten zu schwach entwickelt, die Augenbrauen zu stark, buschig und geradlinig; bei Fig. 4 ist auch der Bartwuchs noch zu stark u. s. w. Sie bieten nur eine mehr oder weniger erhebliche und unzweifelhafte Annäherung an die mongolische Gesichts- bildung. Gleichwie ich daher jenen ersteren physiognomischen Typus der Aino nur einen an die europäischen Völker erinnernden oder annähernd europäischen nannte, so möchte ich diesen zweiten Typus derselben auch nur als einen annähernd mongolischen bezeichnen. Bisher haben wir nur die Gesichtsbildung der Aino-Männer betrachtet. Was die Weiber 1) So Tronson (Person. Narrat. of a Voyage to Japan, Kamtschatka, Siberia, Tartary, in H. M. S. Barracouta, London 1859, p. 145), Dobrotworskij (HO:knaa wacrs ocrposa Caxaauma. Usp. Cnu6. Ora. Pyecr. Teorp. O6m. T. 1, N 2 u 3, Hpeyrers 1870, erp. 26.—Ero-;ke, Auncro- Pyceriir Caosapr, Rasanp 1875. IHpmaose. 106 Yuen. 3aı. Unnep. Ras. Yunsepe. 1875 r. cp. 32), Dönitz (l. c. p. 63), u. A. Anutschin (l. c. p. 128) führt auch eine ganz ebenso lautende Angabe von Awgustinowitsch und zwar mit dessen eigenen Worten an (anıema An 085 uncro MORTO.ABCKArO Tuna» — das Volk der Aino ist von rein mongolischem Typus), dieselbe steht jedoch in direktem Widerspruch mit der späteren Angabe desselben Autors (Rusas Pycer. um mmopoAau. ma ocTp. Caxaa. Crp. 39), in welcher es heisst, dass «die Gesichtszüge der Aino über- haupt eher an den europäischen als an den mongolischen Typus erinnern» (BOoOINe veprsr auma [AitnoR’%] nanomu- HAITB CKkopbe TumB eBponeiickiii, HECAH MOHTOABCKÜN). Auf diese seine letztere Ansicht ist oben (p. 264, Anm. 3) Bezug genommen. 2) Diese Abbildung scheint mir denselben Kopf wie Fig. 1 auf Taf. I bei Anutschin wiederzugeben, obwohl wir unsere Photographien aus verschiedenen Quellen er- halten haben, Aino. Gesichtsbildung der Weiber und Kinder. 267 betrifft, so findet man fast überall!) nur die eine Bemerkung, dass ihre Gesichtszüge hässlicher und gröber als diejenigen der Männer erscheinen, was jedoch mit Recht auf folgende, mehrfache Ursachen zurückgeführt werden kann. Einmal tritt nämlich das an sich nicht gröber geformte Weibergesicht dem Beschauer in seiner Gesammtheit entgegen, während es beim Manne zum grossen Theil durch den starken Bart verdeckt wird, welcher demselben einen wohlthuenden Zug männlicher Kraft verleiht; alsdann wird es bei den Weibern noch durch die Unsitte des Färbens oder Tättowirens der Lippen um Vieles entstellt, und drittens endlich büssen die Weiber, in Folge der auf ihnen ruhenden schweren Arbeit, sehr bald ihre Jugendfrische ein und erscheinen noch vor der Zeit alt und runzelig. Wo aber diese Umstände zum Theil wegfallen, wie bei Kindern und ganz jungen Mädchen, da giebt es auch unter den Aino ganz fein und wohl aus- sehende Gesichter. Der obigen, auf die Aino-Weiber überhaupt bezüglichen Bemerkung muss ich meinerseits hinzufügen, dass sich auch unter ihnen, bei näherer Betrachtung ihrer Gesichts- bildung, die beiden oben besprochenen Typen deutlich unterscheiden lassen. Dies dürfte kaum besser und prägnanter veranschaulicht werden, als es die beiden unter 4 und 5 auf unserer Taf. IV einander gegenübergestellten Aino-Weiberköpfe thun. Sie geben den ganzen Contrast der beiden physiognomischen Typen viel schärfer und deutlicher wieder, als es die beiden in entsprechender Ordnung über denselben (unter 1 und 3) abgebildeten männlichen Vertreter dieser Typen thun. Doch ist dies, wie ich sogleich hinzufügen muss, nur Zufall, da mir, wie schon erwähnt, kein besserer männlicher Repräsentant des mongolenähnlichen Aino-Typus als der in Fig. 3 abgebildete zu Gebote stand. Auch an den von Anutschin (Taf. II) mitgetheilten Photographien weiblicher Aino-Köpfe lassen sich beide Typen, wenn auch minder scharf und durch Zwischenformen vermittelt, unterscheiden: denn während Fig. 3 und 8 ganz entschieden dem europäerähnlichen Typus angehören, herrscht in Fig. 1 und 2 eine mongolenähnliche Ge- sichtsbildung vor, und in den übrigen treten neben vorwiegenden Zügen des ersteren Typus auch einzelne des letzteren auf, wie namentlich die bisweilen deutlich schief geschlitzten Augen (Fig. 5 und 6) zeigen ’?). Wie bei Erwachsenen, so kann man endlich auch schon bei Aino-Kindern die beiden Typen der Gesichtsbildung mehr oder weniger deutlich wahrnehmen; denn während z. B. die Knabenköpfe Fig. 6 auf unserer Tafel und Fig. 7 bei Anutschin, die einander sehr ähnlich, vielleicht sogar identisch sind, fast europäische Züge tragen, verrathen die beiden von Brandt (a. a. O.) in der Aino-Gruppe unter ® 4 abgebildeten Knaben durch die schiefe Stellung ihrer Augen, die breite und flache Nase, die dicken, aufgeworfenen Lippen u. drgl. m. eine starke An- näherung an den mongolischen Typus. Es fragt sich nun, welcher von den beiden physiognomischen Typen der Aino für den ursprünglichen oder älteren anzusehen ist? Sowohl Leon de Rosny, wie Anutschin lassen, 1) So z. B. bei Krusenstern, Whittingham, Bla- 2) DereinzigevonL. de Rosny wiedergegebene Aino- kiston, v. Brandt, Awgustinowitsch, H. Ritter, ll. | Weiberkopf (l. ce. Tab. 45) lässt deutlich den mongolen- cc., u. A. ähnlichen Typus erkennen. 34* 268 Die Völker des Amur-Landes. indem sie jene Typen besprechen, diese Frage unbeantwortet. Ich möchte aber auf einige Umstände hinweisen, welche dafür sprechen, dass nur der erstere, der kaukasischen Race sich nähernde Typus der primäre sein kann. Zunächst ist zu bemerken, dass unter den die Aino gegenwärtig umgebenden Völkern weit und breit kein anderes mit ähnlicher, an die Europäer erinnernder Gesichtsbildung zu finden ist. In ihrer gegenwärtigen Heimath können sie daher diese Gesichtsbildung nicht gewonnen haben, sondern müssen dahin schon mit derselben ge- kommen sein. Hat aber dort eine theilweise Vermischung der Aino mit ihren Nachbaren statt- gefunden, so können sie dadurch nur manche mongolische Züge erhalten haben, da ihre Nachbaren sämmtlich von mehr oder weniger rein mongolischer Gesiehtsbildung sind. Von den Japanern und Koreanern im Süden und Südwesten, wie von den Oroken und Kamtscha- dalen im Norden und Nordosten unterliegt dies keinem Zweifel; nur von den Giljaken könnte es noch zum Theil fraglich erscheinen. Wir sahen indessen schon, dass die Giljaken, wenn sie ursprünglich vielleicht auch eine minder mongolenähnliche Gesichtsbildung gehabt haben sollten, doch im Laufe der Zeit durch Vermischung mit tungusischen Elementen stark mongolisirt worden sind. Auch sie mussten daher den Aino, wenn auch in geringerem Grade als ihre übrigen Nachbaren, mongolische Züge zutragen und von ihnen umgekehrt manches den tungu- sischen und anderen asiatischen Völkern Fremdartige — einen stärkeren Bartwuchs, weniger schief oder bisweilen sogar horizontal geschlitzte Augenlider u. drgl. m. — erhalten, wie es an dem oben abgehandelten ainisch-giljakischen Typus auch in der That wahrzunehmen ist!). So musste sich unter den ursprünglich europäerähnlichen Aino an den Grenzen ihres Gebietes, in Folge von Vermischung mit den Nachbarvölkern, allmählich ein zweiter, mongolenähnlicher Typus bilden und von der Peripherie aus hie und da und mehr oder weniger auch nach dem Innern ihres Gebietes fortpflanzen. Und dass ein solcher Vorgang in der That stattgefunden, wird ge- wissermassen auch durch die Beobachtung erwiesen. Es ist nämlich nicht schwer zu bemerken, dass bei weitem die meisten Reisenden, welche den Aino eine europäische Gesichtsbildung zu- schreiben, und namentlich diejenigen, die sich am entschiedensten für dieselbe aussprechen — wie Habersham, Forbes, Bickmore, Blakiston, St. John, Herm. Ritter — ihre Ansicht auf Beobachtungen gründen, die sie an den Aino von Jesso gemacht haben. Diese Insel ist aber auch der Mittelpunkt des Aino-Gebietes: dort sind sie in grösster Anzahl vorhanden; dort stossen sie mit keinem eingeborenen Volke von anderem Stamme, wie auf Sachalin oder im Norden der Kurilen, zusammen; dort ist endlich ihre Berührung mit den Japanern eine minder alte als auf Nippon, von welchem sie fast ganz verdrängt worden sind, und bleibt auch gegenwärtig fast nur auf die Süd- und Westküste der Insel beschränkt. Dort konnten und mussten sie daher ihren ursprünglichen Typus am reinsten und vollsten bewahren. Ganz im Gegentheil schreiben den Aino am entschiedensten einen rein mongolischen Typus solche Beobachter zu, die sie an den Grenzen ihres Gebietes kennen gelernt haben, — einerseits Dönitz, der in Yedo lebende, aus dem äussersten Südwesten von Jesso gebürtige Individuen untersuchte, 1) S. oben, p. 223. Aino. Theilweiser Typenwechsel. Gesichtsausdruck. Schädelform. 269 und andrerseits Dobrotworskij, der sich Jahre lang auf Sachalin aufhielt. Nach dortigen In- dividuen schrieb auch Brylkin den Aino, trotz ihres starken, an die Russen erinnernden Bart- wuchses, im Wesentlichen mongolische Gesichtszüge zu. Von Sachalin rühren endlich auch diejenigen oben besprochenen Photographien her, welche den mongolenähnlichen Typus am vollsten wiedergeben. Ich kann dies Alles nicht für Zufälligkeiten halten, sondern sehe darin einen Beweis für die bei den Aino zunächst und zumeist im Umkreise ihres Gebietes, in Folge von Vermischung einerseits mit Japanern, andererseits mit Giljaken und in geringerem Grade vielleicht auch mit Oroken, theilweise vor sich gegangene Umwandlung ihres ursprünglichen Typus. Man dürfte erwarten, dass bei so verschiedener Gesichtsbildung auch der Gesichtsausdruck bei den Aino ein sehr verschiedener sein werde. Und doch scheint dies, nach den vorhandenen Angaben zu urtheilen,, keineswegs der Fall zu sein. Der Ausspruch Krusenstern’s, dass auf dem Gesicht des Aino sein Hauptcharakter, die Herzensgüte, mit unverkennbaren Zügen sich ausspreche!), hat niemals einen Widerspruch, wohl aber vielfache, in verschiedener Form aus- gedrückte Bestätigungen erfahren. Es genüge nur ein paar derselben anzuführen. Alle Aino- Gesichter, sagt Habersham, entbehren jenes Ausdruckes treuloser Hinterlist, welcher in den Zügen ihrer Meister, der Japaner und Nordchinesen so unverkennbar zu lesen ist?). Wäre nicht ihr sanftes, schwarzes Auge, meint Forbes, so würde ihnen die starke Behaarung am Kopf und ganzen Körper entschieden ein wildes Ansehen verleihen. Trotz dieses starken, langen Bartes, der auf den ersten Blick so leicht den Eindruck männlicher Kraft hervorruft, soll sich jedoch im Gesieht der Aino oft etwas Schüchternes, Unfreies, Gedrücktes, Knechtisches aus- sprechen, was ohne Zweifel dem Drucke zuzuschreiben ist, den sie von den Japanern zu er- leiden haben und der sie vielfach zu Armuth und Elend gebracht hat. Wo dieser Druck daher geringer ist oder ganz fehlt und in Folge dessen der Wohlstand der Aino ein grösserer ist, da ist auch ihr ganzes Ansehen ein anderes. Ein solcher Unterschied soll z. B., nach v. Brandt), zwischen den Aino der West- und denen der Ostküste von Jesso bestehen: während jene, von den Japanern vollständig wie Leibeigene behandelt, einen gedrückten und erbärmlichen Ein- druck machen, sind diese ein munteres Jäger-, Fischer- und Hirtenvolk, das sich mit vielmehr Freiheit und Ungebundenheit als jene bewegt. Ebenso fand Golowatschof, dass die Aino in der Mordwinof-Bai auf Sachalin, welche von den Japanern zu der Zeit noch wenig oder gar nicht berührt wurde, ein freieres und zufriedeneres Ansehen als diejenigen von Jesso und selbst vom nahe gelegenen Aniwa hatten‘). So sind es nicht jene Differenzen in der physischen Ge- sichtsbildung, sondern sociale und moralische Verhältnisse, welche den Gesichtsausdruck bei den Aino vor Allem bedingen und beherrschen. Dass bei so verschiedener Gesichtsbildung auch die gesammte Schädelform der Aino grosse Verschiedenheiten darbieten muss, versteht sich fast von selbst. Leon de Rosny schreibt in der 4).L. €. p. 75. 3) L. c.p. (27). 2) Nott and Gliddon,|. c. 4) Krusenstern, I. c. p. 89. 270 Die Völker des Amur-Landes. That dem einen der oben besprochenen Typen eine dolichocephale, dem anderen eine brachy- cephale Schädelform zu. Doch stützt er diese Behauptung nur auf allgemeine Angaben und Photographien von Aino-Köpfen, nieht auf Messungen, die allein uns über die verschiedenen Schädelformen und, an Köpfen lebender oder Schädeln im Leben bekannt gewesener Individuen ausgeführt, auch über ihr Zusammenfallen mit den verschiedenen physiognomischen Typen genauer belehren können. Gegenwärtig ist bereits eine Anzahl von Aino-Schädeln genauer untersucht, vermessen und mit Schädeln europäischer und mongolischer Völkerschaften ver- glichen worden. Mir liegen zwar zwei Aino-Schädel vor, allein beide sind, ihres sehr schad- haften Zustandes und der eine auch seines allzujugendlichen Alters wegen, zur Vermessung nicht‘ geeignet!). Ich werde mich daher darauf beschränken, die Hauptresultate, zu denen die bis- herigen Untersuchungen in Beziehung auf die Schädelform der Aino im Vergleich mit anderen europäischen oder asiatischen Völkern geführt haben, kurz hervorzuheben. Obwohl bisher nur etwa 20 Aino-Schädel oder Köpfe auf ihre Maassverhältnisse unter- sucht worden sind und unter diesen auch lange nicht von allen die zur Vergleichung nothwen- digen Daten vorhanden oder, mir wenigstens, bekannt sind, so lassen sich aus denselben doch schon grosse Differenzen und Schwankungen in der Schädelform der Aino erkennen. Es giebt unter ihnen sehr ausgesprochene Lang- und Hochschädel und ebenso scharf ausgeprägte Breit- und Plattschädel — einerseits entschieden hypsidolichocephale, andererseits unzweifelhaft platy- brachycephale Formen, durch eine Reihe von Mittelbildungen, von hypsi- und platymesocephalen Formen mit einander verbunden. Gleich der erste genauer untersuchte Aino-Schädel — ich meine den von Busk vermessenen, der von einem Individuum aus Jesso stammte, — ist ein ausgesprochener Hypsidolichocephalus, mit einem Längenbreitenindex von 70,5 und einem Breitenhöhenindex von 103,6 °). Sieht man von etwaigen Differenzen im resp. Messverfahren ab, so ‚sind dies fast genau dieselben Verhältnisse, die auch unser Giljaken-Schädel vom Ochotskischen Meer darbietet (Längenbreitenindex 7 0,%, Breitenhöhenindex 101,5),nur scheint der Aino-Schädel ihn an Höhe noch zu übertreffen. Unter den drei Aino-Schädeln, welche Virchow untersuchte (2 von Sachalin und 1 von Jesso), ist der eine (X II von Sachalin) ®) ebenfalls stark hypsidolicho- cephal, mit einem Längenbreitenindex von 71,8. Doch ist derselbe, wie Virchow bemerkt, 1) Der eine dieser Schädel wurde von Brylkin im Jahre 1861 in der Nähe des russischen Postens Kussunnai aus einem Grabe genommen, in welchem derselbe in einem hölzernen Sarge, zusammen mit verschiedenen Kleidungs- stücken, Waflen u.a. Aino-Gegenständen lag. Angeblich war es das Grab des Aino Tinussai, eines im Jahre 1855 verstorbenen, etwa 15—17 Jahre alten Sohnes des Kussun- naier Aino-Aeltesten. Die Schädelbasis und ein Theil des Hinterhauptes fehlen an demselben. — Der zweite Schädel wurde vom Führer derselben Expedition, Fr. Schmidt, ebenfalls von Sachalin gebracht: er gehörte einem 6-jähri- gen Aino-Kinde. Die Schädelbasis an demselben ist eben- falls sehr schadhaft, einzelne Knochen sind auseinander- gefallen, die übrigen Nähte stark klaffend. 2) Vrgl. Barn. Davis, Descer. of the Skel. of an Aino Woman and of three Skulls of Men of the same race (Mem. read before the Anthropol. Soc. of London, Vol. II, 1870, p. 28), wo die von ihm und von Busk gefundenen Schädelmaasse tabellarisch zusammengestellt sind. Des Letzteren eigene Abhandlung über den in Rede stehenden Aino-Schädel (in den Transact. of the Ethnolog. Soe. of London [New Ser.], Vol. VI) liegt mir nicht vor. 3) Verhandl. der Berl. Gesellsch. für Anthropol., Ethnol. und Urgesch., in der Zeitschr. für Ethnol. Bd. XII, 1880, p- (208). Aino. Verschiedene Schädelformen. 271 durch eine ausgedehnte Synostose des Schädeldaches, namentlich der Pfeilnaht, so wie der Kranz- und oberen Lambdanaht, verunstaltet, so dass er bei Erörterung der typischen Form aus- geschieden werden muss. Von ausgesprochen dolichocephaler Form ist auch der Aino-Schädel, den Forbes von der Insel Jesso brachte und Huxley zur Untersuchung übergab. Letzterer hatte vordem drei japanische Schädel untersucht, von denen sich zwei, die am meisten charak- teristisch zu sein schienen, durch merkwürdige Länge von allen chinesischen und mongolischen Schädeln abhoben. Der Aino-Schädel übertraf sie aber noch an Länge, was Huxley zu der Meinung veranlasste, dass die craniologischen Züge, namentlich die dolichocephale Schädelform, welche die Japaner von ihren westlichen und südlichen Nachbarvölkern unterscheiden, aus ihrer Vermischung mit den Aino abgeleitet werden dürften '). Dieser hypsidolichocephalen Form des Schädels steht bei den Aino eine platybrachy- cephale gegenüber. Unter den drei von Davis vermessenen Aino-Schädeln von Jesso hat keiner diese letztere Form: der eine ist hypsimesocephal, indem sein Längenbreitenindex 76,7 und sein Breitenhöhenindex 100,0 beträgt; die beiden anderen sind zwar platycephal (mit resp. Breitenhöhenindices von 88,6 und 95,8), erreichen aber in der Breite auch nicht das Maass, von welchem an wir, nach Ihering, die Brachycephalie rechnen, indem ihre Längenbreiten- indices 77,4 und 78,8 betragen, — sie sind also platymesocephal. Dasselbe gilt von zweien der drei Aino-Schädel, welche Anutschin aus dem südlichen Sachalın erhalten und vermessen hat (Längenbreitenindices 75,9 und 77,9), so wieauch von den beiden anderen durch Virchow untersuchten, von Sachalin und Jesso herrührenden Aino-Schädeln (mit Längenbreitenindices von resp. 78,9 und 79,3). Stehen die beiden letzteren schon hart an der Grenze der Brachy- cephalie, so tritt diese an zweien der fünf von Dönitz in Nippon untersuchten Aino-Individuen ganz entschieden hervor, indem ihre Längenbreitenindices, so weit sich aus den Kopfmaassen entnehmen lässt, 80,0 und 82,0 betragen *). Ungefähr dieses letztere Maass von Brachycephalie hat auch einer von unseren Aino-Schädeln (der von Brylkin gebrachte, s. oben), da sein Längenbreitenindex eirca 82,8 beträgt. Der brachycephalste Aino-Schädel endlich, den wir bisher kennen, ist der dritte der oben erwähnten von Anutschin untersuchten Schädel, dessen Längenbreitenindex 85,3 beträgt°). Dies ist wiederum fast genau dasselbe Maass der Brachy- 1) Proceed. of the Royal Geogr. Soc. of London, Vol. X, 1866, p. 171. 2) L. c. p. 164. Die Breitenhöhenindices sind nicht an- gegeben und lassen sich auch nicht eruiren, da die be- treffenden Maassangaben fehlen; aus der Thatsache aber, dass die Längenhöhenindices, wie es heisst, bei allen drei Schädeln um 4—7 Einheiten kleiner als die Längenbrei- tenindices sind, folgt, dass die Breite bei allen dreien die Höhe übertrifft, und dass somit alle drei platycephal sind. 3) Verhandl. der Berliner Gesellsch.f. Anthropol.,Ethnol. und Urgesch., in der Zeitschr. für Ethnol. Bd. V, 1873, p. (122); Bd. XII, 1880, p. (208). An dem ersteren Orte giebt Virchow auch den Breitenhöhenindex des ersteren dieser Schädel (\® I von Sachalin) an, und zwar auf 96,7. Von dem anderen (aus Jesso) erfahren wir nur die aufrechte Höhe; indessen ist auch dieser Schädel, wenn auch verhältniss- mässig etwas höher als jener, doch ebenfalls platycephal. 4) L. ce. p. 66. Dönitz hat ausser den fünf lebenden In- dividuen auch einen Aino-Schädel untersucht, leider aber unter den zahlreichen Maassen desselben dasjenige der Gesammtlänge nicht angegeben, so dass der CGephalindex desselben nicht abzuleiten ist. 5) Dass er zugleich platycephal ist, haben wir oben (Anm. 2) schon bemerkt. 372 Die Völker des Amur-Landes. cephalie, welches uns auch an einem Giljaken-Schädel vom Amur (N III, Längenbreitenindex 85,2) begegnete. Hält man also die beiden uns bisher bekannten äussersten Formen unter den Aino-Schädeln gegen einander, so ergiebt sich zwischen denselben im Cephalindex eine Differenz von 14,8, d. i. genau dasselbe Maass der Schwankung, das wir nach den bisherigen, wenig zahlreichen Daten auch an den Giljaken-Schädeln kennen gelernt haben, das aber selbstver- ständlich hier wie da noch nicht das wirkliche Maximum zu sein braucht. Welche der Schädelformen unter den Aino überhaupt die vorherrschende ist, lässt sich natürlich nach dem jetzigen, sehr geringen Erfahrungsmaterial noch nicht bestimmen. So viel scheint aber aus demselben schon jetzt hervorzugehen, dass in verschiedenen Theilen des Aino- Gebietes auch verschiedene Schädelformen vorherrschen, denn die oben erwähnten dolichoce- phalen Schädel stammen meist von Jesso, die brachycephalen aus den nördlichen und südlichen Grenzgebieten, theils von Sachalin'), theils aus dem äussersten Südwesten von Jesso. Von den Mittelformen ferner fallen die hypsimesocephalen auf Jesso, die platymesocephalen zumeist auf die erwähnten Grenzgebiete). Man wird dies ganz in Uebereinstimmung finden mit dem oben dargethanen Vorherrschen in den genannten Aino-Gebieten auch verschiedener physiognomi- scher Typen: des europäerähnlichen Typus auf Jesso und des mongolenähnlichen auf Sachalin und im äussersten Südwesten von Jesso. Unzweifelhaft stehen also jene Schädelformen und diese Typen der Gesichtsbildung und gesammten Physiognomie der Aino in causalem Zusammen- hange. Wie der europäerähnliche Typus, so ist also vermuthlich auch die lange und hohe Schädelform als die ältere oder ursprüngliche bei den Aino zu betrachten, während die mehr brachy- und platyeephalen Formen sich erst später, in Folge von Vermischung der Aino mit ihren Nachbaren, den Japanern im Süden und den bereits stark mongolisirten Giljaken und zum Theil auch den Oroken im Norden, gebildet haben dürften. In Folge dieser Vermischung müssten aber andererseits auch unter den Nachbarvölkern der Aino mehr oder weniger dolicho- und hypsicephale Schädelformen vorkommen, und dies ist, wie meine obigen Beobachtungen an den Giljaken und Huxley’s an den Japanern zeigen, in der That der Fall. Wenn übrigens die Aino-Schädel auch sehr ähnliche Formverhältnisse zeigen, wie man sie einerseits bei westeuropäischen, andererseits bei mongolischen Völkern kennt, so gestattet doch ihr Gesammtbau ebensowenig wie auch ihr resp. verschiedener physiognomischer Typus eine Zusammenstellung der Aino schlechtweg mit den einen oder den anderen dieser Völker. So sehr z. B. Busk den von ihm untersuchten, dolichocephalsten Aino-Schädel mit westeuropäi- schen übereinstimmend fand, so kann er doch nicht umhin, auf Charaktere hinzuweisen, die ihn von europäischen, wie von allen ihm bekannten Schädeltypen unterscheiden: den ersteren 1)Dobrotworskij(Annero-Pycer. Caogapp.—Upınıo:x. | Hrn. G. Schlesinger und Böhmer in der Nähe der vor kb Vuen. Zar. Kazaner. Vunsepe. 1875, erp. 32) schreibt | einigen Jahren gegründeten Stadt Sapporo, an einem Orte den Aino nach seinen Erfahrungen auf Sachalin auch | ausgegraben worden, wo sich vor etwa 15 Jahren ein schlechtweg einen brachycephalen Schädel zu. grosses Aino-Dorf befand (Zeitschr. für Ethnol. Bd, X, 2) Der von Virchow untersuchte platlymeso-, bei- | p. [207)). nahe platybrachycephale Schädel aus Jesso war von den > ‚Aino. Eigenthümlichkeiten im Schädelbau. 273 gegenüber weist er namentlich auf die grosse Breite des Aino-Schädels in den Jochbögen hin, weshalb er ihn «phenozygous» nennt, und den durchweg unterscheidenden Charakter sieht er in der stark vorgerückten Stellung der Jugularfortsätze des Hinterhauptbeines'). Davis konnte zwar diese Angaben nach seinen drei Aino-Schädeln nur zum Theil bestätigen, dennoch hebt auch er wiederholentlich hervor, dass die Aino-Schädel, ob sie gleich mit europäischen eine grössere Aehnlichkeit als mit irgend welchen anderen hätten, doch nicht ganz von derselben Form seien und im Ganzen eine auf den ersten Blick zwar nicht auffallende, bei genauerer Be- trachtung aber unläugbare Verschiedenheit der Züge darböten. So zeigten sie schmale und meist sehr wenig vorragende Nasenbeine, viel breitere Nasalfortsätze der Oberkieferbeine und über- haupt in der Gesichtsbildung etwas den europäischen Fremdartiges. Dieses Fremdartige an den Aino-Schädeln hat jedoch Davis in seiner Beschreibung nicht recht zum Ausdruck gebracht, denn, wie Virchow bemerkt, stimmt dieselbe, namentlich in Bezug auf die Kieferbildung und Schädelwölbung, weniger gut als die betreffenden Abbildungen zu einem von ihm durch Mizzul aus Südsachalin erhaltenen Aino-Schädel?). Diesem verleiht aber eine Reihe von Charakteren, wie die niedrige und etwas eingebogene Nase, die gleichfalls niedrigen und etwas schiefen Augenhöhlen, das verhältnissmässig stark vortretende Jochbein, die Breite und Prominenz des Oberkiefers, eine, nach Virchow’s Ausdruck, «entschieden asiatische, um nieht zu sagen, mongolische Physiognomie». Dazu frappirten ihn am Aino-Schädel noch ein paar andere Eigen- schaften, namentlich die erheblich prognathe Bildung des Oberkiefers, der fast kreisföormige Bogen des Zahnrandes an der Gaumenfläche und die colossale Ausbildung der Muskelinsertionen, be- sonders der Ansatzfläche des Kaumuskels, — eine Eigenthümlichkeit, welche ich oben bei den Giljaken-Schädeln schon besprochen und die ich auch bei manchen amurtungusischen Schädeln gefunden habe. Mag also der von Virchow beschriebene A ino-Schädel dem europäischen Typus auch ferner als die von Davis untersuchten Schädel gestanden haben, so giebt doch seine vielfache Uebereinstimmung mit den Abbildungen dieser letzteren ebenfalls einen Beweis dafür ab, dass die Aino-Schädel, auch wenn sie den europäischen auf den ersten Bliek noch so ähnlich er- scheinen, bei genauerer Betrachtung doch eine Anzahl diesen letzteren fremdartiger, asiatischer oder mongolischer Züge aufweisen. Von einer Identität beider Schädeltypen kann eben nicht die Rede sein, sondern nur von einer gewissen Aehnlichkeit. Ganz entsprechend verhalten sich die Aino- Schädel auch dem mongolischen Typus gegenüber: so sehr sich manche derselben diesem letz- teren nähern, so behalten sie doch immer noch etwas ihm Fremdartiges, Eigenthümliches. Selbst bei dem brachycephalsten der bisher bekannten Aino-Schädel fand Anutschin in manchen Zügen eine ansehnliche Annäherung an den kaukasischen Schädeltypus®). So behält der Aino- Schädel, trotz seiner grösseren oder geringeren Aehnlichkeit einerseits mit europäischen, anderer- 4) Vrgl. Davis, l. c. p. 37, 38. ihm untersuchten Aino-Schädel von mongolischem Typus 2) Virchow,l.c. p. (123). Auch Dönitz (l. c. p. 64) | übereinstimmend. findet die Davis’schen Abbildungen in manchen Punkten, 3) Anutschin,l. c. p. 169. den betreffenden Beschreibungen entgegen, mit dem von Schrenck's Amur-Reise, Band II. 35 274 Die Völker des Amur-Landes. seits mit mongolischen Schädeln, doch sein eigenthümliches Gepräge und lässt sich schlechtweg weder den einen, noch den anderen anreihen. Sehr treffend spricht sich in diesem Sinne auch Dr. John Kennedy bei Beschreibung des Schädels eines etwa 9 Jahre alten Aino-Kindes aus. Nachdem er die einzelnen, theils an den europäischen, theils an den mongolischen Typus er- innernden Züge desselben abgehandelt, gelangt er zu dem Schlusse, dass der Schädel unzweifel- haft von einem höheren Typus als der gewöhnliche mongolische sei und sich dem europäischen gewissermassen nähere, ebenso unzweifelhaft aber auch vom europäischen wesentlich verschieden und dem mongolischen nahe verwandt sei!). Noch ein besonderer, im Knochenbau des Gesichtes bei den Aıno beobachteter Charakter darf hier nieht unerwähnt bleiben, — ich meine die Spaltung des Jochbeines durch die von Dönitz?) sogenannte Sutura zygomatica temporalis oder, wie Virchow sie richtiger bezeichnet, Sut. transversa zygomatica. Unter 50 von Dönitz untersuchten Japaner-Schädeln hatten 4 eine vollständige Spaltung des Jochbeines (und zwar darunter 3 auf beiden Seiten); bei 9 anderen war jederseits und bei noch anderen 3 nur links ein Theil dieser Quernaht vorhanden. Die vier ersteren stammten sämmtlich aus dem Norden von Nippon her, wo sich die Aino am längsten selbständig erhalten hatten, und von den übrigen rührten 2, und zwar die beiden einzigen, deren Fundort genauer bekannt war, ebenfalls aus Gegenden her, die noch in später Zeit Aino-Land gewesen waren. Da nun Dönitz ein gespaltenes Jochbein auch bei einem wahren Aino-Schädel fand, so hält er es für eine diesem Volke eigenthümliche und auf die Japaner nur durch Vermischung mit den Aino übertragene Bildung. Später beobachtete auch Virchow°) an dem oben erwähnten Aino-Schädel von Jesso rechterseits ein vollständiges Os malare bipartitum (das linke Jochbein war nicht erhalten) und an dem einen Schädel von Sachalin (M II) beiderseits eine unvoll- - kommene, 7"” lange Quernaht. Bei den übrigen oben berührten Aino-Schädeln wird dieser Bildung nicht erwähnt, und an unseren beiden Exemplaren ist von der gedachten Quernaht nichts zu sehen. Es bleibt daher noch durch eine grössere Anzahl von Beobachtungen fest- zustellen, ob und in welchem Grade diese Bildung für den Aino-Schädel charakteristisch ist‘). Wirft man auf alles über die physische Beschaffenheit wie über die Sprache der Aino oben Angeführte einen Gesammtrückblick, so liegt der Schluss nahe, dass sie zwar keiner der jetzigen Völkergruppen schlechtweg zugezählt werden können, dass sie aber doch von continental- asiatischem Ursprunge sein müssen. Die meisten Berührungen, Aehnlichkeiten und Verwandt- schaften im Schädelbau, in der Gesichtsbildung und Physiognomie, in der gesammten physischen 1) Revue d’Anthrop. publ. sous la direct. de M.P. Broca, T. I, Paris 1872, p. 339; nach einem von Kennedy in der königl. physik. Gesellschaft zu Edinburg 1871 ge- haltenen Vortrage. Der Schädel dieses Kindes war meso- cephal, sein Längenbreitenindex 78. Unser Aino-Kindes- schädel gehört in dieselbe Kategorie, indem sein Cephal- index circa 75,6 beträgt. 2) Verhandl. der Berl. Ges. für Anthrop., Ethnol. und Urgesch., in der Zeitschr. für Eihnol. Bd. VIU, 1876, p- (10). 3) Verhandl. der Berl. Ges. etc. Zeitschr. für Ethnol. Bd. VII, p. (11); Bd. XII, p. (208). 4) Im Hinblick auf die oben an den Giljaken-Schädeln stets beachtete Beschaffenheit der Schläfengegend sei hier beiläufig noch bemerkt,dass auch an unseren beiden Aino- Schädeln die Schläfenbeinschuppe ohne Stirnfortsatz ist. Aino — ein paläasiatisches, über Korea eingewandertes Volk. 275 Beschaffenheit bringen sie nicht in die Nähe der oceanischen Völker, sei es der weissen, oder der dunkelfarbigen, papuanischen Race, sondern in die Nähe der Völker von kaukasischem und mongolischem Stamme, ohne dass sie jedoch den einen oder den anderen dieser beiden ein- verleibt werden könnten. Erwägt man ferner ihre gegenwärtige sprachliche Isolirung, so wie den Umstand, dass sie in physischer Beziehung, trotz theilweiser, im Laufe der Zeit in Folge von Vermischung unzweifelhaft fortgeschrittener Mongolisirung, doch manche, allen sie umgebenden Völkern von mongolischem Typus ganz fremdartige, ihnen allein eigenthümliche Züge aufzu- weisen haben, so wird man nicht anstehen, sie für ein durch mongolische Völkerschaften früh- zeitig vom Festlande Asien’s nach seinem insularen Ostrande verdrängtes, also paläasiatisches Volk zu erklären. Dank der insularen Beschaffenheit ihrer neuen Heimath, welche sie lange Zeit hindurch vor Vermischung mit anderen Völkern schützte, haben die Aino ihre typischen Eigenthümlichkeiten in hohem Grade erhalten und festigen können. Erst viel später, als die Japaner in ihr Gebiet einwanderten und sie zum Theil nordwärts, nach Sachalin und den Ku- rilen drängten, wo sie mit Giljaken, Oroken, Itälmenen zusammenstiessen, musste im Süden wie im Norden durch Vermischung mit jenen Völkern eine theilweise stärkere Mongoli- sirung der Aino eintreten. Aus dem Umstande, dass die Aino vor Ankunft der Japaner nach- weislich ganz Nippon bewohnten, nach Sachalin und den Kurilen hingegen erst später sich ausbrei- teten, lässt sich endlich auch der Weg erkennen, auf welchem dieses paläasiatische Volk vom Festlande nach seiner neuen, insularen Heimath einwanderte. Es kann nicht, wie Siebold meint!), die Amur-Strasse gewesen sein, auf welcher wir ein anderes paläasiatisches Volk, die Giljaken, nach Sachalin einwandern sahen, sondern der Weg, auf welchem die Aino in das jetzige Japan einzogen, muss über Korea und die Tschu-sima-Inseln nach Nippon gegangen sein. Wenn daher irgendwo auf dem Festlande Asien’s Reste oder Spuren von Aino, sei es in der Sprache, oder in der physischen Beschaffenheit seiner jetzigen Völker, zurückgeblieben sein sollten, so könnte dies nur in Korea der Fall sein, wo die Aino nothwendigerweise, ehe sie in See gingen, längere Zeit hindurch verweilt haben müssen. Noch ist dieses Land zu wenig durchforscht, um bestimmte Auskunft, positiver oder negativer Art, darüber zu geben. Höchst beachtenswerth scheint mir aber die von Richthofen an der chinesisch-koreanischen Grenze gemachte Beobachtung zu sein, dass es dort Koreaner von zwei Typen giebt, von denen die einen, nach Abbildungen zu urtheilen, an die Aino von Jesso erinnern. «Sollte man», meint er, «es hier vielleicht mit einer den Aino verwandten Urrace zu thun haben, die von den jetzt herrschen- den Koreanern verdrängt wurde?» °) Mir dient diese Beobachtung Riehthofen’s in der That zur Bestärkung in meiner oben über den Ursprung und die Wanderung der Aino als eines pa- läasiatischen Volkes ausgesprochenen Ansicht’). 1) Aardr.- en volkenk. toelicht. p. 118. Japaner über Korea nach ihrer jetzigen Heimath einge- 2) Zeitschr. der Berliner Gesellsch. für Erdkunde, Bd. | wandert seien. S. Verhandl. der Berl. Gesellsch. für An- V, p: 323. throp., Ethnol. und Urgesch., in der Zeitschr. für Ethnol. 3) P. Kemperman sucht nachzuweisen, dass auch die | Bd. VIII, 1876, p. (S1)fl. 35* 2376 Die Völker des Amur-Landes. Hinter den beiden paläasiatischen Völkern, Giljaken und Aino, oder westwärts von ihnen, breitet sich im gesammten Amur-Lande ein dritter, neuerer, auch über ganz Ostsibirien und in den Mandshu bis nach China verstreuter Volksstamm, der Stamm der Tungusen aus. Zu ihm gehören alle übrigen indigenen Völker des Amur-Landes. Das geht unverkennbar aus ihren Sprachen hervor. Es könnte sich hier daher nur noch darum handeln, die Gruppirung der ver- schiedenen Zweige gegen einander und zum Stamme genauer festzustellen. Dazu bedürfte es aber eines eingehenden Studiums ihrer Dialekte und nicht minder ihrer physischen Beschaffen- heit, und zwar, da es sich um feinere Differenzen und Nüaneirungen handelt, nach einem noch grösseren und umfassenderen Materiale, als es bereits für die vergleichende Betrachtung von Völkern verschiedenen Stammes erforderlich ist. Das Erstere bleibt natürlich den Sprachforschern überlassen, und zu dem Letzteren reichen nicht bloss meine, sondern überhaupt die bisherigen Beobachtungen lange nicht hin. Die meisten der tungusischen Amur - Völker habe ich nur flüchtig gesehen, wenige etwas näher kennen gelernt, und auch nur von einigen derselben liegt mir je ein Schädel zur Vergleichung vor. Es können daher auch nur einige Materialien und daran geknüpfte Andeutungen und Vermuthungen sein, was ich in der betreffenden Richtung gebe. Aus diesem Grunde und weil die tungusischen Amur-Völker nur Zweige eines Stammes sind, werde ich dieselben auch nicht einzeln nach einander, wie die Giljaken und Aino, sondern gleichzeitig neben einander betrachten. Zuvörderst sei erwähnt, dass so unzweifelhaft auch diese Völker sämmtlich von tungusi- schem Stam sind, so ist doch manchem von ihnen ein anderer Ursprung zugeschrieben worden. In den @ltscha namentlich, die in den russischen Berichten stets Mangunen heissen, vermuthete P.Ssem&nof Mongolen, Nachkommen jener Men-gu, die schon in der Geschiehte der Khitan genannt werden, später der Kin-Dynastie häufige Niederlagen beibrachten, und von welchen Tschingis-Chan für sein Volk den Namen Mongolen entlehnte. Er meint daher, dass die Men-gu im XII. Jahrhundert nicht bloss an den Quellen, sondern auch am mittleren Laufe des Amur-Stromes wohnten. Ja, er hält an der Identität der Mangunen mit den Men-gu oder Mongolen auch für den Fall noch fest, dass sie im Laufe der Zeit ihre mongolische Sprache gegen eine tungusische vertauscht haben sollten !). Diese Ansicht beruht jedoch einzig und allein auf der Lautähnlichkeit des Namens «Mangunen» mit «Men-gu» und «Mongolen», und dass es mit diesem Namen eine ganz andere Bewandtniss hat, ist oben bereits ausführlich dargethan worden ?). Aehnlich ist es den Dauren ergangen. Der Archimandrit Palladij führt zwar an, dass sie einer chinesischen Angabe zufolge von einem alten Zweige der Khitan («Daho») abstammen, also zum mandshu-tungusischen Starmme gehören sollen; doch nennt er diese Angabe eine «un- bewiesene» und meint, dass man wohl kaum so weit zurückzugehen brauche, um den Ursprung 4) U. Cemeuo»t, 3emaerbAabnie Asiu R. Purrepa, 2) S. oben, p. 144. €. Herepö. 1856, T. I, crp. 435, 436, 705, 709. Amur-Tungusen. Irrthümliche Ansicht über die Abstammung der Dauren. 277 dieses Volkes zu finden. Er schliesst sich der ebenfalls von chinesischen Schriftstellern geäusser- ten Vermuthung an, dass die Dauren Reste einer mongolisch-chinesischen Militärcolonie seien, und stützt sich dabei auf den Umstand, dass sie in ihrer Sprache viel chinesische Wörter haben, und dass es andererseits bei den mongolischen Beherrschern China’s gebräuchlich war, solche, mit chinesischen Ackerbauern und Handwerkern versehene Colonien in ihren entlegenen Be- sitzungen zu gründen). Verstehen wir ihn recht, so wären also nach ihm die Dauren eine Mischung von Mongolen, welche das Gros und das militärische Element der Colonie bildeten, und von Chinesen, welche Ackerbau und Industrie in derselben verbreiten sollten. Diese Ver- muthung mag glaublich erscheinen, wenn man mit Palladij nur die jetzigen Dauren am Nonni im Auge hat. Bekanntlich waren aber die Dauren ehemals und noch zur Zeit der ersten russischen Invasion ein zahlreiches, weit ausgebreitetes, am oberen Amur und in dem zwischen Argunj und Schilka gelegenen, noch jetzt nach ihnen benannten Lande sesshaftes Volk, das Ackerbau und Viehzucht trieb, seine eigenen Fürsten hatte u. s. w. Und hinsichtlich dieses Volkes lauten die Angaben ganz einmüthig dahin, dass es ein den nomadischen Tungusen durch seine oben erwähnte Lebensweise an Cultur zwar überlegenes, sprachlich aber ihnen wie den Man- dshu stammverwandtes Volk gewesen sei?). Nach Ysbrants Ides hielten sich die Tungusen um Nertschinsk und am Argunj auch selbst für eines Stammes mit den Dauren?°). Mir sagten Biraren am Amur, dass sie die Sprache der Dauren sehr wohl verständen, und einem meiner Kosaken, der das Orotschonische sprach und seinen Gesichtszügen nach selbst von tungusischem Ursprunge sein musste, war die Sprache der Dauren, mit denen wir am Amur zusammen- trafen, auch nicht ganz fremd. Die Dauren im Dorfe Chormoldin verstanden zwar die goldi- schen Worte, die ich an sie richtete, so gut wie gar nicht und vom Orotschonischen meines Kosaken auch nur sehr wenig, dennoch fielen mir in ihrer Rede manche und besonders die Zahlwörter als mir bekannte, tungusische auf. Ich kann daher nicht umhin, mich der allgemein geltenden Ansicht, dass die Dauren von tungusischem Stamme sind, anzuschliessen. Andererseits ist es aber unzweifelhaft — und in so weit wird Palladij Recht haben — dass sie eine Menge mongolischer und chinesischer Wörter in ihre Sprache aufgenommen und sich zum Theil auch physisch, und vielleicht in einem höheren Grade als irgend ein anderes der Amur-Völker, mit Mongolen und Chinesen vermischt haben. Waren doch die ersteren schon in Daurien ihre unmittelbaren Grenznachbaren, wie sie es noch heutigen Tages am Nonni sind. Von ihnen, als einem Hirtenvolke insonderheit, mögen sie namentlich, gleich manchen späteren Steppen- 4) Haxaaaiii, Aoposkn. 3am. na nyru 07% ODeruna 10 Baarosbıneucra (3an. Pycex. Teorp. Oö. Io 06m. Teorp. T. IV, €. Herep6. 1871, crp. 444). 2) Witsen (Noord en Oost Tart. Ausg. 1705, p. 68—72) theilte einVerzeichniss vondaurischenWörternmit, welches wohl die Berechtigung zu diesem Schlusse gegeben haben mag. Müller (Samml. Russ. Gesch. Bd. VI, p. 152) sagt z. B.: «dass die Daurischen und Mandshurischen Völker ehemals mit den Tungusen ein Volk ausgemachet, solches zeiget die Aehnlichkeit der Sprache». In demselben Sinne spricht sich Fischer (Sibir. Gesch. p. 528) aus. Vrgl. auch Schlözer, Allgem. Nord. Gesch. Halle, 1771, p. 418; Ritter, Asien, Bd. I, p. 116, Bd. II, p. 405; Plath, Die Völker der Mandshurey, Göttingen 1830, p. 71; Ia- KHH@%, Crar. Onuc. Kur. Unn. C. Herepo6. 1842, Y. II, erp. 12, u. A. 3) Ysbr. Ides, Drie jaar. Reize naar China, Amsterdam 1704, p. 58, 129. 2378 Die Völker des Amur-Landes. Tungusen, die Viehzucht gelernt haben, wie man aus dem Umstande schliessen darf, dass sie — und, wie Müller bemerkt!), die Tungusen überhaupt — für die betreffenden Hausthiere, Pferd, Rind, Schaf, keine eigenen, sondern nur aus dem Mongolischen entlehnte Bezeichnungen haben). Von ihnen sind diese mongolischen Thiernamen auch zu den übrigen Amur- Völkern und darunter, wie wir oben sahen, selbst zu den Giljaken gedrungen. Bemerkenswerth scheint es mir ferner zu sein, dass auch manche wilde Thiere, namentlich solche, die ihres Felles, Fleisches oder Geweihes wegen eine Rolle im Handelsverkehr jener Völker spielen, wie Zobel, Flussotter, Fuchs, Eichhörnchen, Bär, Elenn, Edelhirsch, bei den Dauren ebenfalls Namen von mongoli- schem Ursprunge tragen, während andere, die von keiner solchen Bedeutung sind, wie z. B. der Wolf, tungusische Bezeichnungen haben ®). Dass andererseits, gleich den Mongolen und in noch höherem Grade, auch die am Nonni wie im übrigen Sungari- und Amur-Lande unaufhaltsam vordringenden Chinesen auf die Dauren sprachlich wie physisch einen grossen Einfluss ge- übt haben und noch üben, bedarf nach dem, was oben über das Einbürgern chinesischen Wesens selbst unter den Mandshu gesagt worden, keiner weiteren Erläuterung. Es genügt zu bemerken, dass die Dauren diesem Einfluss vielleicht in noch höherem Grade zugänglich sein müssen. Denn nicht bloss befindet sich, gleich den Mandshu und Solonen, auch ein Theil der Dauren als Soldaten, Beamten u. s. w. im direkten Dienste der chinesischen Regierung, sondern sie tragen in ihrer Neigung zum Ackerbau, zu Gewerben und besonders zum Handel den Chinesen verwandte Züge an sich, welche die gegenseitige Näherung und Amalgamirung um Vieles begünstigen und erleichteren müssen. Spielen doch, wie wir oben schon bemerkten, die unter- nehmenden daurischen Händler im oberen Amur-Lande dieselbe Rolle wie die chinesischen im unteren. So erklärt sich die Beimischung mongolischer und chinesischer Elemente unter den Dauren ganz natürlich, aus geographischen und historischen Gründen, und ohne dass man ihren tungusischen Ursprung in Zweifel zu ziehen brauchte. Versuchen wir nun, nach den wenigen bisherigen Wahrnehmungen über die Sprache und die physische Beschaffenheit der einzelnen tungusischen Amur-Völker ein wenn auch nur vor- läufiges und annäherndes, nur durch einige Hauptzüge markirtes Bild von ihrer näheren oder ferneren Stellung zu einander und zu ihren Nachbarvölkern zu entwerfen. Was namentlich die Sprache betrifft, so muss ich mich auf einige wenige, theils eigene, theils fremde, immer nur ganz allgemein gehaltene Bemerkungen heschränken, das Nähere den Sprachforschern über- lassend. Oben ist schon der Angabe, dass die Oroken auf Sachalin Nachkommen von Tungusen 1) Samml. Russ. Gesch, Bd. VI, p. 151. oben hervorgehobenen bedingt sein können, sei hier an- 2) Vrgl. meine Abhandlung über die Säugethiere des | geführt, dass der Edelhirsch, dessen Geweih, so lange es Amur-Landes, im I. Bde. dieses Werkes. So heisst das | noch weich und zart ist, bei jenen Völkern einen hoch- Pferd bei den Dauren morre, das Rind (Kuh) wkur, | geschätzten Handelsartikel bildet, bei den Manägirn, das Schaf choni. Auch das Schwein hat bei ihnen eine | einem unzweifelhaft tungusischen Volke, doch keine tun- aus dem Mongolischen entnommene Bezeichnung, gagha. | gusische, sondern dieselbe mongolische Bezeichnung 3) Als ein ferneres Beispiel dafür, dass die bei einem | (bugu) wie bei den Dauren (bugho) hat. Vrgl. dieses Volke üblichen Thiernamen durch Umstände wie die | Werkes Bd. I, p. 171. Amur-Tungusen. Sprache. Dialektverschiedenheiten. , 279 aus dem Udskoi-Gebiet oder gar ein Mischvolk dieser Tungusen mit Russen seien, als einer völlig unbegründeten und tendenziösen, in ablehnender Weise gedacht worden‘). Die wenigen und kurzen Begegnungen und Unterredungen, die ich auf Sachalin mit ihnen hatte, liessen mich von sprachlicher Seite sogleich erkennen, dass sie die nächsten Verwandten, ja viel- leicht nur ein seit längerer Zeit vom Continent herübergekommener Zweig der Oltscha seien. Schmidt, Glehn und Brylkin, die mit ihnen in nähere Berührung traten, bestätigten dies und brachten zugleich in Erfahrung, dass sie sich auch selbst dieser Zugehörigkeit zum Oltscha- Stamme bewusst sind ?). Kleine sprachliche Verschiedenheiten werden sich seit dem Abzuge der Oroken nach Sachalin, wo sie ein von ihren Stammgenossen auf dem Festlande so verschie- denes Leben führen, ohne Zweifel gebildet haben. Dieselben zu ermitteln, bleibt aber den Lin- guisten noch vorbehalten. Von der Sprache der Oltscha am Amur hat Hr. Maximowicz während seines Aufent- haltes im Mariinskischen Posten beı Kıidsı, also ım Centrum des Oltscha-Gebietes, ein Wörter- verzeichniss nebst Sprachproben und Liedern zusammengestellt, welche es den Linguisten möglich machen werden, die Stellung dieser Sprache unter den tungusischen Mundarten näher zu be- stimmen. Ich kann nur bemerken, dass sie, trotz markırter dialektischer Verschiedenheit, doch derjenigen der nördlicher, am Tugur, im Udskoi-Gebiet u. s. w. lebenden Tungusen nicht sehr fern zu stehen scheint, jedenfalls um Vieles näher als das Goldische. In manchen Wörtern wird man, glaube ich, giljakische Einflüsse erkennen. In nächster Nähe zum Oltscha-Dialekt stehen diejenigen der Negda und Samagirn. Ich bin mit dem ersteren selbst nicht bekannt und stütze mich daher bei der obigen Behauptung hinsichtlich desselben theils auf die Versicherung Anderer, welche beide betreffende Mundarten gehört haben, theils und noch mehr auf den Umstand, dass die Negda unzweifelhaft in aller- nächster Verwandtschaft mit den Samagirn stehen, und diese habe ich sowohl in einzelnen Individuen am Amur, als auch in ihrem eigenen Gebiete am Gorin kennen gelernt. Es waren immer nur einzelne kleine dialektische Verschiedenheiten, die ich in ihrer Sprache den Oltscha gegenüber wahrnehmen konnte, und ihre eigene Angabe lautete, dass sie dieselbe Sprache sprächen. So nahe verwandt übrigens der Negda- und der Samagir-Dialekt unter einander und mit demjenigen der Oltscha sind, so lässt sich doch erwarten, dass der erstere, bei dem vielfachen und beständigen Verkehre der Amgunj-Anwohner mit den sogenannten russischen Tungusen, vom Tugur und aus dem Udskoi-Gebiet, von allen die meiste Uebereinstimmung mit der Sprache dieser letzteren darbieten, der Samagir-Dialekt hingegen manche Einflüsse 14) S. oben, p. 134, Anm. 5. Mizzul’s Angabe (Ouepk% ocTp. Caxaıuna BB CEABCKO- 2) Fr. Schmidt, Histor. Ber. über den Verlauf der | xosaitcrs. oruom. C. IHerep6. 1873, erp. 132), dass die physik. Abthl. der Sibir. Exped. der Kais. Russ. Geogr. | Sprache der Oroken derjenigen der Amur-Giljaken Gesellsch. (Beitr. zur Kenntn. des Russ.Reiches, herausgeg. | ähnlich sei, beruht entweder auf völliger Unkenntniss von Baer und Helmersen, Bd. XXV, p. 121); Bpeı.«a- | dieser letzteren, oder auf der russischerseits so oft vor- KUH, Incprma cn Caxaaıma (3au. Cu6. Or. Teorp. O6m. | kommenden Verwechselung der Oltscha (Mangunen) Ku. VII, Upxyrex» 1864, erp. 21). Vrgl. auch oben p. 134. | mit den Giljaken, 280 Die Völker des Amur-Landes. von Seiten der südlich angrenzenden Golde erfahren haben dürfte. In der That bemerkte Middendorff') bei seinem Besuche der Negda, dass ihre Sprache nur kleine Dialekt-Unter- schiede von derjenigen der russischen Tungusen aufzuweisen habe. Und was die Samagirn betrifft, so habe ich selbst einige die oben ausgesprochene Erwartung rechtfertigende Wahrneh- mungen gemacht. Es liess sich nämlich bemerken, dass die Samagirn, wie in manchen ein- zelnen Wörtern überhaupt, so namentlich auch in den Thiernamen, wenn diese bei den Oltscha und unteren Golde mehr oder weniger verschieden lauten — was im Allgemeinen nur selten der Fall ist?) — die Mundart der letzteren theilen. Man wird diesen Einfluss des Goldischen auch ganz erklärlich finden, wenn man erwägt, dass der Gorin bereits im Golde-Gebiet in den Amur mündet, dass seine Jagdgründe im Winter von zahlreichen Golde besucht werden und dass andererseits auch die Samagirn für den Absatz ihrer Jagdausbeute, und besonders des geschätzten Pelzwerks, zumeist auf die im Golde-Gebiet weilenden chinesischen Kaufleute ange- wiesen sind. Es ist wohl kaum zu bezweifeln, dass die mit den russischen Rennthier-Tungusen so nahe verwandten Negda und Samagirn aus den Gebirgen im Westen und Norden in ihre respectiven Thäler am Amgunj und Gorin hinabgestiegen und dort zu Fischervölkern geworden sind. Die nahe sprachliche Verwandtschaft beider mit den Oltscha macht aber ferner auch den Schluss wahrscheinlich, den wir oben schon aus anderen Gründen gezogen haben °), dass näm- lich jenen Völkern vorauf auch die Oltscha auf demselben Wege an den Amur gelangt sind, wo ein Theil derselben am fischreichen Strome zurückblieb, während ein anderer mit seinen Rennthieren weiter, über das Langgysk-Gebirge und den Liman*) nach der Insel Sachalin fortzog. Geht man aus dem Oltscha-Gebiet am Amur in das der Golde über, so ändert sich die Sprache anfangs nur unbedeutend und ohne das Verständniss erheblich zu erschweren: viele Wörter bleiben ganz dieselben, andere zeigen nur in den Vokalen oder verwandten Consonanten eine leichte Abänderung. Je weiter aber stromaufwärts, um so mehr wächst auch die Verschie- denheit der Sprache: die abgeänderten Wörter werden unkenntlicher, und es stellen sich mehr und mehr neue, im unteren Gebiete ungebräuchliche ein. Ist man weit aufwärts im Golde-Gebiet, etwa zwischen der Ussuri- und der Sungari-Mündung, so gewinnt man den Eindruck, dass die Golde-Sprache doch sehr verschieden von jenen Mundarten des unteren Amur-Stromes und seiner linken Zuflüsse ist. Geht diese Veränderung in der Sprache im Ganzen auch allmählich vor sich, so lassen sich doch gewisse Punkte als Grenzscheiden grösserer sprachlicher Differenz bezeichnen. Solche Punkte sind das Geong-Gebirge und die Ussuri-Mündung. Durch dieselben wird das Golde-Sprachgebiet in drei Abschnitte getheilt: 1) den unteren, von der Nordgrenze goldischer Bevölkerung am Amur bis zum Geong-Gebirge; 2) den mittleren, vom Geong-Gebirge 1) Reise in den äuss. Norden und Osten Sibir., Bd. IV, | die Säugethiere und die Vögel des Amur-Landes, im I. p- 1526. Bande dieses Werkes an den betreffenden Orten. 2) So z. B. für den Dachs, den Fuchs, den Luchs, den 3) S. oben, p. 144. Edelhirsch, das Haselhuhn. Vrgl. meine Abhandlungen über 4) S. oben, p. 20. Amur -Tungusen. Sprache. Dialektverschiedenheiten. 281 bis zur Mündung des Ussuri und diesen Strom und seine Zuflüsse aufwärts, so weit goldische Bevölkerung reicht, und 3) den oberen, von der Ussuri-Mündung aufwärts am Amur und den Sungari entlang bis zur Südgrenze des Golde-Gebietes. Oben) sind schon die Ereignisse in der Geschichte der Ausbreitung des Golde-Volkes besprochen worden, welche diese sprachlichen Differenzen in verschiedenen Theilen seines Gebietes bedingt haben dürften. Anknüpfend an das dort Gesagte, will ich hier nur hervorheben, dass die unteren Golde, durch die ehemalige Aus- breitung der Djutscheren vom Sungari den Amur entlang bis nach Dondon von ihren Lands- leuten am Ussuri gewissermassen abgeschnitten, den nordwärts von ihnen unter gleichen Be- dingungen wohnenden Oltscha und Samagirn näher treten und sich auch sprachlich mit denselben mehr amalgamiren mussten. Es sind dies, wie oben erwähnt, die Jant der Giljaken. Im mittleren Theile konnte sich in dem von den Djutscheren unbesetzt gebliebenen Ussuri- Thale die Golde-Sprache in ihrer, übrigens dem Mandshu nahe stehenden Eigenart reiner erhalten und nach Abzug der Djutscheren auch den Amur abwärts verbreiten. Zwischen den Golde am Ussuri und denen am Amur unterhalb desselben bis etwa zum Geong-Gebirge ist daher sprachlich kein irgend erheblicher Unterschied wahrzunehmen), und die Unterscheidung der ersteren als eines besonderen Volkes, wie man sie bei Maack, Brylkin und Anderen findet), erweist sich als ganz unbegründet. Es sind die Golde dieses ganzen mittleren Gebietes vielmehr die rechten und echten, sprachlich vielleicht am meisten intakt gebliebenen Golde, die Tscholdoch der Giljaken — eine Bezeichnung, welche, wie oben dargethan®), auch zu ihrem jetzt allgemein gebräuchlichen Namen geführt hat. Die oberen Golde endlich, von der Ussuri-Mündung aufwärts, gravitiren ganz nach dem Sungari, an welchem sie auch ihre weit- aus grösste Verdichtung erreicht haben. Sie werden an ihrer Sprache ohne Zweifel am meisten den Einfluss des Mandshu und des Chinesischen erfahren haben. So viel über die Veränderungen, denen die Golde-Sprache in verschiedenen Theilen ihres Gebietes unterliegt. Von ihrem Wörtervorrath und grammatischem Bau hat man bereits mehr Kenntniss als von allen übrigen tungusischen Idiomen des Amur-Landes. Wenjukof°) und in grösserem Umfange Brylkin®) und neuerdings der Priester Alex. Protodjakonof haben Wörterverzeichnisse und die Letzteren auch Bemerkungen über den grammatischen Bau der Golde-Sprache gegeben. Bei Besprechung derselben, und besonders des über 1000 Wörter enthaltenden goldisch-russischen Vokabulariums von Protodjakonof, äussert sich der hiesige Professor Sacharof, ein genauer Kenner des Mandshu, dahin, dass das Goldische mit diesem letzteren in nächster Verwandtschaft stehe, wie man aus der Gemeinsamkeit vieler Wörter, aus der Aehnlichkeit der Wurzeln, die in beiden nicht ein-, sondern mehrsilbig sind, aus der 4) Vrgl. p. 149 0. 3) S. oben, p. 146. 2) So nach meiner Erfahrung, und in demselben Sinne 4) Vrgl. p. 149. spricht sich Wenjukof (O6o03p. p. Yeypu. — Bern. Uns. 5) In den oben eitirten Schriften. Pycer. Teorp. O6m. 4. XXV, 1859, Ora. II, crp. 233; 6) Zambu. 0 cBoicrBaxb Aspıka XoAsenorp m NXoA- EerO-Ke, Iyrem. no okpaun. Pycer. Asiu u 3arı. 0 uux%, | 3emckiit caoBape, in Maack’s Ilyrem. no ao.a. p. Yeypu, C. Herepo. 1868, crp. 86, 87) aus. Upudas.ı. x& T. I, C. Herep6. 1861. Schrenck's Amur-Reise, Band III. 36 & 282 Die Völker des Amur-Landes. Gleichheit vieler grammatischer Formen, so der Adjectivformen, der Formen des Praeteritums u. drgl. m., ersehen könne. Die Differenzen zwischen den beiden Sprachen, meint er weiter, hielten sich in den Grenzen von Dialektunterschieden und wiesen immerhin auf eine Zu- sammengehörigkeit beider Idiome hin, so dass sie nur als verschiedene Zweige, das Goldische als nördlicher, das Mandshu als südlicher Zweig einer und derselben Sprache zu betrachten seien '). Dem Goldischen vermuthlich nahe verwandt ist die Sprache der Orotschen. Leider hat man von derselben nur sehr spärliche Nachrichten. Wenjukof fand sie der Golde-Sprache sehr ähnlich: viele Wörter waren ganz dieselben, nur die Aussprache war merklich anders; im Ganzen schien ihm die Orotschen-Sprache reicher an weichen Lauten zu sein°). Dabei hat er die südlichen Orotschen oder sogenannten Ta-dse im Auge; die nördlichen kannte er nicht?). Zwischen ihnen lassen sich, auf der weiten Strecke vom Ssuifun bis zur Baı de Castries, sicherlich manche grössere oder kleinere mundartliche Differenzen erwarten. Denn einmal stossen jene an den rechten Zuflüssen des Ussuri an die mittleren, diese im oberen Laufe des Dondon, Chongar und anderer rechten Amur-Zuflüsse an die unteren Golde und die Oltscha, und dann stehen die Ta-dse in vielfacher Berührung und Verbindung mit den beständig und in grosser Zahl unter ihnen wohnenden Chinesen, während die nördlichen Orotschen in ihren entlegenen Berg- und Waldwildnissen oder an ihrer ungastlichen Meeresküste niemals einen Sohn des Himmlischen Reiches bei sich sehen. Sind bei allen Amur-Völkern für manche ihnen ursprünglich fremde Gegenstände oder Begriffe den Chinesen (und auch den Mandshu) entlehnte Bezeichnungen gebräuchlich, so muss sich bei den Ta-dse, unter den oben angedeuteten Umständen, der Ein- fluss des Chinesischen am allermeisten und nicht bloss im Gebrauch einzelner Fremdwörter, sondern auch in der Lautbildung, in der Aussprache, im Tonfall u. s. w. geltend machen. Und darin wird vermuthlich auch der grösste sprachliche Unterschied zwischen ihnen und ihren nörd- lichen Landsleuten bestehen. Von den Kile am Kur sind mir nur einzelne Thiernamen bekannt. Diese lauten nur selten etwas eigenartiger; meist stimmen sie mit denjenigen der oberen Golde überein, oder fallen mit den bei den Biraren und Manägirn üblichen Bezeichnungen zusammen '). Das Erstere möchte ich, ebenso wie bei den Samagirn, auf goldischen Einfluss zurückführen, da die Kile ihren meisten Tauschhandel und Verkehr, sei es direkt über die Prairie hinweg, sei es den nur wenig unterhalb des Ussuri mündenden Kur hinab, mit den mittleren und oberen Golde und den bei 1) U. 3axapo»s, O marepiaa. Aa usy4. TOoABAcKaro | sche Sprachen und darunter auch die solonische kannte, A3bIKa, AocTaBı. oTy. A. HporoABAkomoBEIMB (Has. | meinte, dass sie dieser am nächsten komme, woraufaller- Pycex. Teorp. Oö. 1876 r. Bein. I, Teorp. Has., crp. 49, | dings noch nicht viel zu geben ist. 50). A. a ©. ist auch von den hauptsächlichsten dialekti- 3) Dass Tronson (Pers. Narrat. of a Voyage to Japan schen Verschiedenheiten zwischen den beiden Sprachen | ete., London 1859, p. 325) einige Orotschen- Wörter u. drgl. m. die Rede. aus dem Kaiserhafen (Bai Barracouta), und darunter die 2) Beumwxo»», O603p. p. Yeypu (Bbere. Teorp. O6m. | Zahlwörter von 1—10, als Probe der giljakischen Sprache Yy. XXV, 1859, Ora. I, erp. 234); ero-xe Ilyrem. uno orp. | giebt, ist oben (p. 22, Anm. 3) schon erwähnt worden, Pycex. Asiu, erp. 88. Sein Führer, der mehrere tungusi- 4) Vrgl. den I. Bd. dieses Werkes. Amur-Tungusen. Sprache. Dialektverschiedenheiten. 283 ihnen, zumal am Sungari, weilenden chinesischen Händlern unterhalten. Aus den auch bei den Biraren und Manägirn gleichlautenden Thierbezeichnungen der Kile möchte ich hingegen, so weit dies aus so wenigen Wörtern überhaupt möglich ist, die Vermuthung entnehmen, dass die Kile mit den genannten Völkern in allernächster Stammverwandtschaft stehen und nur ein aus dem Bureja-Gebirge in das Kur-Thal hinabgestiegener Zweig des gemeinsamen Stammes sind. Und damit ist auch schon die Stellung der Biraren und Manägirn zu einander ange- deutet. Ohne Zweifel sind es ganz nahe Vettern. Maack schien die Sprache bei beiden ganz dieselbe zu sein, nur fand er bei den ersteren eine Anzahl von den Mandshu entlehnter Wörter'). Damit ist allerdings nicht gesagt, dass Linguisten keine dialektischen Diflerenzen in der Sprache dieser Völker finden dürften, doch können sie nicht gross sein, wenn sie dem Laien so wenig entgegentreten. Andererseits giebt es auch bei den Manägirn Fremdwörter, und zwar ebenso wie bei den Biraren sowohl von den Mandshu, wie von den Dauren und vielleicht auch von den Chinesen entlehnte?), da sie mit allen diesen Völkern in vielfacher Berührung stehen; doch mag immerhin die Zahl derselben bei den Biraren grösser sein, da ein Theil dieses Volkes — und auf diesen haben Maack’s Angaben Bezug — in festen Wohnsitzen am Amur, in un- mittelbarer Nachbarschaft der Mandshu und Dauren und ebenso wie diese mit Feld- und Gartenbau beschäftigt, lebt. Mit den Manägirn stehen ferner, wie wir oben schon aus der Geschichte der Ausbreitung dieser Stämme sahen, in nächster verwandtschaftlicher Beziehung die Orotschonen. Aus dieser Geschichte lernen wir aber zugleich, dass und wie diese Völker in der Folgezeit auseinander gegan- gen sind: blieben die Orotschonen im Grossen und Ganzen Rennthiernomaden in den Gebirgs- waldungen, so stiegen die Manägirn tiefer zur Prairie hinab und eigneten sich das Pferd zum Reit- und Lastthier an; und während jene in beständigem Verkehr und in faktischer, wenn auch nicht traktatmässiger Abhängigkeit von den Russen verblieben, traten diese unter chinesi- scher Herrschaft in vielfache Berührung mit Dauren, Mandshu, Chinesen. Unter so ver- schiedenen Umständen und Einflüssen mussten sich zwischen ihnen, trotz unzweifelhaft gemein- samen Ursprungs, manche mundartliche Differenzen ausbilden, hie und da verschiedenen Völ- kern entlehnte Fremdwörter einbürgern u. drgl. m. Schon die wenigen von mir gesammelten Thiernamen geben einen kleinen Beleg dafür ab. Gerstfeldt, der mehr Gelegenheit hatte diese Völker zu beobachten, glaubte auch einen Unterschied in ihrer Sprache wahrzunehmen; seine Führer konnten sie schon von Weitem nach ihren verschiedenen Exelamationen unterscheiden°). Beide, und insbesondere natürlich die Orotschonen, verriethen übrigens in ihrer Sprache eine grosse Aehnlichkeit mit den nördlicher wohnenden sogenannten russischen Tungusen ‘). 4) Maax», Iyrem. ua Amypz, C. Herepöypre 1859, | crp. 294). crp. 110. 4) Gerstfeldt bemerkte darin einen Unterschied zwi- 2) Wie dies übrigens auch Maack an einer anderen | schen ihnen, dass die Manägirn und Orotschonen den Stelle seiner Reisebeschreibung (p. 69) angiebt. Accent fast immer auf der letzten Silbe ruhen liessen, die 3) Teper»easAa%, O npuöpesn. anresaxp Anypa | nördlicheren Tungusen hingegen beständig auf der vor- (Bbern. Unn. Pycex, Teorp. Oöm. U. XX, 1857, Ora. II, | letzten. ; 36* 284 Die Völker des Amur-Landes. Von den Dauren ist in sprachlicher Beziehung, so weit es hier überhaupt thunlich ist, oben schon die Rede gewesen, und was endlich ihre Nachbaren, die Solonen, betrifft, so wird es sich mit diesen vermuthlich ähnlich wie mit jenen verhalten: ihre dem Stamme nach tungu- sische, dem Mandshu mehr oder weniger nahe verwandte Sprache wird sich im Laufe der Zeit mit zahlreichen mongolischen und zum Theil auch chinesischen Elementen vermischt haben. Nach den obigen Andeutungen gestaltet sich die Gruppirung der tungusischen Amur-Völker etwas anders, als man sich dieselbe bisher gedacht hat. Mir ist bisher allerdings nur ein Versuch einer Gruppirung, und auch nur eines Theiles, dieser Völker bekannt. Er ist von Ssemenof in seinen Ergänzungen zu Ritter’s Asien gemacht worden. Gestützt auf chinesische, von Jakinf!) und Wassiljef zugänglich gemachte historische Quellen und auf einige Nach- richten über die jetzigen Amur-Völker, stellt er?) die Dauren, Solonen und Golde, als Nachkommen der alten Khitan und Schiwei, in eine Gruppe, und die Mandshu und Yupi- tatse, als Nachkommen der Njutschi, in eine andere, während er die Oltscha (Mangunen) für Nachkommen der Men-gu oder Mongolen hält. Der letztere Punkt ist oben schon wider- legt worden. Dass die chinesische Bezeichnung «Yupi-tatse» ganz unbestimmt und ethnolo- gisch unbrauchbar ist, indem sie ziemlich auf alle zum Theil in Fischhäute sich kleidenden Völker des unteren Amur-Landes sich bezieht, ist bekannt und oben ebenfalls schon erwähnt worden). Am nächsten läge es noch, sie hier auf die an die Mandshu grenzenden Golde zu beziehen. Allein da diese und ebenso die Oltscha von Ssemenof besonders genannt werden, so blieben für die Yupi-tatse nur etwa noch die Orotschen übrig. Anders nach unseren obigen Darstellungen. Ihnen zufolge lassen die jetzigen tungusischen Völker des Amur-Landes in sprachlicher Beziehung vier Gruppen erkennen: 1) Dauren und Solonen — tungusische Stämme mit starker mongolischer Beimischung. 2) Mandshu, Golde, Orotschen. 3) Orotsehonen, Manägirn, Biraren, Kile am Kur. 4) Oltscha am Amur und auf Sachalin (Oroken), Negda, Samagirn. Die beiden ersteren Gruppen bilden den südlichen oder mandshurischen Ast des tun- gusischen Volksstammes, die beiden anderen umfassen Zweige seines nördlichen, bis zum Jenissei, dem Eismeer und Kamtschatka verbreiteten sibirischen Astes. Es fragt sich nun, ob und in wie weit diese oder eine andere Gruppirung der tungusischen Amur-Völker auch aus ihrem physischen Bau entnommen werden kann? Dass zur vollen Be- antwortung dieser Frage das Material gegenwärtig noch lange nicht hinreicht, ist oben schon bemerkt worden. Wenn ich daher im Folgenden bei Besprechung einzelner Punkte, wie na- mentlich der Schädelbildung, auch etwas mehr in’s Detail gehen werde, so lässt sich doch 1) In seinem Werke: Coöpanie cpbAabniit 0 mapoaaxt 2) 3emaerbAa. Asin R. Purrepa, C. Herepö. 1856, oöuranım. BB cpeaneit Asin BB Apern. zpemena, C. Herep- | T. I, erp. 426. öypr» 1851, 4. I. i 3) Vrgl. p. 135, 146. Amur-Tungusen. Physische Beschaffenheit. Typus der sibirischen Tungusen. 285 die ganze Frage zur Zeit nur annähernd und in allgemeinen Zügen behandeln. Als Zweige eines Stammes, tragen die tungusischen Völker des Amur-Landes in ihrer physischen Erscheinung viel gemeinsame Züge. Die Aehnlichkeit unter ihnen ist gross, die Zusammengehörigkeit unver- kennbar. Dennoch haben sich bei ihnen, in Folge früherer oder späterer Abzweigung vom gemeinsamen Stamme, grösserer oder geringerer Berührung und Vermischung mit benachbarten Völkern von fremdem Stamme, vielfach verschiedener Gestaltung ihrer Geschicke, ihrer Lebens- weise u. 5. w.,auch in der physischen Erscheinung manche mehr oder weniger charakteristi- sche Verschiedenheiten herausgebildet. Um sich diese wenigstens in den Hauptzügen einiger- massen zu veranschaulichen, wird man vielleicht am besten thun, von dem bisher bekanntesten tungusischen Volke, den russischen oder sibirischen Tungusen auszugehen und die ihnen gegenüber bei den Amur-Völkern gleichen Stammes beobachteten Abweichungen und Besonder- heiten hervorzuheben. So manigfaltigen und verschiedenartigen Bildungen man auch unter den sibirischen Tun- gusen, in Folge ihrer Mischung mit türkisch-tatarischen (zumal jakutischen), finnischen, mon- golischen, ja zum grossen Theil auch mit russischen Elementen, begegnet, so hat man das Typi- sche und Charakteristische in ihrer physischen Erscheinung doch schon ziemlich feststellen können. Die sibirischen Tungusen sind im Allgemeinen von mittlerem oder etwas kleinem Wuchse, mit verhältnissmässig ziemlich grossem Kopfe, breiten Schultern, etwas kurzen Extremitäten und kleinen Händen und Füssen!). Wie alle Nomaden des Nordens, haben sie eine trockene, hagere, sehnig-muskulöse Constitution ?); fettleibige, corpulente Gestalten findet man unter ihnen nicht. Die Hautfarbe ist mehr oder weniger gelbbräunlich, das Auge brünet, das Haar schwarz; das Haupthaar schlicht, struppig und stark, das Barthaar, auf Lippen, Backen und Kinn, sehr spärlich und kurz, die Augenbrauen in der Regel scharf markirt, zuweilen bogenförmig hinauf- gezogen. Die Kopf- und Gesichtsbildung ist entschieden, wenn auch zum Theil abgeschwächt, mongolisch; der Schädel ist immer breit, zuweilen auch sehr hoch, d. h. auf dem Scheitel so sehr nach oben und etwas nach hinten ausgezogen, dass er einem sogenannten Thurmkopf ähnlich wird®). Das Gesicht ist in der Regel etwas in die Länge gezogen, an den Backen breit, zur Stirn hin sich verjüngend; die Backenknochen vorspringend, wenn auch nicht so stark wie bei den echten Mongolen. Die Augenhöhlen sind gross, die Augen schief geschlitzt, schmal. Der Augenzwischenraum ist breit; die Nase an ihrer Wurzel breit, flach, oft eingedrückt, im weiteren Verlaufe schwach gewölbt, klein, hager. Die Lippen sind dünn, die Oberlippe ziemlich 4) Wie oben (p.216, Anm.1) schon erwähnt, giebt Mid- | rührig wandernden Tungusen nicht möglich. Er stellt dendorff an, dass ein kleiner Fuss allen Eingeborenen Si- | daher die Vermuthung auf, dass «Miniaturfüsse eine ur- birien’s, besonders aber den Samojeden und Tungusen | sprüngliche Eigenheit der mongolischen Race» seien. eigen sei. Es war ihm und seiner Reisegesellschaft un- | Vrgl. seine Reise etc. Bd. IV, p. 1414, 1415. möglich, auch die weitesten Pelzstiefel der Nomaden zu 2) Middendorff, 1. c. p. 1416. benutzen. Könnte man noch bei den Samojeden geneigt 3) Middendorff, 1. c. p. 1408, Taff, VI—-IX; desgl. sein, an ein Verkümmern der Füsse in Folge ihres gerin- | p. 1440, 1479. gen Gebrauches derselben zu denken, so war dies bei den 286 Die Völker des Amur-Landes. lang, das Kinn rundlich, die Kiefern etwas prognath'). Das Gesicht trägt im Allgemeinen den Ausdruck von Gutmüthigkeit, Faulheit und Indolenz. Verfolgen wir nun, wie weit sich dieser in seinen Hauptzügen gezeichnete Typus der sibi- rischen Tungusen auch bei den Amur-Völkern wiederholt und welchen hauptsächlichsten Ver- änderungen er bei denselben unterliegt. Die Vergleichung kann, bei dem erwähnten mangelhaften Material und namentlich beim völligen Mangel an betreflenden Messungen, selbstverständlich nur ganz allgemein gehalten werden; zumal soll die Schädelform dabei nur ganz vorübergehend in Betracht kommen, da ich dieselbe im weiteren Verlaufe nach den mir vorliegenden Schädel- Exemplaren ausführlicher zu besprechen gedenke. An den Oroken, denen ich im Tymy-Thale auf Sachalin begegnete, konnte ich in der Körper- und Gesichtsbildung nichts bemerken, was sie von den Oltscha am Amur unterschiede. Auch Schmidt, der ebenda Gelegenheit hatte sie unmittelbar mit einander zu vergleichen, fand sie unter einander vollkommen ähnlich). Allerdings stehen die Oroken nicht bloss, wie die Oltscha am Amur, mit den Giljaken, sondern im Südosten der Insel auch mit den Aino in naher Berührung. Man könnte daher in ihrem Aeusseren zum Unterschiede von den Oltscha manchen Einfluss von Seiten der Aino erwarten. Vielleicht ist dies auch bei einzelnen Individuen der Fall, obgleich uns keine solchen begegneten. Andererseits stehen sich Giljaken und Aino physisch, wie wir sahen, in mancher Beziehung recht nahe, und dann bleiben ihrerseits auch die Öltscha, wie ich sogleich genauer darthun werde, der Berührung mit den Aino nicht ganz fern. Die Oltscha weisen im Ganzen in ihrer physischen Erscheinung einen ursprünglich tun- gusischen, aber durch Vermischung mit fremdartigen Elementen vielfach und wesentlich verän- derten Typus auf. Die unmittelbare Nachbarschaft, ja an manchen Orten das Durcheinander- wohnen von Oltscha und Giljaken, ihr beständiger Verkehr mit einander, ihre gleiche Lebensweise u. s. w. haben immer zu Mischehen zwischen beiden Völkern Veranlassung gegeben. Ausserdem haben die Oltscha theils durch Vermittelung der Giljaken und theils auch direkt, in Folge ihrer Handelsfahrten nach Sachalin, auch manches Aino-Element in sich aufgenommen. So weiss ich z. B., um nur eines bestimmten Falles zu erwähnen, dass eine Tochter des Giljaken Judin von Tebach, dessen Mutter ein Aino-Weib war, an einen Oltscha in Uchtr verhei- rathet war. In Folge solcher Einflüsse nähern sich die Oltscha in ihrem Aeusseren sehr stark den Giljaken und bilden gewissermassen ein Mittelglied zwischen ihnen und den Tungusen. Sie sind meist kräftiger und robuster gebaut als die letzteren, mit plumperen Zügen, wenig vorragenden Backenknochen, weniger schief geschlitzten Augen und stärkerem Bartwuchs. Dass es unter ihnen daneben auch echt und charakteristisch tungusische Gesichter giebt — breitbackig, flachnasig, schiefäugig, bartlos — versteht sich von selbst. Da jedoch auch die Giljaken solche Ab- stufungen bis zu echt tungusischen Gesichtern zeigen, so bleibt es immerhin unmöglich, die einzelnen Individuen nach ihrer Nationalität mit Sicherheit auseinanderzuhalten. Da hilft nur die Sprache. 1) Middendorff, l. c. p. 1409. Zum Theil auch nach 2) Histor. Ber. etc. (Beitr. zur Kenntn. d. Russ. Reiches, den Beobachtungen Anderer und meinen eigenen. Bd. XXV, p. 121). Amur-Tungusen. Körperbau u. Gesichtsbildung der Negda, Samagirn, Golde. 287 Aehnlich scheint es sich mit den Negda am Amgunj zu verhalten. Middendorff fand bei ihnen «zwar eine tungusische Gesichtsform mit hochköpfiger Richtung, aber die tüchtigen Schnauzen erinnerten, trotz des schwachen Zwickelbartes, an die Nachbarschaft und wohl ge- legentliche Beimischung des Blutes der stark behaarten Küsten- und Inselbewohner» '). Neben dem gewöhnlichen mongolisch-tungusischen Schnitt der Augen, traten ihm an einem einzelnen Gliede einer Negda-Familie auch so emporgezogene äussere Augenwinkel entgegen, wie man sie nur auf chinesischen Malereien sieht. Aehnliches wiederholt sich auch bei den übrigen tun- gusischen Amur-Völkern und lässt sich mit vieler Wahrscheinlichkeit auf die im Lande umherreisenden oder an einzelnen Punkten desselben sich aufhaltenden chinesischen Kaufleute zurückführen ?). Auf die Samagirn lässt sich das von den Oltscha und Negda Gesagte nicht oder nur in sehr beschränkter Weise und in viel geringerem Grade ausdehnen. Am Gorin wenigstens fand ich sie in ihrer Körper- und Gesichtsbildung den Giljaken entschieden ferner stehend als die Oltscha, wogegen sie die grösste Aehnlichkeit mit den Golde verriethen, mit denen sie, wie oben erwähnt, auch in den meisten Beziehungen und Verbindungen stehen. Was nun die Golde betrifft, so tritt bei ihnen im Allgemeinen der tungusische Typus sehr ausgeprägt und verhältnissmässig rein hervor. In Folge theilweiser Vermischung in der unteren Hälfte ihres Verbreitungsgebietes mit den Oltscha und in der oberen mit Mandshu und auch mit Chinesen, haben sie aber vielfach auch Züge gewonnen, welche sie von den nördlichen Tungusen unterscheiden. Ihr Bau entspricht genau dem oben als typisch für die Tungusen beschriebenen. Das Gesicht zum grössten Theil auch: es ist rundlich-oval und zeigt die be- kannten mongolischen Charakterzüge, namentlich die breiten Backenknochen, die schief geschlitzten, schmalen Augen, die breite, dünne, niedrige Nase, oft, und besonders bei Weibern und Kindern, in sehr ausgesprochener Weise. Daneben findet sich aber nicht minder oft auch eine geringere Breite in den Backen, die Augen stehen weniger schief, die Nase ist höher, gewölbter, fleischiger, die Lippen dicker, aber gleich wie das Kinn bartlos oder nur ganz spärlich behaart, wie auch im ersteren Falle. Ebenso ist der Schädel bald zur Stirn hin verjüngt und nach dem Scheitel hin ausgezogen, bald mehr viereckig, mit breiter Stirn und flachem Scheitel. Mir liegt von dem ersteren, unter den Golde sehr verbreiteten Typus keine ganz sprechende Photographie vor. Fig. 7 der Taf. III nähert sich demselben noch am meisten. Die hochscheitelige Kopflorm ist auch in Fig. 6 sehr ausgeprägt, wogegen die Gesichtszüge in derselben und in Fig. 5 die ge- sammte Schädel- und Gesichtsbildung dem zweiten Typus entsprechen. Es ist nicht möglich, 4) Middendorff, Reise etc. Bd. IV, p. 1526. Richtiger | wir oben (p. 208)schon sahen, überhaupt die Giljaken mit müsste es allerdings nur heissen «der stärker behaarten | den Aino zusammen. S. dessen Reise etc. 1. c. p. 1403. Küsten- und Inselbewohner», da unter diesen in erster 2) Wenn Middendorff (l. c. p. 1527) dabei vom Reihe doch die Giljaken zu verstehen sind, deren Bart- | «Mandshu»-Kaufmann spricht, so ist daran zu erinnern, wuchs keineswegs an sich, sondern nur im Vergleich mit | dass die Eingeborenen des unteren Amur-Landes die den tungusischen und mongolischen Völkern stark ge- | chinesischen Kaufleute schlechtweg Mandshu zu nennen nannt werden kann. Indessen wirft Middendorff, wie | pflegen (s. oben, p. 71). 2388 Die Völker des Amur-Landes. alle einzelnen, vom Gesammttypus mehr oder weniger abweichenden, übrigens auch verschieden combinirten Züge auf bestimmte Beimischungen seitens der Nachbarstämme zurückzuführen. So viel ist gewiss, dass die südwestlichen, ebenfalls zum Tungusen-Stamme gehörigen Nach- baren der Golde, die Mandshu, die ihnen auch sprachlich am nächsten verwandt sind, im Allgemeinen plumpere und markirtere Züge haben, eine gewölbtere, diekere Nase, fleischigere Lippen, einen grösseren Mund, einen mehr viereckigen Kopf, und in der Regel auch von grösserem Wuchse sind. Die Augen sind auch bei ihnen schief gestellt und der Bartwuchs spärlich. Es lässt sich also in dem zweiten Golde-Typus eine gewisse Annäherung an die Mandshu er- kennen, während der erstere den nördlichen Tungusen näher steht. Einzelne Züge, wie die hin und wieder vorkommenden weniger schief geschlitzten Augen oder ein etwas stärkerer Bartwuchs u. drgl., können theils von mehr individueller Natur, theils auch einer durch die Oltscha vermittelten oder auch direkten Beimischung paläasiatischen und besonders giljaki- schen Blutes zuzuschreiben sein. Das Letztere dürfte um so weniger ganz abzuweisen sein, als zwischen den Golde und den paläasiatischen Völkern im Norden und Osten, durch die alljähr- lichen Handelsreisen sowohl der Giljaken zu den Mandshu und Chinesen am Sungari, als auch mancher Golde zu den Japanern auf Sachalin, direkte Berührungen stattfinden. Im Ganzen genommen, geben also die Golde ihrer physischen Beschaffenheit nach ein Mittelglied zwischen den nördlichen Tungusen und den Mandshu ab. Von den Orotschen lässt sich von vornherein behaupten, dass sie in verschiedenen Theilen ihres weit ausgedehnten Verbreitungsgebietes von sehr erheblich verschiedener Kör- per- und Gesichtsbildung sein müssen. Denn während sie im Norden, in den Wildnissen des“ Küstengebirges und an der ungastlichen Meeresküste, in ziemlicher Isolirung leben, nur mit ihren Nachbaren an den rechten Amur-Zuflüssen, Golde und Oltscha, in spärlichem Ver- kehre, oder in der Bai de Castries ab und zu auch von Giljaken besucht, theilen sie im Süden ihre Wohnsitze beständig mit zahlreichen Chinesen, die ganz unter ihnen und in Ge- meinschaft mit ihren Weibern und Töchtern leben!). Während daher jene ihren tungusischen Typus rein conservirt haben dürften, wird er bei diesen, den Ta-dse, vielfach und wesentlich abgeändert sein. In ihren nördlichsten Wohnsitzen, in der Bai de Castries, sind die Orotschen schon von La Perouse und besonders eingehend von seinem Begleiter Rollin geschildert worden ?). Dabei stösst man nur auf den Uebelstand, dass die Bevölkerung der Bai de Castries, wie man aus La Perouse’s eigenen Angaben über die von ihm beobachteten Grabmäler schliessen darf, schon zu der Zeit eine aus Oltscha und Orotschen gemischte war°), und man daher nicht bestimmt wissen kann, welcher von diesen beiden Nationalitäten die Beschrei- bung gelten soll. Geht man sie jedoch genauer durch, so muss man sich für die Orotschen entscheiden. Die Reisenden waren sehr erstaunt, in dieser so nahe von der Westküste Sachalin’s, 1) S. oben, p. 23, 68; vrgl. auch Przewalski, IIyrem. | Milet-Mureau, Paris 1797, T. II, p. 68; T. IV, p. S1. 29 Yceyp. xpab, C. Herep6. 1870, erp, 105. 3) S. oben, p. 137. 2) Voyage de La Perouse aut. du monde, red. par Amur-Tungusen. Körperbau und Gesichtsbildung der Orotschen. 289 unter gleichen klimatischen Verhältnissen gelegenen Bai eine Bevölkerung zu finden, welche von derjenigen der Insel (Aino), trotz ähnlicher Lebensweise und Sitten, körperlich so sehr ver- schieden war, dass man in ihr Menschen von «einer anderen Art» erblicken musste"). Zugleich frappirte sie ihre ausnehmende Hässlichkeit?). Ich kann mich nicht enthalten, ihre Beschreibung der Orotschen in gedrängten Zügen wiederzugeben. Ihr zufolge sind sie von kleinem Wuchse, etwa % Fuss, I—10 Zoll lang, dünn und schwach gebaut; der Kopf verhältnissmässig gross, die Extremitäten klein?). Die Hautfarbe ist etwas weniger dunkel als bei den Aino, an den be- ständig bedeekten Körpertheilen sogar ziemlich weiss oder (nach La Perouse) olivenfarbig, von Thran und Rauch gefirnisst. Das Haupthaar ist minder dicht als bei den Aino, schwarz oder braun; der Bartwuchs, auf Kinn und Lippen, fast null; die Augenbrauen wenig markirt. Das Gesicht ist flach und fast viereckig; die Stirn klein, gerundet, etwas zurücktretend; die Backen- knochen sind breit und vorspringend; die Augen klein, schmal und schief geschlitzt; die Nase klein, platt, an der Wurzel kaum bemerkbar; der Mund gross, die Lippen diek; das Kinn wenig vorspringend. Es ist unmöglich, in dieser Schilderung den tungusischen Typus, wie man ihn bei den sibirischen Tungusen oder auch bei vielen Golde antriflt, zu verkennen. Andeu- tungen von einer Beimischung paläasiatischen Blutes, von Giljaken und Aino, sind in derselben nicht zu finden ®). Die obige Schilderung der Orotschen wird auch von späteren Reisenden bestätigt. Hrn. Maximowiez, der noch eben so wenig von der gemischten Bevölkerung der Bai de Castries wusste, entging gleichwohl der im physischen Bau ihrer Bewohner sich äussernde Doppelcharakter derselben nicht. In seinen handschriftlichen, mir zur Benutzung überlassenen ethnographischen Aufzeichnungen aus dem Amur-Lande finde ich folgende kurze, aber prä- gnante Angabe: «die Orotschen der Bai de Castries sind entweder karrikirt mongolisch, mit geschwollen hervortretenden Backenknochen ‚- verquollenen, geschlitzten Augen und einer mi- kroskopischen Nase, oder klein, mager, mit hagerem, mongolischem Gesicht, aber mit hoher Nase und starkem Bartwuchs». So verrathen sich schon durch ihre Gesichtsbildung die beiden in der Bai zwar neben einander wohnenden, aber getrennt sich haltenden und auch in ihren Sitten beiderseits sich treu bleibenden Stämme der Orotschen und der Oltscha. Als ich die Bai de Castries besuchte, war sie zeitweise fast menschenleer, und die paar zurückgebliebenen Individuen konnten nicht maassgebend sein. Hingegen hatte ich schon im Juli 1854 Gelegen- heit, die Orotschen in der südlicher gelegenen Bai Hadshi oder dem Kaiserhafen kennen zu lernen. In meinem Tagebuche finde ich über ihren Körperbau folgende Notiz: sie sind von 4) ....«des hommes d’une esp£ce differente». Rollin, l.c. T. IV, p. 81. 2) La Perouse sagt: «il m’existe peut-Eire pas de peuple d’une physiognomie plus &loignee des formes auxquelles nous attachons l’idee de la beaut&», und Rollin nennt sie «les hommes les plus laids et les plus chetifs que j’aye vus sur les deux hemispheres» — worin natür- lich ein gutes Stück Uebertreibung liegt. 3) Rollin stellt (a. a. ©. p. 86) auch einige Körper- Schrenck's Amur-Reise, Band III. maasse der Orotschen neben denjenigen der Aino zu- sammen. 4) Nachdem schon La P@rouse und Rollin so prä- gnante Schilderungen von den Eingeborenen der Sachalin gegenüber liegenden Festlandsküste gegeben hatten, wird: die von Klaproth ausgesprochene und von Anderen wiederholte Angabe, dass diese ganze Küste von Kurilen (Aino) bewohnt sei (s. oben p. 207), um so auffallender und unbegreiflicher. a 37 390 Die Völker des Amur-Landes. mittlerem Wuchse, eher klein als gross, die Weiber entschieden klein; ihr Bau, sowie die ganze Erscheinung, ist fein und schwächlich; sie sind durchweg brünet, von braungelblicher Gesichts- farbe, das Haar schwarz, auf dem Kopfe von kräftiigem Wuchse, dicht und lang, im Gesicht, um Lippen und Kinn, nur schwach; Schädel und Gesicht von mongolischer Bildung; die grösste Breitendimension liegt anscheinend in der Backengegend, wogegen die Stirn nur schmal und niedrig ist; die Nase ist flach und breit, die Augen sind schief gestellt. Sehr ähnlich lautet die Schilderung, welche einige Jahre später Tronson von den Eingeborenen derselben Bai (Barra- couta) entwarf, nur dass er sie fälschlich für Giljaken hielt). Er hebt ausser den oben ange- gebenen Zügen noch die scharf gezeichneten, stärker als bei den Chinesen gebogenen Augen- brauen, sowie die kleinen und feinen Hände der Orotschen hervor; auch hatte er stärker und kräftiger gebaute Individuen vor sich. Leider fehlt es uns an ähnlichen Schilderungen der südlichen Orotschen oder Ta-dse. Aus einzelnen, gelegentlich von den Reisenden hervorge- hobenen Zügen lässt sich aber wohl entnehmen, dass sie in ihrer Körper- und Gesichtsbildung ihren nördlichen Landsleuten gegenüber nieht unerhebliche Abänderungen erfahren haben, hauptsächlich wohl in Folge jener Gememschaft mit den Chinesen. Wenjukof fand sie im Vergleich zu den Baikal-Tungusen weniger hager, mit stärkerer Muskulatur an Armen und Beinen; ihr Gesicht hatte nicht das Eekige der echt mongolischen Völker, der Burjaten, Kal- mücken u. s. w.; die Jochbögen waren schwächer, die Nase nicht platt, der Abstand zwischen den Augen weniger gross; die Augen waren oft nur grau, nicht schwarz?). Maximowiez fand die Orotschen am Poor sogar von über Mittelgrösse, hübsch gebaut, mit angenehmem, hoch- nasigem Gesicht, jedoch auch nur mit schwachem Bartwuchs. Zum Theil sieht man in diesen Zügen auch eine Annäherung an die südlicheren Golde und die Mandshu. Ueber den Körperbau der oberen Amur-Völker kann ich nach eigenen Erfahrungen nur wenig urtheilen, da ich mit ihnen nur hie und da in Rüchtige Berührung gekommen bin. Die nomadi- schen Stämme, namentlich dieManägirn und Orotschonen, hatten in der späten Jahreszeit, da ich den oberen Amur aufwärts ging, schon fast sämmtlich den Strom verlassen und waren zur Jagd in die weiter ab liegenden Gebirgswaldungen gezogen. Die am Amur sesshaften Biraren kamen mir den Mandshu nieht unähnlieh vor, und so spricht sich über dieselben auch Maack aus®). Er fand, dass sie im ganzen Körperbau und in der Form des Gesichts den Mandshu näher stehen als den Amur-Orotschonen, und niemals begegnete ihm unter ihnen ein so breitbackiges Gesicht, wie sie unter den letzteren so gewöhnlich sind. Manches verräth auch ihre nahe Verwandtschaft mit den Manägirn. Von diesen entwirft er eine genauere Schilderung, da er Gelegenheit hatte, sie näher kennen zu lernen. Meistentheils, sagt er‘), sind sie von mittlerem oder sogar ziemlich hohem Wuchse, kräftige und gut gebaut; kleine Individuen mit to} ’ o to) ko) 1) Tronson, Personal Narrat. of a Voyage to Japan, | Oöun. 4. XXV, 1859, Ora. U, erp. 234); ero ke, Iyremw. Kamtsch. ete. in H. M. S. Barracouta, London 1859, | no orp. Pyceer. Asim, erp. 88. p. 268, 3) Iyrens. na Anypts, C. Ierep6. 1859, erp. 110. 2) BenioroRT, O6035p. p. Veypu (Bbern, Pyeer. Veorp. A) L. c. p. 69. Amur-Tung. Körperb. u. Gesichtsbild. d. Manägirn, Orotschonen, Dauren, Solonen. 291 dünnen Beinen, ähnlich den Orotschonen, sieht man unter ihnen nur ausnahmsweise. Ebenso sprieht sich über dieselben auch Sswerbejef aus!). Der Gesichtsbildung nach konnte Maack unter den Manägirn zwei Typen unterscheiden: die Einen hatten breite, echt mongolische Gesichter, mit kleiner Nase und vorspringenden Backenknochen; die Anderen — und deren sah er nicht wenige — hatten ein ovales Gesicht, edle Züge, sehr proportionirt gehaltene Backen- knochen, eine lange, bald gerade, bald etwas krumme Nase. Er schreibt die Ausbildung dieses letzteren Typus unter den Manägirn mandshurischem Einflusse zu; ich glaube man müsste hin- zufügen auch daurischem, zumal die Dauren am Komar ihre unmittelbaren Nachbaren sind und zugleich als Kaufleute viel mit ihnen verkehren. Der erstere Typus hingegen lässt in den Manä- girn die nächsten Stammverwandten der Orotschonen erkennen. Von diesen sagt Giller?), der am rechten Ufer der Schilka einige Zeit unter ihnen weilte, sie seien von kleinem, seltner mittlerem Wuchse, hässlich, mit rundem Kopfe, niedriger Stirn, schwarzem Haar, brauner Ge- siehtsfarbe, kleinen, schiefen, dunkelbraunen oder schwarzen Augen, schütteren Augenbrauen, grossem Gesicht mit vorstehenden Backenknochen, flacher Nase und sehr sparsamem Haarwuchs. Die Orotschonen schliessen sich, wie sie faktisch der mandshu-chinesischen Herrschaft fern gestanden haben, auch in physischer Beziehung unmittelbar an die russisch-sibirischen Tun- gusen an. Gleich wie bei diesen letzteren, ist aber auch bei ihnen der mongolische Typus der Gesichtsbildung keineswegs so ausgesprochen wie bei den echt mongolischen Völkern, den Bur- jaten, Kalmücken, oder auch bei den physisch stark mongolisirten Jakuten?). Die Dauren und Solonen endlich werden schon von den alten Missionären ihres hohen Wuchses und kräftigen Körperbaues wegen gerühmt®). Ihre Gesichtsbildung muss aber eine nicht geringe Mannigfaltigkeit zeigen, da sie im Laufe der Zeit starke Mischungen mit den Mandshu, Chinesen und mit ihren südlichen und südöstlichen Nachbaren, den Mongolen, eingegangen sind. Ich habe auch selbst in den daurischen Dörfern am Amur, so wie an einzelnen Individuen, die mir oberhalb der Dseja-Mündung begegneten, sehr verschiedene Gesichter be- obachtet, bald mit plumpen, mandshuähnlichen, bald mit entschieden feineren Zügen, zuweilen mit fast viereckigem, mongolischem Sehnitt u. s. w., immer aber mit schief geschlitzten Augen und sehwachem Bartwuchs. Doch bin ich zu kurze Zeit und zu selten mit den Dauren, geschweige denn mit den Solonen, in Berührung gekommen, um ein allgemeingültiges Urtheil über ihre physische Gestaltung aussprechen, oder gar bestimmte Typen unter denselben unterscheiden zu können. 1) Crep6eer%, Onne. maan. mo p. Amypy oxenea. | p. 5) aus, indem er gegen Parschin’s Ansicht, die renep.-rydepn. Bocroun. Cnöupn w5 185% r. (Zar. Cuö. | Nertschinsker Tungusen hätten ganz dieselbe Gesichts- Ora. Pycex. Teorp. O6. Ku. III, €. Herepo. 1857, erp. 35). | bildung wie die Burjaten, ausdrücklich hervorhebt, 2) Verhandl. der Berliner Gesellsch. f. Anthrop.,Ethnol. dass die letzteren breitere Gesichter und eine untersetz- und Urgesch., in der Zeitschr. für Ethnol. Bd. VI, 1874, | tere Gestalt haben und den Jakuten weit ähnlicher als p.(77),—ein Auszug ausseinem Werke «OpisaniiZabajkalsky | die Tungusen sind. krainy», das mir nicht zu Gebote steht. 4) Du Halde, Deser. de ’Emp. de la Chine, T. IV, 3) Sswerbejef, Il. c. Ganz ähnlich spricht sich auch | Paris 1735, p. 15, 16. schon Erman (Archiv für wiss. Kunde Russl. Bd. IV,1844, 3a 2923 Die Völker des Amur-Landes. Vergleicht man nun die Stellung und Gruppirung der tungusischen Amur -Völker gegen einander, wie sie aus ihrer physischeh Beschaffenheit sich ergiebt, mit derjenigen, welche wir aus ihrer Sprache entnehmen mussten, so stimmen sie zwar im Allgemeinen ziemlich mit ein- ander überein und bekräftigen sich gegenseitig, decken sich aber doch nicht vollständig, sondern fallen in manchen Punkten auch auseinander. So sahen wir vom sprachlichen Standpunkt die ÖOltscha, Negda und Samagirn eine Gruppe bilden, während in physischer Beziehung die ersteren von den sprachlich grundverschiedenen Giljaken kaum zu unterscheiden sind, die Negda sich ihnen ebenfalls nähern, die Samagirn hingegen mehr an die Golde sich anschliessen. Ebenso zeigen von den sprachlich mit einander zunächst verwandten Stämmen der Biraren, Manägirn und Orotschonen die beiden ersteren in physischer Beziehung eine starke Annähe- rung an die Mandshu, während die letzteren ihren nordtungusischen Typus rein erhalten haben. Wir können in diesen Fällen der Incongruenz der sprachlichen und der physischen Charaktere nur einen Beweis dafür sehen, wie viel leichter und rascher die Völker in Folge von Ver- mischungen ihre physischen als ihre sprachlichen Eigenthümlichkeiten einbüssen. Solche Fälle namentlich, wo zwei ursprünglich grundverschiedene Völker, wie die Giljaken und Oltscha, gegenwärtig nach ihrer physischen Beschaffenheit nicht oder nur kaum mehr zu unterscheiden sind, während die Sprache sie überall auf das Schärfste abgrenzt, werfen ein grelles Licht auf die Veränderlichkeit der physischen Charaktere eines Volkes und auf den ausdauernderen Bestand hingegen seiner Sprache, als des Ausdruckes seines gesammten geistigen Seins und des festesten Bindemittels aller seiner einzelnen Individuen. Fügen wir nun zur physischen Charakteristik der tungusischen Amur-Völker noch eine Beschreibung der uns vorliegenden Schädel derselben hinzu. Leider ist ihre Zahl eine sehr be- schränkte, indem wir nur zwei Oltscha-Schädel und von den Golde, Biraren, Manägirn und Orotschonen je einen, im Ganzen also sechs Schädel von Amur-Tungusen besitzen. An eine Ableitung allgemeinerer Resultate über den Schädelbau dieser Völker ist unter solchen Umständen nicht zu denken. Was hier geboten wird, ist nur erst eraniologisches Material, aber zum Theil das erste für die erwähnten Völker. Da diese jedoch sämmtlich tungusischen Stammes sind, so lässt sich dasselbe gleichwohl schon jetzt, wenigstens theilweise, zur genaueren und richtigeren Fest- stellung des tungusischen Schädeltypus überhaupt verwerthen, wie weiter unten in der That versucht werden soll. Die Maasse dieser Schädel sind bereits oben in tabellarischer Zusammen- stellung mitgetheilt worden. Gehen wir nunmehr zur Besprechung der einzelnen Objeete über. Oltscha-Schädel kannte man bisher gar nicht, wenn nicht der oben!) besprochene, vom polnischen Exilirten Weber in der Umgegend des Kidsi-Sees gefundene und von Pruner-Bey und Barnard Davis?) beschriebene und abgebildete «Giljaken»-Schädel diesem Volke angehört haben sollte. Ich glaube jedoch nachgewiesen zu hahen, dass es viel eher ein Orotschen- Schädel war. Unsere beiden Oltseha-Schädel sind von mir aus dem Amur-Lande gebracht 4) S. p. 228. Vol. III, 1870, p. 366 fl. 2) Memoirs read bef. the Anthropol. Soc. of London, y Amur-Tungusen. Schädelbau. Oltscha-Schädel. 293 worden. Von dem einen derselben könnte es allerdings, nach seinem Fundorte zu urtheilen, auf den ersten Blick fraglich erscheinen, ob es ein Oltscha-, oder nicht vielmehr auch ein Orotschen-Schädel sei, denn er rührt aus der von diesen beiden Völkern bewohnten Bai de Castries her. Die näheren Umstände seines Fundes sprechen jedoch für das Erstere. Ich fand ihn nämlich am 11/23. Juni 1855 auf der in der Bai gelegenen Observatoriums-Insel in einem halbzerstörten Grabe, das seiner Construktion nach ein Oltscha-Grab sein musste. Auf dem Festlande am Nordufer der Bai hatte ich bereits mehrere, wohlerhaltene Oltscha-Gräber ge- sehen, die mit denen am Amur vollständig übereinstimmten, — zu ebener Erde erbaute, niedrige Häuschen, in denen die Leichen, in Särgen beigesetzt, ruhen. An dem Grabe auf der Insel war das Gebälk noch erhalten, aber das Dach fehlte; mitten im Grabe stand ein seines Deckbrettes beraubter, 5 Fuss langer und etwa 14—15 Zoll breiter Sarg, in welchem an einem Ende der hier in Rede stehende Schädel lag. In der Nähe des Grabes waren Spuren ehemaliger Zelte oder Sommerwohnungen zu sehen, was darauf hinwies, dass die Oltscha der Bai sich zeitweise, im Sommer, vermuthlich des Fischfanges wegen, auf der Insel aufhielten. Ist es somit von diesem Schädel nur sehr wahrscheinlich, dass er einem Oltscha angehörte, so unterliegt dies hinsichtlich unseres zweiten Schädels gar keinem Zweifel. Diesen nahm ich aus einem noch keineswegs alten und sehr wohlerhaltenen Leichenhäuschen im Oltscha-Dorfe Choto heraus, das an derselben Stelle lag, wo nachmals der Mariinskische Posten erbaut wurde. Folgendes nun zur näheren Charakteristik dieser beiden Schädel. Der Oltscha-Schädel aus der Bai de Castries (M V der Tabb., Fig. 5 der Taff. V—IX) erscheint mir auch hinsichtlich seines Geschlechtes zweifelhaft: seine durchweg geringen Dimen- sionen und gerundeten Formen machen es wahrscheinlich, dass er einem Weibe angehörte. Nach der Beschaffenheit der Nähte und Zähne zu urtheilen, war das betreffende Individuum nur etwa 18—24 Jahre alt. Die Basilarfuge ist noch offen; desgleichen sämmtliche Nähte offen, klaffend..Die vorhandenen Zähne sind sehr wohl erhalten, die Tardıvi im Ober- und Unterkiefer eben im Durchbruch begriffen. Nach den Verhältnissen der Länge, Breite und Höhe ist er platybrachycephal, und zwar mit einem grösseren Längenbreitenindex als bei irgend einem unserer übrigen Schädel, selbst den breitesten Giljaken-Schädel (® III) nicht ausgenommen. Dagegen tritt die Höhe bei ihm nicht so stark gegen die Breite zurück wie bei dem letzteren. Die Stirnbreite ist unten nur gering, oben, an der Kranznaht, hingegen sehr ansehnlich. Der Schädel wird von dort nach hinten rasch breiter und erreicht seine grösste Breite bald hinter der halben Länge, zwischen den Scheitelbeinen, nahe der Schuppennaht, in der durch die Ohr- öffnung gehenden Senkrechten. In der Scheitelansicht ist er daher breit eiförmig, vorn etwas abgestutzt, mit kaum sichtbaren Jochbögen. Die grösste Höhe des Schädels liegt sehr bald hinter seiner grössten Breite. Die Stirn tritt langsam zurück. Die Stirn- und Scheitelhöcker sind nur unansehnlich; desgleichen die Lineae semicireulares, die sich nach hinten bald verlieren. In der Hinterhauptsansicht ist der Schädel fast kreisrund, eben so hoch wie breit, am Scheitel kaum etwas winklig, an der Basis ausgeschweift. Das Hinterhaupt ist flach und fällt von der Protu- berantia occipitalis ziemlich steil zum Foramen magnum ab. Dieses ist horizontal gelegen, klein, 29% Die Völker des Amur-Landes. oval, nach hinten zugespitzt. An Stelle der Crista externa verläuft auf dem Hinterhauptsbein eine flache Rinne. Die Processus mastoidei sind klein; überhaupt alle Muskelleisten schwach. Die Schläfenbeinschuppe hat keinen Stirnfortsatz. Die grossen Keilbeinflügel sind breit; die Su- tura sphenofrontalis hat beiderseits eine Länge von 18", die Sutura sphenoparietalis rechts von 17, links von 21”", Der Nasenfortsatz des Stirnbeins reicht tief hinab. Die Nasenbeine sind an der Wurzel wie im weiteren Verlaufe fast ganz flach, etwas breiter als bei den Gilja- ken-Schädeln (mit Ausnahme von | I) und lange nicht so eingebogen an der Wurzel. Ihrem Index nach ist die Nase mesorhin. Die Augenhöhlen sind nicht besonders gross, fast eben so hoch wie breit, ihrem Index nach sehr megasem, mehr als dies nach Broca bei den mongolischen Völkern in der Regel zu sein pflegt), dabei etwas nach unten und aussen ausgezogen. Wangen und Oberkiefer scheinen zwar im Verhältniss zum Schädel von geringer Breite zu sein, haben aber bei der geringen Länge desselben ganz ansehnliche Breitenindices. Die Fovea maxillaris ist wenig vertieft. Der zweite unserer Oltscha-Schädel, aus dem ehemaligen Dorfe Choto am Kidsi-See (8 VI der Tabb., Fig. 6 der Taf. V—IX), ist von dem ersteren sehr verschieden, ja in manchen Verhältnissen von direkt entgegengesetzter Bildung. Er gehörte unzweifelhaft einem männlichen Individuum, das vermuthlich über 50 Jahre alt war: die Schädelnähte sind meist obliterirt, und zwar die Sutt. coronalis superior, sagittalis und lambdoidea superior so vollständig, dass sie von aussen gar nicht mehr sichtbar sind; die Sut. coronalis inferior ist eben- falls verwachsen, doch bleibt ihr Verlauf noch kenntlich; desgleichen die Sut. lambdoidea inferior, nahe dem Processus mastoideus, wo sie kleine Schaltknochen enthält. Die Zähne sind vollzählig entwickelt gewesen, die vorhandenen stark abgerieben, die Eekzähne ganz stumpf. Der ganze Schädel ist sehr massiv und schwer. Nach seinem Längenbreiten- und Breitenhöhenindex ist er hypsimesocephal; die Höhe namentlich absolut wie im Verhältniss zur Breite grösser als bei irgend einem unserer Schädel. Die grösste Breite liegt im unteren Theile des Schädels (s. oben d. Anm. 2 zur Tab. 1), etwas hinter der halben Länge, wo auch die grösste Höhe sich befindet. In der Scheitelansicht ist der Schädel elliptisch, vorn etwas abgestutzt, die Jochbögen stark vortretend. Die Stirn ist flach, zurücktretend. Die Areus supraciliares treten ansehnlich hervor und fliessen in eine stark gewölbte Stirnnasenwulst zusammen. Die Stirnhöcker sind schwach, die Scheitelhöcker hingegen ansehnlich entwickelt. Die Lineae semicirculares sind sehr markirt, in ihrem Verlauf auf dem Stirnbein durch kleine spitze Erhabenheiten rauh; sie steigen hoch auf die Scheitelbeine hinauf, sind fast bis zu den ansehnlich starken Processus mastoidei deutlich zu verfolgen und schliessen sehr grosse, bis zur Lamıbdanaht reichende Plana temporalia ein. In der Hinterhauptsansicht hat der Schädel die Form eines hohen Fünfecks mit zwar abgerundeten, aber doch deutlich erkennbaren Winkeln. Die beiden oberen Seiten desselben sind kürzer und etwas eingedrückt, so dass der Schädel einigermassen dachförmig gewölbt erscheint; die beiden unteren Seiten des Fünfecks sind länger und gehen senkrecht hinab, mit einer kleinen Anschwellung 1) Broca, l. c. p. 600, Amur -Tungusen. Schädelbau. Oltscha-Schädel. 295 im unteren Theile (wo die grösste Breite des Schädels liegt); die Basis ist ziemlich gerade, nur an den Seiten etwas ausgeschweift. Das Hinterhaupt ist gross und gewölbt, über der Protube- rantia oceipitalis ganz senkrecht abgeflacht, von dieser letzteren an, die ungewöhnlich stark entwickelt ist, fast unter rechtem Winkel gegen den oberen Theil abgesetzt und zum horizontal gelegenen Foramen magnum flach geneigt. Die Schläfenbeinschuppe ist flach, ohne Stirnfortsatz. Die grossen Keilbeinflügel sind breit, indem die Sutura sphenofrontalis beiderseits 20, die Sut. sphenoparietalis rechts 9, links 8"" lang ist. Der Nasenfortsatz des Stirnbeins reicht sehr tief hinab. Die Nasenbeine sind schmal, bilden aber mit einander einen deutlichen Winkel (Nasenrücken); dabei sind sie stark eingebogen, so dass ihre unteren Enden fast horizontal nach vorn gerichtet sind und auch in der Scheitelansicht des Schädels noch vorragen. Die Augen- höhlen sind gross, nach aussen und unten etwas ausgezogen, quadratisch, genau eben so hoch wie breit und also ihrem Index zufolge äusserst megasem, — so sehr, wie es nach Broca nur bei künstlich von oben nach unten zusammengedrückten Schädeln zu sein pflegt'). Die Augen- scheidewand ist sehr breit. Obwohl die Jochbogenbreite eine sehr ansehnliche ist und der grössten Schädelbreite nur wenig nachgiebt, so ist die Wangenbreite doch keineswegs auflallend; im Verhältniss zur Schädelbreite bleibt sie, ebenso wie auch die Oberkieferbreite, hinter den ent- sprechenden Indices des. vorigen Schädels zurück. Die Fovea maxillaris ist aber etwas stärker vertieft. Der Unterkiefer ist sehr dick und stark, wie auch bei den Giljaken. Die auf seiner Innenfläche verlaufende Linea obliqua interna endigt jederseits in einen spitzen Stachel, der auch auf den Photographien deutlich zu sehen ist. Lassen sich die beiden eben besprochenen Schädel, da sie verschiedenen Geschlechtern an- gehören, auch nicht unmittelbar mit einander vergleichen, so ist aus denselben doch zu ersehen, wie verschiedene Schädelformen auch unter den Oltscha vorkommen. Gewiss repräsentiren sie noch nicht die äussersten Bildungen, und doch ist der eine hypsimeso-, fast hypsidolicho- cephal, der andere entschieden platybrachycephal, mit einer Differenz in den Längenbreitenindices von 12,3 und in den Breitenhöhenindices von 11,%, was den Schwankungen, die wir oben in dieser Beziehung an den Giljaken- und Aino-Schädeln kennen lernten, nur wenig nachsteht. Auch ist das Maass der Brachycephalie am breiten Oltseha-Schädel (85,4) fast genau dasselbe wie bei den uns bekannten breitesten Giljaken- und Aino-Schädeln (85,2 und 85,3), und ebenso ist der Grad der Hypsicephalie beim hohen Oltscha-Schädel (103,5) nur um Weniges ansehnlicher als bei unserem höchsten Giljaken-Schädel (101,5). Auch in den übrigen Ver- hältnissen des Schädel- und Gesichtsbaues lässt sich, von individuellen Differenzen abgesehen, ein ähnlicher Parallelismus zwischen den Oltscha und Giljaken erkennen, und ich glaube nicht, dass eine grössere Anzahl von Messungen denselben verschwinden lassen würde. Stehen sich doch, wie wir oben sahen, diese Völker gegenwärtig auch nach ihrer gesammten Physio- 1) An zusammengedrückten Schädeln der Aymara | einem kaukasischen Makrokephalus einen Orbitalindex von Peru fand Broca einen mittleren Orbitalindex von | von 105. Vrgl. Rey. d’Anthrop. T, IV, p. 599, 600, 616, 98,08, an den weiblichen Schädeln allein von 100,55, an 296 Die Völker des Amur-Landes. gnomie so nahe, dass es nicht wohl möglich ist, nach derselben die Nationalität der einzelnen Individuen mit Sicherheit zu erkennen, indem es sowohl Giljaken mit rein tungusischem Ge- sichtstypus, als auch andererseits Oltscha mit den Gesichtszügen echter Giljaken giebt. Hier ist der Ort, auch auf den oben erwähnten, von Weber in der Nähe des Kidsi-Sees gefun- denen und von Pruner-Bey und Barn. Davis abgehandelten, irrthümlicherweise einem Gi- ljaken zugeschriebenen Schädel etwas näher einzugehen, denn die Möglichkeit, dass er einem Oltscha angehört habe, ist, wie oben bemerkt, nach seinem Fundorte nicht ausgeschlossen. Die Umstände, unter denen er gefunden worden, machen es allerdings wahrscheinlicher, dass es ein Orotschen-Schädel ist, allein auch in diesem Falle rührt er aus dem Grenzgebiet der Oltscha und Orotschen her, wo diese ohnehin stammverwandten Völker in vielfacher Berührung und Verbindung mit einander stehen. Jedenfalls liegt also ein Vergleich desselben mit den eben be- sprochenen, aus demselben Grenzgebiet stammenden Oltscha-Schädeln nahe. Und in der That zeigt er im Ganzen wie im Einzelnen manche Uebereinstimmung namentlich mit dem zweiten derselben, mit dem Schädel aus Choto. Gleich diesem ist er nach dem Verhältniss seiner Haupt- dimensionen hypsimesocephal, indem sein Längenbreitenindex 78,0, sein Breitenhöhenindex 100,0 beträgt): im Verhältniss zur Länge ist er also breiter und im Verhältniss zur Breite weniger hoch als unser Oltscha-Schädel. In letzterer Beziehung fehlt ihm namentlich das etwas dachförmige Schädelgewölbe des letzteren. Auch die übrigen Verhältnisse bieten viel Aehnliches dar: so die stark angeschwollenen Areus supraciliares, die dadurch eingedrückt er- scheinende Glabella, die zurücktretende Stirn, das grosse und starke Hinterhaupt, die ausseror- dentliche Breite in den Jochbögen, die starke Ausprägung der Lineae semicirculares?) und aller zum Ansatz der Muskeln dienenden Fortsätze, Stacheln und Leisten, der tief hinabreichende Nasenfortsatz des Stirnbeines, die schmalen, an der Wurzel eingebogenen Nasenbeine, die grossen, übrigens mehr breiten als hohen Augenhöhlen u. s. w. Dass sich in allen diesen Cha- rakteren zugleich auch viel Uebereinstimmung mit einigen unserer Giljaken-Schädel ausspricht, geht aus den obigen Darstellungen wie aus der Vergleichung der resp. Maasse und Abbildungen hervor. Gehörte daher dieser Schädel, wie sehr wahrscheinlich, einem Orotschen an, so liefert er den Beweis, dass unter diesem Volke, zum wenigsten an seiner nördlichen Grenze, ganz ähnliche Schädelformen wie unter den Oltscha und Giljaken vorkommen, was bei dem langen und vielfachen Verkehr dieser an einander grenzenden Völker nicht weiter Wunder nehmen darf. Und gleichwie unter den letzteren, fehlt es gewiss auch unter den Orotschen neben hypsimeso- und vielleicht auch hypsidolichocephalen Formen nicht an platybrachycephalen, wie 1) Der Längenhöhenindex würde bei der ganz gleichen | gesch. p. (137), in der Zeitschr. für Ethnol. Bd. V, 1873). Breite und Höhe des Schädels eben so viel wie der Län- genbreitenindex betragen. Diese Zahlen sind nach den von Barn. Davis bestimmten Schädelmaassen berechnet. Virchow fand an seinem Gypsabguss dieses Schädels einen Breitenindex von 77,3 und einen Höhenindex von 78,3 (Verhandl, der Berl. Ges. f. Anthrop., Ethnol. und Ur- 2)Barn. Davis giebt zwar an, dass die Lineae semi- eireulares nicht hoch auf die Scheitelbeine hinaufreichen, allein die beigegebene Abbildung stimmt damit nicht überein und lässt weite Plana semicireularia erkennen. Vrgl. Mem. read bef. the Anthrop. Soc. of London, Vol, III, p. 369, nebst Tafel. Amur-Tungusen. Schädelbau. Golde-Schädel. 297 man schon aus dem oben nach Individuen der Bai de Castries, des Kaiserhafens und anderer Orte geschilderten Charakter ihrer Gesichtszüge schliessen möchte. Am bekanntesten nach ihrem Schädelbau sind bisher unter allen Völkern des Amur-Landes die Golde. Durch den Dr. Zwingmann erhielt Virchow!) vier Schädel derselben, die vom Bolang-See herstammten, einem im unteren Amur-Lande gelegenen Bassin, das seine Gewässer dem Amur von dessen linker Seite zusendet. Drei dieser Schädel gehörten erwachsenen Menschen, der vierte einem jugendlichen oder fast noch kindlichen Individuum an. Dr. Zwingmann glaubt behaupten zu dürfen, dass die Schädel nicht von Mischlingen herrührten; ich habe keinen Grund es in Zweifel zu ziehen und bemerke nur, dass sich dies, bei der Unkenntniss der betreffen- den Genealogie, wie in allen ähnlichen Fällen, nicht weiter constatiren und also auch nicht mit solcher Bestimmtheit behaupten lässt?). Auf Virchow’s Mittheilungen über diese Schädel komme ich weiter unten zurück. | Uns liegt nur ein Golde-Schädel vor, den Hr. Mordwinof am linken Ufer des Ussuri etwa 200 Werst oberhalb seiner Mündung erhielt. Derselbe (® VII der Tabb., Fig. 7 der Taff. V—-IX) gehörte einem männlichen, nach der Beschaffenheit der Nähte zu urtheilen, zwischen 30 und 55 Jahren alten Individuum an: der untere Theil der Kranznaht ist fast spurlos obliterirt; der obere und die Pfeilnaht sind zwar ebenfalls obliterirt, jedoch stellenweise deutlich zu er- kennen; die übrigen Nähte nicht oder nur stellenweise verwachsen; im unteren Theile der Lambdanaht, zwischen dem Hinterhaupts- und dem Schläfenbein, finden sich kleine Schalt- knochen. Zähne, resp. Zahnalveolen im Oberkiefer jederseits 8, die ersteren stark abgeschliffen ; der Unterkiefer fehlt. Nach dem Verhältniss seiner Hauptdimensionen ist der Schädel platy- mesocephal, mit einem Längenbreitenindex von 75,8 und einem Breitenhöhenindex von 98,5; es fehlt ihm also nur wenig, um hypsimesocephal zu sein. Die grösste Breite und die grösste Höhe liegen in derselben senkrechten Ebene, welche den Schädel etwas (12) hinter der Ohr- öffnung durchschneidet. In der Scheitelansicht ist der Schädel eiförmig, vorn etwas abgestutzt, mit ziemlich vortretenden Jochbögen. Die Stirn steigt schräg auf. Die Arcus supraciliares sind flach; nur über der Nase ist eine kleine Anschwellung, von welcher eine schwach erhabene Linie aufwärts steigt. Die Stirnhöcker sind schwach und undeutlich, die Scheitelhöcker hingegen treten deutlich hervor. Die Lineae semieireulares sind sehr sichtlich und im ersten Theile ihres Verlaufes erhaben undrauh. Das Hinterhaupt ist gewölbt, von der starken Protuberantia oceipitalis zum Foramen magnum schräg abgeplattet; letzteres ist horizontal gelegen, ungefähr elliptisch, in der Mitte stärker erweitert, in der vorderen Hälfte durch die Gelenkflächen etwas eingeengt und nach vorn und hinten ein wenig zugespitzt. In der Hinterhauptsansicht hat der Schädel dieForm eines Fünfecks mit abgerundeten Winkeln, das nur wenig höher wie breit ist; die oberen, kleineren 4) Vrgl. Verhandl. der Berl. Gesellsch. für Anthrop., ] See kommenden und zeitweise unter ihnen sich aufhal- Ethnol. und Urgesch. p. (136), in der Zeitschr. für Ethnol, | tenden Händler nicht Mandshu, wie er meint, sondern Bd. V, 1873. Chinesen. S. oben, p. 71. 2) Jedenfalls aber sind die zu den Golde am Bolang- Schrenck's Amur-Reise, Band III. 38 298 Die Völker des Amur-Landes. Seiten sind ziemlich gerade, die unteren, längeren fallen fast senkrecht oder nur kaum conver- girend hinab; die Basis ist ziemlich gerade, in der Mitte etwas eingeschnitten. Die Processus mastoidei sind lang und stark; die von den Jochbögen nach hinten sich fortziehenden Leisten sehr ansehnlich. Die Schuppe ist flach. Die grossen Keilbeinflügel sind breit, nach hinten zur Schläfenbeinschuppe und linkerseits auch in dieselbe hinein ausgezogen; die Sutura sphenofrontalis ist auf der rechten Seite 26, auf der linken 24”" lang, die Sut. sphenoparietalis auf der rechten 18, auf der linken 16. Das Gesicht ist im Ganzen breit und flach. Der Nasenfortsatz des Stirn- beines reicht tief hinab. Die Nasenbeine sind an der Wurzel ganz flach und ziemlich breit, später verschmälern sie sich, erheben sich aber zugleich zu einem schwach erhabenen Nasenrücken, wobei sie ohne Einbiegung gerade hinabsteigen, fast in einer Flucht mit der Stirn. Nach ihrem Index wäre die Nase mesorhin. Die Augenhöhlen sind gross, fast quadratisch, nur kaum breiter als hoch, ihrem Index nach megasem, nach aussen und unten etwas ausgezogen; der Interorbital- raum breit. Die Wangenbreite ist ganz ansehnlich. Die Fovea maxillaris flach. Vergleicht man unseren Golde-Schädel mit denen vom Bolang-See, so weit Virchow’s Mittheilungen über dieselben reichen, so scheint er sich denselben genau anzuschliessen. Nach seinem Längenbreiten- und Längenhöhenindex (75,8 und 74,7) lässt er sich ganz in die Reihe derselben einfügen, da die betreflenden Indices an den Schädeln der drei erwachsenen Individuen vom Bolang-See nach Virchow 73,0, 80,2, 85,0 und 71,1, 79,6, 82,3 betragen'). Aus diesen Zahlenreihen ist zugleich ersichtlich, dass auch bei den Golde nach dem Verhältniss der Hauptdimensionen sehr verschiedene Schädelformen vorkommen: während die Einen kaum über das Maass der Dolichocephalie hinausreichen ?), sind andere sehr ausgesprochen brachycephal. Der Unterschied im Cephalindex zwischen den wenigen bisher bekannten, gewiss noch nicht extremsten Formen beträgt 12,0, was mit den oben bei den Oltscha, Giljaken und Aino bemerkten Schwankungen vollkommen übereinstimmt; auch findet sich beim breitesten Golde- Schädel fast genau derselbe Grad von Brachycephalie wie bei jenen Völkern. Nach den Höhen- indices sind die Schädel der vier erwachsenen Golde zwar alle platycephal, jedoch mit einer Höhe, die der Breite nur sehr wenig nachsteht, und der Schädel des jugendlichen Individuums ist sogar hypsicephal. Da nun ausserdem dieser letztere nach Virchow in den übrigen Verhält- nissen mit zweien der Erwachsenen ganz übereinstimmte, so zweifle ich nicht, dass es unter den Golde auch im erwachsenen Alter neben platycephalen auch hypsicephale Schädelformen giebt. Auch in den übrigen von Virchow an den Golde-Schädeln als charakteristisch hervorgeho- benen Punkten findet eine grosse Uebereinstimmung unseres Schädels vom Ussuri mit denen vom Bolang-See statt; so namentlich in der «auffälligen» Entwiekelung des tief hinabsteigenden Nasen- fortsatzes des Stirnbeines, in der ausnehmenden Flachheit der Nasenbeine und der daraus folgenden Plattheit der Nase, die in so hohem Grade ausgesprochen ist, dass Virchow unwillkürlich der Ge- 4) AmSchädel des jugendlichen Individuums bestimmte | Schädel, mit dem Breitenindex 73,0, sogar «exquisit do- sie Virchow auf 77,3 und 78,5. lichocephal». S. Verhandl. ete. I. c. p. (137). 2) Virchow nennt den ersteren der oben angeführten Amur-Tungusen. Schädelbau. Golde- und Biraren-Schädel. 299 danke an eine künstliche Pressung oder Abflachung der Nase aufstieg, so wie endlich in der Form der Augenhöhlen, welche entweder eben so hoch, oder sogar noch höher als breit sind. So sehrich aber die von Virchow bezeichneten Charakterzüge auch an unserem Golde-Schädel bestätigt finde, so kann ich ihnen doch nicht die Bedeutung zuerkennen, eine ausschliessliche Eigenthümlichkeit der Golde zu sein, durch welche sie sich von den Aino, Giljaken und Tungusen unterschieden. Bei den beiden ersteren Völkern kommen vielmehr, wie wir oben gesehen, dieselben Züge und überhaupt ein ganz ähnlicher Gesichtstypus nicht selten vor. Ueber die Giljaken zudem urtheilte Virchow nur nach dem Gypsabdruck des einen Schädels, der, wie oben dargethan, nicht einem Giljaken, sondern einem Orotschen oder Oltscha ange- hörte. Zwischen Golde und Tungusen fand Virchow selbst manche Analogien im Schädelbau'), obgleich er nicht wusste, dass diese Völker auch sprachlich zum selben Stamme gehören. Ohne Zweifel hätte er eine solche Analogie auch in den oben erwähnten Charakteren wahrgenommen, wenn ihm eine grössere Anzahl authentischer tungusischer Schädel vorgelegen hätte. Wir wer- den sie weiter unten an einigen tungusischen Schädeln kennen lernen, gleichwie sie uns auch schon an den Oltscha, die ebenfalls tungusischen Stammes sind, entgegentrat. Ich glaube daher den Schluss ziehen zu dürfen, dass der Schädelbau der Golde — wenn sie in einzelnen Fällen, in Folge von Vermischung mit den Chinesen u. a. Völkern, auch manche fremdartige Züge bekommen haben sollten — doch keineswegs gegen ihre tungusische Abstammung spricht. Das nächste in craniologischer Beziehung hier zur Sprache kommende Amur-Volk sind die Biraren. Von ihm liegt uns ein Schädel vor — der erste seiner Art, der zur Kenntniss ge- langt (® VIII der obigen Tabb., Fig. 8 der Tafl. V—IX). Wir verdanken ihn Hrn. Maack. Am 19. Sept. (1. Oct.) 1855 fand er am rechten Ufer des Amur-Stromes, gleich oberhalb seines Eintritts in das Bureja-Gebirge, einen bei einem Biraren-Dorfe in einem Wäldchen gelegenen Begräbnissplatz. Die Särge, theils aus Brettern zusammengefügt, theils aus Weidenruthen geflochten und von aussen mit Birkenrinde bekleidet, standen in einiger Höhe über der Erde mit ihren Enden zwischen je zwei Pfosten befestigt, so dass es den Anschein hatte, als ruhten sie auf je vier Füssen ?). Auf ganz ähnliche Särge war er wiederholentlich in den Wäldern am Wilui und Olenek gestossen. Man erkennt in ihnen leicht das Tungusen-Grab. Aus einem jener Särge nahm er den Schädel heraus. Derselbe gehörte einem männlichen, nach der Beschaffenheit der Nähte und Zähne zu urtheilen, noch jungen, nur etwa 18—20 Jahre alten Individuum. Die Basilarfuge ist noch offen; der untere Theil der Kranz- und der hintere Theil der Pfeilnaht fangen zu obliteriren an; in der Lambda- und im hinteren Theile der Schuppennaht finden sich kleine Spaltknochen. Zähne oder Zahnalveolen in jedem Kiefer 1%; die Tardivi fehlen noch; die Schneiden und Kronen an den Zähnen noch ganz unversehrt. Der ganze Schädel ist leicht, mit dünnen und glatten Knochen. Seiner Form nach ist er platybrachycep hal, mit einem Längen- breitenindex von 83,2 und einem Breitenhöhenindex von 88,2. Die grösste Breite liegt zwischen 4) L. e. p. (138). r | 2) Maax%, Oyrem. va Amyp®, C. Ierep6.1859,crp.252. 38* 300 } Die Völker des Amur- Landes. den Scheitelbeinen, nahe der Schuppennaht, 15”" hinter der durch die Ohröffnung gehenden Senkrechten; die grösste Höhe noch etwas vor der grössten Breite. Die Stirn steigt schräg auf und wird nach oben rasch breiter. Der Schädel ist in der Scheitelansicht breit eiförmig, vorn abgestutzt, die Jochbögen nur wenig sichtbar. Die Augenbrauenbögen sind sehr schwach. Die Stirnhöcker treten deutlich hervor; zwischen ihnen läuft eine schwach erhabene Linie aufwärts. Die Lineae semieirculares sind sehr schwach und undeutlich. Die Scheitelhöcker sind zwar schwach, jedoch kenntlich. Das Hinterhaupt ist gewölbt, von der Protuberantia oceipitalis ab zum Foramen magnum schräg abgeplattet. Die Muskelleisten auf dem Hinterhauptsbem treten stark hervor; an Stelle der Crista oceipitalis läuft eine Rinne hinab. In der Hinterhauptsansicht hat der Schädel die Form eines Fünfecks mit abgerundeten Winkeln, das etwas höher als breit ist; die oberen Seiten sind klein und ziemlich gerade, die unteren gross und leicht bogen- förmig, die Basis gerade, in der Mitte eingeschnitten. Das horizontal gelegene Foramen magnum ist oval, nach hinten etwas zugespitzt und wird durch die langen und schmalen Gelenkflächen in seiner Form nicht beeinträchtigt. Die Schläfenbeinschuppe ist flach, ohne Stirnfortsatz. Die grossen Keilbeinflügel sind breit und hoch; die Sutura sphenofrontalis misst rechts 24, links 19°", die Sut. sphenoparietalis rechts 23, links 18"”". Der Nasenfortsatz des Stirnbeins steigt nicht so tief wie bei den Golde- und anderen oben besprochenen Schädeln hinab. Die Nasenbeine sind an der Wurzel breiter und verschmälern sich minder stark nach unten; sie bilden einen deut- lichen Nasenrücken und sind nur wenig eingebogen. Ihrem Index nach ist die Nase leptorhin. Die Augenhöhlen sind nur wenig breiter als hoch, megasem. Der Augenzwischenraum ist ansehnlich breit. Die Fovea maxillaris flach. Der Unterkiefer robust. Wie der Biraren-, so ist auch der uns vorliegende Manägir-Schädel der erste seiner Art, der bekannt wird (® IX der Tabb., Fig. 9 der Taff. V—IX). Am 19. Sept. (1. Oct.) 1856 stiess ich am linken Ufer des oberen Amur-Stromes etwas oberhalb Kotomanga auf alte Manägir- Gräber, aus deren einem der Schädel genommen wurde. Er gehörte einem männlichen Indivi- duum an, das, nach der Beschaffenheit der Nähte und Zähne zu urtheilen, im Alter zwischen 55 und 80 Jahren stand. Die Nähte coronalis, sagittalis, sphenofrontalis und sphenoparietalis sind obliterirt und in ihrem Verlauf von aussen kaum noch zu erkennen; auch die Lambdanaht ist, zumal in ihrem mittleren Theile, obliterirt; in der Schuppennaht, am hinteren unteren Winkel der Scheitelbeine finden sich jederseits kleine Schaltknochen. Die wenigen vorhandenen Zähne sind stark abgerieben; Zahnalveolen im Oberkiefer (der Unterkiefer fehlt) 1%, die übrigen sind offenbar resorbirt. Seiner Form nach ist der Schädel platybrachycephal, mit einem Längen- "breitenindex von 80,5 und einem Breitenhöhenindex von 86,3. Die grösste Breite liegt zwischen den von den Jochbögen auf die Schläfenbeine sich fortziehenden Leisten, 18”" hinter der durch die Ohröffnung gehenden Senkrechten; die grösste Höhe etwas vor jener. Die Höhe ist im Ver- hältniss zur Länge sehr gering, da der Längenhöhenindex nur 69,5 beträgt. Der Schädel ist in der Scheitelansicht breit eiförmig, vorn abgestutzt; die Jochbögen treten dabei stark vor; auch ist die Breite in den Jochbögen eine sehr ansehnliche und steht der grössten Breite nur um sehr Weniges nach. Die Stirn ist flach und stark zurücktretend; die Augenbrauenbögen sind stark Amur-Tungusen. Schädelbau. Manägirn- und Orotschonen-Schädel. 301 angeschwollen und stossen in einer dicken Stirnnasenwulst zusammen, so dass die Glabella darüber wie eingedrückt erscheint. Die Lineae semicireulares sind sehr deutlich, in ihrem ganzen Verlauf erhaben; sie grenzen sehr grosse, bis zur Lambdanath reichende, mit zahlreichen kleinen, schräge verlaufenden Rauhigkeiten versehene Plana semieireularia ab. Das Hinterhaupt ist gross, gewölbt, von der Protuberantia occipitalis zum Foramen magnum schräg abgeplattet; die Pro- tuberantia und alle Muskelleisten auf demselben, gleichwie auch die Processus mastoidei, stark entwickelt. In der Hinterhauptsansicht erscheint der Schädel einem Fünfeck ähnlich, an welchem die drei oberen Winkel so stark abgerundet sind, dass es fast die Form eines Kreissegments gewinnt; übrigens ist es doch ansehnlich breiter wie hoch; die Basis ist gerade, mit kleinem Einschnitt in der Mitte. Das Foramen magnum ist horizontal gelegen, sehr gross, oval, vorn durch die sehr breiten und grossen Gelenkflächen etwas eingeengt, nach hinten zugespitzt. Die Nasenbeine bilden an der Wurzel einen sehr stumpfen Winkel mit einander, der nach abwärts etwas mehr hervortritt und so einen schwachen Nasenrücken bildet. Die Nase ist nach ihrem Index mesorhin. Die Augenhöhlen sind gross, länglich viereckig, mikrosem; der Augenzwischen- raum sehr breit. Das Gesicht ist sehr breit und flach. Die Fovea maxillaris flach vertieft. Von den mit den Manägirn so nahe verwandten Orotschonen liegt uns ebenfalls ein Schädel vor. Er ist nicht der erste seiner Art, da Malijef einen Schädel dieses Volkes be- spricht !). Woher dieser letztere stammte, ist nicht angegeben. Der unsrige, im anthropologisch- ethnographischen Museum der Akademie (M& X der obigen Tabb., Fig. 10 der Tafl. V—IX), wurde von Hrn. Ssawenko aus Nertschinsk geschickt, stammt also wohl aus der Umgegend dieses Ortes, von einem Schilka-Orotschonen. Er gehörte einem Manne an, dessen Alter zwischen 30 und 55 Jahren betragen haben mag: die Kranznaht ist unten so weit obliterirt, dass sie kaum zu erkennen ist, oben, gleich wie auch die Pfeilnaht, zwar ebenfalls verwachsen, jedoch in ihrem Verlaufe noch deutlich zu sehen; die Sphenofrontal- und Sphenoparietalnaht sind nicht obliterirt. Zahnalveolen sind im Oberkiefer (der Unterkiefer fehlt) 1%; die übrigen sind offenbar resorbirt; die wenigen vorhandenen Zähne stark abgerieben. Der Schädel ist platy- brachycephal, und zwar in höherem Grade als der vorige, indem sein Längenbreitenindex 84,1, sein Breitenhöhenindex nur 79,7 und sein Längenhöhenindex sogar nur 67,0 beträgt. Es sind dies die kleinsten Höhenindices, die an den hier vermessenen Schädeln zu finden sind. Die grösste Breite liegt zwischen der beiderseitigen Schuppennaht und in der durch den Processus masto- ideus, 8"" hinter der Ohröflnung gehenden senkrechten Ebene; die grösste Höhe ein wenig vor jener. Der Schädel ist in der Scheitelansicht eiförmig, vorn stark abgestutzt, hinten eben- falls etwas abgestumpft und in der Mitte eingeschnitten; die Jochbögen stark vorspringend. Die Stirn ist etwas gewölbt und dabei sehr zurücktretend; die Augenbrauenbögen sind ansehnlich angeschwollen und fallen zur Stirnnasenwulst ab; die Glabella vertieft. Die Lineae semieirculares sind in ihrem ganzen Verlaufe deutlich sichtbar, wenn auch nur im anfänglichen Theile erhaben 4) H. Maxie»», Marepiaası aaa Aurpon. Bocrouuaro | npn Hnn. Rasancrome Yunsepe. T. IV, N 2), passim. kpaa Poceiu, Kazanp 1874 (TpyAsı O6m. Ecrectsoncntir. 302 Die Völker des Amur-Landes. und rauh; sie reichen weit nach hinten und schliessen grosse, meist mit kleinen Rauhigkeiten versehene Plana semicireularia ein. Die Schläfenbeinschuppe ist ohne Stirnfortsatz. Die grossen Keilbeinllügel sind breit; die Sutura sphenofrontalis misst rechts 22, links 19””, die Sut. spheno- parietalis rechts 1%, links 12"”. Das Hinterhaupt ist gross, von der sehr starken Protuberantia oceipitalis zum Foramen magnum schräg abgeplattet; alle Muskelleisten auf demselben sehr entwickelt. Desgleichen sind die Processus mastoidei lang und stark. Der Schädel hat in der Hinterhauptsansicht fast die Form eines Kreissegmentes, das jedoch ansehnlich breiter als hoch ist; die Sehne desselben, zwischen den hinabsteigenden Proc. mastoidei, ist ziemlich gerade, in der Mitte kaum eingeschnitten. Das Foramen magnum ist oval, hinten breit, nach vorn ver- schmälert, an den Seiten durch die grossen Gelenkflächen etwas verengt. Der Nasenfortsatz des Stirnbeins reicht tief hinab. Die Nasenbeine sind an der Wurzel fast ganz flach, später bilden sie einen kaum merklichen Winkel mit einander; an ihrer schmalsten Stelle sind sie stark eingeknickt, von dort laufen sie, breiter werdend, fast mehr nach vorn als nach abwärts. Die Nase ist ihrem Index nach platyrhin. Die Augenhöhlen sind gross, nur wenig breiter als hoch, megasem. Der Augenzwischenraum ist breit. Das ganze Gesicht breit und flach; die Wangenbreite sehr ansehnlich. Die Fovea maxillaris flach vertieft. Vergleicht man die Indices dieses und des von Malijef vermessenen Orotschonen- Schädels mit einander, so findet man einen sehr ansehnlichen Unterschied: jener ist brachy-, dieser mesocephal, indem die resp. Cephalindices 84,1 und 76,4!) betragen, was eine Differenz 2.7 von 7,7 giebt; jener ist sehr stark platy-, dieser fast hypsicephal, da die resp. Breitenhöhen- indices 79,7 und 99,2 betragen, also um 19,5 von einander difleriren. Auch die Längenhöhen- indiees, 67,0 und 75,8, zeigen eine entsprechende Differenz von 8,8. Der Unterschied liegt also hauptsächlich in der Höhe und in geringerem Grade auch in der Breite, wenn man sie in ihrem Verhältniss zu einander und zur Länge betrachtet: unser Orotschonen-Schädel ist aus- gesprochen breit (kurz) und sehr niedrig, der von Malijef vermessene mittelbreit und fast hoch zu nennen. So lernen wir auch bei diesem Volke schon nach zwei Schädeln eine recht grosse Schwankung in der Form kennen, ohne jedoch vorerst das Maass derselben und die zahlreicher vertretene oder mehr typische Form bestimmen zu können. Hält man hingegen unseren Orotschonen- und den Manägir-Schädel gegen einander, so springt einem die überaus grosse Aehnlichkeit derselben sogleich in die Augen. Zwar difle- riren sie ebenfalls im Verhältniss der Hauptdimensionen, jedoch bleiben beide in den Grenzen entschiedener Platybrachycephalie. Dabei stimmen auch beide, trotz mancher Differenz in den Maassen, doch im Ganzen wie im Einzelnen in hohem Grade mit einander überein, Davon überzeugt man sich am besten durch Vergleichung der betreffenden Photographien auf unseren 1) Malijef,1.c. p. 32. Im Referat über Tschugu- | an, — ob nach einem Versehen Tschugunof’s, vermag nof’s Schrift «Die Bedeutung des Breitenhöhenindex, | ich nicht zu sagen. Die drei Hauptdimensionen an diesem sowie des Basilarindex» giebt Prof. L. Stieda (Archiy für | Schädel betragen nach Malijef (l. c. p. 34): Länge 178, Anthrop. Bd. XII, p. 384) den Cephalindex des von Malijef | Breite 136, Höhe 135un, vermessenen Orotschonen-Schädels etwas zu klein(76,0) Amur-Tungusen. Schädelbau. Dauren-Schädel. 303 Tafeln V—IX, und zwar tritt uns diese grosse Aehnlichkeit in jeder der fünf Schädelansichten entgegen. Gewiss dürfen wir dieselbe nach diesen paar Exemplaren noch nicht für ganz allgemein halten: die beiden in Rede stehenden Schädel liegen eben nach derselben Seite der Formgestal- tung. Dass es bei den Orotschonen auch wesentlich andere Schädelformen giebt, dafür spricht schon der oben erwähnte von Malijef untersuchte Schädel. Indessen möchte ich nach dem Obigen doch vermuthen, dass sich auch bei den Manägirn ganz analoge und parallele und dann auch nicht minder ähnliche Formen finden werden. Daneben aber lassen sich freilich in manchen Fällen auch Differenzen erwarten, welche aus der grösseren Berührung der Manägirn mit den Chinesen, Mandshu und Dauren und der Orotschonen mit den Russen entstan- den sein können. Jedenfalls scheint mir die oben erwähnte so ausnehmende Aehnlichkeit zwischen den uns vorliegenden Schädeln von Manägirn und Orotschonen ebenfalls für die oben schon aus anderen Gründen gefolgerte nahe und nächste Stammverwandtschaft dieser beiden Völker zu sprechen. Damit ist auch die Reihe unserer Schädel der tungusischen Amur-Völker zu Ende. Wie man sieht, ist manches derselben dabei gar nicht vertreten. So können wir leider auch dem schon von Blumenbach kurz beschriebenen und abgebildeten Schädel eines Dauren') bisher noch keinen zweiten an die Seite stellen. Dieser Schädel gehörte einem der Dauren an, welche im XVIH. Jahrhundert, um der Mandshu-Herrschaft zu entgehen, mit ihrem Fürsten Gantimur ihre Wohnsitze am Naun-Flusse verliessen und in das bereits von den Russen eroberte Land an der Schilka zogen?). Er wurde von Roesslein aus einem alten Grabe am Onon hervorge- holt und dem Baron Asch nach Petersburg geschickt, der ihn Blumenbach zustellte. Es ist der Schädel eines Greises von 88 Jahren, mit zahnlosem Oberkiefer. Wie Blumenbach angiebt, trägt er im Ganzen wie im Einzelnen einen mongolischen Typus an sich: ein flaches Gesicht, eine platte Nase, starke, seitlich vorragende Jochbögen, ein etwas vortretendes Kinn u. s. w. Nach Baer’s Vermessung?) wäre der Längenbreitenindex desselben 86,9, der Breitenhöhen- index 85,3, der Längenhöhenindex 74,2°). Der Schädel ist also sehr ausgesprochen platy- brachycephal; namentlich ist die Breite im Verhältniss zur Länge grösser als bei irgend einem unserer Schädel aus dem Amur-Lande und die Höhe im Vergleich zur Länge sehr gering. Nach alledem nähert er sich in der That den rein mongolischen Schädeln mehr als irgend einer der oben vermessenen aus dem Amur-Lande. Dies Resultat steht mit dem, was oben über die vielfache Berührung und Vermischung der Dauren mit den Mongolen gesagt worden, in Ueberein- stimmung. Doch darf natürlich nach einem Exemplar nicht über die Schädelform des ganzen 4) Blumenbach, Decas tertia coll. suae cran. divers. | demie niedergelegt sind und Beobachtungen und Messun- gent. illustr. Gottingae 1795, p. 7, Tab. XXIII (Cr. «Sinensis | gen an Schädeln verschiedener europäischer Museen ent- Daurici»). halten. 2) Vrgl. Fischer, Sibirische Geschichte, 2. Thl., p. 4) Die betreffenden von Baer bestimmten Maasse be- 774, 775. tragen, in englischen Linien (wie in seinen «Crania selecta») 3) Aus handschriftlichen Aufzeichnungen Baer’s, die | ausgedrückt: Länge 69, Breite 60, Höhe 51,2. im anthropologisch-ethnographischen Museum der Aka- 304 Die Völker des Amur-Landes. Volkes geurtheilt werden. Die heutigen Dauren stehen ausserdem auch in häufiger Berührung mit den Chinesen, sowie mit ihren tungusischen Nachbarstämmen, Solonen, Mandshu. Schon daraus lassen sich bei ihnen auch beträchtliche Verschiedenheiten in der Schädelform erwarten. Es fragt sich nun, wie sich die oben betrachteten Schädel der tungusischen Amur- Völker zu denen der sibirischen Tungusen verhalten? ob und in wie weit sie überhaupt noch einen tungusischen, oder aber einen durch Vermischung mit den Nachbarvölkern wesentlich veränderten Typus an sich tragen? Um darauf zu antworten, müsste jedoch zuvor bestimmt werden, was den tungusischen Schädeltypus kennzeichnet. Und das ist noch keineswegs geschehen. Man begegnet vielmehr in dieser Beziehung den widersprechendsten Angaben. So bezeichnen z. B. Retzius, R. Wagner und Baer die Tungusen als dolichocephal!). Die ersteren gehen dabei allerdings nur von einem Schädel (oder Gypsabguss) des Göttinger Museums aus, der zudem, nach Welcker?), synostotisch ist®); Baer stand aber eine grössere Anzahl von Schädeln zur Verfü- gung: er nimmt Mittelzahlen — aus wie vielen Einzeldaten, ist nicht gesagt — und findet für den Tungusen-Schädel einen Längenbreitenindex von 74,3 und einen Längenhöhenindex von 72,3%). Nach diesem mittleren Cephalindex erscheint also der Tungusen-Schädel noch dolicho- cephaler, als Retzius und Wagner ihn fanden (76,0)°. Baer stellt diese Mittelzahlen den entsprechenden Verhältnisszahlen schwedischer Schädel gegenüber (73,1 und 71,0) und findet, dass die Tungusen-Schädel nur wenig breiter und höher als die der Schweden oder, mit anderen Worten, dass diese etwas dolichocephaler als jene sind; und da nun viele germanische Völker ebenfalls weniger lange Schädel als die Schweden haben, so gelangt er zu dem Schlusse, dass die Schädel der Tungusen nach den Verhältnisszahlen der Länge, Breite und Höhe — keineswegs jedoch nach ihren Gesichtstheilen — ziemlich mit denen der Germanen übereinstimmen. Ganz anderer Ansicht ist Weleker. Er fand an den Tungusen-Schädeln der Berliner undaneinemzweiten Tungusen-Schädel der Göttinger Sammlung Breitenindices von 79, 81,82 und 87 (und an drei weiblichen Schädeln von 75, 82 und 8%) und hält es demnach für ausgemacht, dass die Tun- gusen neben den Burjaten und Kalmücken, für die er Mittelwerthe von 83 und $1 erhielt und mit denen er sie auch in fast allen anderen Beziehungen nahe verwandt fand, zu den echten Brachycephalen gehören. Und unter diesen stehen sie denn auch in seinen Tabellen °), mit dem mittleren Cephalindex 81. Gleichwie hinsichtlich der Breite, so auch hinsichtlich der Höhe: 1) Auch Huxley meint, dass die Tungusen vielleicht in die Kategorie der mit besonders langen Schädeln ver- sehenen Völker gehören dürften, gleich den Tschuk- tschen, Eskimo u. 5. w. (Proceed. of the Royal Geogr. Soe. Vol. X, Sess. 1865—66, N I—VI, p. 171). 2) Kraniol. Mitthl. (Archiv für Anthropol, Bd. I, Braun- schweig 1866, p. 133, 134). 3) Nach Blumenbach (Dee. alt. coll. suae eran. 1793, p- 11, Tab. XVI) gehörte dieser Schädel einem Rennthier- Tungusen, Namens Tschewin Amurejef, aus einem 350 Werst von Bargusin entfernten Orte. 4) Baer, Nachr. über die ethnogr.-craniol. Samml. der Kais. Akad. der Wissensch. zu St. Petersb. (Bull. de la cl. phys.-math. de l’Acad. Imp. des sc. de St. Petersb. T. XV, 1859, p. 294; M&l. biol. T. II, p. 76). 5) Nach Baer’s Messung (in den oben angeführten handschriftlichen Aufzeichnungen) wäre der Cephalindex dieses Schädels grösser, 79,5. 6) L. c. p. 154 und 157. Amur-Tungusen. Schädelbau. Schädel sibirischer Tungusen. 305 während Baer die Tungusen hochschädliger als die Schweden fand, bezeichnet Welcker sie als «enorme Flachschädler»'), indem der Höhenindex bei ihnen weiter als bei allen anderen, in eraniologischer Beziehung ihm bekannten Völkern — mit alleiniger Ausnahme der Nord- amerikaner mit künstlich geformten Schädeln («Flatheads») — hinter dem Breitenindex zurück- bleibt (Differenz — 10)9. Nach Welcker sind also die Tungusen unzweifelhaft platybrachy- cephal. Welche von den Ansichten ist nun die richtige? Ich glaube, dass schon das Vorhandensein so weit auseinandergehender und doch beiderseits authentischer, auf genauen Messungen beruhender An- gaben den Beweis liefert, dass es unter den Tungusen sehr verschieden gestaltete, einen weiten Spielraum der Schwankung umfassende Schädel giebt, — vielleicht im Zusammenhange mit ihrer ausnehmend weiten, nach allen Seiten verstreuten, fast nirgends compakten Verbreitung, welche sie mit beinahe allen Völkern Sibirien’s, ural-altaischen, türk-tatarischen, mongolischen, paläasiatischen, sowie im Südwesten mit Chinesen und seit ein paar Jahrhunderten auch mit Russen und manchen anderen Europäern in Berührung bringt. Dennoch liesse sich, glaube ich, auch bei ihnen durch eine grössere Zahl von Messungen, und zumal in Gegenden, wo sie com- pakter wohnen und reiner sich erhalten haben, die vorherrschende, besonders typische, nur in ge- tingeren Grenzen schwankende Schädelform bestimmen. Mir liegt das dazu erforderliche Material nicht vor. Dennoch kann ich nieht umhin, um der Beantwortung dieser Aufgabe meinerseits vorzuarbeiten, einige unzweifelhaft tungusische Schädel unserer Sammlung näher zu betrachten. Drei derselben, von Maack aus Ostsibirien gebracht, habe ich, behufs genauerer und anschau- licherer Vergleichung mit den Schädeln aus dem Amur-Lande, in derselben Weise vermessen und zwei von ihnen auch neben jenen photographisch abbilden lassen. Besprechen wir sie aus- führlicher. Schädel eines Tungusen, Namens Böktschöris, vom Ajakit, einem Zufluss des Wilui (% XI der Tabb., Fig. 11 der Tafl. V—IX). Nach der Beschaffenheit der Nähte und Zähne zu urtheilen, gehörte er einem zwischen 30 und 55 Jahren alten Individuum. Die Pfeilnaht ist spurlos obliterirt, die Kranznaht stellenweise noch deutlich zu sehen, die Lambdanaht im Ob- literiren begriffen, die übrigen Nähte nicht. Die Zähne sind sämmtlich vorhanden, jedoch stark abgerieben, die Schneiden stumpf, die Kronen flach. Seiner Form nach ist der Schädel platy- mesocephal, miteinem Längenbreitenindex von 77,5 und einem Breitenhöhenindex von 89,4. Die grösste Breite und die grösste Höhe liegen in derselben, etwa 13”" hinter der Ohröffnung liegenden Vertikalebene; die erstere zugleich zwischen den Scheitelbeinen, nahe der Schuppen- naht. In der Scheitelansicht ist der Schädel länglich eiförmig, vorn stark, hinten leicht abge- stutzt; die Jochbögen treten dabei stark vor, indem der Jugalbreitenindex dem Cephalindex nur wenig nachsteht. Die Stirn steigt mässig schräg auf, mit etwas vertiefter Glabella. Die 1) Kraniol. Mittheil. 1. c. p. 156. beträgt sie nach Welcker (l. e. p. 154 und 157) — 13. 2) Bei dem oben besprochenen daurischen Schädel | Unser Orotschonen-Schädel zeigt sogar eine Differenz wäre diese Differenz sogar — 12,7; bei den «Flatheads» | von —17,1. Schrenck's Amur-Reise, Band III. g I» 306 Die Völker des Amur-Landes. Augenbrauenbögen, mässig angeschwollen, stossen zu einer eben solchen Stirnnasenwulst zu- sammen. Die Lineae semicirculares sind anfangs scharfkantig erhaben und mit kleinen Rauhig- keiten versehen, später meist verflacht, jedoch im ganzen Verlaufe deutlich sichtbar; sie steigen besonders auf den Scheitelbeinen hoch hinauf und schliessen sehr grosse Plana semieireularia ein. Die Stirn- und Scheitelhöcker treten ziemlich deutlich hervor. Die Temporalgegend ist ansehn- lich vertieft, so dass sich von dort eine breite Rinne aufwärts zieht und der Schädel zwischen den Stirn- und Scheitelbeinen eingeschnürt erscheint. Die grossen Keilbeinflügel sind lang und breit, nach hinten in eine lange, schmale Spitze ausgezogen, hinter welcher sich auf der linken Seite zwischen den Scheitelbeinen und der Schuppe, in diese einspringend, ein kleiner drei- eckiger Schaltknochen befindet. Die Länge der Sutura sphenofrontalis beträgt rechts 21, links 28”®, diejenige der Sut. sphenoparietalis rechts 17, links 14#"". Das Hinterhaupt ist gross, gewölbt, über der Protuberantia occipitalis fast senkrecht abfallend, unterhalb derselben mit scharfer Crista versehen und zum Foramen magnum schräg abgeplattet. Dieses ist länglich oval, vorn durch die einspringenden, sehr breiten und starken Gelenkflächen ansehnlich verschmälert, hinten zugespitzt. Der Schädel erscheint in der Hinterhauptsansicht in Form eines Fünfecks, das etwas breiter alshoch ist und an welchem die Winkel, und besonders der obere, stark abgerundet sind; die Basis des Fünfecks ist ziemlich gerade, in der Mitte etwas eingeschnitten. Der Nasenfort- satz des Stirnbeins steigt tief hinab. Die Nasenbeine sind an der Wurzel ganz flach, später bilden sie einen schwachen Nasenrücken; sie sind im ganzen Verlaufe sattelförmig concav, ohne markirte Einknickung. Ihrem Index nach ist die Nase mesorhin. Die Augenhöhlen sind gross, fast quadratisch, megasem. Die Foveae maxillares ansehnlich vertieft. Der Unterkiefer robust und stark. Schädel eines Tungusen, Namens Dössins, aus einem beim Dorfe Ankula — am rechten Ufer der unteren Tunguska, etwa 700 Werst von ihrer Quelle — im Walde gelegenen Grabe genommen (M XII der Tabb., Fig. 12 der Taffl. V—IX). Derselbe gehörte einem Individuum von etwa 24—30 Jahren: die Basilarfuge geschlossen, der untere Theil der Kranznaht obliterirt, aber von aussen deutlich erkennbar, der obere und die Pfeilnaht im Obliteriren begriffen, die übrigen Nähte unverwachsen; in der Schuppennaht linkerseits ein kleiner Schaltknochen. Im Gebiss sind die Tardivi entwickelt, die wenigen erhaltenen Zähne, sämmtlich Backenzähne, an ihren Kronen nur sehr wenig angegriffen. Seiner Form nach ist der Schädel ansehnlich platy- brachycephal, mit einem Längenbreitenindex von 84,7 und einem Breitenhöhenindex von 91,3. Die grösste Breite liegt zwischen den Scheitelbeinen, dicht über der Schuppennaht, in der durch die Ohröffnung gehenden Senkrechten; die grösste Höhe etwas mehr nach hinten. Der Schädel ist in der Scheitelansicht breit eiförmig, vorn abgestutzt, hinten auch etwas abgestumpft, mit vorspringenden Jochbögen. Die Stirn zurücktretend, in der Mitte mit einer schwach erhabenen Linie, die sich oberhalb der Stirnhöcker verliert, im Profil mit eingedrückter Glabella; die Augenbrauenbögen recht stark angeschwollen, zur Stirnnasenwulst etwas abfallend. Die Lineae semicireulares sind anfangs erhaben und mit kleinen Rauhigkeiten versehen, später flachen sie sich ab; sie steigen hoch hinauf und grenzen sehr grosse Plana semicircularia ab. Die Stirn- Amur-TDungusen. Schädelbau. Schädel sibirischer Tungusen. 307 höcker treten deutlich, die Scheitelhöcker kaum merklich hervor. Die Scheitelbeine sind in der Sagitallinie erhöht und fallen von dort nach den Seiten ab; hinten sind sie, ebenso wie der obere Theil der Hinterhauptsschuppe, von oben schräg abgeflacht. Die Schläfenbeinschuppe ist flach, öhne Stirnfortsatz ; die Schläfen etwas eingedrückt. Die grossen Keilbeinflügel breit; die Sut. sphenofrontalis rechts 23, die Sut. sphenoparietalis 21”” lang; links ist der Schädel an dieser Stelle lädirt. Das Hinterhaupt ist abgeflacht, mit starker Protuberantia oceipitalis und sehr aus- gesprochenen, von derselben auslaufenden Querlinien; unterhalb der Protuberantia fällt es schräg zum Foramen magnum ab und erscheint im Profil eingedrückt. In der Hinterhauptsansicht hat der Schädel die Forın eines Fünfecks mit abgerundeten Winkeln, das etwas breiter als hoch ist; die Basis desselben ist ebenfalls bogenförmig, in der Mitte mit flachem Einschnitt. Das Foramen magnum ist oval, nach vorn durch die langen und schmalen Gelenkflächen etwas eingeengt und verschmälert. Die Nasenbeine sind an der Wurzel recht breit und werden abwärts schmäler; sie bilden oben und noch mehr nach unten einen deutlichen Nasenrücken und sind nur wenig eingebogen. Ihrem Index nach steht die Nase an der Grenze der lepto- und mesorhinen Formen. Die Augenhöhlen sind im Vergleich mit dem vorigen Schädel und mit denen der Amur- Völker klein, ansehnlich breiter als hoch, mesosem. Die Foveae maxillares ziemlich stark vertieft. Schädel eines Tungusen vom Dshegdandali, einem Zuflusse des Wilui, im letztnamigen Kreise (N XINI der obigen Tabellen). Gehörte ebenfalls einem Individuum von etwa 24—30 Jahren: der untere Theil der Kranznaht obliterirt und kaum sichtbar, der obere und die Pfeil- naht im Verwachsen begriffen, die übrigen Nähte nicht; Zähne im Oberkiefer (der Unterkiefer fehlt) jederseits 7 entwickelt, aber nur wenige vorhanden und diese stark zerbrochen und abge- rieben. Der Form nach platybrachycephal, mit einem Längenbreitenindex von 82,2 und einem Breitenhöhenindex von 91,2, mithin dem vorigen Schädel in seinen Verhältnisszahlen sehr ähn- lich, nur etwas länger, oder weniger breit (kurz), und höher. Die grösste Breite liegt an der- selben Stelle wie beim vorigen Schädel, die grösste Höhe etwas hinter jener. Die Stirn auf- steigend, die Augenbrauenbögen und die Stirnnasenwulst sind wenig geschwollen; die Lineae semieirculares schwach entwickelt; die Stirnhöcker desgleichen, die Scheitelhöcker hingegen treten ziemlich stark hervor. Der Scheitel ist etwas dachförmig, in der Medianlinie aufgetrieben, nach den Seiten abfallend, sogar etwas eingedrückt. Die Schläfen am Stirnbein, über der Sutura sphenofrontalis, etwas angeschwollen, dahinter, an der Sut. sphenoparietalis, eingedrückt und jederseits mit einem kleinen, dreieckigen Schaltknochen von verschiedener Form und Stellung versehen, der die abgetrennte hintere Spitze des grossen Keilbeinflügels zu sein scheint, dabei jedoch ziemlich tief in die Schläfenbeinschuppe vorspringt. Auf der rechten Seite ist die Sutura sphenofrontalis 16, die Sut. sphenoparietalis 14”" lang; auf der linken Seite betragen die resp. Nähte 25 und 6"”", von welchen letzteren 2 auf die Naht mit dem Schaltknochen kommen. Das Hinterhaupt ist gross und fällt über der Protuberantia occipitalis schräg nach hinten, unterhalb derselben schräg nach vorn zum Foramen magnum ab. Letzteres ist elliptisch, nach beiden Enden hin verschmälert. Die Nasenbeine sind sattelföormig eingebogen, an der Wurzel flach, später bilden sie einen schwachen Nasenrücken; die Naht zwischen denselben verläuft nicht 308 Die Völker des Amur-Landes. gerade, sondern zum Theil stark wellenförmig. Die Nase ist platyrhin. Die Augenhöhlen sind gross, breiter als hoch, megasem. Die Foveae maxillares ansehnlich vertieft. Um mehr Haltpunkte für eine, wenn auch nur vorläufige und annähernde, Bestimmung der typischen Schädelform der Tungusen zu gewinnen, habe ich ferner die Verhältnisszahlen der Länge, Breite und Höhe noch einiger anderen, ebenfalls authentischen Tungusen-Schädel unserer Sammlung bestimmt. Es sind dies namentlich vier Schädel, von denen der eine (nach- stehend mit | XIV bezeichnet) aus Turuchansk stammt und dem Dr. Pelikan im Jahre 1856 zugeschickt, von diesem aber dem akademischen Museum übermittelt wurde, und drei andere (E XV— XV), die Czekanowsky auf seiner Reise 1873 an verschiedenen Punkten der unteren Tunguska auftrieb. Die betreffenden Maasse der drei Dimensionen (in Mm.) und die aus denselben abgeleiteten Indices sind folgende: XIV. XV. XVI, XVI, Grösste Länge. ........ 168 175 169 154 Di mbreiten ce Stier 141 145 151 145 ey Hoher Eee 124 125 125 ) Längenbreitenindex. et 33,9 32,9 39,3 78,8 Breitenhöhenindex ...... 37,9 36,2 32,8 — Längenhöhenindex...... 73,8 71,4 74,0 —_ Wie man sieht, sind die drei ersteren Tungusen-Schädel platybrachycephal und der dritte sogar in einem so hohen Grade breit oder kurz, dass er alle hier besprochenen Schädel in dieser Beziehung weitaus übertrifft. Nur der vierte Schädel ist nach unserer Auflasfung mesocephal; seine Höhe lässt sich zwar nicht genau bestimmen, ist aber jedenfalls auch nur gering, so dass erals platymesocephal bezeichnet werden kann. Bei allen liegt die grösste Breite in der Nähe der Schuppennaht, sei es zwischen den Scheitel-, sei es etwas niedriger, zwischen den Schläfen- beinen; die grösste Höhe ist ebenfalls bei allen in einer etwas hinter jener gelegenen Vertikal- ebene zu finden. Zieht man alle sieben hier vermessenen Schädel sibirischer Tungusen in Betracht, so sind unter ihnen fünf entschieden und beträchtlich brachycephal und zwei mesocephal, dabei alle niedrig, platycephal. Von solcher Gestalt sind auch die vier von Welcker untersuchten Tungusen- Schädel. Dolicho- und hypsicephale Formen sind unter ihnen gar nicht vertreten. Damit soll keineswegs gesagt sein, dass solche Schädel unter den Tungusen überhaupt nicht vorkommen. Oben sind vielmehr dahin lautende Erfahrungen Anderer angeführt worden. So viel scheint sich jedoch schon jetzt feststellen zu lassen, dass lange und hohe Schädel unter den Tungusen nur 1) Die Schädelbasis ist an diesem Exemplar schadhaft, | Länge nicht zu bestimmen sind, daher die Höhe und ihr Verhältniss zur Breite wie zur Amur-Tungusen. Schädelbau. Allgemeinere Schlussfolgerungen. 309 ausnahmsweise oder selten angetroffen werden dürften, und dass hingegen die gewöhnliche, vor- herrschende, typische Schädelform derselben die platybrachycephale ist. Unter dieselbe dürften auch die mehr oder weniger thurmförmig gestalteten Köpfe rangiren, wie man sie bei den Tungusen nicht selten sieht. Zwar habe ich sehr ausgesprochene Schädel der Art nicht ver- messen, doch möchte ich nach Exemplaren, die entschieden dahin neigen, den Schluss ziehen, dass diese Form dadurch entsteht, dass der Schädel sehr breit und also kurz ist, mit zugleich stark zurücktretender Stirn, und seine grösste Breite im unteren Theile, zwischen den Schläfen- beinen nahe dem Processus mastoideus, oder auch zwischen den Jochbögen hat und sich von dort nach aufwärts und ebenso auch von vorn, mit rascher Flucht der Stirn, nach oben und hinten verjüngt. Im Verhältniss zur Länge kann die Höhe dann allerdings ganz ansehnlich sein, im Verhältniss zur Breite ist sie aber nur gering, und die gesammte Form bleibt daher platybrachy- cephal. Zu den Charakterzügen der typischen Schädelform der Tungusen scheinen mir ferner noch folgende zu gehören: eine, wie erwähnt, zurücktretende Stirn, ein stark entwickelter Hinterhauptshöcker, scharf und deutlich markirte und hoch hinaufsteigende Lineae semicireu- lares, ein tief hinabsteigender Stirnnasenfortsatz, flache, eingebogene Nasenbeine, angeschwollene Augenbrauenbögen, grosse, fast quadratische Augenhöhlen, starke Wangenknochen, überhaupt ein flaches und breites Gesicht, obwohl nicht von der ausnehmenden Wangenbreite der echt mongolischen Völker, Kalmücken, Burjaten u. drgl. m. Hält man nun dieser typischen Schädelform der sibirischen Tungusen die oben beschriebe- nen Schädel der tungusischen Amur-Völker gegenüber, so zeigen die meisten von ihnen eine sehr grosse, nicht zu verkennende Uebereinsimmung mit derselben. Ganz besonders gilt dies vom Orotschonen- und Manägirn-Schädel, welche sehr wohl selbst als Repräsentanten jener typi- schen Form ge:ten könnten. Auch schliessen sich diese Stämme, wie schon erwähnt, unmittelbar an die sibirischen Tungusen an. Die Manägirn haben allerdings im Laufe der Zeit auch manche Vermischung mit den Dauren, Mandshu und Chinesen erfahren, doch muss der uns vorliegende Schädel einem Individuum von reinem Blute angehört haben. Auch der Biraren-Schädel trägt im Allgemeinen denselben Typus, wenn auch, bei seinem jugendlichen Alter, hinsichtlich mancher Züge in minder markirter Weise. Unser Golde-Schädel steht der typisch-tungusischen Form schon etwas ferner. Dank Virechow’s Angaben über noch andere Schädel dieses Volkes, gewinnen wir einen ersten Einblick in die Formsehwankungen, denen sie unterliegen. Aus denselben möchte ich schon jetzt den Schluss ziehen, dass die vorherr- schende Schädelform bei den Golde ebenfalls die platybrachycephale wie bei den sibirischen Tungusen ist. Dass auch in den übrigen craniologischen Verhältnissen eine grosse Analogie oder gar Uebereinstimmung herrscht, ist oben schon hervorgehoben worden '). Künftigen Unter- suchungen bleibt es anheimgestellt, die eraniologischen Charaktere näher zu bestimmen, durch welche sich die Golde, vermuthlich mit den Mandshu und Orotschen zusammen, als ein besonderer, südlicher Zweig, von ihren nördlichen Stammgenossen, den sibirischen Tungusen, 1) S. p. 299. 39* 310 Die Völker des Amur-Landes. unterscheiden. Was endlich die Oltscha, diesen — zumal durch seinen sachalinischen Zweig, die Oroken, — am meisten in das Gebiet der Paläasiaten vorgeschobenen Tungusen- Stamm betrifft, so dürften auch schon die paar uns vorliegenden Schädel, im Verein mit den an zahlreichen lebenden Individuen beobachteten Kopfformen und Gesichtstypen, den Beweis liefern, dass sie auch in eraniologischer Beziehung theils ganz und gar an die übrigen Tungusen sich anschliessen, theils mehr oder weniger abgeänderte, paläasiatische Züge an sich tragen, gleich- wie andererseits — nur vielleicht in umgekehrtem Verhältniss — auch unter den Paläasiaten, namentlich unter den Giljaken, in Folge uralter Berührung und Vermischung, neben typischen und eigenartigen auch mehr oder weniger, und oft ganz rein und unverkennbar, tungusisch ge- formte Schädel und Gesichter vorkommen !). Noch sind wir also, wie die obigen Betrachtungen lehren, in Folge allzubeschränkten und lückenhaften Materiales, keineswegs im Stande, unter den tungusischen Völkern des Amur- Landes vom craniologischen Gesichtspunkte verschiedene Gruppen zu unterscheiden, wie wir es oben nach ihrer allgemeinen Physiognomie und nach dialektischen Verschiedenheiten der Sprache gethan haben. So viel steht jedoch fest, dass die vorhandenen craniologischen Thatsachen die aus der Sprache gefolgerte Zugehörigkeit aller dieser Völker zum tungusischen Stamme nicht widerlegen, sondern bestätigen, ja zum Theil auch selbst dazu dienen, die typisch-tungusische Schädelform näher kennen zu lehren. Wie verschieden aber diese von den im Uebrigen noch genauer zu bestimmenden typischen Schädelformen der an die tungusischen Stämme grenzenden paläasiatischen Völker, Giljaken, Aino u. s. w., auch sein mag, so haben sich dieselben doch im Laufe der Zeit, in Folge vielfacher Mischung, theils in ihren Differenzen durch Mittel- und Zwischenformen verschiedenartig ausgeglichen, theils kommen sie, mehr oder weniger rein aus- geprägt, nach beiden Seiten durcheinander vor. Gleichwie nach der Gesichtsbildung und der übrigen physischen Beschaffenheit, so lassen sich also auch nach dem Schädelbau keine scharfen Grenzen zwischen den genannten Völkern ziehen. Und somit bildet das einzig maassgebende, völker- ‚ scheidende und grenzbestimmende Moment doch immer wieder die Sprache. 1) Ich verweise z. B. auf den oben besprochenen Gi- | tungusisch geformten Giljaken-Kopf in Fig.2 der Taf. II. ljaken-Schädel X III, sowie noch mehr auf den echt L.v.Schrenc —— —_— - alz ( Mersen "Handahur: Nzchy, (2 Memvaradyy Pier: E ee Uuasıc ınadlari |, etzershsferg, MN Sschatın? 5 re 1 ea 17 f Alsnek Arte 3 de Lasta On 5 Tu tygnad Du Aus io | | y ” a A nuinerhufen | Nnsit Ba Sen N 2 [m Mails aba j N den Galt RO Kain A j JM kotanı Bl Car Alma hroton.gizin ke . len hunde‘ ana kotune surfen 0% SA Abdare Dejudjehunfo Byliljaken 7 Mandshır Ye ET Solonen: A O:oken BP Damien By Oltscha / J7hite LI Negda JEFBızaven ) BET Samagian IT Handgien & Ozotschen |] Ozotschonen EJ6ole FlizanthizTungusen Auf den breiften Yarkıen/ sind dev Br. jpienen Bevölkeru \ Chinesen untermischt. u m = I, 106 105 10 Maazftab 100 Werst im Zoll. 0 eo 4 20 go7 700 Herzt yo, WZIL2ZZ Y a u a u 5 c A % ” ie ’@ “ m I. Prea De ) Z } CH, e) 2 ( £ 2 „ n ER VCH E, EZB . RT . see a7 ED Me R er Bu N er ET Pr % Br >YW u [4 Er et 5 es ‘ > - IB E Lin m 2; A D us s ' 1 v. Pe ru Ba a ı PREV a 5 u, 0 N . 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