:----:::--^;-:^:-;:-i $i^:m^ 1 1 ^^^^^^^^^^^^^^H^^B' ^^^^^^Ki Fig. A, Sandalion des Menschen nach Ernst Haeckel (Kopie aus der „Anthropogenie", Taf. V, Fig. Mj — und aus dem „Menschen- problem", Taf. II, Fig. M,). Die Figur ist eine schematisierte Kopie der folgenden Fig. B, durch Herstellung der natürlichen Symmetrie und Weglassung der äußeren embryonalen Anhänge entstanden (s. S. 43). Sacculus vitelliaus, ■^■■ MeduUarfurche —•-,——'■":. Canalis neurentericus Pedunculus abdominalis - Villi choriales -z^^ Fig. B. Sandalion des Menschen nach Graf Spee (Kopie aus Julius Kollmann, Handatlas der Entwickelungsgeschichte , 1907. Fig. 182). >^->^. ":V T;>>X — — Sacculus vitellinus Amnion Embryonalschild Pedunculus amnii Serosa Ductus allantoides Villi choriales Fig. C. Sandalion des Menschen nach Eternod (Kopie aus Julius Kollmann, Handatlas der Entwickelungsgeschichte 1907, Fig. 180). Die genaue kritische Vergleichung dieser drei Figuren, die für den ,, Kampf um die Embryonen-Bilder" höchst wichtig ist, er- gibt, daß auch die beiden Abbildungen von Graf Spee (B) und von Eternod (C) in vielen Einzelheiten abweichen, obwohl beide gewiß mit größter Sorgfalt exakt gezeichnet sind. Diese auffallenden Unter- schiede erklären sich aus der schwierigen Präparation der kleinen, höchst zarten und verletzbaren Objekte. Meine schematisierte Figur (A) zeigt sicherlich die wesentlichen Form -Verhältnisse des Sandalion richtiger und verständlicher; trotz- dem wird mein verbessertes Schema von Brass als ein ,,Skan- dalon" und eine ,, Schande für deutsches Können" an den Pranger gestellt (Affen- Problem S. 10, 11). Bei der außerordentlichen Be- deutung, welche gerade dieser früheste beobachtete Keimzustand des Menschen besitzt, kann mein Schema als die schlimmste von den ,, gewissenlosen Fälschungen" angesehen werden, welche die Grund- lage für die unaufhörlichen Anklagen der Jesuiten bilden. Sandalion Eine offene Antwort auf die Fälschungs -Anklagen der Jesuiten von Ernst Haeckel Frankfurt a.M. 1910 Neuer Frankfurter Verlag Hi\-' (A „Ja was man so Erkennen heißt ! Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen ? Die Wenigen, die was davon erkannt, Die töricht g'nug ihr volles Herz nicht wahrten, Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten, Hat man von je gekreuzigt und verbrannt." Goethe. Inhalt. Seite Vorwort 5 Naturerkenntnis und Glaubensdichtung 7 Jesuitenbund . 10 Thomasbund. Der katholische Jesuitenbund 11 Erich Wasniann 12 Keplerbund. Der evangelische Jesuitenbund 15 Fälscherbund 17 Die Jesuitische Presse 19 Professor Tartüffe 20 Der Sturz Haeckels 22 Fälschungen von Arnold Brass 23 Der Kronzeuge der Fälschungsanklagen 25 Skelette des Menschenaffen • . . . . 26 Bilder im Phyletischen Museum 27 Die Familie des Affenmenschen 28 Mutterliebe bei Affen und Menschen 29 Rudimentäre Organe des Menschen 29 Gewebe des -Menschen 30 Kritik der Stammbäume 31 Eizelle des Menschen 31 Embryonenbilder 32 Körperform und Struktur der Embryonen 34 Material der Embryonen 34 Individuelle Variation der Embryonen 35 Sandalion der Wirbeltiere T)J Struktur des Sandalion 38 Menosoma und Embryorgane 38 Vergleichung der Sandalenkeime 39 Sandalion des IMenschen 39 Urmund des Menschenkeims 41 Fälschung des Sandalion-Bildes 42 Weitere Fälschungen 44 Stichproben aus der Jesuitenpresse 45 Der Embryonen-Prozeß 46 Schlußwort 47 Literaturnoten (L.) 50 Zeugen im Embryonen-Prozeß 51 Dank den Jesuiten 54 VorAATort. Drei Vorträge über den „Kampf um den Entwickelungs- gedanken", welche ich im April 1905 zu Berlin gehalten habe, gaben die Veranlassung zu vielen und heftigen Angriffen der Gegner einer freien, von mystischen Glaubenslehren unabhängigen Weltanschauung. Vielfach richteten sich diese Angriffe nicht so- wohl gegen die Kernfragen unserer modernen Entwickelungslehre, als gegen meine Person, als Verfasser der vielgeschmähten „Welt- rätsel", in denen ich diese großen Probleme vom Standpunkte der monistischen Philosophie umfassend behandelt hatte. Um diese herabzusetzen, wurden meine Arbeiten überhaupt als wertlose und irreführende Dilettanten-Machwerke verworfen; besonders aber wurde mit Erfolg der Versuch gemacht, meine embryologischen Darstellungen und die sie erläuternden Abbildungen als verwerf- liche ,, Fälschungen der Wissenschaft" zu brandmarken. Als willkommene Scheinbeweise dienten dabei meinen Gegnern beson- ders die schematisierten Figuren von jungen Embryonen des Menschen und anderer Wirbeltiere, die ich zum Vergleiche ihrer Ähnlichkeit in mehreren Schriften nebeneinander gestellt hatte: zuerst in der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte" (1868), dann in der „Anthropogenie" (1874), ferner in den vorerwähnten „Berliner Vorträgen" (1905) und endHch in dem Vortrag über ,,Das Men- schenproblem und die Herrentiere von Linne" (1907). Diese Objekte, die Embryonen der Wirbeltiere, und be- sonders der Säugetiere, gehören zu den wichtigsten Beweismitteln unserer Stammesgeschichte. Denn sie lehren, unterstützt durch die Erkenntnisse der vergleichenden Anatomie und der Paläontologie, für jeden unbefangenen Beobachter unmittelbar unsere nahe Stamm- verwandtschaft mit den anderen Säugetieren. Aber leider liegt dieses geheimnisvolle Gebiet der vergleichenden Keimesgeschichte unserem gewohnten Bildungskreise sehr fern und erfordert neben eingehendem Studium auch gründliche morphologische Vorbildung und kritische Schulung des Urteils. Darauf gestützt versuchten die Gegner der Entwickelungslehre hier den Hebel zu ihrer Wider- legung einzusetzen; sie klagten mich in der schärfsten Weise der Fälschung und des Betruges an, weil ich die angewandten Em- bryonenbilder schematisiert, d. h. unwesentliche Beigaben weg- — 6 — gelassen und wesentliche Formverhältnisse scharf hervorgehoben, auch einzelne Beobachtungslücken durch vergleichende Synthese ergänzt hatte. Die weite Verbreitung, welche diese jesuitischen Angriffe meiner Gegner neuerdings gefunden haben, zwingt mich jetzt, nochmals zu ihrer Beleuchtung und Entkräftung auf die angeb- lichen ,, Fälschungen" einzugehen. An einem konkreten, besonders wichtigen Beispiele, dem hochinteressanten Sandalion, werde ich zeigen, in wie verwerflicher Weise die Jesuiten ihrerseits die Wahrheit gefälscht haben. Eine nähere Analyse der einzelnen so- genannten „Embryonenfälschungen" und des verwickelten, daran geknüpften Kampfes kann ich mir ersparen, da mein früherer Assistent, Dr. Heinrich Schmidt (Jena) sie bereits gründlich und wahrheitsgemäß beleuchtet hat in seiner Schrift: ,,Haeckels Em- bryonenbilder, Dokumente zum Kampf um die Weltanschauung in der Gegenwart" (mit zahlreichen Abbildungen, 91 Seiten, Preis i Jd^ Frankfurt a. M. 1909). Diese wertvolle Abhandlung zeichnet sich ebenso durch umfassende Sachkenntnis, wie durch klares philosophisches Urteil aus; es sind darin auch aktenmäßig die Quellen angeführt (und zum Teil wörtlich wiedergegeben), welche von beiden strei- tenden Parteien verwertet und gegenübergestellt worden sind. Wichtig ist insbesondere das kritische Schlußwort (S. 79). Der Verfasser hat hier ,, scharf, prinzipiell und ohne jedes unnötige Beiwerk das Fazit aus dem Kampfe gezogen, der wie ein spannen- des Schauspiel vor unseren Augen vorbeigezogen ist". Seine 22 Schlußsätze, welche die wesentlichen Gegensätze klar' beleuchten, setzen jeden unbefangenen Leser in den Stand, sich selbst ein richtiges Urteil zu bilden. (Im folgenden Text ist diese wichtigste Schrift kurz zitiert als: H. S. Dokumente) Unter den zahlreichen Aufsätzen, welche sich außer den dort angeführten Publikationen mit diesem Kampfe befaßt haben, sind namentlich diejenigen hervorzuheben, welche in den vier Jahr- gängen des ,, Monismus" erschienen sind (,, Zeitschrift für einheit- liche Weltanschauung und Kulturpolitik, Blätter des Deutschen Monistenbundes"); sowie in der „Neuen Weltanschauung" (Monatsschrift für Kulturfortschritt auf naturwissenschaftlicher Grundlage, redigiert von Dr. Wilhelm Breitenbach, Leipzig); — ferner in der „Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens: Das Freie Wort" (Neuer Frankfurter Verlag). Jena, 10. November 1910. Ernst Haeckel. Naturerkenntnis und Glaubensdichtung. Der große ,, Kampf um die Wahrheit", der seit Jahr- tausenden von den denkenden, nach Erkenntnis strebenden Men- schen geführt wird, zeigt uns seit Beginn des zwanzigsten Jahr- hunderts einen anderen Charakter als in allen früheren Zeiten. Wenn schon im achtzehnten Jahrhundert der freie Geist der Auf- klärung durch eine große Zahl der bedeutendsten Denker mächtig gefördert wurde, hat er doch erst im neunzehnten, im „Jahr- hundert der Naturwissenschaft", die herrschende Stellung er- rungen, welche die vorhergehenden Bildungsepochen nicht ahnen konnten. Die bewunderungswürdigen Fortschritte der Naturerkennt- nis mußten notwendigerweise den tiefgreifendsten Einfluß auf die gesamte Weltanschauung der denkenden Menschheit ausüben. Schärfer und allgemeiner als je zuvor hat sich der prinzipielle Gegensatz ausgeprägt zwischen den klaren Vernunftsätzen der reinen Wissenschaft und den nebelhaften Phantasiegebilden der bunten Glaubensdichtung. Einerseits haben uns die Erfahrungen und Versuche der modernen Naturwissenschaft zu der festen Über- zeugung geführt, daß der ganze Weltprozeß nach ,, ewigen, ehernen, großen Gesetzen" verläuft, die in der Natur der Dinge selbst begründet sind; und daß der höchste Begriff: „Gott" in diesen selbst liegt. Anderseits behaupten dagegen die An- hänger des traditionellen Kirchenglaubens, daß ein persönlicher Gott die Welt erschaffen habe und regiere, daß er die Natur- gesetze erfunden habe, nach denen sich die Entwickelung der Welt gestaltet. Im Mittelpunkte dieses weltbewegenden Geisteskampfes steht seit einem halben Jahrhundert unsere moderne Entwicke- lungslehre, zu deren Ausbau 1859 Charles Darwin den Anstoß gab. Er füllte durch seine geniale Selektionstheorie ( — den „Dar- winismus^'' im engeren Sinne — ) die empfindliche Lücke aus, welche fünfzig Jahre früher sein großer Vorgänger Jean Lamarck beim Aufbau der Deszendenztheorie offen gelassen hatte. Die ausnahms- lose Gültigkeit natürlicher Entwickelungsgesetze, wie sie dreißig — 8 — Jahre früher in der Erdgeschichte für die anorganische Natur er- kannt worden war, wurde nun auch auf das ganze Gebiet der organischen Natur ( — an ihrer Spitze den Menschen — ) ausge- dehnt. Damit wurden zugleich die alten, ehrwürdigen, seit Jahr- tausenden durch mystische Religionsdichtungen befestigten Vor- stellungen von einer übernatürlichen Schöpfung der Lebens- formen zerstört. An die Stelle des außerweltlichen Schöpfers, des „persönlichen Gottes" {Ontheos) trat jetzt das monistische Bild des innerweltlichen Allgottes — der „Gott-Natur" {Pantheos), wie sie schon Wolfgang Goethe in wundervollen Dichtungen verherrlicht hatte (L. i). Frühzeitig begriff die streitbare Kirche die drohende Gefahr, welche ihren Herrschaftsgelüsten über die Geister durch diese monistische Entwickelungslehre bereitet wurde. Sie eröffnete auf allen Linien einen energischen Kampf gegen den Darwinismus, und dieser Kampf nahm während des letzten Drittels des neunzehnten Jahrhunderts im Geistesleben weitester Kreise einen großen Raum ein. Aber schon am Schlüsse desselben (1899) konnte ich in meinem Buche über die „Welträtsel" feststellen, daß der Sieg des monistischen Entwickelungsgedankens und die Niederlage der dua- listischen Schöpfungslehre in allen Gebieten der modernen Natur- philosophie vollkommen sei. Nunmehr hielt es die unterlegene Ecclesia müitans — ■ und die mit ihr verbündete dualistische Schulphilosophie — im Be- ginne des zwanzigsten Jahrhunderts für geraten, ihre Fahne zu wechseln und die Firma der siegreichen Entwickelungslehre für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Eine außerordentlich lebhafte Agitation entfalteten in dieser Richtung die Jesuiten, die ja seit Jahrhunderten mit größtem Erfolge die Kunst der Fälschung der Wahrheit geübt hatten. Einerseits bemühten sich die ver- schiedenen Schulen der katholischen Jesuiten, die wir unter der gemeinsamen Bezeichnung des Thomasbundes zusammenfassen, die scholastische Philosophie des heiligen Thomas von Aquino neu zu beleben. Anderseits wetteiferten mit ihnen die orthodoxen Schulen der evangelischen Jesuiten, die im Keplerbunde zu- sammentraten und den Namen des großen Astronomen Johannes Kepler zur Verschleierung ihrer wahren Ziele mißbrauchten. Das gemeinsame Ziel dieser beiden christHchen Bünde, die trotz aller konfessionellen Gegensätze in einem großartigen Jesu- itenbund sich tatsächlich die Hände reichen, bleibt die Unter- werfung der vernunftgemäßen Wissenschaft unter die traditionellen Dogmen der christlichen Glaubenslehre. Sie glauben jetzt dieses — 9 — Ziel am sichersten zu erreichen, indem sie die Harmonie der beiden widersprechenden Weltanschauungen predigen, die ,, Schöpfung durch Entwickelung"; als zweckdienliches Mittel dazu erscheint ihnen die Vernichtung des 1905 gegründeten Monistenbundes, der die Verbreitung und den Ausbau der einheitlichen natürlichen Welt- anschauung sich zur Aufgabe gestellt hat. Während der Jesuitenbund beider christlichen Konfessionen in der eifrigen Verfolgung dieses Zieles die bewährten Trugkünste des Jesuitismus ungescheut ausübt und die gefährlichsten Fäl- schungen der Wissenschaft begeht, hat er in echt jesuitischer Taktik zu deren Verdeckung den Vorwurf gewissenloser Fälschung gegen die Vertreter des Monismus selbst und ganz besonders gegen mich erhoben. Er hütet sich aber wohl, die großen allgemeinen Gegensätze klar gegenüberzustellen, und richtet statt dessen seine Angriffe gegen einzelne Mängel meiner Darstellung; bald gegen einzelne Lehrsätze und gewagte Hypothesen, bald gegen mangel- haft ausgeführte oder schematisch konstruierte Bilder, die zur Illustration meiner populären Schriften dienen. Die Fälschung der öffentlichen Meinung, die der Jesuitenbund dabei ausübte, und die schmachvollen damit verknüpften Angriffe auf meine Person und meine Lehre riefen in den letzten drei Jahren zahlreiche Entgegnungen aus monistischen sowohl als aus neutralen wissenschaftlichen Kreisen hervor. Die wichtigste davon war die Leipziger Deklaration, in der (Mitte Februar 1908) 46 der angesehensten Deutschen, Österreicher und Schweizer Bio- logen für mich eintraten und den Kampf des Keplerbundes gegen mich „auf das schärfste verurteilten". (Vgl. unten Anhang, S. 51.) Danach könnte dieser widerwärtige Kampf für erledigt gelten ; leider bin ich aber gezwungen, in dieser Schrift noch ein- mal das Wort zu ergreifen. In unglaublicher Weise haben die wortführenden Jesuiten des Thomasbundes und des Keplerbundes neuerdings versucht, die wirkliche Sachlage durch neue Fäl- schungen zu trüben und die sonnenklare Wahrheit zu entstellen. Vor 300 Jahren zündete die Christliche Kirche ( — die „Religion der Liebe" vertretend! — ) die Scheiterhaufen an und verbrannte die gefolterten freidenkenden Ketzer lebendig. Da ihr heute der Kulturstaat dazu nicht mehr die dienstwillige Hand reicht, ver- folgt sie die verhaßten Freidenker mit anderen Mitteln, klagt sie der ,, Fälschung der Wissenschaft" an und schneidet ihnen in der öffentlichen Meinung die Ehre ab. Wenn ich diesen Jesuiten im „Kampf um die Wahrheit" noch einmal entgegentrete, so geschieht dies nicht sowohl, um meine persönliche, von ihnen so scharf an- • — 10 — gegriffene Ehre zu verteidigen, als vielmehr in der Absicht, die von ihnen getrübte Sachlage zu klären und das Recht der freien Wissenschaft und Lehre gegenüber den hierarchischen An- maßungen der herrschsüchtigen Kirchenmacht zu wahren. Jesuitenbund. Die merWürdige Geschichte des Jesuitenordens und der weltgeschichtliche Einfluß seiner Herrschaft sind allbekannt. Sprich- wörtlich ist der gleißende Lügengeist, der seinem ganzen System zugrunde liegt, und der leitende Grundsatz: ,,Der Zweck heiligt die Mittel." Sprichwörtlich ist die Zweideutigkeit des Aus- drucks und der geheime Vorbehalt {Reservatio mentalis), welcher bei allen Versprechungen und Zeugnissen, ja selbst bei heiligen Eiden gewahrt wird; jede Wahrhaftigkeit im Verkehr wird dadurch un- möglich. Charakteristisch ist ferner der berüchtigte Probabilis- mus, d. h. die Lehre, daß in zweifelhaften Fällen, wo gleich ge- wichtige Gründe Für und Wider eine Frage vorgebracht werden, dasjenige als ,, wahrscheinlich" richtig angenommen werden muß, was auch nur ein einzelner angesehener Theologe für richtig er- klärt hat. Außerdem soll der sittliche Charakter jeder Handlung durch die dabei zu gründe liegende Absicht bestimmt werden {Methodus dirigendae intentionis); somit karin unter Umständen die Übertretung jedes einzelnen Gebotes gerechtfertigt erscheinen. Überhaupt ist jedes Vergehen, jedes Verbrechen erlaubt, wenn es zur Förderung des höchsten Zweckes dient : ,, Alles zur größeren Ehre Gottes" („Omnia in majorem Dei gloriam^'') (L. 4). Als der spanische Offizier Ignatius von Loyola 1534 die „Gesellschaft Jesu" gründete, galt als Hauptzweck die Förderung der katholischen Kirche und der Allmacht ihres Oberhauptes, des Römischen Papstes, des „Stellvertreters Gottes auf Erden". Ob- wohl nun der Jesuitenbund schwere Kämpfe zu bestehen hatte, obwohl viele Bedenken wegen seines offenkundigen unmoralischen Charakters erhoben wurden, und obgleich andere katholische Orden ihm entgegentraten, stieg dennoch sein Ansehen und seine Macht beständig. Den größten Einfluß gewann er durch die drei bedeu- tungsvollen Kriegserklärungen gegen die Vernunft, durch welche der Papst Pius IX. die christliche Welt unter sein allgewaltiges Szepter zu beugen versuchte: 1854 *^^^ Dogma von der unbe- fleckten Empfängnis Mariae, 1864 die Enzyklika und der Syllabus ( — ein absolutes Verdammungsurteil über die ganze moderne Zi- vilisation und Geistesbildung — ), 1870 das Dogma der päpst- — II — liehen Unfehlbarkeit (vgl. ,, Welträtsel" Kap. 17). Durch die An- nahme dieser religiösen Gewaltakte wurde der ganze moderne Katholizismus mit dem Jesuitismus identifiziert. Die gefährliche „Jesuitische Wissenschaft" hat schon 1904 (im Frankfurter „Freien Wort", Nr. 22) R. H. France sehr treffend charakterisiert und dabei eine beachtenswerte Zusammen- stellung der hervorragenden Jesuiten gegeben, die gegenwärtig auf den verschiedensten Gebieten der Naturwissenschaft eifrig tätig sind. Sehr richtig findet er deren bedenkliche Gefahr ,,in einem systematischen Einschwärzen des jesuitischen Geistes in die Wissenschaft, in einer konsequenten Verdrehung aller Probleme und Antworten, und in einer geschickten Untergrabung der Wissen- schafts-Fundamente; richtiger gesagt, die Gefahr liegt darin, daß man sich ihrer nicht genügend bewußt ist, und daß die Öffent- lichkeit, ja sogar die Wissenschaft selbst, in die geschickt vorbe- reitete Falle geht, zu glauben, daß es eine jesuitische Wissenschaft gibt, deren Resultate ernst genommen werden können." Alles das, was hier France von dem katholischen Jesuitenbunde sagt (dem „Thomasbunde"!), gilt ebenso von seinem evangelischen Glaubens- bruder, dem „Keplerbunde". Denn die ,, Christliche Wissenschaft" des letzteren ist ebenso falsch, wie die ,,J esuitische Wissenschaft" des ersteren. Die beiden Namen von „Jesus Christus'''' werden von beiden gefährlichen Fälscherbünden in gleicher Weise für ihre verderblichen Herrschaftszwecke mißbraucht. Thomasbund. Der mächtige Einfluß, den die Jesuiten seit drei Jahrhunderten auch in der Wissenschaft erlangten, ist besonders darauf zurück- zuführen, daß sie frühzeitig die Philosophie des Thomas von Aquino sich aneigneten, jenes großen Doctor angelicus, der um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts den Höhepunkt der Scho- lastik des Mittelalters bezeichnet (vom Papste heilig gesprochen 1323). Mit nachhaltigem Erfolge suchte dieser christliche Scho- lastiker die herrschende Philosophie des Aristoteles mit der ortho- doxen Kirchenlehre zu verschmelzen. Als Schüler de« Albertus Magnus bekennt er sich zwar im ganzen zu dessen Summa fhilo- sophiae naturalis, stellt aber darüber den Glauben an die Offen- barung, an solche übernatürliche Dogmen, welche durch die Ver- nunft nicht nachweisbar sind, z. B. die Dreieinigkeit Gottes. Der Thomismus lehrt auch, daß die Welt einen Anfang hatte und von Gott aus Nichts geschaffen wurde. Der Neothomismus, die er- 12 neuerte Thomas-Philosophie, hat in letzter Zeit zunehmend an Be- deutung gewonnen, besonders seitdem Papst Leo XIII. sie zur Grund- lage der katholischen Weltanschauung in allen Lehranstalten machte. Da diese nun seit der Enzyklika ganz von den Jesuiten beherrscht werden, erscheint es zweckmäßig, die Gesamtheit der katholischen Jesuitenbünde unter dem Begriff des Thomas bundes zusammen- zufassen, im Gegensatz zu dem evangelischen Keplerbunde. Beide verfolgen das gleiche Ziel, die Verschmelzung der christlichen Glaubenslehren mit den Ergebnissen der modernen Wissenschaft; mit anderen Worten: die Unterordnung der letzteren unter die ersteren. Zahlreiche katholische Vereine mit mehr oder minder ab- Aveichenden Färbungen können demnach zum Thomasbund im weiteren Sinne gerechnet werden, so der Bonifaziusverein, der Liguoribund (Redemptoristen), der Borromaeusverein, der Pius- verein, die Leogesellschaft, die Goerresgesellschaft usw. Sie ent- falten eine sehr eifrige Tätigkeit in der Presse und suchen sich namentlich der Lehren der modernen Naturwissenschaft zu be- mächtigen, um sie für ihre Zwecke auszubeuten und möglichst unschädlich zu machen. Sehr gründlich hat der Jesuitenpater Tilmann-Pesch in einem starken zweibändigen Werke „Die großen Welträtsel {Philosophie der Natur) allen denkenden Natur- jreunden dargeboten'-'' (Freiburg i. B. 1907); so ist veröffentlicht mit Approbation des Erzbischofs Thomas (!) von Freiburg i. B. und des deutschen Jesuitenpräfekten P. C. Schaeffer. Jetzt erscheint ein umfangreicher ,, Grundriß der Biologie" von dem Jesuiten Her- mann Muckermann (Freiburg i. B.). Erich Wasmann. Unter den zahlreichen gelehrten Jesuiten, welche gegenwärtig für den christlichen Offenbarungsglauben und gegen die monistische Naturphilosophie kämpfen, erscheint der Luxemburger Jesuitenpater Erich Wasmann (ein geborener Tiroler) als die bedeutendste Persönlichkeit. Er zeichnet sich ebenso durch ausgedehntes zoologisches Wissen, wie durch glänzende Beredsamkeit und bestechende Dialektik aus. In den letzten sechs Jahren ist er auch weiteren gebildeten Kreisen so bekannt geworden, daß wir ihn als den ausgesprochensten Typus dieser katholischen Naturphilosophie hier kurz besprechen müssen. Als scharfsinniger tmd nachdenklicher Beobachter des Lebens und der Formen der Insekten, ganz besonders der Ameisen, hat sich Wasmann den Ruf eines kenntnisreichen Entomologen er- worben. Namentlich hat er eine Reihe vortrefflicher Beobachtungen über das Leben der Ameisen und der in ihren Wohnungen sich ständig aufhaltenden Ameisengäste gemacht; besonders kleiner Käfer, die durch Anpassung an diese besonderen Lebensbedingungen sehr eigentümlich umgebildet sind. Solche entomologische Spezial- studien, bald mehr systematischer und morphologischer Richtung, bald mehr bionomischer und physiologischer Art, sind sehr ver- dienstlich. Allein die wissenschaftliche Zoologie der Neuzeit stellt an ihre Vertreter ganz andere Anforderungen; sie verlangt vieljährige gründliche Studien in vergleichender Anatomie und Ontogenie, in Paläontologie und Physiologie. Für jene Zoologen, welche das interessanteste Gebiet der Tierkunde, die Wirbeltiere zu ihrem Spezialstudium wählen, ist ein gründliches Studium der Medizin unerläßlich; aus dem einfachen Grunde, weil der mensch- liche Organismus nach allen Richtungen hin uns viel genauer be- kannt ist, als jedes andere Tier. Sobald Wasmann sich auf dieses weite Gebiet begibt und den engeren Kreis seiner Entomologie verläßt, offenbaren sich erstaunliche Lücken seiner zoologischen Bildung. Es machte daher auf alle wissenschaftlichen Vertreter der Tierkunde einen wunderlichen Eindruck, als er neuerdings von der ultramontanen Presse als „der größte Zoologe der Gegenwart'''' gepriesen und hinzugefügt wurde: „Sein Name besitzt Weltruf, und glänzende Beredsamkeit, verbunden mit streng wissenschaftlicher Forscherarbeit, haben diesen Gelehrten zu einem der gefürchtetsten Gegner des Mo?iismus gemacht."' (Augsburger Postzeitung Nr. 263 vom 12. November 1908.) Durch diese Eigenschaften, verbunden mit fanatischem Re- ligionseifer, hat .Wasmann im Thomasbund eine ähnliche Führer- rolle gewonnen, wie Dennert im Keplerbund. Beide sind un- ermüdlich und geschickt in der Agitation für die „Christliche Naturwissenschaft", beide gleich rücksichtslos in der Wahl ihrer Mittel, beide gleich unüberwindHch, wenn es gilt, ihren blin- den Glauben durch logische Vernunftgründe zu widerlegen. Die wichtigste Schrift von Wasmann, welche die großen all- gemeinen Probleme der heutigen Naturphilosophie, den Kampf um den Entwicklungsgedanken behandelt, erschien 1904 — (,,am Ignatius- feste" ! — Vorwort S. II — ); sie führt den Titel: ,,Die moderne Biologie und die Entwicklungslehre" (Freiburg i. B., 723 S.). Da sie eine überraschende Anerkennung der letzteren ( — freilich in echt jesuitischer Weise zurechtgestutzt! — ) enthält, hatte ich sie in meinen Berliner Vorträgen (1905) eingehend kritisiert (L. 4). Zvvei Jahre später erteilte Wasmann seine Antwort auf diese in drei Vor- trägen, welche er in Berlin über ,,Das Entwicklungsproblem" hielt (im Februar 1907). Diese Reden erlangten besonders dadurch ein — 14 — weiteres Interesse, daß sich unmittelbar daran ein öffentlicher, wissenschaftlicher Kampf knüpfte, ein vierstündiger „Diskussions- abend im großen Restaurationssaale des Zoologischen Gartens" am 17. Februar 1907. In diesem Redekampfe sprachen gegen Wasmann zwölf Redner (darunter mehrere sehr angesehene Naturforscher und Mediziner aus Berlin). Obwohl diese ihn gründlich widerlegten und der Jesuitenpater in seinen Gegenreden am Schluß ( — ganz den Grundsätzen seines Ordens entsprechend — ) nur mit sophisti- schen Ausflüchten und dialektischen Kunstgriffen antworten konnte, wurde doch von der gesamten ultramontanen Presse seine offen- kundige Niederlage als ein glänzender Sieg gefeiert. Professor Ludwig Plate hat in einer besonderen Schrift den Gang dieses Kampfes zwischen Kirche und Wissenschaft ausführlich geschildert ;-'^^ er kommt (S. 141) zu folgendem Ergebnis: „Der Diskussionsabend hat erstens gezeigt, daß echte Natur jorschung auf dem Boden der ultramontanen Kirche ausgeschlossen ist; zweitens ist der grelle un- versöhnliche Gegensatz zwischen naturwissenschaftlicher und orthodox- christlicher Weltanschauung scharf zutage getreten; und drittens hat sich gezeigt, daß auch die Naturforscher sich der Grenze ihres Er- kennens wohl bewußt sind, und daß es letzte Fragen gibt, auf die man keine Antwort erteilen kann, es sei denn eine solche des Glaubens^^. Diesem treffenden Urteil ist nun noch folgendes hinzuzufügen: Alle Einwände, welche die voraussetzungslose Naturwissenschaft gegen die mystische, im Dogma der christlichen Kirche befangene Fälschung der Entwicklungelehre durch Erich Wasmann (als Typus des „Ihomasbundes") erhebt, gelten in gleichem Maße für dieselbe sophistische Entstellung der Genetik durch Eberhard Dennert (als Gründer des „Keplerbundes"). Wasmann hat zwei Jahre später seine vergeblichen Versuche, die ,, katholische Naturwissenschaft" zu retten und damit den Mon- ismus zu vernichten, in Innsbruck wiederholt (am 14., 16. und 18. Oktober 1909). Die drei dort gehaltenen Vorträge ( — von der ultramontanen Presse als große Siege des alleinseligmachenden Glau- bens gefeiert! — ) geben im wesentlichen den Inhalt der drei Berliner Vorträge wieder und unterscheiden sich nur dadurch, daß sie noch stärkere Angriffe gegen mich persönlich und gegen meine Anthropogenie und den Monismus enthalten. Auf diese Angriffe im einzelnen einzugehen, würde nutzlos sein; denn mit der aal- glatten, schlangenähnlich sich windenden Sophistik der Jesuiten wird ein ehrlicher Wahrheitsforscher niemals fertig, gleichviel ob sie die schwarze Mönchskutte des katholischen Thomasbundes oder den schwarzen Talar des evangelischen Keplerbundes trägt. — 15 — Keplerbund. Der jüngere Bruder des katholischen Thomasbundes, der neue evangelische Keplerbund, wurde am 25. November 1907 von einem der eifrigsten Vertreter der ,, Christlichen Naturwissenschaft" ge- gründet, Dr. Eberhard Dennert, Oberlehrer am evangelischen Pädagogium zu Godesberg bei Bonn. Als Zweck des Bundes wird in seinem ersten Flugblatt angegeben: „Förderung der Naturwissen- schaft in der Gesamtheit unseres Volkes, aber auch der Kamff der N aturwissenschajt gegen den Monismus". Daß letzterer der Haupt- zweck war, ergibt sich aus seiner Vorgeschichte, wie dem ganzen späteren Verhalten. Schon im ersten Heft der Schriften des Keplerbundes (S. 17) hat sein Gründer, Dennert, dies in folgenden Worten hervorgehoben: „Die religiösen und sittlichen Gefahren, die für unser Volksleben im atheistischen Monismus liegen, war'en es, welche den Ausgang für die Gründung lieferten." In der Vorrede dieser Schrift (S. i) sagt er ausdrückHch: „Die Mitglieder des Keplerbundes stehen auf theistischem Boden." Auch an vielen anderen Stellen seiner zahlreichen Schriften betont Dennert nachdrücklich den besonderen christlichen Cha- rakter seiner mystischen und dualistischen Weltanschauung. Ziel und Zweck seines „Keplerianum", eines speziell zu ihrer Verbreitung gegründeten Lehrinstitutes, ist: „Der Aufbau und die Darbietung einer christlichen Weltanschauung mit naturwissenschaftlicher Orien- tierung" — und zugleich damit: „Die Zertrümmerung des falschen naturphilosophischen Götzen, genannt Monismus". („Die Naturwissen- schaft und der Kampf um die Weltanschauung. Ein Wort zur Begründung des Keplerbundes" S. 13, Hamburg 1908.) Die geschickte Reklame, welche Dennert für seinen christ- lich orientierten Keplerbund durch zahlreiche Flugschriften und Vorträge ins Werk setzte, sowie die mächtige finanzielle Unter- stützung von Seiten klerikaler und konservativer Kreise, haben ihm in kurzer Zeit eine große Anzahl von Mitgliedern zugeführt. Außer kleineren Mitteilungen gibt er seit 1909 eine „Illustrierte Monatsschrift zur Förderung der Naturerkenntnis" heraus, unter dem Titel „Unsere Welt". Am deutlichsten sind die Ziele seiner unermüdlichen Agitation in einer Schrift erkennbar, welche den Titel führt: ,,Der Darwinismus und sein Einfluß auf die heutige Volksbewegung" (1907 in zweiter Auflage als 11. Heft von „Christentum und Zeitgeist" erschienen). Sie ist insofern inter- essant, als hier die ,, Lehren der christlichen Weltanschau- ung" scharf formuliert und den „Lehren der darwinistisch-materia- — i6 — listischen Weltanschauung" klar gegenübergestellt werden (S. 14 bis 16). Da erfahren wir über die erstere folgende grundlegenden Sätze: „J. Die Welt ist zeitlich begrenzt und von einem ewigen persönlich en Gott erschufen. 2. Die Art und Weise, wie Gott die Welt erschuf, ist uns nicht offenbart, tut auch gar nichts zur Sache (J). 3. Als Krone der Schöpfung schuf Gott den Menschest, indem er irdischem Stoff seinen Geist verlieh und ihm sittliche Freiheit schenkte. 4. Gott leitet und regiert diese Welt nach von ihm gegebenen unveränderlichen Naturgesetzen. Eine Durch- brechung derselben von seiten Gottes, ihres Schöpfers und Herrn, ist denkbar, also auch möglich (!). 5. Der Mensch mißbraucht seine Freiheit und stellt sich durch die Sünde mit seinem Schöpfer in Widerspruch, so daß er den Tod erleiden muß. 6. Die geschichtliche Entwicklung des Menschengeschlechts zeigt ein ewiges Schwanken von Glück und Unglück, Frieden und Unfrieden, sittlichen Höhen und Tiefen. Dies ist die Abspiegelung jenes Widerspruchs mit Gott; sie hat ihren Grund in der Sünde. 7. Im Kampf mit der Sünde stellte sich immer wieder heraus, daß der Mensch zu schwach ist, sie zu überwinden. 8. Da schickte Gott Christus seinen Sohn zur Erlösung des Menschengeschlechts. 9. Nun ist dem Menschen die Möglichkeit geboten, sich der Versöhnung mit Gott zu versichern durch den Glauben an den Opfertod Christi. lO. Diese Versöhnung mit Gott findet ihren Abschluß in einem Leben jenseits des Todes.'''' Diese zehn Thesen bilden den Inhalt des ,, Kepler -Kate- chismus", durch welchen Dennert als „Wissenschaftlicher Direktor des Keplerbundes" dessen christlicher Weltanschauung ein festes Fundament geben will. Jeder unbefangene Denker sieht sofort, daß dieser Katechismus nicht auf dem festen Grunde der natur- wissenschaftlichen Erfahrung ruht, sondern auf mystischer Offen- barung, die ihr direkt widerspricht. Er ist ein theologisches Glaubensbekenntnis, dessen Grundlagen die mittelalterlichen Dogmen der christlichen Religion bilden. Während Dennert „die christliche Weltanschauung naturwissenschaftlich zu orientieren" sucht, wollen andere Mitgheder des Keplerbundes umgekehrt ,,die Naturwissen- schaft christlich orientieren". Beides kommt auf dasselbe hinaus. Ob ich ein halbes Glas Wein in ein halbes Glas Wasser gieße, oder umgekehrt, ist für die Mischung ganz gleichgültig. Der Keplerbund nennt sich nach dem Namen des berühmten Astronomen Johannes Kepler, weil er in ihm „eine vorbildliche Verbindung echter N aturwissenschaft und tiefer Religiosität erblickt". Eine gewaltige Täuschung! Denn die monumentale Größe Keplers beruht bekanntlich in der Aufstellung der drei fundamentalen — 17 — Gesetze der Planetenbewegung (1609 — 1619); dadurch wurde er der Vollender des heliozentrischen neuen Weltsystems des Nikolaus Kopernikus, welches die alte (vom Christentum an- genommene) geozentrische Weltanschauung vernichtete (1543); er wurde zugleich Vorläufer des großen Isaak Newton, der in seinen „Philosophiae naturalis principia mathematica'''' (1687) die physikalische Astronomie mathematisch begründete. Diese drei großen Astronomen errichteten auf dem untrüglichen Fundamente der Mathematik den festen physikalischen Bau unserer modernen monistischen Weltanschauung; sie zerstörten dadurch die herr- schende dualistische Theosophie und die Macht des Wunderglaubens, für welche der evangelische Keplerbund eintritt. Wenn dieser Gegner des Monismus sich trotzdem mit dem Namen Kepler schmückt, so ist das dieselbe Fälschung, die der kathoHsche Jesuitenbund mit dem Namen Jesus sich erlaubt. Bekanntlich ist die infame Ethik und Politik der Jesuiten das Gegenteil der milden und humanen Sittenlehre, die im Evangelium von Jesus gepredigt wird. Die klare Naturphilosophie von Kopernikus, Kepler und Newton ruht auf dem unerschütterlichen Grunde der Mathematik und Mechanik; ihre bleibenden monistischen Prinzipien werden nicht durch den Umstand erschüttert, daß diese drei großen Männer daneben noch zeitweiUg mystische Ideen hegten und hinter ihren Naturgesetzen einen übernatürlichen ,, Gesetz- geber" suchten und bewunderten. Die „tiefe Religiosität", die der Keplerbund darin erblickt, nehmen wir auch für unsere moni- stische „echte Naturwissenschaft" in Anspruch, ohne daß wir in unserem allumfassenden Naturgott ein anthropoides Wesen suchen. Fälscherbund. In meiner Erklärung vom 24. Dezember 1908: ,, Fälschungen der Wissenschaft" ( — veranlaßt durch die scharfen Angriffe von Brass und von Tartüffe — ) hatte ich die jesuitischen Anklagen meiner Gegner wahrheitsgemäß beleuchtet und den evangelischen Keplerbund demgemäß als „Naturphilosophischen Fälscherbund'-^ bezeichnet. Diese Charakteristik ist für ihn ebenso gerechtfertigt wie für den katholischen Thomasbund; denn Ziele und Wege sind in beiden gleich. Das Kuratorium des Kepler- bundes (Fürst zu Salm-Horstmar und Geheimer Justizrat Zorn) wiesen in einer Erklärung vom 12. Januar 1909 diesen Vorwurf mit Entrüstung zurück und bezeichneten ihn als eine ,, Ungeheuer- lichkeit". Ich erlaube mir diesen Herren gegenüber die Anfrage: Ist es keine Ungeheuerlichkeit, wenn die führenden Autoren des Keplerbundes — auf die falschen Anklagen des Dr. Brass hin! — mich in zahlreichen Artikeln und Broschüren als wissenschaftlichen Haeckel, Sandalion. 2 — iS — 5, Fälscher und Betrüger" beschimpfen? — einen Naturforscher, der (ungeachtet vieler Irrungen und Versehen) durch ein halbes Jahr- hundert mit persönlicher Aufopferung nur das eine Ziel verfolgt hat, in der Natur die Wahrheit zu erkennen und durch ihre Lehre die denkende Menschheit vom Joch des Aberglaubens zu befreien ? Selbstverständlich habe ich mit dem schweren Vorwurfe der Fälschung nicht einzelne Personen treffen wollen, sondern die beiden Jesviiten- Bünde als solche, ihr verwerfliches System! In jedem Bunde, in jedem Vereine, in jeder Partei gibt es gute und schlechte, ehrliche und falsche Mitglieder, wie das ja auch bekannt- lich von jeder politischen Partei gilt. Die Hauptmasse besteht gewöhnlich aus solchen Personen, die nicht gründlich über die Aufgaben und Wege des Bundes unterrichtet sind, und die bei ihrer unvollständigen Sachkenntnis sich durch Autoritätsglauben oder Gewohnheit, durch äußere Einflüsse oder eigennützige Motive bestimmen lassen. Das gilt von unserem naturalistischen Monisten- bund ebenso wie von dem duahstischen Jesuitenbund. Die großartige Fälschung des Weltbildes, die wir beiden Jesuitenbünden vorv.erfen, besteht darin, daß sie die monistischen Ergebnisse der modernen Naturwissenschaft mit den mystischen und dualistischen Dogmen der wundergläubigen Kirche verschmelzen wollen. Diese angestrebte ,, Harmonie von wissenschaftlicher Er- fahrung und göttlicher Offenbarung" ist seit Jahrhunderten in zahl- reichen Schriften ganz vergeblich versucht worden; so auch in dem neuesten jämmerlichen Produkt des Keplerbundes: ,, Natur und Bibel in der Harmonie ihrer Offenbarungen", herausgegeben von dem Astronomen Johannes Riem (Hamburg 19 lo). Dr. Rudof Hoernes, Professor der Paläontologie und Geologie in Graz, hat in zwei vortrefflichen Aufsätzen der zu Graz erschei- nenden „Tagespost" eine scharfe und sehr treffende Kritik des Keplerbundes gegeben. Der erste Artikel, in Nr. 185 (vom 7. Juli 1909) ist teilweise wiedergegeben in Nr. 9 der von Breitenbach redigierten „Neuen Weltanschauung" (1909, S. 345). Da heißt es: „Den Herren vom Keplerbund ist es zceder um die Freiheit der Wissenschaft, noch tim den Dienst der Wahrheit zu tun, sondern nur um die Befestigung der weltlichen Vorherrschaft der Kirche, zu welchem Zwecke ihnen jenes Mittel dienen soll. Und da sie recht gut die Gefahr er- kennen, welche die Verbreitung naturwissenschaftlicher Erkenntnis in den breiten Schichten des Volkes für ihre Bestrebungen hat, so suchen sie die Brunnen zu vergiften, aus welchen jene Erkenntnis quillt. — Es ist nun gewiß merkwürdig, daß orthodoxe Protestanten und Jesuiten — 19 — gerade den Namen Keplers auf ihre Fahne schreiben wollen. Beide (die orthodoxen Protestanten vielleicht mehr als die katholischen Jesuiten! ) haben Kepler, als er noch auf Erden wandelte, in der niederträchtigsten Weise verfolgt und geschädigt, U7id jetzt wollen sie den Namen des unsterblichen Naturforschers als Aushängeschild für ihre unlauteren Bestrebungen mißbrauchen. Das ist die reinste Bauernfängerei!" Der zweite Aufsatz von Professor Hoernes (in Nr. 237 der Grazer Tagespost, vom 27. August 1909) ist abgedruckt in Nr. 41 des „Monismus" (Berlin, November 1909, S. 507); er trägt den Titel ,,Im Interesse der Wissenschaft", und wendet sich speziell gegen die jesuitische Broschüre, welche Teudt kurz'zuvor unter demselben Titel hatte erscheinen lassen (Heft 3 der Schriften des Keplerbundes). Indem sich Hoernes der Leipziger Deklaration der 46 Zoologen „in ihrem ganzen Inhalt anschließen muß", be- merkt er, daß die von Teudt daran geübte Kritik keiner ein- gehenden Widerlegung würdig sei. In betreff meiner angeblichen „Fälschung von Embryonenbildern" sagt er: „In Wahrheit handelt es sich der Direktion des Keplerbundes darum, durch die Diskredi- tierung eines der hervorragendsten Vertreter der Entwicklungstheorie dieser selbst einen möglichst großen Schaden zuzufügen; zum mindesten die V erbreitung der ihrer W elt ans c hauung unbequemen Lehre in Laien- kreisen, um welche sich Haeckel ganz besonders verdient gemacht hat, so weit als möglich zu hindern.^'- Auch die „bedenkliche Überein- stimmung mit dem sattsam bekannten Jesuiten Wasmann" wird treffend hervorgehoben. Die jesuitische Presse. Der schwere Kampf mit der klerikalen und konservativen Presse, zu dem ich seit mehr als 40 Jahren gezwungen bin, hat mich mit bemerkenswerten Erfahrungen über ihre jesuitische Taktik und Praxis bereichert. Da diese sich in den letzten Jahren bei Gelegenheit des Embryonenkampfes mit besonderer Brutalität und Perfidie äußerte, mögen hier einige Hin- weise darauf gestattet sein. Die beiden polemischen Broschüren von Dr. Arnold Brass (,,Wahrheit" 1906 und „Affenproblem" 1908) wurden von allen Feinden des geistigen Fortschritts und der Aufklärung sofort mit Jubel begrüßt und fanden durch Korrespon- denzen der reaktionären Presse die weiteste Verbreitung. Die Kreuzzeitung und die Deutsche Tageszeitung, die Staatsbürger- zeitung und die Augsburger Postzeitung, das Reich und der Reichs- bote, die Germania und die Kölnische Volkszeitung, das Bayerische und das Österreichische Vaterland, ebenso Hunderte von größeren und kleineren Zeitschriften verbreiteten alsbald die falschen An- 20 — klagen von Brass in alle Welt — teils im Wortlaut, teils mit Zu- taten aller Art gewürzt. Keinem dieser Blätter fiel es ein, diese „vernichtenden" Fälschungsanklagen auf ihren Wahrheitsgehalt zu untersuchen oder wissenschaftlich gebildete Sachverständige deshalb zu befragen. Die sachlichen Aufklärungen und Berichtigungen aber, welche die letzteren an verschiedenen Orten gaben, wurden von jener Presse ignoriert. Dagegen wurden mit sichtlichem Behagen immer wieder die ,, vernichtenden" Anklagen von Dr. Brass wieder- holt, die in dem Satze gipfelten: „Haeckel hat an der Wissenschaft das schwerste Verbrechen begangen, dessen sich ein Forscher schuldig machen kann.'' (Vgl- unten S. 45 die ,, Stichproben".) Sehr zu bedauern ist es, daß auch ein großer Teil der liberalen Presse, getäuscht durch jene Jesuitentaktik, sich vielfach irreführen ließ, und daß auch viele unbefangene Blätter jenen schweren An- schuldigungen ohne weiteres Glauben schenkten und sie weiter ver- breiteten. Schuld daran ist hauptsächhch die Unbekanntschaft mit den biologischen Tatsachen, um welche sich der Embryonen- kampf drehte. Sehr schlau und mit großem Erfolge hatte Dr. Brass — als der anerkannte „sachverständige Kronzeuge des Embryonen- Prozesses" — seine Anklagen auf ein dunkles Gebiet verlegt, das den meisten Gebildeten ganz fern liegt, und dessen Verständnis selbst den geschulten Naturforschern besondere Schwierigkeiten bereitet. Nur wenige finden sich in der umfangreichen embryo- logischen Literatur zurecht. Als ein Beispiel, wie sehr sich die liberale Presse dabei täuschen ließ, mag hier der vielbesprochene Fall „Tartüffe" angeführt werden. Professor Tartüffe. Nachdem Arnold Brass 1908 seine Schmäh- schrift über ,,Das Affenproblem" veröffentlicht hatte, erfolgte in Nr. 38 der Münchener ,, Allgemeinen Zeitung" (vom 19. Dezember 1908, S. 823) eine anonyme Besprechung derselben, die H. Schmidt in seinen „Dokumenten" auf S. 10 abgedruckt hat. Ich muß des- halb hier besonders darauf eingehen, weil sie die unmittelbare Ver- anlassung zu meiner Entgegnung vom 24. Dezember wurde und eine lange Kette von Streitigkeiten hervorrief. Der Schwerpunkt dieses „Tartüffe-Artikels" (wie ich ihn nennen mußte!) liegt darin, daß der anonyme Professor Dr. X. die „außerordentlich schweren Anschuldigungen" des Dr. Brass für bewiesen ansieht und daraus ( — ,,niit Widerstreben"! — ) folgert: „Sie vernichten nicht mir das Forscheransehen und die Ehre eines bisher trotz mancher Ent- gleisungen in weiten Kreisen hochangesehenen Mannes, sondern sie würden auch geradezu einen „Schandfleck der Deutschen Wissen- schaft" aufdecken" (!). 21 Die weiteren Ausführungen des anonymen „Tartüffe", die Berufung auf die Urteile der Deutschen Embryologen ( — ,,um seiner und der Deutschen Wissenschaft Ehre willen" — ) waren so perfide und jesuitisch, daß ich dadurch zu meiner Entgegnung vom 24. Dezember geradezu gezwungen wurde. Dazu trat nun noch folgendes Motiv. Die Redaktion der Münchener „Allgemeinen Zeitung" sandte mir aus Berlin (am 21. Dezember) den fraglichen ,,Tartüffe"-Artikel mit folgendem charakteristischen Begleitschreiben: „Eurer Exzellenz, gestatten wir uns die neueste Nummer der „Allgemeinen Zeitung'-^ ergebenst zu übersenden, da sie eine Mitteilung enthält, die sich mit Arbeiten Eurer Exzellenz bejaßt. Wir möchten nicht verfehlen zu betonen, daß wir nur schweren Herzens diese Zu- schrift aufgenommen haben, und auch nur darum, weil sie von einer Seite stammt, die ebensosehr hinsichtlich der wissenschaftlichen Sach- kenntnis, wie der Loyalität der Gesinnung über jeden Zweifel er- haben dasteht. Da die erörterte Frage in wissenschaftlichen Kreisen anseheinend nicht zur Ruhe kommen will, möchten wir ergebenst an- regen, ob nicht Eure Exzellenz sich mit den Vorwürfen in einem kurzen Artikel beschäftigen möchten, für den wir natürlich die Allgemeine Zeitung gern zur Verfügung stellen, da die Entgegnung bei uns zu den einschlägigen Fachkreisen gelangen würdet'' Jedem ehrlichen und unbefangenen Zuschauer dieses erbitterten Kampfes bleibt es überlassen, sich selbst ein Urteil über das folgen- schwere Verfahren der Redaktion der Allgemeinen Zeitung zu bilden. Es sind aber folgende vier Punkte dabei ganz besonders zu berücksichtigen: i. Die Redaktion der M. A. Z. betont, daß sie nur „schweren Herzens" die Zuschrift des anonymen Professors X. aufgenommen habe, die nach dessen eigenen Worten ,, nicht nur das Forscheransehen und die Ehre eines in weiten Kreisen hoch angesehenen Mannes (E. H.) vernichtet, sondern auch geradezu einen Schandfleck der deutschen Wissenschaft aufdeckt". — 2. Die Redaktion der M. A. Z. nimmt diesen perfiden Artikel nur darum auf, weil er „von einer Seite stammt, die ebensosehr hinsichtlich der wissenschaftlichen Sachkenntnis (!), wie der Loyalität der Gesinnung über jeden Zweifel erhaben dasteht" (!). — 3, Die Redaktion der M. A. Z. „regt ergebenst an", ob ich mich nicht „mit den Vorwürfen in einem kurzen Artikel beschäftigen möchte, für den sie natürlich die Allgemeine Zeitung gern zur Verfügung stellt". — 4. Die Redaktion der M. A. Z. legt mir (mit Schreiben vom 21. Dezember 1908) die Nr. 38 ihrer internationalen Wochenschrift ( — erschienen am 19. Dezember! — ) am 22. Dezember auf den Weihnachtstisch 22 und sorgt dafür, daß der lügenhafte darin enthaltene Tartüffe- Artikel sofort durch eine Korrespondenz in alle Welt verbreitet wird. Schon in den nächsten Tagen (zur Feier des heidnischen ,,Sonn- vv endfestes"!) hatte ich das Vergnügen, ihn in zahlreichen Blättern aller Richtungen abgedruckt zu sehen, mit kritischen Zutaten der merkwürdigsten Art — helle Schadenfreude bei meinen klerikalen und reaktionären Feinden, schmerzliches Bedauern bei meinen frei- denkenden und liberalen Freunden. Es war sehr natürlich, daß ich von dem gütigen Anerbieten der loyalen Redaktion der M. A. Z., eine Entgegnung in ihre Wochenschrift ( — also frühe- stens acht Tage später! — ) aufzunehmen, keinen Gebrauch machte. Ich habe ihr überhaupt nicht geantwortet; sondern ich sandte meine Entgegnung am 24. Dezember an die Redaktion der Ber- liner „Volkszeitung", da deren Redakteur, Herr Vollrath, mir seit langer Zeit bekannt und einer der wenigen liberalen Zeitungs- leiter in Berlin ist, die sich um Verbreitung und Förderung der Entwicklungslehre verdient gemacht haben. „Fälschungen der Wissenschaft." Die notgedrungene Ver- teidigung gegen das „Brass-Tartüffe-Konsortium^\ die ich am 24. Dezember 1908 unter obigem Titel in Nr. 607 der ,, Volks- zeitung" veröffentlichte (abgedruckt in den „Dokumenten"' von Dr. Heinrich Schmidt S. 12), erscheint mir heute selbst unbe- friedigend; ich habe sie nachträglich sehr bedauert. Ich war damals seit längerer Zeit sehr krank und zu ruhiger literarischer Diskussion unfähig. In der begreiflichen Empörung über den nichtswürdigen Artikel des Herrn ,,Tartüffe", und seine ,, loyale" Protektion durch die Redaktion der „Allgemeinen Zeitung", ge- drängt durch zahlreiche indignierte Zuschriften von befreundeten Seiten, ließ ich mich zu heftigen Äußerungen tiefster Entrüstung hinreißen, die ich zu anderen Zeiten bei voller Gesundheit viel besser und treffender formuliert haben würde. Verhängnisvoll wurde mir besonders das ironische ,, Reumütige Geständnis" ( — Zeichnungen „gefälscht" zu haben! — ), das viele flüchtige Leser unbegreiflicherweise für ernst nahmen. Der Sturz Haeckels. (Eine Abrechnung von Hugo Jüngst, Leipzig 1910.) Zu den seltsamsten Figuren, welche dem Jesuiten- bunde Gefolgschaft leisten, gehört ein ,, modernster Dichter", dem ich hier wenigstens einige Zeilen des Dankes widmen muß. Unter obigem Titel hat kürzlich Herr Hugo Jüngst ein Pamphlet von 20 Seiten herausgegeben, dessen Zweck lediglich sein soll: „Tausen- den Gelegenheit z.U. geben sich an der Hand einer unverblümten Dar- stellung mit dem Fall Haeckel innerlich auseinanderzusetzen" (S. 20). 23 „Ich bin kein Naturforscher in wissenschaftlichem Sinne. Aber ich bin ein treuer Anhänger Haeckels gewesen und habe ein Jahrzehnt hindurch im Banne der Unerschütterlichkeit seiner Lehren gestanden. Dieser Bann ist gebrochen!'-'' — Warum? Einzig und allein, weil Herrn Jüngst aus meiner Erklärung (vom 24. Dezember 1908) „Fälschungen der Wissenschaft" den sehr wunderbaren Schluß zieht, daß ich „nach langem Drehen und Wenden die Fälschung angeblich wissenschaftlicher Beweisstücke zugeben mußte'''-. Herr Jüngst hält also mein „Reumütiges Geständnis'' (a. a. O.) für ernst, und sieht nicht, daß es rein ironisch ist — was aus dem ganzen Zusammenhang sich sofort ergibt und was jeder klar denkende Leser erkennen muß. Er erklärt zwar den ganzen ,, Embryonen- kampf" für eine „allgemeine Kulturangelegenheit, an der die gesamte gebildete W elt in weitgehendstem Maße interessiert ist"- (S. i); er ist aber so wenig mit dessen Gang bekannt, daß er nicht einmal die vielbesprochene Leipziger Erklärung der 46 deutschen Professoren der Anatomie und Zoologie (vom Februar 1909) kennt, welche den Kampf — gegen Brass und den Keplerbund — zu meinen Gunsten entscheidet. Ganz naiv erklärt er (S. 14): „Eine Gegen- erklärung der betro-ffenen Kreise ist mir bis heute {Juni igid) nicht zu Gesicht gekommen.'' Übrigens geht aus dem ganzen Zusammen- hang seines oberflächlichen Phrasenbündels klar hervor, daß es ihm besonders um den religiösen Kampf gegen „das öde Rechenexempel des Materialismus" ( — d. h. „Monismus"! — ) zu tun ist, noch mehr aber um die .Reklame seiner Gedichte: ,, Seelenakkorde und Flammenzeichen". Auf dem Umschlage des „Sturzes" werden sie von der ,, "Berliner Antiquitäten -Rundschau" mit folgenden Worten angepriesen: „Wer die Flammenzeichen kauft um sechzig Pfennige, wird um Tausende edelsten Goldes reicher!" Warum sich Herr Jüngst als „bisherigen Anhänger Haeckels" ausgibt, ist bei seiner gründlichen Unkenntnis meiner Schriften nicht ersicht- lich. Die Jesuitenpresse hat aber diese unglaubliche und lächer- liche Konversion sofort benutzt, um daraus gegen mich eine neue „Vernichtung" auszuklügeln. Fälschungen von Arnold Brass. Die ergiebigste Quelle der zahlreichen Anklagen, welche die Jesuitenpresse seit einigen Jahren wegen angeblicher Bilderfälschungen gegen mich richtet, ist Dr. Arnold Brass. So ungern ich auch den persönlichen Charakter meiner Gegner berühre, so bin ich doch in diesem Falle dazu gezwungen. Denn Brass gilt als der — 24 — sachverständige Kronzeuge des großen „Embryonen-Prozesses"; auf seine Autorität gründen sich die zahlreichen, gegen mich er- hobenen „Fälschungsanklagen". Er zeichnet sich vor den meisten übrigen Naturforschern des Keplerbundes durch eigenartige Kennt- nisse in den Gebieten der Zoologie und Anthropologie, der ver- gleichenden Anatomie und Ontogenie aus; aber er mißbraucht diese in ausgiebigster Weise, um die Erkenntnis der Wahrheit zu verschleiern ( — oder wie er angibt, zu „fördern" — ). Brass wird daher auch von der ganzen klerikalen Presse, und speziell von den Kepleristen-Blättern als derjenige „große Naturforscher" gefeiert, der als heiliger Ritter Georg den ungläubigen Drachen „Monismus" getötet und neben dem persönlichen Gott dessen ,, Ebenbild", den Menschen mit seinem unsterblichen Geiste, gerettet hat. In vielen Zeitungsartikeln, welche sich mit diesem Kampf be- schäftigen, wird irrtümlich die Behauptung wiederholt, daß Dr. Brass sich seit langer Zeit in einem wissenschaftlichen Streite mit mir befinde und daß er mich gründlich geschlagen habe. Dem- gegenüber muß ich zunächst feststellen, daß ich bis vor zwei Jahren niemals Veranlassung hatte, mich mit ihm überhaupt zu befassen. Denn die zahlreichen kleinen Arbeiten von Brass sind so un- bedeutend, daß sie keine Spur in der Wissenschaft hinterlassen haben, und seine Atlanten der menschlichen Anatomie und Ge- webelehre, der vergleichenden Anatomie und Entwicklungsgeschichte sind so minderwertig und fehlerhaft, daß Professor Carl Rabl in Leipzig seine Zuhörer geradezu vor letzteren warnen mußte. Im Sommer 1906 veröffentlichte Brass eine Broschüre von 96 Seiten unter dem Titel: ,, Ernst Haeckel als Biologe und die Wahrheit" (Stuttgart 1906; ich zitiere sie im folgenden als: ,, Brass, Wahrheif-). Sie enthält die schärfsten Angriffe auf meine monistische Naturphilosophie, (besonders in den ,, Welträtseln") und ist voll von Entstellungen und Unwahrheiten. Ich habe sie damals ignoriert, wie zahlreiche andere Kampfschriften gegen die „Welträtsel". Brass entgegenzutreten wurde ich erst zwei Jahre später gezwungen, nachdem er (am i. April 1908) in einer Ver- sammlung der christlich-sozialen Partei in Berlin geredet und mich scharf wegen gefälschter Embryonenbilder angegriffen hatte: „Der Redner konnte hier aus aller genauester -persönlicher Kenntnis sprechen, da er die richtigen Zeichnungen seinerzeit selbst für Haeckel her- gestellt habe^^l So stand in der „Staatsbürgerzeitung" und vielen anderen Blättern zu lesen. Kein Wort davon ist wahr! Erst durch diese schwere Verleumdung wurde ich zu einer öffent- lichen Richtigstellung des Sachverhalts genötigt und später zu der Erklärung vom 24. Dezember 1908, auf die ich noch zurückkommen muß. Darauf antwortete dann Brass in einer zweiten Schmäh- schrift von 88 Seiten, die 1909 in zweiter Auflage erschien, betitelt: ,,Das Affenproblem, Professor Ernst Haeckel, seine Fälschungen der Wissenschaft und ihre Verteidigung durch deutsche Anatomen und Zoologen" (86 Seiten, Leipzig). Die Wechselfälle des wider- wärtigen Kampfes, der sich daran knüpfte, erläutert und belegt mit den wichtigsten Aktenstücken, sind dargestellt in der „Doku- menten-Bvoschüre^^ von Dr. Heinrich Schmidt. Da Arnold Brass jetzt sowohl von der katholischen als von der evangehschen Jesuitenpresse als „einer der größten Zoologen der Gegenwart" gerühmt wird ( — ein bedenkHcher Rivale für Wasmann! — ), und da ich selbst nach ihrer Ansicht von diesem „ebenbürtigen Gegner" vernichtet bin, sehe ich mich gezwungen, wenigstens einen Teil seiner Fälschungen zu beleuchten. Vor allem aber ist es notwendig, die eigentlichen Ziele und Mittel seiner ge- hässigen Polemik klar zu beleuchten. Der unparteiische Leser, der beide Gegner nicht kennt, dürfte vermuten, daß sich dahinter eine persönliche Feindschaft verbirgt. Das ist durchaus nicht der Fall, Die Person von Dr. Brass ist mir ganz gleichgültig. Das wahre Ziel seiner pöbelhaften Angriffe ist einerseits Förderung seiner Stellung durch den Keplerbund, andrerseits Reklame für seine Person! Und ich muß ihm die Anerkennung lassen, daß er dieses Ziel mit erstaunlichem Erfolge erreicht hat — ähnhch wie vor einem Jahre der berüchtigte Peter Ganter mit seinen Tausenden von „blauen Briefen", in denen er seine ,, doppelte Moral" emp- fiehlt. Brass- selbst erzählt in seinen Schmähschriften ausführlich und mit tiefem Schmerz, daß alle seine Bemühungen, eine Professur der Zoologie zu erhalten, vergeblich gewesen seien. Dabei dichtet er mir noch eine besondere Schuld an („Affenproblem" S. 39): „Im Jahre 1886 habe ich in Marburg Habilitationsschriften über die Säugetiere eingereicht. Diese Kühnheit hat Haeckel und Andere damals arg in Zorn versetzt.^'' — Gegenüber dieser Erfindung von Brass kann ich nur erklären, daß ich weder damals noch später davon etwas gewußt habe. Ich muß aber noch hinzufügen, was Professor Richard Hertwig in seiner offenen Antwort an Baron von Pechmann (am 23. Februar 1909) sagt: „Meine Entrüstung ( — über die Provokation des Keplerbundes — ) zoar umso leb- hafter, als ich dem Namen Brass zum erstenmal wieder begegnete, nachdem die wissenschaftliche Tätigkeit des Mannes auf dem Gebiete der Zoologie vor 2^ Jahren mit einem Mißerfolg ihr verdientes Ende gefunden hatte.'-'' (H. S. Dokumente, S. 62.) — 26 — Als offizieller Wanderredner des Keplerbundes ist Dr. Arnold Brass sehr tätig. Eine authentische „Mitteilung des Kepler- bundes" (vom Februar 1909) empfiehlt ihn mit folgenden Worten : ,,/w Auftrage des Keplerbundes hält der durch seine zoologischeti, anatomischen und optischen Spezialarbeiten hekannte Naturforscher Herr Dr. Arnold Brass Vorträge aus denjenigen Gebieten der Naturzvissenschaft, welche in unseren Tagest das größte Interesse er- wecken und vielfach in tendenziöser Weise dargestellt und mißbraucht werdest. — Die im Laufe dieses und des vorigen Winters in zahl- reichen Städten gehaltenen Vorträge fanden stets in vollbesetzten, oft in überfüllten Sälen statt; in vielen Fällen wurde noch ein Überschuß über die Kosten des Vortrags erzielt. Das Herrn Dr. Brass zu- stehende Honorar ist ihm hundesseitig garantiert^'- (!) — Es ist wichtig, diese offizielle Erklärung des evangelischen Jesuiten- Bundes festzunageln. Denn in demselben Jahre 1909 gibt Brass selbst folgendes Bekenntnis ab: „Außerdem bin ich frei und lasse mich von Niemandem zu Vorträgen, Verteidigungen usw. bestimmen. Ich bin weder Wanderredner des Keplerbundes, noch beziehe ich von dieser Vereinigung irgendwelches Gehalt oder Unterstützungen.'-'' (Teudt, Im Interesse der Wissenschaft, igog, S. 63.) Das ist die vielgepriesene christliche Wahrheitsliebe der frommen Kepleristen! Wir können es Herrn Teudt und Herrn Brass selbst überlassen, ihren flagranten Widerspruch zu lösen! Die zahlreichen offenkundigen Unwahrheiten in den Schriften und Vorträgen des Herrn Dr. Arnold Brass sind zum Teil bloße Irrtümer, auf mangelhafter Kenntnis der Tatsachen und oberfläch- licher Bildung beruhend; zum andern Teil sind es sophistische Ent- stellungen der Verhältnisse, echt jesuitische Trugschlüsse ( — ,,zur größeren Ehre Gottes"! — ); zum großen Teil endhch sind es be- wußte Unwahrheiten, die man im gewöhnlichen Leben Lügen zu nennen pflegt. Es würde ein dickes Buch geben, wollte man alle diese ,, Irrtümer" untersuchen, richtig stellen und widerlegen. Ich ver- zichte auf diese widerwärtige Arbeit, die gegenüber einem Jesuiten- Konsortium ganz nutzlos sein würde. Vielmehr beschränke ich mich auf kritische Beleuchtung einiger wenigen Fälle, die jedem Ehrlichen und Einsichtigen ohne weiteres klar sind. Skelette von Menschenaffen! Wenige Betrachtungen wirken so unmittelbar überzeugend für die nahe Verwandtschaft von Mensch und Menschenaffe, wie die kritische Vergleichung ihrer Skelette. Es war daher ein sehr glücklicher Gedanke des genialen Thomas Huxley, daß er in seiner grundlegenden Abhandlung über ,,Die Stellung des Menschen in der Natur" (1863) auf dem — 27 — Titelbilde die Skelette des Menschen und der heute noch lebenden vier Menschenaffen (Gorilla, Schimpanse, Orang, Gibbon) neben- einander stellte. Ich habe 1874. diese höchst instruktive Tafel in meiner Anthropogenie kopiert (VI. Aufl. 1910, S. 672). Später habe ich in meinen Berliner Vorträgen über den ,, Kampf um den Entwicklungsgedanken" (1905, S. 40, Tafel II) dieselbe durch eine ähnliche Tafel ersetzt, welche die gleichen fünf Skelette nach guten Exemplaren meiner eigenen Sammlung darstellt. Absichtlich habe ich von Schimpanse und Orang jüngere Personen gewählt, weil bei ihnen die Menschenähnlichkeit mehr hervortritt, als bei älteren. Die Skelette sind von meinem bewährten Mitarbeiter Herrn Adolf Giltsch photographisch aufgenommen; weder er noch ich haben an den Bildern irgendwelche Veränderung der Form oder der Stellung vorgenommen. Was sagt nun Herr Brass zu diesen klaren, vollkommen natur- getreuen Photogrammen? Er ergeht sich — ,,zur größeren Ehre Gottes"! — in folgenden Fälschungen {Affenfrohlem 1909,8.8): „Diese Tafel zeigt absichtliche Entstellungen zugunsten der falschen Überschrift ( — Skelette der fünf Menschenaffen — ). Der aufrechte Gang des Menschen ist vertuscht und der Gorilla ist mit durch- gedrücktem Knie gehend dargestellt. Falsch ist die Gehstellung bei allen seinen Affen. . . . Diese Tafel ist eben ein Beispiel dafür, wie Haeckel die Arbeiten anderer mißbraucht!" — Ich darf wohl darauf mit seinen eigenen Worten entgegnen: Diese dreiste Lüge ,,ist eben ein Beispiel dafür, wie" Herr Brass durch ausgedachte Ver- leumdung „einen guten Eindruck auf alle gläubigen Leser machen^*" will (S. 9). Indem er ferner beweisen will, meine nach der Natur photographierte Tafel sei ,,frei entstellt und willkürHch falsch bearbeitet" (S. 8), stellt er kindische Betrachtungen über den Gang der Menschenaffen an, welche nur seine oberflächliche Kenntnis dieser wichtigsten Primaten beweisen; er weiß nicht einmal, daß der Gibbon beim aufrechten Gang genau so mit der flachen Fuß- sohle auftritt, wie der Mensch. Bei einem jungen Gibbon {Hylo- bates leuciscus), den ich selbst auf Java mehrere Monate lebend in meiner Wohnung hielt, konnte ich das alle Tage beobachten (vgl. mein „Insulinde", 1901, S. 227, Fig. 68, 69). Bilder im Phyletischen Museum! In dem neuen Museum für Entwicklungslehre, welches ich in Jena Anfang 1907 gegründet und am 30. Juli 1909 der Universität Jena (bei Gelegenheit ihrer 3 50 jäh- rigen Jubelfeier) als Geschenk übergeben habe, sollen die wich- tigsten Objekte der Keimes- und Stammesgeschichte dem Publikum nicht nur in Präparaten vorgeführt, sondern auch durch Abbildungen — 28 — und Beschreibungen erläutert werden. Die dazu gehörigen Tafeln existieren noch nicht; sie sind noch nicht einmal entworfen, geschweige denn ausgeführt. Diese Tatsache hindert aber Herrn Dr. Brass nicht, seinen „gläubigen Lesern" (S. 9) folgende Lüge aufzutischen: „Einen Teil der Tafeln, welche dem Museum als bilden sollende Anschauungsmittel dienten werden, habe ich -per- sönlich gesehen. Nun, ich habe mich für Haeckel und seine Freunde geschämt!" {Jffenproblem 1909, S. 10.) Und gehüllt in den bestechenden Mantel moralischer Entrüstung fügt er hinzu, mit besonderer Rücksicht auf den Sandalenkeim (S. ii): „Solche verwerfliche Verdrehungen der Natur und der mühsam gewonnenen Resultate unserer Wissenschaft verdienen eigentlich mehr als Hohn und Spott. . . . Das ist eine Schande für deutsches Können!" (fett- gedruckt S. 11!) Die Familie des Affenmenschen {Pithecanthropus alalus), Ölbild von Professor Gabriel von Max in München (verkleinerte Kopie — Photogravüre — in meiner ,, Natürlichen Schöpfungsgeschichte", XL Aufl. 1909, S. 104, 715, 758). Dieses berühmte Bild, welches der geistvolle Münchener Seelenmaler mir zu meinem 60. Geburts- tage (1894) verehrte, erregte großes Aufsehen und unterlag der verschiedensten Beurteilung ; ich habe vier verschiedene Deutungen in meiner Erklärung desselben besprochen (a. a. O. S. LXVIII). Selbstverständlich kann diese Komposition nur ein künstlerischer Versuch sein, die äußere Gestalt der ausgestorbenen ,, Affen- menschen" — d. h. der Ubergangsformen vom Menschenaffen zum Menschen — ungefähr so hypothetisch darzustellen, wie sie sich aus den wichtigen (Gabriel von Max wohlbekannten!) Ergebnissen der vergleichenden Anatomie und Ontogenie annähernd erraten läßt. Ich habe das besonders hervorgehoben und dabei betont, wie sehr sich die ,, Phantasie des genialen Künstlers" auf seine gründliche Kenntnis des Primaten-Organismus stützt. Dem gegen- über tischt nun Brass ( — der dies alles weiß! — ) seinem frommen Keplerbunde folgende unglaubliche Unwahrheit auf (,, Wahr- heit", 1906, S. 7) : „Wenn Haeckel in seiner ,Natürlichen Schöp- fungsgeschichte'^ das wahnwitzige, ihm persönlich von Gabriel M ax auf Leinwand phantasierte Bild des Affenmenschen dem ganzen deutschen Volke als echt zu bieten wagt, wenn er und sein Gefolge dann durch Wort und Schrift nebenher alles verhöhnen, was weiteste Kreise unseres Volkes als ihr Bestes betrachten, so wirken sie mit derart tendenziösen wissenschaftlichen Unwahrheiten demoralisierend. Der Glaube an die Korrektheit des Bildes und an die W ahr- heit des im Texte Gebotenen, den Haeckel von seinen Lesern und — 29 — Anhängern in erster Linie ganz bedingungslos fordert, bedeutet nur die Verherrlichung der Bestie im Menschen.''''' Eine Erläuterung zu dieser schamlosen und böswilligen, echt jesuitischen Entstellung der Wahrheit ist überflüssig. Soviel Sätze, soviel Lügen! Mutterliebe bei Affen und Menschen. Jeder der in zoologischen Gärten oder sonstwo eine zärtliche Affenmutter mit ihren sorg- fältig behüteten Jungen gesehen hat, kennt aus eigener Anschau- ung die sprichwörtlich gewordene „Affenliebe"; sie wird ja auch öfter ( — mit Recht! — ) bei überzärtlichen menschlichen Müttern mit diesem Ausdruck belegt. Bisher hat wohl noch niemand daran gezweifelt, daß diese Form der ,, Brutpflege", die Mutterliebe, dem Ursprung und dem Wesen nach beim Menschen und den höheren Tieren auf denselben psychologischen Prozessen beruht. Erst Brass war es vorbehalten, diesen Irrtum aufzuklären. Anknüpfend an jenes Bild der Affenmenschen -Familie, auf w^elchem Gabriel von Max der säugenden Mutter, mit dem Kind an der Brust, einen besonders sinnigen und zarten Gesichtsausdruck verliehen hat, belehrt uns Brass, daß gerade „die selbstlose Mutterliebe und Muttersorge den Menschen scharf von allen Säugetieren trennt, und unerreichbar weit von tierischen Trieben und Instinkten abrückt. '■'■ (,,Wahrheit, 1906, S. 7".) Da Brass sich „am sichersten im positiven Wissen fühlt {S. 7) und dem Zoologen Haeckel gegenüber sich nicht minderzoertig, auf dem Gebiete der Physik aber entschieden überlegen fühlt'-'- (S. 9), so wird er vielleicht seine neue Deutung der Mutterliebe nächstens ,, physikalisch" begründen. Oder sollte vielleicht der geringe Unterschied in der chemischen Zusammen- setzung der Milch beim Menschen und den übrigen Säugetieren jene ,, scharfe Trennung" bedingen ? Indessen bin ich bei meiner mangelhaften zoologischen Bildung nicht berechtigt, in diesen schwierigen Fragen mitzureden; das hat Brass deutlich gezeigt: „Haeckel weiß leider nicht genau, was ein Wirbeltier ist; vor alle 71 Dingen hat er von der N atur der Säugetiere herzlich wenige -posi- tive Kenntnisse!'-'- ( — Zum Belege vergleiche man meine Anthropo- genie und die Systematische Phylogenie der Säugetiere, 7. Kapitel meiner Systematischen Phylogenie der Wirbeltiere 1895. — ) Rudimentäre Organe. ,, Überflüssige rudimentäre Organe gibt es nicht!" („Wahrheit" 1906, S. 68.) Mit diesem über- raschenden Dekrete streicht Brass auf einen Schlag ein ganzes großes Kapitel der Zoologie und Botanik, eines der interessantesten Kapitel der ganzen Biologie. Jeder Naturforscher, der nur ein wenig mit Systematik und Morphologie, oder mit Bionomie und Physiologie der Tiere und Pflanzen sich beschäftigt hat, weiß, daß — 3° — neben den „zweckmäßigen" Einrichtungen der Organisation über- all eine große Zahl von Körperteilen zu finden ist, welche keinen „Zweck" erfüllen, welche nutzlose, überflüssige Anhängsel des Or- ganismus sind und ohne jeden Schaden für denselben entfernt werden können. Beispiele hier dafür anzuführen, ist überflüssig; ich habe im ersten und zwölften Kapitel der ,, Natürlichen Schöp- fungsgeschichte" (1868) deren eine Anzahl zusammengestellt und darauf hingewiesen, wie diese „verkümmerten, fehlgeschlagenen oder abortiven Organe" die höchste Bedeutung für die Deszendenz- theorie und die darauf gegründete monistische Weltanschauung besitzen. Im 19. Kapitel der Generellen Morphologie (1866) hatte ich diese bedeutungsvollen Erscheinungen eingehender erörtert und einen besonderen Zweig der biologischen Philosophie als Un- zweckmäßigkeitslehre {Dysteleologie) dafür gegründet, als Gegen- stück zu der herrschenden und althergebrachten Zweckmäßig- keitslehre {Teleologie). Seitdem ist in Tausenden von Arbeiten die weite Verbreitung und die hohe phyletische Bedeutung dieser rudimentären Organe anerkannt und zugestanden worden, daß sie nur durch die Abstammungslehre zu erklären und daher wertvolle indirekte Beweise für deren Wahrheit sind. Alle diese Arbeiten waren vergebens! Denn Brass dekretiert jetzt, daß sein anthro- pistischer Schulgott, der allweise und allmächtige Weltenbaumeister, von Anfang an alles für einen ganz bestimmten höheren Zweck weise eingerichtet und frei erfunden hat (S. 72, 73). Speziell für den Menschen behauptet er, „daß im Aufbau seines Körpers und in der Tätigkeit seiner Organe auch nicht der kleinste Überfluß, nicht die geringste Unzweckmäßigkeit herrschf^ (S. 68). Nun vergleiche man hierzu das treffliche Buch von R. Wiedersheim: ,,Der Bau des Menschen als Zeugnis für seine Vergangenheit" (4. Aufl. 1908). Hier sind sehr zahlreiche rudimentäre Organe an unserem Körper eingehend untersucht und gezeigt, daß sie sich nur durch unsere Abstammung von niederen Wirbeltieren erklären lassen. Man erstaunt über die Unwissenheit und Leichtgläubigkeit der Keplergemeinde, die sich von ihrem Zoologen Brass solche dreiste Unwahrheiten aufbinden läßt! Gewebe des Menschen. Der „Keplerbund" hält es für eine seiner wichtigsten Aufgaben, die „Frage aller Fragen", das Menschenproblem, in rein dualistischem Sinne zu erledigen: Dr. Brass bringt nun folgende „Beweise" für die isolierte Sonder- stellung des Menschen in der Natur: „Die Zellen der Gewebe des Menschen unterscheiden sich ganz auffällig von denen anderer Säugetier e.'''' („Wahrheit" 1906, S, 34.) Diese Behauptung von — 31 — Brass, die er mir „als kovifetenter Fachmann verraten will'"'', ist eine dreiste Erfindung, bloß darauf berechnet, sein „Kepler- Publikum" irrezuführen. Jeder Histologe, ja jeder Student, jeder Arzt, der jemals die Gewebe des Menschen sorgfältig mikroskopisch untersucht hat, weiß, daß deren gröbere und feinere Struktur, die morphologischen und physiologischen Eigenschaften der sie zu- sammensetzenden Zellen, beim Menschen dieselben sind wie bei den übrigen Säugetieren. Seit 60 Jahren, seitdem Tausende von genauen Beobachtungen über die Struktur der Epithelien und Drüsen, der Knorpel und Knochen, der glatten und quergestreiften Muskeln, der Nerven und Ganglienzellen angestellt wurden, ist es nicht gelungen, irgendwelche histologischen Unterschiede zwischen den Menschen und den übrigen Säugetieren festzustellen. In allen histologischen und anatomischen Lehrbüchern werden Tausende von Figuren dieser Zellen und der aus ihnen zusammengesetzten Gewebe abgebildet, die von verschiedenen Säugetieren entnommen sind und zugleich für den Menschen gelten sollen. Diese müssen sämtlich ( — nach der Auffassung von Brass und Dennert — ) für „verwerfliche Fälschungen" erklärt werden, welche ,,das Ansehen der Wissenschaft aufs schwerste schädigen." Erst dem großen Brass war es vorbehalten, endlich die merkwürdigen Eigen- tümlichkeiten zu entdecken, welche eine histologische Scheidewand zwischen dem Menschen und den übrigen Säugetieren aufrichten; leider hat er uns nicht „verraten^\ worin dieselben bestehen. Kritik der Stammbäume. Brass behauptet in seiner „Wahr- heit" (1906, S. 25): „Die Stammbäume, welche Haeckel und seine Schüler hypothetisch aufstellen, erscheinen dem Fachmann wie eine zum Teil absichtliche, wider besseres Wissen abgegebene Ent- stellung der 1 atsachen.'-'- Die Unwahrheit dieser Behauptung liegt für jeden ehrlichen und sachkundigen Fachmann klar zutage. Seitdem ich 1866 in der Generellen Morphologie die ersten Ent- würfe von Stammbäumen gegeben, sie in der ,, Systematischen Phylogenie" strenger ausgeführt, in der „Natürlichen Schöpfungs- geschichte" weiteren Kreisen zugänglich gemacht habe, war ich stets bemüht, ihre Bedeutung als heuristischer Hypothesen zu betonen, und als solche haben sie (ebenso wie Tausende von ähnlichen Versuchen anderer Zoologen und Botaniker) bereits große Dienste geleistet. Immer habe ich ihren provisorischen Cha- rakter hervorgehoben und nach bestem Wissen mich bemüht, sie möglichst naturgemäß den bekannten Tatsachen anzupassen. Eizelle des Menschen. Den Ausgangspunkt aller Untersuchungen über die individuelle Entwickelung bildet beim Menschen, wie bei allen übrigen Tieren, die Eizelle. Ich habe deren Bildung und Bedeutung in meiner Anthropogenie ausführlich besprochen und durch zahlreiche Abbildungen erläutert. Daher kann ich mich hier auf eine kurze kritische Betrachtung der wichtigsten Verhält- nisse beschränken; diese ist aber deshalb nicht zu umgehen, weil die Pharisäer des Keplerbundes auch hier die Wahrheit zu fälschen versuchen; sie behaupten, daß der Mensch schon im Beginne seiner Existenz, als Eizelle, „ganz Charakteristisches'-'' zeige, das bei den Eizellen der Affen nicht zu finden sei (Brass 1906, S. 28). Dieser ,, christliche Embryologe" scheint durch „göttliche Offen- barung" mikroskopischer Enthüllungen teilhaftig zu werden, die allen übrigen Beobachtern verschlossen sind; er flunkert: „Die menschliche Eizelle unterscheide ich wenigstens noch absolut sicher von der zahlreicher A-ffen.'' (S. 34); — leider hat er weder in Wort noch in Bild angegeben, worin diese „Charakteristischen Unterschiede" bestehen! Er vertröstet uns bezüglich dieser, wie anderer wichtigen Entdeckungen immer auf seine zukünftigen Werke: „Davon noch später"! Selbstverständhch sind individuelle ,, Verschiedenheiten" der Eizellen beim Menschen wie bei allen höheren Tieren, sicher an- zunehmen ; denn die bekannte Tatsache der individuellen Un- gleichheit aller einzelnen Personen ( — auch aller Kinder eines Elternpaares — ) ist auf verschiedene chemische Beschaffenheit oder Molekulardifferenzen der beiden Keimzellen zurückzuführen, aus deren Vermischung das Individuum im Momente der Be- fruchtung entsteht. Aber diese Unterschiede, die wir hypothetisch voraussetzen müssen, sind weder durch das Mikroskop noch durch das chemische Experiment nachzuweisen. Vielmehr erscheint das Ei des Menschen dem Ei anderer höherer Säugetiere, auch bei Anwendung der stärksten Vergrößerung und der feinsten chemi- schen Reagentien, so ähnhch, daß niemand sie unterscheiden kann. Embryonenbilder. Keimformen der höheren Wirbeltiere sind auf jüngeren Stufen der Entwicklung so auffallend ähnlich, daß man ohne Kenntnis ihrer Herkunft sie überhaupt nicht unterscheiden kann. Diese embryologische Tatsache war schon den älteren Naturforschern bekannt und ist jederzeit sehr leicht durch Vergleichung von Prä- paraten und Abbildungen zu erhärten. Insbesondere ist bei den drei höheren Wirbeltierklassen, die wir als Amnioten zusammen- fassen (Säugetieren, Reptilien und Vögeln), auf gewissen frühen — 33 — Bildungsstufen die Ähnlichkeit der äußeren Gestalt und der inneren Struktur überraschend; auch die erfahrensten Sachkenner sind nicht im Stande, die jüngeren Embryonen von Amniontieren zu unter- scheiden, welche im entwickelten Zustande so auffällig verschieden sind, wie Mensch und Affe, Hund und Kaninchen, Vogel und Eidechse. Das hat bereits Carl Ernst von Baer in seiner klassischen ,, Ent- wicklungsgeschichte der Tiere" gelehrt (1828, Anhang 21, S. 221). Wenn wir diese überraschenden Tatsachen im Lichte der Deszendenztheorie betrachten, so finden sie ihre einfache Erklärung durch das ,, Biogenetische Grundgesetz", durch die Annahme, daß diese auffällige „Formverwandtschaft" die Folge wahrer ,, Stamm- verwandtschaft" sei. Die ontogenetische Tatsache wird ver- ständlich durch die phylogenetische H/pothese. In gbicher Weise, wie die verschiedenen Amniotenformen sich aus der gleichen Keimform entwickeln, haben sie sich ursprünglich aus einer und derselben Stammform hervorgebildet. Aber auch wenn wir diese Annahme nicht machen wollen, folgt jedenfalls daraus, daß ihre Entwickelung nach denselben gemeinsamen Gesetzen verläuft. Da ich demgemäß in diesen Erfahrungs-Tatsachen der verglei- chenden Embryologie einen bedeutungsvollen (indirekten!) Beweis für die Wahrheit der Deszendenztheorie erblicke, habe ich in meh- reren Schriften eine Anzahl von verschiedenen Amnioten-Embryoiien auf drei verschiedenen Entwickelungsstufen nebeneinander gestellt (vgl. L. N. 4). Dabei habe ich absichtlich auf un^vesentliche Zag;a des Embryonenbildes kein Gewicht gelegt, um die wesentlichen desto deutlicher hervortreten zu lassen. Gerade diese ,, Schema- tisierungen" sind es, welche Brass und seinen Kepleristen die dank- barsten Angriffspunkte für ihre Verleumdungen geliefert haben; sie wurden auch von anderen Autoren ,, nicht gutgeheißen". Daß die sogenannte „exakte Schule" an solchen Darstellungen ( — wie überhaupt an jeder ,,Vergleichung'' — ) von vornherein Anstoß nahm, ist begreiflich; und ebenso, daß die Jesuiten darauf- hin den Mythus von meinen „Fälschungen" verbreiteten. Dabei „fälschten" sie selbst den Tatbestand in der unverfrorensten Weise; sie gaben an, ich habe eine vollständige Identität der ver- glichenen Embryonen behauptet, während ich doch nur hervor- gehoben hatte, daß ihre Ähnlichkeit zum Verwechseln groß und wirklich ,, täuschend" sei. Weder ich noch irgend ein anderer Naturforscher hat die unsinnige Behauptung aufgestellt , daß die Embryonen von Mensch und Affe, von Hund und Kaninchen, auf irgend einer Entwickelungsstufe ,, identisch" seien; denn das wird ja schon durch die Tatsache der embryonalen Entwickelung selbst Haeckel, Saadalion. 3 — 34 — widerlegt. Schon bei der einfachen kugeligen Keimzelle sind che- mische Unterschiede in der molekularen Zusammensetzung des Plasma ( — sowohl des Karyoflasina, der Kernsubstanz, als des Cyto-plasma, der Zellsubstanz — ) mit Sicherheit anzunehmen, ob- wohl mit unseren beschränkten Hilfsmitteln nicht nachzuweisen. Diese Annahme allein erklärt uns die Tatsache, daß jedes Kind Eigenschaften von beiden Eltern geerbt hat. Das Kernplasma der Eizelle überträgt die mütterlichen, das Kernplasma der Sperma- zelle die väterlichen Eigenschaften; in den individuellen Verschie- denheiten ihrer chemischen Zusammensetzung und in der beson- deren Mischung [Amfhimixis) dieser beiden verschiedenen Keim- bestandteile ist der wahre Grund der „Individuellen Ungleichheit" zu suchen, die überall besteht. (Vgl. uwltn: „Dank den Jesuiten'''-!) Diese Auffassung habe ich bereits 1866 (im fünften und sechsten Buche der „Generellen Morphologie") eingehend begründet. Körperform und Struktur der Embryonen. Die Vergleichung der äußeren Körperform der fraglichen Embryonalzustände be- weist zunächst nur die morphologische Zusammengehörigkeit zu einer natürlichen Gruppe (Klasse, Ordnung, Familie); sie gewinnt ihren hohen philosophischen Wert erst durch die phylogenetische Deutung. Für diese ist aber ungleich wichtiger die Übereinstim- mung in dem inneren Körperbau, in der gröberen (organologi- schen) und der feineren (histologischen) Struktur. Auch diese ist nicht absolut; sie ist aber so vollkommen, daß sie in der ver- gleichenden Anatomie schlechthin als ,, Gleichheit", nicht bloß als ,, Ähnlichkeit" behandelt v\ird. Es ist zu verwundern und zu be- dauern, daß diese wichtigste Tatsache der vergleichenden Anatomie und Ontogenie ( — auf die ich von jeher den höchsten Wert ge- legt habe — ). in diesem verworrenen Streite nicht mehr betont, und namentlich von den 46 Kollegen, die in der Leipziger Deklara- tion für mich eingetreten sind, nicht in den Vordergrund gestellt worden ist. Material der Embryonen. Eine Fülle von Irrtümern auf diesem entlegenen Gebiete der embryologischen Beobachtung und Ver- gleichung ist dadurch bedingt, daß genügendes Material schwierig oder überhaupt nicht zu beschaffen ist. Die lebendig gebärenden Säugetiere sind in dieser Beziehung ganz ungünstig gestellt, im Vergleiche zu den eierlegenden, nächstverwandten Sauropsiden (Vögeln und Reptilien). Das klassische Hauptobjekt der embryo- logischen Forschung war von jeher das Huhn, von dem Eier jeder- zeit in beliebiger Menge zu erhalten und in der Brütmaschine künstlich auszubrüten sind. Wie verhängnisvoll dieser Umstand — 35 — war, wie weit sich gerade die Ontogenese der Vögel von dem ur- sprünglichen (erst spät mittels des Amphioxus erkannten) Typus der Vertebraten-Entwickelung entfernt hat, habe ich im zweiten Vor- trage der Anthropogenie erläutert. Dagegen ist die Keimesgeschichte der Säugetiere erst viel später bekannt geworden. Bei den meisten Mammalien ist das Ei, wie beim Menschen, sehr klein, mit bloßem Auge kaum als feines Pünktchen sichtbar, von o,i — 0,2 mm Durch- messer. Nachdem das zarte durchsichtige Kügelchen aus dem Eierstock ausgetreten ist, kann es nur sehr schwer in der weichen Schleimhaut des Eileiters und des Fruchtbehälters aufgefunden werden. Von vielen der größten Säugetiere sind junge Embryonen noch niemals oder nur selten bekannt geworden; vom Pferde z.B. kennt man noch keine vollständige Entwickelungsreihe. Vom Menschen sind die ersten Stufen derselben (aus der ersten Woche) noch nie- mals gesehen worden; der jüngste Keim, das 2 mm lange Sandalion, ist schon 10 — 12 Tage alt (Fig. A, B, C unserer Tafel). Der Körper dieser jüngsten Embryonen ist bei allen Säuge- tieren sehr zart und weich; er kann bei der Präparation sehr leicht durch Druck oder Dehnung eine andere Gestalt annehmen; ebenso durch Konservierung in verschiedenen Flüssigkeiten (z. B. Schrump- fung durch Erhärtung in Alkohol). So erklärt es sich, daß die B.lder, welche selbst die sorgfältigsten Beobachter von einem und demselben Objekt geben, vielfach voneinander abweichen. In neuerer Zeit erst sind Normentafeln von zwei Embryologen, die besonderes Gewicht auf die peinlichste Genauigkeit der Abbildungen legen, von W. His und von F. K ei bei, herausgegeben worden; vergleicht man dieselben scharf, so findet man keineswegs die absolute Identität der äußeren Körperform, wie sie in mathematischem Sinne ver- langt werden sollte. Ebenso erscheinen auch die zahlreichen Bilder, welche diese und andere zuverlässige Autoren (z. B. Rabl) von menschlichen Embryonen aus der dritten bis fünften Woche der Entwicklung geliefert haben, keineswegs absolut identisch; selbst die verschiedene Art der graphischen Darstellung bedingt hier ge- wisse Abweichungen. Auch die Photographie liefert kein besseres Resultat. Außerdem zeigen sich schon frühzeitig wirkliche Form- unterschiede der Embryonen bei verschiedenen Rassen oder Varie- täten einer und derselben Art (sehr auffallend z. B. beim Hund). „Die individuelle Variation des Wirbeltierembryo" hat in einer sorgfältigen Arbeit Ernst Mehnert eingehend behandelt. Mehr oder weniger auffallende Abweichungen von der gewöhnhchen Norm kommen beim Embryo ebenso wie beim reifen Tiere vor. Es scheint, daß selbst die Embryonen verschiedener Menschenrassen 3* - 36 - (z. B. Australneger, Japaner, Europäer) schon in frühen Stadien etwas voneinander abweichen. Natürlich kommt es bei diesen Ver- gleichungen darauf an, daß nur Embryonen derselben Bildungsstufe miteinander verglichen werden, und das ist oft nicht leicht. Bei den jüngeren Embryonen der Säugetiere vollziehen sich z. B. am Kopfe die Umbildungen der Kiemenbögen so rasch und sind so schwierig zu verfolgen, daß die Bilder, wenn sie nicht genau gleich- alten Keimen entnommen sind, oft beträchthch verschieden er- scheinen. Auch durch kleine, an sich unbedeutende Abweichungen in der zufälhgen Stellung der Gliedmaßenanlagen, oder der Krüm- mung des Schwanzes, kann die Täuschung wirkhcher Differenz entstehen (G. Schwalbe, Morphologische Arbeiten Bd. V, Heft 2, S. 386—444)- Zweck der Embryonen- Vergleichung. Angesichts der heftigen Angriffe, die von beiden Jesuitenbünden gegen meine Embryonenbilder gerichtet wurden, ist noch besonders zu betonen, daß diese in populären Schriften erschienen sind; sie sollen dazu dienen, dem Laien eine Anschauung von diesen bedeutungsvollen Tatsachen der Keimesgeschichte zu vermitteln, die seinem Bildungskreise, ebenso wie dem gewöhnhchen Schulunterricht, ganz fern liegen. Daher kam es vor allem darauf an, das Wesentliche hervorzuheben und die unwesentHchen Nebensachen (z. B. EihüUen, Dottersack) zurücktreten oder ausfallen zu lassen. Dagegen habe ich niemals den Anspruch erhoben, durch diese Darstellungen dem Fachmann neue morphologische Entdeckungen zu bieten. So töricht bin ich nicht, durch „Vorspiegelung falscher Tatsachen'' die Em- bryologen vom Fach irre führen zu wollen, wie Brass und andere meiner jesuitischen Gegner behaupten. Was hätte ich damit er- reichen wollen und können? Ich hebe daher ausdrücklich hervor, daß die geringen Veränderungen der äußeren Körperform, die ich hier und da an einzelnen Embryonen vorgenommen habe ( — die „gewissenlosen Fälschungen" des Keplerbundes! — ) ledighch zum Zwecke des besseren Verständnisses für den gebildeten Laien vorgenommen wurden. Es sind „Schemabilder", Diagramme oder „vereinfachte und schematisierte Figuren", wie sie tausendfach nicht nur in populären Schriften, sondern auch in wissenschaftlichen Werken tagtäglich angewendet werden. Zur gerechten Beurteilung meiner vielfach getadelten (zuerst l868 pubHzierten) vergleichenden Darstellung von Wirbeltier- Embryonen ist zu bemerken, daß damals, vor 42 Jahren, die ver- gleichende Embryologie noch wenig bearbeitet war; gute Abbil- dungen, besonders von jüngeren Stufen der Entwickelung, waren — 37 — selten und schwer aufzutreiben. Erst in den letzten 30 Jahren hat dieser wichtige Zweig der Entwickelungslehre einen mächtigen Auf- schwung genommen. Aber auch jetzt noch sind viele empfindhche Lücken in den Beobachtungen vorhanden, die nur durch ver- gleichende Synthese provisorisch ausgefüllt werden können. Das Recht zu einer Herstellung solcher schematischen Bilder, besonders zur Illustration schwieriger Formverhältnisse, ist in Lehr- büchern und populären Werken allgemein anerkannt. Ich habe in meinen populären Schriften davon nur den üblichen Gebrauch ge- macht und sie niemals für exakt ausgegeben. H. Schmidt f'Z)o^M- mente, S. 88) bemerkt darüber treffend: „Der jesuitische Kniff der Ke-plerbündler Dennert und Brass liegt darin, daß sie selbst erst entgegen Haeckels eigener Absicht seine schematisch en Abbildungen zu exakt sein sollenden machen, um sie dann mit einem Schein von Recht als wissenschaftliche Fälschungen brandmarken zu können." Gegenüber den scharfen Angriffen, welche Dr. Brass gegen mich wegen der angeblichen ,, Fälschungen von Embryonen" ge- richtet hat, ist besonders wichtig das Urteil, welches einer der kenntnisreichsten und urteilsfähigsten Embryologen, Professor Carl Rabl (Leipzig) abgegeben hat (in der Frankfurter Zeitung vom 5. März 1909). Nachdem er die „Unwissenheit und Oberflächlich- keit" von Brass und die zahlreichen Fehler, denen man in seiner Schrift über das Affen-problem auf Schritt und Tritt begegnet", scharf beleuchtet hat, sagt er über meine schematisierten Bilder: „Von Fälschung und Betrug kann nie und nimmer die Rede sein; davon könnte nur dann gesprochen werden, wenn absolut naturgetreue Ab- bildungen zu anderen Schlüssen führten, als die Haeckelschen Schemata; dies ist aber nicht der Fall. Im Laufe der letzten jo Jahre sind viele Tausende von Embryonen der verschiedensten Wirbeltiere durch meine Hände gegangen, und ich erkläre, daß sich Haeckels phylo- genetische Deduktionen durch absolut naturgetreue Bilder weit besser und überzeugender beweisen ließen, als durch seine eigenen Schemata". (Heinrich Schmidt, Dokumente, S. 66.) Sandalion der Wirbeltiere. Mit dem Namen Sandalion oder „Sandalenkeim" bezeichnen wir einen der interessantesten und wichtigsten Naturkörper. Das ist jene bedeutungsvolle Keimform der höheren Wirbeltiere oder Amnioten (Säugetiere, Vögel und Reptilien) welche die einfache Gestalt einer Sandale oder Schuh- sohle besitzt; also eine dünne länglich runde Scheibe, die in der Mitte schmäler, an beiden Enden abgerundet und etwas breiter ist (Fig. A, B, C). Der Körper jedes amnioten Wirbeltieres läßt auf dieser frühen Entwickelungsstufe noch nichts von der spä- - 38 - teren charakteristischen Gestalt erkennen. Da ist äußerUch noch keine Scheidung von Kopf, Rumpf und Schwanz wahrzunehmen, keine Spur von Sinnesorganen, keine Andeutung der beiden Zygo- melen oder Ghedmaßenpaare. Auch fehlt noch die Vertebration oder „Wirbelbildung", jene typische innere Gliederung des Körpers, durch welche derselbe in eine Kette von vielen gleichartigen, hintereinander gelegenen Wirbelstücken zerlegt wird, den Urwirbeln oder Somiten. Struktur des Sandalion. Der Körperbau des Sandalenkeims, sein Aufbau aus wenigen einfachen Primitivorganen, bleibt bei sämtlichen Amnioten derselbe, wenn auch seine äußere Körper- form in den einzelnen Gattungen geringfügigen Abweichungen unterliegt (besonders in dem Verhältnis der Länge zur Breite, in der Abrundung der vorderen und hinteren Hälfte, usw.). Überall besteht der Körper des ungegliederten Sandalion nur aus den vier Keimblättern, aus denen sich ganz allgemein der Leib sämtlicher Wirbeltiere entwickelt, den beiden Grenzblättern (äußerem und innerem, Ektoderm und Entoderm) — und den beiden Mittel- blättern, die zwischen beiden liegen und als Mesoderm zusammen- gefaßt werden. Jedes der vier dünnen, dicht übereinanderliegenden Keimblätter ist aus vielen tausend einfachen Zellen zusammen- gesetzt. Bei der Ansicht von oben (von der Rückenseite des Keimschildes oder der Embryonalanlage) — wie sie unsere drei Figuren A, B, C zeigen — ist nur das äußere Keimblatt sichtbar, das Hautsinnesblatt. In seiner Mittellinie, zwischen rechter und linker Hälfte, verläuft eine gerade Furche, die Markrinne oder „Medullarfurche", die Anlage des Zentralnervensystems (Rücken- mark und Gehirn). Hinter derselben (unten) ist ein kleines rundes Loch sichtbar, der Markdarmgang (Canalis neurentericus) ; er führt vorübergehend aus dem hinteren, noch offenen Ende der Mark- rinne in den darunter gelegenen Urdarm, die Anlage des späteren Darmrohres. Diese öffnet sich hinten durch den Urmund (Prostoma oder Blastoforus), früher als Primitivstreif oder Primitivrinne be- zeichnet (Fig. A, B, C). Eine eingehende Beschreibung dieser wichtigen Strukturverhältnisse und der merkwürdigen Vorgänge, durch welche sich daraus die späteren Organe entwickeln, habe ich im zwölften und dreizehnten Vortrage meiner Anthropogenie gegeben. (Vgl. besonders S. 313 — 390 und Taf. IV — XIII.) Menosoma und Embryorgane. Der Dauer leib (Menosoma) der Amnioten, d. h. der bleibende Körper mit allen seinen Organen, entwickelt sich allein aus dem Mittelteil des ganzen Keims, aus dem Sandalion (ursprünglich Discogastrula). Außerdem aber — 39 — zeigt der Amnioten-Embryo noch eine Anzahl von vergänglichen Keimorganen (Embryorgana), die nur vorübergehend mit dem Sandalenkeim zusammenhängen und keinen Anteil an dem Aufbau des bleibenden Körpers nehmen. Diese sogenannten „extraembryo- nalen Organe" sind: i. Der Dottersack (Lecithoma) der zur Er- nährung des Embryo dient, 2. der Urharnsack (Allantois) ein embryonales Atmungsorgan, und 3. die schützenden Keim hüllen (Embryolemma): Wasserhaut (Amnion), Serumhaut (Serolemma) und Zottenhaut (Chorion). (Vgl. die zwölfte Tabelle meiner Anthro- pogenie, S. 310.) Vergleichung der Sandalenkeime. Zu den interessantesten und wichtigsten Schlüssen führt uns die unbefangene kritische Ver- gleichung der Sandalien in den verschiedenen Ordnungen und Familien der Amnioten. Denn überall erscheinen sie in wesent- lich derselben Form, überall in der gleichen Zusammensetzung der vier Keimblätter und in beständiger Beziehung zu den Organen, die sich daraus entwickeln. Unter den Reptilien besitzen die Eidechsen und Schlangen, die Krokodile und Schildkröten im wesentlichen die gleiche Bildung des Schuhsohlen-Embryo; unter den Vögeln die Hühner und Tauben, die Enten und Finken; unter den Säugetieren die Schnabeltiere und Beuteltiere, die Schweine und Wiederkäuer, die Mäuse und Kaninchen, die In- sektenfresser und Raubtiere, die Fledermäuse und Affen (vgl. Taf. IV und V, Taf. VIII — XIII meiner Anthropogenie, und im Texte Fig. 123 — 138). Wie verschieden sind alle diese mannigfaltig ge- stalteten Amniontiere im entwickelten Zustande, und dennoch entwickeln sich alle aus der gleichen Keimform! Und wie verhält sich nun das höchste aller Amniontiere, der Mensch? Er bildet auch hier keine /Ausnahme! (L. 5.) Sandalion des Menschen. In Fig. B und C unserer Tafel sind die beiden einzigen, sicher und vollständig beobachteten Exemplare des menschlichen Sandalion im frühesten Bildungszustande dar- gestellt: Kopien aus dem schönen ,, Handatlas der Entwickelungs- geschichte des Menschen", von Julius Kollmann (Jena 1907, Fig. 180, 182). Im Jahre 1889 ( — also vor 21 Jahren! — ) ver- öffentlichte Graf F. Spee im Archiv für Anatomie „Beobach- tungen an einer menschlichen Keimscheibe mit offener Medullar- rinne und Canalis neurentericus". Die vortrefflichen Abbildungen, welche Graf Spee von diesem höchst wichtigen Sandalen- keim des Menschen und von den bedeutungsvollen Durch- schnitten durch denselben gegeben hat, sind in alle neueren Lehr- bücher und Atlanten der Embryologie übergegangen, so z. B. in — 40 — das weitverbreitete „Lehrbuch der Entwickekingsgeschichte des Menschen und der Wirbeltiere" von Oskar Hertwig (S.Auflage, 1906, S. 179, Fig. 222 — 224). Ich selbst habe sie in meiner „Anthro- pogenie" wiedergegeben (VI. Aufl., 1910, S. 255, Fig. 100 und S. 320, Fig. 136). Dieser berühmte Sandalenkeim des Menschen — von zwei Millimeter Länge! — besitzt die höchste Bedeutung, nicht allein für die Ontogenie, sondern auch für die Phylogenie des Menschen. Denn er ist der jüngste und kleinste Embryo unseres Geschlechts, von dem wir bis jetzt sichere Beobachtungen und klare, die ganze feinere Struktur enthüllende Durchschnitte besitzen; er ist wahrscheinlich zwölf Tage alt („vom Ende der zweiten Woche") ; jüngere Embryonen des Menschen sind bisher noch nie zur Be- obachtung gelangt, obwohl solche täglich tausendweise erzeugt werden. Das „Sandalion" besitzt auf dieser frühen Bildungs- stufe genau dieselbe äußere Gestalt und dieselbe innere Zusammen- setzung, wie bei den nächstverwandten Säugetieren. Die schuh- sohlenähnliche dünne Keimscheibe (in der Mitte ein wenig schmäler) ist ungefähr doppelt so lang als breit und zeigt auf der Rücken- fläche in der Mittellinie vorn die Medullarrinne (Anlage des Rücken- marks), hinten die Primitivrinne (den Urmund der Gastrula) und zwischen beiden, sie verbindend, den ,, Markdarmgang" (Canalis neurentericus). Auf dem Querschnitt (Anthropogenie, S.255, Fig. 100) sieht man die vier sekundären Keimblätter. Die Anlage des mittleren Blattes (Mesoderm) und das Verhalten seiner beiden Lamellen zu den beiden Grenzblättern (Ektoderm und Entoderm), sowie ihre Bedeutung für die daraus sich entwickelnden Organe, sind beim Menschen genau dieselben wie bei allen anderen Säugetieren (z. B. beim Kaninchen, Anthropogenie, S. 254, Fig. 99). Embryorgane des menschlichen Sandalion. Von besonderem Interesse für unseren ,, Embryonenkampf" ist die eigentümliche Bildung der vergänglichen ,, extraembryonalen Keimorgane" des menschlichen Sandalenkeims. Der wichtigste Teil dieser Embryo- Organe ist in dem berühmten Embryo des Grafen Spee (Fig. B) nur in Bruchstücken erhalten; besser in dem wenig älteren Embryo, welchen Eternod später abgebildet hat (Fig. C). Beide Figuren zeigen übereinstimmend das Amnion oder die „Wasserhaut", den zarten, mit „Fruchtwasser" gefüllten „Fruchtsack", welcher den Sandalenkeim unmittelbar schützend umschHeßt. Darunter hegt (auf seiner Bauchseite) der birnförmige Dottersack {Saccus vitellinus), der Rest des ursprünglich größeren Ernährungsorgans, dessen letzter Überrest später noch als ,, Nabelbläschen" zu finden ist. In dem — 41 — Sandalion von Eternod (Fig. C) ist er vollständig erhalten, in dem jüngeren von Spee (Fig. B) nur teilweise und zerrissen. Ana hinteren Ende, unterhalb der Primitivrinne, sitzt der kurze dicke Bauchstiel {Pedunculus umbilicalis), der sich später zum Nabel- strang verlängert; das ist der Allantoisstiel, vereinigt mit dem ver- lagerten Amnionstiel und dem rudimentären Dottersackstiel. Er geht außen über in die Zottenhaut (Chorion); von einem abgeschnittenen Bruchstück dieses Chorion sind in Fig. B nur wenige, in Fig. C zahlreichere 'verästelte Zotten dargestellt. Die glatte Innenfläche des Chorion ist von dem Serolemma oder der „serösen Hülle" aus- gekleidet. (Vgl. das Nähere im 15. Vortrage meiner Anthropogenie : „Keimhüllen und Keimkreislauf".) Bauchstiel des Menschenkeims. Aus einem Teile der Zotten- haut (Chorion) und der Blutgefäße, welche durch den Allantois- stiel zu ihr übergeführt werden, entwickelt sich das wichtigste Ernährungsorgan des Embryo, der Gefäßkuchen oder ,, Mutter- kuchen" (Placenta). Der feinere Bau dieses Embryorgans und sein Verhalten zum Bauchstiel, zeigen beim Menschen verwickelte und ganz eigentümliche Verhältnisse, und die Gegner der Ab- stammungslehre wiesen noch vor 20 Jahren triumphierend darauf hin, daß hier ein ganz besonderer Unterschied des Menschen von allen übrigen Säugetieren vorliege. Da zeigte 1890 Selenka durch sehr gründliche Untersuchungen, daß ganz dieselbe eigentümliche Plazentabildung auch bei den Menschenaffen vorkommt, beim Orang und Gibbon. Somit ist sie nicht ein Gegenbeweis gegen die nahe Blutsverwandtschaft des Menschen und der Menschenaffen, sondern ein neuer schlagender Beweis zu ihren Gunsten (Anthro- pogenie S. 401, 660, 661). Urmund des Menschenkeims. Als ich 1872 (in meiner Mono- graphie der Kalkschwämme) die Lehre von der Homologie der Keimblätter bei allen Metazoen (oder vielzelligen ,, Gewebtieren") aufstellte und sie bald darauf in den „Studien zur Gasträatheorie^^ (1874) weiter ausführte, wies ich mit besonderem Nachdruck darauf hin, daß das älteste gemeinsame Organ aller Metazoen der Urdarm sei, und seine Öffnung der Urmund. Der ganze Leib der Geweb- tiere ist auf der Bildungsstufe der Gastrula im einfachsten Falle ein länglich rundes Säckchen oder Bläschen, dessen dünne Wand nur aus zwei einfachen Zellenschichten besteht, den beiden ,, Pri- mären Keimblättern" (Ektoderm und Entoderm); seine einfache Höhlung ist der Urdarm, seine Öffnung der Urmund (Anthropo- genie (S. 161 und 551). Indem ich nachwies, daß die mannigfach verschiedenen Keimformen aller Metazoen sich auf eine solche ge- — 42 — meinsame Urform der Gastrula zurückführen lassen, gründete ich ( — gestützt auf das biogenetische Grundgesetz — ) darauf den Schluß, daß alle Gewebtiere sich entsprechend von einer gemein- samen Stammform {Gastraea) hypothetisch ableiten lassen. Diese Gasträatheorie ist jetzt, nach langen Kämpfen, ziemlich all- gemein angenommen; nur Dr. Brass verwirft sie vollständig und sagt: „Die ganze Gasträatheorie ist nichts anderes als ein Zeugnis für die Ufikenntnis physiologischer Tatsachen.'''- (Wahrheit 1906, S. 29.) Die eigentümliche Form der sogenannten ,, Primitivrinne", welche der Urmund bei den Amnioten annimmt, verhält sich beim Menschen ebenso wie bei allen anderen Säugetieren, und speziell genau so wie bei den Menschenaffen. Hinter dem Markdarmgang {Canalis neurentericus) zieht sich in der Mittellinie des Sandalion ( — in der Längsachse des Körpers, entgegengesetzt der nach vorn sich erstreckenden Medullarfurche — ) eine Furche gegen das Hinter- ende herab. Diese ,, Primitivrinne" ist der Urmund, in den Ab- bildungen von Spee (Fig. B) und von Eternod (Fig. C) deutlich erkennbar. Was sagt nun Brass darüber? ,,W eichen "Zweck sie hat, das wissen wir nicht; oh sie beim Menschen vorhanden ist, das wissen wir noch weniger; denn die ersten Entwicklungsstadien des Menschen hat bis heute noch keines Menschen Auge xu sehen bekommen, trotz. der schönen Abbildungen, die Haeckel seinen gläubigen Lesern immer wieder als beweisende Tatsachen davon vorzusetzen beliebt " (Wahr- heit 1906, S. 53). Diese erstaunlichen Behauptungen von Brass lassen sich nur durch zwei Annahmen erklären! Entweder durch auffallende Un- kenntnis der wichtigsten Tatsachen, oder durch Leugnung derselben ,,Zu Ehren Gottes" {„In majorem Dei gloriam'''), wie er am Schlüsse seines ,,Wahrheits"-Pamphlets sagt (S. 44). Ent- weder kennt dieser große Embryologe (der sich als kompetenter Fachmann auf dreißigjährige Erfahrung beruft!) die wichtige, seit zwanzig Jahren bekannte Primitivrinne des menschlichen Sandalen- keims nicht, oder er unterschlägt sie und leugnet ihre Existenz, um die Sonderstellung des Menschen (als ,,Ebenbild Gottes"!) zu retten. Eine solche „freche Fälschung" ist ja nach dem bekannten Jesuitenkodex durchaus erlaubt, ja löblich, wenn sie nur „zu Ehren Gottes" geschieht, d.h. zum Nutzen der Ecclesia militans ( — und insonderheit der Kasse des frommen „Keplerbundes"! — ). Fälschung des Sandalion-Bildes. Der klassische Embryo des Grafen Spee besitzt aber auch neben diesem ontogenetischen und phylogenetischen noch ein be- — 43 — sonderes juristisches Interesse. Denn er bildet einen schweren Indizienbeweis für die böswiDigen ,, Fälschungen", durch die ich die Wissenschaft schwer geschädigt und meinen persönlichen Kredit eingebüßt haben soll. Es besteht bei allen fachkundigen und ur- teilsfähigen Embryologen kein Zweifel darüber, daß der Sandalen- keim beim Menschen, wie beim Kaninchen und bei allen anderen Säugetieren, völlig symmetrisch gestaltet ist; die rechte und linke Seitenhälfte des Körpers (welche in der Mittellinie vorn durch die Medullarrinne, hinten durch die Primitivrinne geschieden werden), sind an Größe und Gestalt vollkommen gleich. Dieser Annahme widerspricht aber scheinbar die Rückenansicht, die Spee gegeben hat (Fig. B). Denn hier ist der Körperumi-iß ein wenig unsym- metrisch, im Vorderteil die linke Hälfte etwas schmäler, im Hinter- teil umgekehrt etwas breiter als die rechte; auch liegt die Primi- tivrinne nicht gerade in der Mittellinie, sondern ist hinten etwas nach rechts verschoben. Kein unbefangener Beobachter, der die Schwierigkeiten der Präparation und Konservierung von solchen äußerst zarten und biegsamen, einem dünnen Blättchen gleichenden Keimscheiben kennt, zweifelt daran, daß jene Asymmetrie ganz zufällig ist und keine morphologische Bedeutung hat; sie ist bei der schwierigen Übertragung des delikaten, nur 2 mm langen, i mm breiten Blättchens auf den Objektträger entstanden. Wahrschein- lich ist dabei noch eine leichte Zerrung durch einen Rest des Dottersacks schädlich gewesen, der vorn auf der rechten Seite hängen geblieben ist. Graf Spee aber, der glückliche Finder dieses Schatzes, hat mit der größten Gewissenhaftigkeit den Sandalenkeim genau sc ( — exakt! — ) gezeichnet, wie er ihn auf dem Objektträger unter dem Mikroskop sah, nicht so (symmetrisch), wie man ihn sich mit Recht vorstellen muß. Nun habe ich in meiner Anthropogenie (S. 320) die Fio-ur von Graf Spee (in Fig. 136) ohne jede Änderung genau kopiert, daneben aber (in Fig. M I auf Taf. V) dasselbe Sandalion ver- bessert dargestellt; d. h. ich habe die zufällige Asymmetrie beider Körperhälften ausgeglichen und den störenden Rest des anhängenden Dottersackes, sowie den Bauchstiel und das Bruchstück der unten anhängenden Zottenhaut (die gar keine Bedeutung für die bleibende Körperform besitzen) weggelas'^en. Dies geschah behufs Ver- gleichung des menschlichen Sandalionkeimes mit den nebenstehenden ähnlichen Keimzuständen des Kaninchens und des Schweines. Die- selben drei Sandalien habe ich auf Tafel II meines Vortrages über das ,, Menschenproblem" (1907) zur Vergleichung nebeneinander gestellt. Ich wiederhole nun hier (in Fig. A.) das korrigierte — 44 — Schema des menschlichen Sandalion. Ich bin fest überzeugt, daß meine schematisierte Figur die wahre Körperform des symmetri- schen SandaHon richtiger wiedergibt, als die exakte ( — bis jetzt einzig dastehende — ) Abbildung des Entdeckers, Graf Spee; es wird also der Laie, der zum Vergleiche der Sandalenkeime des Menschen und anderer Säugetiere aufgefordert ist, aus der er:teren sich ein besseres Bild von den wirklichen Gestaltverhältnissen machen können, als aus der letzteren. Der Sandalenkeim vor Gericht. Da gerade diese „Schema- tisierung des Sandalion" von Brass (,, Affenproblem" 1909, S. 10) und von anderen Gegnern besonders scharf angegriffen, aber auch von kritischen Anhängern des biogenetischen Grundgesetzes ,, nicht gutgeheißen" wird, sei hier noch der Hinweis auf eine eventuelle gerichtliche Verurteilung dieser „ungeheuerlichen Fälschung der Tatsachen" gestattet. Wenn einem Staatsanwalt oder einem Richter dieser inkriminierte Fall vorgelegt würde, so wird sein Urteil v/ahr- scheinlich zu meinen Ungunsten ausfallen; denn er kennt weder die betreffenden embryologischen Objekte, noch die Methoden, welche bei ihrer Bearbeitung und Darstellung angewendet werden; er kann auch nicht wissen, worauf es bei dieser Vergleichung an- kommt. Er urteilt lediglich nach der Ähnlichkeit oder Verschie- denheit der beiden vorgelegten Bilder. Da nun in meinem schema- tisierten Bilde der störende Rest des Dottersackes weggelassen und die zufällige irreführende Asymmetrie beider Körperhälften aus- geglichen ist, wird er mein subjektives verbessertes Bild gegenüber den objektiven exakten Figuren des Grafen Spee für eine ,, Fäl- schung" erklären. Der exai;te Embryograph wird sich vielleicht diesem verwerfenden Urteile anschließen. Hingegen wird der ver- gleichende Embryologe, der das Wesentliche in beiden Objekten gleichartig findet, meine ,, Fälschung" für durchaus berechtigt und für den Lehrzweck nützlich finden. Weitere Fälschungen. An dem klassischen Beispiele des Sandalion habe ich im Vorstehenden nachgewiesen, wie schlau die Jesuiten eine schein- bare Ungenauigkeit einer schematisierten Figur zu benutzen wissen, um deren Autor als „Erbärmlichen Fälscher und Betrüger" an den Pranger zu stellen und dieser schweren Fälschungsanklage durch eine nicht sachverständige Presse die weiteste Verbreitung zu ver- schaffen. Indem sie die moralische Ehre und die persönliche Autorität des angeblichen Fälschers vernichten, hoffen sie dadurch — 45 — die verhaßte, von ihm geförderte Aufklärung ( — in diesem Falle durch die Entwickelungslehre — ) zu verhindern. Wie mit dem Sandalion, so verhält es sich auch mit den anderen Embryonenbildern, die ich „gewissenlos gefälscht" haben soll; sie sind Schemata oder Diagramme, in denen die absichtliche Verbesserung des unzureichenden Originalbildes lediglich dazu dienen soll, das schwierige Verständnis des Objektes dem Leser zu erleichtern. Wenn trotzdem die rührige und einflußreiche Jesuitenpresse noch fortfahren wird, mich wegen solcher angeblichen Fälschungen öffentlich zu beschimpfen und anzuklagen, so muß ich ihr selbst das Zeugnis zurückgeben: ,, Erbärmliche Fälschung und infame Verleumdung". „Omnia in majorem Dei gloriam/" Stichproben aus der Jesuitenpresse. ,,Haeckel ist der größte Schwindler, den die Sonne je be- schienen!" (Kirchlicher Anzeiger der katholischen Josefsgemeinde. Dortmund, April 1909.) ,, Professor Haeckel, der als Fälscher schon so und so oft gebrandmarkt worden ist, wird von keinem großen Gelehrten mehr ernst genommen!" (Ingolstädter Zeitung Nr. 61. — Vom 16. März 1909.) „Unter den Aposteln des Unglaubens gibt es kaum jemand, der so oft der Unwissenheit und Fälschung überführt worden ist, als der Affen-Professor Haeckel." (Offenburger Zeitung Nr. 153. Vom 10. Juli 1906.) „Nun ist auch der letzte Pionier auf dem Gebiete der wissenschaftlichen Veraffung des Menschen, nämlich Professor Haeckel, moralisch zu den Toten gelegt. Denn seine Bilder- fälschung wischt der Mann nicht mehr ab." (Bayrisches Vaterland, am 21. Januar 1909.) ,,Wie heißt der Haupterfinder und geistige Vater des Monismus? Haeckel! Was ist Haeckel? Ein erbärmlicher Fälscher und Betrüger, der, um sein System beweisen zu können, Einschiebsel macht." (Die Ostschweiz, St. Gallen, Nr. 173, am 30. Juli 1910.) ,, Professor Haeckel, der geistige Vater des Monistenbundes, der vor 15 Jahren noch eine Kolossalstatue in der Gelehrten- welt bildete und anfänglich geradezu verhimmelt wurde, ist jüngst als Fälscher entlarvt und moralisch durch und durch ge- richtet." (Recklinghäuser Zeitung, Nr. 47, vom 28. Februar 1910.) ,, Ernste Männer der Wissenschaft, vor allen sämtliche Naturforscher von Ruf, haben sich gegen Haeckel gewendet. - 46 - Die Wissenschaft hat ihn längst gerichtet und abgetan." ( — „Die Wahrheit"! Nr. 59. Troppau. — ) „Man beruft sich auf den berühmten Herrn Professor Haeckel in Jena, den unsterblich blamierten Taschenspieler mit Em- bryonenbildern". (Westfälisches Volksblatt, Paderborn Nr. 260, vom 9. Februar 1909.) Der Embryonen-Prozeß. Angesichts der schmachvollen Fäl- schungs-Anklagen der Jesuiten, der groben Beschimpfungen und Verleumdungen, mit denen mich die klerikale und reaktionäre Presse besonders in den letzten Jahren hartnäckig verfolgt, bin ich von Freunden und von Anhängern der monistischen Weltanschauung oft gebeten worden, meine Feinde vor Gericht zu ziehen und mir öffentliche Genugtuung zu erwirken. Aus mehreren Gründen habe ich das stets unterlassen und werde es auch fernerhin nicht tun. Ein unparteiischer und kompetenter Gerichtshof für einen solchen „Kampf um die Weltanschauung" — denn das ist in Wahrheit der Kampf um die Embryonen-Bilder! — ist überhaupt nicht zu finden. Über einen so verworrenen und schwierig zu beurteilenden Fall, wie die angebliche „Embryonen-Fälschung" können nur biologisch gebildete Sachverständige urteilen, und selbst diese können ganz verschiedener Meinung sein. Das hat sich deutlich gezeigt bei dem Rundschreiben, welches die beiden Direktoren des Kepler- bundes, Dennert und Teudt, im Januar 1909 an mehr als hun- dert deutsche Zoologen, Anatomen und Embryologen richteten, um womöglich ein einstimmiges Verdammungsurteil über mich zu erzielen. Sie erhielten darauf nur 15 Antworten, von denen 13 ,, höflich und sachlich lauteten". Dagegen hatte diese Provokation den unerwünschten Erfolg, daß in der vielbesprochenen Leipziger Deklaration 46 der angesehensten Biologen ihr Urteil zu meinen Gunsten abgaben und ,,den von Brass und dem Ke-plerbund gegen Haeckel geführten Kampf aufs schärfste verurteilten.'-'- (Vgl. H. S, „Dokumente^'' S. 50.) Ihre Zahl stieg auf rund fünfzig, da nach- träglich noch die Professoren F. Maurer (Jena), R. Semon (München), R. von Lendenfeld (Prag) und Rudolf Hoernes (Graz) sich in gleichem Sinne erUärten. (Vgl. S. 51, Nr. 22.) Nun konnten freilich die Keplerbund-Direktoren — sehr ent- täuscht über diesen unerwarteten Ausfall des von ihnen arrangierten „Ostrazismus" — zu ihrem Tröste darauf hinweisen, daß mehrere andere Biologen (darunter einige angesehene Schüler von mir) sich der Abstimmung enthalten oder selbst ungünstig geäußert hätten. Indessen bestätigt diese Tatsache nur die Richtigkeit der Ver- mutung, die ich in meiner Erklärung vom 24. Dezember 1908 — 47 — ausgesprochen hatte: „Wer unsere deutschen Embryologen kennt, mit ihren weit auseinander gehenden Zielen und Methoden, ihren wider- sprechenden allgemeinen Ansichten und Vorurteilen, der wird von vornherein von ihnen kein übereinstimmendes Urteil in dieser hoch- peinlichen Gerichtsverhandlung erwarten können."' (Vgl. Heinrich Schmidt, Dokumente S. i6.) Wen die einseitige und parteiische Darstellung dieses wunder- lichen ,, Embryonen-Prozesses" vom evangelischen Jesuitenstandpunkt aus interessiert, der lese die Broschüre des sehr frommen ( — aber sehr unwissenschaftlichen! — ) Direktors W. Teudt, eines früheren Missionsgeistlichen : „Im Interesse der Wissenschaft''''. (Godesberg 1909). Die Gehässigkeit und Heuchelei dieser ,, Gottes- kinder", verbunden mit unglaublichem Mangel an biologischen Kennt- nissen und logischem Denkvermögen, tritt hier in kläglichster Weise zutage. (Vgl. unten im Anhang Nr. 27.) Schlußwort. ,, Welche Stufe in der Erkenntnis der Wahrheit haben wir am Ende des neunzehnten Jahrhunderts wirklich erreicht? Und welche Fortschritte nach diesem unendlich entfernten Ziele haben wir im Laufe desselben wirklich gemacht?" Diese schwerwiegende Frage hatte ich 1899 im Vorwort zu der ersten Ausgabe der „Welträtsel" (S. V) aufgev\orfen und hinzugefügt: „Die Antwort auf diese großen Fragen, die ich hier gebe, kann naturgemäß nur subjektiv und nur teilweise richtig sein; denn meine Kenntnisse der wirklichen Natur und meine Vernunft zur -Beurteilung ihres objektiven Wesens sind beschränkt, ebenso wie diejenigen aller anderen Menschen. Das Einzige, was ich für dieselben in Anspruch nehme, und was ich auch von meinen entschiedensten Gegnern verlangen muß, ist, daß meine monistische Philosophie von Anfang bis zu Ende ehrlich ist, d. h. der vollständige Ausdruck der Überzeugung, welche ich durch vitljähriges eifriges Forschen in der Natur und durch unab- lässiges Nachdenken über den wahren Grund ihrer Erscheinungen erworben habe." Diese vollkommene Ehrlichkeit der Überzeugung, die uneigennützige Reinheit meines Charakters im Streben nach Er- kenntnis der Wahrheit, muß ich auch heute, wie vor elf Jahren, auf das entschiedenste betonen, — heute noch um so mehr, als inzwischen meine Person und meine Lebensarbeit von deren Gegnern in der niedrigsten Weise beleidigt und verleumdet worden ist. Im Laufe der letzten zehn Jahre ist durch Tausende von gehässigen - 48 - Artikeln in klerikalen und reaktionären Blättern die infame Ver- leumdung verbreitet worden, daß ich unverantwortliche Fälschungen der Wissenschaft begangen habe und nicht mehr würdig sei, unter ihren Vertretern zu stehen. Die schwarze Presse des evangeUschen Keplerbundes hat darin gewetteifert mit derjenigen des katholischen Thomasbundes. Beide Zweige des gewaltigen Jesuitenbundes haben sich dabei derselben verächtlichen Mittel bedient; in beiden wird gleicherweise der echt jesuitische Grundsatz verwendet: „Der Zweck heiligt die Mittel." Die vorhergehenden kritischen Untersuchungen über die an- geblichen und die wahren ,, Fälschungen der Wissenschaft" werden jeden ehrlichen und unbefangenen Zuschauer dieses widerwärtigen Kampfes überzeugt haben, daß die mir zugeschobenen ,, Fälschungen" — durch „schematisierte Bilder"! — ganz bedeutungslos und für die Erkenntnis der Wahrheit gleichgültig sind; daß dagegen die großartigen Fälschungen des Jesuitenbundes ( — durch Entstellung des Weltbildes und Verdrehung der wichtigsten Entwicklungsgedan- ken ! — ) nicht die Erkenntnis, sondern die Verschleierung der Wahrheit bezwecken. Tatsächlich soll dadurch die natürliche reine Entwick- lungslehre vernichtet und an ihre Stelle der alte duaUstische Aber- glaube von einer übernatürlichen wunderbaren Schöpfung gesetzt werden; — vor allem soll der wichtigste Folgeschluß der ersteren, die Abstammung des Menschen von einer Reihe von Wirbel- tieren (zunächst Säugetieren) widerlegt werden. Nur weil ich diese wichtigsten Sätze der monistischen Genetik seit einem halben Jahr- hundert unerschrocken vertreten, nur weil ich rücksichtslos ihre Bedeutung für die einheitliche Weltanschauung verteidigt habe, nur deshalb greift der Jesuitenbund mich so maßlos an. Wenn ich jetzt in diesem „Kampf auf Tod und Leben" gegen den Jesuitenbund mich energisch und rücksichtslos verteidige, so befinde ich mich persönlich im Zustande der Notwehr; sach- lich aber fühle ich mich dazu verpflichtet, die gute Sache der Wahrheit, deren Förderung ich meine ganze Kraft und mein langes Leben mit voller Hingebung gewidmet habe, bis auf den letzten Blutstropfen zu verteidigen. Da ich jetzt im siebenundsiebzigsten Lebensjahre stehe und nicht die Kraft mehr zu neuen selbständigen Arbeiten besitze, da ich nach Niederlegung meines akademischen Lehramtes nur noch eine kurze Zeitspanne des Lebens übrig habe, kann es mir nicht in den Sinn kommen, durch diese notgedrungene Verteidigung irgend einen Vorteil für mich zu erreichen. Wohl aber wünsche ich damit meinen Namen — und damit die von mir vertretene Sache — von den Flecken zu reinigen, mit welchen — 49 — die infamen Lügen und die gewissenlosen Verleumdungen des Jesuitenbundes sie besudelt haben. Nichts liegt mir ferner, als meine Person in einem falschen idealen Lichte leuchten zu lassen. Ich habe viele und große Fehler, und habe trotz des besten Willens in meinen Arbeiten zahlreiche Irrtümer begangen. Meine Begeisterung für die Natur und ihre Erkenntnis ( — von den Gegnern oft als ,, Fanatismus" getadelt — ), und besonders der frühzeitig entwickelte Trieb nach Abrundung des ganzen Forschungsgebietes ( — von einigen Freunden scherzhaft als „Vollständigkeitstrieb" bezeichnet — ) haben mich vielfach dazu verführt, die Grenzen der „exakten" Beobachtung zu überschreiten und ihre Lücken durch Reflexion und durch Hypothesen auszu- füllen. Ich glaube aber, daß ich gerade dadurch oft zu brauch- baren Ergebnissen gelangt bin, und daß meine verspottete ,, Natur- philosophie" die Erkenntnis und Verbreitung der Wahrheit mehr gefördert hat, als die Tausende von Beobachtungen, die ich in meinen Monographien der Radiolarien, Spongien, Medusen, Siphono- phoren usw. gewissenhaft mitgeteilt habe. In dem verworrenen Kampf um die Wahrheit, den die Jesu- iten mir aufgedrungen haben, kann nicht genug darauf hingewiesen werden, daß dessen wichtigstes Ziel die Lösung des Menschen- Problems ist, der gewaltigen ,, Frage aller Fragen", wie sie Thomas Huxley 1863 treffend genannt hat. Ich habe dieselbe gründlich und erschöpfend in meiner Anthropogenie (L. 3) be- handelt, übersichtlich und zusammenfassend in meinem V^ortrage über ,,Das Menschen-Problem und die Herrentiere von Linne" (L. 5). (Neuer Frankfurter Verlag 1907,) Einer der geschicktesten und wirksamsten Schachzüge der Jesuiten — der evangelischen wie der katholischen! — besteht darin, daß sie dieses höchste (für sie furchtbarste!) Problem entweder als „ganz unlösbar und transzendent" bezeichnen, oder dadurch beiseite schieben, daß sie sich auf „Mangel an exakten Beweisen" berufen. Klarer als je zuvor liegt heute vor jedem freidenkenden Ge- bildeten die Erkenntnis, daß die vielgesuchte Wahrheit nur durch die unbefangene Erkenntnis der Natur, nicht durch eine mystische Offenbarung übernatürhcher Wunder gefunden werden kann. Besser begründet als je zuvor schließt sich daran die Überzeugung, daß auch unsere sittHche Lebensführung durch die erstere sich zu einer höheren Stufe emporbilden wird als durch die letztere; unser Monismus bleibt im besten Sinne das wahre „Band zwischen Religion und Wissenschaft". Haeckel, Sandalion. — 50 — Literaturnoten. Aus der umfangreichen Sammlung von Broschüren und Zeitungs- artikeln, welche sich auf meine angeblichen ,, Fälschungen der Wissen- schaft" beziehen, sind hier nur einige der wichtigsten angeführt. Von meinen eigenen Arbeiten sind nur diejenigen genannt, welche in direkter Beziehung zu den Fälschungs-Anklagen der Jesuiten stehen. 1. Ernst Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen. 1866. (Teilweiser Abdruck in den ,, Prinzipien der Generellen Morphologie". Georg Reimer 1906, Berlin.) 2. Ernst Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte 1868. XI. Aufl.. 1909. Berlin, Georg Reimer. 3. Ernst Haeckel, Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen. I.Teil: Keimesgeschichte (Ontogenie). II. Teil: Stammes- geschichte (Phylogenie). Leipzig, Engelmann, 1874. VI. Aufl. 19 10. 4. Ernst Haeckel, Der Kampf um den Entwickelungs-Gedanken. Drei Vorträge, gehalten am 14. 16. und 19. April 1905 im Saale der Sing-Akademie zu Berlin. I. Der Kampf um die Schöpfung. II. Der Kampf um den Stammbaum. III. Der Kampf um die Seele. Mit einem Nachwort: Entwickelungsgedanke und Jesuitismus. Berlin, Georg Reimer, 1905. 5. Ernst Haeckel, Das Menschenproblem und die Herrentiere von Linne. Neuer Frankfurter Verlag, 1907. 6. Ernst Haeckel, Unsere Ahnenreihe (Progonotaxis hominis). Kri- tische Studien über Phyletische Anthropologie. Jena, Fischer, 1908. 7. Ernst Haeckel, Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie. Bonn, Emil Strauß, 1899. Volksausgabe (250. Tausend). Leipzig, Alfred Kröner, 1909. 8. Ernst Haeckel, Die Lebenswunder. Gemeinverständliche Studien über biologische Philosophie. Leipzig, Alfred Kröner, 1904. 9. Heinrich Schmidt (Jena). Haeckels Embryonenbilder. Doku- mente zum Kampf um die Weltanschauung in der Gegenwart. Mit zahlreichen Illustrationen. Frankfurt a. M., Neuer Frankfurter Ver- lag, 1909. 10. Ludwig Plate, Ultramontane Weltanschauung und moderne Le- benskunde, Orthodoxie und Monismus (Diskussionsabend in Berlin, am 18. Februar 1907). Jena, Gustav Fischer, 1907. Gegenschriften des Jesuitenbundes. 11. Erich Wasmann,S. J. Die moderne Biologie und die Entwicke- lungslehre. Freiburg i. B., Herder, 1904. III. Aufl. 1906. 12. Erich Wasmann, S. J. Entwickelungstheorie und Monismus. Drei Innsbrucker Vorträge (Oktober 1909)- Innsbruck 1910. 13. Tilmann Pesch, S. J. Die großen Welträtsel. Phiiosopliie der Natur. III. Aufl. Freiburg, Herder, 1907. 14. Eberhard Dennert, S. K. (Gründer und wissenschaftlicher Di- rektor des Keplerbundes.) Haeckels Weltanschauung naturwissen- schaftlich kritisch beleuchtet. Stuttgart 1906. 15. Eberhard Dennert, S. K. Die Wahrheit über Ernst Haeckel und seine ..Welträtsel". Halle 1909. — Weltbild und Weltanschau- ung. Hamburg 1908. _ c;i — i6. Johannes Reinke, S. K. Hacckels Monismus und seine Freunde. Haeckel als Biologe. Leipzig 1907. 17. Johannes Riem, S. K. (Astronom im Keplerbunde.) Natur und Bibel in der Harmonie ihrer Offenbarungen. Hamburg 1910. 18. W. Teudt, S. K. (Missionsgeistlicher und Kirchlicher Direktor des Keplerbundes). Im Interesse der Wahrheit: Haeckels „Fäl- schungen und die 46 Zoologen etc." Godesberg 1909. 19. Arnold Brass, S. K. (Wanderredner des Keplerbundes). Ernst Haeckel als Biologe und die Wahrheit. Stuttgart, Kielmann, 1906. 20. Arnold Brass, S. K. Das Affenproblem. Professor Ernst Haeckel und seine Fälschungen der Wissenschaft, und ihre Verteidigung durch deutsche Anatomen und Zoologen. Leipzig, Wallmann, 1909. Anhang. Zeugen im Embryonen -Prozeß. 21. Zeugnis von Carl Ernst von Baer, Entwickelungsgeschichte der Tiere (Teil I, S. 221): „Die Embryonen der Säugetiere, Vögel, Eidechsen und Schlangen, wahrscheinlich auch der Schildkröten, sind in frühen Zuständen einander ungemein ähnlich, im ganzen sowie in der Entwickelung der einzelnen Teile ; so ähnlich , daß man oft die Embryonen nur nach der Größe unterscheiden kann. Ich besitze zwei kleine Embryonen in Weingeist, für die ich ver- säumt habe die Namen zu notieren ; und ich bin jetzt durchaus nicht im stände, die Klasse zu bestimmen, der sie angehören. Es können Eidechsen, kleine Vögel oder ganz junge Säugetiere sein; so übereinstimmend ist Kopf- und Rumpfbildung in diesen Tieren. Die Extremitäten fehlen aber jenen Tieren noch. Wären sie auch da, auf der ersten Stufe der Ausbildung begriffen, so würden sie doch nichts leliren, da die Füße der Eidechsen und Säugetiere, die Flügel und Füße der Vögel, sowie die Hände und Füße der Men- schen sich aus derselben Grundform entwickeln." 22. Zeugnisse von kompetenten Sachverständigen. Die große Mehrzahl der Urteile, welche in dem Embryonenkampfe seit zwei Jahren ab- gegeben worden sind, rührt von Autoren her, denen das schwierige Gebiet der Embryologie fern hegt und die über die verschiedenen Seiten der Streitfrage nicht genügend unterrichtet sind. Daher sind von besonderem Werte die sachkundigen Urteile von solchen Naturforschern, welche allgemein als zuständige Fachautoritäten gelten. — Dr. Carl Rabl, Professor der Anatomie in Leipzig, einer unserer kenntnisreichsten und urteilsfähigsten Embryologen, fällt über den Kampf zwischen ,, Haeckel und Keplerbund" ein ein- gehendes und wohlbegründetes Urteil, das besondere Beachtung verdient, in der Frankfurter Zeitung vom 5. März 1909 ( — u. a. abgedruckt im „Freidenker" Nr. 406, vom 15. März 1909 und in der Broschüre von Heinrich Schmidt, , .Dokumente" S. 62). — In gleichem Sinne äußerten sich zu meinen Gunsten Professor Dr. Friedrich Maurer (Jena), Professor Dr. Richard Hertwig (München) und Professor August Forel (Zürich). Vgl. H. Schmidt, Dokumente, S. 61 — 70. (Vgl. auch Note 28.) 4* — 52 — 23- Die Leipziger Deklaration (Mitte Februar 1909), in welcher die Angriffe vom Keplerbunde und von Dr. Brass (als dessen sachver- ständigen Kronzeugen) „aufs schärfste verurteilt werden", ist von den nachstehend genannten 46 Biologen unterzeichnet und hat fol- genden Wortlaut: „Die unterzeichneten Professoren der Anatomie und Zoologie, Direktoren anatomischer und zoologischer Institute und naturhistorischer Museen usw. erklären hiermit, daß sie zwar die von Haeckel in einigen Fällen geübte Art des Schematisierens nicht gutheißen, daß sie aber im Interesse der Wissenschaft und der Freiheit der Lehre den von Brass und dem Keplerbund gegen Haeckel geführten Kampf aufs schärfste verurteilen. Sie erklären ferner, daß der Entwickelungsgedanke , wie er in der Deszendenz- theorie zum Ausdrucke kommt, durch einige unzutreffend wieder- gegebene Embryonenbilder keinen Abbruch erleiden kann." Dietrich Barfurth-Rostock. — Robert Bonnet-Bonn. — Theodor Boveri-Würzburg. — Karl Chun-Leipzig. — K. Eckstein-Eberswalde. — Ernst Ehlers -Göttingen. — K. Escherich -Tharandt. — Paul Flechsig-Leipzig. — Max Fürbringer-Heidelberg. — Leo Gerlach- Erlangen. — Alexander Goette-Straßburg i. E. — Ludwig v. Graff- Graz. — Karl Grobben- Wien. — Johann Karl Hasse-Breslau. — Berthold Hatschek-Wien. — Karl Heider -Innsbruck. — Richard Hertwig-München. — Ferdinand Hochstetter-Wien. — Moritz Holl- Graz. — Erich Kallius-Greifswald. — E. B. Klunzinger-Stuttgart. — G. V. Koch-Darmstadt. — JuUus Kollmann-Basel. — Eugen Korschelt-Marburg. — Karl Kraepeün -Hamburg. — Willy Küken- thal-Breslau. — Arnold Lang-Zürich. — Friedrich Merkel- Göttingen. — Siegfried Mollier-München. — Georg Pfeffer-Hamburg. — Lud- wig Plate-Jena. — Karl Rabl-Leipzig. — Heinrich Reichenbach- Frankfurt a. M. — L. Rhumbler-Hann. Münden. — F. Römer-Frank- furt a. M. — Johannes Rückert, München. — Georg Ruge-Zürich. — H. Schauinsland-Bremen. — Gustav Schwalbe-Straßburg i. E. — Franz Eilhard Schulze-Berlin. — PhiÜpp Stöhr-Würzburg. — Karl Toldt-Wien. — Wilhelm Waldeyer-Berlin. — August Weismann- Freiburg i. B. — Robert Wiedersheim- Freiburg i. B. — Emil Zucke rkandl- Wien. " 24. Die Berliner Deklaration. Mitte März 1909 veröffenthchten n Hoch- schullehrer und Direktoren wissenschaftlicher Institute (größten- teils Mitgüeder des Keplerbundes, viele Nichtnaturforscher!) in der konservativen „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" eine de- monstrative Gegenerklärung gegen die Leipziger Deklaration (Note 23); sie ist sowohl in den ,, Dokumenten" von Heinrich Schmidt (S. 54 — 58) als in den „Fälschungen" von Teudt (S. 89 bis 91) wörtlich abgedruckt und in ersteren kritisch beleuchtet. Wie unwahr und sophistisch diese jesuitische Gegenerklärung ist, wie dadurch eine gefährliche „Irreführung der öffentlichen Meinung" bewirkt wird, hat H, Schmidt daselbst bereits gezeigt, Ich will hier nur den ersten und prinzipiell wichtigsten Punkt her- vorheben: Die Berliner Deklaranten behaupten (— irrtümlich bona fide, oder fäischhch mala fide ? — ): ,,Der Keplerbund steht auf dem Boden einer absolut freien wissenschaftüchen Forschung und Lehre." Ist denn diesen Herren unbekannt, daß der Gründer — 53 — und die Seele des Keplerbundes, Dr. Dennert, seit mehr als zehn Jahren bei jeder Gelegenheit behauptet, daß jede Wissenschaft nur soweit frei ist, als ihre Lehre nicht dem Christentum widerspricht? Ist ihnen unbekannt, daß sein Ziel ,,Die Aufrichtung einer wahr- haft christlichen Weltanschauung mit naturwissenschaftücher Orientierung" ist? Und das soll ,, Freiheit" der Wissenschaft sein ! Dieselbe Freiheit, wie im Syllabus und der Enzyklika des römischen Papstes! (Vgl. hierzu oben S. 15.) 25. Provokation des Embryonen-Kampfes. In zahlreichen PubUkationen des Keplerbundes wird die falsche Behauptung wiederholt, ich habe den widerwärtigen Kampf um die Embryonenbilder begonnen und Brass zuerst angegriffen. So erklärten z. B. am 9. März 1905 im „Reich" 20 Mitgüeder des Keplerbundes: „Wir mißbilligen zwar den Ton, den Braß gegen Haeckel anschlägt; die Gerechtig- keit erfordert aber die Feststellung der Tatsache, daß Braß durch Haeckels maßlose, dem Erscheinen der Broschüre voraufgegangenen persönlichen Beleidigungen gereizt und zu seinem Stil geradezu provoziert worden ist." — Diese Angabe ist unwahr. Ich habe auf Braß' Broschüre (,, Wahrheit", 1906) nicht geantwortet und bin erst 1908 durch seine unglaublich dreisten Angriffe dazu gezwungen worden, mich mit ihm zu beschäftigen. (Vgl. oben S. 24, und H. Schmidt, Dokumente, S. 8 und 52.) 26. Ältere Fälschungsanklagen. Die Staatsanwälte des Jesuiten- bundes — Erich Wasmann für den katholischen Thomasbund, Arnold Braß für den evangelischen Keplerbund — haben sich nicht damit begnügt, meine „gewissenlosen Fälschungen der Wissen- schaft" im letzten Dezennium aufzudecken, sondern sie haben auch die älteren, längst verjährten — und längst widerlegten! — Anklagen wieder aufgewärmt, welche seit mehr als vierzig Jahren von orthodoxen Theologen und von exakten Biologen (insbesondere dem Anatomen Wilhelm His 1875 und dem Physiologen Victor Hensen gegen mich erhoben worden sind. Die Antwort darauf habe ich bereits 1891 in einem Apologetischen Schlußwort zur Vierten Auflage der Anthropogenie gegeben (S. 857 — 864); ( — es fehlt in der fünften und sechsten Auflage — ). Vgl. auch meine Schrift über „Ziele und Wege der heutigen Entwick- lungsgeschichte, Jena 1875. 27. „Im Interesse der Wissenschaft" betitelt der kirchliche Direktor des Keplerbundes W. Teudt irrtümlich die Broschüre, in der er ( — als Gegenstück zu den „Dokumenten"' von Dr. Heinrich Schmidt — ) den Embryonenkampf vom Jesuiten -Standpunkt schildert; er verwechselt hier „Wissenschaft" und „Kirche" — oder „Erfahrung" und „Offenbarung". Da dieser fromme Missionsgeistliche nicht mit Wissen beschwert und in philosophischen Fragen ein unschuldiges Kind ist, bedarf seine konfuse Streitschrift keiner besonderen Widerlegung. 28. „Vierundvierzig Wirbel" (!). Besonderes Aufsehen hat in dem Affen- Problem von Brass (S, 23) die Behauptung hervorgerufen, ich habe dem menschlichen Embryo 44 Urwirbel eingezeichnet, während ihm in Wahrheit nur 33—35 zukämen. Diese jesuitische Anklage, die Brass zu den gemeinsten Beleidigungen Anlaß gibt, ist falsch. — 54 — Weder ich, noch der Zeichner der betreffenden Figur hat an die Wirbelzahl nur gedacht, da sie in dem betreffenden Text über- haupt nicht besprochen mrd. Erst Brass hat sich hingesetzt und genau nachgezählt, wieviele von den Querstrichen, die die Wirbelsäule andeuten sollen, auf der undeutlich ausgeführten Figur sich unterscheiden lassen. Übrigens ist die Wirbelzahl bekanntlich variabel, und es kommen bei einzelnen, langgeschwänzten Men- schen-Keimen 43 — 44 Wirbel als Ausnahme wirklich vor. Vgl. Anthropogenie S. 388 und 770; H. Schmidt, „Dokumente", S. 85. — Professor Friedrich Maurer, der Nachfolger von Carl Gegen- bau r in Jena, sagt in der „Täglichen Rundschau" Nr. 81 (vom 6. April 1909): Was speziell die Embryonen von Säugetieren und Menschen in frühen Entwicklungsstadien betrifft, so möchte ich fol- gendes hervorheben: In den 30 Jahren, in welchen ich mich mit embryologischen Studien befasse, habe ich auch häufig auf die Ver- schiedenheiten von Säugetierembryonen der gleichen Art geachtet und gefunden, daß auch unter Geschwistern individuelle Differenzen bestehen. Anderseits erscheinen die Verschiedenheiten zwischen Embryonen nahe verwandter Säugetiere sehr gering. Wenn mir nicht bezeichnete Säugetierembryonen noch dazu in konserviertem Zustande vorgelegt würden, würde ich mir nicht zutrauen, zu ent- scheiden, welcher Säugetierform sie entstammen. Ich stimme darin mit Rabl vollkommen überein, daß Haeckel durch die Neben- einanderstellung von sorgfältig ausgeführten Photographien jüngster Säugetier- und Menschen-Embryonen die von ihm vertretene Lehre noch nachdrückücher bewiesen hätte, als er es durch seine schemati- sierten Bilder getan hat. Es ist ein großes Verdienst Haeckels, daß er in seinen populären Büchern die wichtigen biologischen Probleme vor das große Publikum gebracht hat, so daß auch der Laie dazu veranlaßt wurde, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen, die den Menschen so unmittelbar betreffen. 29. Naturwissenschaft und Naturphilosophie. Mit besonderem Nach- druck betonen die Leiter des Keplerbundes den Gegensatz dieser beiden Forschungsrichtungen, die Erforschung der Natur durch Beobachtung der Tatsachen, und ihre Deutung durch die Theorie. Nur die erstere soll gestattet, die letztere verboten sein. (Vgl. Dennert, , .Weltbild und Weltanschauung".) Der Widersinn dieser Forderung, der Aufbau eines empirischen Weltbildes ohne Gedanken, die Abweisung einer theoretischen Weltanschauung, welche die Lücken der Erfahrung durch Hypothesen ausfüllt, ist schon vielfach dargelegt worden. Besonders treffend hat dieselbe Dr. A. Hansen, (Professor der Botanik in Gießen) widerlegt, in dem Aufsatz: „Der Keplerbund und seine Leiter („Freies Wort", Frankfurt a. M., IX. Jahrgang, Dezember 1909, Nr. 18, S. 715). Vgl. auch dessen treffüche Artikel in der Vossischen Zeitung Nr. 52 und 96, vom i. und 26. Februar 1909: ,, Naturwissenschaft und Keplerbund". 30. Das Ketzergericht in der „Jugend". Das„ErgötzlicheSchauspiel" der modernen Inquisition, welche die Jesuiten beider Konfes- sionen — „als Ehrenretter der Wissenschaft"! — auf Grund der falschen Anklagen und infamen Verleumdungen von — 55 — Dr. Arnold Brass gegen mich 1909 in Szene gesetzt haben, ist treffend geschildert in Nr. 11 der Münchener „Jugend" (Georg Hirth); abgedruckt in der Broschüre von Dr. Heinrich Schmidt („Dokumente" S. 90). Dank den Jesuiten! Undank ist eine häßliche Untugend, und so möchte ich hier meine notgedrungene Verteidigung gegen die ^^vernichtenden'-'- Fälschungsanklagen der Jesuiten nicht schließen, ohne dankbar anzuerkennen, daß ich diesen gefährlichsten „Nach- folgern Chris ti'-'- mein Leben verdanke, ja wirklich meine persön- liche Existenz! Mein Urgroßvater Gottlob Haeckel und dessen Vater (aus Radstadt) gehörten zu den 30000 Salzburger Emigranten, welche 1732 durch den Erzbischof Grafen Firmian wegen ihres protestantischen Glaubens aus Salzburg vertrieben wurden — auf Anstiften der Jesuiten, welche vergeblich sie zu bekehren versucht hatten ! Ihre Güter wurden von der Kirche konfisziert! Wenn mein Urgroßvater nicht damals seine Salz- burger Heimat hätte verlassen müssen und durch Friedrich den Großen ( — den monistischen Freidenker! — ) eine Zu- fluchtsstätte in Hirschberg (Schlesien) gefunden hätte, so würde mein lieber Vater Carl Haeckel niemals meine teure Mutter Charlotte Sethe (gebürtig vom Niederrhein) in Berlin kennen gelernt haben. Also würde ich nach den jetzt geltenden Ver- erbungsgesetzen ( — mit allen meinen persönlichen Anlagen und Eigenschaften! — ) niemals das Licht dieser Welt erblickt haben. Denn es ist durch unsere moderne Physiologie zweifellos festgestellt, daß alle körperlichen und geistigen Anlagen einer jeden Person Erbstücke von "ihren beiden Eltern und von deren Vorfahren sind; das gilt vom Menschen ebenso wie von allen anderen Wirbeltieren. Demnach darf ich mit voller Sicherheit behaupten, daß durch eine merkwürdige Verkettung von Schicksalen jene Salzbvirger Ver- folgung der protestantischen Ketzer die wirkliche Vorbedingung für meine individuelle Entwickelung war; ohne sie würde ich nicht einmal vorübergehend die Bildungsstufe des Sandalion (am zwölften Tage meiner persönlichen Existenz! Fig. A) durchlaufen haben. Also verdanke ich es in erster Linie den gottbegnadeten Jesuiten, daß ich mich zu einem freidenkenden Primaten entwickeln und die berüchtigten „Welträtsel" schreiben konnte. ,, Welche wunderbare Fügung"! Der Neue Frankfurter Verkig, Frankfurt a.M. versendet kostenlos ein Verzeichnis seiner neuen Schriften in einer Broschüre unter dem Titel Zwei V/elten Drei Leitartikel zum Kampf um den kulturellen Fortschritt aus der Halb- monatsschrift »Das freie Wort« Die Broschüre wird auf Verlangen kosten- und portofrei an jede dem Ver- lag bekanntgegebene Adresse versandt.