1

OLNOHOL

= —E

Mm:

2 * % . 0 2 + * * rt 8 > 7 2 Pi, . 4 2 JJ ˖˙* . ͤ L ·²πãůů—.‚ r n 3 2 15 * *

4 er

+

8

VIREN rr

Schriften

Guͤerthe-Geſellſchaft

Im Auftrage des Vorſtandes

herausgegeben

von

Wolfgang von Oettingen

30. Band

Weimar Verlag der Goethe-Geſellſchaft 1915

Weimar und Deutſchland

1815 * 1915

Im Auftrage der Goethe-Geſellſchaft

verfaßt

von

Uudoalf Wuſtmann

a 4

.

\>

* Weimar

Verlag der Goethe -Geſellſchaft 1915

Das Jahr 1915 ſchließt das erſte Jahrhundert der Neugeſtaltung Deutſchlands nach den Freiheitskriegen, die für das Herzogtum Sachſen-Weimar-Eiſenach eine Gebiets— erweiterung und die Erhebung zum Großherzogtum Sachſen zur Folge hatte. Statt eines Jubeljahres wurde 1915 aber ein ſchweres Kriegsjahr und niemand mochte an Feiern denken: wir leben ernſt den ſtrengen Forderungen der Zeit. Da ziemt uns denn mehr als je, mit Stolz der Geiſteskräfte zu gedenken, die unſer Volk beſeelen und es zu ſittlicher Feſtigkeit und edler Reife erzogen haben: das Jahrhundert herrlicher Arbeit und beiſpielloſen Auf— ſchwunges, das hinter uns liegt, ſoll nicht in Vergeſſenheit verſinken, ſondern als anſchauliches Vorbild klar vor uns liegen. Einen nicht geringen Anteil an dem Erſchaffen von Deutſchlands Größe hatte das Großherzogtum Sachſen, dem früher als andern deutſchen Ländern das Los gefallen war, den höchſten Zielen der Geſittung und der Bildung entſchloſſen und folgerichtig nachzuſtreben. Das will die Goethe-Geſellſchaft, deren Sitz Weimar iſt und deren Arbeiten die Früchte weimariſchen Bodens ſind, dem Geiſte des Ortes voll Dankbarkeit huldigend aufs neue verkündigen, aber eingehender und umfaſſender, als es bisher geſchehen iſt, es darſtellen. Sie übergibt daher ihren Mitgliedern als Jahresgabe 1915 ein Werk aus berufener Feder, das

VI Zur Einleitung

geeignet iſt, die Leiſtung des Großherzogtums beſonders auf den Gebieten der Künſte und der Wiſſenſchaften überſichtlich nachzuweiſen; und ſie wünſcht, daß die er— hebenden Erkenntniſſe, die aus dieſem Buche ſich mitteilen werden, weit über den Kreis ihrer Mitglieder hinaus in das deutſche Volk und in das Ausland dringen mögen zur Bekräftigung unſeres Willens, das koſtbare Erbe aus Weimar-Jena⸗Eiſenachs Vorzeit verſtehenden Geiſtes zu erfaſſen, um es ganz zu beſitzen.

Der Herausgeber.

Bei Ausführung der vorliegenden Jahrhundertſchrift iſt der Verfaſſer von den Staats- und ſtädtiſchen Behörden ſowie den wiſſenſchaftlichen und künſtleriſchen Anſtalten und ſonſtigen Organen des Großherzogtums Sachſen unterſtützt worden. Die Durcharbeitung der einſchlägigen Literatur, auch der muſikaliſchen, wurde ihm von der Königlichen öffentlichen Bibliothek in Dresden ermöglicht. Für alle Förderung auch an dieſer Stelle geziemend zu danken, iſt ihm eine angenehme Pflicht.

Der Derfaſſer.

Inhalt

Bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts

Das klaſſiſche Erbe.

Der alte Goethe

Im neuen Großherzogtum . Klaſſizismus und deutſcher Bund

Im Zeitalter der Reichsgründung

Schiller, Goethe und die Enkel Neue Politik, neue Wiſſenſchaft . Muſik, Bühne, Dichtung. Bildende Kunſt ..

Das jüngſte Geſchlecht

Weimar

Jena

Eiſenach 8 Jahrhundertwirkung

. > cs 1 8 9 * 7 m“ ' a ; 1 0 N 7 1 Fl c 4 w BA 4 } RL fi BE f

2 ART“

NEN al ür in er N In

4 * Pi SA * . 1 „a ae tac

er N ER m R - Gan ehe 2 8 N 2

* 4 > 5 . 7 > Pasr = 2 Se 55 j ar 10 Me Er 5

1 1 - 1 Re > y 545 Ben 127 ri 8 ME: j j 5 wm * . 5 7 8 100 N 8 1 Ü * 3 1 3 e * a 5 55 8 g . e . * 8 15 * hr wi 2 u er ee.

1 F 5 .

e 1

N 75 N ei

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts

Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 1

Das klaſſiſche Erbe

Als Carl Auguſt, der Herzog von Sachſen⸗Weimar und Eiſenach, im Jahre 1815 den Titel eines Groß— herzogs annahm, lag ein Menſchenalter fruchtbarſter Pflege deutſchen Geiſteslebens hinter ihm. Was in Weimar und Jena und den zugehörigen Thüringer Landſchaften ſeit den achtziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts von einigen großen Menſchen Wahres gedacht und Schönes gebildet worden war, das war zu einem reichen klaſſiſchen Erbe für alle kommenden Ge— ſchlechter angewachſen.

Wohl hatte ſchon ſeine geniale Mutter, die jung verwitwete Herzogin Amalia, in dem verkümmerten Lande den Boden neu bereitet. Sie hatte verſtändig gewirtſchaftet; ſie hatte perſönlich erquickend regiert und Hof gehalten, dem Zeitalter ihres großen Oheims Friedrich gemäß, ja daraus hervorragend. Innig um die Erziehung ihrer Söhne beſorgt hatte ſie dafür ſchließ— lich 1772 Wieland nach Weimar berufen, und indem dieſer nun ſein bewegliches literariſches Talent hier ſpielen ließ, auch ſeit 1773 eine Zeitſchrift herausgab, den Teutſchen Merkur, die viel Vertrauen fand, und

darin 1774 eines ſeiner gelungenſten Werfe veröffent- 1*

4 Anna Amalia und der junge Carl Auguſt

lichte, den komiſchen Roman Die Abderiten, war noch unter ihrer Regentſchaft Weimar ein neuer Brennpunkt des deutſchen Schrifttums geworden: bedeutende Fremde von Stande ſuchten es auf, Künſtler und Ge— lehrte; Bibliothek und Theater waren dem Publikum zugänglich. Auch die Univerſität Jena hatte ihrer Frei⸗ gebigkeit zu danken.

Aber mit alledem ſtand das Weimar ihrer Regierung außerhalb des feſteren Wollens und größeren Voll— bringens der Jahrzehnte um 1800. Iſt doch auch noch das erſte Jahrſiebent von Carl Auguſts Regierung und von Goethes Weimarer Zeit nur Vorland der klaſſiſchen Zeit geweſen.

Carl Auguſt war ein achtzehnjähriger Jüngling, als er 1775 die Regierung antrat, ſich vermählte und Goethe nach Weimar zog. Er war inkräftig und eigenwillig, hoch begabt, militäriſcher Ausbildung geneigt. Luiſe, die junge Herzogin, zarter Natur und feinen Geiſtes, brachte ihm 1779 ein Töchterchen. Goethe, um ſechs Lebensjahre älter als der Herzog, verband ſich ihm ſo wahr und innig, als ob er zu ſeinem Schutzgeiſt berufen wäre, und der Herzog hing nicht minder an dem jung— berühmten Dichter. Als er ihn in den erſten Wochen um einen Superintendenten fragte, nannte Goethe ihm Herder, und Carl Auguſt berief dieſen damals Zweiund— dreißigjährigen nach Weimar.

So brachen zunächſt jene morgendlichen Jahre des Weimarer Kreiſes an, wo Natur Lebensreich und

Herder, Wieland, Goethe gegen 1780 5

Liebling der Geiſter war. Herder hatte ſeine Sammlung von Volksliedern mitgebracht, er hatte ſie vortrefflich ausgewählt und neu überſetzt, niemand war ſo vertraut wie er mit der künſteloſen Art und Innigkeit der Ur— bilder; er veröffentlichte ſie 1778 und 1779. Wieland verflocht die franzöſiſche Romanze vom Ritter Hüon mit dem Elfenzwiſt aus Shakeſpeares Sommernachts— traum und breitete ſie in lockeren Stanzen wohlig plaudernd aus: ſein Oberon erſchien 1780. Auch Goethe war mit vollen Händen nach Weimar gekommen. Aber die Urfauſtſzenen befriedigten ihn nicht mehr ganz, wenn er ſie jetzt den neuen Freunden vorlas; und Egmont war durchaus im Werden wie Goethe ſelbſt an der Schwelle Weimars. Genug, daß er zunächſt 1776 den Dank für altdeutſche Anregungen in das Gedicht Hans Sachſens poetiſche Sendung faßte, da er ſich ſelbſt auf ſachſiſche Rechtfertigkeit gewieſen fühlte, wie jener vom Genius der Natur an der Hand geführt und ſchalkhaft wie er der Geſellſchaft luſtige Zwiſchenſpiele bereitend. Wenn ihn die Muſen in helleniſche oder italiſche Gefilde lockten, wo er mit Iphigenie und Taſſo zu neuer Klarheit zu dringen hoffte, indem er alte und gegenwärtige Schmerzen ablöſte, erreichte er das Ideal noch nicht, das ihm allmählich beſtimmter vorſchwebte, trotz Um— und Umſchreibens der Iphigenie. Zu Aufführungen einiger ſeiner Dramen und Spiele kam es zunächſt nur im Hofkreiſe, am liebſten unter freiem Himmel, wo Tiefurts Wieſe oder Ettersburgs Park die Szene hergab.

6 Naturliebe der Weimarer Frühzeit

Bei Saalaufführungen, z. B. im Wittumspalais der Herzogin Amalia, war Mieding als „Direktor der Natur“ tätig mit Verfertigung von Fels und Baum, Wolke und Waſſerfall; deſſen Tod 1782 gab Goethe Anlaß, auf dieſes raſtloſe Theatertreiben und ſeine gutmütig⸗ unvollkommenen Opfer in herzlichen Verſen zurückzu⸗ ſchauen. Unvollkommen in manchem Sinne blieb da- mals auch der Roman, der urſprünglich Wilhelm Meiſters theatraliſche Sendung genannt wurde: vor allem deshalb, weil ſich Goethe um 1783 von der ein— ſeitigen Theaterbegeiſterung ſeiner Jugend freigeworden fühlte und ſeine höhere, im weiteſten Sinne geſellſchaft⸗ liche Sendung begriff. Doch entſtanden an der Ilm und auf den Thüringer Höhen ſchöne Lieder als reinſter Ertrag der Weimarer Frühzeit. Goethe wohnte damals in dem Gartenhauſe vor der Stadt jenſeits der Ilm. Das ſchwärmende Hangen an der Natur ſtimmte zu der Jugend des Herzogs. Neben Cour und Zeremoniell bedurfte dieſer der freien Luft, der Jagd, des Tanzes und Schlittſchuhlaufs. Am Weihnachtstiſch der mun⸗ teren Herzogin-Mutter war Bänkelſängerſpott will— kommen, zur Geburtstagsredoute der jungen Herzogin am 30. Januar alljährlich heitere Maskerade mit Verſen; an Sommerabenden entzückte eine Waldillumination, und die Ilmauen bei Weimar und Tiefurt wurden durch geſchlängelte Wege und geſellige Plätze zu Naturparken umgebildet. Auch Goethe hatte anfangs bei alledem ſein Glück zu finden geglaubt; aber um 1780 verſchob

Abſchluß von Goethes Jugend 7

ſich ihm der Begriff des Menſchlichen nach dem andern Brennpunkte, ſein Geiſt drängte nach neuem Leben in echteſter Erkenntnis von Natur, Kunſt, Geſellſchaft und Politik, ſeine ſtaatsmänniſche Tätigkeit erhielt zeitweilig das Übergewicht, zum Beſten für ihn, den Herzog und das Land entrang er ſich dem Wahn und Traum eines bloßen Naturglücks.

Die ihm ſchon ſo lieb gewordene Gegend öffnete ihm nun auch ihren Erdgrund zu bergmänniſchem Betrieb und geologiſcher Forſchung, und indem er in den Bau ihrer Steine und Pflanzen eindrang, verwuchs ſein Leben mit ihr mehr als anfangs bei der erſten entzückten Liebe, mit der er darüber hingefahren war. Alles Menſchliche der öffentlichen Geſchäfte zog ihn an, und er war hinter dieſen Dingen her wie ein Feind. Der Herzog ernannte ihn 1776 zum geheimen Legationsrat, 1779 zum geheimen Rat, 1782 wurde er geadelt und übernahm vorübergehend das Kammerpräſidium. Das andere hinter ſich zu bringen denn er fühlte ſeine Jugend zu Ende gehen ordnete er Briefe und Schreib— ſal von 1772 bis 1782: dieſe zehn Jahre ſollten jetzt offen vor ihm liegen; alles drängte ihn zu Rückblick und Ab— ſchluß.

Deshalb mußte damals auch ein wenigſtens vor— läufiges Ende mit Egmont gemacht werden. Goethe hatte die Geſtalt Egmonts als tragiſches Lebensbild unmittelbar vor dem Übergang nach Weimar erfaßt. Der rheiniſche leichte Sinn, wenn er bei Goethe die

8 Zum 3. September 1783

Oberhand behalten oder ſich ausſchließlich geltend ge— macht hätte, hätte ihn in dem ernft-treuen Thüringen in Kampf und Vernichtung führen können. Auf Eg- mont ſammelte er alle ſolche Züge, auch liebenswürdige, und feite ſich damit gegen die Gefahr eignen Scheiterns. Das Doppelgeſichtige des Werkes iſt auch in Goethes Hinaufwachſen aus dem Volkstum in die Staatsleitung begründet. Sicherer als ein Dämon ſeinen Egmont führte ihn der geſunde Geiſt der Welt.

Man darf ſagen, daß ſich der frühreife Herzog ähnlich befeſtigte, hie und da von Goethe geleitet. 1783 wurde ihm der Erbprinz geboren. Goethe hatte manchmal mit Sorge den Herrn und ſeine nächſten Hoffreunde auf weniger klarem Wege geſehen. Als er einſt zu— ſammen mit ihnen uächtlicherweile bei Ilmenau im Walde raſtete, waren ihm Reime über dieſe ernſte Not zu Gemüte gedrungen. Jetzt, nach Jahren, ſah er den befreundeten Fürſten in geſicherter Bahn, er durfte ihm jene bangen Reime als verſchwundenen Traum vorführen und fügte und widmete ihm zum Geburtstag 1783 das ſchöne Gedicht Ilmenau. Weimars klaſſiſcher Lebenswille war gewonnen, das Gleichgewicht von Phantaſie und Gegenwart, von Dichtung und Wahrheit.

Auch der fünfzigjährige Wieland überſchritt damals eine klärende Scheide. Einige ſeiner Merkuraufſätze der Jahre 1782 und 1783 beſchäftigten ſich mit der Frage: Was iſt hochdeutſch? Sie lehnten den ſoeben von andrer Seite als Norm geforderten kurſächſiſchen Sprachge-

Wieland und Herder um 1785 9

brauch um 1750 ab, ſie gaben aber auch die naiven Sprachdreiſtigkeiten des letztverwichenen Jahrzehnts preis, ſie erklärten Freiheit für das Recht, Sichbeſcheiden für die Pflicht eines Schriftſtellers in der Über— zeugung, daß das hochdeutſche Schrifttum im Aufſtieg zu neuer Größe begriffen ſei, und ſtellten neben dem Nützlichkeitsſtandpunkt in Sachen der Sprache den künſt— leriſchen feſt. Wielands dichteriſcher Trieb ließ zwar nach, aber als Überſetzer fand er erſt jetzt ſein eigenſtes Gebiet. 1782 erſchien ſeine Übertragung der Epiſteln, 1786 die der Satiren von Horaz, und 1788 folgten die Geſpräche Lukians. Da dieſer klaſſiſche Römer, dieſer ſpäte Grieche ſeiner Natur verwandt waren, gab er hier zum erſtenmal nahezu echte Antike ſtatt des erdichteten weichen Hellenentums ſeiner vorweimariſchen Romane. Und als darauf die franzöſiſche Revolution eintrat, er— hielt Deutſchland in Wielands monatlichen Aufſätzen im Merkur die klügſten Gedanken über jene Umwälzungen, die ein weltbürgerlicher Sinn äußern konnte. Wielands Weltbürgertum war das Ergebnis der Betriebſamkeit eines empfänglichen Mannes; Herders Menſchheitsglaube entſprang angebornem Edelſinn. Von den Stimmen der Völker in Liedern trachtete er andächtig tiefer nach dem Plane der Menſchheit. So— weit es die damaligen Wiſſenſchaften erlaubten, entwarf er in drei Bänden ſeine Ideen zur Philoſophie der Ge— ſchichte der Menſchheit und veröffentlichte ſie von 1784 bis 1787: die Erde, ihre organiſierten Weſen, der Menſch

10 Goethe gegen 1785

wurden in großen Zügen vorgeführt, dieſer nach ſeinen verſchiedenen Formen und doch unverlierbarem Weſen, ſeinen mannigfachen klimatiſchen Bedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten, ſeinen Anfängen unterſucht und nach einer eingehenderen Schilderung der oſt- und ſüdaſiatiſchen wie der der griechiſch-römiſchen Kulturen Humanität als das ewige Ziel aller Menſchenbildung aufgeſtellt. Ein Jahrzehnt ſpäter, von 1793 bis 1797, ließ Herder noch zehn Sammlungen Briefe zur Be— förderung der Humanität folgen und erklärte, nach der eigenen Humaniſierung ſtreben heiße nach dem Reiche Gottes trachten.

Goethes Neuordnung begann damit, daß er 1782 ein vornehmes Haus in der Stadt am Frauenplan bezog und den Sohn der Frau von Stein als Zögling zu ſich nahm, deren Liebe ihn damals beglückte. Seinen Staatspflichten hingegeben, zu naturwiſſenſchaftlicher Forſchung gezogen, war er geſchaffen, Menſchentum und Weltgeiſt noch viel gründlicher als Herder zu er— leben und auch poetiſch neu zu faſſen. Das Gedicht Die Geheimniſſe, das er 1784 darüber begann, blieb unvollendet; doch die einführenden Strophen ließen ſich als „Zueignung“ an die Spitze ſeiner Lyrik ſtellen. Denn er entſchloß ſich jetzt zu einer Geſamtausgabe ſeiner „Schriften“. Das meiſte davon genügte ihm freilich in der vorliegenden Niederſchrift nicht; woher die Muße und Freiheit nehmen, woher die ſüdeuropäiſche Stimmung, deren er zur Vollendung von manchem, zur

Iphigenie 11

Ergänzung ſeiner ſelbſt bedurfte? Seine alte Sehnſucht nach Italien ergriff ihn als einziger Rettungsgedanke, ſie gab ihm Mignons Lied ein, er ging 1786 dahin! Begeiſterung durch die Antike, die Wieland ver— mocht hatte eine Alceſte nach Euripides zu dichten, hatte Goethe in den erſten Weimarer Jahren auf die Iphigenie des Euripides geführt. Ein hartes Werk, voll Griechen— ſtolz und Griechenliſt, aber ein Symbol ſiegreicher Kultur— miſſion in der Fremde und ſo Goethes Seele damals verwandt. Freilich hatte gerade er in ſolchen Kämpfen die ſich bewährende Kraft reinen Menſchentums erfahren und danach Geſinnung und Handlung des Dramas wandeln müſſen. Die euripideiſche Iphigenie betrügt, die goethiſche zerreißt den Trug; die euripideiſche wird durch eine plötzliche Göttererſcheinung aus der Ver— ſtrickung gehoben, die goethiſche nur durch ihre ſich ent— faltende Reinheit zur Entwirrung des Knotens befähigt. Auf dem Lebensgrunde der hohen ſittlichen Spannung und zarten Geſelligkeit der erſten Weimarer Zeit war der Entwurf des Werkes gelungen, war manches Teil— chen ſofort in vollem Erblühen geſtaltet für immer, aber die ganze Form, der größere Rhythmus, der volle Fein— gehalt entſtanden in dem erſten Vierteljahr, das Goethe in Italien lebte. Im Sommer darauf trat das liebliche Werk ans Licht, im dritten Band ſeiner Schriften, das erſte große Zeugnis des neuen Weimarer Goethe. Goethes früheres Schriftſtellertum war in den beiden erſten Bänden der Ausgabe mit Werther und Götz ver—

12 Egmont, Fauſt, Taſſo

treten; anderes, kleinere wurde den Hauptwerken angereiht, die Lyrik für den Schlußband beſtimmt. Kaum etwas entging der erneuernden Durcharbeitung des reiferen Mannes und bewußteren Künſtlers, erſchien doch auch Werther um eine Epiſode vermehrt, die dem Leſer den Rückſchlag in ſeeliſches Gleichgewicht zu er— leichtern beſtimmt war. Die Vollendung des Egmont wurde durch friſche Händel Kaiſer Joſephs mit den Brabantern erleichtert; an ſich konnte Italien für dieſes Werk nicht mehr viel bedeuten. Ernſter war die Frage, ob die Vollendung des Fauſt hier gelingen werde. Goethe verzichtete und veröffentlichte ein Fragment, um manches längſt geſchriebene Teil gekürzt, durch zwei gewaltige Szenen aus Italien vertieft, in den übrigen herrlichen Jugendbruchſtücken mit ſtrenger Künſtlerhand leiſe gemeiſtert.

Von Taſſo hatte Goethe ſchon im Vaterhauſe gehört; der Vater liebte den großen unglücklichen Dichter der italieniſchen Renaiſſance, und dem Sohn wurde die Fabel dieſes Dichterlebens vertraut, ehe er ſie verſtand. In Weimar gewann Taſſos Geſtalt für ihn Licht und Schatten durch eigene Erlebniſſe. Der Zwieſpalt des Dichters und Hofmanns, die ausſichtsloſe Liebe zu einer edlen Frau, eine zarte, geiſtvolle Gemeinſchaft um das Fürſtenhaus bildeten in Weimar ſein Geſchick wie einſt das Taſſos in Ferrara. Zum Teil ähnelten die neuen Schmerzen denen, die er vordem raſcher und naiver durch den Werther beſchwichtigt hatte, ge—

Früchte der italieniſchen Reiſen 13

wiſſermaßen ließ ſich die neue Gefahr mit der Egmonts vergleichen; doch erzeugte Weimar um 1780 wieder eine beſondere Lage und Not, und dieſe entfaltete Goethe tragiſcher, als es die Wirklichkeit getan hatte, im Taſſo. Zunächſt in Proſa, als Entwurf; diesmal vor allem mußte das Land des alten Dichters den neuen umgeben, wenn des Werkes Schönheit reifen ſollte. Taſſo wurde das Drama Goethes, das Italien am meiſten zu verdanken hat: wie Iphigenie der Morgengruß des neuen Deutſchland an Hellas, ſo iſt Taſſo ein deutſcher Akkord, der aus den Gärten von Florenz zu uns her— überdringt. Die letzten Fügungen an dem Werke ge— langen Goethe erſt ein Jahr nach der Rückkehr aus Italien im Sommer 1789 in dem Garten des galanten Schloſſes Belvedere über Weimar, wo ihm Belriguardo nachklang.

Noch eine andere Spätfrucht Italiens gewann er daheim: in der Begeiſterung für Properz und in der Liebe zu der in ſein Haus geführten Chriſtiane Vulpius reiften ihm Römiſche Elegien. Und als ihn das Früh— jahr 1790 gar wieder in Venedig ſah, zur Erwartung und in Geſellſchaft der von Rom zurückkehrenden Her— zogin Amalia, entſtanden Venezianiſche Epigramme. Dann aber erprobte er den antiken Hexameter an einem deutſchen epiſchen Stoffe, an Reineke Fuchs: dieſe unheilige Weltbibel lehrte ihn damals wieder einmal, überein mit dem ungeheuern Erlebnis der franzöſiſchen Revolution, ſich, wenn auch halb verzweifelnd, an die unvermeidliche Wirklichkeit hingeben.

14 Bühnen-, Bau- und Lebensſtil

Seine Staatsgeſchäfte waren nun im allgemeinen gegen früher beſchränkt; doch übernahm er 1791 die Leitung des neu begründeten Hoftheaters: indem er die Schauſpieler für jedes Drama in gemeinſamen Leſeübungen zuſammenarbeitete, legte er den Grund zu dem Weimarer Bühnenſtil. In den erſten fünf Jahren dieſer neuen, bewußteren Tätigkeit fürs Theater fand er auch allmählich den Weg zur Vollendung von Wilhelm Meiſters Lehrjahren, wie der vom Theaterleben in allgemeinere Bildung mündende Roman ſchließlich genannt wurde. Zu gleicher Zeit wurde unter ſeiner Hilfe im Weimarer Park ein römiſches Haus für den Herzog gebaut; Goethe nannte es „das erſte Gebäude, das im Ganzen im reinern Sinne der Architektur auf⸗ geführt wird.“ Andern Troſt gewährte ihm wiſſen— ſchaftliche Arbeit, namentlich anatomiſche und optiſche Unterſuchungen, wobei ſich immer mehr ſeine Anſicht befeſtigte, daß in allem organiſchen Leben ein durch— gehender Typus walte, ſich verändernd und ſich er— hebend, eine Überzeugung von tiefer Bedeutung für ſeinen klaſſiſchen Lebenswillen.

Für Goethes naturwiſſenſchaftliche Arbeiten wurde jetzt die lebhafte Univerſität Jena immer wichtiger, auf die umgekehrt die Weimarer Regierung den größten Einfluß hatte. Und wie die Weimarer Bühne das neue Beſte aus Nord- und Süddeutſchland mit reinem Streben aufnahm, auch Ifflands Werke ſpielte und Mozarts Opern (Don Juan, Zauberflöte) aufführte,

Reinhold und Schiller in Jena 15

ſo tat ſich das vorwärts drängende freie Jena als Haupt— pflegſtätte der neuen Kantiſchen Philoſophie auf, hinter deren geiſtiger Schärfe und ſittlicher Kraft alles Frühere zu verſinken ſchien. In den Jahren 1787 bis 1794 wirkte in ihrem Geiſte der Jenaer Profeſſor Reinhold, Wielands Schwiegerſohn, anziehend und befruchtend, auf dem Katheder wie als Schriftſteller. Wurde das Herzogtum Sachſen-Weimar jetzt nicht offenbar zu einer Mittelburg neuer deutſcher Hochbildung?

Was Wunder, daß ſich auch der junge Schiller nach mancherlei Fahrten hierher gezogen fühlte. Mit ſeinem Don Carlos führte er ſich in Weimar ein, dem Werke, das, kunſt⸗ und ſittengeſchichtlich Goethes Iphigenie vergleichbar, ihn unterwegs zeigt aus dem Bereich negativ und aggreſſiv geſtimmter Wirklichkeitsdramen zu bejahenden Werken der Schönheit; Goethe brachte es 1792 auf die Weimarer Bühne. In Jena, wo Schiller 1790 Charlotte von Lengefeld heiratete, hatte er 1789 als Hiſtoriker begonnen; hier tauchte er um 1792, nach ſchwerer Erkrankung, auf Jahre in die Philoſophie der Kunſt. Mit der geiſtigen Stählung, die er ſich dabei holte, verband ſich körperliche Erholung auf einer Reiſe in die ſchwäbiſche Heimat, vom Auguſt 1793 bis zum Mai 1794, wo ihm der erſte Sohn bei den Großeltern geboren wurde und er in dem jungen Cotta einen Freund und Verleger gewann. Bald nach ſeiner Rück— kehr knüpfte ſich ihm in ſicherem Widerſpruch und voller Anerkennung die hohe Freundſchaft mit Goethe.

16 Horen

So war die Zeit vorbereitet für das größte Weimarer Jahrzehnt. Zwiſchen 1795 und 1805 wirkten Goethe und Schiller verbündet, in philoſophiſcher Ausbildung und künſtleriſcher Tätigkeit unaufhaltſam fortſchreitend. Schiller war die treibendere Kraft, und Goethe erlebte einen neuen Frühling, ſeine Erfahrung und Schillers Forderung näherten ſich einander.

Beide waren die bedeutendſten Mitarbeiter an der 1795 bis 1797 von Schiller herausgegebenen Monats- ſchrift Die Horen. Schiller veröffentlichte hier z. B. ſeine Briefe über die äſthetiſche Erziehung des Menſchen, ſeine Abhandlung über naive und ſentimentaliſche Dich— tung und philoſophiſche Gedichte wie den Spaziergang und Das Ideal und das Leben. Goethe ſteuerte u. a. die römiſchen Elegien bei und die Anfänge ſeiner Über— ſetzung von Benvenuto Cellinis Lebensbeſchreibung. Manches kleinere ſpendeten Herder und andere Freunde; auch jüngere Jenaer Geiſter reihten ſich gern an die Koryphäen, die Brüder Humboldt mit Erzählung und Abhandlung, Hölderlin mit Gedichten und A. W. Schlegel mit den erſten Proben ſeiner klaſſiſchen Über- ſetzungen aus Dante und Shakeſpeare.

Das ungeheure Wachstum ſeines Weſens, das Schiller um die Mitte der neunziger Jahre erfuhr, lockte auch ſein lyriſches Talent wieder ans Licht und, zum Verfügen wie zum Schaffen aufgelegt, gab er auf die Jahre 1796 bis 1800 fünf jener Sammlungen heraus, wie ſie damals als Muſenalmanache beliebt waren, alles

Muſenalmanache 17

überragend, was vor und neben ihm unter dieſem Namen erſchien. 1796 las man da von ihm die pro— grammatiſchen Gedichte Die Macht des Geſanges, Pegaſus im Joche, Die Ideale, Die Würde der Frauen und zum Beſchluß Goethes Venezianiſche Epigramme. 1797 ließ er Goethes Idylle Alexis und Dora den Vor— tritt, leitete dann ſelbſt mit dem Mädchen aus der Fremde ein, brachte die Klage der Ceres, und dann erſchienen die Helden vereint in den Tabulae votivae und verbündet in dem großen Spottgeſchenk der 414 kenien, zu dem ſich Goethe bei Martial hatte anregen laſſen und das den literariſchen Standpunkt der beiden perſönlich deutlichſt ausſprach. 1798 wurde ein Füllhorn von Balladen ausgeſchüttet: Der Zauberlehrling, Der Handſchuh, Der Schatzgräber, Die Braut von Corinth, Ritter Toggenburg, Der Taucher, Der Gott und die Bajadere, Die Kraniche des Ibykus, Der Gang nach dem Eiſenhammer und was für köſtliche Dinge die Meiſter ſonſt noch dreinzugeben hatten. 1799 fanden die glücklichen Leſer die Mühlenballaden Goethes und ſeine Elegien Euphroſyne und Amyntas und von Schiller den Kampf mit dem Drachen, die Bürgſchaft, das eleuſiſche Feſt; 1800 das Lied von der Glocke. Von da ab genügte es Schiller, in andern Taſchenbüchern zu veröffentlichen, was ihm die Muſen an ähnlichen Gedichten und geſelligen Liedern noch fügten, während Goethe in einem eigenen, für 1804 zuſammen mit dem

ſiebzigjährigen Wieland herausgegebenen Taſchenbuch Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 2

18 Goethe um 1800

eine herrliche Nachleſe gab mit Dingen wie dem Stif— tungslied, Schäfers Klagelied und Hochzeitlied. Das größte, was aus dieſem lyriſchen Treiben entſprang, veröffentlichte Goethe als Taſchenbuch auf 1798, das idylliſche Epos Hermann und Dorothea, aus einem wirklichen Ereignis und Goethes Menſchenideen, aus vollem Gegenwartsgefühl und deutſcher Hexameter— ſchönheit innig gewoben.

An der Weimarer Bühne wirkte Goethe beharrlich als Intendant und Regiſſeur: belehrend, übend und ausführend. Ifflands Gaſtſpiele 1796 und 1798 waren fördernde Muſter; 1796 ſtellte er den Egmont dar, als dies Schauſpiel, in Schillers Bearbeitung, zum erſten— mal auf der Bühne erſchien. Goethe lieferte bedeutende Prologe und Vorſpiele; Größeres blieb unvollendet, ſo die 1803 aufgeführte Natürliche Tochter, der Anfang einer Trilogie politiſchen Inhalts, als Geheimnis auch für Schiller entſtanden, während auf deſſen Betreiben Fauſt wieder vorgenommen wurde, ſo daß ſich der „erſte Teil“ rundete und der zweite mit Helenas Auf— treten begonnen wurde, ohne daß etwas davon zu Schillers Lebzeiten auf die Bühne gekommen wäre. Antike Maskenſpiele wurden verſucht, am glücklichſten mit Goethes Palaeophron und Neoterpe, Altrat und Neuluſt an der Jahrhundertwende. Noch war Goethe als Überſetzer tätig und führte von Voltaire 1800 Mahomet, 1801 Tancred in gemäßigter deutſcher Form auf. 1802 wurde ſeine Iphigenie zum erſtenmal

Von Wallenſtein bis Tell 19

in Weimar öffentlich geſpielt, in Schillers Bearbei— tung.

Schiller verwuchs in dem Jahrzehnt ſeiner Reife zum zweitenmal mit dem Theater; namentlich darum ſiedelte er Ende 1799 von Jena nach Weimar über, im Bunde mit Goethe den Spielplan zu beſtimmen entſchloſſen. Geſchichte auf Geſchichte durchglühte ſein dramaturgiſches Feuer, die Freiheit der Helden läuternd, die Notwendigkeit ihres Schickſals erhärtend. Jahrelang trug er ſich mit dem gewaltigen Plan des Wallenſtein, löſte ihn ab aus der Hiſtorie und verwandelte ihn ins Poetiſche, bis die drei Teile im Winter 1798 auf 1799 allmählich weimariſche Bühnenereigniſſe wurden. Dann ergriff er die Geſchicke Maria Stuarts, der Jungfrau von Orleans, der Braut von Meſſina, des Tell: Jahr für Jahr ſchlugen ſeine großen neuen Werke ein, an ſittlicher Eigenkraft aller andern Dichtung überlegen, durch ihr Hochgefühl die Gipfel des fühlendſten Jahr⸗ hunderts. Dazwiſchen bearbeitete er Leſſing, Shake— ſpeare, Gozzi und Racine für die Weimarer Bühne und gab ihr jo einen Macbeth und einen Nathan, eine Tu⸗ randot und eine Phaedra.

Das Theater war das Gebiet der Dichtung, woran auch der Herzog am regſten teilnahm. Seine kräftige, grunddeutſche Natur, ihrer fürſtlichen Aufgabe höchſt bewußt, hatte eine Vorliebe für das klaſſiziſtiſche Drama der Franzoſen. Er verwies Goethe auf Voltaire; und

die erſten Aufführungen von Mahomet und Tancred, 28

20 Carl Auguſt und die Künitler

von den Piccolomini und Phaedra waren es, die jetzt den Geburtstag der Herzogin ſchmückten, zu dem Goethe in jüngeren Jahren poetiſche Schnippchen hatte ſchlagen dürfen. Des Herzogs Einfluß auf das Theater betraf auch die Wahl der Schauſpieler für gewiſſe Rollen, ihre Ausſprache, die Gruppierung einer Szene, das Koſtüm. Er durchſchaute Schillers Kühnheit ebenſo wie Goethes genießendere Art; dort wiegelte er manch— mal ab, hier ſtachelte er gelegentlich etwas an. Er fühlte den unendlichen Wert beider. Kein Gruß ſchloß ſo oft ſeine Briefe an Goethe zwiſchen 1795 und 1805 wie der an „Schillern“, und für Goethe hatte er, wenn auch ſeltner als früher, über die Anrede „lieber Alter“ hinaus neue Worte inniger Freundſchaft.

Lange beſchäftigte den Herzog der Neubau des Weimarer Schloſſes, und um die Jahrhundertwende wurde das Entſcheidende für einen Teil der inneren Ausſtattung durch lebende deutſche Künſtler getan. Damals waren auch die Weimarer Kunſtausſtellungen in Gang gekommen, jährlich im Herbſt zu ſehen, am Geburtstag des Herzogs eröffnet, wobei die Löſungen von Konkurrenzaufgaben gezeigt wurden. Goethes Helfer auf dieſem Gebiete war ſein älteſter römiſcher Vertrauter, der Maler und Kunſtfreund Heinrich Meyer, der von 1794 bis 1802 in Goethes Hauſe wohnte, für dieſes wie für das Schloß Deckengemälde ſchuf und mit Goethe faſt ſo Hand in Hand arbeitete wie Schiller im Reiche der Dichtung. 1797 lieferte er aus Rom ſeine

Die Antike in Weimar um 1800 21

Kopie des berühmteſten antiken Gemäldes im Vatikan, der aldobrandiniſchen Hochzeit, die in Goethes Haus gelangte. Die bildende Kunſt war der Hauptgegenſtand der 1798 bis 1800 von Goethe herausgegebenen Zeit— ſchrift Propyläen; vor einem engeren Kreiſe erſcheinend, ſprach ſie das Verhältnis der neuen Weimarer Bildung zu antiker Plaſtik und gegenwärtiger Zeichenkunſt aus. 1803 brachte Fernow aus Rom den koſtbaren Nachlaß der Carſtensſchen Zeichnungen nach Weimar; der Herzog erwarb ſie 1804 und gab ſie der Bibliothek zur Verwahrung. So wirkte die Antike und, was in ihrem Sinne entſtand, auch für das Auge in dieſem Jahrzehnt in Weimar am tiefſten. Es war eine Art Abſchluß dazu, daß Goethe dem Begründer unſrer neueren Verehrung der Kunſt des Altertums ein Denkmal ſetzte und 1805 das Werkchen „Winckelmann und ſein Jahrhundert“ herausgab, Briefe des Gefeierten und Aufſätze über ihn; er widmete es der Herzogin Amalia, der eigentlichen Zeitgenoſſin Winckelmanns, einer Begründerin ähn— lich jenem.

Während Schiller Goethes Freundſchaft und des Herzogs Anerkennung genoß, ſtanden Wieland und Herder etwas abſeits, wenn auch nach wie vor in voller Gunſt bei den fürſtlichen Frauen. Es war dem antiki— ſcher Schönheit zugewandten Geiſt der Klaſſiker nicht gemäß, wie ſich Wieland jetzt mit Überſetzung des Satirikers Ariſtophanes und des nüchternen Xenophon beſchäftigte. Als ein Mißgriff Herders mußte es ihnen

22 Herders Ausgang; jenaiſche Naturforſcher

erſcheinen, daß dieſer unter dem heitern Namen ſeiner Sammlung Terpſichore ſchmerzenvolle lateiniſche Je— ſuitengedichte aus dem dreißigjährigen Kriege ver— deutſchte. Zu verwandt im Gedanken war an der Jahrhundertwende ſein Aeon und Aeonis mit Goethes Palaeophron und Neoterpe, um Herders poetiſche Schwäche nicht bloßzuſtellen. Erſt mit der Überſetzung der Romanzen von dem ſpaniſchen Helden Cid gab er kurz vor ſeinem Tode den Deutſchen noch einmal ein Geſchenk würdig der beſten Jahre Weimars. Er und Wieland hatten ſich auch durch ihre Ablehnung Kants von Goethe ebenſo entfernt wie von dem Geiſte Jenas, der Goethen auch jetzt glücklich belebte, wie Schiller dort groß geworden war.

Goethe verkehrte vor allem mit den älteren Jenaer Naturwiſſenſchaftern und Medizinern, indem er unter ihnen lernte und anregte und nächſt dem Herzog für ihre Sammlungen ſorgte; es waren der Balte Loder, des Herzogs Leibarzt er veröffentlichte in Weimar 1794 bis 1803 anatomiſche Tafeln zur Beförderung der Kenntnis des menſchlichen Körpers und die beiden Thüringer Batſch und Hufeland: jener der Begründer der naturforſchenden Geſellſchaft, wo ſich Goethe und Schiller fanden, dieſer der Verfaſſer der Kunſt das menſchliche Leben zu verlängern, deren beide erſte Auflagen in Jena 1797 und 1798 erſchienen. Schiller, ſolange er in Jena wohnte, ſtand den jüngeren Philo— ſophen und Theologen näher. Jena wurde jetzt vollends

Fichte, Schelling, Hegel 23

die Hauptſtadt der deutſchen Philoſophie; nach kantiſcher Lehre drängte ſich hier die deutſche Jugend, nirgends fand ſie ſolche Energie der Ideen wie hier unter den neuen Dozenten. Als der milde Reinhold 1794 weg— ging, trat der tapfere Fichte aus Sachſen an ſeine Stelle: hatte Kant die Grenze von Naturerkenntnis und ſubjektivem Geiſt gezogen, ſo warf ſich Fichte ganz auf die ſubjektiviſtiſche Seite und entwickelte ſeine Wiſſenſchaftslehre von dieſem Standpunkt aus ſo, daß man in ſeinem Subjektivismus den Zentralgedanken der Zeit erblicken konnte. Er überſpannte nur den Bogen: des Atheismus verdächtigt, drohte er der Regierung mit ſeinem Weggang; dieſe entließ ihn 1799. Seinen Platz beſetzte ſofort der kaum vierundzwanzig— jährige Schelling: den Moraliſten und Naturverächter löſte der Aſthetiker und Naturſchwärmer ab. Er knüpfte an Spinozas Pantheismus an und an Goethes Fauſt und Metamorphoſenlehre und an die jüngſten elektriſchen und chemiſchen Erkenntniſſe und entwarf eine Natur- philoſophie, deren Ganzes berauſchte. 1801 folgte ihm nach Jena ſein älterer Freund Hegel und erdachte hier um 1805 die Phänomenologie des Geiſtes: dieſer Lehre von der allmählichen Selbſtoffenbarung des Weltgeiſtes in der Geſchichte war Herrſchaft auf ein halbes Jahr— hundert und Ruhm für alle Zeiten beſchieden. Fichtes Altersgenoß und ein Landsmann von Schiller, Hegel und Schelling war der Orientaliſt und Theologe Paulus, ſeit 1793 ordentlicher Profeſſor in Jena, mit Schillers

24 Gebrüder Humboldt, Schlegel, Tied

befreundet, von den Studenten geliebt und vom Herzog gegen Verketzerung geſchützt. Und von bedeutenden Preußen wiſſenſchaftlicher Anlage weilten um 1796 gern die Brüder von Humboldt in Jena im Verkehr mit Schiller, beide noch in den zwanziger Jahren ihres Lebens, Wilhelm, der Philolog, zu täglichem philo— ſophiſch-äſthetiſchen Austauſch bereit, Alexander, der Naturwiſſenſchafter, in geiſtreicher Unterhaltung über phyſiologiſche Fragen.

Ihnen allen waren damals Poeſie und Wiſſenſchaft keine ganz zu trennenden Dinge. Ahnlich dachten die jungen romantiſchen Dichter, die um 1800 ihr Feldlager in Jena hatten. Allerdings wirkten ſie teilweiſe im Gegenſatz zu den Klaſſikern; ſie fielen von Schiller ab. Goethes Roman Wilhelm Meiſter aber bedeutete ihnen neben der franzöſiſchen Revolution und Fichtes Philoſophie die größte Tendenz der Gegenwart; daran knüpfte auch ihr Name Romantik an. Durch die Formenſtrenge ihrer Poeſie führten ſie die Arbeit der Klaſſiker unmittelbar fort; freilich hatten ſie keinen Lebensertrag von ſittlichem Gehalt zu geben. In A. Wilhelm Schlegels Jenaer Jahren, zwiſchen 1796 und 1800, wurden ſeine Meiſterüberſetzungen von ſechzehn Shakeſpeareſchen Dramen nahezu vollendet; das Neue an dieſer Arbeit war die genaue Wiedergabe der poetiſchen Formen des Urbildes. Er wirkte auch ſonſt als Formkünſtler und -bereicherer, z. B. führte er das Sonett ein. Sein Bruder Friedrich hatte Ver—

Jenaiſche Romantik 25

dienſte durch die poetische Erſchließung des Mittelalters etwa mit einem Gedicht wie „Auf der Wartburg“. Neben den hannöveriſchen Brüdern Schlegel erſchienen die Berliner Brüder Tieck. Von ihnen war Friedrich der Bildhauer; er ſchuf im Herbſt 1801 in Weimar die Büſte Goethes, die der Familie beſonders lieb wurde. Der andre, der Dichter Ludwig Tieck, verlebte von Herbſt 1799 bis Sommer 1800 glückliche Monate in Jenas romantiſchem Kreiſe; hier gab der Verleger Frommann, der eins der verbindlichſten und anregend— ſten Häuſer in Jena machte, Tiecks beſte Jugendwerke, damals geſammelt heraus als Romantiſche Dichtungen, darunter zum erſtenmal Genoveva, Rotkäppchen, Me— luſine. Aus dem nahen Weißenfels war der junge Freiherr von Hardenberg da, Novalis genannt, voll herzlicher Phantaſie, der auch Schiller nie verleugnete, vom Rhein her traf der zwanzigjährige Student Clemens Brentano ein und vermehrte das geiſtreiche Gebrodel, und ſie alle ſtellten ſamt ihren Frauen oder Bräuten ein entzücktes Jugendkonzert dar, mit neuen Tönen in die klaſſiſche Muſik einzuſtimmen geſonnen. Beiläufig: von Brentanos Jenaer Braut, Sophie Mereau, hatte der junge Beethoven das Lied Feuer— farbe komponiert, das 1793 Schillers Frau aus Bonn geſchickt erhielt. Vielleicht iſt ja auch eine früheſte Sinfonie Beethovens gegen das Jahr 1800 zuerſt in Jena geſpielt worden.

Welche Fülle von Geiſtern und geiſtigen Taten in

26 Jenas Sturz

dem einen Jahrzehnt in den beiden Brennpunkten des Herzogtums! Ein Schöpferdrang und eine Meiſterſchaft ohnegleichen in der Geſchichte unſres Schrifttums. Das Gefäß mußte überfließen, ein Teil der Naturen ermatten. Abgeſehen von den nur kurz in Jena weilen— den riſſen die Jahre 1802 und 1803 viele Lücken: Herder und Batſch ſtarben, Loder und Hufeland gingen nach Preußen, Paulus und Schelling nach Süddeutſchland wie 1806 auch Hegel. Goethe verlor 1805 Schiller. Dazu kamen die politiſchen Schläge: Jena ſah Napoleons Sieg über Preußen, das Herzogtum Weimar mußte dem preußiſchen Bündnis entſagen. Dieſen Bedräng— niſſen erlag im Frühjahr 1807 die Stifterin ſo vieles Guten, die Herzogin-Mutter Amalia.

In dem Jahrzehnt nach Schillers Tode hat man die goldenen Früchte Weimars nicht mehr in ſolcher Fülle reifen ſehen wie vorher. Goethe und andre überkam das Gefühl der Entbehrung. Und trotzdem: wie ſich Zeit und Menſchen hier wiederum erneuerten, das ergab nochmals herrlichen Gewinn.

Von Ende 1806 bis Ende 1813 gehörte das Herzog— tum dem Rheinbund an. Napoleon ließ es nicht an Druck auf das Land, an Rückiichtsloſigkeit gegen den Hof fehlen; dem greiſen Wieland begegnete er mit Reſpekt, Goethe nötigte ihm Achtung ab. Nächſt Carl Auguſt und Luiſe trat der Erbprinz Carl Friedrich in den Vordergrund mit ſeiner jungen Gemahlin Maria Paulowna, deren feſtlicher Begrüßung in Weimar

Goethe um 1810 27

Schillers letztes Werk gegolten hatte, Die Huldigung der Künſte. Beiden hohen Frauen ſich zu empfehlen nahm Goethe Gelegenheit durch wiſſenſchaftliche Werke und durch Reime zu Geburtstagsſpielen. Herzogin Luiſe hatte einen Vortrag von ihm über Farben— lehre mit Teilnahme gehört; ihr widmete er, was er 1810, nach mehr als zwanzigjähriger Bemühung, an mannigfachen Beobachtungen und Gedanken zu dieſem Gegenſtand zuſammenfaſſen konnte. Die Erbprinzeſſin erhielt im folgenden Jahre die Schrift über den brandenburger Künſtler Philipp Hackert zugeeignet, den vortrefflichen Maler italieniſcher Landſchaft, den ihre ruſſiſchen Vorfahren hervorragend unterſtützt hatten; Goethe war ſeit ſeiner italieniſchen Reiſe mit ihm in Beziehung geblieben und konnte eine künſtleriſche Verwandlung und geſchichtliche Ergänzung von Hackerts Aufzeichnungen geben. Im Jahre 1810 wurden die winterlichen Geburtstage beider Fürſtinnen durch ſeine ſchönen Stanzen Die romantiſche Poeſie gefeiert, ge— ſprochen zu einem glänzenden Maskenzug des Minne— ſingers, Heldendichters, Brunhilds, Siegfrieds uſw., verfaßt zum Ruhme altheimiſcher Pflege der Dichtung durch die Wettiner auf der Wartburg. Und ſo nahm Goethes Tätigkeit wie der Geiſt der Zeit überhaupt eine Wendung vom klaſſiſchen zum deutſchen Altertum, von der Menſchengeſtalt zur Landſchaft, von unermüd— licher poetiſcher Schöpfung zu vermehrter wiſſenſchaft— licher Beſchäftigung und Beſchaulichkeit.

28 Wahlverwandtſchaften; Dichtung und Wahrheit

Die Gefahr, die mit Napoleons Einmarſch in Thü— ringen hereinbrach, gebot, heimiſche Sitte als heiligen Halt zu ergreifen, und Goethe ließ ſich ſofort im Oktober 1806 mit Chriſtiane kirchlich trauen. Aber dagegen drang bald eine neue Gefahr an, indem er die junge Minna Herzlieb im Frommannſchen Haufe in Jena her— anwachſen ſah und ſich von ihrem Weſen tief angezogen fühlte. Ihr zuliebe ſchuf er die ſchönſten Sonette; dann erſann er aber zur Abwehr die Geſchichte von den Wahl— verwandtſchaften und veröffentlichte ſie 1809 als drei— zehnten (Ergänzungs-) Band ſeiner ſeit 1805 zum erſtenmal nun bei Cotta geſammelt erſchienenen „Werke“. Eine andere Mädchenbekanntſchaft wurde ihm von Frankfurt aus dem Kreiſe ſeiner Mutter zuteil: Bettina Brentano beſuchte ihn, widmete ihm ſchwärme— riſche Verehrung, und ein lebhafter Briefwechſel ent- ſpann ſich. 1808 beſuchte dagegen Goethes achtzehn— jähriger Sohn die Großmutter; wenige Wochen darauf ſtarb ſie. Goethe, zur Einkehr bei ſich ſelbſt auch durch ſeine Ohnmacht den Welthändeln gegenüber aufgefor— dert, wachſenden epiſchen Sinnes, begann ſeine Jugend in eingehender Erzählung vor ſich aufzubauen. 1811 bis 1814 erſchienen die drei erſten Teile Dichtung und Wahrheit aus ſeinem Leben; bei der Vorbereitung dazu ging ihm als neuer Gehilfe der junge Philologe Riemer an die Hand, der Hauslehrer ſeines Sohnes.

Der erſte literariſche Abſchluß ſeiner Licht- und Farbenſtudien erregte in Goethe den Wunſch, nun an

Kantate und Ballade um 1810 29

die akuſtiſch⸗muſikaliſchen Grundfragen zu gehen; zu— gleich mußte ſeiner neuen Hausführung muſikaliſche Ge— ſelligkeit günſtig ſein, und aus dem um 1809 allwöchent— lich zweimal, als Übung und Aufführung durchgeführten Muſizieren bei ihm erwuchs neue lyriſche Anregung: die Texte zu Johanna Sebus, Rinaldo und einer idylliſchen Kantate entſtanden. Ja Goethe gedachte einige der erhabenſten Balladenmotive verſchmolzen zu einer Oper zu entwickeln, die der Löwenſtuhl heißen ſollte; doch formten ſie ſich im weſentlichen zuvor in den fieberhaft erregten Glückstagen nach der Schlacht bei Leipzig als Ballade vom vertriebenen und zurück— kehrenden Grafen. Andere romantiſche Motive wurden in dem deutſchen Frühling 1813 in dem Totentanz, dem getreuen Eckart und der wandelnden Glocke ge— ſtaltet. Bei der Hinwendung zur Muſik war die ſich allmählich befeſtigende Freundſchaft mit dem Berliner Dirigenten und Komponiſten Zelter von Wert.

In dieſen Jahren der öſterreichiſchen und deutſchen Freiheitskriege erwachte auch die Teilnahme an deut— ſcher, germaniſcher Bildkunſt wieder. 1809 gelangten Dürers Zeichnungen für Kaiſer Maximilians Gebetbuch zu Goethes Augen, in neueſter Steinzeichnung verviel— fältigt, 1813 kamen Abgüſſe von Apoſtelſtatuen des Viſcherſchen Sebaldusgrabes in ſeine Sammlung. 1811 legte ihm der junge Boiſſerée aus Heidelberg gotiſche Baukunſt und Malerei in geordneten Nachbildungen vor und die neuen Zeichnungen des jungen Cornelius zu

30 Wiederaufleben Jenas

den Nibelungen. Friedrichs Landſchaften, Kerſtings Innenräume fanden in Weimar frühe Bewunderung und Käufer; und der Landſchaftsmaler wurde als Dichter verſtanden bei der Betrachtung Ruisdaeliſcher Arbeiten.

Anders als Goethes eigene Sammlungen wuchſen unter ſeiner Leitung und unter vermehrter Fürſorge des Fürſten die des Staates an. In Weimar mußte 1809 das Bibliotheksgebäude erweitert werden, das zugleich den Kunſtſammlungen diente. In Jena galt es, auch für mehr Raum und zweckmäßige Umſtellungen zu ſorgen, als Sternwarte und anatomiſches Muſeum eingerichtet und die Kabinette für Phyſik und Chemie, für Oſteologie und Zoologie neu begründet wurden. An jungen Lehrkräften taten ſich der Naturwiſſen— ſchafter Oken und der Hiſtoriker Luden in Jena hervor: Oken ſchränkte ſich von der Naturphiloſophie im Schel— lingſchen Sinne auf die ſchlichtere „Naturgeſchichte“ ein; Luden, herderiſch beeinflußt, begeiſterte durch ſeine Vorträge über das Studium der vaterländiſchen Ge— ſchichte und forderte feſten Volksſinn und deutſche Ein- heit. In der Studentenſchaft hafteten ſeine Gedanken trotz alten Verfaſſungsſonderweſens, und im Frühling 1813 eilten ſämtliche Jünglinge der Landsmannſchaft Vandalia nach Breslau unter die preußiſchen Fahnen.

Goethes Hauptſorge war auch in dieſem Jahrzehnt der Weimarer Bühne zugewandt, und hier hatte er von neuem die Freude, gut begabte und ihm ergebene junge

Weimariſches Theater um 1810 31

Schauſpieler heranzubilden, namentlich in dem Ehepaar Wolff. Noch harrte Taſſo der Uraufführung; ſie ging auf Andringen Wolffs und Riemers und nach Goethes Wünſchen Anfang 1807 vor ſich, ein Zeugnis der im Rheinbundfrieden aufatmenden Kunſt. Zu andern Taten lockte die neue Shakeſpeareüberſetzung, wenn auch Romeo und Julia umgearbeitet werden zu müſ— ſen ſchien, und die friſche Bekanntſchaft Calderons: deſſen Standhafter Prinz, Leben ein Traum, Zenobia wurden dem Weimarer Theater gewonnen; auch Dich— tungen von Heinrich von Kleiſt und Theodor Körner, Zacharias Werner und Müllner führte man jetzt auf. Ifflands letztes Gaſtſpiel, Ende 1813, weihte das ver— einte Bemühen dieſes Jahrzehnts; 1815 wurde ſein, des ſoeben Verſchiedenen, und Schillers Andenken in einem Bühnenſpiel gefeiert, für das Goethe an ſeinen Epilog zu Schillers Glocke, ſchon 1805 und erweitert 1810 geſprochen, nun die allerletzte Strophe fügte:

Wir haben alle ſegenreich erfahren,

Die Welt verdank ihm, was er ſie gelehrt;

Schon längſt verbreitet ſichs in ganze Scharen,

Das eigenſte, was ihm allein gehört ... Damals empfand Goethe, das Weimarer Theater ſei auf ſeinen höchſten ihm erreichbaren Punkt gelangt; bald darauf entſagte er der Leitung, die er über fünf— undzwanzig Jahre geführt hatte.

Die Antike wirkte hier durch ihn weiter fort. Ihr

blieb ja auch der greiſe Wieland getreu, bis in ſeine

32 Pandora und Epimenides

letzten Tage mit der ihm jetzt beſonders zuſagenden Überſetzung von Ciceros Briefen beſchäftigt; als er 1813 heimging, hielt ihm Goethe in der Weimarer Loge die Gedenkrede, in demſelben kleinen Saale des Wittumspalais, wo vor einem Menſchenalter die Iphigenie zuerſt geſpielt worden war. Goethes Kennt— nis der Antike wuchs immer noch durch Vermehrung ſeiner Sammlungen an Büſten, geſchnittenen Steinen und ähnlichem; 1813 erwarb er einen Abguß des großen Zeuskopfes, der in Otricoli ausgegraben worden war. So wandelte auch in griechiſcher Geſtalt, was er jetzt größtes für die Bühne zu dichten unternahm. Von Pandora wurde 1807 nur ein erſter Teil abgeſchloſſen; aber als von der Berliner Hoftheaterleitung der Ruf an ihn erging, die ſiegreiche Rückkehr der Freiheits— krieger zu feiern und ihm ein ſymboliſcher Mittelpunkt dafür in dem Schläfer Epimenides erſchien, raffte er die großen Erlebniſſe des Jahrzehnts und ſeine ganze einzige Kraft zu dem herrlichſten aller deutſchen Feſt— ſpiele zuſammen: des Epimenides Erwachen wurde in Berlin im Jahre 1815 dreimal aufgeführt, am 30. März als dem Jahrestage des Einzugs in Paris, am 1. Juni zur Rückkehr des Königs und am 19. Oktober zur Jahres— feier der Leipziger Völkerſchlacht, und darauf in Weimar Anfang 1816 zur Geburtstagsnachfeier für die Landes— fürſtin.

Wie Epimenides für Berlin, ſo war Pandora für Wien beſtimmt. Das Weimarer Theater gab Gaſtſpiel—

1815 33

folgen in Leipzig und Halle. Schillers Dramen wurden auf allen deutſchen Bühnen geſpielt und erhöhten Sinn und Geiſt der Jugend. Die beiten nord- und ſüddeutſchen Muſiker, allen voran Reichardt, Zelter und Beethoven, trugen viele Goethiſche Lieder als Geſänge in das deutſche Haus.

So war Weimars klaſſiſche Dichtung, von Carl Auguſt als erſtem gepflegt und geliebt, im Jahre 1815 die Morgengabe ſeines Großherzogtums an das neue Deutſchland.

Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 3

Der alte Goethe

Der Zeitabſchnitt, der um das Jahr 1815 fühlbar und bald darauf tiefer deutlich eintrat, machte ſich auch in Goethes Hauſe geltend: 1816 ſtarb ſeine Frau; 1817 heiratete ſein Sohn, und bald belebten Enkel das Haus des Großvaters. Sein Berufs- und Wanderleben ver— engte ſich: 1817 entſagte er der Leitung des Weimarer Theaters, und nach ausgedehnten rheiniſchen Sommer— reiſen der Jahre 1814 und 1815 verließ er nun, außer zu einigen böhmiſchen Badekuren, das Großherzogtum bis zu ſeinem Tode nicht mehr.

Er empfand die Beſchränkung, und der Gedanke tauchte wohl auf, im Alter ſollte man doch in einer großen Stadt leben. Manchmal fragte er ſich, ob mehr Berührung mit der Außenwelt, ob auswärtige Wirkung durch perſönliche Gegenwart ihn und ſeine Freunde nicht mehr fördern könne als die einſame Hockerei, die man ihm wohl vorwarf. Aber die Gedanken der Ruhe über— wogen doch, und mit der Zeit wurde es ihm zur behag— lichen Gewißheit, daß er auch jo in einem großen leben- digen Zuſammenhang webe, ja vielleicht inniger und gründlicher, als wenn er ſich nach außen bewegt und zerſtreut hätte. Das erkannte auch ſein beſter Alters-

Verſtimmungen 35

freund, Zelter in Berlin, mit den Worten an: „Gar gern ſehe ich Dich, wie Du gleich einer Spinne Deine Fäden nach allen Seiten anhängſt und beobachtend in der Mitte ſchwebſt.“

Das natürliche Vorwärts der Welt und die alljähr- lich immer ſchwächere Erneuerung ſeiner Natur wollten auf das behutſamſte in lebendigem Zuſammenhang erhalten werden. Konnten ſeine ruhigen wiſſenſchaft— lichen Anſichten dem heraufziehenden neuen Zeitalter genügen, das ihm als turbulent erſchien? Das neue Menſchen⸗ und Weltweſen drehte ſich um ihn, den immer perſönlicher ſich Auskriſtalliſierenden, herum, daß es ihm manchmal hätte ſchwindlig werden mögen. Es war ja ſeinerſeits arge Verkennung der jungen Zeit⸗ genoſſen, wenn er in einem ausnahmsweiſe überreizten Zuſtand ſich zuredete: „Dem redlich denkenden Ein— ſichtigen bleibt es gräßlich, eine ganze nicht zu verachtende Generation unwiederbringlich im Verderben zu ſehen.“ Wohl mußte ihm die Schwäche des fortgeſetzten Klaſſi— zismus, der weiterhallenden Romantik, das Bizarre manches neuen Realiſten gleicherweiſe zuwider ſein, und ſo verſteht ſich ſein um das Jahr 1820 wiederholt geäußerter Entſchluß, an der neueſten deutſchen Lite⸗ ratur, wenn überhaupt, nur noch äußerſt enthaltſam teilzunehmen. „Die Eile der neuſten Zeit“ wurde ihm dauernd unerquicklich. Andrerſeits verdroß ihn die neue, romantiſche Liebe, die ſich deutſchen Altertümern

zuwandte, ſo daß er einmal ganz modern ausrief: 3 *

36 Verdruß und Verſöhnung

Amerika, du haſt es beſſer

Als unſer Kontinent, das alte, Haſt keine verfallene Schlöſſer

Und keine Baſalte.

Dich ſtört nicht im Innern,

Zu lebendiger Zeit,

Unnützes Erinnern

Und vergeblicher Streit.

Benutzt die Gegenwart mit Glück! Und wenn nun eure Kinder dichten, Bewahre ſie ein gut Geſchick

Vor Ritter-, Räuber: und Geſpenſtergeſchichten.

Ein andermal äußerte ſich auch das verſtimmte Alter in dem ſo ungoethiſch wie möglich klingenden Rat, mit dem er einen Silveſterbrief an Zelter ſchloß: „Beſieh Dir ja die weite Welt gelegentlich, ſolange ſie Dir Spaß macht. Ich habe mir die äſthetiſche Anſicht derſelben (die landſchaftliche) durch die wiſſenſchaftliche ganz ver— dorben, und dabei kommt endlich auch nicht viel heraus.“ Aber ſolchen Mißmut verbannte er doch ſchließlich gründlich. An denſelben Freund faßte er im Frühjahr 1820 einmal ſein Altersdaſein in die Worte zuſammen: „Unbedingtes Ergeben in den unergründlichen Willen Gottes, heiterer Überblick des beweglichen, immer freis- und ſpiralartig wiederkehrenden Erde-Treibens, Liebe, Neigung, zwiſchen zwei Welten ſchwebend, alles Reale geläutert, ſich ſymboliſch auflöſend. Was will der Groß» papa weiter?“

Goethes Haus war geräumig genug, die Familie

Großvater Goethe 37

ſeines Sohnes Auguſt bequem mit zu faſſen, und Goethe lebte mit ihr in erfreulichen Verhältniſſen. Auguſt hatte die Rechte ſtudiert; ohne das Studium abgeſchloſſen zu haben, hatte er im Weimarer Staatsdienſt Beſchäftigung als Helfer ſeines Vaters gefunden und von ſeinem Paten, dem Großherzog, den Titel Kammerrat erhalten. Der gewandte und geſellige junge Mann war eine angenehme Vermittlerperſon für heimiſche, geſchäftliche und geſell— ſchaftliche Aufgaben und Abſichten des alten Goethe. Er gehörte nicht zu den nächſten literariſchen Gehilfen des Altmeiſters, wurde aber immer auf dem laufenden erhalten über des Vaters Beſchäftigung. Wie der alte Hausherr etwelche Not der jungen Leute im ſtillen treulich mittrug, ſo nahmen ihm Auguſt und ſeine hübſche, kluge Frau Ottilie ein gutes Teil der frohen Pflichten des Hauswirtes ab. Ottilie begrüßte gern Ausländer bei ſich und brachte die Herausgabe einer Zeitſchrift Chaos zuſtande, ſo daß Goethe über ihre „Konſular⸗ und Redaktorpflichten“ ſcherzte. Dem Sohn teilte er ſich perſönlich vertraulich bei einem Glaſe Wein gegen Mitternacht mit; zu literar- und künſtleriſcher und weiterer Lebensausſprache gewann er 1823 den feinſinnig auf ihn eingehenden Nieder— ſachſen Eckermann, der ihm während ſeines letzten Lebensjahrzehntes näher ſtand als die dauernd bei— rätigen Meyer und Riemer.

Im Sommer ergab ſich Verkehr genug dadurch, daß viele Reiſende ihn beſuchten. Junge Dichter,

38 Beſuch

Küuſtler, Muſiker, Gelehrte fuhren nach Weimar, huldigten ihm, brachten ihm Erſtlinge oder ſpielten ihm vor, empfingen weiſende Worte und fühlten ſich mit Huld aufgenommen. Alte Freunde ſprachen vor oder kehrten zu Wochenbeſuch in Weimar ein. So manches Jahr verſammelte der 28. Auguſt einen grö— ßeren Kreis von Verehrern des Siebzigers, des Achtzi— gers, darunter Engländer, Franzoſen, Polen. 1827 erzeigte ihm der junge kunſtbegeiſterte Bayernkönig Ludwig J. die Ehre, ihn zu dieſem Tage zu beſuchen; auch deſſen Schwager, der ähnlich geſinnte preußiſche Kronprinz, kam zu Goethe nach Weimar. Dann durfte er im Herbſt ſich preiſen: „Mich, den mittelländiſchten Menſchen, haben die beſten Wallfahrer beſucht.“

Aber im Winter lebte der alte Goethe einſam. Da diktierte er fleißig, ſo daß er einmal ſagen konnte, ſeine ganze Exiſtenz ſtehe auf dem Papiere. Sein Arbeits» ſtübchen war nach Süden aufs Freie hinaus gelegen, es wurde von der Winterſonne beſchienen, dort gedieh wiſſenſchaftliche und künſtleriſche Beſchäftigung, dort gedachte er der auswärtigen Freunde, denen er eigent— lich alles, was er noch ſchuf, zubereitete, von dort aus führte er ſeinen großen Briefwechſel ſo ſorgſam, daß ſeine aus der Zeit von 1815 bis 1832 erhaltenen Briefe nun gedruckt faſt ſechsundzwanzig Bände füllen, mehr als die Hälfte ſeiner erhaltenen Lebenskorreſpondenz. Da gingen die Zeilen an die Weimarer Behörden und Organe aus, die Begrüßungen der einheimiſchen Fürſt⸗

Briefwechſel 39

lichkeiten und Freunde, die herzlichen Briefe nach Jena an Knebel, nach Leipzig an Rochlitz, nach Dresden an Carus, die Geſchäfts-, kunſt- und wiſſenſchaftlichen Schreiben an Cotta und Boiſſerée in Stuttgart und an den Grafen Reinhard in Frankfurt, an Nees von Eſenbeck in Bonn, von da die ergiebigen und vertrauten Mitteilungen nach Berlin an den guten Freund Zelter, an die lange lebensaufwärts begleiteten Brüder Hum— boldt, an den Schauſpielintendanten Graf Brühl und den Philoſophen Hegel, an die drei vortrefflichen Staatsräte Nicolovius, Schulz und Süvern. Er hatte Alt und Jung zu bedenken, für Erhabenſte und Geringſte die Form zu wählen, und in jedem Satze war es Goethe, der diktierte oder ſchrieb, ob an den Staatskanzler Metternich in Wien oder an einen Gymnaſiaſten in Rudolſtadt. Dieſe Briefe trugen ihm reiche Gegenernte, am erquickendſten von Zelter; vieles Deutſche zog er ſo an ſich heran, manche großen Intereſſen verknüpfte die Feder, die ſeine Briefe unterzeichnete.

Seine Teilnahme ſtreckte ſich auf literariſchen Wegen weit über Deutſchlands Gegenwart in Raum und Zeit hinaus. Als er zur Ergänzung ſeiner ſonſtigen Bekennt— niſſe Tag⸗ und Jahreshefte über ſein weimariſches Leben bis 1822 zuſammenſtellte, hatte er allein für das Jahr 1821 von folgenden Dingen zu berichten. Aus der altgriechiſchen Dichtung ward die Frage der Ein— heitlichkeit der homeriſchen Gedichte im Anſchluß an neueſte deutſche und engliſche Literatur erörtert und

40 Literariſche Teilnahme (1821)

ein Verſuch gemacht, die neu mitgeteilten Fragmente der euripideiſchen Tragödie Phaethon zu ergänzen. Andre griechiſche Schriftſteller mußten als etwaige Quelle zu Mantegnas Triumphzug Caeſars durch— geſehen werden, der Goethe damals beſchäftigte, und Knebels endlich veröffentlichte Lucrezüberſetzung führte ihrerſeits in das Rom Caeſars. Aus England erregten Lord Byron und Sir Walter Scott Anteil, und engliſche Vermittlung führte zu bewundernder Vertiefung in die altindiſche Literatur. Aus Spanien wirkte ein neueres Reiſebuch mit geſchichtlichen Schilderungen der jüngſten Vergangenheit ein und zwei noch unbekannte Calderon— ſche Stücke, aus Italien ein neues Trauerſpiel von Man— zoni. In Paris wurde die Übertragung von Goethes Theaterſtücken ins Franzöſiſche beachtet; und der Ruſſe Purkinje regte Goethe auf durch ſein Werk über das ſubjektive Sehen. Endlich trat Altdeutſchland mit einer märchenhaft ausgedehnten Legende von den heiligen drei Königen in ſeinen Kreis, mit Steindrucken nach der Boiſſeréeſchen Gemäldeſammlung, mit Boiſſerées Abhandlung über den Kölner Dom und noch vielen kleineren Sachen, die verarbeitet wurden.

Muſik war nicht Goethes Element, aber noch im Sommer 1830 durfte der alte Goethe verſichern, ſein Verhältnis zur Muſik ſei noch immer dasſelbe, er höre ſie mit Vergnügen, Anteil und Nachdenken; dabei liebte er ſich das Geſchichtliche. Im Herbſt 1818, als er zur Erfüllung einer Dichteraufgabe in das ſtille Berka ent—

Klavierſpiel gejchichtlich 41

wichen war, ließ er ſich von dem dortigen Organiſten Schütz täglich drei bis vier Stunden vorſpielen: von Sebaſtian Bach über Händel, Karl Philipp Emanuel Bach, Haydn und Mozart bis zu Beethoven. Und als ihn 1830 der junge Felix Mendelsſohn zum letzten— mal beſuchte, wurde wieder bei den Klaviervorträgen der Gang der Geſchichte eingehalten von der Bachſchen Zeit über Gluck und die Klaſſiker zu den neueren Tech— nikern und Mendelsſohns eignen Werken; „denn wer verſteht irgendeine Erſcheinung, wenn er ſich nicht von dem Gang des Herankommens penetriert?“ Für Se— baſtian Bach ging ihm zwar dieſer geſchichtliche Vorblick ab, ſeine Größe mußte und konnte er in Berka in voll— kommener Gemütsruhe intuitiv erfaſſen: „Ich ſprach mir's aus: als wenn die ewige Harmonie ſich mit ſich ſelbſt unterhielte, wie ſich's etwa in Gottes Buſen, kurz vor der Weltſchöpfung, möchte zugetragen haben. So bewegte ſich's auch in meinem Innern, und es war mir, als wenn ich weder Ohren, am wenigſten Augen, und weiter keine übrigen Sinne beſäße noch brauchte.“ Wie Bach ſeine ſchwerſten Variationen zur Unterhaltung eines an Schlafloſigkeit leidenden Grafen geſchrieben hatte, ſo nahm Goethe Bachſche Klaviermuſik auf: „ich lege mich ins Bett und laſſe mir von unſerm Bürger— meiſterorganiſten in Berka Sebaſtiana ſpielen.“

Da er, um mit Inſtrumentalmuſik in Fühlung zu bleiben, vor allem auf Klaviermuſik angewieſen war, ließ er ſich von Rochlitz in Leipzig einen Streicherſchen

42 Der alte Goethe und die Muſiker

Flügel ausſuchen, und das wertvolle Inſtrument kam im Sommer 1821 gerade zu rechter Zeit an, daß der gleich darauf von Zelter herangeführte Felix Mendels— ſohn zum erſtenmal ſein Talent vor Goethe hören laſſen konnte. Nächſt ihm, und noch virtuoſer, ſpielte Hummel öfter vor Goethe auf dieſem Flügel, der Weimarer Meiſter, und in Goethes letztem Lebensſommer die junge Klara Wieck und am Alltag ſeine Enkel. Die ganz beſondere Weichheit der Empfindung, bei der ihn im Sommer 1823 in Marienbad Muſik überwältigte, in dem Geſang der Milder und dem Klavierſpiel der Szyma— nowska, überwand Goethe wieder; mit gutem Mute hörte er 1825 abermals Mendelsſohn und hoffte danach von neuem, daß ſeine Umgebung wieder tonſelig werde.

In allen Muſikfragen wandte er ſich an Zelter; deſſen muſikaliſche Bildung war ihm die gemäßeite, deſſen Kompoſitionsweiſe ſeiner Lieder war ihm die liebſte. Als es ihm in hohem Alter einmal auffiel, daß unter ſeinen Gedichten an Perſonen keines an einen ſo geiſtverwandten und herzverbundenen Freund wie Zelter war, erklärte er es daher, „daß alles Lyriſche, was ich ſeit dreißig Jahren gedichtet, als in ſeinem Sinne und Geiſte erfaßt, ihm zu eigentlicher muſikaliſcher Belebung geſendet worden.“ Zelter konnte ſich das Urteil eines Berliner Kritikers, ſeine Goethekompoſi— tionen ſeien mehr äſthetiſch als muſikaliſch wertvoll, gefallen laſſen, da er von Goethe hörte: „Deine Kom—

poſitionen fühle ich ſogleich mit meinen Liedern identiſch,

Geſchenke von auswärts 43

die Muſik nimmt nur, wie ein einſtrömendes Gas, den Luftballon mit in die Höhe. Bei andern Komponiſten muß ich erſt aufmerken, wie ſie das Lied genommen, was ſie daraus gemacht haben.“ Aus vielen Briefen Zelters erfuhr Goethe allerlei aus dem Berliner Kon— zert⸗ und Operntreiben.

Zwiſchen den ſeltenern und flüchtigen Gaben der Muſik, die ſich dem alten Goethe boten, erſchienen in dichterer Fülle dauernde Geſchenke, die ſeinem wiſſen— ſchaftlichen Denken und ſeinem Anſchauen des Schönen gewidmet waren. So erfreuten ihn auswärtige Gelehrte und Reiſende: z. B. 1818 zum Geburtstag Profeſſor Schweigger mit einem neuen optiſchen Apparat, 1820 ein mecklenburgiſcher Kammerherr mit bedeutenden Mineralien aus Tirol und ein däniſcher Kammerherr mit schönen Opalen von den Faröern. 1828 ſandte ihm der alte Anatom und Freund Loder, der inzwiſchen vom herzoglich weimariſchen längſt zum königlich preußiſchen und weiter zum kaiſerlich ruſſiſchen Leibarzt geworden war, einen Prachtkaſten in ledernem Gehäuſe mit einer Sammlung ſibiriſcher Mineralien und ruſſiſcher Koſt— barkeiten. Einige Verehrer bedachten ihn mit Er— innerungsſtücken ſeines eigenen Lebens: der Dresdner Landſchafter Carus 1820 mit dem von ihm gemalten Brockenhaus, der bayriſche Architekt Klenze 1828 mit ſeinem Gemälde der Ruinen des Zeustempels von Agrigent, und in demſelben Jahre ſandte der Groß— herzog von Mecklenburg-Strelitz zum 28. Auguſt die

44 Goethe als Sammler

eichene Standuhr aus Goethes Elternhaus. Die Berliner Bildhauer Tieck und Rauch wetteiferten ihn zu erfreuen, der ältere 1825 mit einem Werke von Carſtens, der Parze Atropos, die er ergänzt hatte, und 1828 mit den Modellen zu Kaſſandra und Achill, die er für das Ber— liner Schloß gearbeitet hatte, der jüngere mit den Reliefs zu ſeinem Berliner Blücherdenkmal u. a. Man wußte, daß man Goethe mit guten Kopien nach bedeutenden Antiken eine beſondere Freude mache, und ſo ließ ihm 1823 Staatsrat Schultz die große Juno Ludoviſi zugehen und 1829 der König von Bayern den Niobiden Ilioneus. Manches schöne Geſchenk ſchmückte am 7. November 1825 ſeine Zimmer, als man den fünfzigjährigen Jubeltag ſeines Eintreffens in Weimar feſtlich beging.

Goethe war im Alter Sammler von Beruf geworden, d. h. er lebte für ſeine Sammlungen und zehrte von ihnen. Schon im Vaterhauſe hatte ihn eine gediegene Privatſammlung umgeben, und manches Stück daraus hatte er geerbt; in jungen Weimarer Jahren hatte er ſich eine Sammlung von Handzeichnungen angelegt, in Italien ſich mit einer kleinen Antikenſammlung umgeben und dann in Weimar ab und zu weiter dies und jenes erworben, auch eine große Steinſammlung vom Thü— ringer Walde allmählich zuſammenerklopftund-getragen. Erſt im Alter aber betrieb er das Sammeln ſtreng zu täglichem Genuß und ſteter Belehrung, indem er auf Auktionen ankaufen ließ, billige Gelegenheiten aus— nutzte, ihm merkwürdige Stücke mit zäher Abſicht im

Bei Betrachtung Saftlebens 45

Auge behielt, bis ein glücklicher Kauf gelang. So beſaß er ſchließlich über 2000 Stiche, Holzſchnitte u. dgl. und über 1000 Handzeichnungen; unter jenen überwogen die Italiener, unter dieſen die Deutſchen. 1819 bedeutete für ihn die Erwerbung eines ausgezeichneten Abdrucks von Schongauers Tod der Maria die Erfüllung eines „uralten Wunſches“, anderes wurde wiſſenſchaftlich verwertet, und das beſte wurde ihm zum Lebensſymbol und als ſolches auch Freunden mitgeteilt. So genoß er im zweiundachtzigſten Lebensjahre eine angenehme Zeichnung von Saftleben, eine Rheinlandſchaft aus deſſen fünfundſiebzigſtem Jahre, und äußerte ſich dar— über getroſt zum alten Zelter: „Das merkwürdige dieſes Blättchens iſt: daß wir die Natur und den Künſtler im Gleichgewicht miteinander gehen und beſtehen ſehen, ſie ſind ruhig befreundet; er iſt, der ihre Vorzüge ſieht, anerkennt und ſich aufs billigſte mit ihnen abzufinden ſucht. Hier iſt ſchon Nachdenken und Überlegung, ent— ſchiedenes Bewußtſein, was die Kunſt ſoll und vermag, und doch ſehen wir die Unſchuld der ewig gleichen Natur vollkommen gegenwärtig unangetaſtet. Dieſer Anblick erhielt mich aufrecht, ja es ging ſo weit, daß, wenn ich mich augenblicklich ſchlecht befand und davor— trat, fühlt' ich mich wirklich unwürdig es anzuſehn. Der tüchtige mutige Geſelle, der ſolches vor hundert Jahren in heiterſter Gegenwart niedergeſchrieben hatte, konnte den kümmerlich Beſchauenden, inmitten der triſten thüringiſchen Hügelberge kaum erdulden. Wiſcht'

46 Kunſt⸗ und Naturalienbeſitz

ich mir aber die Augen aus und richtete mich auf, ſo war es denn freilich heiterer Tag wie vorher.“ An Marmor— und Elfenbeinſachen, Holzſchnitzereien und Wachsar— beiten, Bronzefiguren und Reliefs und geſchnittenen Steinen beſaß er manches merkwürdige, dazu etwa 750 antike Münzen und eine herrliche, ihm liebwerteſte Medaillenſammlung, mit über 1100 Stücken allein aus Italien, und mehr als 100 Majolikaſchüſſeln und-Vaſen, die er zwiſchen 1817 und 1829 erwarb, meiſt aus der Sammlung des Hauptmanns von Derſchau in Nürn⸗ berg. Mineralien aber hatte er ſchließlich über 10000 Stück, dazu zoologiſche Merkwürdigkeiten, präparierte Schädel und phyſikaliſche Inſtrumente und Hilfsmittel aller Art zur Farbenlehre. Schon 1819 konnte er ſagen: „Mir will nun nicht mehr wohl werden als in meinem Hauſe, das beſonders den Sommer alle Vorteile genießt und wo mir ſo vieljährig zuſammengetragene Beſitz— tümer zu Gebote ſtehen, die mir Freude und Nutzen bringen.“

Goethes Verhältnis zur bildenden Kunſt war in

früheren Jahren ſo dringend geweſen, daß er es bis

zur Ausübung als Radierer und Landſchaftszeichner getrieben hatte. So weit ging ſeine Luſt im Alter nicht mehr; aber gelegentlich wirkte er andeutend und beratend bei der Entſtehung von größeren Kunſtwerken mit. Die ſchönen rheiniſchen Eindrücke des Sommers 1815, wo er zufällig an der Wiedereröffnung der Rochuskapelle bei Bingen teilgenommen hatte, klangen

2 >

Für Bingen und Roitod 47

in Weimar nach, und das Bild des heiligen Rochus, wie er völlig ausgebeutelt von ſeinem Palaſt die Pilger— ſchaft antritt, wurde 1816 in Goethes Kreiſe erfunden, ſkizziert, gemalt und gelangte als willkommnes Ge— ſchenk in die Kapelle am Rhein. Eine andre faſt gleichzeitige Wirkung gelang nach Roſtock. Dort ſollte das erſte Standbild Blüchers errichtet werden, Schadow in Berlin hatte den Auftrag dazu erhalten, Goethe in Weimar aber ſollte die Oberleitung haben. So mußte der Realiſt Schadow ſeine in bloßer Wahrhaftigkeit ge— ſehene Heldengeſtalt ſamt den gleichartigen Reliefbildern am Sockel Sturz bei Ligny und Sieg bei Waterloo antikiſierend verhüllen und geiſtig bereichern: Blüchern wurde ein Löwenfell um die Schultern geſchlungen, und ſtatt eines Offiziers, der den mit dem Pferde geſtürzten Feldherrn deckt, wurde ein geflügelter Genius beige— geben. Goethe ſelbſt empfand, daß damit ein ſeltſames Grenzwerk geſchaffen wurde, das wie ein Januskopf zwei Anſchauungen vereinigte.

Schadow war im Februar 1816 bei Goethe, um dieſe Dinge mit ihm zu beſprechen. Damals arbeitete er auf Auguſt von Goethes Wunſch ein Wachsmedaillon mit Goethes Bildnis, nahm auch Goethes Geſichtsmaske ab und nach dieſer ſchuf er 1823 ſeine Marmorbüſte des alten Goethe. Schadows Maske diente auch den beiden Berliner Meiſtern Tieck und Rauch als Grund— lage, als ſie Goethe 1820 in Jena beſuchten und ihre beiden Büſten zu gleicher Zeit in demſelben Raume nach

48 Büſten und Bildniſſe des alten Goethe

ihm modellierten. Seit 1815 verging kein Jahr bis zu Goethes Tode, wo er nicht einmal gemalt, gezeichnet oder in Ton gebildet worden wäre, ſo daß er ſcherzte:

Sibylliniſch mit meinem Geſicht

Soll ich im Alter prahlen!

Je mehr es ihm an Fülle gebricht,

Deſto öfter wollen ſie's malen! Das anregende Zuſammenſein mit hervorragenden Künſtlern war das Erfreuliche für ihn bei ſolchem Still— halten; die wenigen Sommertage mit Tieck, Rauch und Schinkel als Viertem waren von lebhaften, leidenſchaft— lichen Kunſtunterhaltungen erfüllt und belebten ihn ſelbſt in der Erinnerung noch durch ihre gedrängte Produkti— vität. Der Engländer, der Ruſſe, der Franzoſe be— mächtigte ſich nun ſo auch ſeines Anblicks; zuletzt zeich— neten ihn die beiden Weimarer Schwerdgeburth und Preller in Leben und Tod.

Goethe hat im Alter wiederholt ausgeſprochen, daß das Auge bei ihm vorwalte, und die bildende Kunſt hat ihm, wie ſie ihn als Sammler und Freund be— ſchäftigte, auch als Gelehrten zu tun gegeben. Was er da mitzuteilen hatte, legte er in ſeiner Zeitſchrift „Kunſt und Altertum“ allmählich von 1816 bis 1832 in ſechs Bänden nieder; Meyer und andre Freunde lieferten ihm manchen Beitrag dazu. Hier erſchien ſeine Studie über die Frage, wie denn Myrons Werk, die vielge— rühmte Kuh, eigentlich ausgeſehen habe, und die Ab— handlungen über Philoſtrats Gemälde, Mantegnas

Kunſt und Altertum; Zur Naturwiſſenſchaft 49

Triumphzug und Leonardos Abendmahl, hier erzählte er aufs anmutigſte von dem Rochustage am Rhein, hier veröffentlichte er auch ſeine Verſe zu Tiſchbeins Idyllen und zu ſeinen eigenen Handzeichnungen, als Schwerdgeburth dieſe geſtochen herausgab. Wiſſen— ſchaftliches Denken, herzhafter Genuß und unbeirrbarer Blick für die echteſten Lebensgüter durchflechten ſich in dieſen Heften ſo reizvoll wie wohl in keiner andern deutſchen Zeitſchrift wieder.

Ahnlich wirkte er in ein paar Bänden, die er zwiſchen 1817 und 1824 zur Naturwiſſenſchaft überhaupt und beſonders zur Morphologie herausgab. Metamorphoſe, der Wandel der Geſtalten, in Botanik und Zoologie war hier das Hauptthema, aber ſittliches und poetiſches, allgemeine Theorie und perſönliches wurde leicht, frei und wie notwendig dazwiſchen gefügt. Noch immer wurde die Farbenlehre weiter getrieben, auch geologi— ſches dankbar hinzugelernt, namentlich in dem ergiebigen Böhmen. Überraſchenden Gewinn brachte ihm aber jetzt das Wolkenſtudium nach Howard. Im Sommer 1818 quartierte er ſich an der Jenaer Saalbrücke drüben im Erkerzimmer der Tanne zu Camsdorf ein und „genoß mit Bequemlichkeit, bei freier und ſchöner Aus— und Umſicht, beſonders der charakteriſtiſchen Wolken— erſcheinungen“; er „beachtete ſie, nach Howard, in bezug auf Barometer und gewann mancherlei Einſicht.“ Er zeichnete die Wolkenformen; im Frühjahr und Sommer

1820 führte er ſtreng Wolkentagebuch, ſchrieb darauf Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 4

50 Zur eignen Lebensbeſchreibung

den Aufſatz „Wolkengeſtalt“, und 1821 entſtand als Abſchluß ein Gedicht über die Hauptworte von Howards Terminologie. Manche wunderbare Strophe aus dem Zuſammenhang von Natureinſicht und Menſchenleben, über tiefe menſchliche Beziehungen zu dem unendlichen All eröffnete, begleitete und rundete auch dieſe Hefte.

Der Zauber des Perſönlichen, der von hier ausging, hing auch damit zuſammen, daß Goethe bei allem, was er tat, nicht aufhörte, den eigenen Lebensſtrom ge— ſchichtlich zu überſehen. Autobiographiſche Arbeit war ihm auch jetzt Bedürfnis; und hatte er am Ende der mittleren Jahre ſeine Jugend wieder vor ſich ausge— breitet, ſo galt es jetzt, Mitte und Alter zugleich zu bewältigen. Tagebücher und Briefe wurden zu Zettel und Einſchlag, darein ſtickte die Erinnerung ihre bunten Farben, und auch fremde Fäden wurden zur Schilderung entrückter Zeiten und Erlebniſſe nicht verſchmäht. So entſtand ſeine Italieniſche Reiſe und wurde 1816 und 1817 als Anfang der zweiten Abteilung „Aus meinem Leben“ veröffentlicht. Mitten in der Ordnung und Redigierung der alten Papiere kam es ihm vor, als ob er nur in der Vergangenheit lebe, und das Ungegen— wärtige der Sache machte ihm die Arbeit oft läſtig; den Plan, das Werk mit Bildern herauszugeben, ließ er fallen. 1822 konnte er die Erzählung ſeiner Teil— nahme an der Kampagne in Frankreich aus dem Jahre 1792 folgen laſſen; daran ſchloß er den Bericht über die damalige Belagerung von Mainz. Auch ein vierter

Tag- und Jahreshefte 51

Band Dichtung und Wahrheit wurde nach langer Pauſe geſchrieben und ſo dieſes biographiſche Hauptwerk glücklich bis zu ſeinem Eintritt in Weimar fortgeführt. Die Lücken, die zwiſchen den größeren Lebensbildern blieben, füllte er einigermaßen durch eine Art Chronik aus, die ſummariſchen Tag- und Jahreshefte bis 1822. Nach mancherlei Anläufen entſchloß er ſich, dieſe rück— wärts zu ſchreiben, ſo daß er, als er 1823 begann, zunächſt mit deutlich ihm bekanntem zu tun hatte und durch dies allmählich das Verſchwundene, Verſchollene zurückrufen ließ. 1825 war er aber doch wieder im natürlichen Fahrwaſſer, arbeitete im Mai das erſte Jahrfünft des 19. Jahrhunderts aus und wollte „dieſen edlen Faden gern zart und ſorgfältig durch- und aus— ſpinnen; es iſt der Mühe wert und eigentlich keine Mühe, ſondern die größte Genugtuung, und ich freue mich ſchon, die große Kluft vom Anfang des Jahrhun— derts bis heute ſtetig ausgefüllt zu ſehen.“

Bei der autobiographiſchen Beſchäftigung mit dem großen Jahrzehnt von 1795 bis 1805 nahm Goethe ſeinen damaligen Briefwechſel mit Schiller zur Hand, und er fand das dort beiderſeits ausgeſprochne ſo bedeutend, daß er beſchloß, dieſen Quell geiſtigen und künſtleriſchen Ringens, dieſe Werkſtättenbilder ſelbſt zu veröffentlichen. In ſechs Bändchen erſchienen die Briefe 1828 und 1829; der letzte und mit ihm das Ganze wurde König Ludwig J. von Bayern gewidmet. Wäh—

rend der Redaktion, Ende Oktober 1824, empfand er: 4 *

52 Die Briefwechſel mit Schiller und Zelter

„Es wird eine große Gabe ſein, die den Deutſchen, ja ich darf wohl ſagen den Menſchen geboten wird. Zwei Freunde der Art, die ſich immer wechſelſeitig ſteigern, indem ſie ſich augenblicklich expektorieren. Mir iſt es dabei wunderlich zumute, denn ich erfahre, was ich einmal war.“ Aber nach einer ſolchen Außerung, die leicht kläglich klang, gewann der alte Goethe, der doch auf ſich zu halten Grund hatte, ſofort wieder Oberwaſſer und erkühnte ſich fortzufahren: „Doch iſt eigentlich das lehrreichſte der Zuſtand, in welchem zwei Menſchen, die ihre Zwecke gleichſam par force hetzen, durch innere Übertätigkeit, durch äußere Anregung und Störung ihre Zeit zerſplittern; ſo daß doch im Grunde nichts der Kräfte, der Anlagen, der Abſichten völlig wertes herauskommt. Höchſt erbaulich wird es ſein; denn jeder tüchtige Kerl wird ſich ſelbſt daran zu tröſten haben.“ Der Briefwechſel mit Zelter diente ihm ebenſo um 1825 erſt zur Herſtellung der Tag- und Jahreshefte und wurde dann ſelbſt zur Veröffentlichung beſtimmt. Goethe nannte ihn im Juni 1826, wo der größte Teil ſauber abgeſchrieben und in mehrere Bände geheftet vor ihm lag, „ein wunderliches Dokument, das an wahrem Gehalt und barockem Weſen wohl kaum ſeines— gleichen finden möchte.“

Goethe erlebte im Alter noch zwei Geſamtausgaben ſeiner Werke. Eine zwanzigbändige Oktavausgabe erſchien von 1815 bis 1819; als ihr Abdruck eben ein— geleitet war, forderte man chronologiſche Reihenfolge,

Letzte Ausgabe; neue Fabeln 53

das lehnte Goethe aber mit Erfolg ab. 1825 wurde die Ausgabe letzter Hand in Angriff genommen. Sie wuchs von 1827 bis 1830 auf vierzig Bändchen in Sedez an, eine zierliche Taſchenausgabe; daneben lief eine Oktavausgabe her. Mit den ſich unmittelbar anſchlie— ßenden Veröffentlichungen aus Goethes Nachlaß kam die Sedezausgabe bis 1834 auf 55 Bändchen, die Oftav- ausgabe bis 1842 auf 60 Bände.

Daß der Dichter Goethe keine dieſer Ausgaben ohne neue Schätze und Kleinodien erſcheinen ließ, verſteht ſich von ſelbſt. Von ſich und andern wußte er, „daß jeder etwas eignes in ſich hat, das er auszubilden gedenkt, indem er es immer fortwirken läßt. Dieſes wunderliche Weſen hat uns nun tagtäglich zum beſten, und ſo wird man alt, ohne daß man weiß wie oder warum. Beſeh ich es recht, ſo iſt es ganz allein das Talent, das in mir ſteckt, was mir durch alle Zuſtände durchhilft, die mir nicht gemäß ſind und in die ich mich durch falſche Richtung, Zufall und Verſchränkung ver— wickelt ſehe.“ Ihm ließ die Luſt zu fabulieren auch zu Beginn ſeines Alters keine Ruhe. Alljährlich brachte Cottas Taſchenbuch für Damen eine neue Erzählung von ihm: 1816 das nußbraune Mädchen, 1817 die neue Meluſine, 1818 den Mann von fünfzig Jahren. Hielt er dieſe Dinge mit ähnlichem älteren zuſammen wie der Pilgernden Törin, die er ſchon 1809 in dem— ſelben Taſchenbuch veröffentlicht hatte, ſo war es alles Erfahrenes, Erwandertes, was er ſo geſchöpft und ent—

54 Wilhelm Meiſters Wanderjahre

wickelt oder mit Hilfe von Okulation alter Sagenſtoffe bei ſich gezüchtet hatte. Schon 1810 hatte er, auch in Cottas Taſchenbuch, in dieſem Sinne den Anfang von Wilhelm Meiſters Wanderjahren gebracht; jetzt nach zehn Jahren begann ſich die Kette zu ſchließen, ihr ideeller Zuſammenhang wurde bewußt gefördert, was Goethe eigenſtes an pädagogiſchem und ſozialem Denken beſaß, ins Poetiſche dieſes Geländes übertragen und abgeſchloſſen. Ging es dabei nicht ohne redaktionelle Härten ab, ſo entſchädigten dafür ein andermal zuſam— menfügende Glücksſtunden, wo er ſeine Sammlung verwerten konnte. Jener von Väterhausrat umgebene alte Freund, bei dem Wilhelm am Schluſſe des erſten Teils eintritt, erinnert an den Sammler Goethe, ſein junger Beſitzgenoſſe an Goethes Sohn wie ander— ſeits auch in Wilhelm und Felix Teile von beiden ge— ſtaltet ſind und das ehrwürdige elfenbeinerne Kruzi— fix, von dem der Alte wunderbarerweiſe die Teile in langen Zeiträumen nacheinander erhalten hat, iſt gewiß nach dem altſächſiſchen Kreuzfuß des zwölften Jahr— hunderts in Goethes Sammlung erdichtet worden. Auch mit Beziehung auf ſolche Zwiſchenzüge durfte Goethe ſagen, als das Werk im Herbſt 1821 bei den Freunden eintraf: „Ich kann mich rühmen, daß keine Zeile drinnen ſteht, die nicht gefühlt oder gedacht wäre.“

So verband ſich dem alten Goethe auch Lyrik und Wiſſenſchaft. Noch zur Zeit der Hochkämpfe der Frei— heitskriege hatte er, ſich ruhig zu erhalten, ſeine Ge—

Weſt⸗öſtlicher Divan 55

danken nach dem fernen Südoſten gewandt und orienta— liſche Sitte und Dichtung erkundet und erkannt. Dann erlebte er die beglückenden Rheinreiſen der Sommer 1814 und 1815: neue Betrachtung, neue Liebe ſchlugen dem alten Sänger zu neuen Liedern aus, und in den nächſten Jahren reifte es weiter in dem Garten, den er in der Stille im Wettſtreit mit dem altperſiſchen Dichter Hafis deſſen Überſetzung ihm zum Buch der Bücher geworden war angelegt hatte. Um recht von Herzen orientaliſche Luft zu atmen zu glauben, lernte Goethe nicht nur die Sprache, auch die verſchnörkelte Urſchrift, er vergegenwärtigte ſich das Leben der Beduinen, vertiefte ſich in Mahomets Leben, nahm früher geleſene Reiſebücher mit erhöhter Abſicht durch: 1815 ließen ſich ſchon mehrere Bücher ſeines Weſtöſt— lichen Divans in der Handſchrift abteilen. Die folgenden

Jahre ergänzte er das Werk, ſammelte weitere Vor— arbeit zu einem hiſtoriſchen und erklärenden Teil dazu und machte ſich immer einheimiſcher in Perſien und Arabien, bis das Ganze 1819 erſcheinen konnte. Einige ſchöne Gedichte nahm er auf von der jungen Frankfurter Freundin Marianne Willemer, ſeiner Suleika, die mit ihm in poetiſchem Geſpräch und Begrüßung verknüpft lebte. Bis zu ſeinem Tode fügte ſich ihm noch manches, das im Sinne des Divan empfangen und darein einzu— ſchalten geplant war.

Orientaliſches Dichten und Trachten reichte bei Goethe bis in die erſten Weimarer Jahre zurück, wo

56 Greiſenlyrik

Herder ihm dies Gefilde zuerſt erſchloſſen hatte. So hat der alte Goethe noch andre frühe lyriſche Keime zu ſpäter Blüte gebracht. Zu der Legende vom Gott und der Bajadere entſtand erſt 1821 die Geſchwiſter⸗ dichtung, wie das Gebet des Paria erhört und ihm eine ſchuldverſtrickte reine Frau zur Göttin geſetzt wird und der Paria dankt, in eine enge Folge dreier Gedichte geformt. Und als ihn ein letzter tiefer Liebeswahn ergriff und im Verwehen ſchmerzte, 1823 in Marienbad zu Ulrike von Levetzow, geſtaltete er auch dies zur Trilogie: Werthers Schatten beſchwor er, wie Taſſo fühlte er es ſich noch einmal von einem Gott gegeben, zu ſagen, was er litt, und der überquellenden Muſik mußte er es danken, daß ſie ſchließlich das noch immer beklommene Herz in beſeligenden Tränen gelöſt habe. Wie Sand am Meer ſind die kleinen lyriſchen In—

ſchriften, Dank- und Sendblätter, die ſich dem alten Goethe tagaus tagein rundeten. Selbſt „Um Mitter- nacht“ wurde ihm einmal bei hehrem Mondſchein unvorbereitet und unbezweckt zu einem ihm deſto lieberen Liede. Oft genug machte er gegenüber Wider— wärtigem ſeinem Herzen in einem Xenion Luft, freilich wurden es nun zahme und gereimte Kenien:

Kein Stündchen ſchleiche dir vergebens,

Benutze was dir widerfahren.

Verdruß iſt auch ein Teil des Lebens,

Den ſollen die Xenien bewahren.

Alles verdienet Reim und Fleiß,

Wenn man es recht zu ſondern weiß.

Weimariſcher Maskenzug, Berliner Prologe 57

Epigrammatiſches wurde gemünzt, Paraboliſches er— funden, Helden- und Liebeslieder aus fremden Sprachen überſetzt.

Einmal dichtete er auch noch für die Weimarer Bühne: eine Rückſchau des einzigen überlebenden Altmeiſters auf die große gemeinſame Weimarer Zeit. Die Kaiſerin Mutter von Rußland war im Winter 1818 zu Beſuch bei ihrer Tochter der Erbgroßherzogin und ſollte in einem Maskenzug auf dem Theater die viel— jährigen poetiſchen Leiſtungen des Weimariſchen Muſen— kreiſes in einzelnen Gruppen vorüberwandeln ſehen, die verweilend ſich ſelbſt in ſchicklichen Gedichten er— klärten. Kein Wunder, daß dieſer geiſt- und liebevolle Epilog Goethes, in der Stille von Berka mit wunder— barer Schnelle geſchaffen, zu den berühmten Geſtalten von Muſarion bis zu Turandot günſtig aufgenommen wurde und in der Erinnerung haftete. Als 1821 das neue Berliner Schauſpielhaus mit der Iphigenie er— öffnet wurde, bat ihn der Intendant Graf Brühl um einen Prolog, und nochmals kommandierte Goethe die Poeſie zu dieſer altvertrauten Aufgabe. In ſeinem achtzigſten Jahre ſandte er derſelben Bühne aus freien Stücken eine kleine gereimte Vorrede, als ſein Hans Sachs als Einleitung zu dem gleichnamigen Schauſpiel von Deinhardſtein geſprochen wurde. Ja, im zweiund— achtzigſten ſtellte er nochmals Philemon und Baucis dar Schon zu Schillers Zeit in einem ſeiner Vorſpiele verwendet jetzt als Einleitung des fünften Aktes

58 Der zweite Teil des Fauſt

im zweiten Teil des Fauſt, und trat als Wandrer ſelbſt bei den beiden Alten ein, die ihm ein langes Dichter— leben über Vertraute geblieben waren und die er erſt vor kurzem in den Wanderjahren abermalsgeſtaltet hatte.

An vielen Tagebuchſtellen hat Goethe in ſeinen letzten Lebensjahren die Vollendung des Fauſt als das Haupt— werk, das Hauptgeſchäft, den Hauptzweck bezeichnet, der ihm noch oblag. Seit ſeiner Jugend, wo er den erſten, individuellen Teil zumeiſt ſchrieb, trug er den Gang der weitern, allgemeineren Handlung in Haupt— zügen wie ein Märchen in ſich. Es verging die Hälfte ſeiner mittleren Jahre, ohne daß dieſer zweite Teil über Pläne und Schemata hinausrückte. Schiller befeuerte ihn zu dem Werke, auch entſtand im einzelnen vieles vom dritten und fünften Akt, Helena und Fauſts Tod, fertig aber wurde nichts. Noch weniger bearbeitet waren die Maſſen des erſten, zweiten und vierten Aktes. Von neuem ruhten die gewaltigen Bruchſtücke und Träume.

Als Goethe ſeine Werke für die 1815 begonnene neue Geſamtausgabe durchſah und an der Vollendung des Fauſt faſt verzweifelte, ſchrieb er ein Schema des zweiten Teiles nieder, um einen Rahmen für etwaige von ihm zu veröffentlichende Bruchſtücke geben zu können. Dies Schema blieb ungedruckt, veraltete auch in Goethes Gedanken, kam aber nach Jahr und Tag dem jungen Eckermann zu Augen, und der ließ nun wie einſt Schiller keine Ruhe und mahnte und trieb

Helena 59

zur Ausführung namentlich auch durch den geſcheiten Anteil, den er an dem bereits begonnenen nahm, und verſtand ſo Goethe weitere Produktion „zu extorquieren“. „Sie können es ſich zurechnen, wenn ich den zweiten Teil des Fauſt zuſtande bringe. Ich habe es Ihnen ſchon oft geſagt, aber ich muß es wiederholen, damit Sie es wiſſen“, waren Goethes Worte zu Eckermann an einem Märzſonntag des Jahres 1830, als die Arbeit ſchon weit gediehen war.

Wieder war es im Frühjahr 1825 aus Anlaß der neu vorzubereitenden Ausgabe letzter Hand, daß ſich Goethe entſchloß, mit Fauſt zu Ende zu kommen. Das am weiteſten ausgebildete nahm er zuerſt vor und bereicherte den letzten Akt. Faſt gleichzeitig, aber länger beſchäftigte ihn der dritte Akt. Helena war ſein älteſtes griechiſches und eines ſeiner allergrößten Symbole, neben ihr ſchrumpfen die Iphigenien und Pandoren ein, ſie, die Idee antiker Schönheit, war die geiſtige Mutter, mit der er ſeine ganze klaſſiſche Dichtung gezeugt hatte. So konnte ſie, auf die er undenkliche Zeit und Sorgfalt verwendet, doch erſt nach Erfüllung des klaſſiſchen Zeit— alters dargeſtellt werden, und es fügte ſich wunderbar, daß Goethe in Byron ein jüngeres Talent von hohem poetiſchen Reiz und Reichtum erlebte, nach deſſen Schickſal er jetzt einen Sohn Fauſtens und Helenas, den Jüngling Euphorion, als die Poeſie einführen konnte. Zugunſten dieſes neuen Ausgangs des Zwiſchenſpiels ließ er Alteres fahren und brachte 1826 „mit einem

60 Sm Frühling 1827

gewaltſamen Anlauf die Helena endlich zum überein- ſtimmenden Leben. Wie vielfach hatte ſich dieſe in langen, kaum überſehbaren Jahren geſtaltet und um— geſtaltet. Nun mag ſie im Zeitmoment ſolidesziert endlich verharren.“ 1827 wurde ſie als klaſſiſch— romantiſche Phantasmagorie im vierten Bändchen der Ausgabe letzter Hand unter kleinen dramatiſchen Neu— lingen mitgeteilt.

Nun galt es noch zwei große Lücken auszufüllen, die rückwärtige Verbindung von Helena nach dem erſten Teil und die fortſetzende auf den Schluß zu herzu— ſtellen. Am Himmelfahrtstage 1827, in einer ſchönen und tätigen Frühlingszeit, ſchrieb Goethe aus ſeinem Garten an Zelter: „Nun aber ſoll das Bekenntnis im ſtillen zu Dir gelangen, daß ich durch guter Geiſter fördernde Teilnahme mich wieder an Fauſt begeben habe und zwar gerade dahin, wo er, aus der antiken Wolke ſich niederlaſſend, wieder ſeinem böſen Genius begegnet. Sage das niemanden; dies aber vertrau ich Dir, daß ich von dieſem Punkt an weiter fortzuſchreiten und die Lücke auszufüllen gedenke zwiſchen dem völligen Schluß, der ſchon längſt fertig iſt. Dies alles ſei Dir aufbewahrt und vor allem in Manufkript aus Deinem Mund meinem Ohr gegönnt“; er rechnete dabei auf Zelters Beſuch und deſſen gute, muſikaliſche Vortrags— weiſe. Aber von dem Anfang des vierten Aktes, der demnach in jenen Tagen entſtand, wandte ſich Goethe unter dem Eindruck der erquickenden Maimorgen dem

Arbeit am Fauſt 61

Anfang des erſten Aktes zu und eröffnete ihn mit Ariels Geſang:

Wenn der Blüten Frühlingsregen

Über alle ſchwebend ſinkt,

Wenn der Felder grüner Segen

Allen Erdgebornen blinkt . .. Ein Chor von Holsharfen ſolle dies Lied begleiten, ſchrieb er im September an Zelter; „ob dergleichen ſchon ausgeführt worden, iſt mir nicht bekannt. Dieſe Gelegenheit aber, etwas wunderſames hervorzubringen, ſollteſt Du Dir nicht entgehen laſſen.“ Im Sommer wurde ein Teil der Kaiſerſzenen des erſten Aktes fertig; die Thronſaalſzene las Goethe am 1. Oktober Eckermann und am 13. Oktober Zelter zum erſtenmal vor. Bis Ende November kam der große Mummenſchanz ins reine, der in der Erfindung des Papiergeldes gipfelt der bedeutendſte aller Goethiſchen Maskenzüge, für Deutſchland gedichtet wie manche früheren für Weimar. Die folgende Luſtgartenſzene wurde im Laufe des Winters nur ſo weit fertig, wie ſie Goethe zu Oſtern 1828 als vorläufiges Ende ſeines Fauſt im zwölften Bändchen der Ausgabe letzter Hand veröffentlichte mit der Schlußbemerkung: Iſt fortzuſetzen.

Im Sommer 1828 gelang der Anfang des zweiten Aktes. Vorgeleſen aber wurde er den Nächſtvertrauten erſt an der Jahreswende 1829 auf 1830, nachdem auch die Schlußſzenen des erſten Aktes geſtaltet worden waren und jo der ganze vordre Zuſammenhang end»

62 Vollendung des Fauſt

gültig hergeſtellt war. Goethe hatte ſich in die alten leichten gereimten Versmaße ſeiner Frühzeit wieder eingelebt, längerer Aufenthalt in dem nun hochge— wachſenen Garten ſeiner erſten Weimarer Jahre be— förderte die Anknüpfung an ſeine Jugendgeſpinſte; ſelbſt die europäiſche Politik erinnerte durch Lepanto an jene Zeit, wo man ſchon einmal gern davon ge— ſprochen hatte,

Wenn hinten, weit, in der Türkei

Die Völker aufeinanderſchlagen. In der erſten Hälfte von 1830 ſchwoll dann allmählich die klaſſiſche Walpurgisnacht heran, durch eine lebens— längliche Beſchäftigung mit der griechiſchen bildenden Kunſt vorbereitet, als Auguſt und Eckermann zur Reiſe nach Italien aufbrachen. Und im folgenden Jahre ergab ſich als letzter Reſt der vierte Akt. An ſeinem zweiundachtzigſten Geburtstage ſah Goethe das Werk getan.

Die letzten fünf Jahre Arbeit am Fauſt wurden durch ſchmerzliche Verluſte unterbrochen. Im Juni 1828 ſtarb der Großherzog Carl Auguſt. Goethe mußte bei dem verwundeten Zuſtande ſeines Innern wenig— ſtens ſeine äußern Sinne ſchonen und ging auf Wochen nach Dornburg. Er hätte an keinem Orte verweilen können, wo die Tätigkeit ſeines Fürſten auffallender anmutig vor die Sinne trat. Seit fünfzig Jahren hatte er ſich mehrmals an dieſer Stätte mit ihm des Lebens gefreut, der herrlichen, fröhlichen Ausſicht auf das Saal—

Letzte Verluſte 63

tal und der wohlunterhaltenen Gärten mit feenhaft geſchmückten Roſenlauben, dabei das hinzuerworbene neu aufgeputzte Schlößchen und der jüngſt angelegte, gedeihende Weinberg. Das alles erſchien ihm in der Trauer „in erhöhteren Farben wie der Regenbogen auf ſchwarzgrauem Grunde.“ Eine der erregteſten Nächte auf ihre beiden Geburtstage hin ließ Stimmungs— kräfte in ihm aufzucken wie einſt zur Zeit des Freundes— liedes An den Mond und von Jägers Abendlied und ſchenkte ihm die Strophen „Dem aufgehenden Voll— monde.“ An demſelben 28. Auguſt ſtarb in Weimar der Schauſpieler Wolff, von allen Jüngeren der einzige Künſtler, der ſein Talent ganz nach Goethes Lehre gebildet hatte.

Im Februar 1830 ſchied auch die Großherzogin Luiſe. Goethe teilte die Kunde dem alten Berliner Freunde am Schluſſe eines ſchwarz geſiegelten Briefes mit als „ein zwar gefürchtetes, aber durch Hoffnung abgelehntes Übel. Hiebei wirſt Du manches zu denken haben, als Mitgenoſſe unſres Denkens und Empfindens.“ Im Herbſt dieſes Jahres traf aus Italien die Nachricht vom Tode von Goethes Sohn ein. „Prüfungen erwarte bis zuletzt“ überſetzte ſich der greiſe Vater das alte

Nemo ante obitum beatus. „Hier nun allein kann der

große Begriff der Pflicht uns aufrecht erhalten. Ich habe keine Sorge als mich phyſiſch im Gleichgewicht zu bewegen; alles andere gibt ſich von ſelbſt. Der

Körper muß, der Geiſt will, und wer ſeinem Wollen

64 Abſchied

die notwendigſte Bahn vorgeſchrieben ſieht, der braucht ſich nicht viel zu beſinnen.“

Dabei erlitt Goethes Körper doch einen Stoß, er erkrankte gefährlich, genas aber wieder. Er konnte das Jahr 1831 tätig durchleben. Seinen letzten Geburtstag beging er in Ilmenau. Dort hinauf, wo er ſich mit der Erde Weimars beſonders verwachſen fühlte, hatte es ihn noch einmal gezogen, und er genoß in den ſchönſten Tagen des Sommers das Wiederſehen nach langer Pauſe. Er freute ſich der Lindenalleen, die er vor fünfzig Jahren hatte pflanzen ſehen, und beſuchte im Wagen die Umgegend auf neuen guten Landſtraßen, wo ſonſt kaum gehbare Fußwege geweſen waren; er genoß das reizende Landſchaftsbild und ſann zurück. „Nach ſo vielen Jahren war denn zu überſehen: das Dauernde, das Verſchwundene. Das Gelungene trat vor und erheiterte, das Mißlungene war vergeſſen und verſchmerzt.“ Auch nach dem höchſten Gipfel der Tannenwälder ließ er ſich fahren, erſtieg ihn und las an dem einſamen Bretterhäuschen ſeine alte Inſchrift des Liedes wieder: „Über allen Gipfeln iſt Ruh. . .. Warte nur, balde ruheſt du auch.“

Und ſo geſchah es. Nach einem ſtill verbrachten Winter und kurzer Krankheit löſte ſich am 22. März 1832 von Goethes ſterblichem Teil das ewige.

Im neuen Großherzogtum

Unſer großer Herzog ſo hieß Carl Auguſt bei den Seinen ſchon im Freiheitskrieg. Im Dezember 1813, als er ſich den Verbündeten anſchloß, ſchrieb der junge Jenaer Profeſſor Kieſer von ihm: „Übrigens kennen ſie alle unſern großen Herzog nicht, wenn ſie für ihn fürchten, der wie ein Phönix im Kampfe jugendlich erſtehen wird.“ Und als die Weimarer im Januar 1814 ins Feld zogen, heißt es in dem erſten Briefe nach der Heimat: „Recht ſehr hat mich der Abſchied von unſerer großen Herzogin und braven Großfürſtin gerührt, da beide ſo rein und ſchön die Sache anſehen.“ Vom Wiener Kongreß brachte Carl Auguſt, außer einer mäßigen Gebietsvergrößerung, die die öſtlichen Amter des Landes durch Hinzufügung des Neuſtädter Kreiſes beſſer zuſammenſchloß, ſeine Erhöhung zum Range eines Großherzogs mit.

Aber auch auf die deutſche Bundesakte hatte er ſich in Wien verpflichtet, und in dieſer lautete ein Artikel: „In allen Bundesſtaaten wird eine landſtändiſche Ver— faſſung ſtattfinden.“ Großherzog Carl Auguſt von Weimar iſt der erſte unter allen deutſchen Fürſten

geweſen, der dieſe Verheißung erfüllt hat. Er berief Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 5

66 Verfaſſung und Einkommenſteuergeſetz

alsbald konſtituierende Stände zuſammen und ließ es ihnen als ſeinen Willen erklären, „die für Deutſchland aufgegangene Hoffnung in ſeinem Lande zu verwirk— lichen, die Lehre der außerordentlichen Schickſale be— nutzend auf Eintracht das Glück des Staates zu gründen, die Eintracht aber auf die Gleichheit vor dem Geſetz, das Ebenmaß und das Verhältnis in dem Vorteile wie in den Laſten zu bauen, das die Grundveſte des Staates ſei.“ Seine Regierung legte einen Verfaſſungsentwurf vor, er wurde in gemeinſamer Beratung mit den Ständen überarbeitet und am 5. Mai 1816 Geſetz. Er gewährte eine Verfaſſung, die zeitgemäß über die alt— ſtändiſche Ordnung hinausging, ohne vorſchnell ſpäter reifendes verwirklichen zu wollen: dem Landtag, aus einer Kammer beſtehend, wurde Steuerverwilligung und Geſetzberatung zugebilligt, dem Einzelnen perſön— liche Freiheit und Sicherheit gewährleiſtet; auch Preß— freiheit wurde von neuem zugeſichert. Das ganze jüngere Deutſchland grüßte dieſe erſte Landesverfaſſung; und Weimar tat den zweiten Schritt allen andern voran und ſchuf auf Grund der Verfaſſung 1821 das erſte deutſche Einkommenſteuergeſetz: alle Staatsbürger wurden als ſteuerpflichtig gemäß ihrer Leiſtungsfähigkeit erklärt und hatten ihr bewegliches Einkommen ſelbſt einzuſchätzen.

Das kühne Vorgehen Weimars hatte zur Folge, daß hier auch die politiſche Journaliſtik grünte, kecker als irgendwo in Deutſchland. In Weimar ſelbſt gab Lindner

Burſchenſchaft 67

ein Oppoſitionsblatt heraus, in Jena legten ſich die namhafteſten jüngeren Profeſſoren ins Zeug gegen Metternich und für die großdeutſche Reichs- und Kaiſer— idee, der Hiſtoriker Luden in ſeinem Staatsverfaſſungs— archiv und in der Zeitſchrift Nemeſis und der Natur— wiſſenſchafter Oken mit der enzyklopädiſchen Zeitung Iſis. Die Köpfe wurden noch wärmer dadurch, daß auch die Anhänger des Alten, der Ruhe ein Parteiblatt gründeten: Kotzebue, ein Weimarer Kind, bekannt durch ſeine ruſſiſchen Erlebniſſe und Beziehungen und als gewandteſter Luſtſpiellieferant ſeiner Zeit, gründete das literariſche Wochenblatt.

Die Jugend nahm am lebhafteſten Partei, und im Zeichen des nationalen Einheitsgedankens gründeten ſchon am 12. Juni 1815 hervorragende Jenaer Stu— denten die „Burſchenſchaft“, darunter ehemalige Lützo— wer Jäger und alte Mitglieder der Landsmannſchaften Vandalia und Thuringia. Freiheit, Ehre und Vaterland wurde die Loſung, im Turnen ſich zu üben, dem Chriſtentum treu zu ſein waren andere Gebote, die man befolgte; ſchwarz, rot, gold die Farben, ernſt und einfach die deutſche Burſchentracht. Binnen wenigen Tagen umfaßte der neue Jenaer Bund dreihundert Jünglinge; und raſch griffen ſeine Gedanken auf andre Univerſitäten über, denn es war ja nur der ſich ver— jüngende Geiſt der Zeit, der hier in Jena zuerſt in der akademiſchen Jugend zündete.

Ein großes Feſt ſollte die Erweiterung zur deutſchen 5*

68 Wartburgfeſt

Burſchenſchaft einleiten, zugleich eine Feier der Leip⸗ ziger Schlacht und des Theſenanſchlags Luthers, und ſo wurde zum 18. Oktober 1817 nach der Wartburg eingeladen; gern hatte Carl Auguſt die Erlaubnis ge— geben. Sechshundert deutſche Studenten kamen und zogen am Morgen des Hauptfeſttages unter dem Geläute der Eiſenacher Glocken durch den Herbſtwald hinan zu der halb vergeſſenen Ruine, die die Wartburg damals noch war. Unter ihnen vier Jenaer Dozenten: Oken, Schweitzer, der kurz darauf ins Miniſterium berufen wurde, Kieſer, der im Januar 1814 als Pro— feſſor und Wachtmeiſter die Fahne der Weimarer Freiwilligen gegen die Franzoſen geſchwungen hatte, und Fries, der Philoſoph, einſt in Jena neben Fichte und Schelling wenig beachtet, inzwiſchen in Heidelberg zu Bedeutung und Anſehen gelangt und 1816 von Carl Auguſt nach Jena zurückberufen in der Hoffnung, „daß er daſelbſt die Philoſophie neu begründen werde“; „Deutſchlands Jünglingen“ hatte er ſoeben ſeine Schrift „Vom deutſchen Bund und deutſcher Staatsverfaſſung“ gewidmet. In dem dichtbeſetzten alten Feſtſaale der Wartburg ſprach für die Studenten Riemann, mit dem eiſernen Kreuz von Waterloo auf der Bruſt, ernſt und beherzt von der Hoffnung der Deutſchen auf Einheit und Freiheit, von der Kampfbereitſchaft des Geiſtes der Wahrheit und Gerechtigkeit gegen den der Unter— drückung. Fries rief begeiſtert: „Sei uns gegrüßt, du helles Morgenrot eines ſchönen Tages, der über unſer

Reaktion 69

schönes Vaterland heraufkommt; ſei uns gegrüßt, du geiſteswarmer, jünglingsfriſcher Lebensatem, von dem ich durchhaucht fühle mein Volk!. . . . Laſſet euch den Freundſchaftsbund eurer Jugend, den Jugendbundes— ſtaat, ein Bild werden des vaterländiſchen Staates . . . laſſet aus ihm den Geiſt kommen in das Leben unſers Volkes, denn jünglingsfriſch ſoll uns erwachſen deutſcher Gemeingeiſt für Vaterland, Freiheit und Gerechtigkeit.“ Oken ſprach ruhiger und warnte davor, ſich als politiſche Partei auftun zu wollen. Abends, wo der Eiſenacher Landſturm ein Freudenfeuer auf dem benachbarten Wartenberge entfacht hatte, gab es einen Studentenulk: mißliebige Staats- und Polizeiſchriften wurden in effigie verbrannt, d. h. ihre Titelblätter ins Feuer geworfen. Zum Beſchluß des Feſtes gingen die Burſchen in der Eiſenacher Kirche vereint zum heiligen Abendmahl. Mancher hat dieſe Tage als die erhebendſten und be— deutendſten ſeines Lebens in der Erinnerung behalten. Es dauerte nicht lange, ſo begannen die Verdächti— gungen des Wartburgfeſtes. Einige norddeutſche Zei— tungen kritiſierten es, bei der Weimarer Regierung liefen Beſchwerden und Klagen von Einzelnen und andern Regierungen ein, eine ruſſiſche Denkſchrift empfahl Unterdrückung aller akademiſchen Freiheit in Deutſchland. Anfangs wehrte Carl Auguſt beim Bundestag Übelnehmen und Angriff ab, aber als im März 1819 der Jenaer Student Sand in Mannheim Kotzebue ermordete, mußte er dem Andringen der

70 Der Burſch Fritz Reuter

Großſtaaten nachgeben: im Sommer 1819 wurde in Karlsbad beſchloſſen, die Univerſitäten zu ſäubern und ſtrenger zu regieren, die Burſchenſchaft zu verbieten, die Preßfreiheit aufzuheben. In Jena ſah ſich Oken vor die Wahl geſtellt, ſeine Zeitſchrift Iſis oder ſeine Profeſſur aufzugeben er verzichtete auf die Bro» feſſur —, und Fries wurde abgeſetzt. Die Burſchen— ſchaft löſte ſich im November 1819 auf, bildete ſich zwar ſofort heimlich wieder, in Jena als Germanen und Arminen, aber ſie trübte oder verſchärfte ſich nun.

In einen bedenklichen Zuſtand war ſie eben geraten durch den Beſchluß des Frankfurter Burſchentags vom September 1831, an einem etwaigen Volksaufſtand zur Herbeiführung eines freien und einheitlichen Staats— lebens teilzunehmen —, als Oſtern 1832 der stud. jur. Fritz Reuter aus Mecklenburg nach dem jugendgeiſt— berühmten Jena überſiedelte und bei der unterneh- menden Gruppe der Germanen einſprang. Zwar beteiligte er ſich nicht aktiv und perſönlich an politiſchen Treibereien, immerhin nach Jahren hegte er keinen Zweifel daran mußte die bürgerliche Geſellſchaft damals einen Jenenſer Burſchen als „einen ſihr unver— daulichen Happen“ empfinden. Im Winter 1832 auf 1833 kam es zu wilden Schlägereien zwiſchen den ſchneidigeren Germanen und den läſſigeren Arminen, ein weimariſches Militärkommando rückte in Jena ein, die Ruhe wurde mit Gewalt und Strenge wieder— hergeſtellt; Reuter trat aus und kehrte gegen Oſtern

Jenas Rückgang um 1830 1

1833 in die Heimat zurück. Dort hielt er ſich den Sommer über in der Stille, während allenthalben auf junge „Verbrecher“ ſeines Schlages gefahndet und über tauſend ergriffen wurden. Als er im Herbſt das Wetter vorüber glaubte und in Berlin weiter ſtudieren wollte, wurde er verhaftet und erlebte nun die Zeit, die trotz aller Not des Leibes und Gemütes ſeinen elementaren Humor nicht verſiegen machte, ſeine „Feſtungstid“, ja die auch eine neue Liebe des Urniederdeutſchen zum Thüringer Lande nicht ganz auslöſchte.

Es war damals keine Blütezeit der Univerſität Jena. Die Reform, die ihr Carl Auguſt 1816 hatte angedeihen laſſen, ſchlug zwar anfangs zum Guten aus: man zählte wieder 800 Studenten, aber dann kamen die Karlsbader Beſchlüſſe und ihre Folgen, der Beſuch ging während der zwanziger und bis Mitte der dreißiger Jahre auf 500 zurück und fiel dann weiter auf kaum 400. Daß ſich ſeit 1826 außer Weimar und Gotha auch Altenburg und Meiningen an den Erhaltungskoſten beteiligten, machte die Abgelegenheit nicht wett, der Jena anheim— fiel. Wirkten doch auch die namhafteſten Lehrer all— mählich mehr im Sinne der Vergangenheit, als der ſonſt in der Offentlichkeit lebendigen Gegenwart.

Luden konnte wohl in dem Zeitalter nach den Freiheitskriegen ſchließlich als der Neſtor der deutſchen Hiſtoriker gelten. Von Herder angeregt, deſſen Ideen zur Philoſophie der Geſchichte der Menſchheit er 1821 zum zweitenmal ausgehen ließ und einleitete, war er

72 Luden und Fries

dann Schelling näher getreten, und deſſen hochtönende Gedanken hallten vielfach bei ihm wider. Die Ge— ſchichte mit philoſophiſchem Geiſte zu ergreifen, ſah er als ſeine Lebensaufgabe an; Vaterland, Philoſophie, die Geſchichtſchreibung als Poeſie waren die Sterne, um die ſein Denken kreiſte. Dabei kam viel Abſtraktes zuſtande, während ihn in der Erforſchung und Dar— ſtellung des Wirklichen anderwärts jüngere Kräfte weit übertrafen. Immerhin iſt ſein 1821 erſchienenes Mittel— alter „das Mittelalter iſt, wo teutſches Leben und teutſche Art hervortritt oder nachgewieſen werden kann“ die erſte Geſamtwürdigung des deutſchen Mittelalters geweſen, und ſeiner zwölfbändigen Ge— ſchichte des teutſchen Volkes, 1825 bis 1837 veröffent— licht, konnte er 1843 noch eine kürzere dreibändige Geſchichte der Teutſchen folgen laſſen; er ſtarb 1847.

Es war Carl Auguſt 1819 nicht leicht geworden, Fries zu entlaſſen; er bot ihm Tiefurt zum Aufenthalt an. Aber Fries widmete ſich lieber abſeits ſeinen Studien der Seelenkunde und ſchrieb ſein Hauptwerk, die pſychologiſche Anthropologie. Da er auch mathe— matiſch und naturwiſſenſchaftlich geſchult war, war es möglich, ihm 1824 die Jenaer Profeſſur für Mathematik und Phyſik zu übertragen; auch wurden ihm philoſophi— ſche Privatiſſima geſtattet, und in dieſen wirkte er nun weſentlich als Ergänzer Kants, auch als Ironiſierer Hegels. Nicht Philoſophie, nur philoſophieren wollte er lehren, dazu trieb er meiſterhaft innere Selbſtbeob—

Rieſer 13

2

8

achtung. Kants Kritik der Vernunft galt es ihm zu einer Theorie der Vernunft fortzubilden; den innern Sinn, bei dem er von der Selbſterkenntnis ausging, entfaltete er bis zur vollſtändigen Reflexion. So gelangte er zu einer religiös-äſthetiſchen Weltanſchauung mit dem Schlußſatz: „Wir wiſſen um das Endliche, wir glauben an das Ewige, und wir ahnen das Ewige im Endlichen.“ Er lebte wie ein antiker Weiſer, und ſo fand er dankbare Schüler; 1838 erhielt er auch die volle philoſophiſche Lehrfreiheit zurück und ſtarb 1843.

Eine andere Verbindung von Naturwiſſenſchaft und Philoſophie ſtellte neben ihm Kieſer dar. Sein Syſtem der Medizin, das er 1817 bis 1819 veröffentlichte, knüpfte an Schelling an, und dieſe phantaſtiſch-ideale Richtung verfolgte er erſt recht 1821 in ſeinem Syſtem des telluriſchen und tieriſchen Magnetismus. Auch dem Somnambulismus widmete er Aufmerkſamkeit, und ſchließlich mündete ſein ärztliches Intereſſe in der Pſychiatrie: bis 1847 beſchäftigte ihn vor allem ſeine Privatklinik, dann die Leitung der großherzoglichen Irrenanſtalt. Als liberaler Patriot vertrat er viele Jahre die Univerſität im Landtage und wurde 1848 in das Frankfurter Vorparlament gewählt; als deutſcher Naturwiſſenſchafter wurde er 1847 Director Epheme— ridum der Kaiſerlich Leopoldiniſch-Caroliniſchen Aka— demie der Naturwiſſenſchaften und 1858 deren Präſident, semper idem, tenax propositi bis ins hohe Alter.

Zu denen, auf die ſich Jenas Ruf im Zeitalter des

74 Döbereiner

Bundestags gründete, gehörte auch der Chemiker Döbereiner. Carl Auguſt hatte den Autodidakten 1810 von der Bierbrauerei weg berufen und 1818 zum Ordi— narius ernannt, er und Goethe ſchenkten ihm Vertrauen, und der preußiſche Staat bediente ſich ſeiner; 38 Jahre wirkte er in Jena. Als er 1822 die Entzündbarkeit von Platinmohr durch Waſſerſtoffgas entdeckte und damit eine Zündlampe konſtruierte, wurde er allbekannt; erſt das Phosphorſtreichholz verdrängte ſeine Lampe. Mit Hülfe der qualitativen Unterſuchung ſeiner Zeit erklärte er die Entſtehung von Eſſig aus Weingeiſt und erkannte und nannte den Sauerſtoffäther; dieſer wurde freilich bald durch die weitertragende quantitative Unterſuchung Liebigs von neuem in Aldehyd und Acetol zerlegt. Döbereiners ſauberer Vortrag, die Eleganz ſeiner Experimente und ſeine Biederkeit, ſein Witz zogen die Studenten an.

Hat Carl Auguſt an der Entwicklung Jenas nicht nur Freude gehabt, ſo war der perſönliche Gewinn, den ihm ſonſt die letzten zwölf Jahre ſeiner Regierung brachten, deſto größer. Auf ſeiner Reiſe nach Mailand im Jahre 1822 erfreute ihn auch fremde Anerken— nung: die Italiener nannten ihn il principe uomo. Als er 1825 an ſeinem Geburtstag das fünfzigjährige Regierungsjubiläum beging, überſchüttete ihn ſein thüringiſches Volk mit Liebe, und er war nun der volkstümlichſte deutſche Fürſt. Sein Verſtändnis für alles edelſte des Menſchengeiſtes wie für die Ge—

Carl Auguſts Jubiläum 75

ſundheit der Naturforſchung und dabei ſeine Mann— haftigkeit und ſein ſchlichtes Gehaben hatten ihn den Deutſchen ſo nahe gebracht. „Die gedrungene, kräftige Geſtalt, das Einfache, Ruhige, Körnige ſeiner Worte und Gebärden machten einen imponierenden Eindruck, obgleich die äußere Erſcheinung der eines intelligenten Landwirtes ähnelte“, ſagte der Zeichner Ludwig Richter, der ihn als Siebzehnjähriger ſah. In Weimar kannte jedes Kind den alten Herrn, wie er ſelbſt ſeine Kaleſche fuhr, in Militärmütze und abgetragenem Mantel, eine Zigarre rauchend.

Unter den Freuden ſeines Jubiläums war eine merk— würdig: nahezu vollendet ſtand der Bau eines Schul— und Bethauſes, das mit eigenen Händen Zöglinge der Geſellſchaft der „Freunde in der Not“ errichtet hatten. Dieſen Verein hatte der Schriftſteller Falk in Weimar nach dem Kriege gegründet, um ſich der verwaiſten und verwilderten Kinder anzunehmen: Mädchen brachte er in Dienſten unter, Knaben als Lehrburſchen im Hand— werk. Einſt von Wieland als zukunftsreicher Satiriker willkommen geheißen, hatte Falk ſo ſeine Bitterkeit gegen die Geſellſchaft in Milde verwandelt. Sein Unter— nehmen blühte, als ihn 1826 der Tod abrief; 1829 wurde es in eine öffentliche Erziehungsanſtalt für verwahrloſte Kinder umgewandelt und beſtand weiter als Falkſches Inſtitut.

Zu Ende ſeiner Zeit hat es Carl Auguſt noch beglückt, daß ſich neue Verbindungen ſeines Hauſes mit den

76 Verlobung der Enkelinnen; Carl Auguſts Tod

Hohenzollern knüpften. Zwei Enkelinnen waren ihm vor dem Enkel geboren worden und wuchſen in der geiſtig reinen Luft Weimars heran, im Sommer oft in Jena in dem großen Griesbachſchen Garten am Fürſtengraben wohnhaft, den Maria Paulowna 1818 für ſie ankaufte und der nun Prinzeſſinnengarten hieß. Die beiden preußiſchen Prinzen Wilhelm und Karl weilten im November 1826 zu längerem Beſuch in Weimar; ſie brachten ganz friſches Leben an den kleinen Hof, und 1827 vermählte ſich Prinz Karl mit Carl Auguſts älteſter Enkelin Marie. Goethe ſah mit Rührung das Behagen des Großherzogs an den Gäſten und an dem neuen Verhältnis. Das zweite Bündnis der nach ihm genannten Auguſta mit Wilhelm, für Deutſchland von größerer Bedeutung, erlebte Carl Auguſt nicht mehr, aber er ſah es kommen. Eine Reiſe nach Berlin im Frühſommer 1828 war ſeine letzte Unternehmung. Auf alle berliniſch-weimariſchen Beziehungen fiel ein Strahl dieſes Beſuchs; die geheimnisvolle Klarheit des Fürſten bei viel körperlicher Schwäche wurde bemerkt, und Alexander von Humboldt, der faſt täglich um ihn war, ſchrieb: „Nie habe ich den großen menſchlichen Fürſten lebendiger, geiſtreicher, milder und an aller ferneren Entwicklung des Volkslebens teilnehmender geſehen als in den letzten Tagen, die wir ihn hier be— ſeſſen.“ Auf der Rückreiſe überraſchte ihn der Tod am 14. Juni in Graditz bei Torgau: er ſtarb mit dem Blick nach der untergehenden Sonne. Am 21. abends „ſtanden

Tod der Großherzogin Luiſe. Die neue Herrſchaft 77

die in Trauer gekleideten Bürger am Weichbild Weimars bis zum römiſchen Hauſe im Park mit ſtummen, blaſſen Geſichtern in dichten Reihen, als die teuren Überreſte nach dieſem ſeinem Lieblingsaufenthalt gebracht wurden und durch den bewölkten Sommerhimmel unabläſſig die leuchtenden Blitze ohne Donner und Regen zuckten.“ Als ſich ein Jahr darauf Wilhelm von Preußen und Auguſta von Weimar in Berlin vermählten, war der Abſchied der bedeutenden und liebenswürdigen Prin— zeſſin das letzte tiefgehende Erlebnis der verwitweten Großherzogin Luiſe. Schon im Herbſt 1828, nach einem ihrer letzten Beſuche bei Goethe, dem erſten nach Carl Auguſts Tode, hatte ſie ausgeſprochen: „Goethe und ich verſtehen uns vollkommen, nur daß er noch den Mut hat zu leben und ich nicht.“ Goethe hatte damals bei ihrem Weggange vor ſich hin gemurmelt: „Welch eine Frau, welch eine Frau!“ Sie entſchlief im Februar 1830. Die neue Herrſchaft war geſonnen und gewillt, den empfangenen Lebensfaden fortzuſpinnen. Dafür bürgte ebenſo das ruhige, milde Weſen des Großherzogs Carl Friedrich wie das künſtleriſche und humane Intereſſe der Großherzogin Maria Paulowna. Eine Hauptgewähr für die Stetigkeit der Entwicklung waren auch die von Carl Friedrich noch lange beibehaltenen Miniſter von Fritſch, von Gersdorff und Schweitzer. Fritſch war ein Sohn jenes Miniſters, neben den einſt der junge Goethe getreten war; er iſt von 1815 bis 1843 weimariſcher Staatsminiſter geweſen, meiſt mit Rechtsweſen,

78 Fritſch und Gersdorff; Zollverein und Eiſenbahn

Verwaltung, Polizei und Steuerſachen beauftragt. 1819 führte er für Weimar die Verhandlungen in Karlsbad. Gersdorff hatte ſich als geſchickter Vertreter Weimars auf dem Wiener Kongreß bewährt und dort mehr Einfluß gehabt, als Weimar an ſich zukam; es geſchah auf ſein Betreiben, daß die beabſichtigte Kreiseinteilung des Bundes abgelehnt, daß Mainz zur Bundesfeſtung erklärt wurde. Im neuen Großherzogtum, deſſen Gebiet er vor allem hatte feſtſtellen helfen, waren die Finanzordnung von 1821 und die Einkommenſteuer im weſentlichen ſein Werk.

Die erſte weimariſch-deutſche Aufgabe unter dem neuen Großherzog war die Zollvereinsfrage. Karl Auguſt hatte noch einen mitteldeutſchen Zollverein zwiſchen dem preußiſchen und dem ſüddeutſchen ins Auge gefaßt. Er kam zuſtande und konnte ſich auch einige Jahre, auf die Königreiche Sachſen und Hannover geſtützt, halten. Aber ſchon arbeitete Preußen auf einen deutſchen Zollverein hin, einigte ſich mit Süddeutſchland und auch mit Gotha und Meiningen über einen zoll freien Handelsweg nach dem Süden, und damit war das Ende des mitteldeutſchen Zollvereins nahe gerückt: 1833 ſchloſſen ſich alle thüringiſchen Staaten dem preu— ßiſchen Zollverein an, insgeſamt durch einen weimari— ſchen Generalbevollmächtigten vertreten. Nach wenigen Jahren tauchte eine zweite Verkehrsfrage auf: die einer Eiſenbahnverbindung des Großherzogtums. Die Ver— handlungen darüber führten 1840 zu einem Vertrag

Schweißer 79

zwiſchen Weimar, Gotha, Preußen und Kurheſſen, die thüringiſche Hauptbahnlinie wurde feſtgelegt. 1846 war die Strecke Halle —Weimar fertig, und bald wurde auch Eiſenach angeſchloſſen.

Am konſervativpſten wirkte der Miniſter Schweitzer. Auch er ſtammte aus Carl Auguſts Schule: auf deſſen Wunſch hatte er als junger Juriſt an der Verfaſſung weſentlich mitgearbeitet und war dann 1818 ins Mini— ſterium berufen worden, wo er jahrelang ohne be— ſtimmtes Departement wichtige Geſchäfte einzeln über— tragen erhielt. Seit 1827 führte er den Vorſitz bei Erziehungs- und Unterrichtsſachen, nach Goethes Tode übernahm er die Oberaufſicht über die unmittelbaren Anſtalten für Wiſſenſchaft und Kunſt und leitete ſeit 1842 wechſelnd beſtimmte Departements, wobei ihm ſeine im Gebiete eines Kultusminiſteriums liegenden alten Aufgaben ſtets erhalten blieben.

Mancher gute Weimarer dieſes Zeitalters hat es bedauert, daß ein ſo hervorragender Mann wie Prinz Bernhard, Carl Auguſts zweiter Sohn, ein Recke ' an Körper und Geiſt, fern von der Heimat lebte und wirkte. Es waren prophetiſche Worte und ein Omen— name geweſen, als Herder 1792 das Kind taufte: es ſei die Zeit gekommen, wo die Fürſten die Berechtigung zu dem Vorrecht ihrer Geburt zu erweiſen hätten. Der tapfere Prinz erhielt 1809 nach der Schlacht bei Wagram als jüngſter Offizier von Napoleon das Kreuz der Ehren— legion, 1815 kämpfte er bei Quatrebras und Waterloo

80 Prinz Bernhard

und wurde dann Generalmajor in dem neuen Königreich der Niederlande, wohin ihm eine meiningiſche Prin⸗ zeſſin als Gemahlin folgte. Seine Bemühungen galten im Frieden vor allem der Beſſerung des dortigen Offizierſtandes; in dem Kampfe des Jahres 1830, wo ſich Belgien losriß, ſchlug er den Feind, da gebot ein Waffenſtillſtand ihm Einhalt. Nochmals leiſtete er von 1849 ab Holland Soldatendienſte durch Übernahme eines dreijährigen ſchwierigen Kommandos auf Java. Dazwiſchen beſchäftigten große Reiſen in Europa und nach den Vereinigten Staaten von Amerika ſeinen kühnen Sinn; eine Berufung auf den griechiſchen Thron aber ſchlug er 1829 aus. Erſt an ſeinem Lebens— abend hat er vorübergehend wieder in Weimar geweilt; er ſtarb 1862 in Liebenſtein.

Inzwiſchen rückte neben die ältere Schicht der be— rühmteren Jenaer Profeſſoren allmählich eine jüngere; dieſe können recht eigentlich als die Vertreter der Zeit Carl Friedrichs gelten, auch wenn ihre Anfänge zum Teil noch unter Carl Auguſt fallen. Da war der Philologe und Archäologe Göttling, ein Jenaer Kind, von 1822 an außerordentlicher Profeſſor, als welcher er Goethe bei der letzten Ausgabe ſeiner Werke philologiſch unter— ſtützte, allerdings mehr grammatiſch knüſelig und geiſt— reich begleitend, als redlichſt auf den Grund gehend; 1831 wurde er Ordinarius. Um 1850 galt er als die ſchönſte Zierde, ja das geiſtige Haupt der Univerſität. Die griechiſche Akzentlehre, nach kleinen Anläufen 1835

Göttling und Schulze 81

abſchließend dargeſtellt, die Geſchichte der altrömiſchen Verfaſſung, 1840 veröffentlicht, waren Hauptarbeiten von ihm; er gab Ariſtoteles und Heſiod heraus, und recht nach ſeinem Sinne war es wohl, als ihm 1843 der Nachweis gleichzeitiger Bildniſſe von Thusnelda und Thumelicus gelang. Das 1845 von ihm geſtiftete archäologiſche Muſeum wuchs ſo ſchnell, daß er den Katalog 1854 zum drittenmal ausgeben mußte. Ein— faches, inniges Weſen, ſprudelnder Humor, vielſeitige Intereſſen und Kenntniſſe, auf großen Reiſen genährt, durchleuchteten ſeine Vorträge.

Wie galten zu Beginn dieſer Zeit Wiſſenſchaftlichkeit und Altertumswiſſenſchaft noch als unzertrennlich! Als ſich der junge praktiſche Landwirt Schulze, 1816 vor— züglicher Schüler der Tiefurter Muſterwirtſchaft und ſeit 1817 Verwalter der großherzoglichen Kammergüter, 1819 in Jena für Land- und Volkswirtſchaft habilitierte, ſchrieb er eine Abhandlung: De aratri Romani forma et compositione! Und auch dann vertraute er ſich nicht ſofort ſeiner Wiſſenſchaft ganz an, ſondern nahm noch den Umweg über die Philoſophie, wurde Schüler von Fries, durchdachte die philoſophiſche Begründung der Volkswirtſchaftslehre und ſchrieb 1825 über Weſen und Studium der Wirtſchaftslehre und der Cameralwiſſen— ſchaften. Jetzt erſt fühlte der Dreißigjährige die Arme frei zu kräftiger Verfolgung ſeines Ziels: 1826 wurde das neue Lehrinſtitut für Landwirtſchaft eröffnet und 1832 das neue Lehrgebäude dazu. In Norddeutſchland

Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 6

82 Haſe

wurde man auf ihn aufmerkſam, drei Jahre wirkte er in Eldena, ließ ſich aber dort bei ungünſtigen Verhält— niſſen nicht halten und kehrte 1838 mit dreißig Eldenaer Schülern nach Jena zurück, um nun hier zwei Jahr— zehnte lang große Anziehungskraft zu üben, beſonders ſeitdem er mit dem Inſtitut die Ackerbauſchule in dem nahen Zwätzen verband. Auch betrieb er das landwirt⸗ ſchaftliche Vereinsweſen Thüringens, und 1856 krönte er ſein wiſſenſchaftliches Schriftſtellertum mit einem Lehrbuch der Nationalökonomie. Um die Verpflanzung des akademiſchen Studiums der Landwirtſchaft an die Univerſität, um die Förderung des landwirtſchaftlichen Fortſchritts war er gleich verdient.

Zwei andere junge Jenaer Profeſſoren kamen auf den Weg der geſchichtlichen Betrachtung ihrer Wiſſen— ſchaft und wurden ſo ihrer ſelbſt und eines neuen Stand— punktes gewiß. Der Theolog Haſe, dereinſt Burſchen— ſchafter, hatte als angehender Dozent in Leipzig eine Lanze gegen den Supranaturalismus für friſches ratio— nales Denken in ſeiner Wiſſenſchaft gebrochen, und ſeine Berufung an die thüringiſche Univerſität 1830 ſah man in Halle an „als ganz im Sinne des jugendlich voranſchreitenden Jena geſchehen.“ Nun aber erkannte er es, auch einer romantiſchen Ader ſeines Weſens treu, als ſeinen Beruf, die Forderung der Vernunft mit dem Verlangen des Gefühls, freies Denken mit chriſtlichem Geiſte als einig darzuſtellen; er konnte und mußte den Rationaliſten Mangel an geſchichtlichem Sinn vor—

Häſer und Schleiden 83

werfen: er ſelber ſah hüben und drüben die Säulen der Kirche ragen, in beiden Lagern gelehrte und fromme Männer. Seinem Lehrbuch der Kirchengeſchichte, das 1834 zum erſtenmal erſchien, ſagte man nach, der Ver— faſſer ſei bei Goethe in die Schule gegangen und habe dieſem das Geheimnis abgelernt, jenes klare, erquickende Licht über die Darſtellung auszugießen, wo auch das ſcharf Ausgeſchnittene nie zu grell ins Auge falle. Einen etwas andern, aber vergleichbaren Wechſel machte der Mediziner Häſer durch, der Sohn des Weimarer Kapellmeiſters aus Goethes Zeit. Als Schüler Kieſers diſſerierte er 1834 in Jena ſchellingiſch im Banne der Naturphiloſophie de influentia epidemica; während er hier 1836 zum Dozenten, 1839 zum außerordentlichen und 1846 zum ordentlichen Profeſſor aufrückte, hob ihn das Studium der Geſchichte der Medizin aus dieſer Sackgaſſe und neben ſeiner ſachlicher werdenden Heil— wiſſenſchaft entſtand bis 1845 ſein Lehrbuch der Ge— ſchichte der Medizin, das ſich in ſpäteren Auflagen zu einer „mediziniſch-hiſtoriſchen Bibel“ erweiterte und erhöhte.

Viel leidenſchaftlicher erlebte Schleiden den Wechſel von einem klaſſiſch-formalen Wiſſen zu einer neuen Naturwiſſenſchaft. Mit zweiundzwanzig Jahren hatte er das juriſtiſche Doktorexamen gemacht, mit fünfund— dreißig holte er in Jena das philoſophiſche nach und ſtieg hier zwiſchen 1840 und 1850 allmählich zum ordent— lichen Profeſſor auf. Als er 1842 ſeine Grundzüge der wiſſenſchaftlichen Botanik veröffentlichte, leitete er ſie

6 *

84 Froriep

methodologiſch ein über das Weſen der induktiven Forſchung im Gegenſatz zur dogmatiſchen Philoſophie, forderte und zeigte Studium und Anwendung der Entwicklungsgeſetze auf die Botanik und erkannte als Ziel dieſes Weges eine gründliche Neugeſtaltung der Metamorphoſenlehre. Er lieferte manches unhaltbare neben viel brauchbarem, rückſichtsloſe Polemik neben reiner Erkenntnis. So wirkte er populär wie wiſſen⸗ ſchaftlich, am breiteſten wohl durch das Buch „Die Pflanze und ihr Leben“, das zwiſchen 1847 und 1864 in ſechs Auflagen erſchien. Ein Zeichen des friſchern Jenaer Geiſtes aus der mittleren Regierungszeit Carl Friedrichs war der ſchöne Verlauf der vierzehnten Naturforſcherverſammlung im Herbſt 1836.

An dem Jenaer Gelehrtenleben hatte Weimar teil, indem die Profeſſoren öfter zu Vorträgen herüber be— fohlen wurden. Maria Paulowna, von Anfang an in Weimars kunſtwiſſenſchaftliche Bildung tief eingeweiht, befriedigte ſo ihr Verlangen nach andauernder geiſtiger Nahrung; dabei beriet ſie namentlich der Weimarer Obermedizinalrat Froriep, jahrelang zu wöchentlichem Vortrag verpflichtet. Er hatte früher als Profeſſor der Medizin und 1814 bis 1816 in Stuttgart als königlicher Leibarzt gewirkt, ehe ihn Carl Auguſt nach Weimar berief. Hier übernahm er 1818 das Verlagsgeſchäft und geographiſche Inſtitut, das ſich Landes-Induſtrie— comptoir nannte; ſein Schwiegervater Bertuch hatte es gegründet und drei Jahrzehnte erfolgreich geleitet.

Altweimarer Schriften über Gothe 85 Froriep ſchien unerſchöpflich in Unternehmungen, gab die geographiſchen Ephemeriden bis 1832, eine Biblio— thek der Reiſebeſchreibungen bis 1835 heraus, einige Jahre auch ein Gartenmagazin“), ein chemiſches Labo— ratorium, eine kliniſche Handbibliothek, Notizen aus dem Gebiet der Natur- und Heilkunde uſw., aber er war doch mehr Gelehrter als Kaufmann, und nach ſeinem Tode 1847 wurde das Geſchäft allmählich großen— teils eingeſtellt.

Sonſt waren in Weimar literariſch noch einige Ge— treue aus Goethes Kreiſe tätig, im Sinne ihres Meiſters. Meyer, der ihn nur wenige Wochen überlebte, hatte Maria Paulowna viele Jahre kunſtgeſchichtlich belehren dürfen, zuletzt als Witwer täglicher Gaſt ihres Hauſes. Der Kanzler von Müller veröffentlichte 1832 ſeine klugen Beiträge zum Verſtändnis von Goethes Per— ſönlichkeit, und auch des verſtorbenen Falk plaudernde Aufzeichnungen durften nun gedruckt werden: Goethe aus näherem perſönlichen Umgang dargeſtellt. Riemer, ſein älteſter philologiſcher Berater, der 1814 eine Freun— din von Goethes Frau aus deſſen Hauſe weg geheiratet hatte, Gymnaſiallehrer und Bibliothekar, von 1837 bis zu ſeinem Tode 1845 Oberbibliothekar, brachte 1841 zwei Bände Mitteilungen über Goethe heraus, inhalt—

*) In der Hoffmannſchen Hofbuchhandlung in Weimar lernte zu Anfang der dreißiger Jahre Ernſt Keil, deſſen jung— deutſchen Journaliſtentrieb die altweimarer Luft beeinflußte, der ſpätere Herausgeber der Gartenlaube.

86 Riemer, Eckermann, Schuchardt; Coudray

voll und gelehrt, wenn auch bisweilen pedantiſch und verdrießlich; als Dichter war er vorwiegend Nachahmer Goethes, beſtenfalls unbedeutender Parallelläufer, ver— einzelt hat er ihn doch auch angeregt. Sein und Ecker— manns Hauptverdienſt gegenüber dem Zeitalter war, daß ſie die Herausgabe von Goethes Werken fortſetzten, den veröffentlichten wie den nachgelaſſenen. Von Ecker⸗ manns berühmt gewordenen Geſprächen mit Goethe erſchienen die erſten zwei Bände 1836, ein dritter 1848; Eckermann unterrichtete übrigens den jungen Erbgroß— herzog Carl Alexander in Literatur und Engliſch und wurde ſpäter Bibliothekar der Großherzogin; er ſtarb 1854. Schuchardt, Goethes letzter Sekretär und Gehilfe bei ſeinen Sammlungen, gab 1848 und 1849 im Auftrag der Enkel ein vollſtändiges Verzeichnis von Goethes kunſt⸗ und naturwiſſenſchaftlichen Sammlungen in drei Bänden bei Frommann in Jena heraus. Damals waren dieſe Sammlungen verpackt und verſchloſſen und Goe— thes Haus an Bekannte der Familie vermietet; die Schwiegertochter ſelbſt war 1839 mit ihren Kindern nach Wien übergeſiedelt.

Auch der Weimarer Oberbaudirektor Coudray hatte noch zu Goethes Kreis gehört, von Carl Auguſt in dem— ſelben Jahre wie Froriep berufen. Eine bewegte Bildungslaufbahn lag hinter ihm; im Weimariſchen ſollte ihm namentlich der Wegebau zu tun geben, worin Carl Auguſt außerordentliches verlangte und wofür Coudray bis zu ſeinem Tode 1845 ſorgte. Noch ein

Kaufmann, Schorn und Luiſe Seidler 87

dritter Weimarer Ruf des Jahres 1816 erging an den ausgezeichneten Bildhauer Kaufmann in Rom, einen gereiften Künſtler aus Canovas Schule. Zu ſeinen erſten Weimarer Werken gehörten die Porträtbüſten Carl Auguſts und Maria Paulownas, die ihren Platz im Schloſſe fanden; auch arbeitete er Giebelreliefs an das römiſche Haus im Park und eine Chriſtusſtatue in die Garniſonkirche, tüchtig in der idealiſierenden Weiſe der Zeit; er ſtarb 1829. Kaum ein Jahrzehnt weimariſchen Wirkens war auch dem Kunſtſchriftſteller Schorn beſchie— den, der 1833 teils als Erſatz für Meyer, teils für Goethe eingriff: er hatte die Zeichenſchule zu fördern, die fürſt— liche Freigebigkeit auf junge Talente zu lenken, ließ die großherzogliche Kunſtſammlung neu aufſtellen und be— ſtärkte den Entſchluß der Herrſchaft, Räume eines neu erbauten Schloßflügels als ein Denkmal der vier klaſſi— ſchen Dichter Weimars ausmalen zu laſſen.

Eine Seele der Weimarer Kunſt jener Zeit war die Malerin Luiſe Seidler. Sie ſtammte aus Jena, wurde von Goethe geſchätzt, dem ſie das Rochusbild für Bingen ausführte, und von Carl Auguſt gefördert, der ſie nach Rom ſchickte: dort verlebte ſie glückliche Jahre in der deutſchen Künſtlerkolonie. 1823 kehrte ſie zurück, wurde auf Goethes und Meyers Empfehlung Zeichenlehrerin der Prinzeſſinnen und erhielt 1824 auch die Aufſicht über die kleine wertvolle Gemäldeſammlung im Jäger— haus übertragen, wo ſie freie Wohnung und freies Atelier genoß. Ihre Schülerin Auguſta von Sachſen—

[0 2)

8 Gemäldeſammlung

Weimar bewahrte ihr ein treues Andenken auch auf dem Königsthron. Sie porträtierte viel; ihre größeren Gemälde waren meist romantiſchrchriſtliche Kirchenbilder von klaſſiziſtiſchen Formen und fröhlich bunten, ſüßen Farben. Gleich anfangs befahl ihr Carl Auguſt, einen Karton mit der heiligen Eliſabeth für die Wartburg auszuführen; das preußiſche Kronprinzenpaar hatte droben im Herbſt 1826 ſeine Freude an dem neuen Bilde, und die hinaufpilgernden fuldiſchen Bauern ſtärkten davor ihre Andacht.

Schorn ließ die Gemäldeſammlung 1836 nach dem Fürſtenhaus überſiedeln. Mancher bedeutende Beſuch kehrte hier und in Luiſe Seidlers Werkſtatt ein. Von Ausländern beſaß die Galerie zwar nur wenige min— dere Italiener, auch einen Tiepolo, aber manches gute Stück niederländiſcher und deutſcher Kunſt, dar— unter zwei Ruysdael, ein paar Dürer und Cranache, Dietrich und Seekatz, Graff und Tiſchbein, einige Kobell und von Friedrich die Regenbogenlandſchaft zu Schäfers Klagelied. Für die Vermehrung ſorgte Maria Paulowna in ihrer großartigen Weiſe: dem klaſſiſchen Schatz der Carſtensſchen Zeichnungen fügte ſie außer einem Karton von Neher ſpäter die Cornelius— ſchen Entwürfe zu einer Berliner Domfriedhofshalle hinzu und Blätter von Genelli; aus Schuchardts Cra— nachſammlung erwarb ſie 1852 die unſchätzbaren Bild— niſſe des jungen Kurfürſten Johann Friedrich und ſeiner Braut Sibylle von Cleve.

Dichterzimmer im Schloß 89

Seit 1816 war der Weſtflügel des Weimarer Schloſſes unter Coudrays Leitung allmählich neu erbaut worden; in der Mitte der dreißiger Jahre war er ſo weit fertig, daß man daran ging, einige Prunkzimmer als Dichterzimmer kunſtvoll auszuſtatten. Die Großherzogin und Schorn bedachten und betrieben den Plan. Für die Innen— architektur wurde Schinkel zugezogen, er entwarf das Galeriezimmer, das Goethes Andenken gewidmet war, und Angelika Facius aus Weimar, die geſchickte Schü— lerin Rauchs, hatte Türreliefs zu modellieren, damit ſie in Bronze ausgeführt würden. Man übertrug die Gemälde der beiden Hauptzimmer dem jungen Neher in München, einem der beſten Schüler von Cornelius: er ſtellte an den Wänden in der Art ſeines Meiſters Szenen aus Goethes und Schillers Dramen dar, darüber Frieſe aus Goethes Lyrik und Romanen,

aus Schillers Balladen und Glocke. Das Herderzimmer 15 Jäger aus Leipzig. Für das Wielandzimmer beſtimmte man das bedeutendſte der jungen weimari— ſchen Talente, den dreißigjährigen Friedrich Preller, der ſeine Aufgabe als Landſchafter eigen anfaßte.

Preller war 1804 in Eiſenach geboren, aber ſeit ſeinem erſten Jahre in Weimar aufgewachſen. Als zehnjähriger Gymnaſiaſt trat er in die Zeichenſchule ein, und Meyer, ihr damaliger Leiter, konnte bald Goethe auf ihn aufmerkſam machen. Goethe erkannte ſofort die geſunde Begabung des feinfühligen Burſchen, ließ ihn Wolken zeichnen und gab ihm auch ſonſt Winke

90 Der junge Preller

über Landſchaftskunſt; er beförderte ſeine erſte Reiſe nach Dresden, wo Preller in der Galerie kopierte, und nach Antwerpen, wohin ihn Carl Auguſt mitnahm, als er den Prinzen Bernhard in Gent beſuchte. Preller entwickelte ſich ſo ſicher und verheißend, daß ihn Carl Auguſt 1826 zu einem größeren Studienaufenthalt nach Italien ſchickte. Fünf Jahre lebte er dort, anfangs länger in Mailand, dann die ſchönſte Zeit über bei den deutſchen Künſtlern in Rom. Die Landſchaften des alten Koch lehrten ihn neu ſehen, neben ihm zeichnete er in der Campagna, und bei einem Ausflug in die Neapeler Gegend bevölkerte ſeine Phantaſie dieſe unwillkürlich mit den Geſtalten der Odyſſee. Von jüngeren Deutſchen trat ihm damals Dr. Härtel aus Leipzig nahe und deſſen Schwager, der Jenaer Theolog Haſe; Goethes Sohn verſchied in Rom in Prellers Armen. Bald nach ſeiner Rückkehr in die Heimat nahmen ſich Hof und Staat von neuem ſeiner an: der Großherzog übertrug ihm den Zeichenunterricht bei dem Erbprinzen, Maria Pau— lowna beſtellte jährlich eine Landſchaft bei ihm, und er erhielt die erſte Lehrerſtelle an der Weimarer Zeichen— ſchule, dazu freie Wohnung und Werkſtatt im Jäger— hauſe, wo er nun lange Jahre über der etwas zimper— lichen Seidlerin wohnte und, überlegen, wie er ihr ſchon damals war, und guter Laune, „ſeinen dreißig— jährigen Krieg“ mit ihr führte. Auch der erſte große auswärtige Auftrag ſtellte ſich ein: für das „römiſche Haus“ in Leipzig, das ſich Härtel erbaute, hatte er einen

Maria Paulownas muſikaliſche Bildung 91

Erdgeſchoßſaal mit Odyſſeewandbildern zu ſchmücken. Mit vielen italieniſchen Studienblättern verſehen und nach guten Lehren geübt, machte er ſich zum erſtenmal friſchen Mutes an ein Werk, das dreißig Jahre ſpäter ſeiner erhöhten Kunſt nochmals gelingen und ihn erſt dann auf den Gipfel des Ruhmes führen ſollte. Von Ende der dreißiger bis Ende der vierziger Jahre führten ihn mehrere Reiſen nach dem Norden, nach Rügen und Norwegen, und hier reifte in hunderten von Skizzen und Gemälden allmählich die volle Kraft ſeiner dra— matiſch-naturaliſtiſchen Wiedergabe der Landſchaft wie ſein heroiſcher Sinn für das Herbleidenſchaftliche in ihr. Einer der Schüler, die ihn dabei begleiteten, war der junge Hummel aus Weimar, ein Sohn des Kapell— meiſters.

Maria Paulownas künſtleriſcher Sinn war am ent— wickeltſten in der Muſik.

Der Töne Kraft, die aus den Saiten quillet, Du kennſt ſie wohl, Du übſt ſie mächtig aus

ſo hatte Schiller die junge Fürſtin einſt begrüßt, und kaum eine Familienfeier, ein Karfreitag verging, wozu ſie nicht ſelbſt etwas komponierte. Sie veranlaßte 1819, daß Weimar als ſeinen Kapellmeiſter und ihren Lehrer den vielleicht ausgezeichnetſten Klaviermeiſter der da— maligen Welt in Hummel gewann. Er war als Knabe Mozarts Haus- und Leibſchüler geweſen und hatte faſt unbewußt in deſſen Muſik ſprechen gelernt. In der Wiener Schule bildete er ſich weiter, als Klavierlehrer

92 Johann Nepomuk Hummel

wie als Komponiſt, und drang um 1815 zu ſelbſtändig erweiterten Formen vor wie dem Konzertrondo, der Klavierfantaſie, bildete auch damals das Talent frei zu fantaſieren völlig an ſich aus. Kunſt und Ruf blieben ihm in Weimar treu, ja erreichten hier den Gipfel. Vorzügliche junge Talente wie Hiller und Henſelt kamen 1825 aus Frankfurt und 1831 aus München, um bei ihm „die letzte Klavierweihe zu emp— fangen.“ Faſt alljährliche Konzertreiſen in die Haupt— ſtädte Europas verſammelten tauſende von Hörern zu ſeinen Füßen und brachten ihm fabelhafte Einnahmen, wertvolle Geſchenke. Hiller hatte das Glück, ihn 1827 nach Wien begleiten und neben ihm ſpielen zu dürfen und ſein erſtes Werk, ein Klavierquartett, dort heraus— geben zu können; Hummel beſuchte damals Beethoven kurz vor deſſen Ende, es war ein erſchütterndes Wieder— ſehen. Um ſeiner gedrungenen Geſtalt, putzig-naiven Art und Zauberkraft willen nannten ihn Goethe und Zelter den Gnom; am 4. April 1826 ſchrieb Zelter nach Weimar: „Wir erwarten Euren gnomiſchen Virtuoſen, der uns einmal wieder die Ohren reiben will, und ich vernehme ihn gern wieder, denn er iſt allein, was ſeine ganze Brüderſchaft zuſammen“ und am 23. Mai: „Hummel hat zwei einträgliche Konzerte gegeben, wie— wohl die Zeit feiner Ankunft nicht mehr die vorteil» hafteſte ſchien. Für mich iſt er ein Summarium jetziger Klavierkunſt, indem er echtes und neues mit Sinn und Geſchick verbindet. Man merkt keine Finger und Saiten,

Ne} os

Konzertprogramm und Kompoſitionen

man hört Muſik; alles kommt ebenſo ſicher und leicht heraus, als es ſchwer iſt. Ein Gefäß vom ſchlechteſten Leimen mit Pandorens Schätzen gefüllt.“ In Weimar führte Hummel 1828 die Hofkapellkonzerte ein und gründete den Witwenpenſionsfonds.

Was er dabei an Muſik bot, zeigt eines der letzten ſeiner Konzerte im März 1837: im erſten Teil Mozarts Pariſer D-Dur Symphonie, eine Arie von Roſſini und Hum mels D-Dur Konzert Les adieux, von einem Sohn des Komponiſten geſpielt; als zweiter Teil eine Arie aus der Schöpfung, Maurers Concert für vier Violinen und aus des Fürſten Radziwill Fauſtkompoſition die Szene Bauern unter der Linde; der dritte Teil die Ouvertüre zu den Vehmrichtern von Berlioz, eine freie Fantaſie Hummels ſelbſt über Themen u. a. aus Don Juan und das Finale aus Roſſinis Belagerung von Korinth. Von ſeinen Weimarer Kompoſitionen zeigten die Kirchenmuſiken am deutlichſten das Anemp— fundene ſeiner Tonſprache, das Kyrie ſeiner C-Dur Meſſe kennt keine tiefe Not der Kreatur. Eigentümlicher waren ſeine Klavier- und Kammermuſikwerke. Zwar konnte man auch da den Eindruck haben, daß jemand Mozarts Mundart fließend mit vermehrter geſellſchaft— licher Eleganz ſpreche, daß er ſchmeichle, wo Beethoven rührt, und eine Rakete ſteigen laſſe, wo jener Feſſeln ſprengt; aber manchmal war es auch, als ob ſich den Mozartſchen Motiven eine erweiterte Tragfähigkeit unterſchiebe, als ſtellten ſich neue harmoniſche Wand—

94 Lobe und der junge Liſzt

lungen, friſches figürliches Gerank ein: hier haben Mendelsſohn, Chopin, Schumann, Liſzt aufgegriffen und weitergebildet. Hummels mächtige Klavierſchule, das Flügelpult erdrückend, erwies den großen Fortſchritt der zwei jüngſten Menſchenalter über K. Ph. E. Bach hinaus, zog die Summe der klaſſiſchen Wiener Klavier- technik und führte leiſe in das Land, wo ſich der junge Schumann am genialſten tummelte.

Die neue Muſik, die gegen die Mitte des 19. Jahr⸗ hunderts die Herrſchaft antrat, fand in Weimar ihren erſten entzückten und exzentriſchen Vertreter in dem Flötiſten und Bratſchiſten Lobe, der 1797 in Weimar geboren war. Als Theoretiker, Komponiſt und Muſik— ſchriftſteller tätig und gewandt, brachte er komiſche Opern auf die Weimarer Bühne und ſprach ſich in Schumanns Neuer Zeitſchrift für Muſik und in andern Blättern keck und draſtiſch aus. Der Gedanke einer modernen Muſiktheorie packte ihn, 1844 veröffentlichte er ſeine erſte, kleinere Kompoſitionslehre und ſiedelte dann nach Leipzig über. Hummels Stelle hatte in— zwiſchen der Pariſer Chelard angetreten, der mit einigen Opern in Deutſchland mehr Glück gehabt hatte als in ſeiner Heimat, aber nach wenigen Jahren mußte er den jungen Liſzt neben ſich Fuß faſſen ſehen: dieſer dirigierte, als Weimarer Hofkapellmeiſter anfangs nur in außerordentlichem Dienſt angeſtellt, zuerſt 1842 bei der Hochzeitsfeier des Erbprinzen Carl Alexander.

Die Oberleitung der Weimarer Bühne hatte der

Genaſt und Frau 95

Intendant Freiherr von Spiegel von 1828 bis 1847 inne, und er regierte ſein Völkchen ganz in Goethes alter, allmählich als pedantiſch empfundener Ordnung. Seine rechte Hand dabei war in den dreißiger und vierziger Jahren der Sänger und Schauſpieler Genaſt, von 1833 bis 1851 zugleich Opernregiſſeur, ein Sohn von Goethes langjährigem treuen Regiſſeur. Er war 1814 noch unter Goethes Leitung in Mozarts Ent— führung zuerſt in Weimar aufgetreten, war dann draußen vorwärts gekommen, hatte ſich 1820 in Leipzig mit einer ſchönen Darſtellerin feiner Frauenrollen vermählt ihre Schweſter war die Gattin des be— rühmten Dresdener Liebhabers Emil Devrient —, und beide wurden 1829 auf Lebenszeit in Weimar engagiert. Damals war hier noch ein tüchtiges Enſemble aus Goethes Schule beiſammen, wenn ſich auch nicht ver— hindern ließ, daß eine allerbeſte Kraft wie Laroche, für Luſtſpielcharaktere, nach Wien ging. 1829 wurde an Goethes Geburtstag zum erſtenmal der Fauſt in Weimar aufgeführt mit Laroche als Mephiſtopheles, dem dreißig Jahre lang niemand an Witz und Unheim— lichkeit in dieſer Rolle gleichkam, 1830 der Götz mit Genaſt in der Titelrolle, 1831 Chelards Macbeth; zur Trauerfeier nach Goethes Tode wurde Taſſo geſpielt mit Frau Genaſt als Prinzeſſin und Genaſt als Antonio. In den fünfziger Jahren wirkte Genaſt nur noch als Schauſpieler, vorher auch als Opernbariton und -Baß Don Juan, Saraſtro, Pizarro, Kaſpar und wenn

96 Landſchaftspflege

in Weimar Tenornot war, punktierte ihm Hummel auch eine Rolle wie den Maſaniello. Als gewandter Geſellſchafter und beliebter Gaſtſpieler in Leipzig, Dresden, Breslau, auch in Wien und Paris bekannt, zog er auswärtige Bühnenkräfte und Dichter mit Erfolg nach Weimar, deſſen Überlieferung von den Raupach und Immermann ſehr wohl, ja auch von Gutzkow und Laube noch etwas geſchätzt wurde, wenn ſie ihre neuen Dramen hier zur Einſtudierung vorlaſen. 1829 kam Marſchner mit „Templer und Jüdin“ nach Weimar und ſuchte noch eine Originalmelodie für ein Lied Ivanhoes; Genaſt verſchaffte ihm ein altſchottiſches Liederbuch aus Ottilies von Goethe Beſitz, da fand ſich Rat.

So traten Regierung und Hof Carl Friedrichs und Maria Paulownas wieder für Wiſſenſchaft und Kunſt im Großherzogtum ein, nicht mit der Genialität Carl Auguſts, aber unter den deutſchen Fürſten ihrer Zeit hervorragend. Und wieviel Sorge und Liebe wandten ſie ſonſt Land und Leuten zu. Sie gründeten Obſt— baumſchulen. Den Park von Belvedere vergrößerten und verſchönerten ſie und öffneten ihn allen. Um Eiſenach ließen ſie herrliche Baum- und Wegeanlagen entſtehen, wobei Oberforſtrat König bis zu ſeinem Tode 1849 trefflich beriet. Dort war ſchon 1805, als Maria Paulowna einzog, das Mariental ihr zu Ehren genannt worden, und als man 1832 die ſüdlich weiter— führende duftig tauende Schlucht gangbar machte,

Landesfürſorge 97

wurde ſie nach der Schweſter der Großherzogin, der Königin der Niederlande, Annatal genannt. Auf dem bewaldeten Gipfel des Kickelhahns erſtand 1854 ein Turm zu weiter Ausſicht ins Thüringer Land.

Noch als Erbgroßherzogin gab Maria Paulowna den Anſtoß zur Errichtung von Sparkaſſen: 1821 wurde an ihrem Geburtstag die erſte in Weimar eröffnet. Eine Frucht der Freiheitskriege waren die Frauen— vereine: 1817 verfaßte Maria Paulowna Statuten für den zu Weimar. 1816 wurde zu Neujahr die erſte Weimarer Induſtrieſchule eröffnet raſch folgten andere 1817 gab es ſchon 20 weimariſche Induſtrie— ſchulen für Mädchen mit 813 Schülerinnen, 1827 60 mit 2357, 1858 125 mit 5020. Aus der freien Zeichen— ſchule ging die Bauſchule, aus dieſer 1829 die Gewerken— ſchule hervor. Arbeitsanſtalten für Erwachſene folgten, Spinn- und Suppenanſtalten, Almoſenkaſſen und Waiſenhäuſer und die Lieblingsſchöpfung Maria Paulownas Kleinkinderbewahranſtalten. 1829 bis 1832 wurde das Weimarer Geſamthoſpital erbaut, das Luiſenſtift. „Unermüdliche Wohltäterin, aufmerkſamſte Leiterin“ war Maria Paulowna bei all dieſer ſozialen Arbeit.

Und doch: die patriarchaliſche Gemütlichkeit, die hier waltete, ſollte der Zeit immer weniger anſtehen, wie auch Carl Auguſts Verfaſſung zu morſchen anfing. Der junge Miniſter von Watzdorf, ſeit 1843 Fritſchs Nachfolger, war mit Gersdorff bemüht, den neueſten

Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 7

98 Carl Friedrichs Ausgang

politiſchen Forderungen der Landtagsoppoſition gerecht zu werden, da trieb die Sturmflut im März 1848 ihre Wellen über das Weimarer Land. Carl Friedrich ſah die tumultuariſche Menge im Schloßhof, er mußte die älteren Miniſter entlaſſen, neben Watzdorf berief er den Eiſenacher Advokaten von Wydenbrugk auf Ver— langen des Volkes ins Miniſterium, und beide lenkten in den nächſten Jahren die weimariſchen Verhältniſſe in neue Bahnen, noch unter Carl Friedrich, aber wohl mehr im Sinne ſeines Sohnes. Schließlich erfuhr Großherzog Carl Friedrich doch noch einmal die ganze Liebe ſeiner Weimarer: 1853 feierte er wenige Tage vor ſeinem Tode das fünfundzwanzigjährige Regierungs— jubiläum, da zollte ſein Volk dem gütigen Fürſten all— gemeine Dankbarkeit.

Klaſſizismus und deutſcher Bund

Fragt man nach der Wirkung des weimariſchen Geiſtes auf die Deutſchen in der Zeit von den Frei— heitskriegen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, ſo ſpringt der Unterſchied zwiſchen der nachlaſſenden Kraft Wielands und Herders und der wachſenden Goethes und Schillers in die Augen. Buchhändleriſch ſtanden alle vier anfangs zurück hinter den Klaſſikern der alten Welt. Aber ihre Namen genoſſen gemeinſamen Volks— ruhmes: in Sachſen wurden in den zwanziger Jahren Bilderbogen mit den Köpfen der vier Weimarer verkauft.

Wieland galt noch als unterhaltſamer, kluger Schrift— ſteller. Das Menſchentum, auf das die Jahrzehnte um 1800 ſo ſtolz waren, hatte er mit erwecken helfen; um die Beſtimmung des Menſchen drehe ſich alles bei ihm, und ſo gehöre er allen Zeiten an, das glaubte um 1820 noch mancher von ihm. Ganz allmählich wurde freilich die Aufforderung: „Lies den Wieland“ immer weniger befolgt. Man begann ihn als kleinlich zu empfinden; der junge Hebbel meinte, als er die Abderiten geleſen hatte: die jetzigen Abderiten richteten nicht immer Eſelsfehden, ſondern oft das Schickſal eines edlen

Volkes. Schon die erſte Geſamtausgabe ſeiner Werke, 7%

100 Nachwirkung Wielands

die J. G. Gruber in Halle 1818 bis 1828 in 49 Bändchen für den Leipziger Verleger Göſchen beſorgte, war unter dem hiſtoriſchen Geſichtspunkt angelegt: die Poeſien, von denen Wieland ausgegangen war und die er ſpäter in entbehrliche Supplementbände verwieſen hatte, wurden an die Spitze geſtellt. Noch 1839 und 1853 konnten zwei neue Auflagen ſeiner ſämtlichen Werke zu erſcheinen beginnen. Die einzige Dichtung von ihm, die man noch einzeln kaufte, war der öfter gedruckte Oberon. Daß man mit ihr in Zuſammenhang blieb, dazu hat gewiß Webers 1825 in Dresden komponierte und ſeit 1826 gern geſpielte Oper viel beigetragen, deren Text der engliſche Dichter Planché nach Wieland und Shakeſpeare geſchrieben hatte. Um Neujahr 1834 ſtieß der kompoſitionsluſtige junge Felix Mendelsſohn in Düſſeldorf auf Kotzebues Operntext nach Wielands Wunſchmärchen Pervonte, und er beſtürmte ſofort ſeinen Freund Klingemann in London, ihm daraus etwas beſſeres zu machen; aber nach beiderſeitiger einjähriger Bemühung blieb der Plan liegen. Wie der Zauberflöten— text von Schikaneder teilweiſe aus zwei Wielandſchen Werken abgeleitet war, dem Oberon und dem Märchen „Lulu oder die Zauberflöte“ im dritten Band des Dſchin— niſtan, ſo lebte überhaupt etwas von dem Geiſte von Wie— lands Dichtung in der deutſchen romantiſchen Oper fort.

Herders geſammelte Werke erſchienen zuerſt in den Jahren 1805 bis 1820 in der Cottaſchen Buchhandlung in 45 Bänden, dort nochmals 1827 bis 1830 in 60 Bän⸗

Herders Leſerſchaft und Gelehrtennachfolge 101

den und ſchließlich 1852 bis 1854 als vierzigbändige Taſchenausgabe. Herders Gattin und ſein Sohn, von einigen Gelehrten unterſtützt, beſorgten anfangs dieſe Ausgaben, die ſich noch an die leſenden und nicht bloß die gelehrten Deutſchen wandten. Der Cid ragte hervor: ihn allein hat Cotta zwiſchen 1832 und 1853 noch ſechsmal auflegen können, und zweien dieſer Sonderausgaben kam die junge deutſche Holzſchneide— kunſt der dreißiger Jahre nach Zeichnungen Neureuthers zugute. Herders religiöſe und geſchichtsphiloſophiſche Schriften zogen Grundlinien einer Weltanſchauung, die ſich mancher tiefer denkende deutſche Jüngling vor der Mitte des 19. Jahrhunderts noch angeboren fühlte. Begriffe wie Volkstum und Volkslied, Entwicklung und Humanität ſind von Herders perſönlichem Wirken un— zertrennbar und ſind in ſeinem Sinne bis gegen 1850 geſchätzt worden. Die Gelehrten, die am gründlichſten und entſcheidendſten nach Herder unter ſeinem Einfluß arbeiteten, waren Wilhelm von Humboldt und die Brüder Grimm. Von ſeiner Geſchichtsphiloſophie zweigten ſich des alten Humboldt weitblickende For— ſchungen „Über die Verſchiedenheit des menſchlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geiſtige Ent— wickelung des Menſchengeſchlechts“ ab und zeigten, was Herder angedeutet hatte, Zuſammenhang und Zu— ſammenſtimmung der Menſchenſprachen. Was der junge Wilhelm Grimm 1812 über Herder geſchrieben hatte: „Beklagen wir, daß er leiblich aus unſerer Mitte

102 Herder in Romantik und Muſik

verſchwunden, ſo lebt doch ſein Geiſt noch unter uns, tätig und wirkend“, behielt für die Brüder noch lange Geltung. Die Herderſchen Überſetzungen aus dem Nordiſchen waren nur Verſuche, Proben; das ver— beſſerten die Grimm jetzt: 1815 erſchien ihre Edda— überſetzung. In ſeinen letzten Jahren hatte Herder wieder ſeinen alten Gedanken ergriffen, die deutſchen Kindermärchen für die junge Welt künftiger Geſchlechter zu ſammeln; die Brüder Grimm führten das aus: 1812 und 1815 erſchienen ihre Kinder- und Haus— märchen, 1816 und 1818 ihre deutſchen Sagen. Auch die in Herders Iduna bezeichnete Lücke der deutſchen Bildungsmittel, den Mangel einer einheimiſchen My— thologie und Heldenſage, haben ſie ſpäter ausgefüllt. Eine bayriſche Gymnaſialvorſchrift verlangte zeitweilig die Pflege Herderſcher Lieder neben denen von Goethe und Schiller. Herders „Lied des Lebens“ (nach Moncrif) iſt bis gegen 1850 in vielen Sammlungen gedruckt worden, auch zum Geſang, z. B. nach der Weiſe Ohne Lieb und ohne Wein, und neben den kleineren Be— mühungen Beethovens und Schuberts um Muſik zu Texten aus Herder entſtanden um 1820 zwei der ſchönſten Jugendwerke Loewes, als opus 1 ſein Edward und für opus 2 Exlkönigs Tochter: der Balladen- und Legenden-Komponiſt Loewe iſt von Herder ausgegangen. Und wäre das Volkslied Wenn ich ein Vöglein wär' nach 1815 noch an die ſechzigmal komponiert worden, wenn Herder nicht die Worte zuerſt hätte drucken laſſen?

Ausgaben von Schillers Werken 103

Weitaus die größte Wirkung war damals Schiller beſchieden. Wurde auch in den geringeren Ständen noch weniger geleſen, ſo dafür in den bürgerlichen und höheren deſto mehr und eindringender: hier herrſchte um 1830 eine ſo tiefe Teilnahme an der Literatur, wie ſich ihrer wenige Menſchenalter der deutſchen Geſchichte haben rühmen können, und vor allem drangen Schillers Werke ins Leben. Ihre erſte Geſamtausgabe, 1812 bis 1815 in zwölf Bänden erſchienen, war trotz des Wiener Nachdruckes bald vergriffen. 1818 auf 1819 brachte Cotta die zweite Auflage zugleich mit einer billigeren Taſchenausgabe und einer neuen Wiener Ausgabe auf den Markt. Von dieſen ging die Taſchenausgabe am ſchnellſten ab, Cotta druckte ſie 1822 neu, während in Karlsruhe 1822, in Grätz 1824 und in Augsburg 1826 abermals Nachdrucker ihr Publikum fanden. Zwiſchen 1830 und 1840 mußte Cotta acht, im nächſten Jahrzehnt noch drei Geſamtausgaben folgen laſſen. In vielen Bürgerwohnungen galt eine ſolche Ausgabe von Schillers ſämtlichen Werken als ein Hauptſchatz, und die heranwachſende Jugend machte ſich ihn vorleſend am Familientiſche oder auf der Wanderung zu eigen. Um die Jahrhundertwende war noch Klopſtock der Träger der herkömmlichen Begeiſterung geweſen, jetzt trat Schiller an ſeine Stelle. Durch keinen andern deutſchen Schriftſteller fühlten ſich nun die meiſten ſo genährt und beglückt.

Vor allem durch ſeine Gedichte, die philoſophiſchen

104 Schillers Gedichte und die Jugend

und die Balladen. Außer den Geſamtausgaben wurden Schillers Gedichte in Einzeldrucken von Cotta zwiſchen 1816 und 1823 achtmal aufgelegt, zwiſchen 1830 und 1850 dreizehnmal. Alles was von großer Sehnſucht nach einer beſſeren Welt in ihnen lebt, wirkte teils als ältere Grundſtimmung weiter, aus der ſich die übrigen Werke der Klaſſiker erhoben, teils rührte es an den neueſten Zuſtand von Deutſchland, das man zur Bundes— zeit ſo gern mit Hamlet verglich. „Die Götter Griechen— lands“ erfüllten noch um 1835 den Dresdener Kreuz— ſchüler Walter mit ſo warmer Begeiſterung für die Welt des alten Hellas und Rom, daß auch er einen ganzen Zukunftsglauben von der Erziehung der Deut— ſchen zur Kalokagathie darauf baute. Schiller und Poeſie das wurden in vielen Köpfen die zunächſt beieinander liegenden Begriffe. Auch bei der unſicheren Stellung, die die Schule damals zur Pflege ſeiner Dichtung noch einnahm, lernte der geweckte Schüler keine andern Gedichte jo gern freiwillig, um fie zu deklamieren, als Schillerſche Balladen. Gegen die Mitte des Jahrhunderts konnte man es ſchon erkennen, daß eine neue Gefahr für die echte Bewertung Schillers dadurch auftauche, daß ihr lichter Satzbau, ihre ge— drungnen Strophen, die Wurfkraft ihrer Worte ſie zu früh bei der Jugend einführten und dadurch ihr tieferes Verſtändnis teilweiſe unterbunden würde.

Beſſer als die Schule die Hochſchule tat noch gar nichts dazu vermochte die Bühne mitzuwirken,

Schillers Dramen und die Bühne 105

daß Schillers dichteriſcher Geſamtwert den Deutſchen erſchloſſen und immer wieder vor Augen geführt wurde. Zwar waren ſeine Hauptdramen nicht auf allen Hof— bühnen gleichmäßig gelitten; die Räuber und Tell waren hier und da verpönt und Wallenſtein in Wien zu Metternichs Zeit nur in Umarbeitung möglich; zuerſt Ende September 1848 hat das Burgtheater den ganzen Wallenſtein aufgeführt. So ſtanden um 1820 aus Schillers Reifezeit die Dramen mit weiblichen Titelrollen im Vordergrund, und das dankbarſte aller klaſſiſchen Theaterſtücke war die Jungfrau von Orleans, deren romantiſche Züge ja auch die neuen, der Ro— mantik beſonders ergebenen Gemüter feſſelten. Als Frau Crelinger vom Berliner Hoftheater 1820 an 53 Abenden in Wien ſpielte, trat ſie achtmal als Jo— hanna auf, und im Jahre 1826 ſpielten zeitweiſe alle drei Wiener Bühnen die Jungfrau, am liebſten vor dem dankbaren Sonntagspublikum.?) In den männ— lichern, tatendurſtigern vierziger Jahren aber wurde Tell am meiſten gegeben. Dem entſprach der Abſatz dieſer Werke bei den Leſern: Maria Stuart erlebte vier Auflagen zwiſchen 1815 und 1825, die Jungfrau vier zwiſchen 1815 und 1822, Tell von 1817 bis 1831 nur drei; in den vierziger Jahren aber mußte von Tell beinahe jedes Jahr eine neue Auflage erſcheinen. So

*) Noch als im Jahre 1835 Immermann in Düſſeldorf ſie bei ſchönſtem Maiwetter gab, füllte ſie das Haus zu

ſeinem Erſtaunen, und er buchte vergnügt die 228 Taler Einnahme von „dem alten Battaillenpferd“.

106 Schiller und Shakeſpeare

wurde er auch zu einem gemäßigten Symbol des Jahres 1848: am 23. März gab man ihn den Berlinern als klärendes Wahrzeichen in den Tagen der Aufregung, die erſte Vorſtellung der Karlsruher Bühne in der badiſchen Revolution brachte ihn, und die Düſſeldorfer Theaterdirektion erhielt den Dank „vieler deutſcher Brüder“ für ſeine damalige Aufführung. Auch Don Carlos wirkte in ähnlichem Sinne, namentlich wenn ein ſo idealer Marquis Poſa darin erſchien wie der Dresdner Emil Devrient.

Fortwährend fanden neue Werke des Tages ihren Weg auf die Bühne und ſchmälerten die klaſſiſche Bahn, die Stimmung der Zeit ſpannte ſich unweigerlich einem neuen Realismus zu, und doch blieb Schiller während des ganzen Zeitalters der erſte Stolz des deutſchen Theaters. Auch Shakeſpeare konnte ihm nicht viel anhaben, obwohl er um 1820 zum erſtenmal faſt mit allen Werken planmäßig und erfolgreich unſerer Bühne zugeführt wurde; 1815 war das Verhältnis der Schiller— ſchen Dramen zu denen Shakeſpeares wie das von 4 zu 1, 1825 etwa wie das von 4 zu 2, ohne daß Schillers Geſamtaufführungszahl zurückging. Das war kein rein künſtleriſches Ergebnis; ein neues Wollen, das liberale und das nationale, ſah in Schiller den beſten Herold, er galt als „Dichter der Freiheit“, immer höher ſtieg das Banner ſeines Namens für Deutſchland.

Ein gutes Teil der nationalen Hoffnungen und Wünſche loderte in den Schillerfeſten auf, die ſich hier

Schillerfeſte 107

und dort einbürgerten. 1815, zehn Jahre nach des Dichters Tode, hatte nur in Weimar eine Gedenkfeier ſtattgefunden. 1825 gründeten die Stuttgarter den Geſangverein Liederkranz mit der Verpflichtung, jqährlich am 9. Mai ein öffentliches Feſt zu Schillers immer neuem Ruhm zu feiern, und die Breslauer Liedertafel beging den Geburtstag des Dichters. Größere Schiller— feſte folgten 1830 bei Rudolſtadt, 1835 in Rottweil, 1837 in Frankfurt am Main; wie in Stuttgart ſo fanden alljährlich Schillerfeſte ſeit 1829 auch in Breslau und dann in Leipzig ſtatt, wo der 1840 gegründete Schiller— verein ſie trug. In Stuttgart ſollte das erſte Denkmal Schillers erſtehen, dazu wurde hier 1837 Schillers Album? ausgegeben, eine Sammlung von Denkworten hervorragender lebender Dichter und Schriftſteller auf ihn aus allen deutſchen Landen. In Breslau war Hoffmann von Fallersleben eine Seele der Feſte und der junge Laube einer ihrer begeiſtertſten Teilnehmer. In Leipzig ſtand Robert Blum an der Spitze und war wiederholt Feſtredner, auch ſprachen und ſangen Laube, Moſen und Prutz; dieſer rief in Schillerſchen Jamben:

Es braucht die Wahrheit ihre Kämpfer auch,

Der Sieg des Geiſts will auch errungen ſein:

O ſeid denn einig für den Kampf der Zeit! ...

So wird in euch der Geiſt des Dichters wach,

So, Freunde, wird's ein echtes Schillerfeſt!

Daß Goethes Wirkung damals ſo ganz anders war

als die Schillers, lag zum Teil daran, daß Schiller, der jung geſtorbene, faſt ein Menſchenalter früher des Nach—

108 Goethes engere Wirkung

ruhms teilhaftig geworden iſt als Goethe, daß Goethe die Hälfte jener Zeit noch mit erlebte, als ein Unab— geſchloſſener zu ihr ſprach, in unfertigem Verhältnis zu ihr ſtand. Das Bürgertum feierte den Todestag des verewigten Schiller laut, kleine Kreiſe den Geburtstag des lebenden alten Goethe mit gedämpfter Ehrfurcht; und die erſten beiden Jahrzehnte nach Goethes Tode waren von zu neuem, fremden Leben erfüllt, als daß ſie an Goethes mehr privater Wirkung vorläufig viel hätten ändern können: 1849 kam es nur zu einer lauen Jahrhundertfeier.

Seine feinere Lyrik, ſeine Epik wollte kaum dekla— miert werden, lieber im ſtillen Kämmerlein genoſſen und bedacht. Seine Lieder wurden im Salon und von der Liedertafel geſungen, ſeine Gedanken bewundert inmitten jener alten perſönlichen Geſelligkeit, deren letzte Blüte in den vierziger Jahren war. Seine Balla— den entzückten vornehme Kreiſe daheim und in Mode— bädern. Im Auguſt 1818, beim Fürſten Schwarzenberg in Karlsbad, wurde Mignon in Beethovens Kompoſition. geſungen; Gentz erzählt davon: „Die ganze Geſellſchaft wurde lebhaft ergriffen; Goethe hatte Tränen in den Augen.“ Im Auguſt 1825 in Ems, bei einer Abend— geſellſchaft des preußiſchen Kronprinzenpaares, rezitierte Pius Alexander Wolff die Braut von Korinth, und Carl Maria von Weber ſpielte dazu melodramatiſch frei Klavier, beides ſchwer kranke Künſtler; Webers Sohn berichtet: „Die Wirkung auf das hochgebildete Audi—

Vereinzelter Goethegenuß 109

torium war eine bedeutende; der Kronprinz dankte, den beiden kleinen, bleichen, ſchwarz gekleideten, gewal— tigen Männern die Hände drückend, tief erſchüttert, mit Tränen in den Augen.“ Um 1820 trafen ſich in Rom deutſche Künſtler in der Zelle der Malerin Luiſe Seidler am Sonnabend abend zu regelmäßigem Picknick; wenn keine Tagesereigniſſe zu beſprechen waren, wurden dabei Werke wie Taſſo, Iphigenie oder Wilhelm Meiſter vorgeleſen. In den deutſchen Provinzialſtädten aber verſtrichen Jahre, ehe einmal eine kleinere Sortiments— buchhandlung ein Exemplar von Goethes Werken abſetzte.

So war es auch im Theater; allerlei Leute ſahen bei einem Goethiſchen Schauſpiel zu, aber ſein eigent— liches Publikum fühlte ſich darunter als eine beſondere Gemeinde. Das waren dieſelben, die auch zu Hauſe Goethevorleſungen veranſtalteten; ſo laſen in Berlin Mendelsſohns 1824 vor dreißig Gäſten den Taſſo, und dabei wirkte das Schauſpielerpaar Wolff mit, dem Goethe in Weimar die Rollen einſtudiert hatte. Überall, wohin Goethes Briefwechſel bedeutende Männer ihm verknüpfte, gab es ſolche kleine Goetheanhängerſchaften; überall, wo Männer wohnten, die einmal als junge Leute vor ihn hatten treten dürfen, lebten Goethe— kennertum und -ſchwärmertum weiter, im ſtillen gläu— big, in allerlei gelehrten Berufen tätig. Bis gegen Be— ginn der vierziger Jahre war in ſolchen Kreiſen noch etwas von der traulichen Wärme zeitgenöſſiſcher Mit—

110 Goetheverehrer

wirkung beim Leſen Goethes vorhanden. Der Rechts— hiſtoriker Gaupp in Breslau, 1824 mit ſeiner jungen Gemahlin zu Beſuch in Jena und Weimar, verehrte Goethe zeitlebens als ſeinen ausſchließlichen Lieblings⸗ ſchriftſteller; er kannte ganze Seiten aus ſeinen Werken auswendig und wußte für jede Lebensbeziehung einen Goethiſchen Spruch; fein Studierzimmer war mit Goethebildern aller Art geſchmückt. In Dresden ſtellten Carus und Quandt, in Leipzig Rochlitz verwandte Goethefreunde dar. An der Leipziger Thomasſchule wirkte in den dreißiger Jahren ein Magiſter Dietrich aus Gottfried Hermanns Schule als feſſelnder Lehrer tief anregend, der Deutſch und Latein auf geſchickteſte Weiſe verband; aber davon, daß er ein ſo feiner Goethe— kenner war, wie es damals wenige gab, erhielten auch die beſten ſeiner Schüler keine Ahnung. Unter den nächſten und ferneren Verehrern höheren Alters wirkte Goethes Scheiden vernichtend: in Berlin folgte ihm der getreue Zelter ſofort im Tode, in Wien fühlte Gent bei der Nachricht aus Weimar auch ſeine letzte Stunde nahe. Daß um dieſe Zeit der Schulunterricht Goethe noch nicht viel abzugewinnen verſtand, iſt begreiflich; allenfalls wurde der Dichter der Iphigenie als An— hängſel zu Euripides gewürdigt, hie und da gingen Eigenbrödler auf dies und jenes ſeiner Werke ein. Wie es Schillerſtädte gab, ſo ragten Frankfurt am Main und Berlin als Hauptſtätten der Verehrung Goethes hervor. In Frankfurt lebte alte Freundſchaft und

Berlin und Goethe 111

pflegte die Erinnerung an den jungen Goethe, fein Elternhaus und an die Rhein- und Mainreiſen des alten Herrn. Zu Berlin fühlte ſich Goethe ſelbſt in ſeinem letzten Jahrzehnt „in einem ſtillen wunderlichen Verhältnis“; die Stadt nötigte ihn durch ihr haſtiges, genießendes, tätiges Treiben, ihre Entwicklung in Breite und Größe zur Bewunderung, und die Berliner Goethe— kreiſe behaupteten, nirgends würde er beſſer verſtanden als bei ihnen. 1821 wurde das neue Schauſpielhaus mit Goethes neuem Prolog und der Iphigenie eröffnet; die Stimmung beim Prolog „erhob ſich vom innig Andächtigen zum lauteſten Jubel“ und „das Lied der Parzen hat jedes Herz erſchüttert man ſchien es noch nie gekannt zu haben“ ſchreibt Zelter. 1827 berichtete er über eine Clavigo-Aufführung: „Die erſten vier Akte gingen gut; den zweiten konnte man vollkommen nennen; auch ward er beſonders beifällig aufgenommen, wie denn Dein Publikum ſo ziemlich beiſammen war“ und 1830: „Geſtern ward einmal wieder Dein Taſſo gegeben und zwar mit einer Vollendung, wie ſie nur hier möglich iſt, von beiden Seiten, der Artiſten und Zuſchauer, wie wenn das ganze Stück neu, unverhofft, erwünſcht geweſen wäre.“ Auch der König nahm dieſen Taſſo gut auf, das Werk wurde infolgedeſſen bei Hofe geleſen und beſprochen. Die Berlin-Weimarer Be— ziehungen erſchienen in mehr als einem Sinne ver— heißungsvoll; Ende Oktober ſchrieb Goethe an die Berliner Freunde, als dem Prinzenpaar Wilhelm und

112 Vorleſer und Umdichter des Fauſt

Auguſta ein Sohn, der ſpätere Kaiſer Friedrich, geboren wurde: „Uns und Euch iſt zu gleicher Zeit ein neuer Stern aufgegangen, an deſſen Anblick wir uns eine Weile ergötzen wollen.“ In den folgenden Jahrzehnten glänzten das Haus Varnhagens von Enſe und ſeiner Rahel und der Kreis Bettinas von Arnim als Mittel— punkte des Berliner Goetheweſens, in jo ausſchließen⸗ dem Sinne, daß Varnhagens Goethekult den jungen Laube abſtieß und Bettina den jungen Hermann Grimm zu Goethedünkel und Schillerverachtung be— ſtimmte. Heine nannte 1838 Varnhagen den „Statt— halter Goethes auf Erden.“

In Berlin iſt es auch zuerſt zu Fauſtaufführungen gekommen. Eine Zeitlang hatte des Werkes erſter Teil, um den es ſich bis zu Goethes Tode eigentlich nur handeln konnte, vielfach als unaufführbar gegolten. Das hatten ſich Vorleſer zunutze gemacht; in Breslau hatte ſchon 1810 Ludwig Devrient das Vorſpiel auf dem Theater in der Aula der Univerſität vorgetragen, und in den zwanziger Jahren wirkte Holtei als Wander— vorleſer für die Fauſtdichtung begeiſternd. Auch einen Bühnenerſatz erdreiſtete man ſich kurzerhand durch neue Fauſtdichtungen nach Goethe zu ſchaffen, Holtei ſelbſt machte einen ſolchen Verſuch, einen andern der Braun— ſchweiger Theaterdirektor Klingemann. Inzwiſchen hatten die preußiſchen Prinzen den Entſchluß gefaßt, Goethes Fauſt unter ſich aufzuführen. Von dem Kronprinzen hörte man, er lebe und webe in Fauſt,

Erſte Aufführungen des Fauſt LI

Fürſt Radziwil war mit der Kompoſition beſchäftigt; den Mephiſto übernahm Prinz Karl von Mecklenburg, den Schauſpieldirektor Zelter, Fauſt und Gretchen die geeignetſten Berliner Schauſpieler. Die Sache rückte langſam vorwärts, 1819 fand die erſte Teilaufführung ſtatt, vermehrte folgten, aber 1832 war die Radziwilſche Kompoſition noch nicht abgeſchloſſen, als es wieder einmal eine ſolche Hofaufführung gab.) Die Teilnahme erlahmte, da der Fauſt nun öffentlich erſchien. Das Jahr 1829 hat ihn der deutſchen Bühne erobert: im Januar brachte ihn zuerſt Klingemann in Braunſchweig und im Juni in Hannover, zu Goethes achtzigſtem Geburtstag führte ihn Dresden und Leipzig in Tiecks Bearbeitung auf, Bremen, Frankfurt am Main (aus— gewählte Szenen) und Weimar, im November Magde— burg. Anfang 1830 folgten Nürnberg und München, 1832 kurz vor Goethes Tode Stuttgart und zu Goethes Totenfeier (ausgewählte Szenen) Wien; in Berlin wurde das Werk erſt 1838 öffentlich geſpielt. Ohne Bearbeitung ging es dabei nirgends ab, ſelbſt an die Goethiſche für Weimar ſchloß ſich eine zweite Wei marer durch Eckermann; aber für die Wiedergabe der Hauptrollen ſtellte ſich nun doch eine Überlieferung

*) In dieſen Jahren wurde der Fauſt als Leſewerk in Berlin erſt bekannt; 1816 bei der erſten Rollenausteilung „hatte kein Menſch ein eignes Exemplar. Es ward herum— geſchickt. Die meiſten Buchhändler hatten ſelber keins. Es wurde zuſammengeborgt, das Gedicht war allen unbekannt“, ſo berichtet Zelter, der dabei war.

Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 8

114 Goethes literarwiſſenſchaftlicher Einfluß

ein, Fauſt war als letztes der Klaſſikerdramen für die deutſche Bühne gewonnen: das tauſendmal daheim geleſene und beſprochene Werk erklang wie ein wohl— lautendes Echo, bewegte ſich als geliebtes Bild vor den geiſtentzückten Sinnen.

Auf die Wiſſenſchaften dieſes Zeitalters hat Goethe vielfältig gewirkt. Im einzelnen ſah man hier und dort genauer als er, an Überblick kam ihm keiner gleich und an Größe der Geſamteinſicht auch niemand, trotz Hegel. In Jacob Grimms Arbeitsſtube ſtand Goethes Statuette von Rauch, in dem anſtoßenden Zimmer ſeines Bruders Wilhelm die Büſte Goethes von Weiſſer. Im April 1818 traf der vierundzwanzigjährige Friedrich Diez in Jena mit Goethe zuſammen, bis dahin mit ſpaniſchen Ro— manzen beſchäftigt; Goethe lenkte ſeinen Blick auf die Schönheit der altprovenzaliſchen Dichtung, ſchrieb ihm den Titel der neuerdings erſchienenen großen Choix des poesies originales des Troubadours von Raynouard auf und ermunterte ihn, dieſem Gebiet ſeine Kraft zu widmen. Diez gab dem Winke ſtatt: 1826 wurde ſein grundlegendes Werk über die Poeſie der Troubadours fertig, 1829 das über Leben und Werke der Trouba— dours, um 1840 allmählich ſeine große Grammatik der romaniſchen Sprachen und 1853 das etymologiſche Wörterbuch dazu. Gewiß, dieſe Forſchungen mußten damals gemacht werden; aber Goethe war es doch, der dem geeignetſten Talent zu guter Stunde die ent— ſcheidende Anregung gab. Weit eindringender iſt ſeine

Goethes naturwiſſenſchaftliche Wirkung 115

Wirkung in die naturwiſſenſchaftliche Forſchung ge— weſen, hier war er ſelbſt bahnbrechend, befreiend und ſichernd vorgegangen. Seine anregende und emp— fangende naturwiſſenſchaftliche Korreſpondenz, wie er ſie ſchließlich in neun ſtarken Heften geordnet hielt, ſchwoll von 1815 bis 1832 um ſiebenhundert Briefe an, von denen er über dreihundert ſelbſt abgeſandt hatte; Botanik und Mineralogie, Optik und Meteorologie, Chemie und Anatomie der Zeit ſtanden mit ihm in fortwährender Wechſelwirkung. Auf der Berliner Verſammlung der deutſchen Naturforſcher und Arzte 1828 feierte Alexander von Humboldt den abweſenden „Goethe, den die großen Schöpfungen dichteriſcher Phantaſie nicht abgehalten haben, den Forſcherblick in alle Tiefen des Naturlebens zu tauchen“, und der Münchener Botaniker Martius bekannte in ſeinem Vortrag über die Architektonik der Pflanzen, daß ſeine Grundanſicht „überhaupt das Reſultat von jener mor— phologiſchen Anſicht von der Blume iſt, die wir unſerm großen Dichter Goethe danken.“ In den vierziger Jahren glaubten die neuen Ernüchterer der Wiſſenſchaft ſich gegen Goethes Denkweiſe ablehnend verhalten zu müſſen; wer an ihn anknüpfte, wie 1848 Fechner in ſeiner berühmt gewordenen Nanna (Über das Seelen— leben der Pflanzen), ſetzte ſich trotz kritiſch anerkennenden Verhaltens heftigem Angriff aus, weil man Goethes Betrachtungsweiſe der Hegels zu ähnlich fand. Hat doch auch Hegels ſchier allmächtige Aſthetik damäls

8

116 Goethe und Schopenhauer

Goethes Ruf wie den Schillers beſtärkt. Ein Schüler Hegels war jener Dozent Hotho, deſſen Berliner Univerſitätsvorleſung im Winter 1828 auf 1829 De Goethio poeta ejusque scriptis poeticis der junge Helmuth von Moltke hörte, der ſich in ſeinen Briefen an Mutter und Bruder ſo gern auf Goethe bezieht.

Schopenhauer war in Weimar aufgewachſen, wo ſeine ſchriftſtellernde Mutter lebte; er war in Berührung mit Goethe gekommen, und beide hatten anregende tiefe Geſpräche miteinander geführt. Goethe, der geklärte, ſah bald, was den ſuchenden Neuling von ihm trennte, und einiges davon hat er wohl in der Bakka— laureusſzene des Fauſt ausgeſprochen; Schopenhauer aber hat einen bedeutenden Teil ſeines Philoſophierens von Goethe empfangen. Seine Erkenntnistheorie und Aſthetik war kantiſch; ſein intuitives Erfaſſen der Phä— nomene, ſein Zurückgehen auf das „Urphänomen“, das er einmal für ſeine Eigentümlichkeit erklärte, war goethiſch. Wie ſehr er beiden verpflichtet war, deſſen war er ſich kaum bewußt, obwohl er es an Verehrung beider nicht hat fehlen laſſen. Das Disharmoniſche ſeines Ergebniſſes beruht mit auf dem Unvermögen, auf der Verzweiflung, Kritizismus und Intuition auf einen Nenner zu bringen. Schopenhauer war inſofern ein Hauptvertreter der Epigonie jenes Zeitalters, die ein anderer hervorragender Geiſt, Immermann, in dem Roman Die Epigonen (1836) bekannt hat. Wie Schopenhauer ſubjektiv Goethe und Kant in ſich auf—

Epigoniſches 217

nahm, jo, aber leichter, gedachte es der junge Grabbe mehr objektiv zu machen, indem er Mozarts und Goethes bedeutendſte Bühnengeſtalt übertrumpfend vereinigen wollte, auch er ein Epigone: 1824 erſchien ſein „Don Juan und Fauſt“. Und Hebbel bemerkte ſich Ende der dreißiger Jahre in ſeinem Tagebuch: „Fauſt und Chriſtus zuſammenkommend“. Eine andere Seite des Nachzüglertums dieſer Zeit hatte der alte Zelter erkannt, wenn er einmal von ihrem enkomiaſti— ſchen Weſen ſprach. Und doch wäre es einſeitig und unrecht, das Zeitalter des deutſchen Bundes bis zur Mitte des Jahrhunderts nur als Epigonentum anſehen zu wollen; es ſchuf den deutſchen Zollverein als Vor— ſtufe zum neuen deutſchen Reiche und hatte auch lite— rariſch einen Januskopf.

Welcher Wirrwarr in der Beurteilung Schillers und Goethes durch ſo manchen der damaligen neuen Lite— raten! Da war um 1820 die Romantik mit ihrer herben Kritik Schillers auf dem Plan; unter dem Panier Shakeſpeares und der Hiſtorie zog ſie gegen ihn an, er ſei zu ſchwach geweſen, die Wirklichkeit in ihrer ganzen

Bedeutung für die Kunſt zu faſſen: ſo ſagten die Schwächlinge von Schiller dem ſtarken. Welche törich— ten, knabenhaften Außerungen haben Männer wie Schleiermacher und die Schlegel über ihn von ſich gegeben, welches lieb- und verſtändnisloſe Gerede Tieck, dieſe in ihrer Negierung ſo unfruchtbaren Autori— täten! In Würzburg lehrte der Philoſoph Wagner,

118 Mißurteile über die Klaſſiker

daß ſich Schiller zu Goethe verhalte wie Branntwein zu Wein, und der junge Platen verzeichnete das 1819 gläubig in ſein Tagebuch; doch habe auch Goethe, der mehr heidniſche als chriſtliche Dichter, noch nicht „das höchſte“ erreicht, ſondern erſt Friedrich von Heyden, ein längſt vergeſſenes Nämchen. Auf Goethe ſahen es dann die Federn des jungen Deutſchland ab, die Menzel und Börne und ihre Gefolgſchaft. Seine Un⸗ popularität, ſeine italieniſche Perrücke, ſein Egoismus und ſeine Kälte wurden aufs Korn genommen und verſpottet; und alles Gezeter und Geläſter bewies nur die Größe der Wirkung des Angefochtenen und den Flugſand der Angreifer. Aus dieſen papiernen Waffen— gängen erhielten ſich lange die kurzſichtigen Schlagworte äußerlich - innerlich, aktiv paſſiv, ſubjektiv objektiv, idealiſtiſch-realiſtiſch, mit denen mancher nachgeborene Klügling das Weſen Schillers und Goethes in ſeine kleinen Hände zu ſchöpfen meinte. Zum Teil waren es Leute, die von einer neuen literariſchen Zukunft träum— ten, aber nicht geboren, ſie zu ſchaffen, nach rückwärts ſchlugen, weil ſie die Gipfel ihres Jahrhunderts, von denen ſie herkamen, immer niedriger ſahen.

Nach ſolchen Nebeln brach die Sonne wieder durch, wenn größere echte Zeugniſſe von dem Leben und Weſen der Weimarer Klaſſiker friſch veröffentlicht wurden. Der erſte Strahl dieſer Art war Goethes und Schillers Briefwechſel, von Goethe ſelbſt noch ausgeſandt. Es folgten dann auf der einen Seite vor

Biographisches, Literaturgeſchichte, Sprache 119

allem 1835 Bettinas „Briefwechſel Goethes mit einem Kinde“ und 1836 Eckermanns Geſpräche mit Goethe, andrerſeits 1836 Andreas Streichers getreue Erzählung von Schillers Flucht von Stuttgart und Aufenthalt in

Mannheim und ſchließlich 1847 der Briefwechſel Schil— lers mit ſeinem Freunde Körner. So mußte man bio— graphiſch und perſönlich in der Erkenntnis beider Dichter vorwärtskommen, manche Einzelarbeit bewies es, und in den vierziger Jahren war die Zeit auch für größere literargeſchichtliche Einſtellungen reif geworden, wie ſie von Gervinus und Vilmar mit Ernſt gewagt wurden.

Am innigſten wirkten Goethe und Schiller wohl auf die ſchaffenden Künſtler jener Jahrzehnte. Das Poetiſche aller Künſte bewegte ſich unwillkürlich noch in den ſitt— lichen und äſthetiſchen Wellen, die dem ganzen Jahr— hundert von 1750 bis 1850 beſonders eigen waren. Der Sprachbereich, in dem Gellert, Klopſtock und Leſſing den neuen Ton angegeben hatten, hatte durch Goethe und Schiller Fluß und Kraft, gefällige Schönheit und große Gedanken in ſolcher Fülle und Macht er— halten, daß alle nächſtfolgende Sprachkunſt unwillkürlich noch von dieſem Weſen widerhallte. Die ſchlechteſte Zeitungsproſa der dreißiger Jahre hatte einen Hauch von Weimarer Klaſſikerdeutſch. Von den jüngeren Dichtern, ſoviel neue Stimmungen, ſo wahrhaft eigene Erlebniſſe ſie formten, galt doch immer ein wenig der Vorderſatz des Diſtichons, das Schiller dem Dichterling ſeiner Zeit zugerufen hatte:

120 Nachfolge im Drama

Weil ein Vers dir gelingt in einer gebildeten Sprache,

Die für dich dichtet und denkt, glaubſt du ſchon Dichter zu fein? Hebbel variierte das bewußt oder unbewußt:

Was in den Formen ſchon liegt, das ſetze nicht dir auf die

Rechnung:

Iſt das Klavier erſt gebaut, wecken auch Kinder den Ton. Was ſie waren, das waren ſie alle Weimar zum Teil ſchuldig, auch wenn Grillparzer der einzige war, der ſo weit ging zu erklären, er bliebe am liebſten da ſtehen, wo Goethe und Schiller geſtanden hätten. Raupach hat in jenen drei Jahrzehnten über hundert Dramen geſchrieben und mit ihnen den größten damaligen Erfolg auf der deutſchen Bühne gehabt; aber ſeine Jamben— dichtung fährt in einem Wagen daher, vor den Schillers Roſſe geſpannt ſind. Verraten doch auch Hebbels Jugendfragmente auf Schritt und Tritt den Einfluß der Jugenddramen Schillers, und noch im Gyges klingt der Ruf: „O einen Augenblick Vergeſſenheit!“ wie das Negativ zu dem Wunſch im Carlos: „O eines Pulſes Dauer nur Allwiſſenheit!““) Im weſtöſtlichen Divan pries der Dichter begeiſtert:

O du mein Phosphor, meine Kerze, Du meine Sonne, du mein Licht

*) Aus vielen andern Parallelen, die man zuſammengeſtellt hat, ſei noch herausgegriffen: Don Carlos „Mein Gehirn treibt öfters wunderbare Blaſen auf, die ſchnell, wie ſie entſtanden ſind, zerſpringen“ und Herodes „So war das mehr als eine tolle Blaſe des Gehirns, wie ſie zuweilen aufſteigt und zer— platzt“; Iphigenie „Ja ſchwinge deinen Stahl. Zerreiße dieſen Buſen und eröffne den Strömen, die hier ſieden, einen

Lyriſche Nachfolge 121

in Rückerts Liebesfrühling klang es gleich beſchwingt, ſcheinbar noch entzückter, aber doch weniger ſinnkräftig: Du meine Seele, du mein Herz, Du meine Wonn', o du mein Schmerz.

Die Verwandtſchaft oder Abhängigkeit faſt aller deut— ſcher Dramatik und Lyrik im Bundeszeitalter zu Schiller und Goethe einzuſehen iſt freilich uns Spätergeborenen erſt recht möglich geworden, denen der gemeinſame Abſtand von Klaſſizismus und Nachſängertum zuſtatten kommt. Jene Jahrzehnte ſelbſt genoſſen ihre Zuge— hörigkeit zur Dichtung der Weimarer Klaſſiker in vielen Parodien, halb im Scherz, halb im Ernſt zu heiterfeſt— lichen Gelegenheiten geſchrieben. Einer der entſchloſſen— ſten Neugeſinnten, Herwegh, der unwillkürlich vor Fried— rich Wilhelm IV. den Marquis Poſa ſpielte, bäumte ſich vergebens auf, als er 1843 dem deutſchen Vaterland ſein ſpöttiſches Wiegenlied widmete:

Und ob man dir alles verböte,

Doch gräme dich nicht zu ehr,

Du haſt ja Schiller und Goethe:

Schlafe, was willſt du mehr?

Weg!“ und Gyges „Hier rauſcht der Quell des Lebens, den du ſuchſt. Den Schlüſſel [das Schwert] haſt du ſelbſt. So ſperre auf“; Maria Stuart „Man breitet aus, ſie ſchwinde, läßt ſie kränker .. werden .. jo ſtirbt ſie in der Menſchen Angedenken. Ihr Leben iſt mir heilig“ und Agnes Bernauer: „Man breitet aus, daß ſie geſtorben iſt. Nein, Preiſing, das Sakrament iſt mir heilig“. Wahre Kraft und reine Schön— heit ſind in dieſen Bauſteinen auf ſeiten der Klaſſiker, und Hebbels Gedanken ſind geſtelzt und gepreßt.

122 Ein Vergleich Heines

An Platen läßt ſich zeigen, wie er von Goethe durch Motive, von Schiller mehr durch Sprache beeinflußt wurde. Heine hat für ſeine Proſa, wie auch der alternde Tieck noch, eifrig bei Goethe gelernt. Keiner hat damals jo glänzende Feuilletonworte der Goethehuldigung ge— funden wie Heine, und wie riß es doch auch an ihm, daß er Goethe als Menſch, als Politiker zeitweilig ge— häſſig beurteilte. Im Herbſt 1824 hatte er Goethe beſucht, einige Jahre darauf ſchilderte er Goethes damaliges Verhalten gegen ihn, mit ſcharfem Inſtinkt bemerkt, als ob er Goethes Beurteilung der ganzen jungen zeit— genöſſiſchen Dichterſchar in dem einen Bilde zuſammen— faſſen wollte, als das eines ernſten Adlers, der „aus ſeinen einſamen Träumen aufgeſtört, mich mit gering— ſchätzigem Unmute anſah“, er konnte „noch immer ſo erhabenmütig auf ſeinem feſten Felſen ſitzen, und ſo ſeelenfrei zum Himmel emporſtarren, oder ſo imper— tinent ruhig auf mich herabglotzen. So ein Adler hat einen unerträglich ſtolzen Blick und ſieht einen an, als wollte er ſagen: Was biſt du für ein Vogel? Weißt du wohl, daß ich noch immer ein König bin, ebenſogut wie in jenen Heldenzeiten, als ich Jupiters Blitze trug und Napoleons Fahnen ſchmückte? Biſt du etwa ein gelehrter Papagei, der die alten Lieder auswendig gelernt hat und pedantiſch nachplappert? oder eine vermüffte Turteltaube, die ſchön fühlt und miſerabel girrt? oder eine Almanachsnachtigall? oder ein abge— ſtandner Gänſerich, deſſen Vorfahren das Kapitol

Uhlands und Hebbels Dank 123

gerettet? oder gar ein ſerviler Haushahn, dem man aus Ironie das Emblem des kühnen Fliegers, nämlich mein Miniaturbild, um den Hals gehängt hat, und der ſich deshalb ſo mächtig ſpreizt, als wäre er nun ſelbſt ein Adler?“ Später hat Heine ſeinen beſten Gedanken über Goethe wohl in dem Satze geſagt: „Die Natur wollte wiſſen, wie ſie ausſieht, und erſchuf Goethe“ als ihren Spiegel. 1829 wurde Uhland, als er Bertran de Born und Die Ulme zu Hirſau dichtete, zu dem ſchönen Geſtändnis ſeiner Münſterſage hingeriſſen und ſchloß es mit den Worten:

Wer iſt noch, der ſich wundert,

Daß ihm der Turm erdröhnt,

Dem nun ein halb Jahrhundert

Die Welt des Schönen tönt?

Hebbel beſprach mit ſich und Freunden in Tagebüchern und Briefen, wie Schiller und Goethe auf ihn eingewirkt hätten mein Goethe, ſagt er einmal und feierte die Heroen in Epigramm, Sonett und Prolog; er hat die Wiener Goethefeier 1849 durchgeſetzt, die man die erſte dortige Regung der Gebildeten nach der Revolution genannt hat.

So zehrten und lernten die kleineren und größeren Dichter von den großen. Die Muſiker aber hatten die damals ſchönere Beſtimmung, manches Werk der großen Dichter erſt zu erfüllen, zu vollenden. Auf ſie wirkte die klaſſiſche Dichtung vermöge des bewußteſten rhythmiſchen Formempfindens, bei ihnen erweckte ſie

124 Neunte Symphonie

die deutlichſte Stimmung, ihnen entlockte ſie neue Motive und Melodien; ſie vermählten ſich ihr am innig— ſten, am willigſten und brachten ihr die ſchönſte Mitgift.

Beethoven hat ſich dreißig Jahre mit der Abſicht getragen, Schillers Lied an die Freude zu komponieren. Endlich war er reif und mächtig, die beiten Strophen auf das gewaltigſte auszuſtatten. Er ſchrieb 1822 den unerhörten Unterbau der drei erſten Sätze ſeiner neunten Symphonie dazu und verlieh dann dem Chor, Männer- ſtimmen, Soloquartett und Orcheſter zu Schillers großen Gedanken eine Urgewalt der Töne, wie ſie vorher und nachher nicht wieder geſchaffen worden iſt. Kühnſte Freiheit und ſtrengſter Ordnungswille durchwalten den Rhythmus, allgemeinſter Jubel prägt hier die Melodie, innigſter Andachtsſchauer dort die Akkorde, tändelnde Freude und Wolluſt der Kreatur wechſeln mit hin— reißendem Tanz- und Heldenſchritt, und in liebendem Entzücken und gedrängteſter Kunſt erklingen die Worte „wo dein ſanfter Flügel weilt.“ Aus Schillers Funken hat Beethoven Freudenfeuer angefacht.

In Wien erreichte eben damals auch der junge Schubert den Gipfel ſeiner neuen, ſüßen Liederkunſt. Er hat gegen hundert Gedichte Goethes in wenig mehr als einem Jahrzehnt komponiert. Als Siebzehnjähriger hatte er mit Geſängen aus dem Fauſt (Meine Ruh iſt hin, Domſzene), Schäfers Klagelied und Nachtgeſang genial begonnen; Schäfers Klagelied war das erſte ſeiner Lieder, das öffentlich geſungen wurde, 1819 in

Schuberks Goethelieder 125

einem Wiener Gaſthofskonzert. In dem einen Jahre 1815 entquollen ihm 130 Lieder, darunter 45 von Goethe, am 19. Auguſt allein dieſe fünf: Heidenröslein, Rattenfänger, Bundeslied, An den Mond, Schatzgräber, den Tag darauf: Wer kauft Liebesgötter, Meeresſtille und Wonne der Wehmut; an der Jahreswende entſtand ſein Erlkönig, den er 1821 als op. 1 drucken laſſen konnte, und für op. 2 bis 5 wählte er weitere elf Lieder Goethes. Ihr Erfolg lockte ihn, Goethe mit erneuter Luſt vorzunehmen: Mahomets Geſang, der Geſang der Geiſter über den Waſſern, Grenzen der Menſchheit gelangen ihm jetzt und die köſtlichen Kompoſitionen von Divanliedern; und es war doch kaum ein Jahr ver— gangen, wo er nicht ſeine goldnen Früchte von Goethes

Baum gepflückt hätte: 1816 Jägers Abendlied, An

Schwager Kronos und die Harfnerlieder aus Wilhelm Meiſter, 1817 Ganymed uſw. Mignons Lied Nur wer die Sehnſucht kennt komponierte er fünfmal (Beethoven viermal). Manche von Schuberts Goethe— liedern ſind erſt nach ſeinem Tode, eine Reihe erſt in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts gedruckt worden; aber das in den zwanziger Jahren erſchienene genügte vollauf, ihn ſofort neben Beethoven an die Spitze aller

Goethekomponiſten zu ſtellen. Der friſche Quell Goe— thes, anmutig gebändigt, hier floß er mit einer Muſik zuſammen, die auf einer jüngeren Stufe, aberin derſelben Richtung ſtrotzend hervorbrach. Auch von Schiller hat Schubert viel und gern komponiert, mit Glück beſonders

126 Kleinere und ältere Muſik

Jugendgedichte, auch von ihm das meiſte im Jahre 1815, Hoffnung und An den Frühling da zweimal, und Mädchens Klage zum zweitenmal, zu deren erſter Kompoſition es 1811 ſchon den vierzehnjährigen Knaben getrieben hatte. Auch von dieſen Werken iſt kaum die Hälfte bis zur Mitte des Jahrhunderts veröffentlicht worden; Schubert fand nicht eben raſch Eingang. Konkurrierte doch für die Zeitgenoſſen ſelbſt in Oſterreich mit ihm u. a. der Prager Muſikhäuptling Tomaſchek, von Goethe geſchätzt, ſein op. 1, Schillers Erwartung, war 1800 gedruckt worden und 1850 ſtarb er und veröffentlichte z. B. zwiſchen op. 53 und 60 einige Dutzend Lieder von Goethe und in op. 84 bis 89 eine Reihe von Schiller.

Das Zeitalter begnügte ſich vielfach noch mit Reichardts und Zelters Muſik zu Goethe und Schiller und ſonſtigen alten Weiſen, die ſich eingebürgert hatten. Man ſchrieb ſich gern ſeinen Liederband für den eigenen Bedarf noch ſelbſt zuſammen, und dieſelbe Hand, die in jungen Jahren auf einer der erſten Seiten das Silveſterlied „Des Jahres letzte Stunde“ eingetragen hatte, dann Goethes „Sänger“ in der ſchwachen, be— quemen Schreiberſchen Kompoſition und „Freude, ſchöner Götterfunken“ mit der bekannten gefälligen Marſchmelodie, ſchrieb in alten Tagen als merkwür— digſte Neuigkeit hinzu „Sie ſollen ihn nicht haben, den freien deutſchen Rhein.“ Etwas höhere muſikaliſche Anſprüche machten die Kreiſe, die Schillers „Hoffnung“

Liedertafel 127

in Methfeſſels oder Lachners Kompoſition ſangen oder „Würde der Frauen“ in der von Conradin Kreutzer. An der Liedertafel oder als „Tafelgeſänge für Männer: ſtimmen“ waren Schillers kräftige Rhythmen beliebt: Friedrich Schneider, Rietz u. a. komponierten die „Dithyrambe“ für Männerchor, Lortzing den „Früh— ling“, Loewe „Würde der Frauen“; aber auch Goethes kophthiſches Lied mit der derben Lehre, die Narren zu Narren zu haben, war etwa in Bernhard Kleins mun— terer, hausbackener Kompoſition (op. 14) für einen ſolchen Kreis eine Herzensweide, auch Kuhlaus un— zähligemal geſungenes „Über allen Gipfeln“, und Carl Blums ſimples Männerquartett „Kleine Blumen, kleine Blätter“ artete von hier aus um die Mitte des Jahrhunderts allmählich zum einfachen Volksliede um. Von den dreiunddreißig zwiſchen 1815 und 1850 ent— ſtandenen Erlkönig-Kompoſitionen iſt nur eine für Männerchor geſchrieben, zwei dramatiſierend für ge— miſchten Chor und Soli, in Wien iſt er wiederholt als Melodram aufgetiſcht worden; großen Anklang hat neben Schuberts Erlkönig nur der von Loewe gefunden.

Loewe war von den hervorragenden zeitgenöſſiſchen Muſikern faſt der einzige, der ſelbſt mit Goethe über Muſik geſprochen hatte; Goethes Familie blieb ihm auch anhänglich, der junge Walther von Goethe wurde Mitte der dreißiger Jahre fein Schüler um diefelbe Zeit komponierte Loewe viel von Goethe und be— kannte ſpäter, Loewe ſei der einzige geweſen, bei deſſen

128 Loewe und Mendelsjohn

Kompoſitionen von Goethiſchen Werken er ſich ganz und gar dem Eindrucke hingeben könnte, den Diele „identiſchen Wiedergaben“ in der Seele des Zuhörers hervorriefen. Was Loewe an Fülle des muſikaliſchen Genies abging, erſetzte er durch haushälteriſche Be— ſcheidenheit und durch Sinn für das Dämoniſche, Grazie und Humor. In Liedern und Hymnen übertrafen ihn andere neben Schuberts Ganymed und Schumanns Talisman verblaſſen ſeine Kompoſitionen —; in den nächtlichen Balladen und den indiſchen Legenden war er zu ſeiner Zeit kaum zu übertreffen. Für Schillers Gang nach dem Eiſenhammer nahm er B. A. Webers Orcheſterzwiſchenſpiele zu Hilfe, wodurch ein Werk von faſt oratoriſcher Breite entſtand.

Als Loewe 1833 in Stettin die erſte Walpurgisnacht als ſtrophiſche Ballade komponierte, war das Gedicht ſoeben in Berlin als große Kantate mit Orcheſter- und Chormuſik zum erſtenmal aufgeführt worden. So hatte Mendelsſohn das heidniſche Werkchen in Italien mit ſeiner Muſik umwoben, im Frühling und Sommer 1831, in einer ähnlichen Stimmung, wie Goethe die Hexen— küche in Italien ſchrieb, und über den Schluß noch an Goethe ſelbſt aus Mailand berichtet: „Wenn der alte Druide ſein Opfer bringt, und das Ganze ſo feierlich und unermeßlich groß wird, da braucht man gar keine Muſik erſt dazu zu machen, ſie liegt ſo klar da, es klingt alles ſchon, ich habe mir immer ſchon die Verſe vor— geſungen, ohne daß ich dran dachte.“ Neben dieſer

Robert Franz und Robert Schumann 129

Hauptarbeit des jungen Nachmeiſters und ſeiner Ouver— türe Meeresſtille und glückliche Fahrt fiel ſein Dutzend Goethelieder nicht ſchwer in die Wagſchale; noch leichter wog die gleiche Menge, die ſich ſeine Schweſter Fanny aus Goethes Lyrik komponierte. Darum, weil Goethe das Menſchliche ausſprach, glaubte ihn jeder auf ſeine Weiſe muſizieren zu können. Um die Mitte des Jahr— hunderts brachte auch Robert Franz ein Heft geſchmack— voll komponierter Lieblinge aus Goethe (op. 33); doch errang unter dieſen norddeutſchen Liedmeiſtern in Goethes Gefolge Schumann durch Frohmut und Zart— ſinn den Preis. Er wagte ſich auch mit größerem Recht als Loewe u. a. an die Kompoſition des Fauſt: im Jahre 1844 gelang ihm der größere Teil der Schlußſzene, er— haben empfunden, nicht neu genug aus ſich geſchöpft, und in den nächſten Jahren fügte er weitere Teile und Szenen an, zuletzt eine Ouvertüre, die freilich nur etwa wie ſeine Ouvertüren zu Hermann und Dorothea und zur Braut von Meſſina wirken konnte.

Die damalige Bildkunſt hat die Gedanken Weimars am ſchwächſten zurückgeſtrahlt. Als Symbole ſtanden die bekannteren chriſtlichen Anſchauungen im Vorder— grund, die ſich eben neu belebten“); und die danach ſich allmählich erhebende realiſtiſche Tendenz wählte ſich eigene Stoffe. Doch eröffnete den kleinen Reigen ein

*) Damit mag es zuſammenhängen, daß von Schiller am lieb— ſten dargeſtellt wurde, wie der Graf von Habsburg dem Prieſter ſein Pferd übergibt (Pforr, Schnorr, Führich, Schwind).

Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 9

130 Illuſtrationsgemälde

hervorragender Name: 1816 erſchienen im Kupferſtich die in Rom vollendeten Zeichnungen zu Fauſt von Cor- nelius. Ein Jahrzehnt ſpäter ging man in Düſſeldorf zum kontemplativen Illuſtrationsgemälde über: Scha- dow malte Mignon, Hildebrandt Fauſt und Gretchen im Kerker und die beiden Leonoren, Hübner den Fiſcher. Dieſe Düſſeldorfer übertraf bald an Erfolg beim deut— ſchen Publikum der Halbfranzoſe Ary Scheffer mit ſei— nem Fauſt, Gretchen, Mignon; was Heine von ſeinem Gretchen ſagte, galt in gewiſſem Sinne damals von mancher ſolchen Klaſſikerfigur: „Sie iſt zwar Wolfgang Goethes Gretchen, aber ſie hat den ganzen Friedrich Schiller geleſen, und ſie iſt viel mehr ſentimental als naiv, und viel mehr ſchwer idealiſch als leicht graziös.“ Der junge Kaulbach hatte zu Anfang der dreißiger Jahre in dem neuen Münchener Königsbau Wandbilder im cornelianiſchen Stil nach Goethe auszuführen und nach Wieland zu entwerfen wie ſie ſich auch anderwärts Fürſt und reicher Kunſtfreund malen ließen —; als ſpäter ſein Trieb durchbrach, ſatiriſch der Wirklichkeit nachzugehen, worin er Heine ähnelte, zeichnete er die 1846 veröffentlichten Illuſtrationen zu Reineke Fuchs, eine vergnügliche Erniedrigung des Werkes. Auch jenen Fiſcher Hübners hätte Goethe nicht gebilligt; derartiges laſſe ſich nicht malen, hatte er ſchon 1823 einmal ge— äußert. Möglich, daß er dieſen Standpunkt auch 1828 Stieler gegenüber ausſprach, der dem Fiſcher Hübners mit einem eignen Bilde zu entgegnen dachte; Stielers

Schadow, Richter, Schwind 131

Fiſcher blieb unvollendet. Klingt doch auch zum Teil goethiſch, was Hegel in ſeiner Aſthetik über Schadows Mignon ſagte: „Der Charakter Mignons iſt ſchlechthin poetiſch. Was ſie intereſſant macht, iſt ihre Vergangen— heit, die Härte des äußeren und inneren Schickſals, der Widerſtreit italieniſcher, in ſich heftig aufgeregter Leiden— ſchaft in einem Gemüt, das ſich darin nicht klar wird, dem jeder Zweck und Entſchluß fehlt, und das nun, in ſich ſelbſt ein Geheimnis, abſichtlich geheimnisvoll ſich nicht zu helfen weiß. Ein ſolches volles Konvolut kann nun wohl vor unſerer Phantaſie ſtehen, aber die Malerei kann es nicht, wie es Schadow gewollt hat, ſo ohne Beſtimmtheit der Situation und der Handlung einfach durch Mignons Geſtalt und Phyſiognomie darſtellen.“

Durch einen Auftrag Hübners erhielt der junge Ludwig Richter Anlaß, Goethes und Schillers be— kannteſte Bühnengeſtalten darzuſtellen: er malte am An— fang der vierziger Jahre für Hübners Dresdner Theater— vorhang zu dem Figurenfries unten u. a. Götz, Fauſt, Egmont, Wallenſtein, Jungfrau von Orleans und Tell“); bald darauf machten ihn ſeine Zeichnungen zu Hermann und Dorothea und zur Glocke, wie die zu Märchen und Liedern allbekannt und beliebt. Auf kleinere Kreiſe, aber genial, wirkte der junge Schwind

*) Der Vorhang verbrannte mit Sempers Theaterbau; 1862 wurde er nach der erhaltenen Zeichnung für Leipzig neu ausgeführt, und dort haben Richters traute Geſtalten viele Jahrzehntelang die Augen der Zuſchauer vor Beginn jeder

Aufführung freundlich geſtimmt. 9*

132 Denkmäler und Dichterhäuſer

mit Bildchen wie Schwager Kronos, Erlkönig und Schatz⸗ gräber (um 1830): in ihnen klangen zugleich muſikaliſche Eindrücke nach, die er von ſeinem Freunde Schubert er- halten hatte; den Humor von Ritter Kurts Brautfahrt im Bilde zu faſſen und zu ſteigern, gelang ihm erſt 1840 nach zehnjährigem Bemühen. Dann führte er nach Goethes Aufſatz die philoſtratiſchen Gemälde für die neue Karlsruher Kunſthalle in eigenem Sinn aus, und 1844 ſammelte er Verehrung und Liebe in dem glück— ſtrahlenden Transparent „Goethes Geburt.“

Niemand anders als die berühmteſten Bildhauer des Zeitalters ſchien berufen, Schiller und Goethe der heimiſchen Nachwelt im Denkmal zu zeigen: Thorwald— ſen ſchuf für Stuttgart das 1839 unter großem Jubel und in Anweſenheit der Söhne enthüllte Schillerdenkmal und Schwanthaler für Frankfurt 1844 das Denkmal Goethes; mit Rauch begannen Unterhandlungen wegen eines Denkmals für Goethe und Schiller zuſammen.

Schillers Haus in Weimar ging 1847 in den Beſitz dieſer Stadt über; der Gedanke, Goethes Haus für den deutſchen Bund anzukaufen, zerſchlug ſich: noch war die Verehrung des weimariſchen Geiſtes zu zerſplittert wie das deutſche Volk ſelbſt.

Im Zeitalter der Reichsgründung

K 3

ie ig a We A ea ee Be ea a en a

W u PR 3

u

’W% nnn W wei na 1 n

33 1 ee e

Sen Ne Be. ee

ent

Im 4 63] 4 A 24 | 1 2 f 8 eu fig: 14 Je Dit zer

=. Lich 1 E 8 * ra mm ut La Tr *

f 8 r 1 r

2 j ee In.

9 7

2 m

Schiller, Goethe und die Enfel

Im Sommer des Jahres 1870 verbrannte auf dem Kickelhahn die Hütte mit Goethes Inſchrift; ſie wurde durch eine Nachbildung erſetzt. Im Juli 1870 holte Bismarck zu dem Schlage aus, dem das neue Reich entſprang. Untergang eines weimariſchen Wahrzeichens, ſeine künſtliche Erneuerung durch literargeſchichtlich geleitete Pietät und Neubau der deutſchen Nation, was hatten ſie miteinander zu tun?

Das Zeitalter von den fünfziger bis in den Beginn der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts war eines von denen in unſrer Geſchichte, wo der Deutſche ganz der eignen Kraft vertrauend, faſt ganz in die Gegenwart ſchauend handelte. Mit friſchem Blick für die neue Notwendigkeit riſſen die preußiſchen Führer unſer Schickſal aus dem Sumpf der Bundeszeit heraus und ſtellten es auf feſten Boden. Die geiſtige Erquickung der fünfziger Jahre, trotz trüben Regiments, die wirt— ſchaftliche Kräftigung und die deutſchen Kämpfe der ſech— ziger Jahre mußten vorangehen, ehe an der Wende zum dritten Jahrzehnt die Haupttat gelang, die Beſiegung Frankreichs allein durch deutſche Kraft und die Begrün— dung des Hohenzollernkaiſertums; etwas mehr als ein

136 Schillers und Goethes Jugend in der Kunſt

Jahrzehnt währte noch der Ausbau des Reiches, bis die Männer, die um 1850 mitzuwirken begonnen hatten, allmählich aus den Reihen traten und ſich abermals eine Zeitwende ankündigte. An die Stelle des unmittelbar überlieferten Zuſammenlebens mit Goethe und Schiller trat damals zum erſtenmal leiſe die bewußte Auswahl aus älterem Gut, wenn man ſich inmitten des neuen Deutſchland für die alten Weimarer Führer erklärte. Und wie gleich und gleich ſich gern geſellt, ſo war eine Vorliebe der naiv und natürlich gewordenen Nation für den jungen Schiller, den jungen Goethe unverkennbar.

Die Dichter gingen dabei den Gelehrten voran. Schon 1843, in zweiter Auflage 1856, erſchien der große Roman von Hermann Kurz „Schillers Heimatsjahre“; und auf der Bühne der vierziger Jahre hatte Laube mit den „Karlsſchülern“ den größten Erfolg: 1846 ſpielten fünf Theater das Werk an Schillers Geburtstag. Zeichner und Maler ſchloſſen ſich an: Schiller in der Karlsſchule wurde ein beliebter Vorwurf, und Theobald von Oers Bild „Erſte Vorleſung der Räuber“ war ein Treffer. Noch in den ſiebziger Jahren behauptete Paul Lindau, die neue deutſche Dramatik könne an nichts beſſeres anknüpfen als an Kabale und Liebe. Der junge Goethe folgte in dichteriſch ſchwächeren Arbeiten: Gutzkow führte ihn 1852 im „Königsleutnant“ vor und Heinrich König 1856 das Frankfurter Elternhaus in dem Roman „Der Stadtſchultheiß.“

Auch die Gelehrten beſchäftigten ſich mit den

Goethes und Schillers Jugend in der Wiſſenſchaft 137

jungen Dichtern genauer. Adolf Schöll in Weimar ver— öffentlichte 1846 Briefe und Aufſätze Goethes aus den Jahren 1766 bis 1786 und dann bis 1851 den Schatz der Briefe Goethes an Frau von Stein; in einer Neben— frucht dieſer Arbeit, in dem Eröffnungsaufſatz des ſeit 1851 von Prutz herausgegebenen Deutſchen Muſeums „Zu Goethes Leben“, wies er Die Geſchwiſter als einen Gewinn Goethes aus dem Verhältnis zu Frau von Stein nach, wobei ſeine neue Forſchungs- und Deutungsweiſe in das perſönliche der Entſtehung des Werkchens tief eindrang und damit ein wiſſenſchaftliches Vorbild wurde. In Jena zeigte 1858 Kuno Fiſchers Schrift über „Die Selbſtbekenntniſſe Schillers“, was alles in deſſen Jugenddramen und -gedichten als Dar— ſtellung ſeines eignen Seelenlebens zu gelten habe; 1856 erhielt man das nachgelaſſene Hauptwerk des fleißigen Boas „Schillers Jugendjahre“. Erſt 1875 erſchien nach langer Vorbereitung durch Hirzel und Bernays die philologiſch reifſte Gabe dieſer Art in drei Bänden, „Der junge Goethe“ (1764-1776), eine Aus— gabe von Goethes Jugendwerken in ihrer erſten, jugend— lichen Geſtalt die der Dichter für die geſammelten Werke ſpäter vielfach überarbeitet hatte ſamt ſeinen gleichzeitigen Briefen: ſo trat er „dem deutſchen Leſer zu traulich ungezwungenem Geiſtesverkehr entgegen.“ Bernays durfte ſagen: „Wenn jetzt der junge Goethe wieder Einkehr hält bei ſeinem Volke, ſo blickt ſein ſtrahlendes Auge auf ein von neuem Jugendleben durch—

138 Bedeutungsverſchiebungen in der Sprache

ſtrömtes, in ſicherer Kraft aufgerichtetes Deutſchland. Wir fangen an zu begreifen, in welchem Sinne die Begründer unſerer Literatur, indem fie für die Menſch— heit dachten und ſchufen, zugleich an der Erhebung ihres Volkes gearbeitet haben; wir erblicken ſie in der erſten Reihe unſerer Volkshelden und leuchtend vor allen den jungen Goethe, den Befreier deutſcher Kunſt und deutſchen Geiſtes“ Und nun wurde im folgenden Jahrzehnt der junge Goethe das Lieblingsthema literar— geſchichtlicher Univerſitätsvorträge, und 1879 ver— öffentlichte Scherer ſeine zergliedernden Studien „Aus Goethes Frühzeit.“

Die Sprache der Natur verſtand ſich leicht auch über ein Jahrhundert hin. Aber wie ſtimmten jetzt höheres Klaſſikerdeutſch und neueſter Sprachgebrauch? Bedeuteten z. B. Talent und Charakter für die Mehrheit ohne weiteres noch das, was Goethe im Taſſo bei der Gegenüberſtellung der Bildung beider gemeint hatte? Gerade das umgekehrte von Goethes Wort ſei wahr, konnte man jetzt behaupten: der ſittliche Charakter Schillers habe ſich in der Stille gebildet, das Talent Goethes habe im Hof- und Weltleben geblüht. Charakter wurde gleich Willensmenſch, Talent gleich Schönheitskünder geſetzt und die Rollen kurzerhand, auf die Dichter verteilt. Schiller hatte in der Glocke von einem namenloſen Sehnen des Jünglings geſprochen und wörtlich ein nicht benennbares, unbejtimmtes Sehnen damit gemeint; jetzt wurde unter dieſem ſtarken

Neue Wahrheit und alte Dichtung 139

Schillerſchen Worteindruck jede große Sehnſucht ſuper— lativiſch zum „namenloſen Sehnen“ geſtempelt, auch wenn ſie ein ganz beſtimmtes Ziel hatte: um 1860 ſprach Max Maria von Weber, der Eiſenbahntechniker und Sohn des Muſikers, von „namenloſer Heimatſehnſucht“, ohne den Widerſpruch beider Worte zu ſpüren. So ver— wirrte ſich das Verhältnis zur Sprache der Klaſſiker, ſo trübte ſich ihre urſprüngliche Wirkung.

Vor allem aber mußte das Wirklichkeitsſtreben, das ſtarke und geſunde, aber auch das derbe und grobe, mit Händen greifende, das die neuen Jahrzehnte enthüllten, dem Dichten und Trachten der gereiften Klaſſiker in die Parade fahren. Der Roman „Soll und Haben“ und „Die Journaliſten“, die Mundartdichtung von Gotthelf und Reuter, die feine Beobachtung von Storm und Keller drangen in Lebensgegenden, wovon bei Goethe und Schiller nichts zu leſen war. Dieſer Realismus hatte nicht Oſteologie ſtudiert, aber er hatte geſunde Kno— chen, und anders als einſt „der Dichtung Schleier“ warf er einen neuen feinen Geſamthauch von Wahrheitsſtim— mung über die Dinge. Der Humor im „Fähnlein der ſieben Aufrechten“ hatte ſo friſche Würze, daß manchem die Hexameter von Hermann und Dorothea daneben als Stubenſchönheit erſchienen. Was Wunder, daß ſich bald nach 1850 feſtſtellen ließ, daß auf dem Bücher— markt eine herabſetzende Beurteilung der Klaſſiker ein— reiße? daß die Forderung nach dem neuen bürgerlichen Drama als Zukunftsheil immer lauter wurde?

140 Verkennung Schillers

Beſonders Schiller wurde von dieſen Stimmen verrufen, ſein „Idealismus“ ihm verdacht und verdäch— tigt; und wo die Realiſten vom trübſten Waſſer ſaßen und ſich mit Büchners „Kraft und Stoff“ nährten oder unter Schopenhauers Einfluß lugubre Weiſen blieſen, da ſah es um das Verſtändnis Schillers vollends böſe aus. Eduard von Hartmann, der 1869 die Philoſophie des Unbewußten brachte, deutete den Satz „Das Leben iſt der Güter höchſtes nicht“ ſchief dahin, daß dieſer Gedanke am Ende der Tragödie die höchſte Erkenntnis des um— ſonſt ringenden Helden ſei und Aufgeben des Kampfes, Lebensentſagung, Schmerzloſigkeit das letzte Ziel. Und in den ſiebziger Jahren bewieſen nicht nur Dührings Berliner Vorträge die Blindheit der „Poſitiviſten“ für Schillers Gehalt und Kunſt, auch Otto Ludwigs Shake— ſpeareſtudien tollten ſich in eine verbitterte Polemik gegen Schillers Dramen hinein. Um 1883 war in dem Eigen- ſchwung der wechſelnden Zeiten, wenn man dem Durch— ſchnitt der neumündigſten Wortführer glaubte, Schillers Geltung recht ſchwach.

Für Goethe war die Stimmung damals günſtiger; ihm kam zugute, was man unter ſeinem „Realismus“ verſtand, was man als ſeine Naturverwandtſchaft emp— fand und als ſein Naturintereſſe kannte. Und doch machten gerade einige der hervorragendſten Naturwiſſen— ſchafter gegen ihn teilweiſe Front: der Phyſiker Helm— holtz verehrte zwar den Dichter, beurteilte aber die Farbenlehre abfällig, und der Phyſiologe Du Bois—

Tadler Goethes 141

Reymond, der 1872 im goethiſchen Sinne mit ſeinem Ignorabimus ein lebhaftes Echo erweckte, polemiſierte ſchließlich 1882 gegen die ganze Perſönlichkeit unter dem Stichwort „Goethe und kein Ende“ (das ſchon 1851 im Prutzſchen Muſeum ausgegeben worden war). Von den Philoſophen und Philoſophaſtern hatte Viſcher mit ſeiner witzigen Parodie des zweiten Teils von Fauſt den Erfolg, daß durch ſie weite Kreiſe davon ferngehalten wurden; Hartmann glaubte, Taſſo als ein verfehltes Kunſtwerk an den Pranger ſtellen zu können, und Dühring nannte Goethes Poeſie unmoraliſch, weil ſie die Realität beſchönige, und unäſthetiſch, weil ſie unſern Wirklichkeitsſinn verletzte: beides einflußkräftige Lite— raten. Mancher Bequemling unter den neuen Dichtern, von Gegenwartsluſt trunken, dachte, was Alfred Meißner ausſprach: „Ich ſage Ihnen, lieber Freund, Goethe iſt über die Maßen langweilig“; aber auch Hebbel erklärte, daß ihm manche Dichtungen Goethes nicht genügten, weil ihre Schönheit aus keinem Ringen hervorgehe, und ähnlich tadelte Otto Ludwig, daß Goethe die Natur zu paſſiv gedacht, vorwiegend ihr ſtilles, in ſich gebun— denes Wachſen betrachtet habe, für den Inſtinkt des unbändigen, ungebärdigen in ihr habe er keinen Sinn gehabt. Und ſchließlich: was ſich an friſchem Volks— geiſt, an deutſcher Tatkraft in Bismarck ſo groß be— kundete, mußte es nicht Goethe und Schiller nach dem Hintergrund zu drängen? Das Geſchlecht nach 1850 erlebte, wie ſich ein neuer Jahrhundertring zu bilden

142 Die Nation und die Klaſſiker

anfing und die Goethiſche Welt in das Innere zurück— trat. i

Trotzdem: Weimars Klaſſiker wirkten weiter wie das fertige neben dem werdenden und wie das ewige neben dem heutigen. Ob man nun mit Gottfried Keller bekannte: „Wasewig gleich bleiben muß, iſt das Beſtreben nach Humanität, in welchem uns jene Sterne, Goethe und Schiller, wie diejenigen früherer Zeiten, vor— leuchten“ oder mit Herman Grimm einſah, das höchſte ſei, an den großen Gedanken, für die die Menſchheit da iſt, ſich immer beteiligt zu wiſſen, im ganzen hielt die Nation auf die Klaſſiker wie auf ein koſtbarſtes Erbſtück, das man gern benutzt, und hing an ihnen, vom Thron bis in den unbewußten Winkel. Von König Johann von Sachſen, dem Überſetzer Dantes, wiſſen wir, daß er einige Werke Goethes bewunderte und Schiller wirklich liebte; im Ränzel des wandernden Handwerksburſchen ſteckten Schillers Gedichte, und aus einem auf Löſchpapier ge— druckten Liederbüchel für Handwerksburſche hatte der junge Dorfſchuſter „Kleine Blumen, kleine Blätter“ ge— lernt, von deſſen entſtelltem Geſang Keller (1882 im Sinngedicht) erzählt: „Die unverwüſtliche Seele des Liedes bewirkte das Gegenteil eines lächerlichen Ein— drucks.“

Jenem Satz von dem ſich gleichbleibenden Beſtreben nach Humanität einer Huldigung auch für Herders Gedanken hatte Keller hinzugefügt: „Was aber dieſe Humanität jederzeit umfaſſen ſolle: dies zu beſtimmen

Schillerfeſte 1855 und 1859 143

hängt nicht vom Talent und dem Streben ab, ſondern von der Zeit und der Geſchichte.“ Da war nun jetzt zu bemerken, daß ſich Humanität und Kosmopolitismus ſchieden. Der himmelblaue Kosmopolitismus, auf den noch in der Paulskirche mancher deutſche Geiſt ein— geſchworen war, verblaßte jetzt neben dem friſchen Grün eines humanen Nationalismus, wie er namentlich in all den Kreiſen erwachte, die man als Vorläufer oder Mitglieder zu der werdenden nationalliberalen Partei rechnen konnte, der damaligen wahren Mitte des deut— ſchen Volkes. Dieſe Vorläufer des Nationalliberalis— mus waren es vor allen, die in den fünfziger Jahren die überzeugteſte Begeiſterung bei den beiden großen Schillerfeſten (1855 und 1859) an den Tag legten, ob— wohl ſich damals im Zeichen Schillers die vaterländiſche Hoffnung des deutſchen Volkes überhaupt einte. Die fünfzigjährige Gedenkfeier an Schillers Tod hatte noch mehr literariſches Weſen, wie ſie auch ein Literatur— ergebnis zeitigte: für die Dresdner Schillerſtiftung floſſen aus Alldeutſchland reiche Mittel zuſammen, um verdienten Schriftſtellern im äußern Lebenskampf zu helfen. 1859 aber, an Schillers hundertjährigem Ge— burtstag, verband ſich Deutſchland in der Erwartung ſeiner politiſchen Einigung zur Feier Schillers wie zu der des Genius der Nation. Was etwa von Schiller— krittelei in modernen Literatenkreiſen irrlichtelierte, in einem Anſturm der Begeiſterung wurde es überrannt. In ungezählten Reden und Liedern und Schriften floß

144 Jahrhundertfeier von Schillers Geburtstag

das Herz vom Dank an Schiller und vom Glauben an Deutſchland zugleich über, in Schulen und Univerfi- täten, an Bankettafeln und auf Marktplätzen; Gelehrte und Politiker, Dichter und Handwerksmeiſter, Kaufleute und Rechtsanwälte gaben das Gelöbnis der Treue, das Herwegh nun in die Worte faßte:

Er wird ein Freund das deutſche Volk begleiten,

So lang das deutſche Volk beſteht. Der greiſe Jacob Grimm wies darauf hin, daß ſich an Schillers Sprachtalent und -kunſt das Schrift- und Rededeutſch aller Neueren gebildet habe, daß die Mutter- ſprache ſelbſt durch ihn gewonnen habe. Gutzkow rief: „Er war der Erzieher ſeines Volkes; er lehrte es feſt— zuſtehen dem Atem der Geſchichte! Das, das iſt das Geheimnis unſerer Liebe zu Schiller! Die Erhebung unſerer Herzen! Der Mut zur Tat!“ Der junge Fontane feierte ihn als den Ergänzer Klopſtocks und Goethes:

Geboren war die Welt der Ideale; Hell ſchien das Licht; nur für die nächtgen Zeiten Gebrach uns noch das Feuer der Fanale, Gebrach uns noch das Feuer, das von weiten Zu Waffen ruft, von hohem Bergeskamme, Wenns gilt, für Sitte, Land und Thron zu ſtreiten; Gebrach uns noch die hohe, heilge Flamme, Die unſern Sinn von Kleinheit, Selbſtſucht reinigt Und uns zuſammenſchweißt zu einem Stamme, Und Schiller kam und Deutſchland war geeinigt.

Der Nachfolge des Künſtlers galt 1859 die preußiſche Stiftung des Schillerpreiſes. Auf den Morgen dieſes Jahres folgte der Mittag von 1870, und wieder war

Schiller und 1870; feine damaligen Denkmäler 145

Schiller dabei. Die für das Vaterland begeiſtert ſtritten, unempfindlich gegen alle Beſchwerden des Krieges, waren erfüllt von Schillerſchen Idealen: ſo bezeugte es der Offizier und Archäologe Bötticher, und der Philo— loge Birt fügte hinzu: „Wer das Jahr 1870 miterlebt hat, der wird dies unſerm Schiller nie vergeſſen.“ Tell und Wallenſteins Lager entſprachen auf allen deutſchen Bühnen am beſten dem Gefühl der Nation in der großen Stunde der Tat. Ja kurz danach blickte Raabe (1872 im „Dräumling“) auf die Feier von 1859 zurück „als die wahre Geburtsſtunde der Einheit des deutſchen Volkes.“ 1859 wurde der Grundſtein zu dem Denkmal Schillers in Berlin gelegt, und 1871 wurde dies Werk von Begas enthüllt. Hier und dort in Deutſchland bezeugte eine Reihe andrer Schillermäler die Dankbarkeit jener Jahr— zehnte für Schillers Schaffen. Am raſcheſten erhoben ſie ſich zu Beginn der ſechziger Jahre nacheinander: 1862 in Mannheim und Mainz, 1863 in München und 1865 in Frankfurt am Main, Hannover und Hamburg. In dem Heimatſtädtchen Marbach ſtand Schillers Bild ſeit dem 9. Mai 1876 und in der öſterreichiſchen Kaiſer— ſtadt ſeit ſeinem Geburtstag desſelben Jahres. In Wien wurde zwar nach 1866 der Denkmalsplan unter Schwierigkeiten, aber mit um ſo größerer Zähigkeit und Begeiſterung gefördert; Hamerling kündete 1869:

Gen Norden weiſen ſoll ernſt und ſtill Die Dichterhand von Erz Der Pfahl, der deutſche Lande noch trennt, Er geht durch des Dichters Herz! Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 10

146 Neue Schillerausgaben

Beſſer als Denkmäler zeugten von der Größe der Wir- kung Schillers in den ſechziger und ſiebziger Jahren die damaligen neuen Geſamt- und Einzelausgaben ſeiner Werke. Schiller wurde ja nicht nur gekauft, ſondern auch geleſen, vorgeleſen und gelernt, von Eltern zu Kindern, von der Jugend unter ſich. 1867 erloſch das Cottaſche Privileg; in demſelben Jahre begann der Reclamſche Verlag die rötlichen Heftchen ſeiner Univerſal— Bibliothek auszuſenden: der Tell für zwanzig Pfennige! Und dabei erſchienen zwiſchen 1862 und 1867 noch 17 Geſamt -und 62 Einzelausgaben von Schillers Werken und in den nächſten ſieben Jahren nochmals faſt ebenſo— viel. Großen Anklang fanden ſchließlich die illuſtrierten Ausgaben, die des Hallbergerſchen Verlags in Stuttgart und die des Groteſchen in Berlin: von der Hallberger— ſchen waren 1882 52000 Stück abgeſetzt. 1876 wurde auch die von Jacob Grimm 1859 geforderte große kritiſche Ausgabe wiſſenſchaftlicher Beſtimmung für Schiller vollendet, durch Karl Goedeke und eine Reihe gewiſſen— hafter Mitarbeiter. Und neben der Geſamtausgabe ſtand die Biographie im Hausbücherſchrank: ausführlich und beredt, zuverläſſig und begeiſtert genug ſchrieb Palleske ſein Buch „Schillers Leben und Werke“ zum Jubiläum 1859, daß es dreißig Jahre lang als die deutſche Schillerbiographie dienen konnte.

Die Bühne diente vor allem zur Unterhaltung mit Luſtſpielen und Poſſen; alles ernſte neue aber vermochte Schiller und Goethe nicht in den Schatten zu ſtellen.

Die Bühne und die Klaſſiker 147

tamentlich bewährte ſich jetzt die von Gottſchall in den fünfziger Jahren achſelzuckend anerkannte „feuerfeſte Klaſſizität“ Schillers. Damals fingen Hof- und größere Stadttheater an, ab und zu billige Volksvorſtellungen von einem der Weimarer Werke zu geben. Feinere Beurteiler kamen freilich nur gern, wenn ein berühmter Gaſt eine Rolle beſonders ſehenswert erwarten ließ. Zu Anfang der ſechziger Jahre, wo der neue Geiſt recht friſch hervortrat, konnte man Klage darüber hören, daß die klaſſiſchen Dramen weniger anzögen als früher; 1867 aber klang es wieder: „Wer kennt unſern Schiller nicht faſt auswendig? Dennoch ſind ſeine Trauerſpiele noch bis zur Stunde, wo ſie durchgängig gut dargeſtellt werden, Kaſſaſtücke und machen vollere Häuſer, als irgendeine noch unbekannte Novität zu erzielen vermag.“ Als 1870 die Gewerbefreiheit auch im Theaterbetrieb ſtattfand, bemächtigten ſich ſofort beſſere Nebenbühnen des guten Schauſpiels, und etwa bis 1877 waren nun in Berlin auf dem Nationaltheater, im Bellealliance— theater und im Stadttheater vor allem Schiller und Shakeſpeare neben Benedix und Gutzkow, Hebbel und Ludwig oft zu ſehen. Das Berliner Hofſchauſpiel zeigte in dem Jahrhundert von 1786 bis 1885 in ganzen 1926 Aufführungen Schillerſcher Dramen neben 1760 von Shakeſpeare und 832 von Goethe; über 200 mal wurden hier die Jungfrau von Orleans, Maria Stuart, Don Carlos und Wallenſteins Tod geſpielt, Fauſt 194 mal,

ebenſooft wie Kabale und Liebe. An der Wiener Hof— 10*

148 Laubes Regie

burg, wo bis 1850 Maria Stuart das beliebteſte Trauer⸗ ſpielgeweſen war, traten nun die Räuber und Wallenſtein in den Vordergrund. Daß dieſe Aufführungen von den fünfziger bis in den Beginn der achtziger Jahre an Güte freilich im ganzen mehr ab- als zunahmen, ſcheint kaum zu bezweifeln zu ſein. 8

Hervorragende Verdienſte um die Darſtellung klaſſi— ſcher Dramen hatten damals Laube und Dingelſtedt. Heinrich Laube leitete von 1850 bis 1866 das Burgtheater, dann kurze Zeit das Leipziger Stadttheater und ſchließlich bis 1878 das Stadttheater in Wien. Nicht im Sinne der weimariſchen Schauſpielkunſt, wie ſie ihm in all- mählicher Verbildung namentlich auf mitteldeutſchen Bühnen entgegentrat. Er knüpfte, ſeiner Zeit und Perſönlichkeit gemäß, lieber an die natürliche Wahrheits— kunſt der Hamburger Dramaturgen vor hundert Jahren an, an Leſſing und Schröder. Wohl verſtand er, was Weimar für die deutſche Tragödie großes und neues bedeutet hatte; aber er glaubte auch den Keim zur Miß— bildung in der antikiſierenden Figurenplaſtik Goethes, in der gelegentlichen Anlehnung an franzöſiſchen Konven— tionalismus zu erkennen. Laubes plaſtiſcher Sinn war mehr auf das Geſamtgeſchehen auf der Bühne gerichtet; ihn ſtörte wie viele ſeiner friſch empfindenden Zeit— genoſſen die ſpätweimariſche Deklamation, er hatte die entſchiedene Empfindung, der weimariſche Jamben— geſang ſei als übertrieben und überlebt abzuweiſen. Aus den weimariſchen Spielplänen waren Iffland und

Dingelſtedts Bühnentechnik 149

Kotzebue verſchwunden, die einſt dort die breite Wirk— lichkeitsunterlage gebildet hatten, die klaſſiſche Pflanze hatte damit an brauchbarer Krume verloren, und den neuen Realismus ſeit Mitte des 19. Jahrhunderts dem alten Klaſſizismus als Nährboden unterzufügen, war keine leichte Aufgabe. Niemand hat ſeinerzeit daran mit ſo viel Bewußtſein und Kraft gearbeitet wie Laube; ohne Härte ging es nicht ab, wie er auch Schillers Demetriusfragment ohne Rückſicht auf Schillers Plan ergänzte, ja ohne den Verſuch, im Schillerſchen Tone fortzufahren. Dingelſtedt war 1851 bis 1856 Intendant an der Münchner Hofbühne und, nach einer zehnjährigen Tätigkeit in Weimar, Laubes Nachfolger an der Burg bis 1881. Er übertraf Laube als glänzender Bühnen— techniker in der Herausarbeitung großer Geſamteindrücke, im prächtigen Dekorations- und Statiſtenweſen; ſeine erſte „Tat“ war der Münchner Klaſſikerzyklus von 1854, wo Kabale und Liebe den Vogel abſchoß; in Wien ſetzte er zuerſt den ungeſtrichenen Carlos mit Poſas Forderung der Gedankenfreiheit 1879 durch. Als er Laubes Eſſex aufzuführen gedachte, ein Werk, das halb im Zeichen der Maria Stuart, halb gegen ſie erfunden war, meldete er es einem Freunde mit dem Zuſatz: „Heinrich, mir graut vor dir!“ So ſtanden dieſe Herren, widerwillig und folgſam, bewußt und unbewußt, unter dem Einfluß Weimars.

In Dresden ſpielte um 1860 noch Emil Devrient, der

——

Liebling des vorigen Zeitalters, den Taſſo in älterer, ideal

150 Muſteraufführungen

gerichteter Weiſe; neben ihm ſtand fein großer realiſti⸗ ſcher Rival Dawiſon als Antonio. Die Dresdner Jugend genoß es als höchſtes Bühnenerlebnis, den Streit dieſer Männer zu vernehmen, der urſprünglich ein Streit in Goethes Bruſt geweſen war und jetzt zum Wettſtreit der Zeiten und der Darſtellerperſönlichkeiten wurde, den Streit aus Anlaß des Kranzes; noch entſchied ſie ſich vielleicht lieber für Taſſo-Devrient bei deſſen Worten „Sei erſt ſo groß, mir ihn nicht zu beneiden“, bis Antonio mit der Zeit an Beifall gewann. Ebenbürtig dieſen Männern ſpielte als Prinzeſſin die Bayer-Bürck, nach Laubes Urteil auch die beſte Iphigenie ihrer Zeit. In Wien ſtanden 1858 unter Laube zum erſtenmal Sonnenthal als Clavigo und Lewinski als Carlos neben— einander, der eine liebenswürdig, ſenſitiv, launiſch, der andre geſcheit, trocken, konſequent. Es war kein jo beziehungsreicher Gegenſatz wie im Dresdner Taſſo, aber mit gleichmäßiger Naturtreue wurde hier die poetiſche Atmoſphäre erfüllt und der Zeitgeiſt des ſterbenden Rokoko gebildet; jahrzehntelang blieb dieſes Paar typiſch. Die berühmteſte damalige Gaſtſpielerin, die Wolter, bevorzugte die glänzenderen neuern Rollen einer Medea und Meſſalina; auch der Ziegler lagen dieſe wohl beſſer, während ihre Johanna eine manierierte Heroine war. Die Geſamtgaſtſpiele der Meininger in den ſiebziger und achtziger Jahren trieben die Ge— ſchichtswahrheit der Ausſtattung auf die Spitze, boten aber auch künſtleriſch ſo wertvolles, daß ſie als neue

Goetheausgaben 151

Erfüllung neben den ausgetretenen Bahnen der orts— üblichen Klaſſikervorſtellungen erſchienen.

All dieſe Bühnenarbeit, ſoweit ſie den weimariſchen Werken gewidmet war, diente mehr Schiller als Goethe, und auch das volle Maß der lauten Nationalbegeiſterung für Schiller war Goethe nicht beſchieden. Im ſtillen aber eroberte er ſich das Geſchlecht der Enkel ebenſo— gut, ja mit ſteigendem Erfolge, während der Schillers nachließ. In den Jahren von 1868 bis 1874 erſchienen neben 17 Geſamt- und 96 Einzelausgaben von Schiller 27 Geſamt⸗ und 162 Einzelausgaben von Goethe. Darunter waren zwei Reclamſche Goetheausgaben, eine große in 45 Bänden und eine Auswahl in 16 Bänden Goethes Fauſt wurde Nr. 1 und 2 der Reclamſchen Hefte —, ſowie die erſte illuſtrierte Goetheausgabe des Groteſchen Verlags, die 1870 in zwanzig Bänden fertig wurde und in den folgenden vier Jahren vier neue Auflagen erlebte. Vor den vielen Cottaſchen Drucken ſicherte ſich die Ausgabe des Berliner Verlegers Hempel damals den beſten wiſſenſchaftlichen Ruf: ſie erſchien allmählich heftweiſe in 36 Teilen in den Jahren 1868 bis 1879. Über Goethes Leben konnte man ſich in der nüchternen Biographie von Viehoff unterrichten viermal zwiſchen 1847 und 1876 aufgelegt zog aber meiſt das wohlwollende Buch des Engländers Lewes vor ſeit 1857 fünfzehn deutſche Auflagen in dreißig Jahren —, bis Herman Grimms geiſtreiche Berliner Goethevorleſungen in drei Buchauflagen zwiſchen

152 Goethegemeinde

1876 und 1882 einen künftig einzunehmenden höheren Standpunkt andeuteten. Ohne Frage war es vor allem die Goethiſche Lyrik, die immer wieder von neuem an den Dichter feſſelte, und ſo war es auch der lyriſchſte unter den jüngeren Bildhauern zu Ende des Zeitalters, Schaper, deſſen Goetheſtatue im Wettbewerb für Berlin endlich ſiegte und 1880 im Tiergarten enthüllt wurde.

Schiller wirkte auf das Zeitalter einheitlich wie ein ſtarkes Licht mit ſeinem Schatten daneben; Goethes Kunſt und Weſen wurde in vielfarbiger Brechung auf— genommen. Die wachſenden Ausgabenziffern zeugten von ſeiner Verehrung in die Breite. Aber wie im verborgenen blühte darunter die „ſtille Gemeinde“ Goethes, für die wenige Kenner und Gelehrte ihre Privatdrucke verſandten: Goethes Teplitzer Verschen auf einem Guldenſchein an Chriſtine von Ligne wurde „zur kleinen Erbauung der ſtillen Gemeinde am 22. März 1860 verteilt von W. Freiherr von Bieder— mann“ und das „Tagebuch“ 1861 von Hirzel. Nur zum Verſchenken ließ Hirzel auch die drei Verzeichniſſe ſeiner Goethebibliothek 1848, 1861 und 1874 drucken; erſt 1884 brachte ſein Neffe eine letzte Ausgabe in den Handel. Unter den Journaliſten kam es auf, x-beliebige Themata mit einem Goethewort anzuſchneiden; wer von der Hamburger Börſenſpekulation reden wollte, begann mit dem Vers von dem Kerl, der ſpekuliert. Erlebte doch auch Büchmanns Sammlung geflügelter Worte in den zwanzig Jahren von ihrem erſten

Neuere Literaturgeſchichte und Goethephilologie 153

Erſcheinen (1864) bis zu Büchmanns Tode dreizehn Auflagen, und nächſt der Bibel hatten Goethe und Schiller die meiſten Zitate darein geliefert. Um die Mitte des Jahrhunderts überwog das ſachliche Intereſſe, um 1880 trat das künſtleriſche wieder deutlicher hervor. Daher erweckte das Buch des Oſtpreußen Alexander Jung „Goethes Wanderjahre und die wichtigſten Fragen des 19. Jahrhunderts“ ein ſoziologiſches Echo; ſpäter ſpielte Karl Hillebrand den Verfaſſer des Wilhelm Meiſter gegen die angeblich überall herrſchende moraliſtiſche Abſicht der neuſten Romanſchriftſteller aus, und Victor Hehns „Gedanken über Goethe“ wurden ein Buch nach dem Herzen kunſtfähiger Goethefreunde.

Für die Schillerpflege, noch mehr aber für die Goethekenntnis des Zeitalters war es ein Vorteil, daß damals neuere Literaturgeſchichte unter den kultur— geſchichtlichen Teilwiſſenſchaften faſt eine Modewiſſen— ſchaft war, obwohl noch ein Stiefkind der Univerſitäten. Mag die ganze Erſcheinung etwas nachzügleriſches zu dem Jahrhundert von Leſſing bis Uhland haben, an ſich war ſie neu, und ſie war notwendig, um der Gegen— wart und Zukunft die Wege zu den Quellen der klaſſi— ſchen Dichtung offen zu halten. Der erſte Univerſitäts— profeſſor für dieſe Wiſſenſchaft war Prutz in Halle, und 1851 hieß es in dem Proſpekt zu der erſten, von ihm herausgegebenen Zeitſchrift ſeines und verwandter Gebiete, zu dem Deutſchen Muſeum: „Eine bedeutende Stelle namentlich wird es der Literaturgeſchichte ein—

154 Scherer; Schöll, Bratranek, Boas

räumen, dieſer für das Volksbewußtſein ſo wichtigen, darum auch in jüngſter Zeit mit Recht ſo beliebt ge— wordenen Wiſſenſchaft.“ Schiller vermochte die tätigen mehr zu begeiſtern, Goethe tat den beſchaulicheren wohler, und ſo entſtand zuerſt die Goethephilologie: von ihr ſprach man ganz vereinzelt ſeit Beginn der ſechziger Jahre, bis 1877 Scherer ihre Fahne mit Alarm aufhob.

So nachgoethiſch wie Schöll hat fie freilich damals nicht jeder betrieben. Der ſah es 1851 als etwas tröſtliches an, daß die Beſchäftigung mit Goethe mehr und mehr „an die lebendige Form herantrete.“ Für ihn war der Punkt des Intereſſes, daß man das Schöne und Bedeutende natürlich entſtehen, das Auszeichnende, Widerſprechende, Bemerkenswerte aus dem hervorgehen ſehe, was allen Menſchen gemein ſei man denke an Goethes Metamorphoſenlehre. Er zuerſt ſagte dem alten Optimismus ab, der die Darſtellung Goethes mit einem zu heiter epiſchen Schimmer überzogen habe, und er ſprach aus: „Am Genie ſtellt ſich das Natürliche reiner dar als an gewöhnlichen Menſchen von kollektiver und verworrner Beſtimmung.“ Verwandt ſolcher Betrachtung, überdies naturwiſſenſchaftlich unter— richtet, waren die Studien Bratraneks, der allein das Vertrauen von Goethes Erben beſaß und mit ſeinem Werk über Egmont und Wallenſtein beiden Klaſſikern huldigte; das tat auch Boas in dem anſpruchsloſen, aber gründlichen und erfolgreichen Werke „Schiller und

Loeper, Düntzer, Bernays, Hildebrand 155

Goethe im Xenienkampf“ (1851). Herr von Loeper in Berlin, von 1854 bis 1886 im hohenzolleriſchen Hausminiſterium tätig, hatte als Gymnaſiaſt mit Goethe— kollektaneen begonnen und trieb es ſo fort als treu ergebener Liebhaber, dem Goethe Führer durchs Leben wurde, der Hauptmitarbeiter an der Hempelſchen Aus— gabe. Düntzer in Köln lieferte 83 Heftchen „Erläute— rungen zu den deutſchen Klaſſikern“, darunter allein 1863 bis 1865 ſieben Bändchen Kommentar zu Schillers Gedichten, durch Plattheit und Rechthaberei unzulänglich, aber durch Vielwiſſen ihrer Zeit unentbehrlich. Bernays in München verfolgte die Idee, die Methode der klaſſi— ſchen Philologie in aller Strenge auf das Gebiet der neueren Literaturgeſchichte zu übertragen, am präziſeſten in ſeiner Erſtlingsſchrift „Über Kritik und Geſchichte des Goethe'ſchen Textes“; als Rezitator volltönend und als Profeſſor wortreich genoß er ſelbſtgefällig den Abglanz der Literatur wie keiner. Außerlich am erfolgreichſten bereitete ſchließlich Scherer die Goethephilologie und verwandtes dem nächſten Dozentengeſchlecht vor. Tiefer als alle wirkte Rudolf Hildebrand mit dem Gedanken, die volkstümliche deutſche Weltanſchauung mit der Goethes und Schillers zu vereinigen; dahin zielte er als Leip— ziger Univerſitätsprofeſſor, dazu lieferte er als beſter Mitarbeiter am Grimmſchen Wörterbuch unermüdlich Beiträge, vor allem in den großen Artikeln: Geiſt, Gemüt, Genie.

Hildebrand hatte in dieſem Sinne auch einigen

156 Die Schule und die Klaſſiker

Einfluß auf die Schule, als Gymnaſiallehrer wie durch ſein Buch vom deutſchen Unterricht (zuerſt 1867). Errang man doch erſt jetzt für Schiller und Goethe einen feſten Platz in den Mittelſchulen. Sachte genug, und unter Kampf. Hieckes Aufforderung, „unſere Schüler unter Leſſings, Schillers und Goethes freudig flatternde Paniere“ zu ſcharen (1849), fand nicht ſo ſchnell Nachfolge, wie Raumers Abhandlung „Über den Unterricht im Deutſchen“ (1852) annahm; 1854 ordnete in Preußen Stiehls Regulativ für die Lehrer— ſeminare ſtreng an, die „ſogenannte klaſſiſche Literatur“, d. h. die deutſche, fernzuhalten. In den ſechziger Jahren ging es aber vorwärts. Als Eckſtein 1863 das Rektorat der Leipziger Thomasſchule antrat und den deutſchen Unterricht in Prima übernahm, begründete er ſeine Erklärung vor den Kollegen, Leſſing und Goethe ein— gehender traktieren zu wollen, damit: die Schüler müßten auch etwas zum Begeiſtern haben; er, der erſte Lateiner unter den damaligen Schulphilologen, ſtellte damit die heutige Begeiſterungskraft von Virgil und Horaz und doch auch von den Griechen in Frage. Noch immer gab es Lehrer wie den alten Weber in Weimar, die zwar ihren ganzen außerdienſtlichen Kunſt- und Wiſſenſchaftstrieb den deutſchen Dichtern widmeten, aber in der Schule lieber die Fineſſen der lateini— ſchen Grammatik in die Köpfe meißelten. Der freie lateiniſche Aufſatz galt noch überall als der Gipfel der humaniſtiſchen Bildung; es erſchien als Verwegenheit,

Vom deutſchen Unterricht 157

an dieſem Platz ſich den deutſchen Aufſatz zu denken. Einen breiten Raum beſetzte die pädagogiſche Literatur über die antiken Schriftſteller, die Schulausgaben von dieſen; ein ſchmales Rinnſal bildeten daneben ein paar Sentenzenſammlungen aus Goethe u. a. als Themata— vorrat zu deutſchen Aufſätzen und in den ſiebziger Jahren die erſten Schulausgaben deutſcher Klaſſikerdramen. Und wie oft litt der neue Unterricht noch daran, daß man zunächſt die epigoniſch-philologiſche Methode des altklaſſiſchen Betriebs von 1835 jetzt um 1865 einfach auf das deutſche Gebiet übertrug! Bei dem Durchkauen von Schillers Verhältnis zu ſeinen Balladenquellen und dem Auswägeln der guten und ſchlechten Versfüße in Hermann und Dorothea verging manchem Schüler die Luſt, dieſe Dichtungen je wieder aufzuſchlagen. Und doch war ſchließlich auch jetzt ſchon der Nutzen größer als der Schade, auch wo nur ein grober Eindruck von dem Nationalwert der Klaſſiker blieb. In un— zähligen Schulklaſſen zeigten doch die Weimarer Werke der Jugend deutſche Wahrheit und Schönheit.

So beteiligte ſich alt und jung im dritten Geſchlecht, viele tauſende von lebendigen Verhältniſſen zu den größten deutſchen Dichtern der Neuzeit anzuknüpfen, zu unterhalten. Und neben Schule und Bühne, Haus— leſe und Feſtrede halfen vermehrter Notendruck und Klavierbau und führten den Goetheliederſegen der Schubert und Zeitgenoſſen als Haus- und Konzertmuſik dem zweiten Geſchlecht erſt recht in Fülle zu. War

158 Philoſophie, Naturwiſſenſchaft, Poeſie

aber die Einwirkung auf die ſchöpferiſchen Geiſter in Wiſſenſchaft und Kunſt noch ſo ſtark wie früher?

Man darf Lotzes „Mikrokosmus“ (1856—1869) das Werk nennen, das als giltige Philoſophie der Zeit durch die Anerkennung der Natur als letzten Schöpfungs— zweckes und Aufſtellung von Modellen mehr als Typen des Lebens von Goethes geſamtem Denken einen Strahl empfangen hatte und weitergab. Die Naturwiſſen⸗ ſchaft ſebſt ging damals überwiegend rein induktiv vor und wehrte Goethes Ideen mehr ab, als daß ſie ſich unmittelbar produktiv von ihnen hätte beeinfluſſen laſſen.

Die Dichter wußten, was ſie trotz mancher Einzel— kritik an Schiller und Goethe hatten. Hebbel ließ ſich in ſeiner Todesſtunde den „Spaziergang“ vorleſen. Keller und Anzengruber wichen von einer tiefen Ver— ehrung Schillers nie ab. Als ſich zu Anfang der achtziger Jahre bei einer Verſammlung am Bodenſee ein Ecktiſch von Gäſten zuſammengefunden hatte, Lingg, Scheffel, Meißner, bei denen auch Rittmeiſter von Schiller ſaß, ein Enkel des Dichters, und ein Trinkſpruch auf dieſen Dichterwinkel ausgebracht wurde und der Rittmeiſter für ſeine Perſon abwehrte, er ſei bloß Enkel, nicht Dichter, rief Scheffel: „Wir ſind alle Enkel Schillers. Hoch Schiller! hoch! hoch!“ Und Hamerling hat bekannt, zu Goethes Fauſt, Iphigenie, Pandora und den lyri— ſchen Gedichten kehre er immer und immer wieder zurück.

Wie hätte die ſchöpferiſche Bereicherung da ganz aus— bleiben ſollen! Nannte man doch Paul Heyſe ſeit den

Lyrik, Epos, Drama 159

fünfziger Jahren den Erben Goethes. Die damalige Lyrik wurde als Rückkehr zur Natur gegenüber der poli— tiſchen Dichtung der vierziger Jahre empfunden, und „zur Wahrheit und Natur zurückführen“ war damals in vieler Munde, auch wenn unter dieſem Luftzug manchmal im Garten der deutſchen Lyrik nur charakterloſe Minder— jährigkeit grünte. Gerade in der Lyrik war die ge— wollte Reinheit der Natur am wenigſten zu ſpüren, hier blieb ein feiner klaſſiſcher Firnis, bei Geibel wie bei Heyſe. Selbſt Hebbels „Mutter und Kind“ möchte künſtleriſch ein Zwilling zu Hermann und Dorothea ſein. Neue Sprößlinge, vorläufig am alten Spalier gezogen.

Am beſten gelang die Verbindung von Alt und Neu in der Proſa, hier mußte ſich das Wirklichkeitszeitalter ganz offenbaren. Keller hat wohl an Goethes Proſa am meiſten wirklich gelernt, weniger Auerbach, Heyſe, Wilbrandt; auch in Technik, ja Stoffwahl knüpften ſie mehr oder minder an Wilhelm Meiſter an. Anderwärts blieb es bei der Kopie: Richard Wagner gefiel ſich ſpäter in der hochſtiliſierten Sprache des alten Goethe wie in einem fremden Königsſchlafrock. Eine ähnliche Er— ſcheinung waren die Schillerepigonendramen der ſech— ziger und ſiebziger Jahre, zum Teil mit dem Schiller— preis gekrönt wie 1866 Lindners Brutus und Collatinus, 1869 Geibels Sophonisbe und 1878 Niſſels Agnes von Meran; der Preis war geſtiftet in erſter Linie für Dramen ernſten Charakters, die ſich dem klaſſiſchen Stil Schillers

160 Neue Muſik zu Goethes Liedern

annäherten. Mit einem wilden Schoß, dem Schwank „Fauſt und Gretchen“, hatte 1856 der Berliner Poſſen⸗ fabrikant Jacobſon ſeinen erſten großen Erfolg im Friedrich-Wilhelmſtädtiſchen Theater.

Wie die Nachwirkung Weimars auf die Dichter im Zeitalter der Reichsgründung ſchwächer war als in den vormärzlichen Jahrzehnten, ſo wurden nun auch die weimariſchen Lieder ſeltner komponiert. Für den größten Teil von ihnen durfte man ſagen: der Bedarf war gedeckt durch das, was das vorige Geſchlecht an Muſik zu Goethe und Schiller geſchaffen hatte. Kuhlaus Über allen Gipfeln iſt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch über dreißigmal neu gedruckt worden, und wie viele Schubertſche Goethe-Lieder wurden jetzt erſt zum erſtenmal aus ſeinem Nachlaß veröffentlicht! Die kleineren Formen der Reichardt und Zelter genügten dem neuern Muſikſinne nicht mehr und waren aus der Hausmuſik verſchwunden, die reicheren aber von Schu— bert bis Schumann fanden in den fünfziger bis achtziger Jahren ihre größte Verbreitung. Wer als Komponiſt muſikaliſch darüber nicht hinausgehen wollte, blieb ge— wöhnlich hinter dieſen Muſtern zurück wie etwa Taubert mit ſeinem neuen Heidenröslein oder die Meinardus, F. Hiller u. a., wenn ſie „An den Mond“ auf ihre Weiſe komponierten. Wer wie Jenſen im „König von Thule“ ſchärfere Dramatik, rezitativiſchere Teile, erhitzendere Harmonik einführte, zerſtörte damit den urſprünglichen Liederton. In ſeinem neuen Mignonlied erreichte

Jenſen, Bruch 161

Jenſen zwar Schumanns Grazie, aber die kehrreimende Frage „Kennſt Du das Land“ wiederholte er ſo oft, daß er das urſprüngliche Ebenmaß goethiſchen Emp— findens barock ſchwächte. Immerhin wurde von den vier beliebteſten Liedern Goethes neu komponiert „Der du von dem Himmel biſt“ für Einzelgeſang etwa vierzigmal und außerdem für Männerchor über zwanzig— mal, „Über allen Gipfeln“ für Einzelgeſang etwa dreißig— mal und für Männerchor etwa zwölfmal und „Fülleſt wieder Buſch und Tal“ und „Erſter Verluſt“ auch für eine Singſtimme jedes etwa dreißigmal: welches Zeug— nis dafür, wie Goethes Naturgefühl auch in dieſem Geſchlecht weiter lebte! Nur ganz wenige Komponiſten griffen zu Herders Liederſammlungen. Schiller forderte zu einigen großen neuen Werken für Chor und Orcheſter auf, die geſteigerte Kraft dieſer Mittel an ſeinen Ge— danken zu erproben. 1879 veröffentlichte Bruch ſeine prächtige Kompoſition des Liedes von der Glocke.

Der bedeutendſte Geſangskomponiſt des Zeitalters war Brahms. Man hat ſich gewundert, daß er nicht mehr Lieder von Goethe komponiert habe, und doch hat er nächſt der Bibel nirgends ſo oft wie bei ihm einen Text entnommen, im ganzen ſechzehnmal. Er empfand ähnlich wie der Muſikhiſtoriker Spitta das meiſte von Goethes Lyrik als geſättigte Kunſt und geſtand einmal: „Die letzte Strophe des Schubertſchen Suleika⸗Liedes Was bedeutet die Bewegung? iſt die einzige Stelle, wo ich mir ſagen muß, daß Goetheſche

Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 11

162 Brahms

Worte durch die Muſik wirklich noch gehoben worden ſind. Sonſt kann ich das von keinem andern Goetheſchen Gedichte behaupten. Die ſind alle ſo fertig, da kann man mit Muſik nicht an.“ Dazu kam, daß Brahms andrerſe its die vorhandnen guten Goethekompoſitionen höchlich achtete „das iſt ſchon gemacht“ ſagte er dann barſch —; nichts lag ihm ferner, als blinde oder eifrige Konkurrenzmacherei. So ſchlug er ſeine ſehr einſamen Wege durch Goethes Lyrik ein, und es mußten ſchon ganz beſondre Kunſtnotwendigkeiten oder Reizmöglich— keiten ſein, was ihn ab und zu zur Kompoſition Goethes aufrief. Dabei entſtanden dann in den Jahrzehnten von 1857 bis 1877 gelegentlich ſo köſtliche Dinge wie ſein echtes Sonett „Die Liebende ſchreibt“ trotz Schubert und Mendelsſohn —, ſein ſchlichter wunder- barer „Troſt in Tränen“ und das Natur und Empfin— dung ſpiegelnde „Dämmrung ſenkte ſich von oben“ oder das luſtſtrotzende Trinkerlied „Hab ich tauſendmal ge— ſchworen.“ Fein und ſicher hat Brahms einzelne Lieder entdeckt, die eine unausgeſprochene Aufforderung Goethes zum Duett, zum Quartett enthielten; wie er auch Herderſche Liebeslyrik in den ſchönſten Duetten geſungen hat. Und ſo durfte er ſich wohl Goethes Kantatenvorwort geſagt ſein laſſen:

Möge dies der Sänger loben, Ihm zu Ehren wards gewoben;

er veröffentlichte als op. 50 den Rinaldo. Im Som— mer des Jahres 1863, am Strande von Blankeneſe,

Geſänge mit Orcheſter 163

zwiſchen Gärten und Flut, wohin er ſich aus dem üp— pigen Wien und der Nähe der leidenſchaftlich bewunder— ten Sängerin Duſtmann zurückgezogen hatte, wob der Dreißigjährige das Werk muſikaliſch aus widrigen Wind— zügen, ruckenden Ruderſchlägen und andern Geheim— niſſen der Rhythmen und Inſtrumente, der Liebe und Tatenluſt. Das Nebeinander von Heldentenorſolo und Männerchor im Rinaldo rief dann bald das ſchönere Paar von Altſtimme und Männerchor für die Rhap— ſodie aus Goethes Harzreiſe hervor: mit dem Gebet des Dichters für den unglücklichen Pleſſing verſchmolz das Brahmsſche für den vereinſamten Geiſt des ihm befreundeten Malers Feuerbach. 1868 am Strande von Wilhelmshaven ſang er Schillers edelſtem Schüler Hölderlin das Schickſalslied nach, als für ihn die Worte des an jenem Sommermorgen eben erſt gefundenen Hyperion Wahrheit waren: „Ich blieb am Ufer, blickte ſtill, von den Schmerzen des Abſchieds müd, in die See, von einer Stunde zur andern.“ Als Feuerbach 1880 ſtarb, ſtimmte Brahms Schillers Nänie zu ſeinem Gedächtnis an. Und ſein letztes großes Chor- und Orcheſterwerk entſprang wieder aus einem Eindruck der Wiener Bühne: das Parzenlied Iphigeniens, von der Wolter geſprochen, ſetzte in dieſer zu engen Form die ganze Seele des Muſikers in Bewegung und ge— wann in ſeiner Kunſt größere Geſtalt.

Indeſſen wuchs die Teilnahme der bildenden Künſte

an der weimariſchen Dichtung. Die einen trieb ihr 11*

164 Illuſtration und Hiſtorienbild

neues Talent für Genrebildchen zur Illuſtration von Hermann und Dorothea oder Fauſt oder dem Lied von der Glocke das waren die Ramberg, Kreling, Liezen-Mayer. Wenn ein Maler wie der Bayer von Heckel zu Anfang der fünfziger Jahre mit ſeinen Genreſtücken Glück hatte, ſo ſtellten ſie Mignon und den Harfner oder Gretchen am Spinnrade dar; und wenn der Berliner Amberg 1870 fünf junge Mädchen im Buchenwald beim Vorleſen malte, was hätte er anziehenderes darunterſchreiben können als „Vorleſung aus Goethes Werther“? Die illuſtrierte Klaſſikerausgabe wurde Mode, und gegen 1880 war ein Hauptſchmuck des Mitteltiſches der „guten Stube“ womöglich eine Prachtausgabe von Hermann und Dorothea oder ein photographiſcher Schillerzyklus, auch wenn jener Auf— bewahrungsort und ſolche Aufmachung eher geeignet war, den Dichter ſelbſt in unverſtändlicher Entfernung zu halten. Die Hiſtorienmaler wetteiferten mit der Bühne und ſchlugen nun gern nächſte Nebenwege zu den bekannten Theaterbildern ein: ſo malte Schrader 1850 Wallenſtein und Seni, Piloty 1855 Seni an der Leiche Wallenſteins und 1860 Wallenſteins Zug nach Eger, und um 1870 wandten ſich beide Maria Stuart zu: Piloty malte, wie ſie ihr Todesurteil anhört, Schrader, wie Eliſabeth das Urteil unterzeichnet, und „Maria Stuarts letzte Augenblicke“. Gabriel Max ließ Fauſt jahrelang kaum aus der Hand und gewann ihm mehrere Olgemälde ab wie 1873 „Gretchen in der Walpurgis—

Feuerbach und Böcklin 165

nacht“ und einen Zyklus von Zeichnungen für den Holzſchnitt in Rembrandtſcher Manier; ſein bizarrer, dem kranken Grauen geneigter Sinn erdachte auch „die Jungfrau von Orleans auf dem Scheiterhaufen.“

Für die griechiſchen Geſtalten der Klaſſiker hatten die bildenden Zeitgenoſſen meiſt weniger Verſtändnis. Wiederholt zogen nur Hero und Leander an; ſie wurden 1865 von Victor Müller, 1880 von Keller gemalt. Die Iphigenie der Zeit ſchuf 1862 Feuerbach, beſtrebt, Goethes ganze Prieſterin in den Vers zuſammenzufaſſen „das Land der Griechen mit der Seele ſuchend“, womit er zugleich die Sehnſucht eines unhelleniſch geſtimmten Zeitalters verkündete und ſo doch anders als Goethe wirkte. Er fühlte ſich außer dem gelobten Lande; Böcklin trat an der Wende des Zeitalters (1878) keckeren Schrittes ein in die „Gefilde der Seligen“, wo über das tiefe blaue Waſſer zwiſchen Schwänen Helena auf Chirons Rücken getragen wird, wie die Worte der klaſſiſchen Walpurgisnacht es andeuteten. Auch in der Plaſtik konnte man beobachten, wie ſich allmählich aus deutſchem Realismus die Achtung vor dem Griechentum der Erſcheinung wieder erhob, z. B. begann der bayriſche Bildhauer Hirt gegen 1860 mit etwas opernhaften Statuetten und Gruppen wie Fauſt und Gretchen, Heidenröslein und ähnlichem aus Hermann und Dorothea und wandte ſich ſpäter an— tiken Stoffen zu.

So wirkte Altweimar mit tauſend goldnen Fäden

166 Dichterenkel

zu der Einheit mit, die 1871 in eiſerner Politik geknüpft wurde. Auch die beiden Enkel Goethes haben damals geſchriftſtellert und komponiert, ohne Bedeutung für das Vaterland. Ein Enkel Schillers aber, Graf Gleichen— Rußwurm, erwarb ſich einen guten Namen in der deutſchen Landſchaftsmalerei; er gehörte der jungen Weimariſchen Schule an. Was brachte das neue Weimar überhaupt ins neue Reich mit?

Neue Politik, neue Wiſſenſchaft

Großherzog Carl Alexander übernahm die weima— riſche Regierung am 8. Juli 1853 im Alter von fünf unddreißig Jahren. Er war zu feinſtem Verſtändnis der klaſſiſchen Überlieferungen erzogen, aber auch zu einſichtiger Beurteilung und gewandtem Ergreifen gegenwärtiger Bewegungen. Beides trachtete er im Zuſammenhang zu erhalten, und es glückte ſeiner fein— fühligen Hand, indem er in die neue konſtitutionelle Regierungsform friſch hineingewachſen war. Seine Gemahlin Sophie war nicht minder zur Herrſcherin geboren, eine echte Oranierin an Selbſtzucht und An— ſpruchsloſigkeit, verſchwiegen und tatkräftig, klarblickend und kunſtſinnig; Pflichttreue und Menſchengefühl war ihr wie dem neuen Großherzog eigen. 1854 wurde ihnen das vierte Kind geboren, zu dem Sohn und zwei Mädchen die dritte Tochter.

Bis 1859 waltete in Weimar auch die Großherzogin Mutter Maria Paulowna noch ihrer ausgedehnten Liebestätigkeit und freigebigen Kunſtpflege. 1854 beging das dankbare Land das goldene Jubiläum ihres Ein— tritts in Weimar, und noch einmal erſchien Schillers Huldigung der Künſte vor ihr auf dem Theater. Sie

168 Carl Alexanders Anfänge

hatte ſchließlich die Freude, ihre Tochter Auguſta zur preußiſchen Königin aufſteigen zu ſehen, und als deren Enkel geboren wurde, der ſpätere Kaiſer Wilhelm II., und der deutſche Beruf Preußens immer deutlicher hervortrat, hat ſie ſich wohl im ſtillen lächelnd eine Mutter von Deutſchland genannt.

Carl Alexanders Regierungsanfang fiel in die Zeit, wo der deutſche Bund nach gefährlicher Kriſe wieder hergeſtellt worden war und, obwohl ſein Ende bevor— ſtand, die liberale Geſetzgebung der Jahrhundertmitte noch einmal zu verſtümmeln vermochte, in die Reaktion der fünfziger Jahre. Dieſe machte ſich in Weimar weniger geltend als anderswo. Zwar wurde 1854 der fortſchrittlichſte Miniſterialchef entlaſſen, Wyden— brugk, ſein Departement des Kultus und der Juſtiz übernahm Wintzingerode —, die andern leitenden Män— ner aber hielt der neue Großherzog feſt. Es waren Watzdorf, der führende Miniſter ſeit 1848, im beſondern mit den innern und äußern Angelegenheiten und denen des großherzoglichen Hauſes betraut, und Thon, der ſeit dem 1. Oktober 1849 das Finanzdepartement ver— waltete. Als Watzdorfs rechte Hand durfte Stichling gelten, ein genauer Altersgefährte des Großherzogs und einſt als Knabe deſſen Geſpiele und Unterrichtsgenoß, übrigens ein Enkel Herders.) 1867 ſchied auch Wintzin—

*) Stichlings Vater hatte in erſter Ehe eine Tochter Wielands, in zweiter eine Tochter Herders zur Gemahlin.

Landwirtſchaft und Gewerbe 169

gerode wieder aus; von ſeinem Departement übernahm Watzdorf die Juſtiz und Stichling, der ſchon ſeit 1864 das Referat über die unmittelbaren Anſtalten für Wiſſen— ſchaft und Kunſt gehabt hatte, die Leitung der Kultus— geſchäfte.

In der neuen freien Gemeindeordnung gedieh die Landwirtſchaft des Großherzogtums, indem ſie in ſachgemäßer Bodenbearbeitung und Benutzung neuer Maſchinen vorwärtskam; wurde man doch in Jena darüber in einer für ganz Deutſchland muſtergiltigen Weiſe unterrichtet. Sechs Geſetze, zwiſchen 1848 und 1869 beſchloſſen, erleichterten ihre Beweglichkeit auf dem Wege der Zuſammenlegung von Grundſtücken, und 1869 wurde das wichtige Geſetz über die Ablöſung grundherrlicher und ſonſtiger Rechte zur möglichſten Befreiung des Grundbeſitzes erlaſſen. Zentralſtellen für Landwirtſchaft und Gewerbe wurden geſchaffen. Die 1850 grundſätzlich feſtgeſtellte Gewerbefreiheit trat vollſtändig mit Beginn des Jahres 1863 ein, nachdem die neue Gewerbeordnung 1862 Geſetz geworden war; Hand in Hand mit ihr ging die Einführung des neuen allgemeinen deutſchen Handelsgeſetzbuches. Die Strumpfwirkerei in Apolda, die Tabakpfeifenherſtellung in Ruhla, die Glasinduſtrie in Stützerbach entwickelten ſich gut und arbeiteten vielfach für den Bedarf außer— halb Thüringens, ja außerhalb Deutſchlands. Vereins- recht und Preßgeſetz, in den fünfziger Jahren be— ſchnitten, wurden 1868 für Weimar freiheitlich geordnet.

170 Verkehr

Eine Reihe Telegraphenſtränge ſorgten jetzt für raſcheſte Mitteilungen nach Preußen und Sachſen. Die Güte der weimariſchen Landſtraßen war von den benachbarten Großſtaaten kaum zu erreichen. Für den Fernverkehr von Gütern und Perſonen im Großherzog— tum wie ringsum hinaus in deutſches Land wurde ein Eiſenbahnnetz ausgebaut. Die 1855 mit Meiningen und Coburg-Gotha beſchloſſene Werrabahn lief ſeit November 1858 von Eiſenach bis Coburg, und als binnen kurzem auch die Anſchlußbahn bis zum bayriſchen Lichtenfels in Gang kam, war eine neue Verbindung zwiſchen Nord- und Süddeutſchland geſchaffen. Ende 1871 konnte die Bahn Gera - Eichicht eröffnet werden, wiederum ein zukünftiges Mittelglied einer wichtigen Nord-Süd-Verbindung, zumal als ihr 1874 faal- abwärts von Rudolſtadt bis Großheringen ein neues Gleis angefügt wurde. 1874 wurde auch die Saal— Unſtrutbahn im Norden fertig, und dem großen ſächſiſch— thüringiſchen Verkehr dienten außer der alten Haupt— ſtrecke Leipzig-Frankfurt ſeit 1875 die Bahn Wolfs— gefährt-Greiz-Elſterberg und ſeit 1876 Weida-Werdau; dazu kam 1876 die für Innen- wie Nachbarverkehr gleich wichtige Strecke Weimar-Jena-Gera. Und wieviel Freude an Thüringer Landſchaft wurde über den Geſchäftsbetrieb hinaus bei den benachbarten Deutſchen dadurch rege, wieviel Beſucher wurden ins Weimariſche gezogen!

Von Anfang an billigte Carl Alexander Watzdorfs

Watzdorf 171

Vorgehen; er kannte ſeine Anſchauungsweiſe als zeit— entſprechend, er ſah den Nutzen ſeiner Tätigkeit. Fürſt und Miniſter ſtimmten in liberaler Denkart und natio— nalen Hoffnungen überein. Innere Spannungen über— wanden beide durch ihre konſtitutionelle Geſinnung. Auch 1857, in einem Jahr des Streites zwiſchen Re— gierung und Landtag, verſtand Watzdorf die Gegenſätze zu mäßigen, und es war ein weithin treffendes Wort, womit er damals beſchwichtigte: es ſei eine Krankheit unſerer Zeit, daß die Energie nur zu häufig in dem Maße, wie ſie früher gefehlt habe, jetzt hervortrete. So konnte das Land 1866 dem Großherzog zur fünfzig— jährigen Jubelfeier der Weimarer Verfaſſung mit einer aufrichtigen Dankadreſſe huldigen und 1867 an der ſilbernen Hochzeit des Fürſtenpaares herzlich teilneh— men; 1868, zu Watzdorfs fünfundzwanzigjährigem Jubiläum, ehrten den beliebten Miniſter ſämtliche wei— mariſche Gemeinden mit einer großen goldnen Me— daille und beglückwünſchten ihn alle deutſchen Regenten.

Inzwiſchen machte die neue Einigung Deutſchlands große Fortſchritte. 1862 trat zuerſt in Weimar ein deutſcher Abgeordnetentag zuſammen, um in den Kam— mern für den nationalen Gedanken zu wirken. War in den fünfziger Jahren Weimars Vertretung beim Bundestag nicht immer ein angenehmes Geſchäft, um ſeiner Hinneigung zu Preußen willen, ſo überraſchte doch auch Bismarcks kühne Politik in der Mitte der ſechziger Jahre: 1866 ſtanden Weimars Soldaten auf

172 Von 1866 bis 1870

jeiten des Bundes gegen Preußen, ohne zum Eingreifen in den Kampf zu kommen. Noch ehe der Friede über- all wieder geſchloſſen war, verknüpfte ſich Preußen am 18. Auguſt mit den meiſten kleineren mittel- und norddeutſchen Staaten, darunter auch dem Großherzog— tum Sachſen-Weimar-Eiſenach, durch einen Bundes— vertrag, und aus dieſem ging der Norddeutſche Bund hervor. Am 22. Februar 1867 wurde zwiſchen Preußen und Weimar die Militärkonvention abgeſchloſſen, wo— nach das weimariſche Kontingent das fünfte thüringiſche Infanterieregiment Nr. 94 bildete mit der beſonderen Bezeichnung „Großherzog von Sachſen“ und ſeine drei Bataillone nach Weimar, Eiſenach und Jena gelegt wurden. Am 1. Juli trat die Norddeutſche Bundes— verfaſſung in Kraft, am 1. Oktober die neue Heeres— verfaſſung.

Die Feuerprobe der Neuordnung war der deutſch— franzöſiſche Krieg. Weimars 94er, in einer Stärke von 2911 Mann ausgezogen, kämpften tapfer in ſieben— undzwanzig Schlachten und Gefechten mit; ſie verloren dabei im ganzen über ein Sechſtel des Regiments. Sie hatten teil an den Siegen von Wörth und Sedan; vom Oktober bis Januar halfen ſie in den Gegenden von Orleans und Le Mans viele franzöſiſche Anſtrengungen zur Befreiung des umklammerten Paris niederwerfen. Ein Diviſionsbefehl vom 19. November 1870 lautete: „Den Truppen iſt bekannt zu machen, daß das 94. Regiment unter Beteiligung einer Kompagnie des

Die ger im deutſch-franzöſiſchen Kriege 173

83. Regiments geſtern ein glänzendes Gefecht gehabt und ohne Mitwirkung von Artillerie das von 1500 Mann Linientruppen verteidigte Dorf Torçay mit Kolben und Bajonett erſtürmt hat. Der Verluſt des Feindes beträgt mindeſtens 300 Tote und Verwundete, 200 Gefangene und viele Verſprengte“, und ein ſolcher vom 6. Dezember nach der mehrtägigen Schlacht bei Orleans ſchloß: „Ich ſpreche hiermit ſämtlichen Trup— pen der Diviſion meinen Dank aus, insbeſondere aber dem 94. Regimente und der Diviſionsartillerie, welche beide den härteſten Kampf gekämpft und die ſchwerſten Verluſte erlitten haben.“ Auch Chateaudun (18. Ok— tober), Cravant (8. bis 10. Dezember), la Fourche (6. Januar) waren Ruhmestage der Weimarer. Am 12. Februar zog das Regiment in Verſailles ein; Ende des Monats kam das erſte Bataillon zu den Beſatzungstruppen des eroberten Paris. Der Groß— herzog ſah ſeine Soldaten nur ab und zu, obwohl er unabläſſig für ſie beſorgt war; ſein Aufenthalt und ſeine verantwortungsvollſte Tätigkeit war im deutſchen Hauptquartier, wo er einen regelmäßigen eigenhändigen Briefverkehr mit ſeinem Vetter dem Zaren Ale— rander II. unterhielt und der erfolgreiche Anwalt der guten Beziehungen zwiſchen dem preußiſchen und dem ruſſiſchen Kabinett während des Krieges war.

Indes führte daheim die Großherzogin die Re— gentſchaft. Watzdorf erlebte das Ende des Krieges und das neue deutſche Reich nicht mehr; er ſtarb nach den

174 Weimar und die Kaiſerkrone

verheißungsvollen Tagen von Sedan. So erging am 7. Dezember an Stichling der Befehl des Großherzogs aus Verſailles, den Antrag beim Bundesrat auf An- nahme der Kaiſerkrone durch Preußen zu ſtellen, und bereits am 10. Dezember wurde die danach entſpre— chend anders redigierte Reichsverfaſſung auch vom Reichstag des Norddeutſchen Bundes in dritter Leſung angenommen. Am 16. März 1871 raſtete Kaiſer Wil- helm J. auf der Rückkehr aus Frankreich eine Nacht am Weimarer Hofe, wo Großherzog Carl Alexander am 10. März eingetroffen war und die Regierung wieder übernommen hatte; das 94. Regiment kehrte erſt Ende September in die Heimat zurück, da es mit zur Be— ſetzung Frankreichs bis zur Erfüllung der Friedens— bedingungen diente: herzlicher Jubel empfing auch im weimariſchen Lande im Frühling und Herbſt die ſiegreichen Fürſten und Truppen.

Das weimariſche Miniſterium wurde 1871 neu geordnet. Thon, der langbewährte Leiter der Finan— zen, wurde vorſitzender Miniſter er blieb es bis zu ſeinem Tode Ende 1882 und Freiherr von Groß übernahm als neuer Departementschef Inneres und Außeres, während Stichling die Geſchäfte des groß— herzoglichen Hauſes, des Kultus und Unterrichts und der Juſtiz ſowie die Vertretung Weimars beim Bundes— rat in ſeiner Hand vereinigte. Rühmte man es Watz— dorf nach, daß er das weimariſche Staatsweſen in ruhiger Entwicklung, in ſteter Harmonie zwiſchen Fürſt

Stichling 175 und Volk aus der alten in die neue Zeit hereingeführt habe, ſo wurde es namentlich Stichlings Aufgabe, das Großherzogtum in die durch die Wiederaufrichtung des deutſchen Reiches neugeſchaffenen Verhältniſſe hinüberzuleiten, die Landesrechtſprechung der neuen Reichsgeſetzgebung anzupaſſen. In der zweiten Hälfte der ſiebziger Jahre lag der Schwerpunkt ſeiner Tätig— keit im Juſtizdepartement, und hier krönte er ſie mit der Eröffnung des thüringiſchen Oberlandesgerichts in Jena am 1. Oktober 1879, unter das ſich neben faſt allen thüringiſchen Staaten auch Preußen für die Kreiſe Schleuſingen und Ziegenrück ſtellte.

Länger beſchäftigte den Enkel Herders die Leitung des Kirchen- und Schulweſens, und in ſeiner dreiund— zwanzigjährigen Verwaltung (1867 bis 1890) ſtieg der jährliche Aufwand des weimariſchen Kultusdeparte— ments von 300000 auf 900000 Mark. Die Teilnahme der Laien am evangeliſchen Kirchenregiment war in wenigen deutſchen Staaten ſchon im vorigen Zeitalter in Geſtalt von Gemeindepresbyterien, Diözeſan- und Generalſynoden eingerichtet worden; nach der Mitte des Jahrhunderts folgten die übrigen Staaten. In Weimar hatte die neue Geſetzgebung 1849 den Kirchen— rat und 1851 den Kirchgemeindevorſtand geſchaffen als oberſtes und unterſtes Glied dieſer Vertretung; die Mittelſtufe baute Stichling durch ſeine ſorgfältige Vorbereitung einer Synodalordnung. 1873 wurde ſie Geſetz, und ſeit 1874 kamen die Synoden aller vier

176 Synode, Schulen; Univerſität

Jahre zuſammen zur Regelung von Kirchenfragen wie einer günſtigeren Gehaltsordnung, der Form der kirch— lichen Trauung, nachdem das Reich die Ziviltrauung eingeführt hatte, eines neuen Geſangbuches uſw. 1874 am Geburtstage des Großherzogs (24. Juni) konnte auch das von Stichling ausgearbeitete Volks- ſchulgeſetz veröffentlicht werden, das Beachtung weit außerhalb Weimars fand, ſelbſt in Frankreich und Amerika. Im Mittelſchulweſen empfand Stichling, ein kräftiger Förderer der weimariſchen Gymnaſien 1876 eröffnete er das Jenaer —, die Regelung des Einjährigenzeugniſſes auf Grund der Wünſche des preußiſchen Kriegsminiſteriums als einen unnormalen Eingriff, aber feine Denkſchrift „Über die Reichsſchul⸗ kommiſſion“ vermochte daran zunächſt nichts zu ändern.

Eine der vornehmſten Sorgen der weimariſchen Regierung war nach wie vor die für das Gedeihen der thüringiſchen Landesuniverſität, wobei ſie von den drei erneſtiniſchen Herzogtümern unterſtützt wurde. kun traf es ſich günſtig, daß Stichling mit dem neun Jahre älteren Moritz Seebeck herzlich befreundet war, dem Kurator der Univerſität Jena in den Jahren 1851 bis 1877. Seebeck war ein Jenaer Kind, ein Sohn jenes Gelehrten, der an dem Ausbau von Goethes Farbenlehre durch Entdeckung der entoptiſchen Farben teilgenommen hatte. Nach einer kurzen Lehr— tätigkeit in Berlin war er zehn Jahre lang Erzieher des meiningiſchen Erbprinzen geweſen, des nachmaligen

Seebeck 77

Herzogs Georg, und dann von 1848 bis 1850 Ver— treter der thüringiſchen Staaten bei den vergeblichen Verſuchen, eine deutſche Reichsregierung zuſtande zu bringen. Was der junge Großherzog Carl Alexander einmal ſagte: er wiſſe nicht durch äußere Mittel die Univerſität groß machen zu können, ſondern durch Freiheit, das war auch des Kurators Seebeck, dieſes ſparſamen Haushalters, Überzeugung: nur bei Ge— währung möglichſter Freiheit könne die reine wiſſen— ſchaftliche Forſchung an der Univerſität gedeihen. Für Bauten (Bibliothek, Kollegienhaus, botaniſches Inſtitut) und Inſtitute (Arbeitsräume für Anatomie, Anſtalten für pathologiſche Anatomie, Phyſiologie, Zoologie, Chemie) verſtand er Mittel flüſſig zu machen; im Verkehr mit den Profeſſoren war er wiſſenſchaftlich nicht nur der empfangende Teil, und er ſorgte ge— ſchickt für die Ergänzung des Lehrkörpers. Seine Kuratel bedeutete eine wahre Durchfriſchung der Univerſität.

Nicht als ob der geſchichtliche Sinn damals nach— gelaſſen hätte. Im Gegenteil: ein Anlaß ihn zu be— leben wurde das dreihundertjährige Jubiläum, das die Univerſität im Auguſt 1858 unter begeiſterter Teil— nahme feierte. Dazu tauchte der Gedanke auf, die Namen aller derer öffentlich ſichtbar zu machen, denen Jena ſeinen Ruhm verdanke, und zweihundert Tafeln mit Namen berühmter Studenten und Profeſſoren

Jenas konnten, meiſt an ihren einſtigen Wohnhäuſern, Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 12

178 Jenas Denkmäler

angebracht werden: keine andre deutſche Stadt hatte auf ſo engem Raume derartiges aufzuweiſen. Auf dem Marktplatze wurde inmitten von farbigen Fahnen und grünen Gewinden das eherne Denkmal der ſchweren Geſtalt Johann Friedrichs enthüllt mit dem Schwert in der Hand und der Bibel im Arm, des Stifters der Univerſität, ein Werk von Franz Drake, und Seebecks Rede davor ſchloß: „Wie er bis heute im Herzen des Volkes lebt, ſo durch die ſchaffende Kunſt des geiſtverwandten deutſchen Meiſters neu vergegen— wärtigt, ſtehe Johann Friedrich hier auch noch den ſpäteſten Enkeln mahnend und ermutigend vor Augen Gottes Wort am Herzen, ſeine Hoffnung im Herrn, für Wahrheit und Recht unerſchütterlich feſt, in echter deutſcher Art ein Fürſt, ein Mann!“

Die Dankbarkeit mitten im Leben ſtehender ehe— maliger Schüler errichtete nun auch den beiten Jenaer Lehrern des vorigen Zeitalters Erinnerungsmäler: am Fürſtengraben wurde der Gedenkſtein für Doebereiner aufgeſtellt und wiederum zwei Werke Drakes die Bronzebüſten von Oken und Schulze die Okenſche 1857 bei der 35. jener deutſchen Natur- forſcherverſammlungen, die Oken einſt ins Leben ge— rufen hatte, und 1873 die Koloſſalbüſte von Fries an deſſen hundertſtem Geburtstage. Als Deutſchland 1883 das Niederwalddenkmal erwartete, wurde gleich— ſam als Jenger Vorfeier dazu auf dem Eichplatz Donndorfs Burſchenſchaftsdenkmal enthüllt.

Aus Hajes Spätzeit 179

In der theologiſchen Fakultät vermittelte beide Zeitalter als die beherrſchende und anziehendſte Geſtalt Karl Haſe, deſſen Lebensjahre mit dem Jahrhundert liefen. Er hatte den größten Ruf als Kirchenhiſtoriker: ſein Lehrbuch der Kirchengeſchichte, zuerſt 1834 ver- öffentlicht, erſchien 1886 in elfter Auflage. Von ſeinen anderen Jugendarbeiten wurde die „Gnoſis“, ſeine Dogmatik, erſt 1869 das zweitemal, ſein „Leben Jeſu“ 1865 das fünftemal aufgelegt. Das klaſſiſche Werk ſeines Alters, aus dem Bewußtſein der neuen Zeit heraus geſchaffen, wurde 1862 ſein „Handbuch der proteſtantiſchen Polemik gegen die römiſch-katholiſche Kirche“, maßvoll, ja leidenſchaftslos geſchrieben, aber durch Klarheit und Ironie völlig wirkſam und oft neu gedruckt. Wenn er 1858 beim Jubiläum von ſeiner Univerſität ſagen durfte, daß ſie im Laufe der Zeit unerſchrocken die Konſequenz des Proteſtantismus ge— zogen und ſeine Entwicklung in der Theologie mit vollzogen habe, „nämlich Verſöhnung der Geſchichte mit der Vernunft, der heiligen Überlieferung mit der wahrhaften Geiſtesbildung der Gegenwart, der freien Perſönlichkeit mit der chriſtlichen Gemeinſchaft“, ſo hatte er ſelbſt daran ein gutes Teil. Als zu Ende ſeiner Zeit die Haltbarkeit und Leiſtungsfähigkeit des freiheitlichen Standpunktes etwas fraglich wurde, und für die thüringiſche Hochſchule neue theologiſche Be— rufungen gefordert wurden, um „der einſeitigen libe—

ralen und negierenden Richtung in Jena ein Gegen— 12*

180 Kirchenrat Schwarz; die drei Danz

gewicht zu geben“, ſetzte ſich der Greis zur Wehr und proteſtierte gegen „das Eiſenacher Attentat auf die theologiſche Fakultät Jena im Jahre des Heils 1881.“ Er ſtarb 1890 im ſechzigſten Jahre ſeiner Jenaer Lehr— tätigkeit und überlebte ſo ſeinen Altersgenoſſen um zwanzig Jahre, den Kirchenrat Schwarz, der ſeit 1844 neben ihm als ordentlicher Profeſſor der praktiſchen Theologie wirkte und ſeit 1849 das erſte geiſtliche Mitglied der oberſten Kirchenbehörde Weimars war. Schwarz war zugleich Superintendent in Jena und Lehrer der Homiletik, Katechetik und Ethik an der Hochſchule; ſeine hervorragendſte literariſche Arbeit war aber auch geſchichtlicher Art, eine quellenkundige Darſtellung des erſten Jahrzehnts der Univerſität Jena, zum Jubiläum verfaßt, ein genauer Bericht über die theologiſchen Strömungen, die einſt zur Gründung Jenas gegen Wittenberg geführt hatten.

In der juriſtiſchen Fakultät war es namentlich die Aufgabe von Danz, aus der erſten in die zweite Hälfte des Jahrhunderts herüberzuführen. Er war eine der echteſten jenaiſchen Erſcheinungen damals: als Sohn des Kirchenhiſtorikers Danz 1806 hier geboren ſtarb er 1881 als Vater des ſpäteren Jenaer Profeſſors der Jurisprudenz Erich Danz. 1840 bis 1846 veröffent- lichte er ſein Lehrbuch über die Geſchichte des römi— ſchen Rechts, das 1871 bis 1873 neu aufgelegt wurde; 1861 gab ihm der Entwurf des bürgerlichen Geſetz— buches für Sachſen Anlaß zu kritiſchen Arbeiten. Mit

Leiſt, Stickel, Göttling 181

größerer Kraft und weiterem geſchichtlichen Blick ver— tiefte ſich ſein Kollege Leiſt (1819 bis 1906) in den Zuſammenhang des alteuropäiſchen Rechtsweſens. Noch hegeliſierend war er 1846 mit ſeiner Schrift „Über die Entwicklung eines poſitiv-gemeinen Rechts in der zivi— liſierten Menſchheit“ hervorgetreten. 1850 ſchränkte er ſich auf den „Verſuch einer Geſchichte der römiſchen Rechtsſyſteme“ ein, und 1883 erſchien ſeine Gräko— italiſche Rechtsgeſchichte; von da aus nahm er im hohen Alter den Weg noch weiter rückwärts in das altariſche Jus gentium (1889) und Jus civile (1892), wobei ihm die in Jena blühende indogermaniſche Sprachwiſſenſchaft zuſtatten kam.

Auch die philoſophiſche Fakultät brachte Häupter aus Goethes Zeit in die Bismarcks mit herüber, den Orientaliſten Stickel und den Philologen Göttling. Stickel, ein Eiſenacher Kind, über das Weimarer Gymnaſium an die Jenaer Univerſität gelangt und von Goethe auf ſein ſpäteres Sondergebiet gewieſen, die Münzkunde des Oſtens, lehrte als Ordinarius bis in die neunziger Jahre. Göttling erfreute Ferner— ſtehende mit der Weite ſeines Blicks, dem Reichtum ſeiner Kenntniſſe in den beiden Bänden ſeiner geſam— melten Abhandlungen (1851 und 1863); in ſeinen Jenaer Vorleſungen beſchränkte er ſich nun auf das griechiſche Altertum, ſeitdem er 1852 in Nipperdey einen tüchtigen Latiniſten neben ſich hatte. Nipperdey hat als ordentlicher Profeſſor von 1854 bis 1874 in

182 Nipperdey und Moritz Schmidt

Jena gelehrt und über römiſche Staatsaltertümer, römiſche Literaturgeſchichte, Salluſt, Horaz und latei⸗ niſche Syntax geleſen. Schon früher um die Kenntnis von Caeſar und Nepos verdient beſchäftigte er ſich nun mit Vorliebe, gründlich und geſchickt, mit der Kritik und Erklärung von Tacitus: 1852 erſchien zum erſten⸗ mal ſeine oft aufgelegte Ausgabe der Annalen; die kritiſche Geſamtausgabe von Tacitus, die er 1871 zu veröffentlichen begann, vollendete ſein Schüler Rudolf Schöll, ein Sohn des Weimarer Goethephilologen. Der dritte dieſer klaſſiſchen Philologen war Moritz Schmidt (1823-1888). Um die Mitte der fünfziger Jahre machte er das entſtellt überlieferte große Lexikon des Alexandriners Heſychios zum Mittelpunkt ſeiner Studien, und die erſten Veröffentlichungen darüber hatten 1857 ſeine Berufung als außerordentlicher Pro— feſſor nach Jena zur Folge. Zwiſchen 1858 und 1868 lieferte er die fünfbändige Rieſenausgabe des Heſych, einen wichtigen Beitrag zur griechiſchen Lexikographie; 1869 erhielt er nach Göttlings Tode deſſen Ordinariat. Nun warf er ſich auf die altgriechiſche Dialektforſchung, lykiſche, kypriſche Inſchriften und Gloſſare wurden gedeutet, daneben her gingen metriſche Studien und Überſetzungen (vom ſophokleiſchen Oedipus und Pin— dars Siegesgeſängen) und Ausgaben, die durch geiſt— reiche Textkritik hervorragten: 1872 von Hygins Fa— beln, 1875 von der Dichtkunſt des Ariſtoteles, 1880 von der Antigone des Sophokles. Ganz im Altertum

Rochus von Liliencron 183 )

lebend vermochte er jenen Schriften und Reden gleichviel ob in deutſcher, lateiniſcher oder griechiſcher Sprache einen klaſſiſchen Hauch mitzuteilen; denn ſeinem Weſen nach gehörte er noch zur „alten Schule“, auch wenn ſein Studienkreis eine neue Geſamtanſicht des Altertums vorbereitete.

Es bezeichnet das Zeitalter, daß neben dieſen ſattel— feſten Bannerträgern der Antike die neueren Wiſſen— ſchaften der deutſchen Philologie und der vergleichenden Sprachforſchung kaum gelitten waren, ſich aber doch ſchließlich ihren Platz erkämpften. Der erſte Plänkler für ſie in Jena war der junge Rochus von Liliencron. Später wurde er anderwärts zum erfolgreichen Orga— niſator; als außerordentlicher Profeſſor für deutſche Sprache und Literatur von 1852 bis 1855 in Jena hatte er den Mut, mit dem Univerſitätsmuſikdirektor Stade zuſammen aus der großen Jenaer Minneſinger— handſchrift Lieder und Sprüche überſetzt und in neuem vierſtimmigen Satz herauszugeben.

Befreundet mit ihm war der Thüringer Auguſt Schleicher, ein ſprachwiſſenſchaftliches Talent erſten Ranges, das ſeit 1850 nach Prag verſchlagen und dort zwar 1853 zum Ordinarius aufgerückt war, aber ſich in der ſlawiſchen Schwüle unglücklich fühlte. Auf einen Brief Seebecks an Schleicher in Sachen Keplers kam die Antwort mit dem Stoßſeufzer: „Können Sie mich nicht daheim an der Landesuniverſität Jena brau— chen?“ So wurde Schleicher Liliencrons Nachfolger

184 Der Indogermaniſt Schleicher

1857 als ordentlicher Honorarprofeſſor für vergleichende Sprachwiſſenſchaft und deutſche Philologie mit 600 Talern Gehalt. Vergebens boten dem erſten Kenner der ſlawiſchen Sprachen, der er war, Warſchau, Peters— burg und Dorpat glänzend honorierte Stellungen an, er blieb in dem kleinen Jena, obwohl er hier nicht zu dem ihm verſprochenen Ordinariat gelangte und auf literariſchen Erwerb angewieſen war. Hatte er Sla— wiſch in Prag rein empiriſch getrieben, ſo vertiefte er ſich nun in die Theorie des Sprachlebens in der Rich— tung, daß er die Erklärung aller Tatſachen der Laut— geſchichte von der Phyſiologie der Sprechorgane erwar— tete. Seine Schriften Zur Morphologie der Sprache (1859), Die Darwinſche Theorie und die Sprachwiſſen— ſchaft (1863), Über die Bedeutung der Sprachwiſſen— ſchaft für die Naturgeſchichte des Menſchen (1865) ſuchten auf dieſem Wege vorwärtszukommen; ſein geleſenſtes Buch wurde „Die deutſche Sprache“ (fünf Auflagen von 1860 bis 1888), ſein bedeutendſtes Werk das „Compendium der vergleichenden Grammatik der indogermaniſchen Sprachen“ (vier Auflagen 1861 bis 1876). Früher hatte man als „Sprachvergleichung“ nur Zuſammenſtellung und Deutung getrieben; Schlei— cher faßte zuerſt die Entſtehung der Verſchiedenheiten ins Auge, den hiſtoriſchen Vorgang und begründete ſo die ſtreng geſchichtliche Betrachtung der Sprache. In angeſpannteſter Arbeit zu der ihm auch die Gartenpflege wurde, da er ſie ſofort in mikroſkopiſche

Die jungen Delbrück und Sievers 185

Botanik und geniale Blumenzüchterei großen Stils verwandelte rieb er ſich früh auf; er ſtarb 1868, die eigentümlichſte und nachwirkendſte Perſönlichkeit unter den Sprachwiſſenſchaftern ſeiner Zeit.

1870 erhielt Jena ein Ordinariat für vergleichende Sprachwiſſenſchaft und Sanſkrit und in dem jungen Berthold Delbrück den Gelehrten, der durch ſeine Pflege namentlich ſyntaktiſcher Forſchungen dem Amt ſofort wieder ein eigenes Gepräge verlieh. Für deutſche Philologie wurde ihm 1871 der zwanzigjährige Sievers als Extraordinarius beigegeben und 1876 auch er zum Ordinarius befördert. Solange er in Jena wirkte, bis 1883, erwies er ſich als der virtuoſeſte Kenner altgermaniſcher Sprachen durch ſeine Ausgabe des althochdeutſchen Tatian (1872), des altniederdeutſchen Heliand (1878), eine angelſächſiſche Grammatik und Beiträge zur Skaldenmetrik; die lautphyſiologiſche Seite der Sprache ſtellte er in ſeiner Phonetik (zu— erſt 1874) ſo vorzüglich dar, wie es damals wohl niemand weiter in Deutſchland vermochte.

Unter Seebecks Kuratel wirkten in Jena auch drei der beſten deutſchen Hiſtoriker. 1851 wurde Droyſen berufen, der Zweiundvierzigjährige ſchon ein berühmter Mann durch das Jahrzehnt ſeines Kieler Lehramts, wo er in die nationalpolitiſchen Bewegungen der ſpätern vierziger Jahre, in die Entwicklung der ſchles— wig⸗holſteiniſchen Frage kräftig eingegriffen hatte; die bevorſtehende däniſche Reaktion erleichterte ihm den

186 Guſtav Droyſen und Franz Xaver Wegele

Übergang nach Jena. Zwar fügte er ſich hier nicht völlig ſo ein, wie man gehofft hatte. Weder ſchrieb er für das Jubiläum 1858 die Geſchichte der Univerſität, noch was der Wunſch Carl Alexanders war die Geſchichte Carl Auguſts: Preußen gehörte ſein Dichten und Trachten. 1851 war der erſte Band ſeiner Bio— graphie Yorks erſchienen; in Jena ſchrieb er die beiden folgenden Bände. Dann ſchuf er hier die drei erſten Bände ſeines größten Werks, der Geſchichte der preu— ßiſchen Politik, bis zu ihrem Niedergang im dreißig— jährigen Kriege. „Preußiſche Geſchichte“ war auch das eine der beiden Kollegien, die er in Jena neu las; zu dem andern, „Enzyklopädie und Methodologie des Geſchichtsſtudiums“, ſchrieb er 1858 den „Grundriß der Hiſtorik.“ Neben ihm lehrte mit Erfolg der junge Bayer Wegele, deſſen kultur- und nationalgeſchicht— liches Werk über Dante zwiſchen 1852 und 1879 drei Auflagen erlebte, und der 1854 die Reinhardsbrunner Annalen herausgab; auch ſpäter in Würzburg (ſeit 1857) knüpfte er gern an die Jenaer Zeit an, z. B. mit einer Schrift über Goethe als Hiſtoriker.

Als Droyſen 1859 nach Berlin überſiedelte, wurde der Berliner Adolf Schmidt (1812 bis 1887) ſein Nachfolger, der aus Zürich gern wieder in das werdende deutſche Reich zurückkehrte. Er brachte eine Fülle unverarbeiteter Quellenauszüge zur Geſchichte der franzöſiſchen Revolution mit, die er in Paris in den Berichten der Geheimpolizei hatte machen können,

Adolf Schmidt 187

und veröffentlichte nun 1867 bis 1871 ſeine auch die Franzoſen überraſchenden Tableaux de la revolution frangaise und 1874 bis 1876 das dreibändige Werk über Pariſer Zuſtände während der Revolutionszeit; zweierlei ſprang daraus hervor, wovon die bisherigen Erzähler, auch Droyſen, keine rechte Ahnung gehabt hatten: die große Wichtigkeit der wirtſchaftlichen Dinge für den Verlauf der Revolution und die Tatſache, daß nur eine ſtarkwillige Minderheit alle demokratiſchen Erfolge durchgeſetzt hatte. Wie umfaſſend Schmidts Geſchichtsblick war, zeigte 1874 ſein Buch „Epochen und Kataſtrophen“ mit den drei großen Abhandlungen über Perikles und ſein Zeitalter, den Nikaaufſtand unter Juſtinian und über Don Carlos und Philipp. Die ſpaniſche Studie ſuchte den Widerſpruch über das Weſen des Prinzen in den Geſandtſchaftsberichten zu— gunſten einer Auffaſſung zu entſcheiden, die der Schillerſchen nahekam, und regte die Frage der Glaub— würdigkeit ſolcher Berichte gründlich auf gegenüber der damals beliebten Regel, die Wahrheit lediglich auf Seite der Peſſimiſten zu ſehen —; die altgriechiſche Skizze fand ſeit 1877 ihre Ausführung in dem groß artig angelegten Werke „Das perikleiſche Zeitalter“. Schmidts Begabung ruhte in der Ergänzung des Ma— terials durch geſunde Phantaſie; dabei betrieb er die Erforſchung der Bedingungen peinlich, wie noch zuletzt ſein Handbuch der griechiſchen Chronologie zeigte. Hiſtoriker zu einem guten Teil war auch der da—

188 Bruno Hildebrand

malige große Jenaer Nationalökonom Bruno Hilde— brand. Wie Droyſen hatte er die vierziger Jahre halb politiſch durchlebt, als Kämpe in Marburg gegen Haſſenpflug, und wie Adolf Schmidt kehrte er 1861 aus der Schweiz gern in die Heimat zurück: er ſtammte aus Naumburg und war Portenſer geweſen. In Jena war er weniger als praktiſcher Volkswirtſchafter tätig er leitete die Vorarbeiten für die Erbauung der Saalbahn —; ſeine beſte Kraft widmete er hier einer mächtigen wirtſchaftsgeſchichtlichen Forſchung. 1862 begründete er die Jahrbücher für Nationalökonomie und Statiſtik und erhob ſie bald und auf die Dauer zu dem führenden Fachblatt erſten Ranges. 186 eröff— nete er das ſtatiſtiſche Bureau vereinigter thüringiſcher Staaten: hier wurde ſtaatswirtſchaftliche Forſchung getrieben, wurden die tüchtigſten jungen Nationale ökonomen erzogen wie Conrad, Scheel, Miaskowski. Hildebrands Lehrgabe und Lehrluſt wurden nicht müde, den hiſtoriſchen Sinn und das volkswirtſchaft— liche Verſtändnis miteinander zu bilden; wenige waren ſich damals ſo klar wie er darüber, daß das Verſtänd— nis der Gegenwart auch auf ſeinem Gebiete in leben— diger Beziehung ſtehe zu dem der Vergangenheit, daß keins ohne das andere gedeihen könne. Von dieſem Standpunkt aus war er entſchiedenſter Gegner des geſchichtsloſen Sozialismus, war er ſich der Grenzen gegen die alles mit gleichem Maße meſſende Natur— wiſſenſchaft bewußt: die Wirtſchaft der Völker war

Nationalökonomiſche Schriften 189

ihm wie ihre Sprache, ihre Literatur, ihr Recht, ihre Kunſt ſtets ein Glied der geſchichtlichen Entwicklungs- kette, und an dieſe auch den paſſenden Ring der Gegenwart ſchmieden zu helfen ſah er als eine Hälfte der Aufgabe des Nationalökonomen an. 1861 und 1866 ſchrieb er über die Bevölkerung des alten Ita— liens, 1862 und 1869 über die Verteilung des Grund— beſitzes im klaſſiſchen Altertum. Wie in der Antike machte er ſich im Mittelalter zu Hauſe und behandelte daraus 1866 und 1869 die deutſche Woll- und Leinen— induſtrie, 1872 und 1875 Preiſe, Löhne und Steuern in Altheſſen. Seine entſcheidendſten Studien aber waren die über die gegenwärtigen Aufgaben der Na— tionalökonomie (1863), Natural-, Geld- und Credit— wirtſchaft (1864) und über die Entwicklungsſtufen der Geldwirtſchaft (1876). 1878 erloſch mit ihm eines der für deutſches Leben und deutſche Wiſſenſchaft be— deutendſten Gelehrtenleben des Zeitalters.

Bei ſo ſtarkem Hervortreten des geſchichtlichen Denkens und ſo weitgehender Beſchränkung des ſyſte— matiſchen: was war das Schickſal des jenaiſchen Lehr— ſtuhls für Philoſophie ſelbſt? Fünfzehn Jahre ver— waltete ihn der hervorragendſte neuere Geſchicht— ſchreiber der Philoſophie, Kuno Fiſcher. Seine be— ſondre Gabe war es, große fremde Gedankenſyſteme von ihren ſchöpferiſchen Punkten aus nachzudenken und neuzubilden. So hatte er als Heidelberger Dozent ſeit 1850 und dann als Privatgelehrter die Reaktion

190 Kuno Fiſcher

legte ihm dort das Handwerk die erſten drei Bände ſeiner vielgerühmten Philoſophengeſchichte geſchrieben; drei und einhalb Jahre ließ man ihn auf eine ander⸗ wärtige Berufung harren, Berlin konnte zu keinem Schluſſe kommen, da meldete ihm Seebeck Ende 1856 die Ernennung nach Thüringen, und der greiſe Hum— boldt ſchrieb an Bunſen: „So hat das kleine Jena einmal wieder die Ehre von Deutſchland gerettet.“ In Jena verfaßte Fiſcher die Bände über Kant (1861) und über Fichte (1869); daß die neue Philoſophie trotz Hegel an Kant anzuknüpfen habe, wurde ihm Glaube und Bekenntnis. Den älteren Philoſophen huldigte er von neuem durch ſeine Überſetzung der Hauptſchriften von Descartes (1863) und eine knappe, liebevolle Darſtellung von Spinozas Leben und Cha— rakter (1865). Seine glänzende Beredſamkeit zog alle Gelehrtenkreiſe des unphiloſophiſchen Zeitalters an, der Weimarer Hof berief ihn zu Vorleſungen ins Schloß und vertraute ihm die wiſſenſchaftliche Führung des Erbgroßherzogs zeitweilig an; der Boden der klaſſiſchen Dichtung ermunterte ihn, auch die Erklärung Schillers und Goethes zu betreiben. Wiederholt be— mühte ſich Heidelberg vergebens, ihn zurückzugewinnen; erſt dem dritten Rufe dorthin folgte er 1872. Während die Philoſophie zur Geſchichte der neueren Philoſopheme wurde, zogen die Naturwiſſenſchaften aus, unterſtützt von der Mathematik, einen ganz neuen Unterbau alles ſich entwickelnden Lebens anzulegen.

Mathematik, Phyſik, Botanik 191

Und daran erſt recht hatte Jena am hervorragendſten teil. Der beſonnene Karl Snell freilich, ſeit 1844 Ordinarius für Mathematik und Phyſik und erſt 1886 achtzigjährig geſtorben, war zu keiner großen Wirkung berufen, ſo behaglich ſicher ſeit 1846 ſein zweibändiges Werk in die Differential- und Integralrechnung ein— führte, ſo klar er ſich 1858 über „Die Streitfrage des

Naturalismus“ als erkenntnistheoretiſches Problem äußerte. Auch ſein Nebenmann als Extraordinarius, Hermann Schaeffer aus Weimar, ein treuer Kauz, 1850 in Jena für Mathematik habilitiert und ein halbes Jahrhundert hier lehrend, auch Phyſik, war nicht genug ſelbſtändig ſchaffender Gelehrter, um bei all ſeiner Herzensgüte und ſeinem urſprünglichen pädagogiſchen Geſchick eine wiſſenſchaftliche Führerrolle übernehmen zu können. Die große naturwiſſenſchaftliche Förderung kam von den biologischen Einzelwiſſen— ſchaften, von Botanik und Zoologie.

In der erſten Hälfte des Zeitalters war die Botanik an der Spitze. Schleiden lehrte ſeit 1850 als Jenaer Ordinarius und hatte von hier aus ſchon im Jahr— zehnt vorher, namentlich durch ſeine „Grundzüge der wiſſenſchaftlichen Botanik“ unter der Fahne der In— duktion Schüler auch außerhalb Jenas zu ſammeln begonnen; ſein Werk „Die Pflanze und ihr Leben“ warb bis Mitte der ſechziger Jahre in dieſem Sinne fort. Der ſpekulativ-⸗naturphiloſophiſchen Richtung, als deren Haupt Nees von Eſenbeck galt, des alten Goethe

192 Pringsheim und Haeckel

einſtiger Korreſpondent, wurde durch das Mikroskop der Garaus gemacht. Auch durch ſein Handbuch der medi— ziniſch-pharmazeutiſchen Botanik(1852 ff.) übte Schleiden großen Einfluß; 1862 zog er ſich vorzeitig ins Privat— leben zurück. Zu ſeinem Nachfolger beſtellte man Pringsheim, einen jungen um die Kryptogamen-, beſonders die Algenforſchung verdienten Gelehrten, der auch weiterhin als wiſſenſchaftlicher Botaniker eine führende Rolle ſpielte; aber von Jena ſchied auch er ſchon 1868 wieder.

Inzwiſchen war der Stern Haeckels aufgegangen. Haeckel habilitierte ſich 1861 in Jena und wurde hier bereits im folgenden Jahre außerordentlicher und 1865 ordentlicher Profeſſor der Zoologie, einunddreißig Jahre alt. Dieſen frühen Erfolg verdankte er nament— lich ſeiner 1862 erſchienenen großen Monographie der Radiolarien. Und in der Ausarbeitung derartiger umfaſſender, eindringender, prächtig und anſchaulich ausgeſtatteter Einzelſtudien aus den niederſten Stufen der Tierwelt fuhr er fort: 1869 veröffentlichte er die „Entwicklung der Siphonophoren“, 1872 die Monographie der Kalkſchwämme woran ſich 1877 die Studien zur Gaſträatheorie ſchloſſen, d. h. zu dem Gedanken, alle becherkeimförmigen Lebeweſen auf eine gemeinſame Stammform zurückzuführen 1879 die Monographie der Meduſen uſw. Das alles wirkte nur auf die Kreiſe der zünftigen Naturwiſſenſchafter. An dieſe wandte ſich Haeckel auch 1866 mit ſeinem erſten uni—

Genetijierung der Morphologie 193

verſalen Werk, der Generellen Morphologie der Orga— nismen. Die Morphologie, die Goethe als Idealnexus geahnt, aber als geſchichtswirkliche Möglichkeit noch nicht genau ins Auge gefaßt hatte, die Darwin aber in dieſem Sinne mit ſeiner Ausleſetheorie aufzurollen begonnen hatte, unternahm Haeckel durchgehend ſo auszubilden; er ging bis auf den Grund der Möglich— keit der Entſtehung organiſcher Weſen aus anorgani— ſchem Stoff, wobei er dem Pflanzen— und Tierreich ein primitives Zwiſchenland in den Protiſten geſellte, er förderte die individuelle Ontogenie (durch das bio— genetiſche Grundgeſetz) und begründete die Phylogenie, die Entwicklungsgeſchichte organiſcher Stämme. Als die Mehrheit der Fachgenoſſen ſein Werk lau aufnahm, wandte er ſich mit einem Auszug an die gebildeten Laien, und dieſer, die Natürliche Schöpfungsgeſchichte, wurde von 1868 bis 1873 ſofort viermal aufgelegt. 1874 ließ er als zweites großes populär-wiſſenſchaft— liches Werk über Darwinſche Fragen die Anthropo— genie folgen, bekanntes und neues miſchend; den An— griffen einiger Anatomen darauf antwortete er 1875 in der Schrift: Ziele und Wege der heutigen Ent— wicklungsgeſchichte. So wuchs die Zahl der Leſer in Deutſchland wie der Hörer in Jena, und auch auf drei Verſammlungen deutſcher Naturforſcher und Arzte ver— kündete Haeckel ſeine Anſichten: 1863 in Stettin wurde er mit Achſelzucken aufgenommen, 1877 in München

wahrte er die Freiheit ſeiner Forſchung und ihre Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 13

194 Anfänge von Abbe und Zeiß

politiſche Unschuld ſiegreich gegen Virchow, und 1882 in Eiſenach feierte er den eben verſchiedenen Darwin in der Zuſammenſtellung mit Goethe und Lamarck. Goethes morphologiſche Gedanken, Jenas Landſchaft förderten und beglückten ihn, obwohl es den frohſchwei— fenden Draufgänger immer wieder zu großen Studien- reiſen in die Ferne trieb: ſeine Indiſchen Reiſebriefe (1882) entwarfen ein Bild der Tropenvegetation, wie es ſeit Humboldts Kosmos kein Deutſcher weder ge— wagt noch vermocht hätte.

Beſcheidner, aber gewiſſer ging Ernſt Abbe ſeinen Weg. Das Eiſenacher Arbeiterkind wurde an der Jenaer Univerſität der Schüler Schleidens und kehrte nach auswärtigen aſtronomiſchen Studien 1863 hierher wieder zurück, um ſich für Mathematik und Phyſik zu habilitieren. Auch wurde er 1870 außerordentlicher Profeſſor und 1877 Direktor der Sternwarte, aber daneben war er ſchon ſeit Mitte der ſechziger Jahre ſtiller Mitarbeiter in der kleinen optiſchen Werkſtatt von Zeiß, die ſeit 1846 beſtand. Karl Zeiß, eines Weimarer Drechslers Sohn, war in Jena von Schleiden auf die Herſtellung von Mikroskopen gelenkt worden und erkannte, daß hier bei beſſerer Verknüpfung von Wiſſenſchaft und Technik etwas feineres als bisher zu machen ſein müſſe; Abbe wurde ſein vertrauter Berater. Abbe dachte die Theorie des Mikroſkops zum erſten— mal phyſikaliſch und mathematiſch ganz durch, während bis dahin ein Teil der Herſtellung immer dem Pro—

Theorie des Mikroſkops 195

bieren auf Glück überlaſſen geweſen war. 1873 ver- öffentlichte er als neue Grundlage ſeine „Beiträge zur Theorie des Mikroſkops und der mikroſkopiſchen Wahr- nehmung“, 1874 las er zuerſt über Optik, 1876 er⸗ kannte er bei Beurteilung der Mikroſkopabteilung einer internationalen Ausſtellung in London, daß er Eng— länder und Franzoſen überflügelt hatte. Noch bedurfte er eines feineren Glaſes: wer lieferte ihm das? Wenn ſich zu den hervorragenden Spezialindividualitäten des Gelehrten und des Metalltechnikers noch der entſpre— chende Glasproduzent fände, welche Verbindung von Wiſſenſchaft und Wirtſchaft konnte daraus im folgenden, ſozialer Verpflichtung geneigten Zeitalter entſtehen! Das Abbeſche Mikroſkop tat ſeine erſten großen Dienſte in der Medizin: Robert Koch u. a. entdeckten mit ihm Bazillen, die vorher unerkennbar geweſen waren. Noch enger ſprach ſich für Jena der Zuſammenhang der neuen Naturwiſſenſchaften und der mediziniſchen Fakultät darin aus, daß Haeckel vom praktiſchen Arzt zum gelehrten Naturwiſſenſchafter wurde, und daß er das tat auf den Rat ſeines Freundes Gegenbaur, der umgekehrt aus derfphiloſophiſchen in die medizinische Fakultät übertrat. Unter den gleichzeitigen Jenaer Medizinern dem ſpäter in Berlin leitenden Kliniker Gerhardt, dem Gynäkologen Schultze und dem Ana— tom Müller, die mit dem Phyſiologen Czermak an der damaligen Blüte Jenas teilhatten war Gegen—

baur der bedeutendſte. Von Hauſe und Studium aus 13*

196 Gegenbaur

Würzburger hatte er ſchon 1851 als Doktorand die Veränderungen der Pflanzenwelt, die Unbeſtändigkeit der Art mit dem Gedanken behandelt, daß ſich daraus die Möglichkeit einer Entwicklung ergebe; vor Darwin hatte er den Gedanken des genetiſchen Zuſammen— hangs der Organismen klar erfaßt. 1855 kam er als außerordentlicher Profeſſor der Zoologie nach Jena, 1858 übernahm er den Lehrſtuhl für Anatomie von dem damals die Phyſiologie abgetrennt wurde, eine Spaltung, in der die meiſten deutſchen Univerſitäten dem Beiſpiel Jenas folgten —, und nun wandte er ſich beſonders der Anatomie der Wirbeltiere zu, wäh— rend der ſechziger Jahre in Freundſchaft mit Haeckel vorwärts gehend, deſſen Generelle Morphologie ihm mit Worten herzlichen Dankes gewidmet wurde. Hatten Gegenbaurs „Grundzüge der vergleichenden Anatomie“ in ihrer erſten Ausgabe (1859) nur eben den im Tier⸗ reich beſtehenden Zuſammenhang etwa im Sinne Goethes bemerkt auf Grund der beſtehenden „Zwi— ſchenglieder, die ſich wie Brücken über die Kluft der Grundtypen hinüber bauen und für die im Tierreiche waltende Einheitsidee Zeugnis ablegen“, ſo führte die zweite Ausgabe (1870) den Deſzendenzgedanken un— verſchleiert aus: die „Verwandtſchaft“ der Organismen habe keine bloß bildliche Bedeutung, ſondern es ſei nun die Aufgabe der vergleichenden Anatomie, „die mannigfachen, aus der Anpaſſung erworbenen Um— wandlungen der Organe Schritt für Schritt zu ver—

Vergleichende Anatomie 197

folgen“; das Ziel der vergleichenden Anatomie ſei alſo die Geſchichte des Organismus und ſeiner Teile. Auf dieſes Ziel hat Gegenbaur in Jena durch eine Reihe vorzüglicher Einzelunterſuchungen hingeſteuert: die Bildung des Knochengewebes (1864), die Bruſtfloſſe der Fiſche (1865), das Herz der Fiſche (1866), der Zuſammenhang zwiſchen dem primitiven Floſſenſkelett und dem Gliedmaßenſkelett landlebender Wirbeltiere wurden mit vielen neuen Beobachtungen und weit— tragenden Erwägungen dargelegt. Später in Heidel— berg, wohin er 1873 ſeinem Freunde K. Fiſcher folgte, bekannte Gegenbaur: „Jena war für mich in jeder Hinſicht eine hohe Schule, aus der ich vielfach belehrt hervorging, und alles, was ich in ſpäterer Zeit ge— leiſtet, hat dort ſeine Quelle und gibt mir Urſache zu dauerndem Dank.“

Das hätte mancher Jenaer Dozent und Student von ſich ſagen können. Auf engem Raume ein nahes Verhältnis der Fakultäten, im Herzen Deutſchlands die unmittelbaren Erinnerungen an Goethe und Schiller, Burgenromantik und proteſtantiſches Und doch! ernſte, raſtloſe Forſchung und froher Jugendſinn: wo wehte ſolcher Odem ſchöner freier Menſchlichkeit? Populär⸗-wiſſenſchaftliche Vorträge in den Roſenſälen, von Göttling und Haſe 1846 begründet, von Fiſcher und anderen gepflegt, ließen die nichtakademiſche Bürgerſchaft an dieſem Geiſte der Hochſchule teil— nehmen. Griff doch die Univerſität auch in das Muſik—

198 Akademiſcher Geſangverein, Pädagogik

leben bedeutend über: Ernſt Naumann und fein Afa- demiſcher Geſangverein gingen 1869 mit der Auf- führung des Brahmsſchen Requiem und 1870 mit der ſeiner Rhapſodie aus Goethes Harzreiſe vielen deutſchen Städten voran.

Und ſo trieb die Univerſität noch einen anderen merkwürdigen Abſenker in der Stadt, die Stoyſche Schule. Stoy war ſeit 1846 außerordentlicher, ſeit 1857 ordentlicher Honorarprofeſſor der Pädagogik; er leitete das pädagogiſche Seminar, dazu ſeit 1844 eine private gymnaſiale Erziehungsanſtalt von Ruf (bis 1870) und eine zweiklaſſige (Armen-) Schule. Aus dieſer wurde 1848 die ganze zweite Knabenſchule der Stadt, 1854 ſiedelte er mit ihr in ein eigenes Haus mit Garten über, und 1858 beim Univerſitätsjubiläum feierte ſie die Weihe des unter großen Opfern Stoys und durch ſeine unermüdliche Liebe geförderten Neu— baus mit dem Glockentürmchen und dem Schulgarten und der Turnhalle, der erſten ihrer Art in Deutſchland. Nach einer ſpäteren Unterbrechung durch einige Heidel— berger Jahre und ein fruchtbares Semeſter in Oſter⸗ reich hat Stoy dieſe Schule bis zu ſeinem Tode (1885) regiert. Von hier aus gingen die Gedanken einer neuen Erziehung, der Pädagogik Herbarts, von Stoy vorbildlich und gemäß der kleinen beſcheidnen tapfern Stadt verwirklicht, in das deutſche Schulweſen über.

—— Nn

Muſik, Bühne, Dichtung

Wie Jena nicht ohne Kunſt war, ſo war das Weimar der erſten dreißig Jahre von Carl Alexanders Regierung nicht ohne Wiſſenſchaft. Am Gymnaſium wirkten namhafte Philologen, an der Bibliothek Gelehrte von deutſchem Ruf. Ludwig Preller aus Hamburg, ſeit den dreißiger Jahren unter den Mythologen geſchätzt, hatte ſich nach einer in nationaler Beklemmung ver— laufenen Dorpater Profeſſur und einem ausgiebigen Aufenthalt in Italien 1846 als Profeſſor in Jena angeſiedelt; ſchon 1847 berief ihn die Regierung nach Weimar an die Spitze der Bibliothek. Maria Paulowna hörte in den letzten zwölf Jahren ihres Lebens gern ſeine wöchentlichen Vorträge, und Stich— ling wurde ſein Freund; während Preller der Groß— herzoginwitwe 1860 ein literariſches Denkmal ſetzte, hielt Stichling dem bald darauf Verſchiedenen in der Loge eine Gedenkrede und rühmte, „feine bei aller Eckigkeit und Unlenkſamkeit doch elaſtiſche, weil phantaſiereiche Natur.“ Preller verzeichnete die vielen wertvollen Handſchriften der Bibliothek zum erſtenmal; in den fünfziger Jahren galt er als einer der hervorragendſten deutſchen Mythologen des klaſſi—

200 Weimarer Bibliothekare

ſchen Altertums: ſeine nach manchen Einzelſtudien zuerſt 1854 veröffentlichte Griechiſche Mythologie erſchien ſchon 1860 in zweiter, ſeine Römiſche Mythologie zwiſchen 1858 und 1883 in drei Auflagen.

Auch Schöll aus Brünn, der Goethephilolog, nach Preller zwanzig Jahre als Leiter der Bibliothek tätig, hatte mythologiſche Studien getrieben, wie er denn ein außerordentlich kundiger Kunſtgelehrter war, dabei ein geiſtvoller Redner und zum Hauptberater bei der Pflege und Fortſetzung der klaſſiſchen Tradition Weimars wie geſchaffen. Schon 1843 als Direktor der großherzoglichen Kunſtſammlungen und der freien Zeichenſchule nach Weimar berufen, hatte er bei man— chem künſtleriſchen und literariſchen Unternehmen eine bedeutende Stimme abzugeben, und die vornehme Geſelligkeit ſeines gaſtfreien Hauſes erhöhte ſeinen Wert. Er erkannte ebenſo ſicher die beſondern Vor— züge von Klaus Groth und Hebbel, wie er, ſämtliche Dramen von Sophokles überſetzend, ſtellenweiſe eine zweifelhafte Annäherung an Euripides bei ihnen her— ausfand oder das altfränkiſche in Pindars Stil mit der gleichzeitigen archaiſchen Bildhauerkunſt in Beziehung zu ſetzen wußte. Mit Shakeſpeare und Herder, mit Schiller und Goethe war er innig vertraut.

Neben Preller und neben Schöll ſtand als dritter Bibliothekar ſeit 1856 der junge Reinhold Köhler, in Weimar geboren und in Jena promoviert, zuletzt gleich— falls Bibliotheksdirektor, ein beſcheidner Meiſter der

Neu-Weimar- Verein 201

Märchenforſchung, ein hervorragender Kenner der deutſchen Kleinepik alter und neuer Zeit, ein gelehrter Helfer deutſcher Philologen allerwärts. Erſt nach ſeinem Tode (1892) wurden ſeine Einzelſtudien geſammelt; in den ſechziger und ſiebziger Jahren trat er ſelbſt nur ſelten hervor, z. B. indem er den Text Heinrichs von Kleiſt von den Retuſchen Tiecks und Julian Schmidts ſäuberte und Herders Cidquellen nachwies. Köhler gehörte zu dem ſich auftuenden „Neuweimarverein“, man ſah ihn im Lager Liſzts, und Peter Cornelius wurde ſein Herzensfreund, während Schöll eine Art Gegenpol zu Liſzt bildete. Denn Muſik tat in den fünfziger Jahren die aufregendſte Wirkung des neuen Weimars auf Deutſchland.

Daß Liſzt, der wanderſüchtige, in Weimar für mehr als ein Jahrzehnt ſtandhielt, wurde teils durch ſeine Anſtellung gewährleiſtet, teils durch das Zuſammen— leben mit der Fürſtin Wittgenſtein. Sie hatte er Anfang 1847 in Kiew kennen gelernt, eine ſehr reiche Polin, hoher Schwärmerei in katholiſcher Kirchennarkoſe fähig, von beweglichſter Verſtandeskraft, ohne oft ein echtes Verhältnis zum Daſein finden zu können, Mutter einer zehnjährigen Prinzeß Marie, Gattin eines un— geliebten Gemahls. Ein Jahr darauf kurz vor der Märzrevolution floh ſie nach Einreichung der Scheidungsklage mit ihrer Tochter aus Rußland, um ſich mit Liſzt vermählen zu können, und ſtellte ſich auf ſeinen Rat unter den Schutz Maria Paulownas,

202 Liſzt und die Fürſtin Wittgenſtein

mit der fie als Kind am Petersburger Hofe zuſammen⸗ geweſen war. Die Großherzogin wies ihr das ſtattliche Gebäude der weimariſchen Altenburg eines jener auf dem Oſtufer oſtmitteldeutſcher Städte geſondert gelegenen Grundſtücke, deren Name auf älteſte befeſtigte Siedelungsſtätte am Orte deutet, zur Miete an. Hier erwartete die Fürſtin die Scheidung ihrer ruſſi— ſchen Ehe, zwölf Jahre umſonſt, hierher zog Liſzt, hier bildete ſich eine Art Muſenhof um beide, und das nahe Wäldchen, das Webicht, wurde zum Mittelpunkt neueſter Kulturbeziehungen. Aber die Fürſtin erhielt den ruſſiſchen Staatsbefehl, in ihre Heimat zurückzu— kehren; ſie folgte nicht, ward aus Rußland ausgewieſen, und Weimars Hof und Geſellſchaft zogen ſich von ihr zurück. Als endlich doch die ruſſiſchen Konſiſtorien in die Scheidung willigten, erhob der Biſchof von Fulda Bedenken, dem ſie in Weimar unterſtand; ſie eilte 1860 nach Rom, um beim Papſt die neue Schwierigkeit zu überwinden, und kehrte nicht zurück. Um dieſelbe Zeit löſte Liſzt fein dauerndes Weimarer Verhältnis.

Liſzts Perſönlichkeit war nach Geburt und Heimat aus deutſchem und ungariſchem gemiſcht, nach Kultur und Bildung war er teils Römling, teils Franzoſe. Mitten in ſeiner Weimarer Zeit, 1853, erklärte er in einem für die Offentlichkeit beſtimmten Brief an einen Deutſchen: „Ich ſchreibe Ihnen heute franzöſiſch; denn da ich die Gewohnheit habe, in dieſer Sprache zu denken, ſo iſt es mir bequemer, auf dieſe Weiſe die

Sinfoniſche Dichtungen: Hercide funebre 203

Ideen auszudrücken“. Es war damals ein neues Stre— ben in ihm; ſeine Pianiſtenlaufbahn glaubte er völlig abgetan. „Einſtweilen arbeite ich friedlich, ſoviel ich kann, mit Kopf und Feder, und nur bei ſolchem Ar— beiten, durch einige Jahre hin, wird es mir möglich ſein, jene Stufe hoher und wohlgegründeter Anerken— nung zu erlangen, die ich ernſthaft erſtrebe.“ Wenn er von Weimar aus durch neuartige Orcheſterwerke wirkte, „ſinfoniſche Dichtungen“, ſo wurzelte die erſte Gruppe davon in ſeiner franzöſiſchen Jugend.

Er war mit zwölf Jahren nach Paris übergeſiedelt, hatte dort als neunzehnjähriger die Revolution von 1830 erlebt und darüber eine Sinfonie entworfen; deren erſten Satz arbeitete er 1849 in Weimar, als ähnliche Zuckungen durch Deutſchland nachbebten, zu einer Héroide funèbre um. Gedämpfte Wirbel der Militärtrommel, Poſaunenſtöße auf gute, verminderte Septimenakkorde der Holzbläſer auf ſchlechte Taktteile, chromatiſches Gegeneinanderſichwinden des Streich— quartetts als Einleitung und dann ein großer Trauer— marſch ähnlicher Art in F-Moll mit kurzem ſüßen Zwiſchenſang in Des-Dur: damit wollte er, wie fein Vorwort ſagte, die „roten Finſterniſſe“ des Schmerzes ſchildern, der bei gewaltſamer Zerſtörung alter Ordnung durch die Welt geht, den Schrei des Entſetzens und das Schweigen nach der Kataſtrophe, und die Grabhügel der Gefallenen in ſchimmernde Schleier hüllen. Pro— grammuſik! Anfang der dreißiger Jahre hatte er mit

204 Mazeppa und Bergiinfonie

Victor Hugo freundlich verkehrt und ſich von deſſen leidenſchaftlich überladener Mazeppaviſion zu einer wilden Klaviermuſik hinreißen laſſen; die ſetzte er 1850 in Weimar ins Orcheſter um und damit erſt in ihr wahres naturaliſtiſches Element ein. Ein Beckenſchlag (Peitſche) übergrellt den erſten diſſonanten Bläſer— ſchrei, das Streichquartett haſtet bald in knirſchenden Triolen, bald in Pizzikatogezupf und Bogenholzge— klapper durcheinander, während die Holzbläſer lange Wehlaute ſtöhnen, große Triller der einen Hälfte der Orcheſterſtimmen, chromatiſches Abwärtswimmern der anderen: die Leidensgaloppade des Koſakenhetmans und zugleich die Qual des an die Wirklichkeit geſchmie— deten grandioſen Menſchengeiſtes! Ein andres Hugo— ſches Gedicht beſchäftigte ihn noch länger: keine ſinfo— niſche Dichtung hat er ſo durch- und umgearbeitet wie Ce qu'on entend sur la montagne; auf den Ent— wurf in den dreißiger Jahren folgte die Inſtrumen— tation in Weimar 1849, eine erſte Aufführung hier 1853, und 1857 ſtellte er das Werk an den Anfang der großen Veröffentlichung von neun Arbeiten gleicher Art. Hugo hatte von einer Höhe am Meer herab aus dem Rauſchen des Alls zu ſeinen Füßen zwei Stimmen herausgehört: die heitere, friedevolle der Natur und das böſe Unglücksgeſchrei der Menſch— heit. In dieſen Gehörswahn verſenkte ſich Liſzt und legte ihn in engem Anſchluß an das Gedicht als aku— ſtiſche Wirklichkeit dar. Ein andermal packte ihn La⸗

Les preludes, Taſſo, Prometheus 205

martines Meditation, das Leben ſei eine Folge von Präludien zu dem erſten Feierklang des Todes, und er ſchrieb Les preludes über das Glück der Liebe, den Sturm, der es zerreißt, die Erholung in der Stille des Landes und das neue Hinaustreten in den Kampf des Lebens.

So unweimariſch, vollends ungoethiſch die erſten dieſer Werke waren, mit den Préludes war doch die Möglichkeit gegeben, ſich den Gedanken unſerer Klaſ— ſiker zu nähern, und nun veranlaßte Weimars Boden Liſzt wirklich, auch Goethe, Herder und Schiller ſinfo— niſch zu bedenken. Taſſo freilich wurde nicht eben goethiſch angefaßt. Byron hatte die Klage des un— glücklichen Dichters im Kerker gedichtet; dieſe gab Liſzt wieder und legte ihr eine ſchwermütige venezianiſche Melodie zugrunde, in der er die Lagunenſchiffer die Anfangsſtrophen von Taſſos Jeruſalem hatte ſingen hören. Auch für die Fortſetzung des Werkes griff er außerhalb von Goethes Dichtung und ſchilderte den Triumph des Dichters auf dem Kapitol. So entſtand als Einleitung zur Weimarer Taſſoaufführung an Goethes hundertſtem Geburtstag Liſzts Tasso aus Lamento e trionfo. Als im folgenden Jahre Herders Weimarer Denkmal enthüllt und im Theater ſein Entfeſſelter Prometheus mit neuer Liſztſcher Muſik geſungen wurde, gab Liſzt eine Ouvertüre zu, die er ſpäter unter die ſinfoniſchen Dichtungen aufnahm: darin ſtellte er einen ähnlichen Gegenſatz wie im Taſſo

206 Feſtklänge, Orpheus, Die Ideale

dar, kühnen Trotz des Dulders und triumphierende Hoffnung auf Befreiung. Für das Weimarer Jubi⸗ läum Maria Paulownas 1854 entſtanden als Einlei⸗ tung zu Schillers Huldigung der Künſte die rauſchen⸗ den Feſtklänge. Kurz darauf gab eine Aufführung von Glucks Orpheus Anlaß, das Weſen beſänftigender, beſeligender Kunſt in Erinnerung an das Orpheus⸗ bild einer etruriſchen Vaſe im Louvre in prangen⸗ den Akkorden unter dem Namen dieſes Sängers an- zudeuten und auszumalen oder, wie Liſzts phraſen⸗ duftendes Vorwort ſagte, „den verklärten ethiſchen Charakter der Harmonien, welche von jedem Kunſtwerk ausſtrahlen, zu vergegenwärtigen, die Zauber und die Fülle zu ſchildern, womit ſie die Seele überwältigen, wie fie wogen gleich elyſiſchen Lüften, Weihrauch— wolken ähnlich mählich ſich verbreiten; den lichtblauen Ather, womit ſie die Erde und das ganze Weltall wie mit einer Atmoſphäre, wie mit einem durchſichtigen Gewand unſäglich myſteriöſen Wohllauts umgeben“. “) Und endlich 1857 das Septemberfeſt der Weihe des Denkmals für Goethe und Schiller. Binnen wenigen Wochen ſchrieb dafür Liſzt eine große orcheſtrale Para— phraſe der Empfindungen, die in Schillers Gedicht Die Ideale vorüberziehen: Wehmut beim Scheiden der Jugendideale, Glück der Erinnerung an ſie, an die Zeit des Aufſchwungs, der Allbelebung durch liebende

*) Überſetzung von Peter Cornelius.

Fauſtſinfonie, Hungaria 207

Jugendluſt, der Erwartung von Liebe, Glück, Ruhm und Wahrheit, die Enttäuſchung auf des Weges Mitte und die bleibende Erquickung durch Freundſchaft und emſige Beſchäftigung; und ſchwärmeriſch, wie er war, fügte er einen Schluß hinzu, con somma passione zu ſpielen: „Das Feſthalten und dabei die unaufhalt— ſame Betätigung des Ideals iſt unſers Lebens höchſter Zweck. In dieſem Sinne erlaubte ich mir das Schiller— ſche Gedicht zu ergänzen durch die jubelnd bekräfti⸗ gende Wiederaufnahme der im erſten Satz voraus— gegangenen Motive als Schluß-Apotheoſe.“ Bei dem— ſelben Feſte huldigte Liſzt auch Goethe, mit der erſten öffentlichen Aufführung feiner 1855 komponierten Fauft- ſinfonie. Sie zeichnete in drei Sätzen die Charaktere Fauſts, Gretchens und Mephiſtos, ein Gewebe von Bühnen- und poetiſchen Eindrücken, die genialſte, die plaſtiſchſte aller dieſer ſinfoniſchen Schöpfungen. Im dritten Satze führte Liſzt aus, wie die mephiſtophe— liſchen Klänge durch fauſtiſche und gretchenhafte über— wunden werden, und konnte ſo mit dem Chor „Alles vergängliche iſt nur ein Gleichnis“ ſchließen.

Mit einigen ſolcher Werke begab ſich Liſzt in Weimar dann auch wieder auf das Gebiet internationaler An— regungen. 1853 inſtrumentierte er einen ungariſchen Klaviermarſch für Orcheſter erweiternd um zu der ſinfoniſchen Dichtung Hungaria. Maria Paulowna legte ihm eine Kompoſition „Das Drama der Ge— ſchichte“ nach Kaulbach nahe; wirklich dachte er darauf

208 Hunnenſchlacht, Danteſinfonie, Hamlet

an eine „Weltgeſchichte in Bildern (W. Kaulbach) und Tönen (Liſzt)“, aber nur die Hunnenſchlacht wurde 1856 ausgeführt. In demſelben Jahre näherte er ſich auch wieder ſtrengerem, gedrängterem Bau (wie im Fauſt) in der zweiſätzigen Danteſinfonie mit Andeu— tungen des Inferno und des Purgatorio, und 1859 entſtand die ſinfoniſche Dichtung Hamlet.

Soviel halbmuſikaliſches an all dieſen Werken war, da ſie vom Hörer verlangten, den an ſich mangel— haften Kompoſitionseindrücken mit allerlei Nebenvor— ſtellungen ſchauender und fühlender Phantaſie zu Hilfe zu kommen, ſo neu war das naturaliſtiſche Element ihrer Tonſprache im 19. Jahrhundert, ſo eng berührte es ſich mit der Wirklichkeitsſucht und dem Recht auf Wahrheit, das auf andern Gebieten damals Ober— waſſer bekam, und ſo feſt glaubte Liſzt an die Echtheit, ja auch an die Tiefe ſeiner unbändigen Gefühlsſprache. Aber dieſen Kraftäußerungen merkte man die Abſicht ſehr an, und ſie vereinten ſich ſchlecht mit dem großen Aufwand von Schönrednerei und Weihrauch, der ſie überall durchſetzte, und mit der Schwäche eigentlich kompoſitoriſcher Arbeit, die ſich in ihren vielen Se— quenzen, ihren pathetiſchen Uniſonos und ihrer oft ſeifenblaſigen Melodik verriet.

Ein Teil dieſer Mängel trat bei der Kirchenmuſik zurück, da dieſe bei jedem Hörer gewiſſe Stimmungen vorausſetzt und durch ihren Text beſtimmte Gedanken erweckt. Doch ergab ſich hier für die Evangeliſchen

Liſzts Kirchenmuſik 209

die neue Schwierigkeit, daß Liſzts kirchenmuſikaliſche Arbeiten vorwiegend katholiſches Weſen erhielten er hatte für ſich und die Fürſtin Caroline Wittgenſtein eine gemeinſame Betkammer in der Altenburg einrichten laſſen —, und für die Katholiken die, daß ſie teilweiſe eine ſehr ſubjektive Empfindungsſprache führten. Die größten ſeiner Schöpfungen in dieſer Gattung wurden meiſt ſpäter in Rom abgeſchloſſen; aber ihre Keime und Anfangsteile entſtanden in Weimar, ja ſeine friſcheſten Kirchenmuſikwerke ſchrieb er überhaupt hier. So den dreizehnten Pſalm und die 1856 vollendete Feſtmeſſe zur Einweihung der Kathedrale der unga— riſchen Stadt Gran; es war kein weiter Weg, der von den Naturſeligkeitsmotiven der Bergſinfonie zu dem Gloria dieſer Meſſe führte. Zur Zeit der ſich häufenden Weimarer Schwierigkeiten komponierte er aus dem geplanten großen Chriſtusoratorium die Seligpreiſungen „Les beatitudes, pour Carolyne‘ und ſchrieb dazu: „Elle est l’inspiration, la liberté et le salut de ma vie et je prie Dieu que nous fructifions en— semble pour la vie eternelle.‘

Ein beſonderes weimariſches Oratorium Liſzts wurde ſeine Legende von der heiligen Eliſabeth, der ungariſchen Prinzeſſin, die in der Blütezeit des Minne— ſangs und der Kreuzzüge Thüringens Landgräfin auf der Wartburg war. Roquette verfaßte ihm das Text— buch in ſechs Bildern: wie das Mägdlein auf die Wart—

burg kommt, wie ihr junger Gemahl das Roſenwunder Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 14

210 Die heilige Eliſabeth

mit ihr erlebt und wie er zum Kreuzzug Abſchied nimmt; wie ihre Schwiegermutter ſie in ſtürmiſcher Nacht vertreibt, ſie unter Werken der Barmherzigkeit verſcheidet und ſchließlich die feierlichſte Beſtattung durch den Hohenſtaufenkaiſer in der neuen Marburger Hauptkirche erhält. Liſzts Muſik verwandte dazu das älteſte kirchliche Gloria, neuere katholiſche Jeſushymnik und eine ungariſche Volksweiſe leitmotiviſch, vor allem einige altkatholiſche, melodiöſe Antiphonzeilen des Eliſa— bethtages, aus denen er auch die ſchwärmeriſche Ein— leitung wob; Ritterchöre und Unwetter ließen ihn Ge— pränge und Schrecken des Orcheſters entfalten. 1867 erklang das Werk auf der erneuerten Wartburg zu ihrer muſikaliſchen Weihe, und an ſeinem ſiebzigſten Geburtstag ſah es Liſzt in Weimar auch auf der Bühne, wohl nicht ganz mit ſeinem Willen; dank dem Gegenſtand und der Neuheit der oratoriſchen Mache brach es ſich in Deutſchland Bahn.

Der Naturburſche, der trotz großer Kulturfähig— keiten bei Liſzt dem Komponiſten wie dem Geſellſchafts— menſchen immer wieder durchbrach, machte auch ſein eigentlichſtes Weſen als Dirigent aus. Indem er bei der Orcheſterführung vor allem dem natürlichen Emp— finden mehr Geltung verſchaffen wollte, ſtellte er die Periodiſierung nach Motiven über das Taktſchlagen, behandelte er den Takt frei, den Rhythmus exploſiv, verzichtete am liebſten ganz auf den Taktſtock, beflügelte große Steigerungen mit ausgebreiteten Armen wie

Liſzt und Wagner 211

ein Adler und bildete ſo den Typus des Ausdrucks— dirigenten ſeines Zeitalters. Als ſolcher vermochte er die Opern des jungen Wagner, dieſe hervorragende Ausdruckskunſt um 1850, begeiſternd anzufaſſen, und Weimars Aufführungen von Fliegendem Holländer, Tannhäuſer und Lohengrin waren in den fünfziger Jahren berühmt, wie ſie das Weſen der Liebe mit neuer Glut malten und mit maſſigen Bühneneffekten umgaben. Als Wagner 1849 von Dresden nach der Schweiz floh, bereitete ihm Liſzt ein paar Ruhetage im Weimariſchen; damals hörte Wagner im Hoftheater hinter dem Vorhang der Hofloge verſteckt eine Probe des Tannhäuſer unter Liſzt, und die Lohengrinpartitur wurde auf der Altenburg in Verwahrung gegeben. Liſzt vergötterte ſie und führte das neue Werk an Goethes Geburtstag 1850 zum erſtenmal auf; Wagner war ihm unter den zeitgenöſſiſchen Muſikern wie ein „Veſuv unter künſtlichen Lämpchen, Feuergarben und Blumen auswerfend.“ Auch der Feſtſpielgedanke war zwiſchen beiden beſprochen worden; ſchon ſah Lifzt im Geiſte auf dem Weimarer Schießhausplatz die Bühne erſtehen, die ſpäter in Bayreuth gebaut wurde. Wie die Lohengrinmuſik die Eliſabethlegende beein— flußte, ſo entnahm Wagner manches aus Liſzts Kirchen— muſik für ſeinen Parſifal. Literariſch und dirigierend trat Liſzt ähnlich wie für Wagner nur noch für Berlioz ein: 1851 bot er den Weimarern deſſen Sinfonie

„Harald in Italien“ und 1852 die Oper Benvenuto 14 *

212 Allgemeiner deutſcher Muſikverein

Cellini, beides zum erſtenmal in Deutſchland. So ver- knüpften ſich damals die Namen Berlioz, Liſzt und Wagner als ein Dreigeſtirn moderner Muſik, und wie Berlioz die Damnation de Faust Liſzt widmete, ſo dieſer ſeine Fauſtſinfonie Berlioz, und Liſzt und Wagner einander Dante und Lohengrin.

Dieſe groß gedachte Weimarer Tätigkeit Liſzts wurde durch Konzert- und Dirigentenreiſen oft unterbrochen. 1853 leitete er ein mehrtägiges Muſikfeſt in Karlsruhe und 1857 in Aachen, beides wirkſame Unternehmungen zur Verbreitung der realiſtiſchen Muſik. 1859, als die Neue Zeitſchrift für Muſik in Leipzig ihr fünfund— zwanzigjähriges Beſtehen feierte, gründeten deren Häupter im Sinne Liſzts den Allgemeinen deutſchen Muſikverein zur Aufführung vor allem bemerkens— werter neuer Kompoſitionen auf jährlichen Tonkünſtler— feſten; der Großherzog Carl Alexander übernahm das Protektorat, das er ſich nicht leicht machte, und Liſzt das Ehrenpräſidium, und in den nächſten fünfund— zwanzig Jahren fanden dieſe Feſte dreimal in Weimar ſtatt, 1861, 1870 und 1884.

Inmitten all deſſen blieb zur Pflege von Kammer— muſik wenig Spielraum übrig, und doch hat Liſzt auch da teilweiſe von Weimar aus eine deutſche Wir— kung getan. 1858 erſchienen ſechs Hefte Lieder von ihm. Wie er Lenaus Drei Zigeuner da läſſig vortrug, die Singſtimme mit den feinſten Biegungen eines modern gehörten Rezitativs ausſtattete, in der Klavier—

Liſzts Lieder 213

begleitung bald die Rauchwölkchen des einen, bald das Gefiedel des andern, bald das Schläferglück des dritten zeichnete, das war als naturaliſtiſche Gabe unüber— trefflich, wenn auch unmittelbar vor dem Schritt zum Lächerlichen. Andrerſeits war von da auch nur ein Schritt zum Melodram: als ſolches behandelte er 1858 Bürgers Lenore, und der Totenritt zum Kirchhof und der Geiſtergeſindeltanz am Hochgericht wurden Meiſter— ſtückchen ſeines Klavierſatzes. Mit Goethes Liedern war er weniger glücklich; den König in Thule, Über allen Gipfeln zerkünſtelte er in exaltierte Teileffekte. Goethes inneres Maß war ihm ſo fremd, daß er der kleinen alten Hexe Bettina von Arnim, die ſeine Schillerverehrung jeſuitiſch nannte, erwiderte, daß ihm . der ſchlechteſte Jeſuit noch lieber wäre wie ihr ganzer Goethe. Einige hübſche Lieder ſchrieb er zu Texten der beiden unermüdlichen Hausdichter der Altenburg, Hoffmann von Fallersleben“) und Peter Cornelius. Auch die Klavierkompoſition des erſten Pianiſten der Welt, der er war, trat zurück; war er doch mehr mit

*) Hoffmann lebte von 1854 bis 1860 in Weimar, eine Zeitlang vom Großherzog zur Herausgabe eines germaniſtiſchen Weimariſchen Jahrbuchs unterſtützt und literargeſchichtlich fleißig tätig; namentlich förderte er ſeine Horae belgicae, und das treffliche Buch „Unſere volkstümlichen Lieder“ er— ſchien 1859 in zweiter Auflage. Der oft von ihm angeſun— genen Prinzeſſin Wittgenſtein verdankte er es, daß ihn 1860 der Herzog von Ratibor als Bibliothekar in Corvey an der

Weſer anſtellte, wo der Dichter von „Deutſchland, Deutſch— land über alles“ ſeinen Hafen fand.

214 Muſikaliſches Gefolge

orcheſtraler Inſtrumentation älterer Klavierſachen von ſich und anderen beſchäftigt, ſchließlich auch mit der der berühmteſten Schubertſchen Lieder, darunter ſolcher von Goethe, ſowie Schubertſcher Märſche und einiger Lieder von ihm ſelbſt, zweifellos ein barocker Zug. Nur in der erſten Hälfte der Weimarer Zeit raffte er ſich zu ſo einem gehaltvollen Klavierwerk zuſammen wie der großen einſätzigen H-Moll-Sonate, die er 1853 Schumann widmete: ihre trotzigen und ſehnſüchtigen Motive und ihre pianiſtiſchen Ränke erforderten den freieſten und raffinierteſten Spieler.

Um Liſzt ſammelte ſich eine Schar vorzüglicher junger Muſiker, zum Teil Bewohner der Altenburg und Gäſte der Fürſtin, alle entſchloſſen, dem muſikaliſchen „Fortſchritt“ zu huldigen. Liſzt nannte ſie ſeine Murls, ſeine jungen Mohren, und mit ihren künſtleriſchen und journaliſtiſchen Fähigkeiten wirkten ſie auf Deutſchland in ſeinem Sinne. Einige hatte er ſelbſt für das Wei— marer Orcheſter geworben, 1849 den jungen Geiger Joſef Joachim, 1850 Bernhard Coßmann, der ſich in Paris, Leipzig und London den Celliſtenlorbeer geholt hatte, und 1854 den Geiger Alexander Ritter, ſoeben mit Wagners Nichte verheiratet, einer bisherigen Schau— ſpielerin und nun begehrten Sprecherin von Melo— dramen. Seit 1850 befand ſich Joachim Raff in Liſzts Gefolge in Weimar, immer aufgelegt zu formgewandter Schnellproduktion im programmatiſchen Fahrwaſſer, anfangs namentlich für Klavier; er verlobte ſich 1853

1

Lieder von Cornelius 31;

mit der Schauspielerin Doris Genaſt, der Tochter des Weimarer Regiſſeurs. Hans von Bülow wurde 1852 Liſzts Lieblingsſchüler, dem ſein Freund und Mitſchüler Hans von Bronſart nicht gleichkam, erſt einige Jahre ſpäter in ähnlichem Grade der junge Pole Carl Tauſig. Der belgiſche Laſſen, der thüringiſche Draeſeke ver— pflichteten ſich in Weimars Luft der Fahne Liſszts, ſchon 1852 auch unter andauernden Kämpfen mit ſeinem beſſern Ich der feinfühlige Peter Cornelius. Faſt alle komponierten, am fertigſten damals Raff und Laſſen, am ungeſtümſten Draeſeke. Am eigenſten Cornelius, der am dauerndſten mit der Altenburg zu— ſammenhing und immer einmal einer andern Zuflucht bedurfte, um ſich da zwiſchen den ſtarken Weimarer Eindrücken und Literatenaufträgen wieviel mußte er von Liſzt und Berlioz überſetzen! wieder ganz zu finden. Das gelang ihm das erſtemal im Sommer 1853 auf dem Lande bei Saarlouis: dort ſandte er einer Muſikfreundin ſechs niedliche Gedichtchen als Briefe und komponierte ſie auch ſofort ebenſo beſcheiden poetiſch ſein opus 1 —, das vom Veil— chen und das vom Spinnchen in der Miſchung von feinem Humor und zartem Schwung, die ſein innerſtes Weſen war. In den folgenden Jahren wurde die Bernhardshütte auf dem Südabhang des Thüringer Waldes, wo eine Schweſter verheiratet war, zur poetiſch-muſikaliſchen Traumſchmiede, aus der immer neue Liederkreiſe hervorgingen, eine Vaterunſerfolge

216 Barbier von Bagdad

über katholiſche Intonationen, ſchüchterne Liebeslieder an die junge Prinzeß Wittgenſtein, „Trauer und Troſt“ beim Tode der Frau eines väterlichen Freundes mit dem ſchlichten Kunſtgeſpinnſt „Ein Ton“, teilweiſe in Weimar auskomponiert. Da oben ſchuf er ſeit Herbſt 1856 für ſeine Schwägerin ſechs Brautlieder und auf Weihnacht 1856 für das Haus der Schweſter ſechs Weihnachtslieder, die ſpäter noch kräftig umgearbeitet wurden: auf Liſzts Rat ſchrieb er das Dreikönigslied ganz neu und flocht den Morgenſternchoral darein. “)

In Bernhardshütte und Weimar ſchrieb Cornelius auch ſeine erſte Oper, den Barbier von Bagdad. Er verwand damit glücklich eine unerwiderte Liebe, zu Rückerts Tochter, und ſpielte die Poeſie des Orients, wie ſie der zeitweiſe erhoffte Schwiegervater geſchaffen hatte, im Humor gegen ſich ſelbſt aus und übertrumpfte Vater und Tochter Rückert ſamt ſeinem Schickſal, in— dem er aus dieſen Lebensſchlacken ein heiteres Bühnen— ſtück herausläuterte voll klingenden Verstandes und es mit ſeiner Muſik in Luſt und Schönheit liebenswürdig tränkte, einer Muſik, die Schumann und Berlioz näher ſtand als Liſzt und Wagner. Liſzt hatte ſeine Freude an dem ihm gewidmeten Werk, gab allerlei Winke für

*) Cornelius hat ſpäter je eine mehrſtimmige Kompoſi— tion zu Goethe und Schiller verfaßt; wunderlicher Eigenſinn ließ ihn „Troſt in Tränen“ als dramatiſche Szene auffaſſen und das Rütligelübde überdichten. Wieviel mehr ihm beide

waren als den meiſten Geiſtern der Altenburg, ſagt ſein Tagebuch.

Auflöſung der Altenburg 217

die Ausfeilung und führte es am 15. Dezember 1858 in Weimar auf. Es wurde ein Schickſalstag: die längſt gegen Liſzt angeſammelte Feindſchaft benutzte das Hervortreten dieſes unſchuldigſten ſeiner Schüler, den Meiſter zu treffen, und die Ziſcher überlärmten den Beifall. Liſzt verzichtete ſofort auf weitere Opern— direktion in Weimar, und in den nächſten Jahren verließen Cornelius und er die Stadt.

Faſt waren ſie die letzten des Reigens von der Altenburg. Denn ſchon 1853 war Joachim nach Han— nover gegangen, 1855 Bülow nach Berlin, 1856 Ritter nach Stettin, 1857 Raff nach Heidelberg, 1859 die Prinzeſſin Wittgenſtein als Fürſtin Hohenlohe nach Wien und 1860 ihre Mutter nach Rom. Was aber mehr wog: es kamen die ſiebziger Jahre, wo der Liſztſche Naturalismus allmählich veraltete, wo ſeine beſten Jünger ſich leuchtenderen muſikaliſchen Sternen näherten, der Kunſt von Bach, Beethoven und Brahms. Damals erfüllte der alte Liſzt den Wunſch des Groß— herzogs Carl Alexander, jährlich auf einige Sommer— monate nach Weimar zurückzukehren, und von 1869 bis zu ſeinem Tode 1886 hat er ſo dieſen deutſchen Mittelpunkt nochmals durch ſeine Kunſt und Lehre anziehend gemacht. Nun hauſte er im erſten Stock der Hofgärtnerei am Rande des Parkes, da fanden nun die Sonntagsmatineen ſtatt, da ſtellten ſich die jungen Klavierlöwen ein, von denen mancher eine Zierde des kommenden Zeitalters werden ſollte, da

218 In der Hofgärtnerei

ſammelte ſich wieder ein Schwarm internationaler Bewunderer. Denn Liſzt war noch Kaiſer unter den Pianiſten Europas und die faſzinierendſte Erſcheinung Weimars. Im April 1883 trat der junge Ruſſe Siloti zur erſten Stunde bei ihm ein. Es waren etwa fünf— undzwanzig Schüler und Schülerinnen da, Siloti ſpielte vor, und Liſzt griff öfters dazwiſchen. Als Siloti aufſtand, war es ihm, als ob ihn jemand be— zaubert hätte; er erzählt: „Ich ſah Liſzt an und fühlte, daß ſich etwas in mir vollzog und daß ganz neue und warme Gefühle mich plötzlich durchdrangen! . . Ich verließ Liſzts Haus wie ein neugeborener Menſch, mit dem Entſchluß im Auslande zu bleiben und bei ihm zu ftudieren.. Ich wurde mit einem Male ein Menſch, der weiß, was er will; ich wußte jetzt, daß es etwas gab, woran ich meine Seele wärmen konnte.. Ich wurde ein Weimarer.“

Auch Cornelius kehrte nach Weimar zurück, nur vorübergehend, aber zu einem bedeutenden Tage. Noch zur Zeit der letzten Arbeit am Barbier hatte er ſich auf die Suche nach einem neuen, ernſten Opern— ſtoff begeben, und Reinhold Köhler hatte ihn auf die Quellen gewieſen, aus denen Herders Cid hervor— gegangen war. Die andern Weimarer Freunde be— ſtärkten den Plan, dieſen Opernſtoff zu geſtalten. Das Werk wurde außerhalb Weimars geſchaffen: trotz Lohengrin- und Triſtaneinflüſſen reckte ſich der Idealiſt Cornelius in ihm auf, ſein war die edle Auffaſſung

Der Corneliusſche Cid und Mildes 219

von dem Liebeskampf der Kimene, ſein die ſchlacken— loſe Dichtung und die innige Melodik der feſtgeſchloſ— ſenen Muſikſtücke. In Weimar fanden im Mai 1865 die beiden einzigen Aufführungen dieſes Cid ſtatt, die Cornelius erlebte, von ihm ſelbſt vorbereitet, von den Weimarer Sängern unter Stör begeiſtert ausgeführt. Neben Stör ſchaltete damals Laſſen als Nachfolger Liſzts an der Weimarer Oper und ließ ſein Talent und ſeine Kunſt in naturaliſtiſch und leitmotiviſch untermalenden Schauſpielmuſiken und vielen Liedern allmählich verflachen.

Die Leiter der Weimarer Bühne wechſelten in den vierzig Jahren zwiſchen 1847 und 1887 nach Jahr: zehnten. Von 1847 bis 1857 waren der junge weima— riſche Freiherr von Ziegeſar und Herr von Beaulieu Intendanten, von 1857 bis 1867 Dingelſtedt und dann zwei Jahrzehnte Herr von Loén. Sie brachten die Weimarer Bühne, die vorher im Niedergang geweſen war, von neuem zu Ehren. Das war unter Ziegeſar und Beaulieu vor allem das Verdienſt Liſzts und des Ehepaars Milde. Roſa von Milde, von 1845 bis 1867 die anmutigſte und bedeutendſte Sopraniſtin Weimars, wurde in den Frauenrollen von Wagner und von Cornelius nicht minder wie als Agathe und Fidelio geprieſen als Sängerin und als Darſtellerin, von keinem ſo hoch und fein wie von Peter Cornelius in Sonett und Stanze. Ihr Gemahl war der erſte Telramund und ein berühmter Wolfram und (ſeit 1869) Hans

220 Weimariſches Schauſpiel um 1855

Sachs und ſang neben ihr den Cid; er gehörte bis 1884 der Weimarer Bühne an, und bis in die ſieb— ziger Jahre zählte man ihn zu den vorzüglichſten deut⸗ ſchen Konzertſängern. In Weimar wirkte er auch im Schauſpiel mit, ähnlich wie Vater Genaſt, der ſich in den fünfziger Jahren ganz auf Sprechrollen ein- ſchränkte.

Unter Dingelſtedt gewann das Schauſpiel den Vorrang vor der Oper. Ein Anlauf dazu war ſchon unter den Vorgängern gemacht und gute junge Kräfte gewonnen worden in dem Komiker Hettſtedt und ſeiner heiteren, vornehmen Frau und dem Heldenſpieler Grans; dazu kam vorübergehend der Regiſſeur Marr, im Trauerſpiel nicht immer genehm, aber auch bei Liſzts Opernchören behilflich, indem er z. B. im „Fr delio“ im Chor der Gefangenen erſchien und durch wunderbare Maske und ergreifendes Spiel die Wirkung ſteigerte. Im Sommer 1853 gaben die Weimarer Schauſpieler ein Berliner Gaſtſpiel vier Wochen lang abwechſelnd mit Gutzkows Zopf und Schwert und Freytags nagelneuen Journaliſten. Genaſt wurde als Preußenkönig bejubelt und als Piepenbrink belacht, und Grans erquickte das Berliner Publikum als Bolz, Hettſtedt als Schmock und Marr als Oberſt Berg; war doch Weimar vom Dichter zur Uraufführung der Journaliſten in Ausſicht genommen worden, was nur ein Zufall verhinderte.

Dingelſtedt erzielte eine Nachblüte des klaſſiſchen

Dingelſtedts Weimarer Jahrzehnt 221

Schauſpiels. Freilich nicht im Sinne Goethes: der würdige Ton, der in den fünfziger Jahren hier noch immer zu Hauſe geweſen war, wich einem flotten Tempo, die Bühne mußte ſich mit hiſtoriſch genauer Ausſtattung füllen, und dabei wurde mit mancher Dichtung ohne viel Skrupel umgeſprungen. In den Anfang ſeiner Regie fiel das große Septemberfeſt von 1857, die Jahrhundertfeier von Carl Auguſts Geburts— tag mit Denkmalsweihen und Feſtſpiel: die berufen⸗ ſten Gäſte ſtellten die berühmteſten Szenen dar, Daviſon und Devrient König Philipp und Marquis Poſa, ſowie Antonio und Taſſo, auch den Mephifto und den Egmont, und Marie Seebach von Schöll darum wegen der Sinnlichkeit einer Kurtiſane geſchol— ten ein tiefleidenſchaftliches Gretchen und Klärchen. Dann zog Dingelſtedt den gießbachartig daherſtürzenden Charakterſpieler Lehfeld nach Weimar. Er wurde der erſte grimme Hagen, als Hebbels Nibelungen 1861 in Weimar zur Uraufführung kamen, und war mit Grans eine Hauptſtütze des kühnen Unternehmens, in einer Woche die Shakeſpeareſchen Königsdramen von Richard II. bis Richard III. vorzuführen.

Damals war eben in Weimar unter dem Protektorat der Großherzogin Sophie die deutſche Shakeſpeare— geſellſchaft gegründet worden. Sie erhielt dauernd dort ihren Sitz; ihr Jahrbuch diente nun der Shakeſpeare— forſchung fort und fort, und in den nächſten Jahren be— gann man an die Verbeſſerung der Schlegel-Tieckſchen

222 Shakeſpearegeſellſchaft und Schillerſtiftung

Überſetzung zu gehen. Das genügte Dingelſtedt nicht, er wagte eine eigne Überſetzung und gewann den Dichter Wilhelm Jordan und u. a. die Germaniſten Simrock und Vie hoff zu Mitarbeitern: in den Jahren 1865 bis 1870 konnte dieſe neue deutſche Shakeſpeareausgabe in neun Bänden erſcheinen, und ſie behauptete ſich durch meh— rere Auflagen. Weimar war inzwiſchen auch Vorort der deutſchen Schillerſtiftung geworden. Großherzog Carl Alexander förderte ſie, und Dingelſtedt war ihr Präſident. Als ihr Sekretär wurde 1861 Gutzkow nach Weimar berufen, der damals ſein größtes Werk, den Zauberer von Rom, abgeſchloſſen hatte und vielen als der hervorragendſte deutſche Dichter und Schriftſteller galt. Aber überreizt, wie er war, vertrug er ſich mit Dingelſtedt nicht und entrann dieſem gewandten Dik— tator bald wieder. Auch Franz Liſzt hatte ja vor Franz Dingelſtedt als einem Hauptwiderſacher das Feld geräumt.

Die Loénſche Intendanz gab der Oper wieder mehr Spielraum. Doch ihre hervorragendſte Tat war die Aufführung von Otto Devrients Bühnenbearbei— tung beider Teile des Fauſt im November 1875, als es hundert Jahre ſeit Goethes Ankunft in Weimar waren. Devrient trachtete, den Grundgedanken der Dichtung, die Entwicklung Fauſts möglichſt deutlich zur Anſchauung zu bringen und richtete danach ſeine Kürzungen ein. Szeniſch erdachte er eine Myſterien— bühne in drei großen Stufen hintereinander empor

Devrients Fauſteinrichtung 223

auf der ſich im Prolog Hölle, Erde und Himmel ſcheiden ließen, die Walpurgisnacht auf dem Brocken und die Helenaſzene am Kaiſerhof geſchickt aufzubauen waren, auf der er die meiſten Gretchenſzenen ähnlich wie auf einem epiſchen Sammelbilde des 15. Jahrhunderts vereinigen konnte und die ihm ſchließlich zu einem wunderbaren Hilfsmittel für den ſymboliſchen Gehalt der Dichtung wurde. Mehrere Jahre wurde ſeine Bearbeitung in Weimar zu Oſtern wiederholt und führte Einheimiſchen und Gäſten das große Werk ge— nußreich zu Gemüte; man ſpielte eine neue Muſik von Laſſen dazu, und als rhetoriſche Kunſtleiſtung erhielt Mildes Lynkeus den Preis.*) In jenen Jahren wurde manches junge, ſchöne Talent an der Weimarer Bühne für das kommende Zeitalter gebildet; um 1870 gehörten ihr Barnay und Claar an, um 1880 begannen Scheidemantel, ein geborner Weimarer, und Alvary, der Sohn Andreas Achenbachs, hier ihre Sängerlauf— bahn, und Agnes Sorma wurde 1882 von Weimar nach Berlin an das deutſche Theater gerufen.

Im Weimariſchen waren zwei Dramendichter zu Hauſe, von denen einige Werke damals über viele deutſche Bühnen gingen. Alexander Roſt, in Weimar ſelbſt geboren und aufgewachſen, dem Staatsdienſt aus Künſtlertrieb entwichen, ſchrieb Geſchichtsdramen und Sagenſtücke, die ſeine Freunde mit Grabbe und

*) 1880 wurde dieſe Weimarer Bearbeitung auch in Köln und Berlin geſpielt.

224 Roſt und Lindner

Hebbel verglichen. Sittlicher Kern und theatraliſcher Inſtinkt, ja eine Naturkraft, die in den beſten Szenen an Shakeſpeare erinnerte, waren nicht zu verkennen; Landgraf Friedrich mit der gebiſſenen Wange, Ludwig der Eiſerne wurden ſeine Helden, Berthold Schwarz und Thomaſius, und in dem „Regiment Madlo“, das im dreißigjährigen Kriege ſpielte, waren Genaſt und Lehfeld auf dem Platze. Roſt wurde früh von der Alkoholſucht erfaßt und verkam dadurch, trotzdem daß ſich ihm ein ſauberes Bürgerkind antrauen ließ und ihm in den letzten Jahren zum guten Engel wurde. Auch das Schickſal Albert Lindners verlief tragiſch. Er ſtammte aus dem nahen Sulza, und ſo war es keine angenehme Überraſchung für Dingelſtedt, als die große Erſtlingshandſchrift von Brutus und Colla— tinus, die der Regiſſeur Grans empfohlen, der Generalintendant ſelbſt aber barſch abgewieſen hatte, in Karlsruhe Glück hatte: bei der dortigen Philologen— verſammlung wurde das Werk mit größtem Erfolg geſpielt, und es erhielt kurz darauf den Schillerpreis! Lindner gab ſeine Rudolſtädter Lehrerſtelle mit hoch» fliegenden Erwartungen auf und ſiedelte mit ſeiner Familie nach Berlin über; aber ſein Talent beruhte doch mehr auf Shakeſpeare- und Schillernachbildung, neuen Dekadenzmotiven und theatraliſchem Wort— ſchwall, um ihm ſelbſt Lebenshalt und ſeinen Werken dauernde nationale Tragfähigkeit geben zu können.

Es fehlte nicht viel, ſo wäre der echte Tragiker der

Hebbel in Weimar 225

Zeit ein Weimarer geworden, Friedrich Hebbel. Er beſuchte Weimar zuerſt kurz und ſtill im Mai 1857: im abendlichen Park dichtete er an den Greis Goethe, in Schillers Haus fühlte er ſich erſchüttert, er entnahm für ſeine Frau Lorbeerblätter von Goethes und Schillers Sarg und pflückte ihr Veilchen in Tiefurt. Im Som— mer 1858 traf er wieder ein, diesmal zur Aufführung ſeiner Genoveva von Dingelſtedt geladen, vom Groß— herzog mit Auszeichnung empfangen und auf der Alten— burg mit Intereſſe bewillkommnet; Liſzt elektriſierte auch ihn mit Zigeunerrhapſodien: „am Klavier iſt er ein Heros; hinter ihm in polniſch-ruſſiſcher National— tracht mit Halbdiadem und goldenen Troddeln die junge Fürſtin, die ihm die Blätter umſchlug und ihm dabei zuweilen durch die langen, in der Hitze des Spiels wild flatternden Haare fuhr. Traumhaft— phantaſtiſch!“ Goethes Enkel begrüßte ihn im Hauſe des Dichters mit Salve! und in Goethes Arbeitszimmer entfuhr ihm die Tirade: „Dies iſt das einzige Schlacht— feld, auf das die Deutſchen ſtolz ſein dürfen.“ 1861 waren er und ſeine Frau in Weimar zur Uraufführung der Nibelungen, wo Chriſtine Hebbel im dritten Teil mitwirkte. Beider Verhältnis zu Wien hatte ſich damals geſpannt; Dingelſtedt warf das Wort hin: „Kommt zu uns!“ und machte ein Angebot, das durch das großherzogliche Paar geſtützt wurde. Aber nun zog Dingelſtedt zurück, dieſer charactere abominable,

wie ihn die Großherzogin damals nannte, und lotſte Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 15

226 Wilhelmstal

Hebbels Antagoniſten Gutzkow nach Weimar; das Künſtlerpaar blieb in Wien. Eine herzliche Genug— tuung empfing Hebbel im folgenden Sommer durch die Einladung des Großherzogs nach dem Sommerſitz Schloß Wilhelmstal; hier lernte er, des vertrauten Umganges von Fürſt und Fürſtin gewürdigt, beide recht ſchätzen. Gleich nach dem erſten Abend berichtete er an ſeine Frau über ein Geſpräch, „worin der Groß— herzog, der eine Schilderung von London und nament— lich von Shakeſpeares Heinrich dem Achten auf der engliſchen Bühne machte, ſich mir abermals als einen Mann von ſeltner Empfänglichkeit und ſcharfem Blick für das Eigentümliche aller Erſcheinungen zeigte“ und ſpäter nach einem kleinen Erlebnis auf der Wartburg: „der Großherzog ſoll fortan mein Heiliger in der Geduld ſein!“ Über die Fürſtin, die ihm im Lutherzimmer der Wartburg ein Neues Teſtament ſchenkte, ſchrieb er: „Sie iſt nicht bloß eine edle, ſondern auch eine tiefe Frau; ich hatte vor einigen Tagen ein Geſpräch mit ihr, das an drei Stunden dauerte und ſich über alles verbreitete, was den Menſchen auf Erden inter— eſſiert, und ich brauchte mir nicht den geringſten Zwang aufzulegen, ich konnte ſogar meinen Humor walten laſſen. Dabei ſaßen wir in der Tannenhütte, in der das Reh herumſpringt. Die Kinder ſpielten mit dem Tierchen, ſie ſtickte, auch der Pudel Asmodeus fand Zutritt, und wir ließen uns nicht einmal durch ein Gewitter vertreiben“ und am Schluſſe ſeines Aufent-

Nibelungendichtungen 227

haltes: „Sie iſt eine höchſt bedeutende Frau; ich glaubte ſchon ein Maß von ihr zu haben, habe es aber erſt geſtern erhalten. Man kann geradezu alles mit ihr ſprechen; die verſchämteſten Träume und die kühnſten Phantaſien wagen ſich ans Licht und werden verſtanden. Sie ſagte, ſie habe viel von ihrer Erzieherin gelernt, aber in negativem Sinn, nämlich was man nicht tun und wie man Dinge und Menſchen nicht behandeln dürfe.“

Das Wohlwollen des Großherzogs hatte ſich damals noch einem andern Nibelungendichter zugewendet. Während der Opernkomponiſt Wagner die nordiſch verwölkte und ins Mythiſche abgebogene Form der Sage benutzte und der Dramatiker Hebbel den geſchicht— lichen Konflikt zwiſchen Heiden- und Chriſtentum aus den Völkerwanderungskämpfen zugrunde legte, ver— tiefte ſich der Romandichter Scheffel in die Blütezeit des Minneſangs, um die damalige Geſtaltung des Nibelungenliedes als ein WerkHeinrichs von Ofterdingen erſcheinen zu laſſen, eine ſieghafte öſterreichiſche Schluß— gabe des vorher im thüringiſchen Wartburgkrieg be— ſiegten Sängers. Von 1857 bis 1863 trug ſich Scheffel mit der Abſicht, einen großen Wartburgroman Viola zu ſchreiben, und trachtete ihm in guten und düſtern Stunden emſig, glücklich und ängſtlich nach, wiederholt kehrte er als Gaſt des Großherzogs auf der Wartburg ein, ſtreifte in benachbarten Strichen des Thüringer Waldes, wanderte in der Donaulandſchaft, nahm Land und Leute aufs Korn, ſuchte Klöſter, Schlöſſer und

15*

228 Frau Aventiure

Schänken heim und ließ vor alten Handſchriften und neuen Gelehrtenbüchern ſeine Phantaſie träumen. Dabei fügte ſich ihm manches Lied, der eignen Bruſt ſo notgedrungen entſproſſen wie ſeinem Geſchichtstraum abgepflückt, aber den Roman zwang er nicht. Wie ein Garten mit Statuen ſtand es vor ihm, bis er ſich entſchloß, den Garten preiszugeben und die fertige Lyrik allein zu veröffentlichen. Er durfte ſie mit den Worten ſeines Ofterdingen, mit dem er ins Hoch— gebirge entfloh, dem Großherzog widmen:

Hier denk ich Dein, Du milder Fürſt im Norden, Und meine Grüße ſchweben in Dein Land: Ich weiß, Du biſt an mir nicht irr geworden, Ob alle mich vergeſſen und verkannt ...

Im Gletſcherabſtrom ſtund mein Jagdwein kühle Und füllt den Kürbisbecher kalt und klar .. Froh bring ich ihn, den Glimmerblock zum Pfühle, Als Weihetrunk Frau Aventiuren dar.

Seine dankbare Anhänglichkeit an Weimar erwieſen ſpäter zwei Feſtſpiele, Der Brautwillkumm auf Wart- burg, 1873 zur Hochzeit des Erbgroßherzogs ver— faßt, und beſonders Die Linde am Ettersberg, 1878 zum fünfundzwanzigjährigen Regierungsjubiläum Carl Alexanders geſchrieben: da zeichnete er mit markigem Witz und friſcher Anſchaulichkeit weimariſches Volk und ließ den Jenaer Studenten die Anſpielung der Lehrerstochter auf Haeckel heiter zurechtweiſen:

Mein freundlich Kind, du haſt nur halb gehört, Das Affentum galt nur zu Olims Zeit. Vorwärts zur Schönheit! lehrt die neue Lehre. Und wenn wir jetzt im Wettkampf um das Daſein

1597 D

Scheffel in Ilmenau, Reuter in Eiſenach 2:

Zur Schöpfung Krone lieblich uns verfeinert, So können uns ja einſt noch Schwingen wachſen, Und ſchon auf Erden wandeln wir als Engel Mit Flügeln, die empor zum Himmel tragen!“)

Inzwiſchen hatte ſich 1863 ein anderer humorbe— gnadeter Erzähler am Fuße der Wartburg für die Dauer eingeſtellt, Fritz Reuter, mitten auf der Höhe ſeines Ruhmes, mitten in der Arbeit an ſeiner ſchönſten Volksdichtung, der Stromtid. Hier vollendete er ſie; von hier aus unternahm er 1864 die Reiſe nach Konſtantinopel, die ihm ſpäter den gleichnamigen Roman ergab, von hier 1865 den Triumphzug durch ſeine mecklenburgiſche Heimat, und hier brachte er 1866 den köſtlichen Roman Dörchläuchting ans Licht. In demſelben Jahre erwarb er einen reizend gelegenen

*) Es war im April 1878, daß Scheffel zur fröhlichen Arbeit an dieſer Dichtung in Ilmenau eintraf. Dort lebte ihm ein alter Studienfreund, Oberamtsrichter Schwanitz, der gehörte einem luſtigen Kreiſe an, der ſich jeden Sonnabend oben am Kickelhahn im Forſthauſe Gabelbach traf und ſich „Gemeinde Gabelbach“ nannte. Gleich am erſten Sonnabend führte Schwanitz Arm in Arm Scheffel mit hinan, und dieſer er— nannte ſich zum Jubel der Anweſenden zum Gemeindepoeten und betätigte ſich auch als ſolchen, zunächſt mit dem Wunſche:

Daß die Gemeinde Gabelbach Waldluftfröhlich nie verkrach!

Schwanitz baute den Gemeindeſcherz aus, kein geringerer als Fürſt Bismarck ließ ſich das Amt des Ehrenſchulzen gefallen, und Baumbach, Trojan, Seidel ſpielten ſpäter den Gemeinde— voeten. 1886 wurde daher an einer wald- und wieſengrünen Ecke am Kickelhahnwege ein Scheffelſtein mit dem Bildnis des Dichters errichtet.

230 Reuters Haus

Bau⸗ und Gartenplatz am Ausgang des Helltales ins Mariental, ſein ihn verehrender Nachbar der Großherzog fügte eine Ecke als Umwendeplatz hinzu, und 1868 konnte Reuter in ſein neues Haus einziehen. Dort genoß ſeine Frau vom Erker den Blick auf die Wartburg, und er pflegte mit all ſeiner Liebe den ſchönen Terraſſengarten; ſchließlich wurde ihm ein leidvoller, aber auch troſt⸗ und ehrenreicher Lebens— abend zuteil. Seiner Natur getreu ſoll er einige Damen, die zu ihm ſagten, er ſtehe über Goethe und Schiller, auf der Stelle verabſchiedet haben: „Adjüs, Madams!“

Bildende Kunſt

Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ging eine merkwürdige Wandlung in Deutſchland vor ſich: die Urſprünglichkeit der künſtleriſchen Gehörsempfin— dung ließ nach, und der Augenſinn erholte ſich zu neuer Friſche. Es war ein glücklicher Zug in Carl Alexanders weimariſcher Kunſtpflege, daß er dieſer Umlegung der Kräfte nachgab; was ihm durch die Dichtung der fünfziger bis ſiebziger Jahre verſagt blieb, was er von der Muſik nur halb erhielt, das leiſtete ihm ganz die bildende Kunſt.

Um dieſelbe Zeit jährte es ſich zum hundertſten Mal, daß Carl Auguſt und die Weimarer Dichter geboren waren. Ihre hehren Geſtalten in dauernden Denkmälern unter ſich zu ſehen wurde ein Wunſch der Weimarer; der Anſtoß zur Verwirklichung kam zum Teil von außen, da das deutſche Volk in ſeinen füh— renden Geiſtern und Gruppen teilnehmen wollte. Das Denkmal Herders wurde in Weimar noch unter Carl Friedrich errichtet. 1844 hatten die Freimaurerlogen von Weimar und Darmſtadt die erſte Anregung dazu gegeben, der Großherzog willigte ein, ein Weimarer Geſchäftsverein betrieb die Angelegenheit, und in zwei

232 Herderdenkmal

Münchner Meiſtern, dem Bildhauer Schaller und dem Erzgießer Miller, wurden die wichtigſten Kräfte ge— wonnen. Am 25. Auguſt 1850 wurde nach Gottes— dienſt und Feſtzug Herders Denkmal dicht vor der Südwand ſeiner Kirche enthüllt, bei Liſztſcher Feſt— muſik: die bronzene Geſtalt des edlen Denkers in der Haltung eines Geiſtlichen und mit einem Weſenszug vom Schulmann, die beteuernde Rechte auf der Bruſt, in der Linken die Blätter mit ſeinem Lebensſpruch „Licht, Liebe, Leben“, ein Antlitz mit Gelehrtenſtirn und Predigerlippe und ernſten, allem Menſchlichen offenen Augen. Das Feſtprogramm enthielt noch künſtleriſche Aufführungen und Schulfeiern. Am Vor— abend hörte man Herders Entfeſſelten Prometheus mit Liſzts Muſik im Hoftheater, und zum Beſchluß ver— hieß der Weimarer Maler Marterſteig lebende Bilder nach Herders Legenden zu ſtellen. Am Nachmittag vorher zogen achtzehnhundert Volksſchüler Weimars unter unaufhörlichem Jubel der kleinſten nach der Pappelbank Herders Ruhe am Ettersberg, von wo der große Mann ſo gern auf die Häuſer ſeiner Ge— meinde und das hohe Schieferdach ſeiner Kirche hinab— geſehen hatte.

Die Errichtung von Herders Standbild brachte auch die Frage nach einem Weimarer Denkmal für Goethe und Schiller und einer Wielandſtatue in Fluß. Für Goethe und Schiller lag Rauchs Modell in antiker Tracht vor. Carl Alexander ließ jetzt bei König Lud—

Ernſt Rietſchel 233

wig von Bayern anfragen, ob auf ſeine Mitwirkung zu rechnen ſei; Ludwig war gewillt das Erz aus Navarinkanonen zu ſpenden. Erſt Anfang 1852 aber äußerte er ſeine Bereitwilligkeit unter der Bedingung, daß die Dichter in ihrer Zeittracht dargeſtellt und die Standbilder in München gegoſſen würden. Beides veranlaßte, daß der alte Rauch von der Aufgabe zu— rücktrat; ohne Groll, ja mit überzeugender Herzlichkeit ſchlug er ſeinen beſten Schüler Rietſchel dafür vor. Im Mai 1852 traf dieſen die Anfrage auf der Rück— kehr von einem einjährigen italieniſchen Erholungs— aufenthalt in Meran in glücklichen Tagen; er empfing ſie mit den Worten: „Welche Aufgabe! das Herrlichſte, was dem Bildhauer unſerer Zeit geboten ſein kann, aber auch der herrlichſten, der vollkommenſten Löſung wert. Werd' ich dieſe Löſung imſtande ſein? Mut und Zagen wechſelt in mir. Ob ich den Auftrag annehme?! Trotz des Zagens Ja, ja, ja!“ Im Herbſt darauf rang er zum erſtenmal mit der Modellfkizze und fühlte einen großen Teil der Schwierigkeiten durch. Anfang 1853 fand ſein kleines Gruppenmodell Beifall in Weimar und München, wenn auch Einzelheiten, namentlich die der Tracht, noch hin und her betüftelt wurden. Im Auguſt dieſes Jahres glaubte er die Modellierung im großen beginnen zu können, unter— brach ſie 1854 auf längere Zeit, ging dann 1855 mit gründlichen Anderungen vor, und arbeitete unter Sor— gen und Leiden, unermüdlich in ſchwerer Angſt ver—

234 Denkmälervorarbeiten

beſſernd im weſentlichen im Jahre 1856 das Denkmal bis zu Ende durch. Im Januar 1857 traf das herr- liche Modell bei dem Erzgießer Miller in München ein, errang die einſtimmige Bewunderung der Münchner Künſtler, und Miller machte ſich anheiſchig, es im Sommer gießen und ziſelieren zu laſſen, ſo daß der Herbſtbeginn für die Aufſtellung in Ausſicht genom— men werden konnte. Auch die Arbeit des Wiener Bildhauers Gaſſer an dem Wielanddenkmal war in dieſem Jahre ſo weit vollendet worden.

Inzwiſchen hatte ein weimariſcher Ausſchuß durch einen Aufruf im März 1853 eine Sammlung im deutſchen Vaterland eingeleitet. Anfangs mit mäßigem Erfolg: die erſten Jahre brachten 7300 Taler ein, dann ſtockte der Zufluß, auch drohte Krieg. Erſt als das Jahr 1857 angebrochen war, ging es wieder vorwärts: der Gedanke, Carl Auguſts hundertſten Geburtstag mit der Denkmälerweihe zu begehen, beflügelte alle, die Sammlung ſtieg raſch faſt auf die doppelte Höhe, Fürſten und Städte, Vereine und einzelne ſteuerten bei, und der Großherzog von Baden ſchenkte die großen granitenen Sockel. Man förderte nun in Weimar den Plan, am 3. September als Gedenktag an Carl Auguſt den Grundſtein zu deſſen künftigem Denkmal zu legen und am folgenden Tage die neuen Dichterſtatuen zu enthüllen, das ganze Feſt aber als nationale Freudentage zu feiern.

Das wurden ſie in einem alle Erwartungen über—

Septemberfeſttage 1857 235

treffenden Maße. Sie begannen mit heimiſchen Ver— ſammlungen in der Loge, zur Gründung einer neuen Schule und, in der ſechſten Morgenſtunde des 3. Sep— tember, der Geburtsſtunde Carl Auguſts, an der Fürſten— gruft. Dann ſteigerte ſich die Feſtſtimmung über die Grundſteinlegung auf dem Fürſtenplatz wo zum erſtenmal das neue Weimariſche Landeslied erklang „Von der Wartburg Zinnen nieder“, gedichtet von Cornelius und komponiert von Liſzt und über die Beſuche aller weimariſchen klaſſiſchen Stätten durch die vielen auswärtigen Gäſte zu der Theateraufführung, bei der Dingelſtedts Feſtſpiel Der Erntekranz den Vogel abſchoß. Oft unterbrach jubelnder Beifall die Aufführung, am begeiſtertſten, als bei den Huldigungen der Schnitter, Winzer, Gärtner und Bürger vor dem an der Linde aufgehängten Fürſtenbilde der Jenaer Student die deutſche Fahne hoch aufhob:

Auch dieſer heilige Akkord,

Der Oſt und Weſt und Süd und Nord Des alten Reichs allein noch eint,

Wie tief er auch verſchollen ſcheint,

Er fand in deiner deutſchen Bruſt

Ein Echo, edler Carl Auguſt!

Hätt' jedermann getan gleich dir,

So wehte dieſes Siegspanier

Vor einem einz'gen Volk und Heer Vom Apennin zum dän'ſchen Meer.

Am folgenden Tage fand die Enthüllung von Wie— lands Denkmal bei geöffneten Regenſchirmen ſtatt, aber

236 Enthüllung des Goethe-Schiller-Denkmals

als ſich der Feſtzug hinüber nach dem Theaterplatz bewegte, kam Sonnenſchein, und nun war es einer der ſchönſten deutſchen Augenblicke des Jahrzehnts, ja vielleicht des Jahrhunderts, als die Denkmalshülle zu wallen begann, raſch niederfiel, die beiden Heroen im Sonnenglanze daſtanden, von einem Schauer des Staunens und dankbarſtem Jubel und Hochrufen aller empfangen. Das Weſen der geliebteſten Dichter hatte Rietſchels reines Gemüt ans Licht gebracht; ſo wie man ſie erblickte, ſah man ſie jedem deutſchen Zukunfts— tage entgegengehn: Schiller leicht kühn vorſchreitend, ſonntäglich, Goethe gelaſſen, auch nur ein Menſch, aber wie er nicht gleich wiederkommt. Der Künſtler hatte den Zufall nicht geſcheut, z. B. wie Schillers Blätterrolle den linken Rockteil zurückbricht, und doch eine innere Harmonie von größtem Gehalt erreicht; und wie hatte er das geiſtige Bündnis ſichtbar gemacht trotz abweichender Blickrichtung und geſonderter Hal— tung. Eines der in der Feſtmenge anweſenden Dichtergemüter, der Däne Anderſen, erſchaute einen anmutigen Zufall: ein weißer Schmetterling flog über Goethes und Schillers Haupt, als ob er nicht wüßte, auf welchem von ihnen er ſich niederlaſſen ſollte als Sinnbild der Unſterblichkeit; nach kurzem Schwär— men erhob er ſich in das klare Sonnenlicht und ver— ſchwand. Die vaterländiſche Begeiſterung leuchtete am dritten Tage fort auf einer gemeinſamen Wartburg— fahrt der Gäſte des Großherzogs; mit friſchem Eichen—

Carl Auguſt-Denkmal 237

zweig am Hute ging man von da bergab, um abends im Weimarer Theater bei einer Fülle neueſter Liſzt— ſcher Muſik, zu Schillers und Goethes Gedanken ge— ſchrieben, und einigen orcheſtral und choriſch aufge— bauſchten Schubertſchen Liedern von beiden das Feſt ausklingen zu laſſen.

Wem anders als Rietſchel hätte man jetzt das Denkmal für Carl Auguſt übertragen mögen? Aber auch diesmal verſchob ſich mit der Art der Auffaſſung der Name des zur Ausführung berufenen: an Riet— ſchels Stelle trat ſein Schüler Donndorf, ein Sohn Weimars, deſſen Reiterſtandbildentwurf gefiel. Man ſchloß 1865 mit ihm ab, nachdem der Landtag einen Zuſchuß von 12000 Talern bewilligt hatte, und ließ unter ſorgfältigen Vorarbeiten, namentlich der preußi— ſchen Gießerei Lauchhammer, die hundertjährige Wie— derkehr von Carl Auguſts Regierungsbeginn heran— kommen. Am 3. September 1875, nun dem Nachbar des Sedantags, wurde das ſchöne Erzbild Carl Auguſts in Anweſenheit des deutſchen Kaiſers enthüllt, und Kaiſerin Auguſta legte mit eigner Hand einen Lorbeer— kranz vor dem Denkmal ihres Großvaters nieder.

Und ſchon drängte der lebhafte Wunſch nach einem fünften Weimarer Denkmal auf baldige Erfüllung: für die 1870 und 1871 auf franzöſiſchem Boden ge— fallenen tapfren Söhne des Großherzogtums aus dem 94. Regiment und andren deutſchen Heeresteilen. Am 24. Juni 1871, dem Geburtstag des eben aus dem

238 Kriegerdenkmal in Weimar

Felde zurückgekehrten Großherzogs, beſprach man ſich zum erſtenmal darüber, und auf Vorſchlag Prellers wurde der aus Weimar gebürtige Dresdner Bildhauer Haertel mit Entwürfen betraut. Im Sommer 1872 bewilligte Kaiſer Wilhelm die erbetene Bronze aus eroberten franzöſiſchen Geſchützrohren, und im Herbſt entſchied ſich die Mehrheit des Denkmalsausſchuſſes für den Haertelſchen Entwurf „mit der Fahne“: auf die anderwärts willkommene Germania verzichtete man zugunſten der kräftigen Darſtellung zweier kämpfen— der Krieger, von denen der ältere ſieghaft vortretend über den fallenden jüngeren die Fahne hält. Ein Jahr ſpäter ſchloß man die endgültigen Verträge mit Haertel und dem Braunſchweiger Erzgießer Howaldt ab, und 1878 wurde auch dieſes Denkmal enthüllt, in dem neuen nördlichen Stadtteil Weimars auf dem Watzdorfplatz, an einem Maiſonntag nächſt dem Tage des Friedensſchluſſes.

Wie hier Carl Alexander die lange ſtrittige Platz— frage durch einen glücklichen neuen Vorſchlag entſchied, ſo hatte er für Carl Auguſt das Reitermonument ge— fordert und 1857 den Platz vor dem Theater als beſte Stätte, gegen Rietſchels Wunſch, zur Aufſtellung be— ſtimmt. Unter den Weimarer Helfern bei all dieſen Denkmälern wirkten Friedrich Preller und Schöll mit, Schöll auch als begeiſternder Redner vor den Statuen Herders und Wielands; vor Goethe und Schiller hielt Gymnaſialdirektor Heiland die allen Anweſenden un—

Schillerdenkmal für Berlin 239

vergeßliche Feſtrede. Und in Weimar ſelbſt wurde damals das Schillerdenkmal für Berlin entworfen. Der dreißigjährige Reinhold Begas, ſeit 1861 kurze Zeit Lehrer der Bildhauerei an der Weimarer Kunſt— ſchule, ſchuf den Konkurrenzentwurf, der im Herbſt 1863 in einem engeren Wettkampf endgültig ſiegte und zur Ausführung in Marmor beſtimmt wurde: er ſtellte den Dichter dar als Gipfel einer Brunnen— anlage über waſſerſpeienden Löwenköpfen und von vier Sockelfiguren umgeben, der lyriſchen und der dramatiſchen Dichtung, der Philoſophie und der Ge— ſchichte. So genügte damals weimariſche Plaſtik in doppeltem Sinne dem Drang, den geiſtigen Führern der Vergangenheit wie dem Heldenvolk der Gegenwart in mahnenden Geſchichtsmälern zu danken.

Noch viel mehr lag dem Großherzog Carl Alexander in dieſen Jahrzehnten ein altdeutſches Denkmal ſeines Landes am Herzen und deſſen Erneuerung durch alle bildenden Künſte: die Wartburg. Er war zwanzig— jähriger Erbprinz, als er im Sommer 1838 mit ſeiner Mutter den ſchönen mittelalterlichen Reſten der von den Jahrhunderten überflickten und verbauten alten Burg nachging und von Maria Paulowna hörte: „Du ſollteſt einmal daran denken, dies wieder herzuſtellen.“ Das Wort haftete bei ihm, er griff die Sache gleich an, ließ ſich mit Freuden von ſeinem Vater zum Protektor der Wartburg ernennen und konnte, von ſeiner Mutter reichlich unterſtützt, noch als Erbgroß—

240 Beginn der Wartburgerneuerung

herzog binnen fünfzehn Jahren ein ſtattliches Stück der Arbeit vollbringen laſſen.

Anfangs wurde ohne Plan gearbeitet; man war ja glücklich, die erſten Fenſteröffnungen wieder aus— brechen zu können und ihre romaniſchen Rundbogen, die die ſpätere Zumauerung gegen das Wetter geſchützt hatte, nun wieder in ſauberer Plaſtik vor der friſchen Luft ſtehen zu ſehen. Kurz darauf wurde, im Sommer 1840, Arnswald zum Kommandanten der Wartburg beſtellt, ein liebenswürdiger Verehrer altdeutſcher Kunſt und Geſchichte; und an der erſten großen Be— ratung des Werkes hatten neben den Miniſtern Gers— dorff und Schweitzer noch Coudray und Schorn teil und jener Maler Simon, der im Weimarer Schloſſe an der Ausmalung der Dichterzimmer hatte helfen dürfen und ſich jetzt in wunderlichem Eifer zum Re— ſtaurator der Wartburg berufen fühlte, aber bald aus— ſchied.

Im Sommer 1842 weilte Carl Alexander lange als Bräutigam oben und legte ſich Grundſätze und nächſtes Vorgehen zurecht: die Burg ſollte geſchichtlich möglichſt getreu als Denkmal der Minneſinger- und der Reformationszeit wieder erſtehen und ſpätere Zutaten wie vor allem das große Wohnhaus aus der Zeit Carl Auguſts beſeitigt werden. Als im Oktober das von der niederländiſchen Hochzeit kommende Paar auf der Wartburg eintraf, war in dem mittleren Saale des alten Palas eine zweite Arkadenreihe bloßgelegt,

Die Wartburg um 1845 241

und die Waffen der Burg ſchmückten den kahlen Raum. Kurz darauf kam auch der berühmte hiſtoriſierende Architekt aus München an, dem Carl Alexander die Leitung der Arbeiten damals zu übergeben gedachte, Ziebland; aber er betrieb es läſſig, und man wäre in den nächſten Jahren nicht über Herſtellung neuer Kapitäle nach dem reichen Formenſchatz der erhaltenen alten hinausgekommen, wenn Arnswald nicht fort— während den Bauzuſammenhang der älteſten Teile durchforſcht und dabei manches für die Erneuerung wichtige entdeckt hätte. Ein etwas ſpäterer Zeuge hat geſchildert, wie der Kommandant einmal „uner— müdlich und ausdauernd mit einigen Talern in der Hand ſo lange an der Wand herumkratzte, bis die eingemauerten Fenſter herauskamen.“ Von großem Werte war es auch, daß das tiefe Schuttlager des Hofes vom Sommer 1845 bis in das Frühjahr 1846 gründlich abgeräumt wurde: da erſchien manche Andeutung zur älteren Baugeſchichte der Burg. Inzwiſchen war an die Stelle des Münchner Architekten eine Berliner Größe getreten, Quaſt, von Friedrich Wilhelm IV. empfohlen; aber auch er er— wies ſich nicht als der rechte Mann. Sein Wieder— herſtellungsplan vom Frühjahr 1846 fand lebhaften Widerſpruch bei ſechzig verſammelten deutſchen Archi— tekten, die im Herbſt die Wartburg beſuchten und ein Gutachten abgaben: man tadelte die Quaſtſche

Rückſichtsloſigkeit gegenüber dem älteſten erhaltenen, Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 16

242 Hugo Nitgen

die Abſicht die Umfaſſungsmauer niederzulegen, man wies ſeine modern prunkende Verſchönerungsſucht im Sinne engliſcher Gotik zurück und verlangte mehr Selbſtverleugnung. Und ſo wurde ſchließlich der Mann der Tat ein junger Profeſſor der Archi— tektur in Gießen, Ritgen, der über ein verwandtes Thema ſoeben einen anziehenden Vortrag gehalten hatte, als Nachzügler ſeiner Fachgenoſſen bei Arns— wald eingekehrt war und im Januar 1847 ſeine „Gedanken über die Reſtauration der Wartburg“ unterbreitete. Dieſe waren den Abſichten des Erb— großherzogs geſchickt angepaßt und genau auf Arns— walds und eigene Studien gegründet; ſie ſprachen ſich gut über die Frage aus „Was muß Deutſchland hoffen und wünſchen“, forderten eine geſchichtlich möglichſt wahre Architektur, keine romantiſche Täu— ſchung und betonten als erſtrebenswert, daß der Hof die Burg von Zeit zu Zeit bewohne, „indem nur dadurch der Zauber der Vergangenheit mit dem Reiz der Gegenwart vereint werden wird.“ Nicht nur der Burgherr, auch die nächſte Verſammlung der deutſchen Architekten billigten Ritgens Darlegun— gen; nach ſeinen Plänen wurde in den folgenden Jahren vorſichtig weitergearbeitet, und nachdem die Störung durch den däniſchen Krieg vorüber war, kam 1851 die Erneuerung der Wartburg unter ſeiner Leitung kräftig in Gang.

Der Palas war das größte der alten Gebäude,

Herſtellung des Palas 243

in reifſtem Rundbogenſtil unter Landgraf Hermann zur Zeit der Hochblüte des Minneſanges errichtet; er beſonders hatte zur Wiederherſtellung gelockt, und 1851 wurde ſein Südgiebel, nach dem Gebirge zu gelegen, bis zur Spitze bearbeitet, ſamt dem Söller, auf den Maria Paulowna im Juli zuerſt wieder hinaustreten konnte. Gleichzeitig wurde im Innern des Mittelſtockes die Querwand ausgeführt, die den Sängerſaal von der ſchmalen „Laube“ daran ſcheidet. Da Ritgen einen großen Teil des Jahres in Gießen beſchäftigt war, trat Baumeiſter Dittmar von Weimar, ein Schüler Zieblands, für die örtliche Bauleitung ein. Er ließ im März 1852 den alten Steinbruch an der Weſtſeite des Berges wieder anbrechen, und hier ſprengten und klopften nun die Arbeiter, während oben die Steinmetzen chämmerten, unter ihnen ſeit dem Mai auch der flinke Bildhauer Knoll, der im Hochſommer vier Wochen lang an der Spitze des Südgiebels ſchwebend den krönenden Löwen als da— mals höchſtes Stück rings in den Berglüften aus— meißelte. Die Maurer ſtellten indes den Nordgiebel neu her, die Zimmerleute trugen den Dachſtuhl ſtück— weiſe ab und erneuerten ihn, Anfang Oktober wurde bei ſchrecklichem Sturm das Dach des Palas gerichtet, raſch folgte ſeine Deckung es war die letzte Arbeit des altbewährten Eiſenacher Meiſters Jakobi —: ſeit November 1852 ſchimmerte das Hauptdach der Wart—

burg neu ins Land. Damals ſchrieb Arnswald an 16*

244 Helene von Orleans

ſeinen Herrn: „Wir alle einen uns in der Liebe zur Sache, dieſe Liebe aber iſt es, die dem Bau überall das wahre mittelalterliche Leben und Gefühl verleiht, jenen Reiz, den man in alten Bauten findet, in neuen ſelten.“ Das folgende Jahr ließ im Frühling die getäfelte Decke über dem Sängerſaal gelingen und den Steindrachen auf dem Nordgiebel und weiterhin die Maurer-, Zimmerer- und Bildhauerarbeiten des großen oberen Feſtſaales: Ritgen hatte die Zeich— nungen dafür auf der Wartburg gearbeitet, Knoll die Kamine in Stein gehauen. Die bauliche Erneuerung des Palas war fertig, als Carl Alexander den Thron beſtieg.

Man wußte, daß alte Burgen Wandmalereien hatten; Schwind wurde auserſehen, in einigen Haupt— räumen des Wartburgpalas zu malen. Seitdem ihm 1849 auf einer Thüringer Reiſe dazu Ausſicht ge— worden war, brannte er, wie er ſagte, nach dieſer ſchönſten aller Arbeiten und führte ſofort für Maria Paulowna ein beziehungsreiches Probeblatt aus: Heinrich von Ofterdingen unter den Mantel der Landgräfin flüchtend. Auch die feinſinnige freundliche Baſe Carl Alexanders zeichnete er damals, die Her— zogin von Orleans, die ſeit ihrer Flucht aus Frank— reich in Eiſenach wohnende mecklenburgiſche Prinzeſſin, die die Wartburgarbeiter wie ein guter Geiſt oft beſuchte. Doch konnte erſt im Mai 1853 in Weimar die entſcheidende Beſprechung ſtattfinden, die ihm als

Schwinds Wartburgarbeit 245

Malbereich den Sängerſaal, den kleinen Landgrafen— ſaal daneben und die Eliſabethgalerie davor zuwies. Schwind ſah den Auftrag an „als eine Gabe, die, ſoweit es möglich iſt, mir das Leben noch teuer macht. Noch ein tüchtiges Wort mitzureden zugunſten unſerer ganz verfahrenen deutſchen Kunſt, es iſt aller Mühen eines geprüften Mannes wert.“ Er verſtän— digte ſich genau mit dem Architekten über die ge— plante Art der Umrahmung und Umwandung der Bilder, um etwas dem Raum harmoniſches, echte gemalte Säle zu ſchaffen, und zu Weihnachten des Jahres konnte er dem Großherzog die Skizzen für das Landgrafenzimmer ſenden und eine Nebenfolge von Rundbildern für die Eliſabethgalerie, die Werke der Barmherzigkeit. In den Sommermonaten 1854 malte er eigenhändig im Landgrafenſaal auf einen neuen dünnen Kalkputz die ſieben breiten Sagen— bilder als herumlaufenden Wandfries; bei dem erſten beſuchte ihn eines Tages die Herzogin von Orleans, beſtieg ſtatt ſeiner die Leiter und pinſelte mit feiner Hand ein Blümchen hin. Im Mai 1855 brachte er ſich ein paar Geſellen mit, die ihm in der Eliſabeth— galerie halfen, doch tat auch hier das beſte ſeine Hand, ſein hingebender Eifer; im September ſchloß er die Arbeit mit dem großen Gemälde des Sänger— krieges ab. Einige Entwürfe waren liegen geblieben, anderes drängte ſich nachträglich zu: 1856, als er ſich ein Landhaus am Starnberger See baute, führte er

246 Landgrafenzimmer

noch die anmutige Legende vom Handſchuh der hei— ligen Eliſabeth als Olgemälde aus und noch ſpäter zur Erinnerung das Bildchen, wie er auf dem Mal— gerüſt im Landgrafenzimmer der Herzogin von Orle— ans die Palette hält. !

Das iſt das Schöne an Schwinds deutſcher Meiſter— ſchaft, wie er feinſte Menſchlichkeit z. B. den dem Schmied zuhorchenden Landgrafen, den Ausdruck Eliſabeths beim Roſenwunder mit volkstümlicher Geſundheit der Geſtalten verbindet. Und wie hat er gleich auf dem erſten Bilde Ludwig den Springer gezeichnet: breitbeinig, mit ganzen Sohlen auf dem vorderſten Fels fußfaſſend iſt der junge Herr ſeinem Gefolge voran zur Bergſpitze gelangt, und während ſie noch mit fröhlichem Hornruf durch das letzte Dickicht dringen, lieſt er es ſchon mit gelaſſener Ge— bärde dem Boden ab: Wart, Berg, du ſollſt mir eine Burg werden! Nicht nur breite Umrißlinien, zuletzt in das Bild gezogen, heben die Hauptgeſtalten deutlich heraus; unermüdliche Kunſtkritik hat bei dieſen Bilderfabeln auf der Wacht geſtanden, ſo daß Schmied und Landgraf körperlich und ſeeliſch, durch Beleuch— tung und Umrahmung unter je einem Rund— bogen für ſich geſtellt und doch zum Paar ge— worden ſind. Hier grüßte auch altdeutſche Kunſt, wie es Schwind liebte: der Übelacker im Hintergrund iſt Zukunftsbildchenn zu den entſcheidenden Augen— blicken vorn, und das Füchslein, das der ſtarkge—

Eliſabethgalerie 247

wandte Schmied an die Kette gelegt hat und das nun vergebens nach den Schwalben über ihm lugt wie die ritterlichen Landſchädiger an die Kette kommen ſollen erinnert nicht umſonſt an den Fuchs im Vordergrund auf einem der ſchönſten Marienblätter Dürers. In den ſtiliſierten Pflanzen— hintergründen der Eliſabethbilder webt ein Verſtändnis der Triebkraft des Grünen, das an Dürer und Goethe zugleich gemahnt. Wie die Formen, ſo ſprechen die Farben: bald derb, manchmal brummig, mit großer Luſt und erquickend. Und welchen Spaß mag Schwind gehabt haben, als er beim Durchſtöbern der thürin— giſchen Sagenquellen die Geſchichte von dem Eſel— beſitzer fand, dem der Landgraf hilft: das erfreute Eſelein durfte nicht fehlen, wo tragende Eſel ſeit alters zum Bergleben der Wartburg gehörten und ein hölzernes Eſeltreiberkäfterchen oben eins der beſt— erhaltenen Stücke war.

Der Beziehungsreichtum von Schwinds Wartburg— bildern enthüllt ſich nicht dem erſten, raſch vorüber— gleitenden Blick, am wenigſten bei dem Hauptſtück, der großen Darſtellung des Sängerkrieges. Dieſen hatte Schwind ſchon zweimal ausgeführt, als ſtatt— liches Aquarell und als großes Olbild; fait je ein Jahrzehnt trennt die drei Arbeiten. Das Jugendwerk von 1837 zeigte einen ſtatiſtenreichen ruhigen Aufbau, der einigermaßen von Raffaels Disputa und Schule von Athen abſtammt; daraus wurde um 1845 eine

248 Sängerſaal und Kapelle

dramatiſch viel bewegtere Szene, auf der auch Schon das Jünglingspaar Goethe und Schiller als glücklich lauſchende Knappen mit erſcheinen. Welchen Auf— ſchwung hat aber vollends der Wartburgauftrag ge— bracht! Faſt alles iſt friſch durcheinander geſchüttelt und beſſer zuſammengebracht worden, das ſchöne neue Hauptmotiv zwiſchen Ofterdingen und Eliſabeth tritt in den Mittelpunkt, aus dem Hiſtoriengemälde wird ein Sagenbild, indem Klingſor, ſonſt die am feſteſten bewahrte Geſtalt, auf Wolken in ſiegreich fordernder Stellung erſcheint, eine Menge Regenten— und Künſtlerporträts aus Thüringens Gegenwart und klaſſiſcher Vergangenheit klingen an; der gemalte Saal ſetzt ſich in dem wirklichen fort, und auch die herr— liche Landſchaft draußen, die durch die Säulenfenſter grüßt, hilft hier das Jetzt und Einſt verknüpfen. Während Schwind tätig war, feierten die Bau— leute nicht. Zunächſt wurde die an den Sängerſaal rührende Kapelle im groben fertig: ſie konnte im Juni 1855 in Anweſenheit des Großherzogs neu ge— weiht werden, indem die Eröffnung einer Eiſenacher evangeliſchen Kirchenkonferenz hier oben ſtattfand. In den Jahren 1853 bis 1860 erſtand nördlich an den Palas anſchließend die Kemenate neu mit der Woh— nung des Burgherrn, auf den uralten Grundmauern, auf denen ſchon Carl Auguſt ſeinen Neubau errichtet hatte; 1857 wurde der ſchwierigſte Teil davon fertig, der über dem ſteilen Oſtfelſen hängende Erker. Auch

Bergfried, Ritterhaus und Dirnitz 249

hier wurde alles nach Ritgens Zeichnungen möglichſt getreu romaniſch und nun auch wohnlich eingerichtet; die hervorragendſten plaſtiſchen Stücke arbeiteten die beiden jungen Haertel und Donndorf, die ſpäter die Weimarer Denkmäler ſchufen. Der älteſte Burgteil wurde neu aufgeführt, der große Turm, Bergfried geheißen; gegen Ritgens gedrückte Form beſtimmte Preller ſeine ſtolze Höhe. Die feierliche Grundſtein— legung dazu hatte ſchon Ende 1853 ſtattgefunden, zum Glück eilte man hier nicht, ſo daß die Entdeckung der eigentlichen Grundmauer des Bergfrieds 1856 noch zurechtkam. Im nächſten Jahre war der Turm ſchon hoch, als am Geburtstag des Großherzogs die Arbeiter da oben Nun danket alle Gott in die Lüfte ſangen, daß die Eiſenbahnbauer der Eiſenach-Coburger Strecke den Schall leiſe vernahmen und ihre Grüße hinaufwinkten.

Der größere Teil der ſechziger Jahre verging über dem Ausbau des Ritterhauſes, wo Luther gewohnt hatte, und der Aufführung der Dirnitz, in deren hohem Saal Arnswald als Waffenkundiger eine präch— tige Sammlung aufſtellen durfte; gegen Norden ſchloſſen ſich Torhalle und neue Zugbrücke an bis zu dem ſteinernen Schilderhäuschen am Eingang. Inzwi— ſchen verwendete Welter von Köln großen Fleiß auf die dekorativ-romaniſche Ausmalung des Feſtſaales im Oberſtock des Palas und anderer Räume, und die Hoheiten wurden nicht müde, für eine geſchichtlich

250 Wartburgausſtattung 1860 bis 1880

bedeutende Ausſtattung zu ſorgen. Carl Alexander hängte 1863 in der Kapelle die Degen Guſtav Adolfs und Bernhards von Weimar auf neue Magnete für lutheriſch-evangeliſche Herzen nannte ſie Arnswald —, ſeine Schweſter Auguſta ſtiftete 1864 Wand— gemälde und 1867 Glasmalereien in die Kapelle, und ſeine Gemahlin Sophie ſchenkte ihm 1863 das Pirk— heimerſtübchen aus dem Imhofſchen Hauſe in Nürn— berg, das 1867 im Ritterhauſe der Wartburg einge— baut werden konnte. So war 1867, als die Erneue— rung 214000 Taler gekoſtet hatte, eine Art Abſchluß erreicht: er wurde als Achthundertjahrfeier der Wart— burg mit Liſzts Heiliger Eliſabeth im Palas feſtlich begangen.

Die ſiebziger Jahre endlich und der Anfang der achtziger vergingen über der Innenerneuerung des Ritterhauſes als eines Denkmals der Reformation und der Erbauung des Gadems als Dienerſchafts— wohnung an der Südweſtecke der Burg. Nahe dem wahren Lutherzimmer ließ Carl Alexander drei kleine ſtille Gemächer mit dem Blick auf das Werratal als behagliche Gebrauchszimmer in den Formen ſpäter Gotik und deutſcher Renaiſſance herrichten und ſtattete ſie mit echten und nachgeahmten Prachtmöbeln jener Zeit aus und mit Wandbilderfolgen aus Luthers Leben. Neue Weimarer Künſtler malten ſie in den Jahren 1872 und 1880. Von ihnen löſte Pauwels am beſten in Form und Farbe die Aufgabe, vom

Wandgemälde der Reformationszimmer 251

jungen Luther ſo zu erzählen, daß es das Holzge— wände befriedigend ſchmückte; flatteriger, ſchaumiger und der Zimmerkunſt weniger angepaßt waren Thu— manns Bilder aus der Großzeit des Reformators. Hielt dies alles den Beſucher in der Schwebe zwiſchen dem Hiſtorismus der ſiebziger Jahre und der Möglich— keit, Luthers eigne Zeit ſich vorzuſtellen, ſo verbanden ſich ſchließlich doch auch hier neue und alte Zeit zu eigentümlicher Stimmung. Carl Alexander ſah ſein Lieblingswerk gelungen, als in jenen Jahren die Männer von ihm gingen, die ein Menſchenalter lang ihr Leben größtenteils der Erneuerung der Wartburg gewidmet hatten: 1877 ſtarb Arnswald, 1885 Dittmar und 1889 der alte Ritgen.

Die Wartburg wurde zur Zeit ihrer Erneuerung gern mit einem deutſchen Muſeum verglichen; in den ſechziger Jahren ging Carl Alexander wirklich an die Errichtung eines großherzoglichen Muſeums in Weimar. Seitdem die Gemäldeſammlung 1848 aus dem Fürſtenhaus, wo Schorn ſie würdig unter— gebracht hatte, wieder hatte ausziehen müſſen, hatte ſie ein zerſtreutes und verkümmertes Daſein gehabt, zum Teil im Wittumspalais. Da erneuerten im Jahre 1857 die Denkmalsfeſttage den Wunſch des Fürſten, in Carl Auguſts Sinn die Künſte zu pflegen, und er faßte die Abſicht zu dem Muſeumsbau. Er bediente ſich dabei der Goetheſtiftung, die unter ſeinem Protektorat 1849 durch Liſzt begründet

252 Weimarer Muſeumsbau

worden war, damit ſie durch Preiſe an Maler, Bildhauer, Architekten, Muſiker oder Dichter deren Werke oder doch ihre Entwürfe nach Weimar brächte: jetzt ſollte ein Preisausſchreiben den Muſeumsplan beſchaffen. Der Landtag wirkte durch Bewilligung einer beträchtlichen Summe mit, der Bau wurde dem Prager Architekten Zitek übertragen, er konnte 1863 an beherrſchender Stelle der nördlichen Neuſtadt beginnen, und 1869 wurde das ſtattliche Gebäude feierlich eröffnet. Stichlings Rede dabei ſchloß mit Wünſchen für das neue Haus, deren letzter lautete: „Es ſei ein neues würdiges Glied in der großen lebendigen Kette deutſchen Geiſteslebens, deutſcher Art und Kunſt! Das gebe Gott!“

In dem Muſeum erſchien der alte Beſtand der Weimarer Gemälde- und Zeichnungsſammlung um Plaſtik vermehrt. Es waren etwa dreißig der be— rühmteſten Götter- und Menſchenſtatuen der Antike in Gipsabgüſſen angeſchafft worden und Stücke nach Parthenonreliefs, auch die beiden gefeſſelten Sklaven von Michelangelo und zwei der beſten Arbeiten von Thorwaldſen, darunter die anmutige Gruppe, wie Ganymed den Adler des Zeus tränkt. An neuer Plaſtik erblickte man im Treppenhaus ein Rieſen— mal Goethes. Der Entwurf dazu ſtammte von Bettina von Arnim; ſie hatte Goethe auf hohem, reliefgeſchmücktem Sockel ſitzend modellirt, die Pſyche neben ihm, und der Bildhauer Steinhäufer

Bettinas Goethe; Schwinds Märchen 258

in Rom hatte ſich an die Ausführung gemacht, als Carl Alexander und Sophie auf ihrer italieniſchen Reiſe 1852 bei ihm eintraten. Die Erbgroßherzogin erwarb das Werk den Sockel hatte Steinhäuſer weggelaſſen —, 1853 gelangte es zu Waſſer bis Magdeburg, auf dem Schienenweg bis Weimar und dann, von ſechs Ochſen langſam durch die Stadt gezogen, zunächſt in das Tempelherrenhaus im Park, wo es zwölf Jahre ſtand, ehe es in das Muſeum eingebaut werden konnte. Auch den langen Relief— fries der Hermannsſchlacht von Haertel überwies die Großherzogin und von den Schwindſchen Wartburg— entwürfen die zur Eliſabethgalerie, wozu der Groß— herzog die zum Landgrafenzimmer fügte. Seine köſtlichſte Gabe in das neue Haus war die hellfarbige Aquarellfolge des Märchens von den ſieben Raben, wohl Schwinds allerſchönſtes Werk, im Jahre 1857 auf Grund alter Vorbereitung und noch unter der Nachwirkung der gliedernden Fenſterbogen der Wart— burg entſtanden, 1858 auf einer Münchner Jubiläums— ausſtellung zur größten Freude aller Beſucher er— ſchienen und ſofort vom Großherzog von Weimar erworben. Der alte lobeszähe Meiſter Cornelius ſchrieb dem Künſtler darüber: „Sie haben aus einer einfachen Volksſage ein ſo wunderbares Werk zu ſchaffen gewußt, das für die deutſche Nation für immer ein wahrer Schatz bleiben wird. Bei Wahr— heit, Natur und Leben atmet alles Anmut und

254 Prellers Odyſſeekartone

Seele, und was ich am höchſten dabei ſchätze, es iſt alles mit wahrem Stil durchgeführt. Das zeigt ſich auch bis ins geringſte dieſer Arbeit, in jeder Haarlocke, in jeder Falte der Gewandung.“ Keine Worte können das holde Märchen ſo ſchön erzählen, wie es Schwind getan hat.

Und doch war das Hauptereignis des neuen Muſeums noch ein anderes Werk, Prellers Odyſſee— bilder. Preller ſchien um das Jahr 1850 ganz in der Wiedergabe der nordiſchen Landſchaft aufzugehen; da brachte die alte Liebe zu Italien den ergrauenden Kopf wieder in ſchöpferiſche Unruhe. Seine Odyſſee— gemälde im römiſchen Haus in Leipzig ſeien ge— fährdet, ſo erfuhr er 1855; er reiſte mit ſeinem Sohn und Schüler hin, um ſie für ſeine Frau zu kopieren: der Sohn zeichnete ab, der Vater führte mit Sepia aus, worüber ſich ſeinem reiferen Kunſt— ſinn Variationsgedanken aufdrängten. Er arbeitete neue Kartone in etwas veränderten Formaten und Kompoſitionen über die alten Themen aus, fügte ganz neue hinzu und ſchickte ſie 1857 auf Ausſtel⸗ lungen nach Jena, Dresden, Berlin, mit überraſchen— dem Erfolg. 1858 errangen ſie einen Ehrenplatz auf jener Münchner Ausſtellung neben Schwinds Sieben Raben und den Auftrag Carl Alexanders, die Odyſſee in einen dafür herzurichtenden Raum zu malen, wobei noch nicht an das Muſeum gedacht war. Preller hätte ſofort eingewilligt, wenn er ſich

Vollendung der Odyſſeegemälde 255

nicht ſelbſt geſagt hätte, was andere ausſprachen, daß in dieſen Landſchaften zu viel nordiſches ſei. Er bekannte die Notwendigkeit neuer eingehender Studien in Italien, der Großherzog bewilligte die Koſten, und Preller ging Herbſt 1859 bis Sommer 1861 zum zweitenmal nach Italien. Es wurde wieder eine glückliche Zeit wie vor dreißig Jahren, das Geſpräch mit Cornelius förderte, die Blätter ſeiner Studienhefte bedeckten ſich mit fein gezeich— neten Landſchafts- und Pflanzenſtudien aus der römi— ſchen und der Neapeler Gegend und von der Küſte Capris, wo der jähe Klippenwind ſireniſch ſingt und pfeift, und die heitere Schönheit dieſes Landes er— füllte nun recht erſt ſeinen ganzen Sinn. Er kehrte zurück und arbeitete neue Kartone zeichneriſch durch und malte die farbigen Vorlagen daneben.“) Der inzwiſchen entworfne Muſeumsſaal ermöglichte ſechzehn Odyſſeelandſchaften in guter Verteilung: an den ſchmalen Seitenwänden zu beiden Seiten der Türen je eine und an der großen geſchloſſenen Längswand, gegenüber der nördlichen Fenſterwand, zwölf in vier Gruppen zu drei mit je einem breiteren Mittelbild. Dies alles führte Preller daheim aus, in Wachs— farben auf Zementkalkſchicht in eiſernen Rahmen, die in die Muſeumswände eingeſetzt werden konnten. Dann malten ſeine beiden beſten Schüler am Ort

*) Jene gelangten in das Leipziger Muſeum, dieſe in Eiſenacher Privatbeſitz.

256 Zu Cranachs Gedächtnis

den Sockelfries darunter, rote Figuren auf ſchwarz— braunem Grund, mit Telemachs und Penelopes Schickſalen, und das Ganze wurde farbig geſchickt umgeben. Die faſt durchlaufende Horizontlinie des blauen Meeres, die tadelloſen Formen der Menſchen— gruppen, die wunderbare Raumtiefe der meiſten Bilder wie überhaupt der hochentwickelte, vornehme Landſchaftsſinn gaben eine einheitliche, wohltuende Ergänzung der uralten Dichtung im Sinne eines Ausklangs der klaſſiſchen Weimarer Schule.

Die fürſtliche Fürſorge für das Muſeum ließ auch nach der Eröffnung nicht nach. 1872 wurden drei Friedrichſche Sepialandſchaften, Hackerts Nemiſee, Schwinds Handſchuhlegende und einiges von Steinle überwieſen. 1873 wurden die Michelangeloabgüſſe um ſieben vermehrt; und die Bibliothek, die 1869 ichon zwei Arbeiten Graffs herübergegeben hatte, ließ jetzt Cranachs Luther als Junker Jörg folgen. Das Andenken an Lucas Cranach den älteren, den Altersgefährten Johann Friedrichs des Großmütigen, wurde damals in Weimar mit großer Anhänglichkeit wiederholt gefeiert, kannte doch jedermann das eigen— tümliche Haus des treuen Reformationsmalers am Markte, ſeinen Grabſtein an der Hofkirche und das ſchöne Altargemälde von ihm und ſeinem Sohn in der Stadtkirche. 1872 veranlaßte ſein vierhundertjähriger Geburtstag, eine Büſte von ihm bei Donndorf in Auftrag zu geben; ſie wurde als Stiftung des

Prellers letzte Arbeiten ö 257

Fürſtenhauſes und der Cranachſchen Nachkommen 1886 im Muſeum aufgeſtellt.

Der greiſe Preller hat nach Vollendung ſeiner Odyſſee faſt noch ein Jahrzehnt in Weimar ſchaffen können und noch zweimal Italien beſucht. Seine fleißige und ſichere Hand fertigte noch viele Land— ſchaftszeichnungen, auch eine Reihe italieniſcher Ge— mälde, namentlich aus der Gegend von Olevano und als mächtigſtes die Ruinen von Paeſtum. Ja er ge— wann ſich noch ein neues Stoffgebiet und ſtellte Begebniſſe des alten Teſtaments in italieniſcher Land— ſchaft dar. Eine ſeiner letzten Arbeiten, Boas und Ruth, wurde für den Weimarer Verlagsbuchhändler Böhlau gemalt, der ſeit Beginn der fünfziger Jahre manche künſtleriſche Heimatsaufgabe mit ihm zuſam— men beraten hatte. Von 1868 bis 1873 führte er die Direktion der alten Weimarer Zeichenſchule: im Jäger— hauſe arbeiteten ſeine Schüler, in ſeinem Atelier in der Nähe die Schülerinnen, unter ihnen eine Tochter Stichlings. Zu Oſtern 1878 ſchloß Friedrich Preller die Augen.

Von Prellers Schülern ſind drei zu deutſchem Ruf gelangt, die beiden älteren in Weimar, der jüngſte in der Nähe geboren. Carl Hummel arbeitete das ganze Zeitalter über in Freundſchaft mit Preller, aber künſtleriſch inſofern von ihm abweichend, als er das geſehene Naturbild ſelbſt immer mehr als völlig

darſtellenswert empfand in ſeiner Beleuchtung, ſeiner Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 17

258 Carl Hummel, Preller d. j., Kanoldt

atmoſphäriſchen Belebung, ſeinen Farben. Alle Breiten Deutſchlands und viele Gegenden Italiens waren ihm bekannt, von Holſtein bis Sizilien ſuchte er ſeine Motive; ſeine großen Aquarelle von Corſica aus der Wende der ſechziger und ſiebziger Jahre wurden ſeine friſcheſten und kräftigſten Sachen. Auch Friedrich Preller der jüngere, des Vaters Gehilfe und dank— barer Jünger auf der zweiten italieniſchen Reiſe, ſchlug dieſen realiſtiſcheren Weg ein, er berührte ſich mit Hummel auch in der Stoffwahl ein von beiden geliebtes und gemaltes Naturbild war Tizians Hei— mattal Cadore —; er wurde nach Dresden berufen. Edmund Kanoldt lernte von 1864 bis 1869 bei Preller und gewann mit einem Odyſſeus auf der Ziegenjagd den Ehrenpreis der Goetheſtiftung; ihn führte die Entwicklung ſeines farbigen Geſamtempfindens zu einer eignen ſtimmungsvollen heroiſchen Landſchafts- kompoſition, als er ſich in Karlsruhe weiterbildete und doch der prelleriſch-goethiſchen Grundüberzeugung von der wahren Aufgabe des Landſchaftsmalers treu blieb.

Faſt ein Jahrzehnt lang hatte der alte Preller die Freude, in Weimar einen Freund ſeiner erſten römiſchen Jahre neben ſich arbeiten zu ſehen: 1859 kam Genelli. In ihm gewann Carl Alexander den ſtrengſten Epigonen der Carſtensſchen Schule, deſſen Phantaſie ganz in antikiſchen Geſtalten ſpielte und auch von Raffael und Michelangelo mehr als von der

Genelli; Gründung der Kunſtſchule 259

Natur gelernt hatte. Nach Jahrzehnten bittrer Not konnte er in Weimar noch einmal tiefer atmen, ſeine Aufträge für München und Wien erfüllen und auch für die Weimarer Sammlungen manches zeichnen. Er liebte es, die Wirkung des Sängers, des Erzählers auf Zuhörergruppen darzuſtellen, und man bewunderte beſonders ſeinen Homer; wer dies Blatt freilich ge— nauer mit der Darſtellung desſelben Gegenſtandes durch Carſtens verglichen hätte, konnte erkennen: bei Carſtens hebt ſich der erſte, lichtfrohe Flügelſchlag des Genius, auf deſſen Schwingen Genelli ſchließlich, ohne ſich ſelbſt der Erde zu entringen, mit künſteln— der Willkür trieb.

Da war es ein glücklicher Ausgleich, daß es Carl Alexander gelang, zu derſelben Zeit eine Weimarer Kunſtſchule für Maler neueſten Schlags zu begründen: im Oktober 1860 wurde ſie eröffnet. Die berühmten älteren Schweſteranſtalten Düſſeldorf und München ſtanden dabei Gevatter: von Düſſeldorf kam Graf Kalckreuth, der Alpenmaler aus Schirmers Schule, und aus München der gewandte Figurenmaler und Illuſtrator Ramberg und das junge Freundespaar Böcklin und Lenbach. Kalckreuth führte die erſten ſechzehn Jahre das Direktorat. Die Verfaſſung war ſo frei wie die künſtleriſche Tendenz, ſo daß die Per— ſönlichkeiten leicht gegeneinander ausſchlugen und der „Realismus“ der neuen Schule bald berufen wurde; mit Preller und der alten Zeichenſchule Carl

177

260 Die Kunſtſchule in den jechziger Jahren

Auguſts wollte ſich gar kein Verhältnis herſtellen. Trotzdem waren die Anfänge gut, die kleine Schüler— zahl ſtieg raſch, die erſte Lehrerausſtellung enthielt Trümpfe wie Lenbachs Hirtenknaben und Böcklins Raub an der Küſte, die Graf Schack für ſeine Münch⸗ ner Sammlung erwarb, und Kalckreuths Gralsburg, die der Großherzog im Weimarer Schloſſe mit Hum— mels Gärten der Armida paarte. Lehrer und Schüler belebten die Geſelligkeit Weimars von neuem in glänzender Weiſe, als ſich die Tür der Altenburg geſchloſſen hatte. Am raſcheſten entſchwanden Böcklin und Lenbach wieder, die es nach dem Süden zog; einige kräftige Bildniſſe blieben als Zeugniſſe ihrer Weimarer Tätigkeit, auch malte Böcklin hier eine große Jagd der Diana für Baſel: wieviel elementa- riſcher waren die römiſchen Landſchaftsmotive hier erfaßt und verdichtet als von Preller! 1861 wurde Pauwels von Antwerpen berufen, 1862 trat Doepler, vorher Koſtümzeichner am Theater, aus dem Reiche Dingelſtedts in das Kalckreuths über, und in der zweiten Hälfte der ſechziger Jahre, wo auch Ramberg nach München zurückging, wirkten als neue Lehrer der Hiſtorienmaler Wislicenus, aus Eiſenach gebürtig und in Düſſeldorf geſchult, der neuartige Religions- maler Plockhorſt, ein Schüler Pilotys, und ein an der Weimarer Schule ſelbſt gebildetes Talent, Thumann aus Leipzig. Auch deſſen Landsmann Pohle gehörte zu den tüchtigſten Schülern Weimars in den ſechziger

Gehen und Kommen um 1870 261

Jahren; er entwickelte ſich zu einem ausgezeichneten Bildnismaler, den man ſpäter nach Dresden rief. Bedeutendere Schülerkräfte ſtellte Schleſien in dem Grafen Harrach, einem geſellſchaftlichen Matador mit friſchen Augen und herb-klarer Malweiſe (18601868), und Brandenburg in dem kräftigen und derben Reali— ſten Guſſow (1861-1866); nur vorübergehend haben an der Wende der ſechziger Jahre Liebermann und Piglhein in Weimar gelernt. Von den Lehrern ſchieden 1868 Wislicenus, 1869 Plockhorſt und 1870 Pauwels und Thumann aus.

So mußte zu Anfang der ſiebziger Jahre die Lehrerſchaft zum großen Teil abermals neu ergänzt werden. Als erſten ſtellte Kalckreuth 1870 den Wei— marer Schüler Guſſow an: er rechtfertigte dieſe Be— rufung durch großes Lehrtalent, viele Schüler ſam— melten ſich um ihn; 1874 ging er nach Karlsruhe. 1871 traten von Düſſeldorf der Geſchichtsmaler Baur und der junge Landſchaftsmaler Hagen ein, ein Schü— ler Oswald Achenbachs, und von Berlin Schauß; von ihnen zogen 1876, als Kalckreuth die Direktion nieder— legte, auch Baur und Schauß wieder von dannen. Da war es ein Glück, daß kurz vorher (1875) in dem Tiermaler Brendel, der ſich lange in Fontainebleau gebildet hatte, eine beſtändige naturaliſtiſche Kraft erſten Ranges gewonnen worden war; Hagen und er verwalteten in den nächſten Jahren die Direktion.

Viel Einfluß auf die Schüler gewann Hagen.

262 Weimarer Landſchaftskunſt um 1880

Er wandelte dabei ſeine Sehweiſe und ſeine Palette mit ihnen, die zum Teil älter waren als er. In den ſiebziger Jahren erſchien den meiſten als natur» wahr eine Farbenharmonie, in der ein dunkelbrauner Grundton noch vorwaltete, wie ihn das Stubenlicht und damalige Atelierausſtattung mit ſich brachten, und novelliſtiſche Reize des Stoffes galten als unent— behrlich. Auch die beſten Schüler Hagens malten damals ſo, Fedderſen (1871 bis 1877), Haſemann (1872 bis 1878) und Hoffmann-Fallersleben (1874 bis 1879), der in Weimar geborene Sohn des Ge— lehrten, ſelbſt der Weimarer Buchholz, der eigen— ſinnigſte dieſer Gruppe, der der Kunſtſchule von 1867 bis 1876 als Lernender angehörte. Sie alle fanden in der erſten Hälfte der achtziger Jahre mehr oder weniger den Weg zu einer lichteren Farben— wirklichkeit im Freien und überſchritten damit die Schwelle zu einem neuen Zeitalter. Am feinfühlig— ſten drang Buchholz in das Frühlings- und Herbſt— weben der Weimarer Wälder ein. Neben Hagen ging ernſt und ſchlicht auch der Freiherr von Gleichen- Rußwurm auf dieſem befreienden Wege vorwärts, der auf Veranlaſſung des Großherzogs Carl Alexan— der ſein Talent in Weimar ſpät entwickelte, der Enkel Schillers.

Das jüngſte Geſchlecht

Weimar

Wenn die Geſchichte des Jahrhunderts von 1815 bis 1915, wie es das natürliche iſt, erzählt wird als Taten und Erlebniſſe dreier Menſchenalter, ſo wird mit dieſen drei Abſchnitten die Regierungszeit der Fürſten nicht immer zuſammenfallen. Carl Auguſt hat länger als fünfzig Jahre regiert und auch Carl Alexander faſt ein halbes Jahrhundert lang; beide haben in einer außergewöhnlich großen Berufszeit und Herrſchaftsdauer ſtandgehalten. Daß Carl Auguſts Regierung ein einheitlicheres Bild ergibt als die ſeines Enkels, beruht vor allem darauf, daß nur wenige Jahre ihres Anfangs dem vorhergehenden Zeitalter angehören, nur wenige ihres Endes dem nachfolgenden, während ſich ihr Haupt- und Mittel— teil mit einem geſchichtlichen Menſchenalter Deutſch— lands deckt. Carl Alexanders Regierung aber begann knapp nach dem Anfang einer neuen, der Bismarck— ſchen Zeit; nach deren Ablauf hat er faſt noch zwei Jahrzehnte ſeines ergreiſenden Alters das Großher— zogtum geführt, bis über die Jahrhundertgrenze herüber, während ein junges Geſchlecht um ihn herum die neueſte Zeit ſchuf.

266 Carl Alexander und die literarischen Vereine

Was Carl Alexander auch mit dieſem zweiten neudeutſchen Zeitalter verband, war ſein gleich— bleibendes Beſtreben, von Weimar aus dem ganzen Vaterlande zu dienen, ſein ſteter Wunſch, Weimar als eine Freiſtätte dem bewährten Talent offen zu halten, und dann ſein feiner und inniger Zuſammen— hang mit Goethe, durch den er auch die neueſten Goetheaufgaben zu geleiten wußte. Als Achtzig— jähriger bekannte er einmal: „Ich könnte alles entbehren, Goethe nicht.“ Als das neunzehnte Jahrhundert ſchloß, erließ er ſeine letzte öffentliche Kundgebung, ein gemeinſames Schreiben an die Goethegeſellſchaft, die Schillerſtiftung und die Shakeſpearegeſellſchaft, deren Protektorate er nun vereinigte: die Überlieferung einer unvergleichlichen Zeit Weimars im Geiſte ſeiner Vorfahren fortzu— führen, ſei ihm und ſeiner Gemahlin tief empfundene Pflicht geweſen, ihre Erfüllung aber nur möglich geworden durch die allgemeine und vertiefte Teil— nahme Deutſchlands an den Kulturarbeiten, „die mit Weimars Namen unlöslich verbunden ſind.“ Er hoffte, daß im zwanzigſten Jahrhundert dieſe Ver— bindung von Dauer ſein werde, „auch im Hinblick auf ſchöpferiſche Ausgeſtaltungen des Schönen und Wahren in neuen Formen, die eine aus der Vergangen— heit erwachſende große und reiche Zukunft dem deutſchen Volke ſpenden möge auf ſeinem Wege aufwärts zu den höchſten Zielen nationaler Entwickelung.“

Sophie und das goethiſche Erbe 267

In dieſer Geſinnung ſtand ihm die Großherzogin Sophie faſt bis zuletzt zur Seite. Nicht genug, daß ſie im Weimariſchen das große ſoziale Erbe Maria Paulownas übernommen hatte und reichlich vermehrte das 1854 von ihr gegründete Sophien— ſtift, eine wohlausgeſtattete höhere Töchterſchule, beſchenkte ſie 1878 mit einem ſtattlichen Neubau, 1886 wurde ein großes Kranken- und Diakoniſſen— heim als Sophienhaus geweiht, noch ſpäter ihr Kinderheilbad in Stadt Sulza —: als geborene Niederländerin nahm ſie begeiſtert teil, als das Deutſche Reich zur Kolonialmacht wurde, und um dieſelbe Zeit fiel ihr die ſchöne Pflicht zu, das goethiſche Familienarchiv nutzbringend zu erhalten.

Goethes Schwiegertochter war 1871 hochbejahrt kurz vor ihrem Tode in das Weimarer Haus zurück— gekehrt; dort hatten in den Dachzimmern ihre altern— den Söhne die ſiebziger Jahre über ein traurig einſames und verarmtes Leben geführt, nur beſtrebt, Goethes Sacherbe nicht zu ſchädigen. 1883 ſtarb Wolfgang, der jüngere, worauf Walther, der ältere, ſein Teſtament machte. Auch er ſtarb 1885. Das Teſtament ernannte zum Erben von Goethes Haus ſamt den darin verwahrten Sammlungen den Wei— mariſchen Staat und ſtellte dieſe Erbſchaft unter die beſondere Oberaufſicht des Großherzogs; das Familien— archiv ſamt dem ganzen literariſchen Nachlaß Goethes erhielt die Großherzogin zugeſprochen mit dem

268 Goethe » National» Mujeum

Wunſche, es zu empfangen als einen „Beweis tief— empfundenen, weil tiefbegründeten Vertrauens.“ So konnten ſich dieſe ſeit fünfzig Jahren verſchloſſenen Güter am Beginn eines neuen Zeitalters als deſſen Mitgift auftun.

Das erſte Ziel war, Goethes Haus und ſeinen Wohninhalt möglichſt wieder ſo einzurichten, wie er es im Tode verlaſſen hatte. Die Nächſtverwandten von Ottilie und Chriſtiane, ein Graf Henckel von Donnersmarck und ein Vulpius, fanden ſich bereit, weſentliche Erbteile, die ſich nicht unter der Verwahrung der alten Schlüſſelverwalterin bei der Übergabe be— funden hatten und deshalb ihnen als Inteſtaterben zufielen, als beſondere Stiftung dem Hauſe zu über— weiſen; den Mietern wurde gekündigt, das alte Thü— ringer Holzgebäude im Innern zum Teil ſteinern erneuert und im Sommer 1886 das Vorderhaus des „Goethe-National-Muſeums“ allen ſehnſüchtigen Verehrern geöffnet, beinahe ein Jahr darauf auch die übrigen Wohnräume Goethes, darunter ſein Arbeits- und Schlafzimmer genau in dem Zuſtand von 1832. Für die Herrichtung der Empfangs- und Sammlungszimmer wurden alte Beſtitzverzeichniſſe verwendet, Notizen und Erinnerungen, wobei Groß— herzog Carl Alexander ſelbſt eingreifen konnte; im September 1888 betrat die verwitwete Kaiſerin Auguſta zum erſtenmal wieder das größte Zimmer, wo der Rieſenkopf der Juno ſteht, und brach in die

Unter Rulands Verwaltung 269

Worte aus: „Dies iſt genau, wie ich mir den Raum ſo wohl erinnere!“ Von Beginn der neuen Verwal— tung an ſtand dem Hauſe der Weimarer Muſeums— direktor Ruland über zwanzig Jahr lang vor. Die Oſtſeite des Gebäudes wurde 1889 bloßgelegt, als der Staat infolge eines nahen Brandes drei ſchmale Nachbarhäuschen wegreißen ließ, um Goethes Erbe gegen Feuersgefahr zu ſichen. Jahr um Jahr vermehrten nun manche Erwerbungen, viele Geſchenke von nah und fern den eröffneten wunderbaren Beſitz: Büſten und Bildniſſe fanden ſich herzu, reizende Silhouetten und feine Miniaturen, Goethes Schreibzeug, ſeine Brieftaſche uſw. 1891 ſtellte ſich die Zeichnung des Junozimmers mit Goethes Enkeln am Flügel ein, 1836 von Arnswald gefertigt, dem ſpäteren Wartburgkommandanten, 1892 Riemers Zeichnung vom alten Goethe auf der Straße, 1893 getuſchte Landſchaftsblätter Goethes ſelbſt, 1894 das Kolbeſche Goethebildnis aus Schöllſchem Beſitz und getrocknete Blumen mit den Worten Ulrikes von Levetzow: „Der letzte ſehr kleine Reſt der vielen Blumen, welche Goethe mir in Marienbad 1822 von ſeinen Spaziergängen mitbrachte.“ 1903 mußte das ſchmale Frankfurter Familienbild von Seekatz, im geſchnörkelten Rokokogoldrahmen, unter der breiten aldobrandiniſchen Hochzeit aus dem alten Rom Platz nehmen. So durchdrangen ſich allmählich Wohn— ſtätte und Muſeum mehr und mehr.

270 Koetſchau und Oettingen

In dieſe Fülle griff in den Jahren 1907 und 1908 der neue Direktor Koetſchau kräftig ein. Er verfuhr nach dem Grundſatz, Wohn- und Sammlungs— räume ſeien zu unterſcheiden und in den Wohnräumen nur die Dinge zu laſſen, die dort aus Goethes Zeit urkundlich beglaubigt wären. Alles, was mehr ein Goethemuſeum zu bilden geeignet war, reihte er im Dachgeſchoß auf; dorthin verwies er auch den größten Teil von Goethes naturwiſſenſchaftlichen Sammlungen. Zur Neuordnung dieſer mineralogiſchen, botaniſchen und zoologiſchen Sachen gewann er vorübergehend im Hauſe weilende Helfer in Semper, Hanſen und Lehrs; und die Kunſtſammlungen ſuchte er durch wechſelnde Ausſtellungen in einigen Nebenzimmern zum Leben zu bringen. Es fehlte aber an Raum.

Dieſem Mangel half glücklich der dritte Direktor ab, von Oettingen (ſeit 1909). Er erſah die häßliche, zwanzigjährige Blöße an der Oſtſeite zu einem feuerſicheren Anbau ungefähr von der Geſamtfront— erſcheinung der urſprünglichen Nachbarſchaft, und der ſachſen-weimariſche Staat und einzelne deutſche Spender reichten die Mittel dar, die ihm hier die vornehme Durchführung neuzeitlicher Sammlungs— räume mit Hülfe des Baurats Schrammen ermög— lichten (1914). Jetzt erſt konnten auch die drei naturwiſſenſchaftlichen Gehilfen in zwei neuen Vorderzimmern des Dachgeſchoſſes Steine, Pflanzen und Gebein nach Goethes Anſchauungen ſicher und

Ausbreitung von Goethes Sammlungen 271

überſichtlich durchordnen und teilweiſe vor Augen ſtellen, während ein vierter (Speyerer) nebenan Goethes phyſikaliſche Denkarbeit verdeutlichte, ſeine alten Inſtrumente und neue Parallelapparate auf— ſtellte und vor allem das prometheiſch vorſchauende in ſeiner Farbenlehre den heutigen Betrachter ſofort nachzuerfaſſen anwies. Im Hauptſtock darunter wurden zwei größere Räume als Muſeum für Klein— plaſtik, Münzen, Medaillen und Majolikaſchalen goethiſchen Beſitzes fürſtlich eingerichtet und als Studien— ſaal all ſeiner Handzeichnungen, Stiche uſw. und auch dieſe in wiſſenſchaftliche Behandlung (Kroeber) gegeben. So erfüllte ſich achtzig Jahre nach Goethes Tod der Wunſch ſeines Teſtamententwurfs: „Meine Sammlungen jeder Art ſind der genaueſten Fürſorge wert. Nicht leicht wird jemals ſo vieles und ſo vielerlei an Beſitztum intereſſanter Art bei einem einzigen Individuum zuſammenkommen. Ich habe nicht nach Laune oder Willkür, ſondern jedesmal mit Plan und Abſicht zu meiner eigenen folgerechten Bildung geſammelt und an jedem Stück meines Beſitzes etwas gelernt. In dieſem Sinne möchte ich dieſe meine Sammlungen gern konſerviert ſehen.“

Der im Innern wie im Außern vortrefflich an— geſchloſſene neue Oſtflügel erwies ſich auch ſonſt von Nutzen für das Goethehaus. In ſein Erdgeſchoß wurde die Hausmannswohnung verlegt, in ſeinen Keller die Warmwaſſerheizung für das Geſamtgebäude.

272 Begründung des Goethe- und Schillerarchivs

Aus Goethes Zimmern verſchwand die Moderluft der überfüllten Sammelkäſten; ſie konnten jenem wohnlichern Zuſtande mehr angenähert werden, wo Goethes Beſitz noch etwas kleiner war. So ergab ſich eine Überarbeitung des ganzen Hausweſens, zugleich mit vermehrter Rückſicht auf die urkundlichen Quellen, und weitere Herſtellung alter Zimmer, wie denn auch das Dachgeſchoß bedeutenden Zu— wachs an Goethebildniſſen erhielt. Mit alledem war es, als ob neben dem unveränderlich tiefen Eindruck jener beiden durch Goethes lange Geiſtes— arbeit und Tod beſonders geweihten Hinterſtübchen das Haus Atem bekäme.

Den handſchriftlichen Nachlaß übernahm Groß— herzogin Sophie ſchon im Juni 1885 und begründete für ihn zunächſt in einem Saale des Schloſſes das Goethearchiv. Sie übertrug die erſte Sichtung Erich Schmidt und faßte alsbald die bedeutende Abſicht, Goethes und Schillers Handſchriften einmal unter einem Dache zu vereinigen. Der erſte Schritt da— zu war, daß ſie von Cotta die Briefe zwiſchen Goethe und Schiller kaufte; dieſe trafen 1888 nach Cottas Tode in Weimar wieder ein. Nun ſchenkten ihr 1889 die beiden Freiherren von Gleichen, Schillers Enkel und Urenkel, alle Urkunden und Handſchriften aus ihres Ahnen Erbſchaft mit der Beſtimmung, ſie mit dem Goethiſchen Schatze zum Goethe- und Schillerarchiv zu vereinigen: im Juni wurde dieſer

Ein weimariſch-deutſches Literaturarchiv 273

herrlichſte Zuwachs aus dem fränkiſchen Schloſſe Greifenſtein nach Weimar übergeführt. Wie hätten da Herders und Wielands Erben zurückbleiben ſollen? Bis zu Ende des Jahres fügte Staatsminiſter Stich— ling die Herderſtiftung hinzu, beſonders ergiebig für Herders Brautzeit und das frühe Jahrzehnt von 1770 bis 1780, und Wielands Urenkel Reinhold, ein Enkel des Jenaer Profeſſors, das beträchtliche Wieland-Reinholdſche Brieferbe. Und wie Jahresringe ſetzten ſich weitere Kreiſe an: 1890 übergab die großherzogliche Bibliothek alle ihre Manufkripte der Winckelmann-Goethiſchen Zeit, 1891 wurden Goethes Briefe an Carus erworben und Otto Ludwigs Nachlaß: ſchon griff man nach dem bedeutendſten auch der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Gedanke des Goethe- und Schillerarchivs weitete ſich zu dem eines Archivs der neueren deutſchen National— literatur. Es war Zeit, einen eigenen Schrein für dieſe Schriftenſammlung zu errichten: über der Ilm gleich jenſeit des Schloſſes erſtand nach dem Grund— riß der Großherzogin unter Aufwendung von einer Million der weiße Sandſteinbau in klaſſiſchen Formen und wurde im Juni 1896 eröffnet.

Leiter des Archivs war damals Suphan als Nachfolger Erich Schmidts der ſchon 1887 an die Berliner Univerſität übergeſiedelt war —, und bis 1910 kurz vor ſeinem Tode hat der ſinnige, graziöſe Gelehrte die Sammlung gewahrt und mit großem

Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 18

274 Weimarer Goethephilologen

Erfolg vermehrt.“) 1901 wurden viele Handſchriften von Gellert bis Geibel hinzugefügt, darunter Arndt, Uhland, Chamiſſo. Der vollſtändige Nachlaß von Hebbel darunter Tagebücher und Briefe als Ge— ſchenk der Witwe —, von Immermann, Mörike und Freiligrath auch dieſer als Geſchenk der Witwe kamen in das Archiv und beträchliche Teile Platen und Rückert, Bauernfeld und Auerbach, Laube und Freytag, Heyſe und Storm, Keller und C. F. Meyer; ja Suphan konnte 1906 auch von einer niederdeutſchen Abteilung (Reuter und Groth) berichten, und ſchließ— lich erwarb er die aufgefundene Handſchrift der Urform des Wilhelm Meiſter. Dann übernahm Oettingen die Leitung des Archivs; ſeit Beginn war Wahle an der Einrichtung und Wartung tätig, von 1896 bis 1912 leiſtete auch Schüddekopf Mitarbeit, ſeit 1900 Hecker und ſeit 1913 Gräf, der ſchon anderthalb Jahrzehnt in freierer Beſchäftigung beigeſellt geweſen war. Denn hier wurde in ſtillem Fleiß eine dreißig— jährige Gelehrtenarbeit getan, dieſe Güter fort— während erſprießlich zu pflegen und jahraus jahrein Ernte für die deutſche Bildung tragen zu laſſen. Wer aber das Archiv beſuchen kam und ſeine Augen über die Schaukäſten wandern ließ, wen hätte nicht trotz aller gedruckten Bücher die tüpflige

*) Vier Jahrzehnte beſchäftigte ihn daneben die Herſtel— lung einer neuen monumentalen Herderausgabe, deren letzte Bände, wie es ihm Mommſen am Anfang prophezeit hatte, auf ſeinen Sarg gelegt wurden.

Die Goetheausgabe der Großherzogin Sophie 275

Handſchrift von Otto Ludwig, die klug geſchäfts— männiſche von Keller, die diſtinguiert witzige von Scheffel über dieſe Geiſter belehrt, wer ſich nicht an Goethes ſchönen Schriftzügen auf den Oktav— blättchen mit je einer Stanze zum Epilog der Glocke, an ein paar gewaltigen Tell- oder Briefzeilen Schillers erhoben und in dieſen Räumen etwas von der Kraft des Wortes geſpürt, das im Anfang war?

1885 kündigte die Großherzogin auch den Plan zu einer monumentalen Goetheausgabe an, die „das Ganze von Goethes literariſchem Wirken nebſt allem, was uns als Kundgebung ſeines perſönlichen Weſens hinterlaſſen iſt, in der Reinheit und Vollſtändigkeit darſtellen“ ſollte, die jetzt erſt möglich geworden war, und ſie ließ die Arbeit ſofort beginnen. Die Beamten ihres Archivs wurden dazu herangezogen, Schmidt und Suphan als Redaktoren, Wahle als Generalkorrektor, doch war ein großer Stab hervorragender auswärtiger Goethephilologen in Redaktion und Herausgabe da— bei tätig. Das Ganze wurde in vier Abteilungen zerlegt, von denen 1887 drei zu erſcheinen anfingen, die Werke, die Tagebücher und die Briefe; der erſte Band der naturwiſſenſchaftlichen Schriften wurde 1890 ausgegeben. Das Jahr 1903 brachte den Abſchluß der dreizehn Tagebücherbände, 1904 den der gleich großen naturwiſſenſchaftlichen Abteilung, 1909 den der fünfzig Bände voll Briefe; und 1915

wurde der dreiundfünfzigſte und letzte Band der 18.

276 Goethegeſellſchaft und Goethetage

Werke fertig: in ihm fanden die allerletzten noch unbekannten Späne aus Goethes Nachlaß ihren Platz, zurückgelegtes zu Elegien und Epigrammen, Entwürfe zu Fauſt und andern Dramen, Vorträge des Staatsbeamten und Einfälle aus ſeinen Notiz— büchern, z. B. der vielſagende: „Ein Menſch, kein Menſch.“

Wie ſich ein Springquell erſt in einem kleineren oberen Becken fängt, ehe er von da in das breitere Schlußbecken läuft, ſo bildete ſich um die neue Wei— marer Goethearbeit inmitten der allgemeinen deutſchen Teilnahme ein engerer Kreis: die Goethegeſellſchaft. Im Juni 1885 wurde ſie in Weimar gegründet, um alljährlich hier, meiſt zu derſelben ſchönen Jahres— zeit, zuſammenzukommen, neuen Gewinn heimzutra— gen, neue Gaben zu bringen. Bereits Ende 1886 zählte ſie 2400, ſpäter 4000 Mitglieder. Ihr erſter langjähriger Präſident (bis 1899) war der greiſe Eduard von Simſon; dann ſtanden je ſieben Jahre Ruland und Erich Schmidt an der Spitze, worauf der Freiherr von Rheinbaben die Leitung übernahm. Alljährlich legte ſie ihren Mitgliedern womöglich etwas von Goethe auf den Weihnachtstiſch, das ſeinen Kreis erhellte und ſeine Wärme verbreitete, meiſt aus dem Archiv, oft aus dem Goethe-National-Muſeum. Mit, den herzerquickenden Plauderbriefen von Goethes Mutter an die Herzogin Amalia fing es an, bald folgten die an den Sohn (Suphan), und ſolch un—

Schriften der Goethegeſellſchaft 277

befangenen Ton ſetzte das geſchwätzige Tiefurter Journal (von der Hellen) fort; einen verwandten nahmen ſpäter die Briefe aus Ottilies Nachlaß (von Oettingen) wieder auf. Hundertjahrerinnerungen forderten ihr Recht: 1886 traten die Briefe und Tagebücher Goethes aus Italien an Frau von Stein und Herder ans Licht (Schmidt), 1890 der Brief— wechſel nach Italien aus den Jahren von 1788 bis 1790 (Harnack), 1892 die Urkunden zur künſtleriſchen Geſchichte des Weimarer Hoftheaters unter Goethes Leitung (Wahle). Goethe und Lavater, Goethe und die Romantik, Goethe und Sſterreich ließen ſich in zuſammenhängenden Briefausgaben erläutert behan— deln. Von den Werken verdienten die Kenien (Schmidt und Suphan), die Maximen und Reflexionen (Hecker) nach den Handſchriften des Archivs eine beſondere Ausgabe, einige Liederhefte ſogar im Fakſimile, und eine kleine Probe von Goetheliedern mit zeitgenöſſi— ſcher Muſik, ja ein ausgewählter „Volksgoethe“ wurden gewagt. Das Goethe-National-Muſeum ſpendete ſie— ben Mappen mit Wiedergabe von gezeichneten Bild— niſſen und Landſchaften, zum Teil von Goethes Hand (Ruland, Koetſchau, Oettingen). Zwei dieſer Schrif— ten der Goethegeſellſchaft dienten Schiller: 1894 gab Kettner den ganzen Demetriusnachlaß heraus und zum 9. Mai 1905 Suphan die Fakſimile von der Huldi— gung der Künſte, dem Monolog Marfas und dem Epilog zur Glocke.

278 Goethejahrbücher

Keine Goethegeſellſchaft ohne Goethejahrbuch! Das begann ſie freilich erſt zu Ende dieſer Zeit in eigner Redaktion (Gräf) zu unterhalten. Von 1880 bis 1913 lief das von Geiger herausgegebene Jahr— buch, das ihr als Organ diente, ihre beſten Mitarbeiter lange auch zu den ſeinen zählte und für die Goethe— philologie während eines vollen Menſchenalters der bevorzugte Sammelplatz von Einzelarbeit geweſen iſt, zur Verbreitung von Vorträgen und Aufſätzen, von viel Quellenſtoff auch aus dem Goethe- und Schiller— archiv und einer Fülle kleiner Notizen. Und wie hätte ſich in Weimar nicht die Entwicklung des neuen Buchunternehmertums auf den Goethekult werfen ſollen und die Weimarer ortsgeſchichtliche Forſchung?

Kein Zweifel: um Goethes willen tat dies Ge— ſchlecht in Weimar unverhältnismäßig viel mehr als im Namen Schillers. Aber ſchon die fromme Er— haltung von Schillers Haus durch die Stadt bedeutete eine Macht, ein Gut, das durch den ſittlichen Eindruck auf tauſende von Beſuchern dem Vaterlande Zinſen trug. Und von dieſem Hauſe ging jetzt beſondrer Segen und Dank auch für die neue deutſche Literatur aus; denn hier ſchlug die deutſche Schillerſtiftung 1890 dauernd ihren Wohnſitz auf und entſchied die Ver— teilung ihrer wachſenden Mittel, ſoweit das nicht ſchon in ihren Zweigſtiftungen geſchah. Zu ihren Pfleg— lingen in dieſen Jahrzehnten gehörten Detlev von Liliencron und Klaus Groth, Guſtav Falke und Iſolde

Schillerſtiftung um 1900 279

Kurz, die Witwe von Gutzkow und die von Auerbach, Töchter von Storm und Hartleben, Enkel von Pichler und Mörike, ein Urenkel Jean Pauls, die Hinter— bliebenen von Gottfried Kinkel und von Heinrich Seidel. Auch etliche kleinere, manche geringe Talente reinen Willens hat ſie vor bittrer Not bewahrt und dem, der ſie darob leichtfertig angriff, deutlich heimgeleuch— tet; ſie hat eine große Schuld der Nation nach Kräften getilgt und mit alledem einen Hauch von Schillers Art lebendig erhalten. Ihre Generalſekretäre, nach deren Vorſchlag ihre Gaben zugemeſſen wurden, waren von 1869 bis 1902 der thüringiſche Dichter Julius Groſſe, ein Verwandter von Geibels Kunſt, und dann der feinſinnige und witzige Erzähler Hans Hoffmann; nach deſſen Tode (1909) übernahm der Danteforſcher Bulle Laſt und Dank des Amtes.

Im jüngſten Jahrzehnt iſt im Zeichen Schillers noch eine andere weimariſch-deutſche Vereinigung wirkſam geworden, der deutſche Schillerbund. Der 1896 nach Weimar übergeſiedelte Schriftſteller Bartels, anfangs vorwiegend literargeſchichtlich beſchäftigt, ſandte Oſtern 1905 eine Denkſchrift aus mit dem Vorſchlag, Weimarer Nationalfeſtſpiele für die deutſche Jugend zu begründen: in den Sommerferien ſollte hier in Wochenzyklen eine kleine Auswahl unſrer beſten Dramen von Leſſing bis Wildenbruch geſpielt werden vor Schülern und Schülerinnen von ſechzehn bis zwanzig Jahren, die aus ganz Deutſchland un—

280 Jugendfeſtſpiele des Schillerbundes

entgeltlich dazu eingeladen würden. Der Gedanke, gut begründet und als durchführbar nachgewieſen, fand in der deutſchen Lehrerſchaft wie in der Wei— marer Bürgerſchaft Beifall und Unterſtützung, und im Herbſt wurde zur Aufbringung der Mittel der Schillerbund gegründet mit einem halb weimariſchen, halb auswärtigen Vorſtand. Man arbeitete die nächſten Jahre tapfer an dem Ausbau der Sache weiter, her— vorragende Schriftſteller und Gelehrte traten dafür ein, in Weimar der Staatsminiſter und die Inten— danz, und im Sommer 1909 konnten die Feſtſpiele vor 2000 jungen deutſchen Geſichtern von Antwerpen bis Kremſier zum erſtenmal ſtattfinden: Tell, Minna von Barnhelm, der Prinz von Homburg und Egmont wurden aufgeführt. 1911 und 1913 fanden Wieder— holungen mit neuem Spielplan vor etwa 3000 Schü— lern ſtatt (aus fünfzig Gymnaſien uſw.), und wer die Begeiſterung der Jugend am Orte nicht mitzuerleben die Freude hatte, konnte ſich aus den vielen Dank— ſchreiben der Lehrer überzeugen, daß dieſe Jünglings— und Mädchenſcharen in ſolchen Feſtſpielwochen, von der weimariſch-thüringiſchen Umgebung angetan, wun— derbare Stunden deutſchen Glückes erlebten. Ein Teil der völkiſchen Jugendbewegung dieſes Jahrzehnts, zur bevorſtehenden Zeitenwende dem kommenden Ge— ſchlecht gewidmet, war hier in eine verheißungsvolle Bahn geleitet, das erkannten auch ein Beitrag des Kaiſers und das Fürwort des Reichstages an.

Shakeſpearegeſellſchaft um 1900 281

Der einzige nichtdeutſche Dichter, der dabei auf der Weimarer Bühne erſchien, war Shakeſpeare. Dieſem Stern der höchſten Höhe hatte Goethe ſeines Wertes Vollgewinn zu verdanken wiederholt bekannt, ihm und dem Gegenwartsglück im Umgang mit Char— lotte von Stein; ihn uns zu erhalten und immer beſſer zu vermitteln war dann die deutſche Shakeſpeare— geſellſchaft in Weimar gegründet worden. Sie hatte zu Anfang der ſiebziger Jahre unter dem nationalen Selbſtgefühl von 1871 und dem kurz darauf um ſich greifenden Materialismus keine günſtige Zeit gehabt, dann war die Erneuerung des Kunſtbewußtſeins auch ihr allmählich zugute gekommen. In den achtziger Jahren erhielt ſie ſich mit ungefähr 200 Mitgliedern, hob ſich darauf in zwei Sprüngen zu Anfang der neunziger und des neuen Jahrhunderts auf 325, auf 400 Mit— glieder und weiter auf 600. Namentlich zwei ihrer Präſidenten, ihr Veteran Oechelhäuſer (1890 bis 1904) und dann der ausgezeichnete Angliſt Brandl, förderten ſie, und 1914 feierte ſie ihr fünfzigjähriges Beſtehen. Außer ihrem Jahrbuch, das ſie in dieſer Zeit weſent— lich verbeſſerte, konnte ſie größere Schriften, Preis— arbeiten veröffentlichen, ihre Bibliothek bei der großherzoglichen wuchs raſch, deren Verzeichnis von wenigen Seiten (1882) auf 85 (1914), ſie ge— wann ein lebendiges Verhältnis zur deutſchen Bühne, und von ihrer einbändigen Volksausgabe der Schlegel— Tieckſchen Überſetzung, ſeit 1891 für drei Mark feil,

282 Shakeſpearedenkmal; Wittumspalais

wurden binnen zehn Jahren 60000 Stück gekauft. Ja auch Oechelhäuſers kühner Gedanke eines deut— ſchen Denkmals für Shakeſpeare wurde 1904 im Weimarer Park in der Geſtalt verwirklicht, die Otto Leſſing ihm gab: unter hohem Eſchen- und Ahorn- geäſt, keck zur Seite gebeugt im Schaffenstraum und innern Ferneblick, richtet er das halb ernſte, halb lächelnde Antlitz nach den Büſchen, als ob er Puck dort ſpringen ſähe, und die Andeutung einer Theater- ruine droben und das Gleichenſche Wappen aus dem ſpäten 16. Jahrhundert neben ihm ergänzen unbe— abſichtigt die ahndevolle Umgebung.

Großherzog Carl Alexander führte es ein, die in Weimar ſich verſammelnden Mitglieder des Vorſtandes der Goethegeſellſchaft, der Schillerſtiftung und der Shakeſpearegeſellſchaft als ſeine Gäſte im Wittums— palais um ſich zu verſammeln. So wurde der Wohnſitz Anna Amalias auch in der jüngſten Vergangenheit noch benutzt, der übrigens als Weimariſche Sehens— würdigkeit von traulichſtem Reiz in urſprünglicher Geſtalt nun auch der allgemeinen Beſichtigung offen ſtand. Dankbar ſpürte der neue Beſucher das be— ſcheidene Glück des ſpäten achtzehnten Jahrhunderts in dem unmittelbaren Widerſchein des Weſens dieſer Fürſtin in ihren Privatzimmerchen, wo ſie der Ma— lerei, der Muſik oblag, und in den Erinnerungen, die das große Eck- und Leſezimmer erfüllen mit Bildniſſen ihrer Verwandten, mit dem von Goethes

Das großherzogliche Haus um 1885 283

Mutter geſchenkten Deckenleuchter und darunter dem großen, runden Tiſch, an dem ſich einſt die Hof— geſellſchaft ſamt den jungen Herder und Goethe ſo gern unterhielt. 1909 gelang es auch, ihren geliebten Sommerſitz, das Tiefurter Schlößchen, am Rande des ſtillbeglückenden kleinen Ilmparkes, nach Ausräu— mung all der von Carl Friedrich dort untergebrachten Sammlungen wieder in den alten Stand zu ſetzen der Zeit etwa von 1800, eine der erfreulichſten Neuordnungen altweimariſchen Beſitzes.

Während all dieſer reichlichen und ſorgfältigen Pflege, die das jüngſte Zeitalter in Weimar dem klaſſiſchen Erbe angedeihen ließ, änderte ſich vieles im großherzoglichen Hauſe. Im Spätſommer 1873 hatte ſich der Erbgroßherzog Carl Auguſt mit einer entfernten Verwandten vermählt, der Prinzeſſin Pauline von Weimar, und 1876 und 1878 waren dem Paar zwei Prinzen geboren worden. Von ſeinen drei Schweſtern war eine jung geſtorben; von den beiden andern heiratete die ältere Marie 1876 den Prinzen Heinrich VII. von Reuß, den ſpäteren Botſchafter des Reiches in Wien, und die jüngere Eliſabeth 1886 den Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg, der als Kolonialpolitiker und als Regent von Mecklenburg-Schwerin und dann von Braunſchweig deutſche Berufe erfüllte. Statt der nach auswärts gezogenen Töchter erfreuten die heranwachſenden Enkel die Großeltern, und am 8. Oktober 1892 feierte

284 Erbgroßherzog Carl Auguſt

das Land prächtig und herzlich die goldene Hochzeit ſeines Großherzogs Carl Alexander und der Groß— herzogin Sophie, und Deutſchlands Teilnahme klang in das ſeltene Feſt ein.

Der Erbgroßherzog, von ſtillem, nicht leicht hervor— tretendem Weſen, ähnelte ſeinem Namensahnherrn in manchem Zug. Schon 1872 hatte er das Protek— torat über das landwirtſchaftliche Vereinsweſen über— nommen und gab nun hier manche gute Anregung; Mitte der achtziger Jahre nahm er teil an der Aus— arbeitung eines Geſetzentwurfs, der der Zerſplitterung des Bauernbeſitzes ſteuern und das Anerbenrecht im Großherzogtum einführen ſollte. In Forſtwirtſchaft und Fiſcherei galt er als kundiger Berater. Nicht minder beſchäftigten ihn die großen Fragen der Sozial— politik und die weimariſche Steuergeſetzgebung, auch der Stand der Landeskirche und die Entwicklung der evangeliſchen Miſſion. Zur bildenden Kunſt gewann er ein genaues Verhältnis als Sammler alter Radie— rungen, wobei er an den großherzoglichen Hausbeſitz ergänzend eng anknüpfte. Von Kaiſer Wilhelm II. wurde er 1892 zum General der Kavallerie befördert; im Mai 1893 übernahm er den Ehrenvorſitz der ver— einten Krieger- und Militärvereine des Großherzog— tums und ſah kurz darauf unter deſſen Abgeordneten manchen ihm aus dem franzöſiſchen Feldzug bekann— ten Mann wieder. Da ergriff den tüchtigen Fürſten ſchwere Krankheit, der er Ende 1894 erlag.

ot

Großherzog Wilhelm Ernſt 28:

Großherzogin Sophie überlebte dieſen Schmerz nicht mehr lange; ſie ſtarb am 23. März 1897, als der Großherzog zur Jahrhundertfeier des Geburts— tages von Kaiſer Wilhelm I. in Berlin war. Er, der nun gebeugte Greis, ſollte auch im Spätſommer 1900 auf der Wartburg den jüngeren ſeiner Enkel verlieren, den Prinzen Bernhard, ehe ihn ſelbſt in ſeinem dreiundachtzigſten Lebensjahre wie Goethe ein ſanfter Tod in Weimar am 5. Januar 1901 hinwegrief.

An dieſem Tage übernahm Wilhelm Ernſt in ſeinem fünfundzwanzigſten Jahre die Regierung von Sachſen⸗Weimar⸗Eiſenach und verkündete: „Wir treten dieſelbe hierdurch mit der Erklärung an, daß Wir ſie treu und gewiſſenhaft im Einklang mit der Verfaſſung des Großherzogtums führen und das Andenken unſeres nun in Gott ruhenden Herrn Großvaters dadurch ehren werden, daß Wir in ſeinem Sinne wirken und die Überlieferungen unſeres Hauſes als ein teueres Vermächtnis bewahren und pflegen werden.“ Noch waren die Prüfungen des hohen Hauſes nicht zu Ende. Der junge Großherzog vermählte ſich zwar im Frühling 1903 in Bückeburg mit der verwaiſten Prinzeſſin Caroline von Reuß ä. L., und die zarte, kunſtfreundliche Herrſcherin zeigte ſich zu Wohltaten entſchloſſen wie Sophie, als das Sophienſtift ſein fünfzigjähriges Beſtehen beging, und wie Maria Paulowna, als der Hundertjahrtag von deren Ankunft in Weimar gefeiert wurde. Doch im Mai 1904 ſtarb

286 Sachſen-weimariſches Staatsminiſterium um 1900

jeine Mutter, und im Januar 1905 folgte ihr die neue Großherzogin in die Gruft. Fünf Jahre ſpäter ging Wilhelm Ernſt einen zweiten Bund mit der meiningiſchen Prinzeſſin Feodora ein. Ihm entſproſſen in den beiden folgenden Jahren die Prinzeſſin Sophie und ein Sohn; bei deſſen Taufe auf die Rufnamen Carl Auguſt wünſchte der anweſende Pate Kaiſer Wilhelm II.: „Möge der junge Herr, der in dem Lande geboren iſt, aus dem die Wartburg grüßt, vorbildlich ſein in ritterlicher Tugend, wie feine Vor— fahren und Ahnen, und ſein Schwert bereit halten für des Reiches Herrlichkeit. Möge er eine Säule unſerer evangeliſchen Kirche ſein, und möge er, von dem Geiſte der großen Dichterzeit Weimars umfloſſen, auch einſt ein Stützer und Förderer der deutſchen Wiſſenſchaft und Dichtung ſein.“

Wieder waren es die oberſten Staatsbeamten, die in ſolchem Wechſel inmitten des Zeitalters für den Zuſammenhang der Entwicklung Gewähr leiſteten. Der alte Freiherr von Groß, der 1890 an Stichlings Stelle Miniſter wurde, ſchied noch vor Carl Alexanders Tode aus dem Dienſt, aber ſein vortragender Rat in Präſidialſachen und nachmaliger Chef des Finanz— departements Rothe leitete das Miniſterium in der Folgezeit weiter, wobei er die Geſchäfte des groß— herzoglichen Hauſes, des Kultus und der Juſtiz ver— waltete und ihm als neuer Chef des Finanzdeparte— ments Hunnius andauernd zur Seite ſtand. Das

Reich und Großherzogtum 287

Departement für Inneres und Außeres war in wech— ſelnder Hand; Staatsminiſter Rothe aber übernahm von ſeinem Vorgänger auch die Vertretung Weimars beim Bundesrat, und er widmete ſich zugleich der Mitarbeit im Vorſtand der Stiftungen und gelehrten Geſellſchaften, die mit dem Namen des großherzog— lichen Hauſes und der großen Weimarer Dichter ver— bunden ſind. 5

So wuchs das Großherzogtum in die neuen deut— ſchen Verhältniſſe herein, teils in einem ſich allmäh— lich befeſtigenden Zuſammenhang mit den thüringiſchen Nachbarſtaaten, auch mit Preußen und dem ganzen Reiche, teils auf Grund heimiſcher Entwicklung. Das Reich griff mit dem bürgerlichen Geſetzbuch und der großen Verſicherungsgeſetzgebung ein, deren Ausbau das ganze Zeitalter in Anſpruch nahm. Dem Schöp— fer des Reiches dankte das neue Weimarer Geſchlecht durch Errichtung eines Bismarckturmes an hoher freier Ecke des Ettersberges: am Sedantage 1900 wurde der Grundſtein dazu gelegt, Carl Alexander hatte den Platz mitten in ſeinem Jagdgebiete zur Verfügung ge— ſtellt, und das Miniſterium den nahen Kalkſteinbruch, und Ende Oktober 1901 wurde der Bau geweiht.“)

Mit Preußen verband ſich das Großherzogtum vor allem dadurch enger, daß 1886 die Bahnen

*) Dieſem Beiſpiel folgten Eiſenach und Jena: Die Eiſenacher Bismarckſäule wurde im Herbſt 1902 auf dem

Wartenberge geweiht, die Jenaer im Frühjahr 1909 auf dem Tatzend; beide hatte der Dresdner Architekt Kreis entworfen.

288 Thüringen und die neue Reichsgeſetzgebung

der thüringiſchen Eiſenbahngeſellſchaft an den preu— ßiſchen Staat übergingen, auch mit der Verwandlung der thüringiſch-anhaltiſchen Staatslotterie (ſeit 1897) in eine heſſiſch-thüringiſche (ſeit 1902) und deren An— ſchluß an Preußen (ſeit 1906). Auf Grund eines Staatsvertrags, den Weimar 1910 mit Altenburg und den beiden Schwarzburg abſchloß und dem dann auch Coburg-Gotha beitrat, begann mit dem Oktober 1912 das neue Thüringer Oberverwaltungsgericht in Jena ſeine Tätigkeit. Der alte thüringiſche Zoll⸗ und Han— delsverein wurde 1889 zum Thüringiſchen Zoll- und Steuerverein umgeſchaffen, und unter den zwölf Bezirks— zollämtern ſeines Gebietes wurden drei weimariſche gebildet; ſein Präſident in Erfurt ward zur oberſten Inſtanz ernannt für die jüngſte Reichsſteuergeſetz— gebung, die Erbſchaftsſteuer von 1906, die Stempel— abgabe von 1908 und die Zuwachsſteuer von 1911. Binnen einem Jahrzehnt wurde im Gehäuſe des weimariſchen Staates, teilweiſe im Verband mit thüringiſchen Nachbarn, ein neues Kammerweſen zum Teil im Anſchluß an die Reichsgeſetzgebung einge— führt: durch die Geſetze von 1900 und 1906 die Handwerkskammer; durch die von 1901 und 1907 die Sachverſtändigenkammern für Werke der Literatur, der Tonkunſt, der bildenden Künſte und der Photographie und durch Geſetz von 1906 die Handelskammer; auch die alte landwirtſchaftliche Zentralſtelle wurde 1909 in eine Landwirtſchaftskammer umgewandelt.

Landwirtſchaft um 1900 289

Unter allen thüringiſchen Staaten iſt im Groß— herzogtum Sachſen-Weimar-Eiſenach der Anteil der landwirtſchaftlichen Bevölkerung verhältnismäßig groß. Während im Fürſtentum Reuß ä. L. 13 v. H. Landleute und Landwirte gegen 76 v. H. ſtehen mit einer Tätig— keit in Induſtrie, Handel und Gewerbe, im Herzogtum Sachſen-Meiningen 24 v. H. gegen 65 v. H., iſt das Verhältnis im Weimariſchen wie 30 v. H. zu 55 v. H. Dieſe ländliche Urbeſchäftigung zu fördern, richtete der weimariſche Staat neuerdings landwirt— ſchaftliche Winterſchulen ein, 1900 in Markſuhl und 1907 in Triptis. Das nähere über die theoretiſche Ausbildung inländiſcher Bewerber um Forſtdienſt— ſtellen wurde 1910 feſtgeſetzt, auch kam es zu einer Neuorganiſation der oberen Forſtbehörde, wie denn Großherzog Wilhelm Ernſt für dieſen Zweig der Landesnutzung warme Teilnahme zeigte. War doch auch in den zwanzig Jahren von 1883 bis 1903 der Forſtgrund zwar nur von 43 Tauſend auf 46 Tau— ſend Hektar gewachſen, der Reinertrag daraus aber von 932 Tauſend Mark faſt auf das doppelte. Der liberalen, zerſtückelnden Bodenpolitik früherer Zeit— alter, gegen die ſchon Erbgroßherzog Carl Auguſt anzukämpfen geſucht hatte, wurde 1912 ein Gegen— gewicht geſchaffen in dem Zuſammenlegungsgeſetz für Fluren und Flurteile: es ermöglichte, alten Streu— beſitz durch Austauſch unter den Dorfgenoſſen in zu—

ſammenhängendes Beſitztum zu verwandeln, wobei Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 19

290 Bergbau und Induſtrie um 1900

zugleich auf beſſere Anpaſſung der Flureinteilung an die Bodennatur geſehen wurde. Am ſtärkſten waren die Veränderungen im Bergweſen: an verſchiedenen Stellen des Landes fand man Kaliſalzlager und be— gann ſie mit Vorteil zu erſchließen, daher wurden 1905 ein neues Berggeſetz und 1906 neue Ordnungen für die Bergpolizei und die Markſcheider erlaſſen; infolge dieſer Kaliunternehmungen war die Einnahme aus dem Bergregal z. B. zwiſchen 1899 und 1904 von 25 auf 144 Tauſend Mark geſtiegen.

Die thüringiſche Induſtrie bewahrte ſich bis zur Gegenwart einen doppelten Reiz, der auch der wei— mariſchen Induſtrie eigen blieb: ihre große Mannig— faltigkeit auf engem Raum und das Vertrauensver— hältnis in der Werkgemeinſchaft. Wo fände ſich in Deutſchland noch das patriarchaliſche Weſen öfter als hier, daß der Arbeiter mit ſeiner Kraft ein volles Menſchenalter hindurch demſelben Unternehmen dient? Und dabei erſtreckte ſich ihre Ein- und Ausfuhr über das Reich, ja über deſſen Grenzen hinaus: der neu— ſtädtiſche Kreis ſpann Jute aus Indien, und Apoldas Woll- und Wirkwaren wanderten auf den Weltmarkt. An der Bürgeler Töpferei ſah man deutlich, wie das Eindringen des neuen Unternehmertums das alte Handwerk umgeſtaltete. Dort hatte es 1861 noch 43 Töpfermeiſter gegeben, dann hatten Gewerbefrei— heit und Induſtrialiſierung zu einer kritiſchen Zeit in den ſiebziger Jahren geführt, woraus ſich allmäh—

Neue Schulung von Gewerbe und Handel 291

lich der neue Dauerzuſtand ergab, wie ihn noch das Jahr 1914 aufwies, wo ſich neben vier Fabrikbetrie— ben doch neun Handwerksbetriebe, auf höherer Stufe als einſt, erhielten. Auch mit der elektriſchen Dreh— ſcheibe ließ ſich echte Thüringer Volkskunſt ausüben, gleichviel ob um 1880 eine Welle des damals moder— nen Kunſtgewerbes ſie überflutete oder um 1910 der Einfluß van de Veldes. Ein ausgezeichnetes Bei⸗ ſpiel techniſcher Verfeinerung tat ſich in Ilmenau auf: unter mitwirkender Aufſicht der phyſikaliſch-tech— niſchen Reichsanſtalt wurde hier eine großherzogliche Prüfungsanſtalt für Glasinſtrumente errichtet, um Thermometer, chemiſche Meßgeräte uſw. zu prüfen und zu beſcheinigen; dazu kamen im nächſten Jahr— zehnt drei verwandte Eichämter und 1894 als ſtaat— liche Lehrwerkſtatt eine Fachſchule für Glasinſtrumen— tenmacher und Feinmechaniker. Das kleine alte Weſen der zwei Gewerkenſchulen wandelte ſich und wuchs zwiſchen 1886 und 1896 zu den neuen ſechs Gewerbe— ſchulen. Ihnen geſellten ſich ſechs Handelsſchulen; denn ein Geſetz von 1912 ordnete für jede Gemeinde von mehr als 10000 Einwohnern eine kaufmänniſche Fortbildungsſchule an. Beſondere ſoziale Fürſorge errichtete 1901 die Weimarer Blindenwerkſtatt und ſtellte der Gewerbeinſpektion neue Aufgaben durch das Kinderarbeitsgeſetz von 1903 und das Haus— arbeitsgeſetz von 1911. In denſelben Jahrzehnten

verwandelten ſich auch im Weimariſchen alte Real— 19 *

292 Weniger und Burkhardt

ſchulen erſter Ordnung in Realgymnaſien, während die zweiter Ordnung die Militärberechtigung zum Einjährigenzeugnis erhielten.

Der berühmteſte derzeitige Rektor des Großherzog— tums war Weniger; er leitete das Gymnaſium der Reſidenz von 1881 bis 1908 und nochmals ſeit Be— ginn des großen Krieges, als ſein Nachfolger ins Feld zog. In den Jahren 1884 bis 1913 veröffent- lichte er größere und kleinere Forſchungen über den altgriechiſchen Götterdienſt in Olympia, beſonders zur Verehrung des Zeus und der Artemis, und das mythologiſche Hauptwerk des Zeitalters, Roſchers Lexikon, verdankt ihm manchen Beitrag; auch zur Gymnaſialpädagogik und zur thüringiſchen Geſchichte lieferte er Bauſteine. Unter den deutſchen Archivaren ragte Burkhardt hervor, der von 1862 bis 1907 an der Spitze des weimariſchen Geheimen Staatsarchivs ſowie des erneſtiniſchen Geſamtarchivs ſtand. Als hier ein praktiſches Archivgebäude nach ſeinen Vor— ſchlägen errichtet und 1885 eröffnet wurde, erſchienen als ſeine Feſtgabe quellenmäßig bearbeitete Stamm— tafeln der Erneſtiniſchen Linien des Hauſes Sachſen; ſeine vielen Aufſätze in den Grenzboten und der All— gemeinen deutſchen Biographie, zu Goethes Weimarer Tätigkeit, zur Reformationsgeſchichte, zur Geſchichte Weimars, ſein Handbuch der deutſchen Archive in großdeutſchem Rahmen und 1887 in ſtark vermehrter Auflage —, ſein Anteil an der Veröffentlichung von

Neueſte weimariſche Kulturgeſchichtſchreibung 293

Goethes Tagebüchern (Sophienausgabe) ſichern ihm ein wiſſenſchaftliches Gedenken. Auf eine noch längere Weimarer Tätigkeit, die gelegentlich nach Deutſchland hinausgriff, blickte ſchließlich der 1915 im zweiund— achtzigſten Jahre geſtorbene Herr von Bojanowski zurück: 1863 hatte ihn Watzdorf zur Leitung der Weimariſchen Zeitung berufen, und 1893 übertrug man ihm die der großherzoglichen Bibliothek, aus deren Direktionszimmer er die Gedächtnisſchriften zur jüngſten Geſchichte ſeines Fürſtenhauſes ausſandte. Die neuere weimariſche Kulturgeſchichte fand in einer Angehörigen des Steinſchen Geſchlechts eine kundige Berichterſtatterin, in Adelheid von Schorn, der Toch— ter Ludwig Schorns, die namentlich aus dem Liſzt— kreiſe viele anziehende Briefe mitzuteilen hatte. Und wer dieſen neuen weimariſch-deutſchen Kreis noch weiter ziehen wollte, könnte an Richard Voß erinnern, den Carl Alexander zum Bibliothekar der Wartburg ernannte, und auch an Schillers Urenkel, den ge— ſchmeidigen Eſſayiſten der neueren europäiſchen Kultur— geſchichte, Alexander von Gleichen-Rußwurm.

Mehr als ſie alle ſchrieb und erzählte Helene Böhlau mit weimariſchem Herzblut. Nicht Geſchichte, aber Geſchichten, vor allem ihre eigene, und das mit ſo friſcher Luſt und hohem Gegenwartstemperament, daß es im ganzen echte Dokumente des Zeitalters wurden. Als neu und jung und thüringiſch quellend wurden ihre erſten Novellenverſuche gegen 1885

294 Helene Böhlau

empfunden; dann trieb das Schickſal fie aus dem Elternhaus und der Heimat an der Hand eines in Seelennot gewonnenen Mannes, und nun umſpann ſie in der Ferne all ihr Glück von Weimarer Erinne— rungen aus der Großmutterzeit und ſchrieb die Rats— mädelgeſchichten und die Altweimarer Geſchichten in verſchiedenen Folgen, verſuchte ſich auch in größeren ſozialproblematiſchen Romanen, und ſie ſtellte ihr eigenes Geſchick dar wie in einem Vermächtnis an die Vaterſtadt in dem Roman „Reines Herzens ſchuldig“ (1888) und ſpäter nochmals kräftiger, tiefer, unmittelbarer in dem Roman „Iſebies“ (1911). Das könnte man verſucht ſein goethiſch an ihr zu nennen, daß ihr Talent ihr durch einen ſchweren Kampf hindurch geholfen hat, obwohl bei ihr mehr eine künſtleriſche Rechtfertigung nach der Tat erfolgt. Die altweimariſche Stimmung am Ettersberg und in den älteſten Gaſſen der Stadt hat ſie manchem zu Danke poetiſiert.

Deutſche Sinner und Dichter fühlten ſich unwider— ſtehlich nach Weimar gezogen. Da war zu Beginn des Zeitalters Hans Herrig: er ſchwärmte von der Neubelebung des religiöſen Elements in volksmäßiger Tönung mit Schopenhauerſchem Einſchlag, kämpfte für eine deutſche Volksbühne, und ſein Lutherfeſtſpiel erlebte 21 Auflagen, aber von Weimar aus, wohin er 1888 überſiedelte ſeine Frau war eine Tochter des weimariſchen Kapellmeiſters Stör war ihm

Nietzſche und Wildenbruch 295

nur noch geringe Wirkung beſchieden; er ſtarb 1892. Zu den Lieblingsgedanken des jungen Nietzſche hatte es gehört, ſeine Tage wenn nicht am Rhein, ſo in Weimar zu beſchließen; das erfüllte die treue Schwe— ſter, als der Geiſt des ikariſchen Fliegers gebrochen war, und bereitete ihm 1897 mit Hülfe van de Veldes ſein Krankenheim am Silberblick über der Stadt und geſtaltete es nach ſeinem Tode zum Nietzſche-Archiv aus. Die Kunſt von Klinger und Olde verewigte hier den Kopf des Mannes, der den von Goethe einſt für ſich abgelehnten Begriff des Übermenſchen zur Züchtung moderner Herrennaturen verwenden wollte und dem ſeine Kriegseindrücke von 1870 das Ideal vom Willen zur Macht als allherrſchend eingeflößt hatten. Die Verehrung für den ſo fein— fühligen wie verwegenen Denker, in dem viele um ſeines glückhaltigen Höhenwahns, um ſeiner kühnen Worte willen einen Haupteroberer neudeutſcher Gei— ſteshaltung ſahen, wurde von Weimar aus von der Schweſter unabläſſig gepflegt. Auch Wildenbruch wurde an ſeinem Lebensabend ein ſtändiger Sommerbewoh— ner Weimars, das er um ſeiner klaſſiſchen Vergangen— heit und anmutigen Gegenwart willen ſchwärmeriſch liebte. Mit loderndem Herzen arbeitete er hier wie in Berlin an ſeinen letzten Dichtungen, nahm er hier an den Verhandlungen der Goethe-, der Shakeſpeare— geſellſchaft teil, ſah er 1905 die Weimarer Urauffüh— rung ſeiner „Lieder des Euripides“ und dichtete dar—

296 Lienhard und die Heimatkunſt

auf „Das Hohelied von Weimar.“ Droben am Horn neben ſeinem ſchönen von Schultze-Naumburg erbau— ten Hauſe bewegt der Abendwind die Rüſterzweige, daß die gegenüber golden untergehende Sonne ſein marmornes Sterbemal mit ſpielendem Lichte belebt.

Was dieſe Männer nach Weimar führte und was ſo manchen andern im Geiſte dort landen läßt, hat Lienhard in ſeinen „Wegen nach Weimar“ angedeu— tet, einer Monatsſchrift dreier Jahre (1905 bis 1908), die ſich in Halbjahrskreiſen von heute und außen her über Heinrich von Stein und Emerſon, Shakeſpeare und Homer, über das Zeitalter Friedrichs des Großen, Herder und Jean Paul allmählich Schiller und Goethe näherte und dabei das Schaffen der Gegenwart be— leuchtete und zu befruchten ſuchte. „Wie einſt Peri— kles ſein Athen als die Hochſchule von Hellas empfand, ſo nenne ich in menſchlich weitem und geiſtig unbe— fangenem Sinne Weimar die Hochſchule des neuen deutſchen und neueuropäiſchen Kulturideals“, erklärte der Herausgeber. Mehr wollend als könnend ſuchte er auch als Lyriker und Dramatiker dieſes Ideal neu zu verwirklichen und, wie er vorübergehend in Wei— mar weilte, ſo ſchrieb er eine Wartburgtrilogie, deren erſter Teil Gedanken von Scheffels Wartburgroman verwandte. Beſcheidner, aber bodennäher arbeitete in dieſen Jahren Arminius aus genauerer Landes— kenntnis an Weimariſcher Heimatkunſt in Novelle, Roman und Drama. In dem Blick aufs Nahe,

Schlaf, Hegeler, Ernſt; Hardt 297

Kleine lag auch die Stärke von Schlaf, einem der Begründer des neuen Naturalismus, der 1904 nach Weimar überſiedelte und ſich hier auf dem Entwick— lungswege eines deutſchen, religiöſen Romanhelden— typs weiter taſtete, wobei er ſich in aſtronomiſche Fragen verfitzte, künſtleriſch völlig anſpruchslos, wäh— rend Hegeler in vielen Novellen zum Teil weimariſch heimatlichen Stoffes, aber berliniſcher Mache ſeine Technik befeſtigte. Von dieſer Gruppe hob ſich im letzten Jahrzehnt Paul Ernſt ab; proteusartig ſchlug er ſich durch viele flach erfaßte Gedanken und ſicher gebaute Sätzlein vorwärts, durch wirklichkeitsferne Stildramen und flink-platte Novelletten, moderniſierte das Stellamotiv in einem Roman und bot der Bühne wieder einmal einen Demetrius und ein Canoſſa, eine Brunhild und eine Ninon de Lenclos an.

Ernſt Hardt kam als ein Dichter (1907) nach Weimar. Schnell hatte ihn ſein erſtes Drama, das mittelalterlicher Epik und Plaſtik entſtammte, Tantris der Narr, auf den Gipfel der Anerkennung mit Schillerpreis und Schillervolkspreis gehoben. Im Winter 1910 vollendete er hier ſeine Gudrun und gab den im alten Gedicht heiter geſehenen Geſtalten ſo herben Stolz und harte Gebärden, daß es ein nibelungentrotziges Trauerſpiel wurde. Dann gelang es ihm (Sommer 1912), für die Geſchichte von der Rückkehr des Grafen von Gleichen, die ſo oft mit

298 Liſztſtiftung und Liſztdenkmal

tragiſcher Miene angefaßt worden war, ein erheitern— des Licht aufzuſtecken und die beiden Frauen dieſes orientaliſierten Herren in dem Scherzſpiel Schirin und Gertraude in beluſtigender Einigkeit vorzuführen und ſo das Problem mit deutſchem Lachen ad absurdum zu führen. Der Orient lockte ihn weiter.

Manches dieſer neuweimariſchen Werke wurde hier auch zuerſt aufgeführt; das weimariſche Theater wurde über zwei Jahrzehnte von dem genialen Spiele erſt des jungen Wiecke, dann des älteren Weiſer belebt. Doch pflegten die neuen Intendanten mit Vorliebe die Oper und ſetzten die liſztſche Überlieferung des vorigen Zeitalters fort. Es war zuerſt, nachdem ſich Wildenbruch der Werbung Carl Alexanders verſagt hatte, Bülows ehemaliger Mitſchüler bei Liſzt aus den Tagen der Altenburg, Hans Bronſart von Schellen— dorf (1887-1895); ihm fiel auch eine leitende Stel— lung zu, als es galt, für Liſzt ein Denkmal in Wei— mar zu ſchaffen. Zu Liſzts Gedächtnis richtete ſchon 1892 die Fürſtin Hohenlohe, einſt als Prinzeſſin Marie auf der Altenburg gefeiert, die Liſztſtiftung ein wodurch Liſzts Räume in der Hofgärtnerei nebſt dazu gehörigen Geſchenk- und Bücherſammlun— gen erhalten blieben —, und Liſztſtiftung und Allge— meiner deutſcher Muſikverein erließen 1894 einen Denkmalsaufruf für den Meiſter. Als 1899 die Mo— delle dazu eingingen, konnte der erſte Preis dem Münchner Bildhauer Hahn zugeſprochen werden; es

Der junge Richard Strauß 299

gelang ihm, den inſpirierten, milden Ausdruck des Kopfes noch zu ſteigern, ſo daß man ihn mit der nervöſen Rechten in Verbindung fühlte, und Ende Mai 1902 wurde das weiße Marmorſtandbild im Park nahe der Hofgärtnerei aufgeſtellt.

Unter Bronſart erlebte der begabteſte Erneuerer der Liſzt⸗Wagnerſchen Kunſt in Weimar entſcheidende Jahre, der junge Richard Strauß. Seit Oktober 1889 hier als Kapellmeiſter neben Laſſen tätig, hatte er zunächſt Gelegenheit, ſeinen Don Juan, ſeinen Mac— beth dirigierend zu hören, ſinfoniſche Dichtungen in Liſzts Fahrwaſſer, aber von neuem perſönlichen Tem— perament erfüllt; „Tod und Verklärung“, das ſchon im Programm an „Leid und Verklärung“ von Liſzts Prometheus anknüpfte, aber wiederum einen Grad naturaliſtiſcher zufaße, brachte er 1890 auf dem Ton— künſtlerfeſt in Eiſenach heraus, das innigſte und eigenſte dieſer Werke, in München begonnen und in Weimar fertig geſchrieben. In der Oper widmete er ſich vervollſtändigten Wagneraufführungen nach Bayreuther Muſter; vergebens ſuchte er ſeines Mentors Alexander Ritter „Faulen Hans“ im Spielplan einzubürgern, aber mit der Uraufführung einer anderen deutſchen Märchenoper hatte er großen Erfolg, mit Humper— dincks Hänſel und Gretel zu Weihnachten 1893. Damals war auch die Partitur ſeiner erſten eigenen Oper fertig geworden, Guntram, in Weimar angelegt und größtenteils auf Erholungsurlaub im Süden

300 Guntram

ausgearbeitet. So naiv er im Text ausſchüttete, wie es ihm ums Herz war, und dabei bald Uhland, bald Schiller, bald die „ſoziale Frage“ verwendete, ſo entſchieden behauptete er ſich in der Muſik mit Triſtan- und Parſifalklängen und nach eigenem Bekenntnis „als guter Wagnerianer“ und fühlte im Grunde doch noch mehr mendelsſohniſch. Triolenauf— ſchwünge, gepeitſchte Geigenläufe, Holzbläſerdickicht, neue harte und ſüße Klänge, ein verſchärfter Sub— jektivismus der Orcheſterſprache waren ſein Eigentum wie unter den Figuren der Narr, mit dem zu Be— ginn des zweiten Aktes die Ironie von Strauß breit präludierend einſetzte; ſchrieb er doch ſchon in Weimar auch den Textanfang zu einer Oper Eulenſpiegel nieder. Der Tenoriſt Zeller ſang den Guntram, die Sopraniſtin de Ahna ſein Widerſpiel Freihild; beide hatte Strauß aus München mitgebracht, beiden wid— mete er 1894 zwei Hefte mit Liedern. Op. 26 vor der Entſcheidung ſeines Liebesglücks auf zwei Texte Lenaus: ein geheim ſeliges, ſchüſſiges Singlied und und ein ſchier verzagtes Sprechlied; op. 27 vier Lieder, die den Beginn der Liedkunſt des jüngſten Zeitalters neben Hugo Wolfs Geſängen und dem großen Fluß der Brahmsſchen Lyrik bezeichnen, auf Texte von Henckell, Hart und Mackay: ihre chromatiſchen Akkord— veränderungen, gelöſt von altharmoniſchem Geſetz, vermitteln unausgeſprochene Empfindungswechſel, we— niger in den mouſſierenden, raſchen Stücken als in

Gunlöd 301

den ſchweren wie dem Eingangslied „Ruhe, meine Seele“ mit den optiſch-akuſtiſchen Effekten der Sonnen— blicke im Waldlaub, den motoriſch-akuſtiſchen Erinne— rungen an den Lebensſturm und dem pathetiſchen Staunen über die gewaltige Gegenwart. Kurz darauf zogen Strauß und ſeine Sängerin zur Hochzeit nach München davon.

Der Ortszuſammenhang mit Liſzt bewirkte wohl auch, daß einer der früheſten ſeiner jungen Weimarer Freunde hier neue Pflege fand, Cornelius. Er hatte in ſeinen letzten Jahren an einer Oper Gunlöd ge— arbeitet, den Text und auch die beiden erſten Akte der Muſik niedergeſchrieben, vom Schlußakt nur wenige Bruchſtücke. Eine ſymboliſche Dichtung: Gun— löd, von dem wilden Suttung geraubt, bewahrt für Odin, der kommen wird, einen heiligen Trank, über— gibt dieſen auch Odin, der als Knecht in Suttungs Haus getreten iſt, wird darum von Suttung in den Gebirgsſchlund der Hel geführt, aber von den Alfen nach Walhall enthoben, wo ſie nun Odin ewig den Trank reicht. Auch hier Triſtanklänge als Huldigung für Wagner eingewoben, aber auch unfreiwillig man— ches wagneriſche in ſzeniſcher und ſprachlicher Erfin— dung; ſonſt mehr lyriſches, als dramatiſches Weſen, ja mehr Liebe zur Kunſt, als unmittelbare Schaffens— kraft. Einer erſten Ergänzung des ſchön empfundenen Werkes durch den jungen Hoffbauer in München nahm ſich Laſſen an und führte ſie überarbeitet

302 Cornelius und Baußnern

1891 in Weimar auf, von wo die Oper in den nächſten Jahren ihren Weg nach Straßburg und Mannheim fand. Nach einem Jahrzehnt brachte ihr das Corneliusfeſt 1903 in Weimar neues Leben: als hier der originale Barbier von Bagdad, von Mottls glänzender Retuſche befreit, und auch der Cid wieder bejubelt wurden, beſchloß man, ihr eine gediegenere Behandlung angedeihen zu laſſen und übergab ſie Waldemar von Baußnern in Köln, der ſie neu unter— baute und zu Ende führte, ſo daß ſie ſo von nieder— rheiniſchen Aufführungen 1910 auf die Weimarer Bühne zurückkehren konnte. Baußnern ſelbſt ſiedelte hierher als Direktor der großherzoglichen Muſikſchule über), und wie Cornelius ſein Werk „Hohes Lied der Seele“ deutend genannt hatte, ſo ſchrieb er hier und in der Schweiz „Das hohe Lied vom Leben und Sterben“ als ein großes weltliches Oratorium zu Worten von Goethe bis Nietzſche, naturandächtige Stimmen des Jahrhunderts mit muſikaliſchem Pathos vermählend, wobei beſonders die neueren Dichter wie C. F. Meyer, Polenz und M. von Stern einen ſtarken Ausdruck fanden.

Bronſarts Nachfolger Herr von Vignau erhielt eine beſondere Aufgabe, als Großherzog Wilhelm Ernſt bald nach ſeinem Regierungsantritt den Neubau des Hoftheaters in Angriff nahm. Die Münchner

*) Als Muſik- und Theaterſchule 1872 von Müllerhartung gegründet und von ihm dreißig Jahre geleitet.

Theater- und Schloßbau 303

Firma Heilmann und Littmann arbeitete 1905 ein Bauprogramm aus, wonach das Gebäude wenige Meter weiter ſüdlich als der alte Bau von 1825 zu ſtehen kommen ſollte, ſo daß Bühne nebſt Magazin— räumen 1906 errichtet werden konnten, während un— mittelbar daneben das alte Haus noch in Benutzung war; 1907 wurde der Zuſchauerraum und der ſonſtige Vorderteil des Gebäudes angefügt, und im Januar 1908 fand die Einweihung ſtatt. In dem ſchwierigen Untergrund auf faſt 2000 Pfähle geſtützt erhob ſich die neue Laſt von Stein und Eiſen, im Außeren Weimars älterer ruhiger und vornehmer Bauweiſe angeglichen, im Innern mit allen techniſchen Möglich— keiten der Gegenwart ausgerüſtet, ja auch mit einem dreifach veränderlichen Proſzenium mit Vorder— bühne für das Schauſpiel, oder mit offnem oder verdecktem Orcheſter und ohne alle Proſzeniums— logen, der Zuſchauerraum in dem Farbendreiklang von Weiß, Gold und Grünblau. Von den zwei Millionen Koſten trug der Großherzog mehr als drei Fünftel, in den Reſt teilten ſich Land und Stadt. Kurz nach Vollendung des ſchönen Werkes übergab Herr von Vignau ſein Amt dem Freiherrn von Schirach. Die in erſter Linie am Theaterbau ſchaffenden Kräfte wurden auch zu dem Ergänzungsbau einer ſüdlichen Stirnſeite des großherzoglichen Schloſſes herangezogen, deren Außeres in den Jahren 1913 bis 1915 vollendet wurde.

304 Bau⸗ und Kunſtdenkmäler

Die Bau- und Kunſtdenkmäler der Vergangenheit des Großherzogtums Sachſen und der andern thürin— giſchen Staaten außer Schwarzburg-Sondershauſen wurden in einem großen geſchichtlichen Inventariſa— tionswerke gemeinſchaftlich nach Amtsgerichtsbezirken aufgenommen. 1884 begann eine Kommiſſion die Arbeit, in der Lehfeldt als Konſervator und Be— reiſender vor allen tätig war. Bis zur Jahrhundert— wende, wo ihn der Tod abrief, brachte er 27 ſtatt— liche Hefte mit einer großen Fülle orts- und kunſt⸗ geſchichtlich verarbeiteten Stoffes zum Druck: darin waren Sachſen-Altenburg, Schwarzburg-Rudolſtadt und die beiden Reuß vollſtändig behandelt, vom Groß— herzogtum allein ein Dutzend Hefte (der Oſten und die Mitte) und Teile von Meiningen und Coburg— Gotha vorgelegt. Bis 1915 wurden unter dem neuen Konſervator Georg Voß weitere dreizehn Hefte in immer vollkommenerer Ausführung namentlich der Abbildungen fertig ſeit 1906 in erweiterter Anlage unter Mitarbeiterſchaft von Ortshiſtorikern, aber unter Zugrundelegung des großen Lehfeldtſchen Nachlaſſes und ſomit dieſes Ehrenwerk thüringiſcher Geſchichte und Kunſt binnen dreißig Jahren nahezu vollendet.

Das großherzogliche Muſeum wurde den größten Teil dieſer Zeit über von Ruland geleitet; Koetſchau, der ihm folgte, griff auch hier ein, indem er minde— res beiſeite ſtellte und den Geſamteindruck veredelte. Das Muſeum übernahm aus der Bibliothek 1883

Großherzogliches Muſeum und Ehrengalerie 305

Cranachs erneſtiniſche Fürſtenbilder und 1912 alt— thüringiſche Schnitzaltäre; auch der Ankauf einiger Cranache gelang. Aus Goethes Zeit wurde z. B. eine Zeichnung des jungen Cornelius erworben, die er 1804 zum Wettbewerb der Weimariſchen Kunſt— freunde eingeſchickt hatte, und als Geſchenk der Fro— riepſchen Erben 1909 eine große Sammlung von Büſten und Figuren Klauers, des Weimarer Bild— hauers vom Ende des 18. Jahrhunderts. Der Beſitz an Prellers und Genellis Kunſt wuchs durch Ankauf und durch Überweiſungen aus dem Liſztſchen Erbe. Und wie ſo die altheimiſchen Werte vermehrt wurden, ſtellte ſich auch, zum achtzigſten Geburtstag Carl Alexanders, ein großes Geſchenk neuweimariſcher Künſtler ein: 140 Werke, darunter 100 Gemälde, wurden von ihnen als „Ehrengalerie“ überreicht und zur Hälfte in zwei Sälen des Muſeums gezeigt, Ar— beiten von Lehrern und Schülern der Kunſtſchule und anderen Neuweimarern aus den ſechziger bis neun— ziger Jahren, meiſt vom Ende des Jahrhunderts und vorwiegend Landſchaften, wobei Hagen und ſeine Schule an Zahl voranſtanden, aber auch Guſſow und die Seinen tüchtiges lieferten ſowie die jüngſten Meiſter und Geſellen und die einen altes brachten, die andern das neueſte, darunter Böcklin, Lenbach, Liebermann. Endlich erfuhr das Muſeum wertvollſten Zuwachs durch Überweiſungen aus großherzoglichem

Beſitz wie das Sanſovinobildnis Tintorettos und ein Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 20

306 Muſeum am Karlsplatz

Selbſtbildnis Rembrandts, Landſchaften von Hackert und Friedrich, drei feine Zimmerbildchen von Kerſting und Menzels große Begegnung Joſefs II. mit Fried— rich dem Großen. Der notwendige Raum für das alles ließ ſich beſchaffen, indem ein Tochtermuſeum am Karlsplatz abgezweigt wurde: dort hatte ſich ſchon 1880 ein Verein zur Förderung der bildenden Kunſt und des Kunſtgewerbes aufgetan, ſtändige Ausſtellun— gen eingerichtet, 1903 ſeinen Beſitz dem Staatsfiskus überantwortet, und 1909 ſiedelte Koetſchau dorthin auch die reiche graphiſche und Bücherſammlung des Muſeums über und ſtellte eine ſchöne Porzellan— ſammlung auf, meiſt aus den großherzoglichen Schlöſ— ſern.

Zu den Weimarer Malern des Zeitalters gehörten drei für ſich ſtehende Alte: Hummel, Behmer und Gleichen. Hummel erlebte die diamantene Hochzeit und ſtarb im fünfundachtzigſten Jahre 1906. Bis in das neue Jahrhundert herein malte er fleißig jene Art Land— ſchaften weiter, wie er ſie einſt in manches Fürſten— ſchloß geliefert hatte, und um 1883 war ſein Auge und ſeine Hand noch friſch genug, etwas von dem damals einziehenden Naturalismus mit zu empfinden und zu verarbeiten; Südtirol mit Cadore, Corſika und Sizilien, Holſtein und Thüringen ließen ihn nicht ruhen. Als 1892 der großherzogliche Garteninſpektor Hartwig ſein Gehölzbuch mit Beobachtungen und Erfahrungen eines fünfundvierzig Jahre tätigen Land—

Altweimariſche Maler um 1900 307

ſchaftsgärtners neu herausgab, zeichnete ihm Hummel dazu ſauber ſechzehn ſtattliche Bäume aus Thüringen, darunter die Schillereſche im Weimarer Park. Behmer, 1915 im vierundachtzigſten Jahre geſtorben, gab mit ſeinem Mädchenbildnis „Wilde Roſen“ von 1875 zur Ehrengalerie eine Arbeit, die ſich von ſelbſt neben Scholderers, Trübners Kunſt derſelben Zeit ſtellt, und ſein im höchſten Alter vollendeter „Jüngling zu Nain“ iſt mit Eduard von Gebhardts Spätwerken im Ausdrucksgehalt der Köpfe und Hände verwandt, während Bildnisſkizzen von ihm aus derſelben Zeit auch fünfzig Jahre früher von einer geſchickten Hand gezeichnet ſein könnten.

Ludwig von Gleichen-Rußwurm, durch Geburt und Geſinnung zum Vorſitzenden der Schillerſtiftung und in den Vorſtand der Goethegeſellſchaft berufen und 1901 im dreiundſiebzigſten Jahre geſtorben, hat die Entwicklung zur modernen Landſchaftskunſt wohl am tiefſten in Weimar und in ſeiner fränkiſchen Hei— mat durchlebt und auch an der Schwelle des Greiſen— alters noch ſein Auge weitergebildet. Aus ſeinen Ra- dierungen eine der älteſten iſt Weimar 1877 be— zeichnet —, auf denen er gern den einfachen Anblick eines in mittlerer Bodenhöhe vor die Luft geſtellten Bauern mit dem Schubkarren behandelt, hat man ihn ſchon als einen unſrer allerhervorragendſten Land— ſchafter erkannt; aber zeigt nicht auch das Gemälde

mit dem Rundweg, das er zu Carl Alexanders acht— 20*

308 Landſchaftsmalerei; die Kunſtſchullehrer

zigſtem Geburtstag beiſteuerte, in Farbe und Raum die perſönliche augenblickliche Erringung deſſen, was wir als Stil in der neueſten Landſchaftsmalerei gelten laſſen müſſen? Und ſolchen Stil neuerdings immer wieder aus dem echten Grunde geſteigerten Natur- ſtudiums herauszuläutern waren auch junge Künſtler in Weimar tätig, vor allen Lambrecht, der über ein Jahrzehnt lang den farbig ſo unſcheinbaren Eindruck von Birkenſtämmen im Schnee von der kleinen, zu— fälligen Steinzeichnung bis zu großen, bewußten Gemälden ſteigerte und über dem einen Gegenſtand unwillkürlich an Kraft, Zucht und Liebe der Land— ſchaftsdarſtellung überhaupt ins Ungemeine wuchs. Als Lehrer der Kunſtſchule wirkten das ganze Zeitalter hindurch Hagen und der 1883 berufene Bayer Thedy, von 1890 bis 1913 auch der Figurenmaler Frithjof Smith. Thedy ſchuf vorzügliche Bildniſſe, neben Genrebildern; Hagen befleißigte ſich des ſchlich— teſten Landſchaftsnaturalismus. Von 1885 bis 1890 gehörte der Schule auch Graf Kalckreuth d. j. als Lehrer an, und daß er hier die Anfänge der Steige— rung ſeiner impreſſioniſtiſchen Kunſt ins Monumentale erlebte, zeigt ſein Schnitterbild aus Bergſulza in der Ehrengalerie. Die Leitung der Kunſtſchule hatte anfangs Brendel inne, dann Graf Schlitz-Görtz; Großherzog Wilhelm Ernſt übertrug ſie zu Beginn ſeiner Regierung an Olde und 1910 an den Worps— weder Mackenſen, kurz nachdem er die fünfzigjährige

Olde und Hofmann; deutſcher Künſtlerbund 309

Anſtalt zur Hochſchule für bildende Kunſt erhoben hatte.

Oldes Verwaltung brachte bedeutendes Gegen— wartsleben: er malte eine Reihe der geſundeſten Bildniſſe; neben ihn trat Ludwig von Hofmann als eines der beſten deutſchen Talente für dekorative Wandmalerei und auf kürzere Zeit auch Saſcha Schneider. Die hervorragendſten Weimarer Künſtler wurden 1907 zur Ausſchmückung des neuen Theaters vereinigt: in den Flügeln des Wandelſaals malte Hof— mann wohl ſeine farbenſchönſten und lebensfroheſten Frieſe, Schneider bewegte Figurenträume in einem Braun, das ihm vielleicht der Lyſikratesfries im Goethe— haus nahegelegt hatte; Olde, Thedy und andere arbeiteten Großherzogsbildniſſe in die Fürſtenloge. Es war eine ehrende Anerkennung der neuen Kunſt Weimars, daß ſich die ſezeſſioniſtiſchen Gruppen hier 1903 unter dem Grafen Keßler zum deutſchen Künſtler— bund mit Weimar als Vorort zuſammenſchloſſen.

Als neue Gründung Wilhelm Ernſts wurde im Herbſt 1902 ein kunſtgewerbliches Seminar unter van de Velde eröffnet, eine Art Hochſchule für Kunſt— handwerker, und im Laufe der nächſten fünf Jahre zu einer Kunſtgewerbeſchule ausgebaut; den Schulbau dazu wie den Neubau der verſchwiſterten Kunſtſchule beſorgte van de Velde. Dieſer belgiſche Feuergeiſt war ſeit Mitte der neunziger Jahre mit einer ſich faſt überſtürzenden Energie auf den Spuren des Eng—

310 Van de Velde

länders Morris tätig, den Stil der Gegenwart in Haus und Gerät zu ſchaffen. Leidenſchaftlich und unge— ſchichtlich verwarf er die Leiſtung des neunzehnten Jahrhunderts; mit hartem Willen und glühender Luſt trachtete er überall die konſtruktive Idee zu ver— wirklichen, zu verdeutlichen, wobei er aus dieſem Nur oft ein Allzuviel machte; und das ihm eigene Doppel— weſen von entſchiedener Abſtraktion gleichviel ob recht oder verfehlt und Augengier nach ſchwellen— dem Linienfluß und neuem Farbenwert ſchuf vieles ungeahnte, manches ſchöne, manches bizarre. Die Dresdner Ausſtellung 1897 machte ihn in Deutſch— land bekannt, deutſche Aufträge zogen ihn nach Berlin, und er war eben mit der Vollendung des Hagener Muſeums Folkwang beſchäftigt, als ihn Weimar rief. Hier diente die neue Kunſtgewerbeſchule der Ausbil— dung von Kunſthandwerkern und förderte auch ſonſt das Kunſtgewerbe nicht nur des Großherzogtums; ſie zählte im erſten Jahre des vollen Betriebs (1907/8) 27 Schüler, im ſechſten 76, und von dieſen waren 27 Sachſen-Weimarer, 3 ſonſtige Thüringer, 42 wei— tere Deutſche und 4 Ausländer. Sie wurden in kunſt— gewerblichem Zeichnen, Farbenlehre und Ornamentik unterrichtet, eine Töpferwerkſtatt und Buchbinder— abteilung lieferten Kunſtſtücke, Metallarbeiter und das Atelier für Weberei und Stickerei erſtaunliches, indem Fachlehrer und -lehrerinnen unter dem anſpornenden Beiſpiel ihres Leiters ihr beſtes taten und daheim

Kunſtgewerbeſchule 311

etwelchen Verdienſt, auswärts erſte Preiſe erzielten. Van de Velde erbaute Stadt- und Landhäuſer von merkwürdiger Schönheit in Weimar, in Eſſen, in Chemnitz, auch in Hagen (Oſthaus 1902) und in Gera (Schulenburg 1915); er frappierte auf den Ausſtel— lungen in Dresden (1906) und Köln (1914) im Bunde mit dekorativen Malereien Hofmanns. Inzwiſchen hatte ſein ſtiliſtiſcher Wille einer der ſtärkſten künſtleriſchen Trümpfe während der zweiten Hälfte des Zeitalters eine Menge zum Teil beſonnenerer Nachfolger ge— funden, und ſeine vorwiegend romaniſche Abſtraktion und Senſitivität wurden mehr und mehr als fremder Tropfen in unſerm Blut empfunden. Der Ausbruch des europäiſchen Krieges wurde zur Schickſalsſtunde für van de Veldes Weimarer Tätigkeit, und 1915 ſchloß der Großherzog die Kunſtgewerbeſchule. Es war ein Ende, deſſen geſchichtliches Recht der tiefer blickende wohl leiſe mit Goethes Entlaſſung aus der Theater— leitung vor hundert Jahren zu vergleichen vermöchte.

Die weimariſche Plaſtik des Zeitalters heißt zur Hälfte noch: Donndorf. Kurz nach Vollendung des Carl⸗Auguſt⸗Denkmals hatte der hier geborene Künſtler zwar den Ruf nach Stuttgart angenommen, in eine leitende Stellung Südweſtdeutſchlands; aber er blieb der Heimat dankbar und anhänglich und ſtiftete ihr des zum Zeichen den Bronzeguß der Brunnengruppe einer Mutter mit zwei Kindern, deren größeres ſchöp— fen gehen will. Als die Stadt das liebliche Bildwerk

312 Die beiden Donndorf

über dem neuen Granittrog an altbeſcheidnem Plätz— chen) im Herbſt 1895 übernahm, ſagte der ſechzig— jährige Adolf Donndorf: „An dieſe Stelle leitete meine gute Mutter, die Butte auf dem Rücken, meine erſten Kinderſchritte, und hier verträumte ich, während ſich der Eimer füllte, als Knabe manche Stunde. Deshalb gilt der Brunnen an dieſer Stelle auch dem Andenken meiner geliebten Mutter. Er gilt allen Müttern, er gilt der Mutterliebe, die nie vergolten werden kann..“ Wer die Ausführung mit der des Carl-Auguſt-Denk— mals verglich, konnte ſehen, daß Donndorf zu einer ſtiliſtiſch beruhigteren Formgebung übergegangen war, wenn es auch nicht der Stil war, den das Zeitalter auf Grund einer neuen Naturempfindlichkeit ſonſt errang. Dieſen gewann ſein Sohn Carl, und er zeigte ſich auf dem Wege dazu in der 1896 enthüllten Erz büſte des Erbgroßherzogs vor dem Muſeumsbrunnen. Der Vater Donndorf widmete der Stadt Weimar ſpäter ein zweites Geſchenk mit den meiſten ſeiner Gipsmodelle zu Denkmälern, ſeiner Denkmalsſkizzen, Büſten und Medaillons, darunter mancher weimariſchen Arbeit und großen nationalen Werken von Saar— brücken und Bonn bis Hermannſtadt, und 1907 er— öffnete die Stadt das dafür gebaute Donndorfmuſeum. Inzwiſchen aber hatte der Großherzog auch der Plaſtik

*) An der dicht begrünten Wand des Hauſes des um

Weimars jüngſte Vergangenheit hoch verdienten Kommer— zienrats Döllſtädt.

Deutſch-europäiſcher Krieg 313

an der Kunſtſchule eine Stätte bereitet und ſie 1905 mit Brütt beſetzt: deſſen Nachtgruppe in der Weſt— eingangshalle des Schloſſes und das Landesdenkmal Carl Alexanders zu Pferde, das inmitten der Wipfel des geräumigen Carlsplatzes am 24. Juni 1907 ent- hüllt wurde, zeigten den neuen Meiſter. Doch ſchied er bald wieder, und ſo klang das Zeitalter mit Ar— beiten ſeines zweiten Nachfolgers Engelmann aus: der ſorgſam erſonnenen feinen Büſte des alten Goethe in deſſen Hauseingang und dem Standbild eines zum Kampfe ziehenden derben Jünglings, das als Ehren— mal für Wildenbruch zu Oſtern 1915 geweiht wurde und zugleich als Sinnbild für Deutſchlands kämpfende Jugend.

Denn wie einſt zum deutſch-franzöſiſchen Kampfe, ſo ſtellte das ſächſiſch-thüringiſche Großherzogtum ſeine jungen Männer zum deutſch-europäiſchen Kriege, in Oſt und Weſt, zu Tat, Opfer und Sieg. Wilhelm Ernſt bewährte den Herzogsnamen, beim Sturm und im Lazarett, und Großherzogin Feodora ſchaltete als Regentin des Landes wie Sophie und als Obervorſteherin der Frauenvereine in Kriegsfürſorge. Die Gedanken dieſer Stadt Goethes und Schillers, wie ſie binnen einem Jahrhundert in gelaſſener Reg— ſamkeit größer, ſchöner und ehrenreicher geworden war, und die Liebe dieſes weimariſchen Landes reckten ſich mit ihren Angehörigen des deutſchen Heeres hinaus über die Reichsgrenzen. Kaiſer Wilhelm II. aber ſagte

314 Wilhelm II. und das weimariſche Bataillon

in ebendieſen Frühlingstagen 1915 draußen zu einem deutſchen Hiſtoriker: „Sehen Sie, da habe ich jetzt als Bewachungsbataillon des großen Hauptquartiers ein Thüringer Bataillon, lauter Sozialdemokraten, Jenen— ſer von Zeiß, die Apoldaer Strumpfwirker und Leute aus Weimar, und doch, ich habe die unmittelbare Gewißheit, daß ich mich ihnen anvertrauen kann wie einſt Eberhard mit dem Barte. Iſt das nicht herrlich?“

Jena

Die thüringiſche Univerſitätsſtadt weimariſcher Zu— gehörigkeit bezeugte zu Beginn der neueſten Zeit ihre deutſche Geſinnung leuchtend, als ſie den Fürſten Bismarck Ende Juli 1892 empfing. Der entlaſſene ſiebenundſiebzigjährige Kanzler kehrte aus Kiſſingen zurück, nachdem ihm in Dresden die Sachſen, in München die Bayern, in Augsburg die Schwaben groß— artig gehuldigt hatten; in Jena dankten und frohlockten ihm die Thüringer. Als ſich die ſichere Kunde ſeines bevorſtehenden Kommens verbreitete, ſchafften die benachbarten Dörfler das Holz zu mächtigen Schichten auf die Berge für Freudenfeuer, die Stadt ſchmückte ſich mit Laub und Reiſern, die Häuſer mit Fahnen und neuen Kernreimen, der Marktplatz wurde zum Feſtſaal, und Vertreter andrer thüringiſcher Städte ſtellten ſich ein. Unbeſchreiblicher Jubel beim erſten Empfang, die Senats- und Profeſſorenbegrüßung im Bären und Bismarcks Ausfahrt während der Berg— feuer und der Fackelzug ereigneten ſich am Vorabend; am folgenden Sonntag vormittag ſangen die Kurrende und die Pauliner vor ſeinen Fenſtern, „Ein feſte Burg iſt unſer Gott“ und das wehmütig ernſte Jenaer

316 Bismarck und Lipſius

Lied „Auf den Bergen die Burgen, im Tale die Saale“, und die Umfahrt des Fürſten durch die Stadt ſchloß mit dem Marktfeſt als Höhepunkt dieſer Stunden, die durch eine Reihe geiſtreicher Anſprachen, manches Wort Bismarcks und zwei große politiſche Reden von ihm gewürzt wurden. Den Brunnen, bei dem ſein Zelt auf dem Markte ſtand, ließ die Stadt ſpäter künſtleriſch als Bismarckbrunnen faſſen durch Adolf Hildebrand, einen Sohn des Jenaer Nationalökonomen des vorigen Zeitalters.

Es war der Jenaer Theologe Lipſius, der damals am Bahnhof Bismarck mit markigen Sätzen begrüßte. Er war halb philologiſcher Hiſtoriker, durch genaueſte Arbeit auf frühchriſtlichem Gebiete zu Hauſe, und halb Dogmatiker, der um 1890 noch als Sechzigjähriger den notwendigen Weg aus dem erfahrenſten Kritizis— mus in das gebundenere Reich theologiſcher Praxis fand und wies. In jungen Jahren war er ſchon 1858 beim Univerſitätsjubiläum zum Jenaer Ehren— doktor ernannt worden, von 1861 bis 1871 hatten ihn Profeſſuren in Wien und Kiel beſchäftigt, und ſeitdem lehrte er in Jena; von hier ging die große Arbeit ſeiner Apokryphen Apoſtelgeſchichten und Apo— ſtellegenden aus (1883 bis 1890), hier arbeitete er die Auflagen des motivreichen Gedankengebäudes feiner Dogmatik, über deren dritter ihn der Tod 1892 ab— rief. Neben ihm wirkte als Kirchenhiſtoriker, da Haſes Kräfte abnahmen, Nippold, einer der Mitbegründer

—1

Theologiſche Fakultät 31

des Evangeliſchen Bundes, d. h. der großen Zuſammen— faſſung der deutſchen evangeliſchen Chriſtenheit, die ſich 1887 in Frankfurt a. M. vollzog und anfangs namentlich von Halle, Jena und Erfurt aus betrieben wurde, woran Großherzogin Sophie von Anfang an teilnahm. Nachfolger von Lipſius wurde 1893 der vierzigjährige Wendt, deſſen „Syſtem der chriſtlichen Lehre“ 1907 reifte und der 1909 in einer Prorektorats— rede die neuerdings beliebte Zuſammenwerfung von Chriſtentum und Dualismus klar auseinander löſte, übrigens beſonders um ein genaueres Verſtändnis der Entſtehung des Johannesevangeliums bemüht. Zu Ende des 19. Jahrhunderts begann der ausgezeichnete Prediger Paul Drews in Jena ſeine akademiſche Tätigkeit in Reformationsgeſchichte und Paſtoraltheo— logie, der Begründer einer evangeliſchen „Kirchen— kunde“ der Gegenwart, der dann nach Gießen ging. 1903 geſellte ſich der Homiletiker Thümmel hinzu, ein ſtreitbarer Proteſtant, und bald darauf Weinel, der unter den jüngeren Vertretern eines freien Chriſtentums raſch eine führende Stellung erlangte. Zum Teil war die Erneuerung des jenaiſchen religiöſen Geiſtes, die ſie und ihre Kollegen brachten die Zahl der ordentlichen Theologieprofeſſoren ſtieg hier zwiſchen 1883 und 1913 von 4 auf 6 —, als Aus— einanderſetzung mit den moniſtiſchen Ideen zu ver— ſtehen, wie ſie vor allem von Haeckel ausgingen, aber auch von einem Jenaer Verleger propagiert wurden,

318 Juriſtiſche Fakultät

der die unkritiſchen, ſtaubaufwirbelnden Sammel— ſchriften von Arthur Drews über „Die Chriſtus— mythe“ und den Monismus veröffentlichte.

Ein geſchloſſeneres Bild bietet die gleichzeitige juriſtiſche Fakultät Jenas. Faſt das ganze Zeitalter über lehrte Thon, der Sohn des weimariſ chen Miniſters, römiſches und dann auch deutſches bürgerliches Recht und im Wechſel mit Loening Strafrecht und -prozeß, und ſeit 1892 las Erich Danz als ordentlicher Profeſſor über römiſches Recht und Rechtsphiloſophie, der jüngſte Vertreter des alten Jenaer Gelehrtengeſchlechtes. Roſenthal war ſeit 1883, ſeit ſeinem dreißigſten Jahre, zuerſt als außerordentlicher und ſeit 1896 als ordent— licher Profeſſor für öffentliches und Staatsrecht tätig. Während er in Jena und Thüringen zugleich gelehrte und gemeinnützige Vereinigungen leitete, griffen ſeine Schriften auch nach ſeiner bayriſchen Heimat über, ja auf das Reich überhaupt und weiter: 1889 und 1906 erſchienen die beiden Bände ſeiner Geſchichte des Gerichtsweſens und des Verwaltungsorganismus Bayerns, 1894 und 1908 die Studien über inter- nationales Eiſenbahnfrachtrecht und über die geſetzliche Regelung des Tarifvertrags und 1911 und 1913 die Schriften über die Reichsregierung und über den Wandel der Staatsaufgaben in der letzten Geſchichts— periode. Die juriſtiſchen Ordinariate Jenas wurden um ein ſiebentes vermehrt.

Am ſtärkſten wuchs der Lehrkörper der Ordinarien

Mediziniſche Fakultät 319

der mediziniſchen Fakultät, von ſieben auf elf Stühle. Das dauernde Gepräge des Zeitalters wurde hier vor allem durch die Namen Riedel, Gärtner, von Barde— leben, Binswanger und Stintzing beſtimmt. Riedel war jenaiſcher Ordinarius von 1888 bis 1910 als Direktor der chirurgiſchen und der Poliklinik, berühmt beſonders als Unterleibschirurg, nachdem er 1897 zuerſt die Frühoperation der Blinddarmentzündung ausgeführt und bekannt gemacht hatte, der tauſende ihr Weiterleben verdankten. Gärtner, früher zwölf Jahre Marinearzt und dann in Robert Kochs Geſund— heitsamt beſchäftigt, kam 1886 als Profeſſor nach Jena und wurde hier 1888 Ordinarius für Hygiene; ſein Leitfaden der Hygiene erſchien 1913 in ſechſter Auflage. Bardeleben, in . ſeit 1888 ordentlicher Honorarprofeſſor, verſtand als Vertreter der topo— graphiſchen Anatomie ſein Atlas dazu wurde 1906 zum viertenmal aufgelegt Goethes Arbeiten auf dieſem Gebiete zu behandeln, auch als Mitarbeiter der Weimarer Ausgabe; er wirkte aber nach außen vor allem durch das großartig angelegte Handbuch der Anatomie des Menſchen, zu dem er die beſten Mitarbeiter gewann und das binnen zwanzig Jahren (1894 bis 1914) dem Abſchluß nahegebracht wurde. Binswanger übernahm 1882 eine ordentliche Profeſſur als Leiter der pſychiatriſchen Klinik und veröffentlichte viele Schriften zur Anatomie der Zentralnerven und des Gehirns, zur Paralyſe und Epilepſie, zur Neur—

320 Jenaer Biologen in Berlin, München, Bonn

aſthenie und Hyſterie. Stintzing endlich wurde 1892 als Direktor der mediziniſchen Klinik nach Jena be— rufen; ſein ſiebenbändiges Handbuch der geſamten Therapie erſchien bis 1915 in vier Auflagen.

Auf dem Grenzgebiet zur philoſophiſchen Fakultät wirkten in der erſten Hälfte des Zeitalters zeit— weilig auch vier Schüler Gegenbaurs und Haeckels, alle Dr. med. und Dr. phil., die ſpäter hervorragende auswärtige Lehrſtühle beſetzten: Oskar Hertwig, ſeit 1881 Profeſſor der Anatomie und Direktor des ana— tomiſchen Inſtituts, ſiedelte 1888 nach Berlin über, ſein Jenaer Nachfolger Fürbringer 1901 nach Heidel— berg, ſein jüngerer Bruder Richard Hertwig ſchon 1881 als Ordinarius nach Königsberg und ſpäter nach München, und Berworn, der in den neunziger Jahren als Privatdozent und Extraordinarius in Jena lehrte, übernahm 1901 ein Ordinariat für Phyſiologie in Göttingen, ſpäter in Bonn. *) Unter den Spezialiſten ragten die Ophthalmologen Kuhnt (1883 bis 1892, mit einer Urenkelin Herders und Tochter Stichlings vermählt) und Wagenmann (1892-1910) hervor, der eine ſpäter in Bonn, der andere in Heidelberg tätig. Außer der pſychiatriſchen Klinik und der hygie— niſchen Anſtalt wurde eine Ohrenklinik neu geſchaffen

*) Oskar Hertwigs Lehrbuch der Entwicklungsgeſchichte des Menſchen erſchien 1910 in neunter, Richard Hertwigs Lehrbuch der Zoologie 1911 in zehnter Auflage und Verworns Allgemeine Phyſiologie (zuerſt 1895) 1909 in fünfter.

Aus der Univerſitätsſtatiſtik um 1900 321

und die andern mediziniſchen Anſtalten vergrößert, am ſtärkſten die chirurgiſche Klinik, von 88 auf 320 Betten.

Die Jenaer Studentenzahl ſtieg zwiſchen 1883 und 1913 im ganzen von 631 auf 1883 (im Sommer— ſemeſter 1914 überſchritt ſie das zweite Tauſend). Wie ſich die vier Fakultäten daran beteiligten, zeigt in abgekürzter, aber den Geſamtverlauf richtig andeutender Statiſtik folgendes Bild:

Semeſter Theol. Jur. | Med. Phil. S.⸗S. 1883 127 120 139 245 S.⸗S. 1900 44 217 190 317 W. ⸗S. 1913/14 104 326 429 1024

Ihrer Herkunft nach ſetzten ſie ſich zuſammen:

Semeſer Weiten, peer Sonfige Ander S.⸗S. 1888 142 155 292 22 S.⸗S. 1900 149 136 410 73 S.⸗S. 1914 2230 230 1435 125

Dazu vergleiche man das Verhältnis der Promo— tionen in der philoſophiſchen Fakultät während dieſer

Zeit:

Semeſter Sachſen⸗ And. erneſt. Sonſtige Aus⸗

Weimarer Thüringer Deutſche länder S.⸗S. 1883 6 5 9 5 S.⸗S. 1900 1 14 4 W.⸗S. 1913/4 4 33 3

Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 21

322 Mathematik, Phyſik, Chemie

Aus dieſen Zahlen geht deutlich die wachſende Anziehungskraft der Univerſität Jena auf außerthürin⸗ giſche Deutſche im jüngſten Zeitalter hervor. Die Geſamtzahl der Studenten hat ſich etwa verdreifacht, die Zahl der außerthüringiſchen Deutſchen unter ihnen beinahe verfünffacht. In der philoſophiſchen Fakultät, die den Hauptanteil daran hatte, wurde dieſes Wachs— tum namentlich den Naturwiſſenſchaften verdankt, wie auch deren Sammlungen vor allen vermehrt und neue Anſtalten für techniſche Phyſik, Mikroſkopie, techniſche Chemie, Pharmazie und Nahrungsmittel— chemie gegründet wurden.

Als Mathematiker lehrte Thomae faſt das ganze Zeitalter über in Jena, wohin er 1879 als Ordinarius berufen worden war, zu Anfang des neuen Jahr— hunderts auch Gutzmer (bis 1905) und dann Haußner. Die; Phyſik vertrat faſt ebenſolange Winkelmann. Neben ihm war Abbe als erfolgreichſter und berühm— teſter Optiker der Gegenwart und Aſtronom bis über die Jahrhundertgrenze tätig; er ſtarb 1905, und auch ſein tüchtigſter Schüler und Mitarbeiter Czapski wurde 1907 weggerafft. 1889 trat der Chemiker Knorr auf die Dauer des Zeitalters in den Jenaer Kreis ordent— licher Profeſſoren; er entdeckteſ die Pyrazolverbin— dungen, unter denen das Antipyrin am wichtigſten wurde, er klärte das Weſen der Morphiumalkaloide auf uſw. Der Geolog und Kriſtallograph Linck, ſeit 1894 Ordinarius in Jena, hatte ein Gebiet zu deuten,

Geologie und Botanik 323

dem vor hundert Jahren an demſelben Orte Goethes Bemühen gegolten hatte; ſo ſtellte er uns 1906 Goethes Verhältnis zur Mineralogie und Geologie dar, gab ſeinen Schülern neue Geſteinsbücher an die Hand und faßte 1912 die mechaniſchen und chemiſchen Kreislaufvorgänge der Erdgeſchichte überſichtlich zu— ſammen. Als 1903 das neue mineralogiſche Inſtitut fertig wurde, ließ er ins Treppenhaus über Goethes Büſte deſſen Worte ſetzen: „Warum ich zuletzt am liebſten mit der Natur verkehre, iſt, weil ſie immer recht hat und der Irrtum bloß auf meiner Seite ſein kann. Verhandle ich hingegen mit Menſchen, ſo irren ſie, dann ich, auch ſie wieder und immer ſo fort, da kommt nichts aufs reine; weiß ich mich aber in die Natur zu ſchicken, ſo iſt alles getan.“ Auch der Botaniker Stahl, ſeit 1881 mehr als dreißig Jahre lang Ordinarius in Jena, behandelte das Pflanzenleben gern im Zuſammenhang der Schöp— fung, z. B. wenn er 1888 Pflanzen und Schnecken betrachtete oder 1893 von Regenfall und Blattgeſtalt, 1912 von der Blitzgefahr der verſchiedenen Baum— arten ſprach.

Der große Gedanke der Einheit der Schöpfung wurde aber am erfolgreichſten von dem berühmteſten Lehrer Jenas in dieſem Zeitalter vertreten, von Haeckel. Längſt war der Zoolog zum Biologen ge— worden; als Sechzigjähriger ließ er 1894 ſeine Syſtematiſche Phylogenie zu erſcheinen beginnen,

21*

324 Bom alten Haedel

worin er den Stammbaum der Organismen deut— licher als bisher zu refonjtruieren unternahm, 1896 veröffentlichte er nochmals eine jener großen Sonder— unterſuchungen, diesmal über Amphorideen und Cyſto— ideen, und von 1899 bis 1904 erſchien ſein Prachtwerk Kunſtformen der Natur. 1894 wurde ihm auch eine Stiftung von Schülern und Freunden darge— bracht, die er für die Erweiterung des 1883 begrün— deten zoologiſchen Inſtituts zu einem „phyletiſchen Muſeum“ beſtimmte; die große Sammelbeute ſeiner Forſchungsreiſen, der Ertrag ſeiner ſchriftſtelleriſchen Tätigkeit und die Vermehrung der Stiftung durch wohlhabende Gönner der Entwicklungslehre ermög— lichten 1908 die Eröffnung des Muſeums in Jena. Bald darauf trat er von ſeinem Lehramt zurück; aber ſein Geiſt und ſeine Feder ruhten nicht, ſeine Anſchauungen wie vorher immer wieder, immer weiter zu verbreiten. Wie er als hoher Sechziger nochmals den indiſchen Archipel bereiſte und 1901 ſeine Eindrücke aus dieſer wundervollen malayiſchen Inſelwelt anſchaulich in dem Buche Aus Inſulinde vorlegte, ſo und noch mehr trieb es ihn, ſeine Ge— danken auch als maßgebend für Philoſophie und Reli— gion nachzuweiſen. Am Ende des 19. Jahrhunderts, auf deſſen zweite Hälfte er um ihres naturwiſſen— ſchaftlichen Fortſchritts willen mit Stolz zurückſah, zu Oſtern 1899, ſchloß er das Buch über die Welt— rätſel ab, deſſen bequeme Sprache trotz manches

Landwirtſchaftslehre 325

fragwürdigen neuen Fremdwortes ſehr vielen Leſern des neuen Zeitalters entgegenkam, die ſich über die bare Erfahrung und doch auf ihrem Grunde zu er— heben ſuchten, und nochmals ſchlugen die Lebens— wunder (1904) in dieſe Kerbe. Der unmittelbare Anſchluß an Goethe wurde bei alledem möglichſt ſicht— bar gemacht, und doch wurde nicht erwieſen, daß Goethes gelegentliche, in der Phantaſie eines Wer— denden gebildeten Worte und ſich wandelnden Be— griffe eine derartige Dogmatiſierung vertrügen: Goethe hatte ſein „Gott-Natur“ ja ſpäter ſehr entſchieden durch „Gott und die Natur“ erſetzt, während ſich Haeckel noch 1914 in dem Titel einer moniſtiſchen Streitſchrift an den Bindeſtrich klammerte.

Unter denen ſeiner Kollegen, für deren Gebiet die Gefahr verhältnismäßig nahe lag, von einer materialiſtiſchen Doktrin beherrſcht zu werden, haben wenige die ſittlichen und religiöſen Kräfte mit ſolcher Beharrlichkeit geltend gemacht wie der Landwirtſchafts— lehrer von der Goltz. Er wirkte von 1886 bis 1896 als Ordinarius in Jena, vordem in Königsberg, ſpäter in Bonn, von den Agrariern gemieden, von den Regierungen geſchätzt. Von Jena ließ er 1889 ſein dreibändiges Handbuch der geſamten Landwirtſchaft ausgehen und manche grundlegende Einzelarbeit zu Disziplinen ſeines Fachs, ſo daß er als der Neu— organiſator des Betriebes der Landwirtſchaftslehre in Wiſſenſchaft und lebendiger Beziehung mit der Praxis

326 Staatswiſſenſchaften

geprieſen werden konnte; hier entſtanden aber auch ſeine Vorträge über die Aufgaben der Kirche gegen— über dem Arbeiterſtand in Stadt und Land (1891) und „Rom oder Wittenberg“ (1892), jener als evan— geliſch-ſoziale Zeitfrage veröffentlicht, dieſer aus dem Jenaer Zweigverein des Evangeliſchen Bundes hervor- gegangen. Das ganze Zeitalter über, ſeit 1883, lehrte Pierstorff als Ordinarius der Staatswiſſen— ſchaften in Jena. Er behandelte u. a. Dinge wie Frauenarbeit und Frauenfrage (1900), den modernen Mittelſtand (1911); von den 45 Abhandlungen, die von 1901 bis 1913 aus ſeinem ſtaatswiſſenſchaftlichen Seminar hervorgingen, waren 23 gemeindeutſchen Fragen gewidmet, je 7 thüringiſchen und europäiſchen und 8 weltwirtſchaftlichen, und faſt alle beſchäftigten ſich mit der Gegenwart.

Die Geſchichte der Gegenwart wurde auch von dem namhafteſten Jenaer Hiſtoriker des Zeitalters bevorzugt, von Lorenz. Ihr wandte er ſich vom Mittelalter zu etwa um dieſelbe Zeit, wo er (1885) durch Vermittlung Herzog Ernſts von Coburg nach Jena überſiedelte. Er kam aus Wien, wo er ſchon fünfundzwanzig Jahre lang ein Ordinariat verſehen hatte; und etwa gleichzeitig mit dem Ortswechſel wandelte er auch ſeine politiſche Geſinnung aus der liberalen in eine konſervative Denkart, der damaligen Wende des Zeitalters entſprechend. Seines fürſtlichen Beförderers Memoiren gab er 1887 bis 1889 heraus;

Geſchichtswiſſenſchaft 327

Aufzeichnungen andrer deutſcher Fürſten, darunter der Großherzöge von Baden und Weimar, durfte er zu dem Werke „Kaiſer Wilhelm und die Begründung des Reiches“ (1902) verwerten, das ihm freilich von ſeinen Spezialfachgenoſſen wenig gedankt wurde. Die Schuld daran lag wohl zum Teil an ſeiner markiert perſönlichen Behandlung geſchichtswiſſenſchaftlicher Dinge, deren Kehrſeite in Beziehung auf das Objekt war, daß er Kulturgeſchichte für eine Rumpelkammer erklärte. So vermochte er auch Goethe als Hiſtoriker nicht ganz gerecht zu werden); und wie hätte dabei ſein vielfaches Bemühen um eine geſchichtswiſſen— ſchaftliche Generationenlehre auf einen grünen Zweig kommen jollen? Sein Nachfolger Cartellieri (ſeit 1905) legte wieder mehr Gewicht auf mittelalterliche Ge— ſchichte. Alte Geſchichte lehrte indes Gelzer, beſonders kundig in der römiſchen Kaiſerzeit, und ſeit 1907 deſſen Nachfolger Judeich.

Auch unter den Philologen wirkten einige das ganze Zeitalter über. So der Indogermaniſt Delbrück, der ſeine ſyntaktiſche Hauptarbeit 1893 bis 1900 in drei Bänden einer Vergleichenden Syntax der indo— germaniſchen Sprachen vorlegte, einer der nachdenk— lichſten Sprachforſcher der Zeit; Wundts völkerpſycho— logiſches Werk über die Sprache beantwortete er 1901 mit der Schrift „Grundfragen der Sprachforſchung“,

*) Vgl. den Anhang zu ſeiner Schrift „Goethes poli- tiſche Lehrjahre“ (1893).

328 Philologen

wo er dem zu pſpychologiſcher Deutung geneigten Philoſophen manchmal den geſchichtlichen Verlauf entgegenhalten konnte, und auch Haeckels Gedanken beleuchtete er gelegentlich kritiſch auf Grund ſeiner ſchärferen Beobachtung von Worten und Begriffen. Der Altphilologe Goetz, ſeit 1880 Ordinarius in Jena, pflegte die lateiniſche Lyrik, beſonders aber Plautus, und widmete ſich von 1888 bis 1903 der Herausgabe des für die mittelalterliche Kulturgeſchichte wichtigen Corpus glossariorum latinorum. Hirzel, ein Sohn des Leipziger Verlegers und Goetheſammlers, ver— waltete die griechiſche Gedankenwelt und ihre Fort— wirkung, z. B. in den umſichtigen Schriften über den Dialog (1895) und über den böotiſchen Hiſtoriker Plu— tarch (1912), ohne den wir Deutſchen Die Kraniche des Ibykus, Die Teilung der Erde und Die Bürgſchaft nicht hätten, abgeſehen davon, daß ſich um 1790 der Jenaer Hiſtoriker Schiller mit der Abſicht eines „Neuen Plutarch“ trug. Der Germaniſt Kluge, von 1886 bis 1893 Ordinarius in Jena, ließ von hier ſein viel benutztes Etymologiſches Wörterbuch der deutſchen Sprache ausgehen, und Jenas Luft legte ihm den Gedanken an Die deutſche Studentenſprache nahe; ſein zweiter Nachfolger Michels war mehr als Heraus— geber (3. B. der Proſageſtalt von Goethes Iphigenie in der Sophienausgabe) und als Grammatiker tätig.

Während die ordentlichen Lehrſtühle der philoſo— phiſchen Fakultät von 16 auf 22 vermehrt wurden,

Philoſophen 329

waren zwei von ihnen von eigentlichen Philoſophen beſetzt. Eucken, ſeit 1874 Ordinarius in Jena, trach— tete immer danach, die Fäden zwiſchen Leben und Philoſophie kräftig zu erhalten und verfolgte daher den Begriff der Lebensanſchauung. Sein Werk über Die Lebensanſchauungen der großen Denker ging von dem Glücksverlangen der einzelnen Philoſophen aus und ſuchte ſo dieſe Helden des Geiſtes lebendig in uns werden zu laſſen; es wurde allmählich zur ge— leſenſten neuen Geſchichte der Philoſophie, durch zehn Auflagen von 1890 bis 1912. Namentlich im letzten Drittel ſeines Zeitalters, das einer idealiſtiſchen Philo— ſophie wieder geneigter war als alle ſpäteren Jahr— zehnte des 19. Jahrhunderts, fand er mit gewandten Schriften und fließenden Vorträgen auch außerhalb Jenas Gehör, ſei es daß er an ſeinen großen Vor gänger Fichte anknüpfte oder den neuen Begriff des Monismus läuterte oder die Verträglichkeit von Chriſtentum und Wiſſenſchaft erwies.?) Auf engere Kreiſe blieb Liebmann beſchränkt, der Metaphyſiker, der zum Teil dieſelben Kollegien wie Eucken im Wechſel mit ihm las (Pſychologie, Geſchichte der neueren Philoſophie). Eines der jüngſten Ordinariate der Fakultät erhielt 1913 der Pädagoge Rein über— tragen nach einer faſt dreißigjährigen Jenaer Lehre

*) Vgl. auch jeine Schriften Geiſtige Strömungen der Gegenwart (4. Aufl. 1909), Der Wahrheitsgehalt der Reli— gion (3. Aufl. 1912), Hauptprobleme der Religionsphiloſophie der Gegenwart (5. Aufl. 1912).

330 Eggeling

in Didaktik und Ethik und manchem Verdienſt um planmäßige deutſche Erziehung des Zeitalters nament— lich durch ſein Enzyklopädiſches Handbuch der Päda— gogik, das von 1902 bis 1910 in zweiter Auflage zehnbändig erſchien. Die Kunſtwiſſenſchaften blieben noch auf den zweiten Chor der Extraordinariate und Privatdozenten angewieſen; doch widmete man der archäologiſchen Sammlung ſchöne Räume und den von Stein um 1910 neu belebten akademiſchen Kon— zerten friſche Teilnahme.

Das alles vollzog ſich zum größten Teil, während Eggeling Kurator in Jena war (1884-1909). Er krönte ſeine Tätigkeit für ihr Wohl, ſeine Sorge um ihre Förderung durch die vier ſachſen-erneſtiniſchen Erhalterſtaaten, als die Hochſchule 1908 bei der Feier ihres dreihundertundfünfzigjährigen Beſtehens ein neues Verwaltungs-, Unterrichts- und Sammlungsgebäude bezog, an der Stelle des Jenaer Reſidenzſchloſſes an der Nordoſtecke der kleinen Altſtadt. Seit Jahren war der Wunſch nach einem ſolchen Geſamtheim lebhafter geworden, Stiftungen von einer bis dahin unerhörten Großartigkeit wurden dafür gemacht, die beteiligten Regierungen und Landtage und die Stadtgemeinde Jena trugen das ihrige bei, das Großherzogtum ſtellte den Baugrund zur Verfügung, und in dem Wettbewerb (1903) unter ſechs hervorragenden deutſchen Architekten ſiegte der Stuttgarter Theodor Fiſcher und konnte nun, geleitet von dem Vertrauen des Kurators, gelenkt

Das neue Univerſitätsgebäude 331

von den Wünſchen der akademiſchen Baukommiſſion, unterjtüßt von dem Regierungsbaumeiſter Ditt— mar, einen mächtigen Zweckbau von ausgepräg— ter neuer deutſcher Schönheit zu hohen Giebeln zwi— ſchen alten Bäumen aufführen. Gunſt und Kunſt ſchmückten ihn reichlich: für die Aula über das Kathe— der malte Prinz Ernſt von Sachſen-Meiningen das Reiterbild des kurfürſtlichen Stifters und an die große Seitenwand daneben Olde drei von den vier Bild— niſſen der regierenden fürſtlichen Erhalter; an der Hauptwand des Senatsſaales durfte Ludwig von Hof— mann eine Landſchaft mit den neun Muſen in tiefer Farbenpracht und vereinfachter Zeichnung darſtellen und an weiteren Wandflächen Hodler den Aus— zug deutſcher Studenten zum Freiheitskriege 1813, Saſcha Schneider das Paar des Lehrers und Schü— lers in antikiſierender Monumentalität und der Jenaer Meiſter Kuithan zwei bedeutende Figuren— gruppen: Denken und Empfinden. Nicht all dieſer Schmuck, aber der gebrauchsfertige Bau war im Sommer 1908 vollendet, als Eggeling die erſte Feier im neuen Hauſe mit Goethes altem Feſtwunſch für Jena einleitete:

Wo Jahr um Jahr die Jugend ſich erneut,

Ein friſches Alter würdge Lehre beut,

Wo Fürſten reichlich hohe Gaben ſpenden,

Was alles kann und wird ſich da vollenden,

Wenn jeder tätig froh an ſeinem Teil. Heil jedem Einzelnen! Dem Ganzen Heil!

332 Univerſitätsjubiläum 1908

Die hochgeſteigerte Polyphonie Regerſcher Feſtmuſik erklang im Gottesdienſt und im Hauptaktus: in Gegen— wart der fürſtlichen Erhalter übergab der weimariſche Staatsminiſter Rothe das Haus, und an den Dank des Prorektors Delbrück ſchloſſen ſich mit Gruß und Wunſch der Jenaer Oberbürgermeiſter Singer, der vor ſechzehn Jahren Bismarck bewillkommnet hatte, und andere, zuletzt im Namen der früheren Dozenten der Leipziger Germaniſt Sievers, der der mächtig empor— blühenden kleinen Univerſitätsſtadt bezeugte, in ihr geſehen zu haben, „wie auch mit beſcheidenen Mitteln Großes zu leiſten iſt, wenn nur der richtige Sinn hinter der Arbeit ſteht“, und endlich im Namen der früheren Studenten der Bremer Bürgermeiſter Pauli, der 1846 als Fuchs in Jena eingezogen war, alle voll Dank für das hier erlebte frohe Freiheitsgefühl.

Zu den Stiſtern am Hauſe gehörte der Jenaer Verlagsbuchhändler Fiſcher; verdankte er doch den Natur- und den Staatswiſſenſchaften dieſer Univerſität zum guten Teil die Entfaltung des ſeit 1877 von ihm geleiteten Geſchäftes, ſeitdem er es in den acht— ziger Jahren auf dieſe beiden Gebiete eingeſchränkt hatte. Er verlegte vieles von Haeckels Schriften und von denen ſeines Straßburger Fachgenoſſen Weismann, die Lehrbücher der beiden Hertwig, naturwiſſenſchaft— liche und ärztliche Zeitſchriften, z. B. das Centralblatt für Bakteriologie, das von 1887 bis 1913 71 Bände ertrug, wozu ſeit 1895 noch 40 Bände über landwirt—

Jenaer Buchverlag 333

ſchafkliche, technologische Bakteriologie uſw. kamen, die großen Handbücher der Hygiene und der Ana— tomie (Bardeleben), Verhandlungsberichte von natur— wiſſenſchaftlichen Geſellſchaften und Arbeiten aus Kliniken und Inſtituten, z. B. Ehrlichs, von Kopen— hagen bis Bern, und vieles andere; ſein Wörterbuch der Volkswirtſchaft, das 1897 zu erſcheinen begann, kam 1911 in dritter Auflage heraus.“) Die kräftigſte Unterſtützung aber kam der Univerſität von einem Kinde ihres Schoßes, aus der Entwicklung der künſt— lichen Optik durch Abbe **), von dem Zeißwerk und dem verbündeten Schottichen Glaswerk.

In Jena hatte ſich ſchon 1829 Döbereiner mit Glasſchmelzverſuchen abgegeben und Goethe ihn dar— auf als das wichtigſte hingewieſen, das Verhältnis des Brechungs- und Zerſtreuungsvermögens bei dem neuen Glaſe zu ermitteln, auch weitere Unterſtützung in Ausſicht geſtellt; doch unterblieb der Fortgang, weil die mechaniſchen Werkzeuge zu mangelhaft waren. Dann hatte Schleiden das Mikroſkop zum Haupt— werkzeug des naturwiſſenſchaftlichen Fortſchritts ge— macht und Abbe die Theorie dieſer Waffe verbeſſert.

*) Um die Pflege der äſthetiſchen, philoſophiſchen und religiöjen Kultur, um mancherlei Anregungen zu neudeutſcher Bildung war ſeit 1904 in Jena (früher in Leipzig) der Ver— lag von Diederichs bemüht, teilweiſe mit Neuausgaben älterer deutſcher und Überſetzungen ausländiſcher Literatur.

**) Man ſpricht dieſen Namen in Thüringen mit ge— ſchloſſenem und etwas gedehntem Schluß-e aus.

334 Otto Schott Anfänge

Er harrte nur der Glasverbeſſerung als des Mittels zu weiterm Fortſchritt, und dieſe brachte ihm der junge Chemiker Schott aus Weſtfalen. Schott, mit einer Ader fauſtiſchen Erfindertriebes begabt, plante die geſamte Pyrochemie durchzubilden, beſchränkte ſich aber bald, von genialen Griffen in das Reich der Minerale und Elemente begünſtigt, auf die chemiſch verbeſſerte Glasſchmelze, als ſich hier wiſſenſchaftliche Gewinne und Rätſel ergaben und induſtrielle Ver— wertung in Sicht kam. Seine Proben neuen Lithium-, Bor- und Phosphorglaſes ſandte er ſeit 1879 zur optiſchen Prüfung an Abbe, und nach mancher Ent— täuſchung konnte dieſer, als er Schott 1881 zur hun— dertſten Verſuchsſchmelze beglückwünſchte, das Problem der völligen Achromatiſierung des Fernrohrobjektivs für gelöſt anſehen. 1882 ſiedelte Schott nach Jena über und richtete mit Abbe und den beiden Zeiß, Vater und Sohn, ein kleines Glaslaboratorium ein. Hierher leitete der Berliner Sternwartendirektor Förſter den preußiſchen Auftrag, ein möglichſt wärme— unempfindliches Thermometerglas zu ſchaffen, und als das Schott 1883 mit Ausprobung des Natron— glaſes gelang und er gleichzeitig für optiſche Zwecke die wichtige Erfindung der Boroſilikatgläſer durch— geprüft hatte, kam im Herbſt 1884 mit Unterſtützung des preußiſchen Staates die Firma „Glastechniſches Laboratorium Schott und Genoſſen“ in Gang: Frau Abbe brannte den erſten Ofen an.

Das Schottſche Glaswerk 335

Binnen dreißig Jahren entfaltete ſich dieſer Anfang zu der bedeutendſten Glashütte Deutſchlands mit mehr als 1300 Arbeitern. Der Siemensſche Ofen kam gerade recht, den Betrieb auf eine neue Grund— lage zu ſtellen, die Herſtellung der Ofenſteine, die Gußhäfenfabrikation wurden am Orte in die Hand genommen: immer größeren Umfang gewann die Anlage im Süden Jenas mit ihren rieſenſchlanken Eſſen. Der Verbrauch an Kohle zur Heizgasbereitung ſtieg auf wöchentlich zwei volle Güterwagen, Maſſen von Ton wanderten zur Gefäßbildung in die Hafen— ſtube und als fertige Häfen in die Schmelzöfen, von tauſend und abertauſend Säcken und Fäſſern voll Sand und Chemikalien wurde der Inhalt auf der Wage peinlich genau verteilt, im Miſchtrog gemengt und in den heißen Schmelzhäfen zu Glasmaſſe ein— geſchmolzen. Alles geſchah in einer ſich fortwährend verfeinernden wiſſenſchaftlichen Regelung der Erzeu— gung mit Hilfe von Chemie und Phyſik: ſpezifiſches Gewicht und ſpezifiſche Wärme des Glaſes wurden beobachtet, Zug- und Druckfeſtigkeit ſowie Elaſtizitäts— koeffizient der verſchiedenen chemiſchen Glasmiſchun— gen berechnet, Wärmeleitfähigkeit und thermiſcher Ausdehnungskoeffizient, die mittlere Lichtbrechung wie die mittlere Farbenzerſtreuung und die äußerſten zurzeit erreichbaren Grenzen dafür feſtgeſtellt. Die Mannigfaltigkeit der Aufträge wuchs, von der größten Fernrohrlinſe mit ihrer ſchwierigen Feinkühlung bis

336 Das Zeißwerk

zum ſchlichteſten Geräteglas: jene übertraf an optischer Reinheit, dieſes an Haltbarkeit in Hitze und Kälte alles bisher dageweſene. Beſonderem Glas wurde das Vermögen verliehen, die ultravioletten Strahlen ſichtbar aufzufangen (Uviolglas): infolgedeſſen ver— mehrte ſich die Erſcheinung der Sternenwelt für uns auf das anderthalbfache. Dem Auerſchen Glühſtrumpf wurde der Zylinder geſchaffen, der ihm erſt den ge— waltigen Wettbewerb mit dem elektriſchen Licht er— möglichte. Das Queckſilberuviollicht wurde der Haut— heilkunde zugeführt. So wirkten Schott, ſeine wiſſen— ſchaftlichen und Betriebsgehilfen und ſeine Glasbläſer.

Inzwiſchen wuchs die optiſche Werkſtätte von Zeiß, mit der Schott in engem geſchäftlichen und perſönlichen Verband arbeitete, in der von Abbe ge— wieſenen Richtung noch bedeutender. 1875 war Abbe ihr Teilhaber geworden und 1881 der Sohn von Zeiß als dritter eingetreten; 1888 ſtarb Vater Zeiß und 1889 ſchied der Sohn aus. Bis Frühjahr 1903 ſtand Abbe an der Spitze und neben und nach ihm ſeine phyſikaliſchen Schüler Czapski und Straubel, Fiſcher ſeit 1890 als Geſchäftsleiter, Bauersfeld ſeit 1908 als techniſcher Oberleiter. Unter dieſen Männern vermehrte ſich die Arbeiterſchaft des Zeißwerkes von etwa 50 auf etwa 1000 an der Jahrhundertwende und weiterhin auf über 5000 Köpfe. Während das frühere Zeitalter unter Vater Zeiß nach handwerks— mäßiger Erfahrung vorgegangen war, wurde Mitte

Mikroſkopie und Photographie 337

der achtziger Jahre der erſte Konſtrukteur angeſtellt, und bis 1914 wurden es „vier große Konſtruktions— bureaus mit zuſammen rund 270 Beamten“ als „eigentliche Brücke zwiſchen den wiſſenſchaftlichen Ab— teilungen und den ausführenden Werkſtätten.“ Der gemeinſame Arbeitsraum dehnte ſich von einem kleinen Fabrikgebäude allmählich auf zwei große, hochbebaute Straßenviertel aus, wo der lichtgraue Eiſenbeton bald die dunkle Ziegelfarbe überwand.

Anfangs ſtand die mikroſkopiſche Arbeit ganz im Vordergrund: 1886 erfand Abbe das apochromatiſche zehnlinſige Mikroskop mit einer früher nicht geahnten Bildſchärfe und Helligkeit, 1902 das Ultramikroſkop, das die Bewegungen von Milliontel Millimetern er— kennen ließ und kinematographiſche Aufnahmen des Bazillentreibens ermöglichte. 1885 und 1888 wurden Apparate für Mikrophotographie konſtruiert, 1898 der als Zeißſches Epidiaſkop ſchnell berühmt gewordene Projektionsapparat für Beleuchtung mit auf- oder durchfallendem Licht. 1890 kamen die neuen photo— graphiſchen Objektive unter dem Namen Anaſtigmat heraus, ſpäter Protar genannt, zu einer Zeit, wo ſich der Gelehrte und der Liebhaber anſchickten, den Bereich des Geſchäftsphotographen zu erweitern: binnen zwanzig Jahren wurden 300 000 Stück davon in alle Welt geliefert.“) Aſtrooptik und Aſtromechanik

*) 1909 ſchloß ſich das Zeißwerk mit einigen andern

deutſchen Kamerafabriken zu einem Verband zuſammen, zur Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 22

338 Sternwarten, Kriegsoptik, Brillen

wurden gepflegt und für Liebhaber und wiſſenſchaft— liche Inſtitute kleine und Rieſeninſtrumente hergeſtellt, 3. B. für die Sternwarte Neuchatel in der Schweiz, ja ganze Sternwarten gebaut wie die durchaus neue in Bergedorf bei Hamburg. Jenaer Ausſichtsfern— rohre faßten Stand auf berühmten Landſchaftspunkten Deutſchlands, Oſterreichs und der Schweiz; Zeißſche Feldſtecher und Operngläſer verbreiteten ſich im Handel. Wichtige Erfindungen für Heer und Flotte waren die des Zielfernrohrs für Gewehre (1892), für Geſchütze (1894), des Prismenfernrohrs für Ge— wehre (1900), des Periſkops für Unterſeebote (1904), der Juſtiervorrichtung für Geſchütze (1906) und der verſchiedenen Fernmeſſer für Infanterie, Artillerie und Kriegsſchiffe, des Zielapparates für Geſchoß— abwurf, des Zielfernrohrs mit drehbarem Okular für Geſchütze auf Luftſchiffen (1912). Auch eine geodä— tiſche Abteilung ſchloß ſich den übrigen an und ſchließlich eine mediziniſche ſamt der Herſtellung von Brillen.

Als Abbe in den achtziger Jahren mehr und mehr in die führende Stellung dieſes optiſchen Werkes einrückte, beſchäftigte „die ſoziale Frage“ tauſend Gemüter, d. h. vor allem die Fragen, wie die Fabrikarbeiterſchaft menſchenwürdig zu halten,

Dresdner Ica, ſo daß es alleiniger Lieferant der Objektive blieb und den Bau von Apparaten für gelehrte und militä— riſche Zwecke in der Hand behielt.

Carl - Zeik- Stiftung 339

geſchäftsggemäß zu lohnen und wie ſie national zu feſtigen ſei. Ein Teil dieſer Fragen wurde durch Bismarcks Reichsverſicherungsgeſetzgebung beantwortet; in Jena gab Abbe ein Muſterbeiſpiel, wie in der Sache von anderer Seite vorwärts zu kommen wäre. Er begründete 1889 die Carl-Zeiß-Stiftung, indem er an dieſe ſein Recht an der optiſchen Werkſtätte, deren Geſamteigentümer er damals geworden war, ſowie ſeine Teilhaberſchaft an der Schottſchen Glas— hütte abtrat, „um für die wirtſchaftliche Sicherung und ſachgemäße Verwaltung der beiden Unter— nehmungen auch für eine entfernte Zukunft größere Gewähr zu ſchaffen als Privatunternehmer auf die Dauer zu bieten vermögen“: die Zeißſtiftung ſollte Inhaberin der Betriebe werden, des optiſch⸗techniſchen ſofort völlig, der Glashütte vorläufig in Gemeinſchaft mit Schott. Nach einer mehrjährigen Probezeit genehmigte Großherzog Carl Alexander das Statut; mit dem Jahre 1906 trat eine vorgeſehene Reviſion in Kraft. Der Grundgedanke dabei war, daß eben— ſo der Zweck wie das Mittel der Stiftung die günſtige Arbeitsgelegenheit für viele Menſchen ſei und daß ihre Erhalter und Mehrer zugleich ihre Nutznießer ſeien; es wurde alſo eine Produktivgenoſſen— ſchaft geſchaffen, die als ſolche aber nur wirtſchaft— lich durchgeführt wurde, in Verwaltung und Leitung dagegen ariſtokratiſch ſein ſollte. Mit konſequenteſtem

Ernſt und mildem Herzen beantwortete Abbe die 22 *

340 Abbes ſoziale Tätigkeit

Fragen des Gehaltes und der Gewinnbeteiligung dahin, daß mittlerer Frühgehalt und Höchſtgehalt der Angeſtellten das Verhältnis 1: 10 haben ſollten“) und daß ſich für jeden der Arbeitsertrag aus drei Teilen zuſammenzuſetzen habe: einem feſten und penſions— fähigen, einem durch eigene Geſchicklichkeit oder Zeit⸗ aufwendung erzielten Überverdienſt oder Lohnzuſchlag und einem vom geſamten Jahreserträgnis abhängigen, ſchwankenden Teil. Im Jahre 1901 wurde die tägliche Achtſtundenarbeit eingeführt; viele beſondere Einrichtungen wurden außerdem zum Beſten der Angeſtellten getroffen.

Die Carl⸗Zeiß⸗Stiftung übernahm regelmäßige und außerordentliche Zuwendungen großen Maßſtabes an die Univerſität Jena, beſonders zur Förderung der naturwiſſenſchaftlichen Studien, aber auch zu einer Neuordnung der Profeſſorengehälter und u. a. für den Neubau. In den Jahren 1901 bis 1903 ließ ſie ein öffentliches „Volkshaus“ errichten mit einer reichen Leſehalle, Vortrags- und Ausſtellungsſälen u. dgl.; ſie unterſtützte das 1909 vollendete prächtige Jenaer Volksbad und andre gemeinnützige Einrich— tungen. Wie hätten Univerſität und Stadt nicht wetteifern ſollen, ihrem Abbe nach einem ſolchen Leben zu danken? Das taten die ſtaatswiſſenſchaft—

*) So verdiente 1912 im Durchſchnitt der vierundzwan— zigjährige Arbeiter des Zeißwerkes jährlich 2095 Mark, während die obere Grenze etwa 20 21000 Mark betrug.

Abbedenkmal 341

lichen und Phyſikprofeſſoren in Reden, Aufſätzen und Büchern, und ſie unterließen nicht darauf hin— zuweiſen, daß in der Perſönlichkeit Abbes Gedanken Goethes, Kants und Fichtes an ihrer einſtigen Pflanzſtätte neu erſtanden und gewaltig wirkſam geworden ſeien. Das tat ein weiterer Kreis 1911 mit der Errichtung des Abbedenkmals, deſſen ge— drungenen Schutzbau van de Velde erdachte, in deſſen Wände Meuniers ſchöne bronzene Arbeiter- reliefs eingelaſſen wurden und in deſſen Mitte Klin— gers Abbeherme ſteht mit den Andeutungen ſeiner Entdeckung und Lehre abwärts des geiſteichen Kopfes. Wer an das eherne Gitter einer der vier Türen gelehnt hier ſchauend verweilt, den mag es überkommen ähnlich wie vor vierhundert Jahren unſere Vorfahren, als ſie ſich zuerſt in Dürers Melencolia J verſenkten.

Eiſenach

Die drei bedeutendſten Städte des Großherzogtums Sachſen⸗Weimar⸗Eiſenach find in dem Zeitalter an der Wende des 19. und 20. Jahrhunderts ſo ge— wachſen, daß ſich die Einwohnerſchaft von Weimar zwiſchen 1883 und 1913 von 21000 auf 36 500 vermehrte, die von Eiſenach ſich verdoppelte, von faſt genau 20000 auf faſt genau 40 000, und die von Jena ſich reichlich vervierfachte, von knapp 11700 (1885) auf 48 000 (1914).

Was Jena und Eiſenach im Bewußtſein vieler Deutſchen dieſer Zeit verknüpfte, war der Gedanke an die Burſchenſchaft. Von dieſen beiden Städten war ſie ausgegangen, und ihnen beiden war ſie auf den deutſchen Univerſitätsſtädten während einer hundertjährigen Geſchichte in dankbarer Treue ver— bunden geblieben. Was die Väter zuerſt allein, verdächtigt und verfolgt in Deutſchland gefordert hatten, hatten die Söhne erſtreiten helfen: ein geeintes Vaterland; wie es Bismarck ausſprach, als er am Jenaer Burgkeller den jüngſten Arminen zutrank: „Ich wünſche der Burſchenſchaft ein fröhliches Gedeihen; ſie hat eine Vorahnung gehabt, doch zu

Burſchenſchaft um 1900 343

früh. Schließlich haben Sie doch recht bekommen.“ Das dritte Zeitalter der Burſchenſchaft brachte nach ihrer Vereinigung zu einem gemeinſamen Verband an den deutſchen Univerſitäten (1881) wozu die Burſchenſchafter der techniſchen Hochſchulen und die der öſterreichiſchen Hochſchulen kamen die Begründung der burſchenſchaftlichen Blätter (1887) und die Ver— einigung alter Herren bei dem Jenaer Jubiläum fünfundſiebzigjähriger Zuſammengehörigkeit (1890). Nun nahmen die Burſchen teil an der Unterſtützung des Allgemeinen deutſchen Schulvereins, des All— deutſchen Verbandes und des Oſtmarkenvereins, auch an Arbeiterunterrichtskurſen und an der Pfadfinder— und Jugendwehrbewegung. Als der deutſch-europä— iſche Krieg ausbrach, traten ſofort etwa 8600 von ihnen unter die Waffen; und binnen einem Jahre beſiegelten mehr als 650 den Wahlſpruch „Ehre, Freiheit, Vaterland“ mit dem Heldentode.

Die ſtärkere Zuſammenfaſſung des weiteren Kreiſes in der jüngſten Vergangenheit ermöglichte es, den Begründern der Burſchenſchaft, ihren Kämpfern von 1870 und der Erfüllung ihres gemeinſamen Lebenswunſches auf einer Bergkuppe öſtlich über Eiſenach eines der ſchönſten deutſchen Nationaldenk— mäler zu ſetzen. Platzfrage und Entwürfe zu die— ſem Burſchenſchaftsdenkmal hatten eine zehnjährige Geſchichte, als 1900 der junge Architekt Kreis und ſeine Dresdner und Eiſenacher Helfer die Ausführung

344 Burſchenſchaftsdenkmal

begannen. Im Mai 1902 ward es geweiht: die Fichtenwand weit überragend in engem Rund ge— ſtellt neun ungeheure Kalkſteinſäulen, im Innern die hohe Halle mit den Geſtalten von Carl Auguſt, Wilhelm I., Bismarck, Moltke und Roon unter dem dunkelglühenden Deckengemälde mit dem Kampf der Aſen und der Tiefengeiſter, und außen darüber die züngelnde Steinkrone, aus deren Rundgeſims die großen Antlitze von Armin, Karl, Luther, Dürer, Goethe und Beethoven mächtig in alle deutſche Weite ſchauen.“) f

Zu Beginn des Zeitalters wurden Jena und Eiſenach auch bisweilen im Namen Luthers zuſammen genannt. Von Jena ging 1883 Devrients Luther— feſtſpiel in die deutſchen Städte aus; es wurde 1889 auch in Eiſenach aufgeführt, als der Evangeliſche Bund hier eine ſeiner erſten Generalverſammlungen

*) Wie dem gleichalterigen Großherzogtum war der Burſchenſchaft in der zweiten Juniwoche des Jahres 1915 ein lautes Säkularfeſt verſagt. Aber der ſchlichten Feierſtunde in Berlin, nach deren Gruß an Kaiſer Wilhelm II. dieſer im Felde der zahlreichen Männer gedachte, „die aus der deutſchen Burſchenſchaft dem deutſchen Volke als Führer und Mitkämpfer für ſeine idealen und realen Güter in Kriegs— und Friedenszeiten erwachſen ſind“, entſprach eine weſtthürin— giſche Zuſammenkunft am Eiſenacher Denkmal, auf deren Gruß an Großherzog Wilhelm Ernſt dieſer antwortete: „Möge das Mitkämpfen der 8000 Burſchenſchafter für Ehre und Frei— heit des Vaterlandes nicht vergebens ſein“; vertrauend ſangen die unter dem Sternenhimmel am Denkmal das lodernde Holzitoßfeuer umſtehenden Burſchenſchafter „Deutſchland, Deutſchland über alles“ in die Nacht.

Lutherdenkmal 345

hielt. Vertrat Jena mehr den entwicklungsfähigen Gedanken der Freiheit eines Chriſtenmenſchen, ſo erinnerte Eiſenach mehr an die geliebte Perſönlich— keit des Glaubenshelden; und da dies das beſtimmtere und faßlichere iſt, ſo behauptete Eiſenach den Vor⸗ rang als Lutherſtadt. Hier, von wo es nicht weit nach ſeinem Möhraer Stamm- und Verwandtenhauſe war, hatte er die freundlichſte Zeit ſeiner Jugend erlebt, vom fünfzehnten bis achtzehnten Jahre an der Lateinſchule bei St. Georg, hier hatte ſich Frau Cotta des Jünglings um ſeines andächtigen Singens und herzlichen Betens willen angenommen; auf der Wartburg hatte er als gehegter Gefangener das neue Teſtament verdeutſcht. Kein Wunder, daß der Wunſch mancher Stadt, aus Anlaß der Vier— hundertjahrfeier von Luthers Geburtstag ſein Stand— bild zu errichten, auch in Eiſenach Wurzel jchlug.*) 1889 legte man den Grundſtein dazu, Donndorf übernahm die künſtleriſche Arbeit, und im Frühling 1895 am 4. Mai, wie einſt Luther auf der Wartburg eingetroffen war, fand auf dem Karls— platze in Anweſenheit des Großherzogspaares und vieler hervorragender deutſcher Proteſtanten bis von

*) Es war der um Eiſenach in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hoch verdiente Julius von Eichel-Streiber, der die erſte Anregung zur Verwirklichung gab, derſelbe, der ſpäter auch das Donndorfſche Bismarckdenkmal an der der Stadt zu gelegenen Ecke ſeines Parkgrundſtückes öffentlich auf⸗ ſtellen ließ. Die Seele des Denkmalsausſchuſſes war Archidia⸗ konus Kieſer, der nachmalige Superintendent von Eiſenach.

346 Luthers Eiſenacher Jahre

Siebenbürgen her die Enthüllungsfeier des ehernen Reformatorbildes ſtatt.

Luthers wahres Eiſenacher Jünglingsbild belebte ſich indeſſen dank vertiefter Forſchung mit deut— licheren Zügen. „Bei Kunz Cotten“ und ſeiner Frau, deren Wohnung man ſchließlich nicht in dem zum „Lutherhaus“ am „Lutherplatz“ ausgeſtalteten alten Gebäude, ſondern an der Stätte des kleinen Gaſthofs zur Sonne an einer Ecke der Georgenſtraße fand, hatte ihn die feinere geſellige Hausart befreien helfen, und in der Georgsſchule hatte er mit erwachen— dem Bewußtſein einen bildſamen Unterricht genoſſen, wie ihn an jener humaniſtiſchen Jahrhundertwende nur eben ein Mann wie der Rektor Trebonius erteilen konnte, der mit ſeinen Schülern höflich ver— kehrte. In den Wäldern und Tälern um die Wartburg hatte er ſtreifen können und Erdbeeren pflücken; am Aufſtieg zur Wartburg war auch das von Frau Cottas Verwandten geſtiftete Eliſabethkolleg gelegen, deſſen Franziskaner ihm geneigt wurden. Am Domſtift hatte ihn ſich der Vikar Braun zu höflich ergebenem Danke verpflichtet, und mit Vetter Konrad, dem Küſter der Nikolaikirche, auf deſſen Verkehr es wohl der Vater mit abgeſehen hatte, als er den Schulknaben nach Eiſenach ſchickte, blieb er gut Freund und lud ihn 1509 zu ſeiner erſten Meſſe ein. Ja, es iſt wahrſcheinlich geworden, daß ein Wunſch Luthers berückſichtigt wurde, als

Weimarer Lutherausgabe 347

man ihn nach dem Wormſer Reichstag gerade auf der Wartburg nächſt ſeiner „lieben Stadt“ Eiſenach in Sicherheit brachte.

Die Lutherforſchung der jüngſten Vergangenheit iſt mit dem thüringiſchen Großherzogtum auch durch die große kritiſche Geſamtausgabe von Luthers Werken aus dem Verlag und der Druckerei von Hermann Böhlau verknüpft. Mit Unterſtützung Kai— ſer Wilhelms J. und des preußiſchen Kultusmini— ſteriums wurde ſie unternommen; Großherzog Carl Alexander richtete an die evangeliſchen Herrſcher Deutſchlands die Bitte um ihre Mithilfe zur Ver— breitung des weitläufigen Werkes. Luthers Schriften und Predigten, Studien und Sendbriefe, Vorworte, Tiſchreden und Bibelüberſetzung wurden nur in dieſer „Weimarer Ausgabe“ in einer allen wiſſenſchaftlichen Forderungen unſerer Zeit völlig entſprechenden Weiſe geſammelt veröffentlicht, der Zeit ihrer Entſtehung nach, ſo daß ſich ſein geiſtiges Werden und religiöſes Denken Schritt für Schritt ſelbſt darlegte. Seiner Sprache, die Jacob Grimm „Kern und Grundlage der neuhochdeutſchen Sprachniederſetzung“ genannt hat, wurde hier zum erſtenmal ganz ihr Recht. Eine Reihe tüchtiger deutſcher Theologen (Knaacke, Kawerau, Müller u. a.) und Philologen (Pietſch, Brenner, Kroker uſw.) aus dem Norden und Süden des Vater— landes arbeiteten daran mit. 1883 erſchien der erſte der ſtarken Quartbände; als 1914 im einundfünfzigſten

348 Deutſche evangeliſche Kirchenkonferenz

Band die letzten Predigten Luthers neben anderlei Quellen mitgeteilt wurden, konnte der Herausgeber dieſes Miſchbandes darauf hinweiſen, daß ſich das Werk dem Ende neige.

Großherzog Carl Alexander, der Nachkomme Fried— richs des Weiſen, begünſtigte Eiſenach als Lutherſtadt gerne. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts tagte aller zwei Jahre hier die Deutſche Evangeliſche Kirchen-Konferenz: ihr ſtellte er für ihre Verhand— lungen den Saal ſeines Reſidenzſchloſſes am Markte zur Verfügung und für ihren Eröffnungsgottesdienſt die Wartburgkapelle. So wurde es zwei Menſchen— alter über gehalten, und wenn die Ergebniſſe dieſer Konferenzen nicht ſo viel zu einer formellen Einigung der evangeliſchen Landeskirchen Deutſchlands und Oſterreichs beigetragen haben, wie der oder jener er— wartete, ſo iſt doch die regelmäßige perſönliche Begeg— nung, die unmittelbare Verſtändigung der Vertreter all dieſer Kirchenregierungen in der Mitte Deutſch— lands von hohem Wert geweſen. Zu vielen kirchlichen und religiöſen Zeitfragen konnten ſie hier gemein— ſam Stellung nehmen und manche Beratung über Sonderrechte und Geſamtwohl unſerer evangeliſchen Landeskirchen pflegen, manchen Rat erteilen. Später trat übrigens eine zweite Eiſenacher „theologiſche Konferenz“ zur Förderung wiſſenſchaftlicher Fortarbeit zuſammen, begründet und geleitet von dem Eiſenacher Superintendenten Kieſer, der ſich auch als Organiſator

r

a"

J. S. Bach in Eiſenach und Weimar 349

der Generalverſammlungen des Guſtav-Adolf-Vereins und des Evangeliſchen Bundes bewährte und 1915 das Kurrendeſingen in Eiſenach wieder einführte. Der größte Diener der evangeliſchen Kirche ſeit Luther war Johann Sebaſtian Bach; er iſt in Eiſenach geboren. In dem weimariſchen Großherzog— tum des 19. Jahrhunderts war der alte Goethe einer der erſten, der Bach in ſeinem Heimatlande wieder zu würdigen vermochte. Als dann Bachs Werke in der 1850 begonnenen großen Ausgabe der Bach— geſellſchaft in ihrer Geſamtheit zum erſtenmal auf Deutſchland zu wirken begannen, ging man auch ſeiner thüringiſchen Entwicklung ſo genau wie möglich nach. Spitta ſtellte feſt, daß ſich dereinſt für den fünfundzwanzigjährigen Bach gar kein günſtigerer Platz hätte denken laſſen als die Stelle eines Hof— organiſten und Kammermuſikus unter Herzog Wil— helm Ernſt in Weimar, in der er (1708 bis 1717) viele Orgelwerke und die erſte größere Reihe ſeiner Kirchenkantaten ſchuf. Und er wies auch auf den muſikaliſchen Ruf Eiſenachs zur Zeit von Bachs Kindheit Hin*) und durfte annehmen, daß der mit einer ſchönen Sopranſtimme begabte Knabe gegen 1695 in der Kurrende ſingend durch dieſelben Straßen Eiſenachs gezogen ſei wie zweihundert Jahre früher

*) Ein Eiſenacher Annaliſt jener Zeit hat gejagt: Claruit semper urbs nostra Musicä. Et quid est Isenacum zar' dv ay. quam en musica: vel Isnacum, canimus?

350 Bachdenkmal

Luther. 1864 tauchte zuerſt der Gedanke eines Eiſenacher Bachdenkmals auf; als 1867 die Stadt an dem Geburtshauſe Bachs am Frauenplan eine Gedenktafel anbringen ließ, bildete ſich ein Denk— malsausſchuß, dem Eichel-Streiber als Vorſitzender und Fritz Reuter angehörten. Liſzt, Bülow, Joachim wirkten dafür, in der Mitte der ſiebziger Jahre waren die Mittel geſichert, und wieder erſchien Donndorf als der berufenſte Künſtler, das Stand— bild zu ſchaffen. Er ſtellte die Kraft des thüringer Volkstums in ſeinem Bach dar und prägte deutſchen Verſtand und Witz in dem Kopf aus: ſo wurde das Denkmal Ende September 1884 enthüllt vor der Georgskirche, in der man unmittelbar darauf die H-Moll-Meſſe andächtig ſtaunend zum erſtenmal in Eiſenach vernahm.

Als im Jahre 1900 die alte Bachgeſellſchaft mit der Vollendung der Ausgabe von Bachs Werken ihre Arbeit getan hatte und ſich auflöſte, trat ſofort eine Neue Bachgeſellſchaft ins Leben, um dieſe Werke nun der muſikempfänglichen Gegenwart vermitteln zu helfen durch Aufführungen wie durch Erörterungen von mancherlei dabei noch ungeklärten Fragen. Sie verknüpfte ſich mehrfach mit Eiſenach. Ihr dortiges Mitglied Bornemann regte an, daß ſie 1906 das Geburtshaus Bachs erwarb; und diesmal war es die Berliner Singakademie, die durch Eiſenacher Bachkonzerte 1905 einen großen Teil der Mittel

Bachmuſeum 351

dafür beſchaffte. Bornemann entledigte ſich mit Liebe und Geſchick des Auftrags, das Haus als Bachmuſeum einzurichten, indem er aus altem Eiſe— nacher Beſitz an feſtem und beweglichem Gerät zu— ſammengewann, was zur Ergänzung der Vorſtellung von Bachs Geburtshaus dienen konnte, und Bilder und Schriftſtücke des Bachſchen Kreiſes, Muſikalien und alte Inſtrumente hinzuerwarb, daß ſich anheimelnde Muſeumszimmer neben den alten Wohnzimmern füllten. Ende Mai 1907 hielt die Neue Bachgeſell— ſchaft ihr drittes Bachfeſt in Eiſenach; und ob wohl „Dir, dir, Jehovah, will ich ſingen“ aus den Kehlen der Leipziger Thomaner je ſo herzergreifend geklungen hat, als wie ſie es damals vor der Tür des zu eröffnenden Bachmuſeums ſangen? Das Haus am Eiſenacher Frauenplan wurde wie das am Weimarer Frauenplan zu einer Wallfahrtsſtätte; von Danzig bis Straßburg kamen ſie, der pommerſche Kantor, der weſtfäliſche Organiſt, der ſchwäbiſche Paſtor, auch der holländische Bachfreund und der deutſch— amerikaniſche Profeſſor, und manche Bachtakte im Fremdenbuch bezeugten ihre große geheime Liebe zu dem mitteldeutſchen Meiſter. 1910 wurde die wertvolle Sammlung alter Inſtrumente aus dem Beſitz des früheren Weimarer Kapellmeiſters Obriſt der Neuen Bachgeſellſchaft geſchenkt und dem Bach— hauſe eingefügt: deſſen Beſtand an dergleichen ſtieg nun faſt auf 200 Stück und wurde durch einen lehr—

352 Kleine Bachfeſte; Wartburgbibliothek

reichen Katalog in enge Beziehung zu Bachs Werken gebracht. Wiederholt fanden ſeitdem „kleine Bachfeſte“ in Eiſenach ſtatt, auch Muſik von Bachs leiblichen und Kunſtverwandten erklang da: und ſolche gediegene altdeutſche und altitalieniſche Kunſt von den Virtuoſen Berlins, Leipzigs und Thüringens in Eiſenach einmal vorgetragen zu hören, welchen Kenner und Freund dieſer Schätze hätte das nicht anziehen ſollen? Der heiligen Ordnung von Bachs Muſik vergleicht ſich die des deutſch-europäiſchen Krieges, wo die Über— wältigungen der feindlichen Völker aufeinander folgen wie die Stimmen einer großen Fuge.

So ſind es tiefere geſchichtliche Wurzeln deutſchen Geiſtes und thüringiſcher Art, die in dem bergum— grünten Eiſenach zu uns ſprechen, als in Weimar und Jena. Damit vereint es ſich, daß Carl Alexander 1889 in Eiſenach eine Bibliothek zur Pflege thüringiſcher Geſchichtskunde unter feinem Namen gründete und in Räumen der alten Dominikanerkirche beim Gym— naſium aufſtellen ließ und ihr auch die Wartburg— bibliothek einfügte, die man auf Anregung des Wart— burgbibliothekars Richard Voß zum größten Teil in den Jahren 1885 und 1886 zuſammengebracht hatte!), und daß 1899 in den unmittelbar anſtoßenden alten Kirchenräumen ein Thüringer Muſeum von Alter—

*) Der Dresdner Sammler Klemm beſchaffte dafür u. a. faſt 900 Originaldrucke aus der Reformationsliteratur des 16. Jahrhunderts, darunter 200 der wichtigſten Lutherſchriften aus den Jahren 1516 bis 1523.

Wartburgbeſuch um 1900 353

tümern und Gewerbekunſt eröffnet wurde. Vor allem galt aber Carl Alexanders Eiſenacher Liebe bis zuletzt ſeiner Wartburg, und die Eiſenacher Bürgerſchaft konnte ſein Denkmal, das ſie von der Hand des ihr entſtammten Bildhauers Hoſäus 1909 errichtete, nicht beſſer aufſtellen als an der freien Wegecke des großherzoglichen Karthäuſergartens mit der Wendung zum Schloßberg, wo ſich ſeine ſchlichte, vornehme Geſtalt zugleich mit dem ſchönſten Eiſenacher Wartburgblick jedem Wanderer einprägt.

Was die Wartburg im jüngſten Zeitalter unſerer Geſchichte für Kaiſer und Reich geweſen iſt, wer will das ermeſſen? Kaiſer Wilhelm II. iſt ſeit ſeinem Regierungsantritt bis zum Jahre 1905 faſt alljährlich ihr Gaſt geweſen, 1898 zuſammen mit fünf Söhnen. 1895 ſuchte Prinz Leopold von Bayern ſie auf, der zwanzig Jahre ſpäter Warſchau eroberte. 1890 waren Wiſſmann und ſeine Gefährten da, um einen tiefen Heimatseindruck mitzunehmen, ehe ſie wieder in den ſchwarzen Erdteil eindrangen. Wildenbruch, Lienhard und andere haben ſie neuerdings beſungen. Gegen Ende des Zeitalters ſtiegen Vaterlandsliebe und Wartburgbeſuch wohl gleichmäßig: 1910 wurden etwa 70000, 1911 100 000, 1912 150 000 Beſucher gezählt.

Der alte Großherzog am Ausgang des 19. und der junge am Beginn des 20. Jahrhunderts genoſſen ihre Hausherrſchaft an dieſer ſchönſten deutſchen

Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 23

354 Neue Wartburgausſtattung

Burg gewöhnlich einige Wochen im Frühling. Der Beſitz war eingerichtet, nur vervollkommnen ließ er ſich noch. Ende 1885 übernahm der junge Dittmar das vorher von ſeinem Vater innegehabte Amt eines Bauleiters der Burg: ſeine erſte Arbeit wurde die erſehnte künſtliche Waſſerzuführung, und 1900 wurde dieſe zu einer dreizehn Kilometer langen reichlich ſpendenden Leitung ausgebaut. Ende der achtziger Jahre konnte nun auch die mittelalterliche Badeanlage noch geſchaffen werden, ein doppelgeſchoſſiger Raum, an orientaliſches Vorbild erinnernd. 1893 erhielten die Wartburgbewohner telephoniſche Verbindung nach Eiſenach, 1898 die Wohltat einer Niederdruckdampf— heizung und 1899 elektriſches Licht. Noch immer fand ſich ein und das andere vorzügliche Kunſtwerk deutſchen Altertums herzu, um 1897 z. B. die wohl im 11. Jahrhundert gewebte Altarbekleidung mit Chriſti Geburt aus dem Elſtertal: ſie wurde im Zimmer des Burgherrn aufgehängt wie ſpäter das farbenfriſche Kölner Dreiheiligenbild aus Bruyns Werkſtatt. An die Wände der früher nicht völlig ausgeſtatteten Kemenate der Eliſabeth ſtiftete Kaiſer Wilhelm II. Glasmoſaikdekorationen mit Darſtellungen aus dem Leben dieſer Heiligen, ſtreng althieratiſche Entwürfe, im einzelnen teilweiſe modern empfunden; als ſich ihr erſter Überglanz milderte und ihnen eine gedämpfte Beleuchtung zu teil wurde, fügten ſie ſich der künſtleriſchen Geſamtſtimmung der

Wartburgkommandanten 355

Wartburg ein, obgleich ſie ein neues Zeitalter der Burgrenovation andeuteten, ein mehr formal als individuell gehaltenes. Zwei der ſchönſten alten Schränke der Burg mit gotiſcher Schablonenmalerei ließ der Kaiſer für die preußiſche Marienburg genau nachahmen.

Die Wartburg fortwährend zu beſorgen und zu betreuen, jeden Schaden im Entſtehen zu beſeitigen, die Sprache dieſes ſteinernen Märchens unter pein— licher Bewahrung all ſeiner Züge bei friſchem Klang zu erhalten, das war die Aufgabe des Wartburg— kommandanten. Auf Bernhard von Arnswald folgte 1878 ſein Bruder Hermann; er hegte die Burg in gleichem Sinne wie jener bis 1894. Dann über— nahm Hans Lucas von Cranach das ſchöne Amt im Herzen Deutſchlands. Großherzog Carl Alexander war in den ſiebziger Jahren, als Weimar mit der Cranachſchen Familie um des Reformationsmalers willen in Berührung trat, auf ihn aufmerkſam ge— worden, 1876 war er in das 94. Regiment eingetreten und bald auch auf der Wartburg eingeführt worden. Und er verwuchs doppelt mit ihr, die ſeines Alt— vordern Meiſterſtücke in Luthers Elternbildniſſen hegt, indem er das Erbe ſeines Ahnen auch als perſönlichen Beſitz in dem teuren, wunderbaren Heim da oben pflegen konnte.

Von allen Schätzen der Wartburg haben die Gäſte des jüngſten Zeitalters die Lutherſtube als

23*

356 Junker Jörg

den größten empfunden.*) Der Ritterſang iſt ver- klungen, die Lebenswerte unſerer mittelalterlichen Dichtung neuen Zeiten einzuimpfen hat man nur in zu kleinen Kreiſen vermocht; Schwinds Bilder, Carl Alexanders Geſamtausſtattung der Burg, die fürſtliche Pflege ihres Berggeländes beglücken die Deutſchen. Aber wer hinter Luthers Schreibtiſch ſte— hend durch das halb geöffnete Butzenſcheibenfenſterchen nach den Werrabergen hinausſah, der hat eine Er— innerung an geiſtige Strahlkraft, die faſt über alles Menſchenwerk iſt. Und was der „Junker Jörg“ **) in jenen zehn Monaten von Mai 1521 bis März 1522 durchgemacht hat, iſt uns erſt jetzt deutlich geworden. Er ſchreibt' gegen die alte Kirche Von der Beicht und widmet die Blätter einem andern Burgſaſſen, Franz von Sickingen. Er vollendet für den Kur— prinzen Johann Friedrich die Überſetzung des Magni- ficat, in der er die Marienlegende ein letztes Mal herzlich anklingen läßt. Er fördert ſeine Poſtille, d. h. er ſchafft an ſeinem Muſterjahrgang von Pre— digten, und es wird nach ſeiner Meinung das beſte Buch, das er je gemacht habe, nach unſerm Wiſſen ſein volkstümlichſtes. Er überſetzt Melanchthons

*) Daher auch Anknüpfungen wie der Titel „Die Wart- burg“ auf einer führenden Wochenſchrift des evangeliſchen Deutſchlands u. dgl.

**) Mit dieſem Schutz⸗ und Trutznamen ſchließt ſich Luther an die Wartburgritterſchaft vor dreihundert und mehr Jahren an, die ihrem Heiligen in Eiſenach die St. Georgs— kirche erbaut hatte, wo er in die Schule gegangen war.

Winter 1521/22 357

Apologie gegen die Sorbonne und verſieht ſie mit Vor⸗ und Nachwort. Er begrobſt den Papſt zu Neujahr. Er bringt es nicht fertig, nicht gegen den „Abgott zu Halle“ zu ſchreiben, gegen die un⸗ geheuerlich abergläubiſche Reliquienausſtellung des Erzherzogs Albrecht. Er tröſtet ſeine daheim in Verwirrung geratene Gemeinde mit einer Auslegung des 37. Pſalms „an das arme Hänflein Chriſti zu Wittenberg.“ Er widerlegt Emſer. Mönchsgelübde, Meſſenmißbrauch, Kloſterſtürmer beſchäftigen ſeine Feder, aber auch ſein Herz ſo, daß er Anfang De— zember auf wenige Tage einen geheimen Ritt nach Wittenberg wagt. Kaum zurückgekehrt ſchreibt er die „treue Vermahnung an alle Chriſten ſich zu hüten vor Aufruhr und Empörung.“ Und endlich, mitten in Winterſchnee und tiefſter Stille, überſetzt er von Ende Dezember bis Ende Februar das Neue Teſtament: mit dieſer Heldenarbeit gewinnt er ſelbſt eine letzte Stufe der Schrifterkenntnis und Deutſchland die beſte Chriſtenwaffe, gegen Rom und für ſich.

Jena reizt uns zur Tat, Weimar lockt uns zur Form, Eiſenach hilft uns zum Glauben.

Jahrhundertwirkung

Wenn es wahr iſt, daß auf ein naturergebenes Zeitalter in der Regel ein ſtilforderndes folgt, die ſich gegenſeitig nicht leicht verſtehen, ſo wird zwiſchen den in längeren Abſtänden wiederkehrenden natur— frohen Zeitaltern unter ſich ebenſo wie zwiſchen den formbewußten unter ſich eine verhältnismäßig gute Erkenntnis und Würdigung der früheren durch die ſpäteren, ein beſonders tiefgreifender Anſchluß dieſer an jene ſtattfinden. Was an der Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert erſtrebt und geſchaffen wurde, wirkte zwar, allmählich nachlaſſend, über die zwei Geſchlechter um die Mitte des 19. Jahrhunderts fort, aber erſt an der Wende vom 19. zum 20. Jahr⸗ hundert war wieder ein neues Streben und Schaffen lebendig, deſſen Sinn dem vor hundert Jahren im Grunde ähnelte. Der Wille zum Stil erhob ſich um 1900 über die um 1865 vorherrſchende Natur— nachahmung ebenſo, wie der um 1800 über die von etwa 1765. Freilich hatten ſich inzwiſchen die Be— dingungen verſchoben, ſo daß die höchſten Werte auf andern Gebieten erzielt wurden: die neue Philo— ſophie, Dichtung und Muſik kam jener älteren an

.

Führerſchaft der bildenden Kunſt um 1900 359

menſchlicher Bedeutung nicht gleich, die jetzige Ver— kehrstechnik, Raumſchöpfung und Flächenkunſt aber übertraf die damalige. Diesmal ſtanden Maſſe und Augenſinn im Vordergrund der Entwicklung, während es ſich damals zuvörderſt um das Einzelweſen und den Gehörsſinn gehandelt hatte. Was ergaben ſich daraus für Beziehungen zwiſchen dem carl-auguſtiſchen Erbe Weimars und der deutſchen Bildung des jüngſten Menſchenalters?

Die bildende Kunſt, die jetzt eine ungewöhnlich kräftige und glänzende Stilperiode erlebte, ſchoß nun bereits im zweiten Geſchlecht den Schweſter— künſten voraus. Indem ſie zu voller Selbſtherrlichkeit erſtarkte, warf ſie die Knechtsarbeit der Dichternach— bildung hinter ſich; die Zeit der illuſtrierten Klaſſiker— ausgaben war ſeit 1890 mit einem Schlage vorüber. Entweder wagte ſie eigene Gedanken des bildenden Künſtlers darzuſtellen, oder ſie hielt ſich an allgemein gültige Augenſymbole, oder ſie verpönte, am rechten und am unrechten Ort, jeglichen Gedanken, wodurch um 1910 nicht ſelten eine Leere erreicht wurde, die der Ode zum Verwechſeln ähnlich war, als der Formtrieb auf dem Wege über das Formbewußtſein zum Formdünkel entartete. Jedenfalls aber erlaubte ein Werk wie Goethes Fauſt der Phantaſie des Zeich— ners, Gebilde zu treiben, wie ſie Staſſen im An— ſchluß an das Bühnenbild und Schneider und Kolbe als Rahmenzeichnungen zu der Dichtung entwarfen.

360 Fauſtiſches bei Klinger

Wie ſich Klinger Einzelheiten der goethiſchen Fauſtdichtung zu eigen gemacht hat, zeigen gelegent— liche Außerungen ſeiner mannigfaltigen Kunſt. Wenn der erſte Radierungsverſuch des Einundzwanzigjährigen in mondbeglänzter Gebirgslandſchaft eine Sphinx dar— ſtellt, deren ägyptiſcher Kopf mit kecken Rätſelaugen zum Sprechen verlebendigt worden und deren Löwen— leib aus der glatten ſtarren Plaſtik in ſchmiegſame bepelzte Natur zurücküberſetzt iſt, ſo erinnert das an die Sphinx der theſſaliſchen Walpurgisnacht und wird kaum ohne ſie entſtanden ſein. Ein Zitat aus der deutſchen Walpurgisnacht ſchrieb Klinger in die Blätter des Aſtes, unter denen die Ballettänzerin, zwei Apfel in den erhobenen Händen, den Mann am Schlangenbaum grüßt: „Der Apfelchen begehrt ihr ſehr“; das Blatt war als Titel zu Einem Leben gedacht. Auf dem grauvioletten Marmorſockel ſeines Beethoven hatte Klinger urſprünglich die Worte ein— gemeißelt: „Der Einſamkeiten tiefſte ſchauend unter meinem Fuß“ und damit an den ganzen Monolog erinnert, wo dem Fauſt noch einmal Helena, dem alten Goethe noch einmal die griechiſche Schönheit rieſengroß als Wolkengebild im Auge ſchwankt. Und auf der Rückſeite des Beethoventhrones flog um den Jüngling, der von der Kreuzigungsgruppe auf die Venus zuſtürzt, urſprünglich ein Spruchband: „Wer frech iſt, der muß leiden.“ Das irdiſch-unter— irdiſche Titanengewühl auf der Predella des Chriſtus

;

Gedichtete und radierte Zueignungen 361

im Olymp, ſo neu es als Ganzes iſt, erinnert an den Seismos und die Mütter im Fauſt. 1914 ſchuf Klinger die Radierung, auf der ein Starker ſich immer noch mit der Rieſenarbeit abmüht, den Block mit den vier Fakultäten darauf bergan zu wälzen, während nebenan ein leichtes Zeppelinſchiff durch den Weltraum ſurrt: wir vernehmen das Ach! der erſten Fauſtzeile neu in tiefſter Seele und emp— finden nur einigen Troſt durch den Fortſchritt der Technik; nach Theſſalien zu fliegen bedarf es keines Zaubermantels mehr.

Wer durch ſolche Andeutungen zu erkennen gibt, wie fauſtiſches in ihm webt, ſollte bei dem nicht auch Goethes ſonſtige Dichtung anklingen? Wie Goethe verwendet Klinger wiederholt das Wort Zueignung; er zeichnet und radiert ſeine Zueig— nungen, und wie ſich für Goethe im Jenaer Saal— tal der Nebel teilt, ſo für Klinger der Kerzenrauch über dem Zeichentiſch, daß ihnen darin das Götter— bild der Wahrheit erſcheint. Wie Goethe als neuer Amadis, neuer Pauſias, neuer Kopernikus dichtet, ſo ſchafft Klinger „die neue Salome“. Bald nähert ſich ſeine Phantaſie der goethiſchen bis an die Grenze der Illuſtration, bald quillt ſie wie ein neuer, gleicher Strahl aus der Tiefe. „Lilis Park“ reizte Klinger 1883 zu einer Federzeichnung: er ſetzt Lili an die Ecke des Parkgemäuers, mit der Futter— ſchüſſel auf dem Schoß, das Geflügel drängt ſich um

362 Lilis Park; Elyſium

ſie, wie Goethe es ſchildert, einen Täuberich fügt Klinger hinzu, der an dem Zuckerſtückchen in ihrer erhobenen Linken pickt und den ſie ganz, ganz leiſe am Köpfchen krauelt; hinten über der Parkmauer lehnt der junge Mann, der ſoeben die Idee zu dem Gedicht faßt und auszudenken anfängt. Der bekränzte Taſſo träumt ſich an einen klaren Bach zwiſchen Bäumen und Felſen und von dieſem ſein Bild als das eines elyſiſchen Jünglings widergeſpiegelt, der denke: Käme doch

Ein andrer und noch einer, ſich zu ihm

In freundlichem Geſpräche zu geſellen!

O ſäh ich die Heroen, die Poeten

Der alten Zeit um dieſen Quell verſammelt,

O ſäh ich hier ſie immer unzertrennlich,

Wie ſie im Leben feſt verbunden waren!

So bindet der Magnet durch ſeine Kraft

Das Eiſen mit dem Eiſen feſt zuſammen,

Wie gleiches Streben Held und Dichter bindet.

Homer vergaß ſich ſelbſt, ſein ganzes Leben

War der Betrachtung zweier Männer heilig,

Und Alexander im Elyfium

Eilt, den Achill und den Homer zu ſuchen.

O daß ich gegenwärtig wäre, ſie,

Die größten Seelen, nun vereint zu ſehen! Das hat uns Klinger in der Aula der Leipziger Univerſität herrlich an die Wand gemalt, als ob ihn Goethes Verſe an den elyſiſchen Quell geleitet hätten. Taten ſie es nicht, ſo iſt der Einklang noch merk— würdiger; taten ſie es, ſo dachte Klinger doch das Ganze eigen durch, fügte an der wiſſenſchaftlichen

Klinger, Schiller und Carſtens 363

Stätte vor allem die bedeutenden Philoſophen hinzu und verwandelte den ſehnſüchtigen Traum in reiche Gegenwart. So gab auch ſein Chriſtus im Olymp eine neue Antwort auf die ſtolze Dichterfrage: „Wer ſichert den Olymp, vereinet Götter?“ und erwies damit den Vorrang der bildenden vor der redenden Kunſt unſerer Tage.

Dasſelbe Gemälde iſt auch ſchillerſchen Gedanken verwandt. Es erhebt ſich gegenüber den Göttern Griechenlands, es ſpiegelt etwas aus den Vier Welt— altern wider. Kaſſandra kam Klinger in den Sinn, als er einen Frauenkopf aus einem Block Seravezza— marmor hieb; ſo ergänzte er ihn nach der Vor— ſtellung, die uns Schiller gegeben hat. War doch Klingers erſter bildhaueriſcher Verſuch eine bis jetzt unbekannt gebliebene Büſte unſeres Schiller.

Die Klingerſche Homergruppe auf dem Elyſium— gemälde iſt die großartige Erneuerung einer Idee von Carſtens, die die Deutſchen aus dem Weimarer Muſeum kennen. Als einſt jenes Carſtensſche Blatt in Weimar eintraf, gaben die Weimarer Kunſtfreunde auf, das Menſchengeſchlecht vom Element des Waſſers bedrängt darzuſtellen (man denkt an Mephiſtos Hülfe zum Siege des Kaiſers); eine größere Parallelaufgabe löſte Klinger auf ſeinem Ehrenblatt der Dresdner Hygieneausſtellung: das Waſſer als Bedränger der Wilden, als Befreier einer neuen, beſſeren Menſchheit. Schadows und Goethes Bemühungen

364 Thoma und Goethe

um Reliefs am Roſtocker Blücherdenkmal blieben Zwitter; was ſie meinten und ſollten, erfüllte Klinger an ſeinem Beethoventhron.

Wenn jemand im neuen deutſchen Reich, ſo hatte Hans Thoma das Recht, ſein Wörtlein zu Goethes Gedicht „Amor als Landſchaftsmaler“ zu ſagen. Als er 1886, ſich auf eine ausſichtsreiche Felsſpitze denkend, den vom Rücken geſehenen nackten geflügelten Knaben vorn neben ſich entwarf, wie er mit dem röt— lichen Zeigefinger den Talgrund für den Liebesblick des Malers zu ſchaffen ſcheint, mag ihn die erſte Hälfte des Gedichtes genau geführt haben: Sonnen— ſchein überm Wolkenſaum, zarte leichte Wipfel friſch erquickter Bäume, der Fluß, der im Sonnenſtrahl glitzert, alles iſt da, ſmaragdene Wieſe und blaue Berge, und wer nun hier hinunter ſchaut, gerät wörtlich in das Bekenntnis des Dichters,

Daß ich ganz entzückt und neu geboren

Bald den Maler, bald das Bild beſchaute. Hat uns Thoma doch auch gegen die Jahrhundert— wende wiederholt das jedem eingeborene Gefühl Goethes vors Auge gezaubert, das in Fauſt hinauf und vorwärts dringt,

Wenn über uns im blauen Raum verloren

Ihr ſchmetternd Lied die Lerche ſingt,

Wenn über ſchroffen Fichtenhöhen

Der Adler ausgebreitet ſchwebt

Und über Flächen, über Seen Der Kranich nach der Heimat ſtrebt.

Neue Fauſtmuſik 365

Wie ihn Goethes Lyrik oft umſchwebte, wenn er Landſchaften malte, ſo bedeutet in ſeinem Munde das Bekenntnis mehr als in jedem andern: „Das Verhältnis der Seele des Deutſchen zu ſeiner Land— ſchaft iſt wohl in Goethe am ſchönſten und ſtärkſten zum Ausdruck gekommen.“

Neue Muſik zu Fauſt zu ſchaffen hat ſich das Zeitalter mehrfach bemüht. Zwar iſt nur zu vermuten, daß am Anfang dieſer Jahrzehnte aus Dingelſtedts Verhandlungen mit Brahms wegen einer Wiener Fauſtaufführung deſſen Tragiſche Ouverture hervorgegangen ſei. Gegen Ende des Zeitalters lieferte Weingartner eine umfaſſende Fauſtmuſik; eindringender haben Draeſeke (1888) und Theodor Streicher (1911), der Urenkel von Schillers muſikali— ſchem Jugendfreund, die Oſterſzene in Fauſts Gewölbe durchmuſiziert, Berger den „Euphorion“ (1899) und Mahler die Schlußſzene des zweiten Teiles als zweite Hälfte ſeiner achten Symphonie, d. h. als Antwort auf das Veni creator spiritus der erſten Hälfte (1910). Draeſeke ſchloß ſich an die goethiſche Rhythmik noch natürlich rezitierend an, Streicher legte die Innen— erlebniſſe ſtark muſizierend zwiſchen den Sätzen aus und deklamierte dieſe in zerdehnter, neupathetiſcher Melodik. Es laſſen ſich unzählige Löſungen dafür

*) Es iſt bemerkenswert, daß ſeine Sinfonia tragica (op. 40) um dieſelbe Zeit entſtand wie dieſe Szene (op. 39); vgl. das hier über Brahms geſagte.

366 Hugo Wolf

denken; je breiter die Muſik, deſto mehr entfernt fie ſich von der urſprünglichen poetiſchen Schönheit des Originals, die in einer kleineren Zeit erſchöpfend wirkt.

Goethes Lyrik hat ſich zu Beginn des Zeitalters noch einmal mit einem muſikaliſchen Genie vermählt: in dem Winterviertelſahr von 1888 auf 1889 ſchuf Hugo Wolf ein halbes Hundert ſtolzer Goethelieder, die erſten noch in Wien, die meiſten in der Garten— ſtille von Oberdöbling. Der damals achtundzwanzig— jährige hatte ſein Talent lange in Schranken ge— halten, dann waren ſeine Quellen rauſchend hervor— gebrochen, indem er ſich auf Mörike und Eichendorff geſtürzt hatte, und nun erlebte er die glücklichſte Zeit in einſamem, tiefem Bunde mit Goethe; „ſo recht aus dem Roman heraus“ komponierte er Ende Oktober die Harfnerlieder und in gleichem Zuge vom 21. bis 30. Januar zehn Lieder aus dem Buche Suleika. Seine Kunſt baute ſich auf dem Erbe von Schumann, Loewe und Liſzt auf, er durchdrang es mit friſcher Kraft und raffinierter Harmonik; ſein muſikaliſcher Furor bändigte die Worte in eherne, bisweilen faſt eintönige Melodiezeilen und tanzte ſich in der Klavierbegleitung bis an die Grenzen des Inſtrumentes aus, öfter laut dramatiſierend, jauchzend, lachend und pfeifend, manchmal auch innig ſpinnend. Ein gewiſſes Monumentales an Goethe hatte keiner der vorhergehenden Komponiſten ſo herausgeriſſen, niemand den Witz Goethes ſo grandios grotesk gepackt,

Goethiſche Lieder und Geſänge um 1900 367

und alles, ſo ſchnell es geworden war, ſtrotzte von Fülle des Weſens und Sicherheit der Form. Daß er barocke Überſpannung mit manchem ſeiner Lieder vermittelte, ſprach er ſelbſt am beſten bei einem aus: „Die Muſik iſt von ſo ſchlagender Charakteriſtik, dabei von einer Intenſität, die das Nervenſyſtem eines Marmorblocks zerreißen könnte.“ Da empfand mancher die beſcheideneren Kompoſitionen Arnold Mendelsſohns, aus der Enkelgeneration zu Felix Mendelsſohn, als eine Wohltat für das Zeitalter, die Goethes ſittliche Güte tiefer zum Ausdruck brachten und auch des Humors nicht entbehrten, etwa dem Dichterwort einen Scherz hinzufügen durften wie am Schluſſe der „Spröden“ das ſachte Herabfallen der Pomeranze, ſich übrigens ſtrengerer Harmonik und des gediegenſten Baues befleißigten. Leichter wogen die altgefälligen Goethelieder von Kahn und die jüngſtmodiſchen von Vrieslander und Kurt von Wolff.

Am bezeichnendſten für die neue Art der Muſiker— teilnahme am Weimariſchen Erbe war wohl die verhältnismäßig große Zahl choriſcher Kompoſitionen mit Orcheſter, die ihm gewidmet wurde. Und lehr— reich dabei iſt, wie zu Anfang der junge Goethe, ſpäter der ältere bevorzugt wurde: das Geſchlecht an der neunzehnten Jahrhundertwende reifte ebenſo wie das an der achtzehnten. Die jungen Strauß und Kahn griffen in den achtziger Jahren nach Wanderers Sturmlied und Mahomets Geſang, Berger

368 Arnold Mendelsjohn

dann nach dem Geſang der Geiſter über den Waſſern und Meiner Göttin; Arnold Mendelsſohn brachte ſchließlich Muſik zum Paria und zu Pandora. Bei Pandora verzichtete er auf die Bühnenwirkung und gab nur eine Auswahl der lyriſchen Teile, die er mit einem neuen Schluß verſah, jo daß eine Art großer weltlicher Konzertkantate entſtand. Wie er hier ſtellenweiſe Beethovenſchen Stil mit Geſchick nach— ahmte, verwirklichte er ein andermal den feinen Einfall, lyriſche Sätze aus Werthers Leiden als fünf— ſtimmige Madrigale für Soloſtimmen oder kleinen Chor trotz Heinrich Schütz zu komponieren; einige ſpruchartige Verſe Goethes verwandelte er in acht— und ſechsſtimmige Chöre und ſchloß ſich auch damit frei der prächtigen Technik des ſiebzehnten Jahrhunderts an. „Mignons Exequien“ geſtaltete der junge Streicher zu einem muſikaliſch poetiſchen Werke für gemiſchten Chor, Kinderchor und Konzertorcheſter.

Dieſe geſelligen oder feſtlichen Klangkörper wurden auch auf Überſetzungen Herders und Gedichte Schillers neu angewandt. Mendelsſohn erlas ſich aus den „Stimmen der Völker“ den „Hageſtolz“ zu einem größeren Neckreigen und das urſprünglich ſpaniſche Warneliedchen vom kurzen Frühling zu einem zierlichen, duftigen Tanzquartett für Frauen— ſtimmen, und Richard Strauß ſchrieb Männerchöre über altdeutſche Dichtungen aus derſelben Quelle. Schiller forderte auch jetzt die ſtärkeren Mittel: zu

Jahrhundertwirkung 369

einem breit geſponnenen ſechzehnſtimmigen Chor legte Strauß (1897) die Sommerſonnenuntergangs— ſtimmung des Gedichtes Der Abend auseinander, und Georg Schumann zeigte (1905) mit Chor und Orcheſter, daß trotz der Abkehr von ſäkularer Senti— mentalität Schillers „Sehnſucht“ auch bei den Ur— enkeln noch in deutſchen Künſtlerherzen lebte.

Dieſe Erneuerungen weimariſcher Gedanken und Kunſtwerke in Bildern und Muſik der jüngſten Ver— gangenheit durchdrangen ſich bei der inneren Bil— dung der Nation mit entſprechenden älteren Werken ſeit hundert Jahren. Richters, Kaulbachs, Schwinds Goethebilder übten ihren beglückenden Einfluß weiter, ja vergrößerten ihn dank einer geſteigerten Repro— duktionstechnik, Schuberts Lieder klangen im deutſchen Hauſe der Gegenwart ſo friſch wie bei unſern Großeltern, und noch iſt der Schlußchor der Neunten Symphonie herrlich faſt wie die Schöpfungswerke ſeit dem erſten Tag.

Und die Dichter? Bei ihnen läßt ſich dreierlei unter— ſcheiden: um 1885 trotziges Eindringen in neues Lebens— dickicht unter vorwiegender Abweiſung des klaſſiſchen Ideals, um 1900 theoretiſche Anerkennung Goethes und Schillers neben der eigenen Produktion, gegen 1915 gelegentliche Hinwendung dieſer Produktion unter die Sonne Weimars.

Einer von denen, die zu Anfang des Zeitalters trotz ihres guten Willens Schiller gründlich verkannten,

Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 24

370 Der Radikalismus und Schiller

war z. B. Bleibtreu, er erklärte das Schillerpamphlet ſeines Genoſſen Mauerhof für einen hochbedeutenden Eſſay, und ſeinen Namen bewährend, rannte er auf dieſem Holzwege weiter und geriet vollends in die blödeſte Schillerkritik mit Sätzen wie: „Seine künſtlich erhitzte, innerlich kalte Natur verſteckte ſich hinter ge— ſchwollener Unnatur. Es möchte ſchwer ſein, irgendwo bei ihm einen Laut echter Empfindung zu ſpüren. Nur in der Tellgeſtalt findet er natürliche Töne, doch auch hier entpuppt ſich dies angebliche Sinnbild der Demokratie als Spießbürger mit Privatrache aus Familiengefühl. Denn Schiller vertritt nicht radikalen Idealismus, ſondern lauwarmen bourgeoiſen Libera— lismus, ein Knecht der ideologischen Phraſe.“ Goethes Art imponierte dieſen Jungen mehr; aber als ſchaffende gingen ſie doch auch in einem möglichſt weiten Bogen um ihn herum. Wenn ſich damals für viele jüngere Geiſter ſo etwas wie eine plötzliche größere Entfernung von Goethe und Schiller herſtellte, ſo hatten die meiſt ſozialiſtiſch gefärbten Dichtergehilfen des Naturalismus der achtziger Jahre ihr Teil an dieſer Wirkung.

Als Deutſchland 1899 den hundertfünfzigjährigen Geburtstag Goethes und 1905 den hundertjährigen Todestag Schillers beging, zeigte ſich allerdings, daß auch bei denen, die um 1885 naturaliſtiſch zu dichten begonnen hatten, das Verſtändnis für Stil inzwiſchen wieder einmal gereift war, und der Nachwuchs ſeit den neunziger Jahren ſah ſich vollends im Genuſſe

Dichterbekenntniſſe um 1900 055

eines neuen Schönheitsbewußtſeins auf Grund jüng— ſter pſychologiſcher Entdeckungen. Das bedeutete trotz des großen äußeren Kulturabſtandes zwiſchen 1900 und 1800, trotz neuer Ziele, ja auch trotz eines zweifellos laſtenden Konkurrenzgefühls doch wieder eine ehrliche Bewunderung Goethes und Schillers faſt auf der ganzen Linie des neuen Dichtergeſchlechtes; und als ſie ſich äußerte, kam auch zutage, daß die Verblendung in den achtziger Jahren nur einen Teil der literariſchen Kreiſe ergriffen gehabt hatte. Detlev von Liliencron ſprach us: „Bis zu meiner Todesſtunde wird Goethes Einfluß auf mich währen“, und Karl Henckell wünſchte: „Möge mich fortan auch der Hauch des Weiſen mit ſeinen liebenden Kräften dauernd ſegnen.“ Dehmel bekannte zwar, in ſeiner unreifen Zeit Schiller für einen mäßigen Dichter und maßloſen Schönredner gehalten zu haben, erklärte ihn aber nun für den einſichtigſten, gewiſſen— hafteſten und maßvollſten Künſtler in deutſcher Sprache, und Hofmannsthal meinte: „Die ungeheure ſittliche Kraft eines Menſchen wie Schiller wirkt heute ſtärker durch die Schwungkraft ſeiner Reden und architektoniſche Kraft des Szenariums als durch die direkten Ideen! und Reflexionen.“ *)

Schließlich wurde von da aus auch der Schritt zu unmittelbarem poetiſchen Anſchluß an die klaſſiſche Kunſt getan, und kein geringerer als Gerhart Haupt—

*) Abſeits hielt ſich Wedekind mit ſeiner Parodie „Erd—

geiſt“. 24%

372 Hauptmann und Goethe

mann gab dafür das bedeutendſte Beiſpiel in ſeinem Breslauer Jahrhundertfeſtſpiel von 1913. Oder wäre der Gedanke dieſer Dichtung, den Weltregierer Gott in Geſtalt eines Theaterdirektors prologiſierend einzu— führen, nicht ein geiſtreich verknüyfender Abſenker aus den beiden Vorſpielen des Fauſt? Wären die „deutſchen Reime“ des Feſtſpiels nicht rhythmiſch und zum Teil wörtlich genau abzuleiten aus den Fauſtſchen Knittel— verſen und der Kapuzinerpredigt? Erklängen die Trimeter von Athene Deutſchland nicht dank der Reſo— nanz des Helenapathos, und bedeuteten ſie nicht einen wenn auch geringen Erſatz für das, was der zweite Teil der Pandora hatte bringen jollen?*)

Dieſe Zeugniſſe aus Dichtermund ſtimmten überein

*) Aus demſelben Jahre noch einige kleinere Beiſpiele, die freilich auf einem andern Blatte ſtehen: wenn Paul Ernſt ein Geſchichtchen „Die Bajadere“ erzählt, wo es am Schluſſe, als ihr Geliebter ertränkt wird, heißt: „Das Mädchen breitete die Arme aus und ſprang ihm nach in das ruhig fließende Waſſer“ oder wenn er in der „Liebe in Rom“ ſagt: „Mit zitterndem Herzen und auf den Spitzen der Füße ging Hermann weiter in dem ſtillen Garten unter überhängendem Gebüſch dunkler Zweige, zwiſchen denen goldene große Orangen glänzten, an alten Marmortrümmern vorbei, welche entlang aufgeſtellt waren, etwa einem Sarkophag mit eingemeißelten Amoretten, oder Säulenknäufen und einem Römerbilde in der Toga und mit aufrechter Haltung“, ſo erinnert das an die barock kopierenden Entlehnungen, die man ſich um 1600 aus der Kunſt Dürers geſtattete. (Spittelers „Glockenlieder“ ſind in bewußt modernem Gegenſatz zu Schillers „Lied von der Glocke“ erfunden und fein „Prometheus und Epimetheus“ zu der entſprechenden goethiſchen Dichtung.)

Mancherlei Urteil und Leſeſtoff 373

mit dem Verhalten weiterer Kreiſe von Schriftſtellern und Denkern, von Nachſprechern und Menge. 1889 erklärte Nietzſche in ſeiner „Götzendämmerung“ Schiller für einen der „Unmöglichen“ und nannte ihn den Moral— trompeter von Säckingen; damals war es unter mo— dernen Spöttlingen beliebt, von dem „p. p. Schiller“ wie von einem berüchtigten Subjekt zu ſprechen, und wenn das in Studentenkreiſen nicht viel heißen wollte, ſo dachte doch mancher Dozent aus Scherers Schule ähnlich. Der Beobachtungseifer des Naturalismus war auf das formell unbedachte Sprechen eingeſtellt, Räuſpern und Spucken, halbe Verlegenheit und halbe Verlogenheit einer Rede waren ihm das wichtigſte; daß es ſo etwas gäbe wie Gedanken mit Lebenswert, ahnte er nicht und ſah in Schillers Jamben bloß Täuſchung. Im Jahre 1900, als ſchon ein anderer Geiſt wehte, wurde zur Beantwortung der Frage: „Was lieſt der deutſche Arbeiter?“ mitgeteilt, daß in 18 Volksbiblio— theken Heine 215 mal und Schiller 106 mal, in 16 Goethe 137 mal, in 15 Zola 433 mal und in 9 Haupt— mann 150 mal geleſen worden ſei. Dann bewies der Mai 1905 eine Begeiſterung für Schiller und durch ihn, die ſich auch in der Folge als echter Gewinn bewährte, denn ſie hatte ihren Grund in dem Reifen des ganzen Zeitalters, deſſen Entwicklung der klaſſiſchen vor hundert Jahren parallel ging. Seit Schillers Lebzeiten hat es keine Zeit anfangs ſo ſchwer gehabt, ihm gerecht zu werden, und keine ihn zuletzt mit ſolchem Ver—

374 Verminderte Bewertung der Antike

ſtändnis gewürdigt wie die drei Jahrzehnte von 1885 bis 1915.

Die Antike freilich bewundern wir nicht mehr ſo unbedingt, wie es die beſten vor hundert Jahren taten, auch wenn antikiſche Baugedanken in unſrer Archi— tektur noch einmal an Einfluß gewannen. Ein Bild— hauer wie Klinger hat es uns in ſeinen Werken gezeigt, daß die neue Plaſtik mit der griechiſchen in die Schranken treten könne, und wie er ſind wir uns darüber klar ge— worden, daß als vorzügliche Arbeit auch im Altertum nur ſehr weniges gelten kann von den Unmengen, die unſere Muſeen bergen. Auch die Einzelkenntnis der antiken Mythologie iſt zurückgegangen; und wer be— dauert das? Iſt doch dafür ein tieferes Vertrauen zu unſerer Art erwacht, auf Grund einer beſſeren Kenntnis unſerer Geſchichte, einer beſſeren Zuſammenfaſſung unſeres Volkes und der Vorbereitung dazu durch die Weimarer Dichter. Gerade unſern Klaſſikern, ſo innig ſie der Antike verbunden waren, hat dieſer Umſchwung keinen Abbruch tun können; ſie ſind ja Deutſche, und faſt lernen wir die Fabel- und Götterweſen des Altertums um Goethes und Schillers willen lieber als einſt um ihrer ſelbſt willen. Die goethiſche Iphigenie hat in hundert Jahren mehr Wert für die Menſchheit gehabt als die euripideiſche in der dreiundzwanzigfachen Zeit. Von Wielands Weimarer Arbeiten iſt möglichen— falls noch die Horazüberſetzung in der Hand eines treuen Gymnaſialrektors in Gebrauch; aber wenn eine neue

Wachstum der Goetheliteratur 375

Zeitſchrift „Wieland“ erſcheint, ſo iſt nicht mehr Goethes Zeitgenoſſe gemeint, ſondern der Schmied der germani— ſchen Sage. Goethe empfing 1813 als willkommenes Geſchenk einen zum Spazierſtab umgeformten Palmen— zweig von der Akropolis, der Reichskanzler Bethmann Hollweg hundert Jahre ſpäter von ſeinem Kaiſer einen Spazierſtock aus uraltem Eichenholz vom Speſſart. Noch ſind wir eines Enthuſiasmus durch die Antike fähig, aber ihre Hülſe iſt zuſammengeſchrumpft.

Um das Verhältnis des jüngſten Geſchlechts unſerer Geſchichte zu Goethe anzudeuten, iſt ein Blick auf die Goetheliteratur notwendig. 1859 hatte ſie Goedeke noch auf 43 Seiten ſeines Grundriſſes zur Geſchichte der deutſchen Dichtung verzeichnen können, 1891 brauchte Koch in der zweiten Auflage dazu 192 und 1912 Kipka in der dritten 1774 Seiten. Dieſes Wachs— tum beruht zum kleineren Teil darauf, daß der ältere Stoff mit peinlicherer Sorgfalt zuſammengeſtellt wurde, zum größeren darauf, daß ſich die Beſchäftigung mit Goethe neuerdings ſtark vermehrt hat. Goethes Be— ziehungen zu ſeiner Heimatſtadt Frankfurt am Main ſind z. B. in den fünfunddreißig Jahren von 1850 bis 1885 zwanzigmal literariſch behandelt worden, in den fünfundzwanzig von 1885 bis 1910 achtzigmal. Seit dem Erſcheinen des Taſſo im Jahre 1790 entſtand allmählich eine Literatur über dieſes Werk ſo, daß bis 1815 fünf Taſſoſchriften vorlagen, in den beiden Menſchenaltern darauf bis 1883 je 16 geſchrieben wurden und in den

376 Allerhand Intereſſe an Goethe

dreißig Jahren ſeitdem 73. Neben den Werken wurde die Perſönlichkeit Goethes mit der allgemeinſten und eingehendſten Teilnahme bedacht. Goethe als Pate, als Arzt, als Geſchäftsmann, als Juriſt, als Beamter, als Kriegsminiſter, als Rezenſent, als Landmann, als Dilettant, als Autographenſammler, als Diktator, als Erzieher des deutſchen Volkes, als Erneuerer, als Me— teorologe waren Titel, die zum Teil mehrfach neben vielen gleichen wiederkehrten, Goethe und die Ehe, und das Duell, und die Strumpfwirker, und die Brillen— träger, und die Anlage des Bremer Hafens, und die Hamburger Lotterie, und die Luftſchiffahrt, und die Renaiſſance, und die Fremdwörter, und die Mathe— matik und ähnliche Paarungen wurden unterſucht, auch die Reihe Goethe ein Kinderfreund, Goethe ein Spargelfreund uſw. iſt in Angriff genommen, und in den einzelnen mediziniſchen Fachzeitſchriften wurden die entſprechenden Krankheiten oder Mängel Goethes gründlich behandelt; ein Goethekalender erſchien. Den billigen Spott über die Auswüchſe dieſer Erſcheinung brachte Rudolf Hildebrand ſchon 1885 in behagliche Form unter der Überſchrift „Ein Knopf von Goethe.“

Derſelbe Hildebrand war doch von der Notwendig— keit einer Goethe- und Schillerphilologie tief ergriffen, ja er gehörte zu ihren bedeutendſten Lehrern am Be— ginn dieſer Jahrzehnte, wovon unter ſeinen Schülern Roethe und Burdach in erſter Linie als Univerſitäts— lehrer faſt das ganze Zeitalter über zeugten, und in

Goethe- und Schillerphilologie; Frankfurt und Marbach 377

der Lehrerſchaft der Mittelſchulen Lyon, der Begründer und langjährige Leiter der Zeitfchrift für den deutſchen Unterricht. Im übrigen waren es meiſt Schüler von Scherer und von Bernays, die vorwiegend als Goethe— philologen, zum kleineren Teil als Schillerphilologen an deutſchen Univerſitätskathedern hervorragend wirkten, an ihrer Spitze unbeſtritten der Jenaer Profeſſorenſohn Erich Schmidt in Berlin (1887 bis 1913), dann Köſter in Leipzig und Muncker in München und auch in Oſterreich eine Reihe der tüchtigſten: Minor in Wien, Sauer in Prag, der Begründer und Herausgeber der literatur— wiſſenſchaftlichen Zeitſchrift Euphorion, und Creizenach in Krakau, der Sohn des Frankfurter Goethephilologen des vorigen Zeitalters, neben vielen andern.

In Frankfurt wurde Goethes Geburtshaus in ähn— licher Weiſe wie das Weimarer Anweſen in den Zuſtand von Goethes Aufenthaltszeit gebracht und als Muſeum des jungen Goethe ausgeſtattet, hier wirkten auch die Vorträge des 1883 zeitgemäß erneuerten Freien deut— ſchen Hochſtifts im Sinne Goethes und Schillers; und Marbach erhielt ſein Schillermuſeum: ſo gingen von den erſten Heimſtätten der Dichter in Franken und Schwaben tiefere Wirkungen aus. Anderwärts ſam— melte ſich die Verehrung in neuen Denkmälern und vor ihnen. In Wien war 1878 ein Goetheverein ge— gründet worden und wirkte durch regelmäßige Goethe— abende, ſeit 1880 auch durch ſeine Vorbereitungen zu dem Wiener Goethedenkmal und ſeit 1887 durch Heraus—

378 Goethe- und Schillerdenkmäler um 1900

gabe einer Monats-Chronik, die eine Art Wiener Goethe— jahrbuch wurde; im Dezember 1900 erſchien in Gegen— wart Kaiſer Franz Joſefs und vier ſeiner Erzherzöge an einer Kaiſergartenecke des Rings Hellmers Goethe, und wieder brach die Mittagsſonne durch die Nebel und ließ das hehre Haupt im Augenblick ſeiner Enthül— lung aufleuchten, als Ferdinand von Saar durch den Mund Lewinskis wahrſagte:

So iſt dies Bild ein Sinnbild auch der Zukunft,

Der wir aus Bängniſſen der Gegenwart

Mit froher Zuverſicht entgegenblicken:

Nach Qual und Streit, nach Kampf und blutgen Kriegen Wird ſie dereinſt in dieſem Zeichen ſiegen.

Wie in Wien an Goethes Beziehungen zu Sſterreich erinnert ward, ſo wurden ihm auch in Karlsbad (1883) und Franzensbad (1906) Denkmäler geſetzt und ſein Bildnis am Poſthauſe des Brenners (1888) befeſtigt, und ſo hatten auch die neuen reichsdeutſchen Goethe— mäler einen beſonderen örtlichen Sinn neben dem menſchlichen: 1903 erhielten Darmſtadt und Düſſeldorf ihre Goethebilder und einen jungen Goethe die Uni— verſitätsſtädte Leipzig und Straßburg (1904). In Rom grüßte die dortigen Deutſchen ſeit 1904 ein von Wil— helm II. geſtiftetes Goethedenkmal und in San Fran— zisko (Kalifornien) ſeit 1901 und Cleveland (Ohio) ſeit 1907 das Doppelbild des deutſchen Dichterpaares, in St. Paul Schiller allein, und auch die beiden ſächſiſchen Städte Dresden und Leipzig ſtellten ſich 1914 jede

Goethebücher und -biographien 379

ihren marmornen Schiller ins Grüne. Dem Weimarer Schillerbund ging 1900 ein Goethebund voraus, zur Abwehr geiſtiger und künſtleriſcher Knechtung geſchaffen.

Abgetan war in dieſem Zeitalter die naivere Vor— liebe für den jungen Goethe, den jungen Schiller, die im vorigen ihre Rolle geſpielt hatte *); vorbei war es auch mit dramatiſchen und Romanverſuchen, die Dichter mehr oder weniger unecht vor der Nachwelt aufleben zu laſſen. Die Wiſſenſchaft allein hatte das Wort, die volle Wahrheit über Goethe wie Schiller konnte allein dem vollen Ernſt der Liebe zu ihnen genügen. Und um die erfahrenen Denker, die reifen Künſtler handelte es ſich vor allem. Da mußte ein Buch wie Hehns Ge— danken über Goethe von 1887 bis 1909 in neun Auf— lagen begehrt werden, und Otto Harnacks Darſtellung Goethes in der Epoche ſeiner Vollendung zwiſchen 1897 und 1905 in drei Auflagen. Goethe der Naturforſcher, der Weiſe, der Lebenskünſtler wurde auf Grund ſeiner eigenen Ideen gewürdigt neben mancher neuen Bio— graphie, die wie früher vor allem dem Dichter galt. Dergleichen Biographien lieferten zu gleicher Zeit, in der Mitte der neunziger Jahre, und mit achtbarem Erfolg Heinemann und R. M. Meyer, mit ſiegreichem Bielſchowsky: ſein erſter Goetheband wurde binnen zehn Jahren dreizehnmal aufgelegt, und als ſich ihm endlich 1903 der zweite geſellte, waren binnen drei

*) Ausnahmen wie Weitbrechts „Diesſeits von Weimar“ beſtätigten die Regel.

380 Schillerbiographien um 1900

Jahren auch von dieſem zehn Auflagen vergriffen, ſo ſehr verlangte man nach dem ganzen Goethe. Es handelte ſich um den beſten Spiegel für einen Lebens— ſtil der Gegenwart, und fo brachte es Bodes Buch über Goethes Lebenskunſt von 1900 bis 1908 auf fünf Auf— lagen; und wer ſich nach einer Hülfe umſah, um Goethes Naturverſtändnis trotz einiger Irrtümer als berechtigtes tieferes Denkerverhalten zu begreifen, konnte ſich in mancher neuen naturwiſſenſchaftlichen Einzelarbeit be— raten laſſen, im ganzen ſeit 1912 auch in Chamberlains Goethe.

Das Leben Schillers zu ſchreiben, iſt jüngſt noch öfter unternommen worden als das Goethes. Aber es war, als ob die allgemeine Ungunſt der achtziger Jahre auf den erſten Bemühungen dieſer Art laſtete: die umfänglichen, trockenen, gelehrten Werke Weltrichs und Minors gerieten ins Stocken, auch die gewandtere Arbeit von Brahm wurde nicht vollendet. Erſt an der Jahrhundertwende brachten uns Harnack und Beller— mann, zwar in knapperer Faſſung, aber doch in völliger Durcharbeitung neu den ganzen Schiller, und dann ermutigte das Gedenkjahr 1905 nochmals die Aufgabe anzufaſſen, wobei Berger ſeine Mitbewerber in einem zweibändigen Werke ſchlug. Er hatte ſchon 1889 einen Univerſitätspreis gewonnen, als er „Die Entwicklung von Schillers Aſthetik“ darſtellte; und die neu zu Kräften kommende Schönheitslehre ſelbſt war es, die gerade auch dem Verſtändnis Schillers in ſteigendem Maße

Dramaturgiſches und philoſophiſches 381

zugute kam, namentlich dem des Bühnenkünſtlers, obwohl einige Studien auch bis zur Einheit von Goethe und Schiller vorzudringen vermochten. Zu ſolcher Zuſammenfaſſung erwies ſich zunächſt der junge Hein— rich von Stein berufen, als er 1886 an der Berliner Univerſität über Goethe und Schiller las, dann Harnack mit ſeiner Klaſſiſchen Aſthetik der Deutſchen (1892). Dem Dramaturgen Schiller widmeten Bulthaupt, Bellermann, Köſter und Peterſen eingehende Arbeit mit immer neuem Gewinn, und gegenüber weitgehen— der biographiſcher Grundierung machten die Philo— ſophen Lipps und Volkelt die Bahn wieder frei für eine künſtleriſche Würdigung von Schillers Tragödien, worauf ſchließlich Petſch philoſophiſch-ethiſches zur Geltung brachte in dem Buche über Freiheit und Not— wendigkeit in Schillers Dramen.

Während ſo Goethes und Schillers Weſen neu beleuchtet und zuſammengefaßt wurde, und zwar nicht durch widerwillige Kritik, ſondern in ſo behutſamem Nachbauen, wie es früher weder objektiv noch ſubjektiv möglich geweſen war, wurden auch fortwährend Neu— ausgaben beider Dichter angeboten. Für Goethe wirkte dabei die Weimarer Sophienausgabe ſonnenhaft; was an erläuternden Ausgaben zu früh neben ihr fertig wurde, wie die 36 Bände der Kürſchnerſchen Ausgabe (1882 bis 1896) mußte in den Schatten treten neben glücklich ſpäter begonnenem wie der dreißigbändigen des Bibliographiſchen Inſtituts (1901 bis 1908), und vollends

382 Neue Goethes und Schillerausgaben

wurden ältere Textausgaben des Zeitalters durch jüng- ſte überſtrahlt, vor allen die 1909 begonnene große Propyläenausgabe, von deren 40 Bänden bis 1914 26 vorlagen und das dereinſtige Erſcheinen von Goethes poetiſchen und wiſſenſchaftlichen Werken ſamt ſeinen bedeutendſten Briefäußerungen und ſonſtigen Aufzeich— nungen in geſchloſſenen kleinen Jahresgruppen oder Jahrgängen ſtattlich nachahmten. Unter den neuen Schillerausgaben ragte gleichfalls die des Bibliographi— ſchen Inſtituts hervor (ſeit 1895); die Jahre 1892 bis 1896 brachten auch zum erſtenmal eine kritiſche Geſamtaus— gabe von Schillers Briefen (Jonas). Außer vielen andern Neudrucken wurde ſeit 1909 der Hempelſche Goethe in Bongs Klaſſikerbibliothek erneuert; und der Cottaſche Stammverlag unſerer Dichter verſammelte zu einer würdigen Jubiläumsausgabe beider um 1905 die vorzüglichſten Mitarbeiter.

Wer will die Einzelausgaben zählen, die in dieſen dreißig Jahren von Goethes und Schillers Werken gedruckt und gekauft wurden? Zum Teil Sonder— ausgaben für die Schule, für die Bühne? Allein vom Fauſt ſind nach der großen Weimarer Ausgabe noch vierzig Neudrucke hergeſtellt worden. Von der Italieni— ſchen Reiſe waren zwiſchen 1850 und 1880 ſieben Son— derdrucke erſchienen, ſeitdem folgten noch achtzehn, darunter die des Inſelverlags mit den 167 Bildtafeln und Textabbildungen nach Zeichnungen Goethes und ſeiner Freunde und Kunſtgenoſſen (1912) und zwei

Nochmals vom deutſchen Unterricht 383

Ausgaben für den Schulgebrauch; unter den vielen, vielen Erläuterungsſchriften dazu entſtanden auch „Richt— linien zur Behandlung von Goethes italieniſcher Reiſe in den Oberklaſſen der höheren Schulen“ (Ziehen), und kunſtgeſchichtliches Anſchauungsmaterial dafür wurde bereitgeſtellt. Ob damit nicht Goethe in der Schule ſchmackhafter geworden iſt, als wie er, mancher ärger— lichen Klage nach zu urteilen, noch vor dreißig, vierzig Jahren oft mit den Schülern behandelt wurde? Die Hauptſache war, daß ſich hier immer mehr Hildebrands Auffaſſung von der Aufgabe des deutſchen Unterrichts durchſetzte „als Pflege des Beſten, Höchſten und Tiefſten, das ſich unſer Volk in Sprache und Literatur zuſammen— gelebt hat und das von ſich ſelbſt in ſich weiter weiſt auf die höchſten Ziele hin, die es für Menſchen über— haupt gibt im Leben wie im Geiſte.“ In ſolchem Zu— ſammenhang mag und muß auch der Schulbehandlung Schillers alle neue Gelehrtenarbeit ſchließlich zugute gekommen ſein, ſtammte ſie doch zum großen Teil von Schulmännern. Die lange Zahl ihm und Goethe ge— widmeter pädagogiſcher Fachaufſätze hat vielfältig an— geregt; andere ſind von ſelbſt in Zuſammenhang mit der ganzen Neubildung des Zeitalters tief und tiefer in Goethe und Schiller eingedrungen, um beide immer überzeugter zu verkünden, von dem jungen Rektor an, der ſeinen deutſchen Geiſtesheldenglauben mit dem Opfertod auf dem belgiſchen Schlachtfeld bekräftigt, bis zu der faſt erblindeten ſiebzigjährigen Privatlehrerin.

384 Die Schauſpielbühne um 1900

Stille Hausleſe, jugendliche Schuldeklamation, ja ſelbſt die gewaltige Rezitation Wüllners wurden an Größe der künſtleriſchen Wirkung von der Bühne über— troffen. Das ganze Zeitalter über hörten bezeichnender— weiſe die Bemühungen, den zweiten Teil des Fauſt aufzuführen, nicht auf, und in den neunziger Jahren wurde die Zunahme von Darſtellungen der Iphigenie und des Taſſo als ein Zeichen von Emporgehen der künſtleriſchen Geſinnung bemerkt. Goethezyklen und Schillerzyklen waren keine Seltenheit. Überblickt man das Jahrzehnt von 1898 bis 1908 im deutſchen Bühnen— ſpielplan, der 1908 381 Bühnen des deutſchen Reichs und Oſterreichs umfaßte, ſo ergibt ſich, daß Schiller wohl das eine Mal von Sudermann, das andere Mal von Beyerlein, das dritte Mal von Meyer -Förſter an Zahl der Aufführungen übertroffen wurde, in den erſten dieſer Jahre ſogar von drei andern, im zweiten von zwei andern, daß er aber im ganzen als der eigent— liche König der deutſchen Schauſpielbühne hundert Jahre nach ſeinem Auftreten zu bezeichnen iſt. Vom Herbſt 1908 bis zum Herbſt 1909 wurden 300 oder mehr Spielabende folgenden Dichtern zuteil:

300 Hebbel 393 Fulda

337 Biſſon 425 Grillparzer

358 Görner 504 Engel und Horſt 358 Wied 520 L'Arronge

367 Leſſing 520 Feydeau

377 Meyer-Förſter 570 Wildenbruch

Schiller, Goethe und die Schauſpieler 385

572 Flers und Cavaillet 915 Schönthan und Genoſſen

601 Hauptmann 1037 Sudermann

640 Goethe 1039 Blumenthal u. Kadelburg 821 Ibſen 1141 Shakeſpeare

863 Thoma 1632 Schiller.

In dem Jubiläumsjahr 1904/5 erreichten Schillers Dramen gar 2210 Aufführungen, während ſie in Goethes Jubiläumsjahr 1898/9 nur 873 mal geſpielt wurden. Goethes Aufführungszahlen ſtiegen in dieſem Jahrzehnt mit ziemlicher Stetigkeit von 326 auf faſt das doppelte (die Shakeſpeares ſchwankten bis herab zu 553, doch hatte er vor Ibſen und Hauptmann faſt immer den Vorrang). Freilich wurde nicht jeder Oreſt und Taſſo von einem Kainz oder Wiecke geſpielt. Aber die lange Bühnenerfahrung überlieferte doch auch manches gute, und daß die Gefahr des Schlendrians ſchließlich auch bei Schiller für die beſten Kräfte immer wieder über— windbar war, das bezeugte 1909 Gregoris Wort: „Die Schauſpieler haben ſich leider gewöhnt, ihn bequem zu nehmen. Sie quälen ſich nicht mit Geſtaltung herum, wo ſchon das bloße Wort hinreißt. Sie laſſen ſich in ihrem Bote untätig vom Rhythmus und vom Wohlklang ſchaukeln, anſtatt Steuer und Ruder in feſter Hand zu halten. Es mag nicht immer leicht ſein, den einen Punkt auszufinden, an dem ein dramatiſcher Charakter von Schillers Gnaden mit uns zuſammenhängt, aber der Punkt iſt da.“ Und Baſſermann ſagte: „Schiller auf der Bühne ſpielen, Schriften der Goethe-Geſellſchaft XXX. 25

386 1914/1915

d. h. feine Figuren erleben und fie einheitlich durch— führen, ſo daß der Zuſchauer im Parkett das Theater vergißt, das iſt meine ich für uns die herrlichſte, aber auch ſchwierigſte Aufgabe, die bis jetzt bedingungs— los noch von keinem gelöſt worden iſt. Die definitive Löſung dieſes Problems bedeutet mir den Gipfel der Schauſpielkunſt.““)

Die höchſte Probe beſtanden die Weimarer Dichter, als der europäiſche Krieg ausbrach. Von den zehn— tauſenden Soldaten, die auf der Strecke Leipzig (Halle Frankfurt an den Rhein ſtrömten, fühlte ſich mancher während der Fahrt durch das thüringiſche Großherzogtum im Herzen des bedrohten Vaterlandes, und in den Minuten auf dem Weimarer Bahnhof kamen ihm ſchillerſche Zeilen auf die Lippen, in manchen Schützengraben kehrte Fauſt mit ein, und als im Som— mer 1915 auf der ſchönen Freilichtbühne der Zitadelle von Namur Iphigenie geſpielt wurde, z. T. von Feld— grauen, lauſchten andächtig viele Reihen deutſcher Offiziere und Mannſchaften. Daheim ſchien uns im Tell beim Rütliſchwur die Bühne in den Zuſchauer— raum wie in ein gemeinſames Heiligtum überzugehen, die Menſchlichkeit und Schönheit der Iphigenie hatte uns noch nie ſo Herz und Kopf zum Zerſpringen er—

*) Dieſe Außerungen, wie die vorher über Goethe und Schiller mitgeteilten neuen Dichterſtimmen, werden dem Literariſchen Echo verdankt, deſſen Spalten für die Klaſſiker—

kunde beſonders während der zweiten Hälfte des Zeitalters vielfach Zeugnis ablegten.

1200/1300 und 1800/1900 387

füllt, bei Fauſts Selbſtgeſprächen dachten wir unſerer Feinde: „So etwas habt ihr doch nicht“, und wie Wallenſteins Lager von der Gegenwart ſonnenklar durchleuchtet wurde, ſo ſpiegelte der Reichszwieſpalt in den Piccolomini die Einigkeit Kaiſer Wilhelms II. mit Heer und Volk um ſo troſtreicher. In Wien er— öffnete zum Geburtstag des Kaiſers Franz Joſeph 1914 das Volkstheater die Spielzeit mit Wallenſteins Lager und der Rütliſzene vor ſchwarz und würdig gekleidetem Publikum im ausverkauften Hauſe: der Rütliſchwur wurde hier leidenſchaftlich mitgeſprochen, die Frauen weinten, und tiefſte Andacht folgte dem feierlichen Akt.

Die ganze Größe der Zeit hatte unſer Herz für die ganze Größe der Dichtung aufgetan wie wohl nie zu— vor. Was ſchadete ihr der leiſe Altershauch, den die modern durchgebildeten vielleicht ſtellenweiſe an ihr empfanden? Nichts neues war ihr an die Seite zu ſetzen, das wurde jetzt vollends klar. Wie einſt um das Jahr 1300 die hundertjährigen Lieder und Weiſen Walthers von der Vogelweide und Aventiuren Wolf— rams von Eſchenbach durch die neue Kunſt der Heinrich Frauenlob und Heinrich von Freiberg nicht in den Schatten geſtellt wurden, ſo leuchteten um 1900 Goethe und Schiller vor Dehmel und Hauptmann. Bei feinſter Anerkennung des peripheriſchen Eigenwertes der Nach— dichter mußte der zentrale Urwert der Erzdichter be— ſtehen bleiben, wie er nur aller ſechshundert Jahre ein— mal einem Volke beſchert wied. Die zweite Hälfte des

388 Einzelbildung und Volksorganiſation

achtzehnten Jahrhunderts war der Reinheit der Seele, der Wahrheit des Geiſtes ſo auf den deutſchen Grund gegangen, daß ſich das in drei folgenden Menſchenaltern im einzelnen wohl ergänzen, aber im weſentlichen nicht erſetzen ließ.

Wenn daneben etwas in dem Jahrhundert von 1815 bis 1915 noch an Bedeutung für uns gewachſen iſt außer den unaufhörlich ſich erzeugenden und ſchrittweiſe verbeſſernden Gegenwartskräften, ſo ſind es ältere ge— ſchichtliche Dinge, vor allem das teutoniſche Element, das Bismarck mit Luther verbindet. Aus ihm hat die Nation, innerlich aufgefordert durch die weimariſchen Geiſtestaten, die Kraft des äußeren Zuſammenſchluſſes geſchöpft, die ihr vor hundert Jahren fehlte. Ja, ihr Kenienfpender, mit dem Vers habt ihr, Gott ſei Dank, Unrecht bekommen:

Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutſche,

vergebens. Und doch vertraute auch Goethe: „Denn es iſt einmal die Beſtimmung des Deutſchen, ſich zum Repräſentanten der ſämtlichen Weltbürger zu erheben.“ Wie er uns die Ausbildung des Einzelnen unübertrefflich an ſich gezeigt hat, daß alle Beſtrebungen nach einer Indi— vidualitätskultur noch auf ihn ſchauen, ſo beneiden uns jetzt alle andern Völker auch um unſere nationale Orga— niſation. Und ſo fängt ſich uns zum Glauben zu ver— dichten an, was Schiller an ſeiner Jahrhundertwende dachte und hoffte: „Dem, der den Geiſt bildet, muß

Weimar und Deutſchland 389

2 =

zuletzt die Herrſchaft werden. Unſre Sprache wird die Welt beherrſchen. Die Sprache iſt der Spiegel einer Nation, wenn wir in dieſen Spiegel ſchauen, ſo kommt uns ein großes treffliches Bild von uns ſelbſt daraus entgegen. Der Deutſche verkehrt mit dem Geiſt der Welten. Jedes Volk hat ſeinen Tag in der Geſchichte, doch der Tag des Deutſchen iſt die Ernte der ganzen Zeit.“ Was iſt der Sinn des deutſch-europäiſchen Krieges anders, als auf dieſem ſchweren Friedensgange einmal einen Gewaltſchritt vorwärts zu tun?

Wir Deutſchen können der weimariſchen Güter noch auf lange hinaus nicht entbehren. Wohl uns, daß uns noch ein carl-auguſtiſch Alter leuchtet, daß im ſächſiſch— thüringiſchen Großherzogtum neue Sterne wie Preller und Abbe aufgegangen ſind, daß die großen alten der Bach und Luther von dort hell ſtrahlen und uns der Wartburgdemant blinkt. Immerfort quelle den Menſchen Segen aus der Verbindung Weimar und Deutſchland.

Goethe-Gesellschaft, \elmar Schriften

PLEASE DO NOT REMOVE CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET

UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY

1

Il | IN || |)

0

Ss

i

1 Im ] | ı

—.— >

2 = en namen, . ͤ —.. . —— .... ——.. m man rn ann

a

7—

= ———

A HH

1 U e

Hi

1

17 Mi: | ı N . 0

I i IHNEN

14 | ini KEIN DEI) 1 |

1

Il

i | |

H 1

1 Hill a 1 I) | Bi |

1 N

i N

1 |

1

ee il INH | m 9 0 u 1

N j I | i Il 1 Mi ii 1 I 11 0 il ill 40 1 | | 106 THE f I 1 . IE | I 11 m]

IN

en m MIET

i 5 | IN j

. —ͤ— (y—yy—— ——U—)ͤ—³—'—ñ—rß5ð;æ̃ͤN.ᷣ— en Ba rennen nern ES er nn nn

—[—v—— ͤ —— en

. .. ee

0

4

I 10

\ 0

u ͥ —F— un . .... ̃ a1 ̃ ͤ—̃]«Eä— !.. ß ——... . ̃ nennen ns een. —̃̃ ͤ—— ——- —⅛— ——— ̃ ͤH—o— —. —. .... . . ⅛˙—5 nn rm nn nn —— —ñ— —— nn ——ůůů—ů——rð— ͤUömÿxxxxxxxxxx————— ͤꝗ u ͤ— —— . L2—ę ..——ẽ —' K- Ä: ——. —.. :. . . T—T—r.. ̃ —ͤ—VÆ . ñ́ꝗ¶R̃] 1... ̃ ͤö⅛2—T2 ſ öHGmã᷑ü— —ꝛ̃—r —æʒà u; nn nn nem . nn