r Handle with x | eW EXTREME CARE | 3 This volume is BRITTLE ri and cannot be repaired z > Photocopy only if necesSa GERSTEIN SCIENCE INFORMATION CENTRE ıGERSTEIN Librarg of the Aradenmg of Medichte, Tnronto. \5871 Fre by Shran Rn vun aa SEELE UND LEIB WECHSELBEZIEHUNG ZU EINANDER. SEELE UND LEIB WECHSELBEZIEHUNG ZU EINANDER. SECHS VORTRÄGE PHYSIKALISCHEN GESELLSCHAFT ZU UTRECHT VOR BEHALTEN VON 1008 3 FLÜCSCHWBDER VAN DER KO \ [3 7% iversität Utrecht. N) 7 95 > a7 70 ra BRAUNSCHWEIG, DRUCK UND VERLAG VON FRIEDRICH VIEWEG UND,SOHN. 18565. YORWO LET. Aus der Reihe populärer Vorträge, von dem vor drei Jahren verstorbenen Schroeder van der Kolk zu verschiedenen Zeiten gehalten, hat der Sohn des Dahingeschiedenen, Dr..H. W. Schroeder van der Kolk in Maastricht, jene, welche- theils in engster Beziehung, theils in etwas weiterer Fassung die Wechsel- beziehung zwischen dem Somatischen und dem Geistigen zum Gegenstande haben, zusammengestellt und unter dem Collectivtitel Seele und Leib veröffentlicht. Es sind diese gesammelte Vorträge‘ insgesammt in der physikalischen Gesellschaft zu Utrecht gehalten worden. Der erste Vortrag über die Kräfte in der unbe- lebten und belebten Natur und über die Seele ist bereits im Jahre 1835 gehalten worden; es erschie- nen noch in dem nämlichen Jahre zwei holländische Ab- drücke desselben, und nach dem zweiten Abdrucke wurde schon damals eine deutsche Uebersetzung besorgt: VE Vorwort. Ueber den Unterschied zwischen todten Natur- kräften, Lebenskräften und Seele.. Bonn, 1836. Die nächst folgenden drei Vorträge (Instinet bei Pflanzen, bei Thieren und beim Menschen; Verschiedenheit der psychischen Anlage bei den Thieren und beim Menschen; Einfluss des Körpers auf die Seele beim Menschen) erschienen im Jahre 1843 in holländischer Sprache unter dem Ti- tel: Vorlesungen über den Zusammenhang und die Wechselwirkung zwischen somatischen und seelischen Kräften. Der fünfte Vortrag (Selbstständigkeit der Seele) wurde 1852, der sechste (Mutterliebe in der Natur) wurde 1858 in dem zu Haarlem erschei- nenden Album der Natuur abgedruckt. Der Herausgeber hat diesen Abhandlungen noch die am 26. März 1837 gehaltene lateinische Rectoratsrede über den verwahrlosten Zu stand der Irren in Holland vorangestellt, und zwar nach der im Jahre 1838 abgedruckten holländischen Uebertragung. Da diese Abhandlung nur ein specifisch holländisches Inter- esse hat, oder vielmehr hatte, insofern seit jener Zeit das holländische Irrenwesen gerade unter dem fördern- den Einflusse Schroeder van der Kolk’s sich so sehr gehoben hat, so glaube ich genügend entschuldigt zu sein, wenn ich diese Abhandlung fallen liess und so- mit nur sechs Abhandlungen bringe, während in der holländischen Sammlung deren sieben zusammengestellt wurden. R Vorwort. va Zur richtigen Beurtheilung der vorliegenden Sammlung nehme ich folgende Worte aus der Vorrede des holländi- schen Herausgebers auf: „Ich brauche wohl nicht beson- ders zu bemerken, dass einige der früher erschienenen Ab- handlungen den jetzigen Forderungen der Wissenschaft nicht mehr vollständig genügen. Die wissenschaftlichen Resultate entsprechen also nur jenem Standpunkte, wel- chen der Verfasser zur Zeit der Veröffentlichung der ein- zelnen Abhandlungen einnahm. Dass der Verfasser die ‚ gleiche Ansicht theilte, ist daraus zu entnehmen, dass er, trotz mehrfacher Aufforderungen, die Abhandlung über die Kräfte in der unbelebten und belebten Natur nicht zum dritten Male abdrucken liess, weil dazu eine voll- ständige Umarbeitung erforderlich gewesen wäre. An- ders, als mit den wissenschaftlichen Resultaten, verhält es sich mit der allgemeinen Tendenz und mit den Grund- anschauungen des Verfassers: diese haben sich im Gan- zen wohl kaum geändert.“ Das eigene Urtheil aber über diese, in Betreff der Person sowohl als der Sache mit Liebe von mir über- tragenen Abhandlungen, könnte ich nicht leicht bes- ser abgeben, als es von Professor Harting in Utrecht geschehen ist, der in Abwesenheit des Herausgebers die Revision der Druckbogen übernommen hatte Der Vorrede des holländischen Herausgebers fügt nämlich Harting die Schlussworte bei: „Die darauf verwen- dete Zeit waren Stunden süsser, wehmüthiger Erinne- rung. Mir war es, als ob ich noch, wie früher, mit dem theuern vieljährigen Freunde spräche, dessen war- van Vorwort. mes Herz fast auf jeder Seite der folgenden Blätter sich eröffnet. Wer diese Blätter liest, wird darin Nah- rung für Herz und Geist finden, und sollte auch sein kalter Verstand hier und da ein paar schwache Punkte ausfindig machen, er wird jene nicht hinlegen können, ohne den Verfasser lieb zu gewinnen und ohne sich in der Ueberzeugung zu stärken, dass, in der Natur ein rei- cher Quell fliesst, aus dem auch das Gemüth Labung schöpfen kann“. Weimar, den 21. März 1865. ,. W. There IE IV. VE. IN DESSEN Seite Die in der unbelebten wie in der belebten Natur wirkenden Kräfte und die Seele sind unter einander verschieden . . 1 Der Instinet bei Pflanzen, bei Thieren und beim Menschen . 37 Verschiedenheit der psychischen Anlage bei den Thieren und beim Menschen, zumal in Betreff des Zwecks der höheren NER ME ER, [ORION En SPORE RN, FREE 69 Einfluss des Körpers auf die Seele beim Menschen .. .. . 103 Die Selbstständigkeit der Seele, bestätigt durch die verschiede- nen Entwickelungsstadien des Menschen. ......... 131 EnoeMutterlieberintder Natur) 12 a Zee ng Kr ee 163 , art SAUER I ih ai DET au zarte Fon ud Ai ji 4 2 a a FR . Ten I. Die in der unbelebten wie in der belebten Natur wirkenden Kräfte und die Seele sind unter einander verschieden. Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die endlose Natur mit ihren mannigfaltigen Aeusserungen und mit den Tausen- den uns umgebender - versuchen wir, in die Ursachen dieser mannigfaltigen einungen Einsicht zu ge- winnen, so erblicken wir zwar überall Kraftäusserungen, Ver- änderungen, Bewegung und Leben, aber vergebens forschen wir nach dem Grunde davon. Ein uns unbekanntes räthselhaftes Etwas, eine unsichtbare durch die ganze Natur verbreitete Macht tritt uns werkthätig entgegen und führt uns die wun- derbarsten Ergebnisse vor Augen, aber — die Existenz dieses Etwas bleibt uns verborgen. Den Mond und die Planeten sehen wir den leeren Himmelsraum durchwandern, verborgen ist uns aber die Hand, welche sie forttreibt und in ihren Bah- nen erhält; den Einfluss des Mondes auf unsere Erde erken- nen wir in Ebbe und Fluth, begreifen aber die Ursache der Wasseranziehung nicht; das Gleichgewicht und die unwandel- bare Stellung von Sonne und Sternen haben wir durch Beob- achtung erforscht, nicht aber das unendliche Band, wodurch Alles zusammenhält. Schroeder van der Kolk, Seele und Leib. 1 w en Data ne Pe ae R Ken: RD Kraft. Die gleiche Macht bewirkt, dass alle Körper der Erde zufallen; durch sie wird der Regentropfen‘ aus der Wolke herabgezogen, durch sie stürzen verwüstende Lawinen und Bergmassen mit Donnergetöse in den Abgrund nieder. Als sollte aber durch scheinbaren Widerspruch der Untersucher abgeschreckt werden, so erheben sich durch dieselbe auch wieder, diesem Gesetz entgegen, Inseln ja selbst Berge aus der Tiefe. Vergebens suchen wir nach einer sichtbaren oder erkenn- baren Ursache. Der Mensch kann aber doch nicht umhin, für "\jeden Effect auch eine Ursache anzunehmen, und deshalb be- legen wir jenes unbekannte X mit dem Namen Kraft. Dar- unter ist ein unsichtbares Vermögen zu verstehen, über dessen Beziehung zur Materie wir uns keine Vorstellung machen können, gleichwie uns Wörter und Vorstellungen fehlen, um über seine Natur oder sein Wesen eine gewisse Anschauung zu bekommen. Es bleibt uns deshalb kein anderer Grund dieses unbekannten Vermögens übrig, als unmittelbar die Gottheit selbst, durch welche diese unbekannten Kräfte nach feststehenden Gesetzen ke Natur eingefügt worden sind. Auf keinem anderen MM fühlen wir wohl so tief die Beschränktheit des menschlichen Verstandes und das Gebun- densein an die Materie, als wenn wir in die Natur und in das Wesen dieser Kräfte eindringen wollen. Es bleibt uns nur übrig, den verschiedenen Erscheinungen nachzugehen und sie mit einander zu vergleichen. ' Zu diesen Kräften zählen vor Allem aus jene, wodurch die Anziehung der Materie zu Stande kommt, wodurch also die. Körper eben so gut zur Erde fallen, als wodurch auch wahrscheinlich der Zusammenhang der Materie selbst vermit- telt wird: wir nennen sie die Grundkräfte der Natur, weil durch sie das Bestehen der materiellen Welt vermittelt wird. Hierher gehört die Anziehungskraft und die Repulsivkraft. Es treten uns aber noch mancherlei Erscheinungen in der Natur entgegen, die aus den genannten Kräften nicht ab- zuleiten sind, und uns zur Annahme anderer von der An- Imponderabilien; Lebenskräfte. 3 ziehungskraft virtuell verschiedener Kräfte nöthigen. Sind wir auch über deren Natur eben so sehr im Unklaren, so haben sie doch wenigstens das mit einander gemein, dass sie unsere Sinnesorgane bestimmter affıciren und deshalb auch deutlicher wahrgenommen werden; sie stehen so scheinbar der Materie näher, und heissen deshalb unwägbare Stoffe oder Imponderabilien. Dazu gehören Licht, Wärme, Elektri- cität, Galvanismus und Magnetismus. Unserer Zeit war es vorbehalten, einen entschiedenen Zu- sammenhang zwischen diesen Kräften nachzuweisen, wie mein verehrter Freund, Professor Moll, mehrmals an dieser Stelle so schön es ausgesprochen und durch merkwürdige Versuche dargethan hat. Noch unlängst sahen wir, wie der Magnet Licht, Wärme, selbst ein Glühen von Metalldrähten und elek- trische Schläge hervorbringt. Umgekehrt wirkt der Galvanis- mus auf den Magneten, oder er entwickelt magnetische Kräfte. Nicht minder werden durch Wärme elektrische und magne- tische Erscheinungen hervorgerufen. Es kann somit kaum zweifelhaft sein, dass eine enge Verwandtschaft zwischen die- sen Kräften besteht, wenn sich auch das Grundprineip für die Aeusserungen und Modificationen dieser Kräfte noch nicht ausfindig machen liess. Noch andere Kräfte kommen in der Natur vor, die mehr oder weniger von den bisher genannten verschieden sind und nur unter besonderen Umständen in Körpern wahrnehmbar sind, jene Kräfte nämlich, die im organischen Reiche, in Pflanzen und Thieren walten, und die wir als Lebenskräfte bezeichnen, da das Leben nach allen Seiten hin sich dadurch manifestirt. Da diese Lebenskräfte in manchen Punkten den sogenannten Imponderabilien sehr nahe kommen, so haben sich manche Naturforscher, selbst noch heut zu Tage, verleiten lassen, sie für identische oder doch nur etwas modificirte Kräfte zu halten, und alle Lebenserscheinungen aus Galvanis- mus und Elektricität herzuleiten. Da somit die neuere Naturforschung darauf gekommen ist, dass die sogenannten physischen Kräfte die grösste Ueber- 1* 4 Galvanischer Process. einstimmung unter einander zeigen und nur Modificationen eines Grundprincips sind, so erlaube ich mir für meinen heu- tigen Vortrag auf folgende Frage einzugehen: sind alle Kräfte in der Natur nur Modificationen Einer Grund- kraft, stimmen also auch die Lebenskräfte dergestalt mit den sogenannten Imponderabilien, dass wir sie für identisch halten dürfen, und stimmen dieselben auch wieder dergestalt mit der Seele, dass wir mit einigen Autoren der Gegenwart in der Seele nur eine modificirte Lebenskraft anzunehmen haben, dass uns also der menschliche Körper nur als eine complicir- tere und kunstvollere galvanische Säule zu gelten hat, worin sich die Einheit in der Natur darstellen würde? oder sind sie dermaassen von einander ab- weichend, dass wir besondere Kräfte und Vermögen anzunehmen genöthigt sind? Die Erklärung mancher Eigenschaften jener Kräfte kann uns zu einigen, vielleicht nicht unerheblichen Folgerungen und Vergleichungen über Kraft und Seele führen. Doch werde ich mich hierbei auf Hauptpunkte beschränken. Es ist eine bekannte Thatsache, dass die Imponderabilien für die lebenden Organismen von grösster Bedeutung sein können; ja einzelne sind zum Fortbestande des Lebens uner- lässlich, z. B. ein gewisser Wärmegrad, desgleichen auch das Licht bei den Pflanzen. Die Vorgänge in den lebenden Orga- nismen scheinen aber in vielen Punkten mehr mit elektrischen und zumal galvanischen Erscheinungen übereinzustimmen, und mit letzteren, zumal mit dem Galvanismus, ist der lebende Körper von vielen Naturforschern in Parallele gestellt worden. Neben den Eigenthümlichkeiten des galvanischen Pro- cesses gab hierzu auch der Umstand Veranlassung, dass man aus ungleichartigen Bestandtheilen eine galvanische Säule herzurichten vermag. Durch Aneinanderreihen verschiedener Metalle sowohl, als auch sonst differenter Körper, wie Kohle, Graphit, lässt sich eine galvanische Säule herstellen; ja Buntzen baute sogar eine schwache galvanische Säule aus Galvanischer Process. 5 abwechselnden Lagen von Muskelfleisch und Nerven), Nun besteht ja namentlich der Thierkörper aus vielen ungleich- artigen Theilen, die alle mit Flüssigkeit durchtränkt sind, und dadurch schienen alle Zweifel beseitigt zu sein. Die Nerven, welche den Willensimpuls nach den Muskeln fortpflanzen oder auch die Eindrücke der Aussenwelt unserem Bewusstsein zu- führen, sollten die Conductoren einer galvanischen Kraft sein, und das um so mehr, als die galvanische Reizung unwillkür- liche Contraction der Muskeln hervorruft. Dieser Ansicht diente es ausserdem zur Stütze, dass der Galvanismus im Auge Lichterscheinungen, in der Zunge Geschmackswahrnehmungen, im Ohr Geräusche hervorruft, und somit vollkommen mit der Nervenkraft überein zu stimmen schien. Berücksichtigte man nun noch die rasche Leitung, dass nämlich ein sensibeler Ein- druck gleich schnell durch einen Nerven fortgeleitet zu werden schien, wie die Elektrieität oder der Galvanismus, so durfte man glauben, die nöthigen Beweise dafür zu haben, dass unser Körper eine Art galvanischer Säule ist. Mit dieser Hypothese suchte man, wie es immer zu ge- schehen pflegt, alle Vorgänge im lebenden Körper zu erklären. Alle Secretionsproducte sollten durch galvanische Einwirkung entstehen. Sah man doch durch den Galvanismus, entgegen den gültigen chemischen Gesetzen, neue Verbindungen sich bilden und andere Körper zersetzt werden, und das Nämliche beobachtete man im lebenden Organismus. Wenn der Gal- vanismus ein Salz in Säure und Alkalı spaltete, so durfte man dies auch auf den Organismus übertragen, worin ebenfalls hier saure, dort alkalische Flüssigkeiten aus dem Blute ausge- schieden werden. Unser Wille sollte dann dadurch auf die Muskeln wirken, dass ein galvanischer Strom in den Nerven erweckt wird. Aus den Muskeln machte man endlich Magnete, deren Kraft durch die Galvano-Rlektrieität der Nerven in die Erscheinung gerufen wird?); denn da die magnetische Kraft 1) Joh. Müller, Handbuch der Physiologie. 1833. Bd. I, S. 63. 2) Hildebrandt, Lehrbuch der Physiologie. 4. Ausg. $. 131. 6 Elektrische Fische. sich auch am Kupfer und an andern Leitern äussert, so durfte auch wohl ihr Vorkommen in den Muskeln vorausgesetzt wer- den. Unter den heutigen Naturforschern (der eine steigt immer auf die Schultern des anderen) sind emige soweit ge- kommen, dass ihnen die Seele nichts anderes ist, als galva- nische Kraft, der Gedanke nichts anderes, als ein Durchbruch des Galvanismus (s. Anm. 1). Durch das Zauberwort Pola- rität oder Galvano-Elektricität sollte alles, was man nicht begreifen konnte, sonnenklar dargelegt werden. Es gab aber auch noch andere gewichtigere Beweise für jene Erklärung, nämlich das eigenthümliche Verhalten der elektrischen Fische. Bei diesen tritt wirklich eine elektrische Kraft auf, welche grosse Uebereinstimmung mit dem Galva- nismus zeigt, und sie besitzen zu diesem Zwecke Apparate, die aus einer Menge dünner neben einander liegender Plätt- chen bestehen, wodurch dieselben grosse Aehnlichkeit mit unsern galvanischen Säulen bekommen. Sie ertheilen damit jenen, von denen sie berührt werden, willkürlich elektrische Schläge, die vom Schlage der galvanischen Säule nicht ver- schieden zu sein scheinen. Metalle und derartige Leiter des Galvanismus pflanzen ebenfalls die Schläge der elektrischen Fische fort, und durch Glas und andere Nichtleiter wird die Fortleitung unterbrochen. Der Schlag von einem solchen Fische pflanzt sich selbst durch mehrere Personen fort, die sich mit angefeuchteten Händen fassen, ganz wie die elektri- schen und galvanischen Schläge. Im vorigen Jahrhundert wollen Welsh, Pringle, Ingenhouss und noch Andere auch den Austritt eines elektrischen Funkens dabei gesehen haben), den man aber späterhin nicht weiter gesehen hat. Davy näherte mit Hülfe des Mikroskops die Leitungsdrähte einander bis auf !/,o00 Zoll, und sah doch keinen Funken, als ein sehr kräftiger Zitteraal Schläge austheilte; eben so wenig kam es dadurch zu einer Wasserzersetzung oder zu einer Wirkung auf das Elektrometer. Das Auffallendste indessen war, dass !) Treviranus, Biologie. Bd. V, S. 150. Klektrische Fische. 7 eine in eine Spirale eingeschlossene Nadel durch den Schlag eines elektrischen Fisches augenblicklich magnetisch wurde !), wie unser hochgeachtetes Mitglied Prof. Moll es uns hier mehrmals mit der galvanischen Säule vorgeführt hat. Ich könnte noch manche bezügliche Versuche .beibringen, das Vorstehende wird uns aber schon zur Genüge davon überzeugen, dass Elektricität oder Galvanismus und die bei solchen Fischen sich entwickelnde Kraft unter einander über- einstimmend sind. Gleichwohl besteht insofern noch ein Unterschied zwischen beiden, dass der elektrische Fisch den Schlag in einer gewissen Richtung durch das Wasser hin er- theillen kann, während Elektricität und Galvanismus sich mehr gleichmässig durch das Wasser verbreiten. Als von Humboldt und Bonpland einen Zitteraal am Kopfe und am Schwanz anfassten, erfolgte der Schlag nicht immer sogleich, und es erhielten auch nicht immer Beide zugleich den Schlag 2). Dabei ist es höchst auffallend, dass das Thier selbst nichts vom Schlage empfindet, was bei der Elektrieität und dem Gal- vanismus nicht vorkommt. Noch viel weniger darf aus diesen Erscheinungen ein Grund entnommen werden, um alle thie- rische Organismen ebenfalls für eine Art Zitteraal zu halten. Der elektrische Fisch ist mit einem besonderen Apparate ver- sehen, und mit der Durchschneidung der dafür bestimmten Nerven ist die Kraft dieses Apparates gebrochen oder viel- mehr der Wille, womit das Thier diese Kraft beherrschte. Der elektrische Apparat ist eine Waffe, womit die Natur diese Thiere zu ihrer Vertheidigung ausgerüstet hat. So kennen wir auch Insecten, die phosphoresciren, und alle höhere Thiere besitzen eine eigenthümliche Temperatur. Daraus folgt aber noch nicht, dass Galvanismus, Licht oder Wärme mit der Lebenskraft identisch sind. Finden sich bereits Unterschiede zwischen dem elektri- schen Fische und einer galvanischen Säule, so zeigt sich ein 1) Froriep’s Notizen. April 1832. Nr. 717. 2) Joh. Müller, Handbuch der Physiologie. 1833. Bd. 1, S. 66. 8 Galvanismus und Nervenkräaft. noch grösserer Unterschied zwischen eigentlicher Nervenkraft und Galvanismus, obwohl sich die meisten Naturforscher durch die Aehnlichkeit der Erscheinungen beider haben täuschen lassen. Galvanismus oder Elektrieität ist für den Nerven nur ein Reiz, gleichwie jeder andere Reiz, wodurch die Nerven- kraft erregt werden kann, ohne dass aber die Nevenerschei- nungen selbst dadurch bedingt oder begründet werden. Weil durch galvanische Einwirkung ein Muskel sich contrahirt, so sollte die Contraction das unmittelbare Product des Galvanis- mus sein, während doch in Wahrheit der Galvanismus nur mittelst der Nervenkraft die Contraction des Muskels zu Wege bringt, ganz eben so, wie jeder einfache Reiz oder die Berüh- rung die Nervenkraft in Wirksamkeit versetzen kann. Hat man einen Nerven durchschnitten und die Schnittenden an einander gelegt, so kann man das obere Ende berühren oder sonst mechanisch reizen, oder man kann auch einen elektri- schen Strom quer durch dasselbe gehen lassen, ohne dass eine Contraction des Muskels entsteht. Setzt man hingegen den einen Pol auf den Muskel, den anderen Pol auf das obere Ende des durchschnittenen Nerven auf, so erfolgt naturgemäss ein Ueberspringen der Elektricität und damit Muskeleontrac- tion. Das heisst also mit anderen Worten, ein in Stücke zerschnittener Nerv, dessen Stücke an einander gelegt wer- den, ist zwar für Elektrieität und Galvanismus, nicht aber für die Nervenkraft ein guter Leiter, und somit gehorchen die beiderlei Kräfte verschiedenen Gesetzen. Der Galvanismus ruft nicht deshalb Lichterscheinungen im Auge hervor, weil er mit der Nervenkraft identisch ist, sondern weil er als Reiz auf das Auge einwirkt, wodurch wir eben so gut eine Lichtempfin- dung bekommen, als durch einen Stoss oder Schlag auf das Auge, wobei nach der gewöhnlichen Sprechweise Feuer aus den Augen springt. Eine nähere Betrachtung des Baues der Nerven führt auch zu der Ueberzeugung, dass jene physischen Kräfte und die Nervenkraft, wenn auch eine allgemeine Uebereinstimmung 6 u Nervenfaser. ) derselben nachweisbar ist, gleichwohl ganz verschiedenen Ge- setzen gehorchen. Die vom Rückenmarke und vom Gehirne kommenden und durch den ganzen Körper sich verbreitenden Nerven stellen Bündel feiner Fasern dar, die sich allmälig immer mehr thei- len, bis wir zuletzt auf ganz feine Fasern kommen, die nur noch durch ein stark vergrösserndes Mikroskop zu erkennen sind. Ohne auf die verschiedenen Messungen und Beschrei- bungen dieser feinsten Fasern näher einzugehen, will ich bloss hervorheben, dass nach Prevost und Dumas 16000 solche Primitivfasern einen Nerven bilden, der noch nicht !/, Linie dick ist!). Die einzelne Nervenfaser würde dann nur as Li- nie dick sein, also eine für Manche fast unglaubliche Feinheit besitzen. Bei einer auch nur oberflächlichen weiteren Unter- suchung werden wir aber die Ueberzeugung gewinnen müssen, dass diese Feinheit zur Erklärung auch der einfachsten Er- scheinungen noch kaum ausreicht. Es scheinen diese Fasern ohne Unterbrechung vom Rückenmarke und Gehirne zu den Theilen zu verlaufen, worin sie endigen, und so verlaufen die Gefühlsfasern von dort zur äusseren Haut, die davon getrennt entspringenden Bewegungsfasern zu den Muskeln. Jede noch so feine Faser wird von einem zarten Häutchen umhüllt?), wodurch sie von einander getrennt bleiben in gleicher Weise, wie wir den zu galvano-magnetischen Versuchen dienenden Draht mit Seide umwickeln. Durch diese Hülle wird die Ner- venkraft mehr oder weniger isolirt, und so kann sich z. B. eine einfache Reizung in der Bahn der betroffenen Nerven- faser zum Gehirne fortpflanzen, während andererseits unser !) Journal de Physiologie (par Magendie). Vol. 3, p. 320 und Weber-Hildebrandt’s Anatomie. Bd. I, S. 261 bis 276, wo die ver- schiedenen Messungen zusammengestellt sind. Ferner sind zu verglei- chen die späteren Untersuchungen von Ehrenberg (Poggendorff’s Annalen der Physik. 1833. Nr. 7, S. 449) und von Valentin (Mül- ler’s Archiv für Physiologie. 1834. Heft 3, S. 401). 2) Im Rückenmarke und Gehirne ist die Existenz einer solchen Umhüllung oder Scheide bei der grossen Feinheit der Theile zweifel- haft; deutlicher unterscheidet man sie in den Nerven. i 10 Nervenfaser. Wille die Contraction eines bestimmten Muskels hervorruft indem er die zu jenem Muskel verlaufenden Nervenfasern er- regt. Reize ich mit einer Nadel einen Punkt der Haut, so wird also Eine Nervenfaser getroffen, und durch diese pflanzt sich der Reiz ohne Unterbrechung zum Gehirne fort. Be- wirke ich die Reizung der Haut mittelst zweier einander ge- näherten Nadeln, so fühle ich diese Doppelreizung, und es müssen also zwei Nervenfasern gereizt worden sein, deren jede den sie treffenden Reiz ganz für sich zum Gehirne fort- leitet. Vereinigten sich die beiden Nervenfasern zu Einer Faser, dann liesse sich nicht einsehen, wie diese zwei Reize unterscheidbar bleiben könnten, und damit steht es auch in Uebereinstimmung, dass nach neueren Beobachtungen diese feinen Fasern sich nirgends verästeln, sondern, soweit sie mit dem Mikroskope sich verfolgen lassen, überall einen ganz iso- lirten Verlauf einhalten). So viele durch Reize affıcirbare Punkte auf der Haut vorkommen, so viele von einander ver- schiedene Nervenfasern muss es geben, durch die alle jene Reize nach dem Gehirne hingeleitet werden. Die Anatomie lehrt aber, dass alle sensibelen Nervenfasern in der hintern Rückenmarkshälfte verlaufen, und so müssen also in dieser hintern Rückenmarkshälfte alle sensibele Nervenfasern, die in der Haut des ganzen Körpers enthalten sind, vereinigt sich vorfinden. Rechnet man auf jede Quadratlinie Haut nur Eine Nervenfaser, womit man aber wahrscheinlich sehr bedeutend unter der Wirklichkeit zurückbleibt?2), und nimmt man die sesammte Hautoberfläche zu 12 Quadratfuss an?), so bekommt !) Dies lehren nach mündlicher Mittheilung die Untersuchungen des Professors Joh. Müller in Berlin. Zu vergleichen ist auch Müller’s Physiologie. Bd. I, S. 368, so wie Ehrenberg (Poggendorfl’s Anna- len der Physik. 1833. Nr. 7, S. 449). 2) Wird ein noch so feines Härchen an der Hand berührt, so em- pfindet man auf der Stelle diesen so unbedeutenden Reiz, und ausser den Haarwurzeln ist doch auch die Haut selbst empfindlich. 3) Meistens rechnet man 13 bis 14 Quadratfuss, und um jeder Ueber- treibung auszuweichen, habe ich nur 12 angenommen. Da der fünfte Hirnnerv, der Gefühlsnerv für den Kopf, auch im verlängerten Marke Nervenfaser, 11 man für den Quadratzoll 144, für den Quadratfuss 20736, und für- die ganze Körperoberfläche 248832 Nervenfasern. Diese Fasern insgesammt müssen in der hintern Rückenmarkshälfte enthalten sein, die nicht leicht über 6 Quadratlinien dick sein wird. Auf dem Areal einer Quadratlinie muss also der sechste Theil jener 248832 Fasern, d. h. 41472 Fasern enthalten sein. Die Quadratwurzel der letztgenannten Zahl kommt so ziem- lich 204 gleich, es müssten also die einzelnen Fasern !/5gu Li- nie oder Y/y400 Zoll dick sein, und das stimmt ganz gut mit der mikroskopischen Beobachtung, die je nach den verschie- denen Regionen 1/50 bis Yyoo Linie, ja selbst !/;,, Linie fest- gestellt hat !). Hierbei habe ich nur die von der Haut ausgehenden sen- sibelen Nervenfasern in Rechnung gebracht, nicht aber jene, welche von inneren Theilen kommen: die Nervenfasern müssen daher sicherlich in noch grösserer Menge da sein, und es reicht jene ausserordentliche Feinheit noch nicht einmal aus, um alle Erscheinungen zu erklären. Bei Krampf in den Mus- keln, bei rheumatischer und andersartiger Entzündung in inneren unter der Haut gelegenen Theilen empfinden wir auch einen Schmerz, den wir ganz gut vom Hautschmerz unter- scheiden, und dieser muss durch andere sensibele Fasern zum Bewusstsein gelangen, die neben den vorerwähnten in der hintern Rückenmarkshälfte verlaufen, und ihnen im Menge wohl kaum nachstehen werden, wenngleich eine Abschätzung nicht möglich ist. Berücksichtigen wir überdies, dass im Rückenmarke auch noch Gefässe und Säfte enthalten sind, die keine Sensibilität besitzen, aber gleichwohl einen Platz ein- nehmen, den man bei der angenommenen Dicke von 6 Linien in Abzug zu bringen hat, so erhalten wir eine Feinheit der Or- ganisation, die über unsere Berechnungen und Vorstellungen hinausgeht. Aber trotz aller Feinheit sind diese Leitungsbah- nen des Gefühls doch so getreu, dass wir irgend einen Reiz, endigt, so brauchte ich den Kopf bei dieser Berechnung nicht auszu- schliessen. !) Valentin in Müller’s Archiv für Physiologie. 1834. S. 401. 12 Nervenfaser. wovon die grosse Zehe betroffen wird, niemals in der kleinen Zehe fühlen, dass ein Irrthum dabei niemals vorkommt. Die Nervenkraft wird also durch die Feuchtigkeiten des Rücken- marks nicht fortgeleitet oder zum Ueberspringen gebracht, wie das bei der Elektricität und beim Galvanısmus vorkommt. Aus dieser kurzen Darstellung erhellt zu Genüge, dass zwischen Galvanismus, Elektricität und Magnetismus einerseits und der Nervenkraft andererseits eine merkliche Verschieden- heit besteht. Die feinen Fasern liegen zumal im Rücken- marke so dicht an einander, dass eine umhüllende Scheide nicht mehr deutlich zu unterscheiden ist, und dennoch springt die Nervenkraft nicht über: Elektricität und Galvanismus werden eben sowohl durch Feuchtigkeiten als durch die Con- tinuität der Theile fortgeleitet, und die magnetische Kraft durchdringt alle Stoffe ohne Unterschied. In dem stets durch- feuchteten Rückenmarke verlaufen durch einen Querschnitt von 6 Quadratlinien mehr denn 250000 Fasern, und jede dieser Fasern hat ihren isolirten Wirkungskreis, so dass der durch eine Nadelspitze erzeugte Reiz längs Einer Faser sich fort- pflanzt und auch auf diese Faser beschränkt bleibt. Würden durch diesen Reiz mehrere Nervenfasern wie durch Ueber- springen affıcirt, dann müsste der Reiz eines Nadelstiches die Empfindung bringen, als ob der ganze Finger gereizt würde. Das stellt sich z. B. ein, wenn durch Anstossen des Ellen- bogens der zu den kleineren Fingern tretende Nervenstamm getroffen wird. Es werden dann alle sensibelen Fasern, die von den Fingern herkommen, affıcirt, wir haben deshalb die Em- pfindung, als wären die Finger selbst von dem Stosse getroffen worden, und da uns diese Empfindung längs der nämlichen Bahn zugeführt wird, auf welcher die Reizung der Finger selbst fortgepflanzt zu werden pflegt, so vermögen wir die beiderlei Empfindungen nicht zu unterscheiden. Ganz ebenso verhält es sich mit dem sogenannten Einschlafen des Beins, wenn der zum Fusse verlaufende Nerv einem Drucke unter- liegt: das ganze Bein scheint dann eine Reizung zu erfahren. Reize ich den Daumen mit einer Nadel, so habe ich niemals Nervenkraft. 13 die Empfindung davon, als wenn ich mich in den Finger ge- stochen hätte. (s. Anm. 2). Die Nervenkraft ist somit aufs Engste an das Nervenmark oder an die Nervenfaser gebunden, durch Feuchtigkeit wird sie nicht fortgeleitet, und sie kann auch nicht überspringen, wie die Elektrieität oder der Galvanismus. Ganz das Näm- liche gilt aber auch von den Bewegungsnerven, aus deren Wurzeln die vordere Rückenmarkshälfte hervorgeht. Ein dahin wirkender Reiz, mag dies unser Wille oder ein anderes ursächliches Moment sein, veranlasst Muskelcontraction, aber keine Empfindung; die Nervenkraft nimmt jedoch eine andere Richtung, nämlich vom Gehirne nach der Peripherie, d.h. nach den Muskeln, und dabei treten uns die gleichen Erscheinungen entgegen. Ich kann z. B. einen Finger ausstrecken, zu glei- cher Zeit aber einen andern in der Ruhe lassen oder selbst beugen. Diese verschiedenartige Wirkung beruht darauf, dass sich ein Theil eines Muskels contrahirt, der alle Finger beugt, oder aber alle Finger streckt, und der seine Nervenästchen von einem gewissen Nervenstamme erhält, so dass demnach der eine Theil eines Nerven oder der eine Nervenfaden sich in Wirksamkeit befindet, der andere Theil dagegen in Ruhe, und nur jener Nervenfaden, der durch unsern Willen gereizt wird, ist in Wirksamkeit. Wir sehen hier keine Tendenz zur Ausgleichung, wie bei der Elektrieität und beim Galvanismus, wo die einmal erweckte Kraft von einem Drahte auf den an- dern überspringt, denn die Thätigkeit der einen Nervenfaser lässt die dicht daneben liegende Faser unberührt, und dies nicht bloss für den Augenblick, sondern so lange es mein Wille ist. Auch bildet die Nervenkraft eine bleibende oder imma- nente Eigenschaft des lebenden Nerven: nach Durchschnei- dung eines Nerven bewahrt der abgeschnittene Theil noch längere Zeit seine Empfänglichkeit gegen einwirkende Reize, und die Nervenkraft verbreitet oder verliert sich nicht wie der Galvanismus, der überall von der Feuchtigkeit abgelenkt wird. Ein galvanischer oder elektrischer Schlag dringt durch die Haut und durch den ganzen Körper, ohne gerade dem 14 Nervenkraft. Laufe der Nerven zu folgen, wie man es sich gewöhnlich denkt; er ist nur für die Nerven und nicht für andere Theile ein starker Reiz, während dagegen eine Ader oder eine Sehne die Elektricität gleich gut leiten, obwohl sie in geringerem Maasse. durch dieselbe affıcirt werden. Mit anderen Worten, wir em- pfinden die Fortleitung der Elektrieität in den Nerven und nicht in anderen Theilen, wenn auch die letzteren gleich gute Leiter sind. Wir müssen somit wohl zu dem Schlusse kommen, dass die Nervenkraft bloss durch das Nervenmark fortgeleitet wird und seine Wirkung bis zum Gehirne ausbreitet, wo sie unserem Wahrnehmungsvermögen, unserem Ich 'die Eindrücke der Aussenwelt mittheilt, oder von wo sie die Befehle unseres Willens nach den Muskeln hinträgt (s. Anm. 3). Die Nervenkraft ist somit das Band, welches Seele und Körper mit einander verknüpft. Schmerzempfindung ist sonach eine Bethätigung der Nervenkraft in den Gefühlsfasern. Dabei gehorcht aber diese Kraft anderen Gesetzen als die Elektrieität und der Galvanismus, wenngleich beim Zitteraale eine gleichartige Kraft sich auch aus einem besonderen Appa- rate entwickelt. Eine ausführlichere Darstellung der Ver- schiedenheit zwischen galvanischer Kraft und Nervenkraft würde mich hier zu weit abführen, und beschränke ich mich auf diese allgemeine Hinweisung, um noch zwei wichtige Fra- gen einer kurzen Prüfung unterziehen zu können. Das Gehirn, wissen wir, bildet den grossen Central- punkt, worin alle Nervenfasern zusammenlaufen, auf den die Nervenkraft einwirkt und von dem der Impuls zum Handeln ausgeht. Da nun die Nervenkraft so eng an die Materie ge- bunden ist und bis zu solcher staunenswerthen Verfeinerung fortschreitet, das Gehirn des Menschen aber im Allgemeinen so viel grösser ist als das der Thiere, so tritt uns die wichtige Frage entgegen: ist unsere Seele einerlei mit der Ner- venkraft? ist das Denken, sind unsere höheren Gei- stesvermögen nur Aeusserungen einer der Gehirn- substanz eigenthümlichen Kraft? Nervenkraft. 15 Mit unbegreiflicher Leichtfertigkeit hat man gegenwärtig in Frankreich und in Deutschland (s. Anm. 4) diese Frage so entschieden bejaht, dass diese Lehre, welche jeden Glau- ben an Unsterblichkeit untergräbt, bereits in den Hand- büchern der Naturkunde für die Jugend Eingang zu gewinnen beginnt. Ich will nun diese so wichtige Frage einer genaueren Prüfung unterwerfen, und werde mit möglichster Unparteilich- keit den Maassstab einer einfachen Beurtheilung der That- sachen dabei anlegen. Wir können uns diese wichtige Frage auch in folgender einfacher Form zur Beantwortung vorlegen: Kennen wir Thätigkeiten des Gehirns, die von Aeusserungen der Nervenkraft ganz verschieden sind, und daneben an- dere, die uns davon überzeugen, dass im Gehirne Aeusserungen der Nervenkraft vorkommen, bei denen die höheren seelischen Thätigkeiten in Wegfall kom- men, und sind diese beiderlei Verrichtungen des Ge- hirns ganz verschieden von einander? Bejahenden Falls müssen wir annehmen, dass neben der Nervenkraft im Gehirne noch andere höher stehende Kräfte und Thätigkeiten vorkommen, dass darin ein noch unbekanntes Princip oder Vermögen waltet, dass eine Seele existirt, die von der Nerven- kraft verschieden und den Gesetzen der letzteren nicht unter- worfen ist. Wird ein Muskelnerv durchschnitten, so geht die Macht über den betreffenden Muskel verloren, oder es ensteht Läh- mung desselben; wird aber das abgetrennte peripherische Stück des Nerven gereizt, so erfolgt augenblicklich Contrac- tion des Muskels. Wir entnehmen hieraus, dass der Nerv durch jene Durchschneidung nicht seiner Kraft verlustig ging, sondern nur dem Einflusse des Willens entrückt wurde. Selbst wenn eine Lähmung Jahre lang bestanden hat, können durch Reizung des zum gelähmten Muskel gehenden Nerven noch Contractionen zu Stande kommen. Somit erhält sich die Ner- venkraft, auch wenn der Einfluss des Gehirns abgeschnitten ist; nur vermag sie nicht von sich aus zu wirken, sondern Ih Nervenkraft und Seele. bedarf eines Reizes, wodurch sie in die Erscheinung gerufen wird. Wären nun Seele und Nervenkraft identisch, dann wäre bei dem Experimente mit der Nervendurchschneidung ein Theil der Seele abgetrennt worden. Allein das abge- schnittene Nervenstück ist zwar noch mit Nervenkraft, nicht aber mit Willkür ausgestattet, da es nur in Folge eines ausser- halb liegenden Reizes in Thätigkeit kommen kann; ihm fehlt also das Höhere, welches niemals eine Eigenschaft der Ner- venkraft ist, die Willkür und die Ueberlegung. Wäre die Nervenkraft dasselbe wie die Seele, dann würde ja jeder Nerv mit Willkür sich werkthätig äussern können, und in unserer stürmischen und aufrührerischen Zeit könnten wir auch im Menschenkörper die Fabel von Menenius Agrippa in Scene gesetzt sehen, dass nämlich die Gliedmaassen nach eigenem Gutdünken handelten und eine Verschwörung gegen den Magen anzettelten. Aber das Gegentheil findet statt: ein höheres Vermögen beherrscht sie insgesammt. Aber, wendet man ein, im Gehirne haben wir eine über- mässige Anhäufung von Nervensubstanz, dort ist das Centrum, von dem Alles ausgeht, dort sitzt unser Ich, durch die grössere Zusammensetzung des Gehirns erhebt sich die Nervenkraft hier zur Willkür oder Willenskraft. So haben denn Fried- reich und andere neuere Autoren sich nicht gescheut, es un- umwunden auszusprechen, dass Lebenskraft und Seele einerlei seien. Nach Friedreäch!) ist es eine und dieselbe Kraft, die im Magen die Speisen auflöst, in der Leber die Galle ab- sondert, im Gehirn denkt, und so wird sie auch mit dem Tode vernichtet. Und finden wir denn nicht auch um so vollkomm- nere Gehirnformen, je mehr die geistigen Vermögen in der Thierreihe bis zum Menschen hinauf zu nehmen? (s. Anm. 5). Versuchen wir eine kurze Widerlegung dieser verderblichen und verführerischen Lehre. Was von den Nerven dargethan worden ist, das gilt eben 1) Allgemeine Diagnostik der psychischen Krankheiten. 2. Aufl. 1852. 8. 313. Nervenkraft und Seele. 17 so vom Gehirne bei Gehirnverletzungen; so treten z. B. beim Blutaustritte von einem apoplektischen Anfalle oder in Folge einer Wunde unwillkürliche Contractionen auf, d. h. ein fremder Reiz wirkt auf die Hirnfasern, und die dadurch in Wirksamkeit gerufene Nervenkraft im Gehirne veranlasst Zu- sammenziehungen der Muskeln, diese aber treten unwillkür- lich ein, ja selbst bei vollkommener Bewusstlosigkeit des Kranken. Wäre nun die Nervenkraft im Gehirne Eins mit der Seele, so wirkte die Seele nach aussen ohne Willkür und ohne Bewusstsein, was ein offenbarer Widerspruch ist. Wir haben hier den nämlichen Fall, wie beim durchschnittenen Nerven. Die Hirnfasern sind mit Nervenkraft ausgerüstet, und diese Nervenkraft wird durch unsere Seele in Wirksam- keit versetzt; tritt aber ein fremder Reiz auf, so kommt es ebenfalls zu einer Aeusserung der im Gehirne weilenden Ner- venkraft, aber ohne Bewusstsein und Willkür, d. h. unabhän- gig von der Seele. Im Gehirne kommt also eine Kraft vor, die auf Reize reagirt und der höheren Vermögen des Den- kens und Wollens und der Verständigkeit ermangelt, d.h. eine Nervenkraft, die nicht von sich aus, sondern auf passive Weise zum Wirken bestimmt wird; daneben aber findet sich im Gehirne auch ein von dieser Nervenkraft verschiedenes höheres Vermögen, ausgestattet mit Selbstbewusstsein, Urtheil, Vernunft, Willen und anderen Eigenschaften, welche nach eigenem Gutdünken erregend auf die Nervenkraft einwirken und dieselbe gleich jedem andern Reize in Wirksamkeit ver- setzen. Derartige Eigenschaften treten uns in keiner Naturkraft entgegen: sie alle werden erst durch gewisse äussere Ursachen in Bewegung oder in Wirksamkeit versetzt, wie wir an der galvanischen Säule und an dem gestörten Gleichgewicht der Natur selbst sehen. Damit stimmt auch die Nervenkraft überein, da sie nur dann wirkt, wenn sie durch einen Reiz oder irgend einen Eindruck getroffen wird. Unsere Seele ent- hält in sich selbst das Prineip ihres Wirkens und den Anreiz zu diesem Wirken, sie wirkt also willkürlich, und dadurch Schroeder van der Kolk, Seele und Leib. 2 18 Nervenkraft und Seele. unterscheidet sich die Seele von allen Naturkräften (s. Anm. 6), Dies finden wir schon bei Cicero!) ausgesprochen, indem er sagt: da die Seele immer in Bewegung ist, und nicht durch ein äusserliches Princip, sondern durch sich selbst bewegt wird, so kann auch kein Aufhören dieser Bewegung eintreten, weil die Seele sich nicht selbst verlassen oder aufgeben kann. Ich brauche kaum zu bemerken, dass aus der Gall’schen Lehre, worin manche neuere Autoren einen Beweis für die vollkommene Abhängigkeit der Seele vom Körper haben fin- den wollen, kein Widerspruch zu entnehmen ist, was übrigens Niemand besser und ausführlicher dargethan hat als Gall selbst?2). Die Hirnorgane sind nur Apparate, durch die un- serem Geiste ein Eindruck oder in Folge dieses Eindrucks sogar eine Neigung zu Theil werden kann, wobei es aber immer von uns abhängt, ob wir Folge leisten wollen. Der Geschlechtstrieb erweckt wohl die geschlechtliche Begierde, aber die Seele empfindet diese Begierde und braucht ihr nicht nachzugeben. Es handelt sich hierbei offenbar um somatische Producte, die wohl an gewisse Lebensperioden geknüpft sind. Alle Eindrücke und Aeusserungen der Hirnorgane nehmen ihren Ursprung aus dem Körper und werden der Seele zuge- führt, ohne selbst die Seele zu sein. Unserem Willen, unserem Verstande, unserem Ich steht es frei, ihnen zu folgen oder sich ihnen zu widersetzen, und hierauf beruht unsere sittliche Kraft und Würde, deren die Thiere ermangeln. Es lassen sich noch schlagendere Gründe für die Ver- schiedenheit der Seele und der Nervenkraft beibringen. In Krankheiten ist uns bei dem gestörten Gleichgewicht der Kräfte nicht selten ein tieferer Einblick ins Verborgene ge- 1) De Senectute, Cap. 21. °) Sur les fonctions du cerveau, Vol. 1, p. 220. Manche, die in Gall’s Lehre einen Beweis gegen die Immaterialität und Unsterblich- keit der Seele finden, haben wohl das Gall’sche Werk nicht selbst gelesen; denn sie hätten darin eine überzeugende Widerlegung ihrer eigenen Argumente finden müssen. Die Seele im Irrsinn. 19 stattet, und mit Recht sagt der treffliiche Herder!), jener tiefe Denker, dass sie uns schon Wunderdinge entdeckt haben von dem verborgenen Schatz, der in menschlichen Seelen ruhet. Das gilt auch von den Irrsinnigen. Diese Unglücklichen, die man mit Recht als Irrsinnige oder Wahnsinnige -bezeich- net, sind nicht einer Geistes- oder Seelenkrankheit verfallen, wie man sich gewöhnlich denkt und wie selbst viele Gelehrte annehmen, sondern die Nervenkraft ist bei ihnen erkrankt. Diese bringt der Seele falsche und verkehrte Eindrücke, wel- che von der Seele den Urtheilen zu Grunde gelegt werden: die Seele wird daher in Irrthum geführt, den zu erkennen ihr die Mittel fehlen, so lange jenes pathologische Moment obwal- tet. Wenn die Sinnesorgane mich dergestalt täuschen, dass ich Stimmen zu hören glaube, die in Wirklichkeit nicht exi- stiren, und wenn dadurch Bilder oder Personen auftauchen, die nicht vorhanden sind, dabei aber der Eindruck ganz der nämliche ist, als ob ich, etwa wie im Traume, die Person sähe oder hörte, so werde ich zuletzt allen Gründen, die überzeu- gen könnten, mich verschliessen, und nur gemäss den empfan- genen falschen Eindrücken urtheilen. Das Urtheil selbst und die Folgerungen können ganz richtig sein, und würden wir unter den gleichen Umständen ganz eben so urtheilen, wie der Irrsinnige. Tritt eine weisse Blume mit rother Farbe auf, so liegt eben kein Grund vor, warum dieselbe als weiss gelten soll, und das Urtheil lautet natürlich dahin, dass sie roth ist. Hier liegt keine Seelenkrankheit vor, sondern eine Krankheit der Nervenkraft, die uns irreführt, was wir als Sinnestäu- schung bezeichnen. Durch sorgfältige Untersuchungen Irrsin- niger hat sich bei mir die Ueberzeugung befestigt, dass die Seele durch Aufnahme verkehrter Eindrücke irregeführt wer- den kann und zu falschen Begriffen und Schlüssen kommt, dass aber ihre höheren Kräfte, das Urtheilsvermögen und das vernunftmässige Abwägen, zwar unterdrückt werden aber doch 1) Ideen zur Geschichte der Menschheit. (Sämmtliche Werke. Stutt- gart und Tübingen, 1827. Thl. 4, S. 244). 9% 20 Die Seele bei Blödsinnigen. nicht ganz verloren gehen können. Die Seele selbst erkrankt nicht wie der Körper; das wäre ein Beweis für ihre materielle Grundlage (s. Anm. 7). Bei manchen Blödsinnigen, entgegnet man, bleibt aber fast keine Spur der höheren Geisteskraft übrig, es werden durch die Gehirnkrankheit auch die höheren Geistesvermögen vernichtet. Wenn die Gehirnkrankheit die höheren Seelen- vermögen ausfallen macht, so kann man die Seele doch wohl nur für eine einfache Gehirnkraft ansehen, die mit dem Ein- tritte des Todes zerstört wird. Dieses Bedenken könnte auf den ersten Blick Manchen schwankend machen; meines Erachtens ist es aber gerade geeignet, die Wahrheit nur um so heller zu Tage zu bringen. Allerdings sehen wir viele Idioten, bei denen das Denkver- mögen kaum noch spurweise vorhanden ist. Hier müssen wir zuvörderst jene ausscheiden, die von Geburt an blödsinnig waren, bei denen die Seele niemals gehörige Eindrücke em- pfangen konnte, weil die Werkzeuge dazu mangelten, und wo sie auch nicht thätig hervorzutreten vermochte. Erfahrung, Erziehung und Entwickelung blieben hier ausgeschlossen. Wir bleiben indessen bei jenen stehen, die ihre früher vorhan- denen Geistesvermögen ganz eingebüsst haben und auf be- klagenswerthe Weise dem Blödsinne verfallen sind. Bei sol- chen Unglücklichen beobachten wir eine sehr beachtenswerthe Erscheinung: kurze Zeit vor dem Tode werden sie manchmal wieder verständig. Mit dem Schwinden der Lebenskräfte, durch deren pathologisches Wirken die Seele gehemmt wurde, hören die nachtheiligen Einwirkungen auf, und deshalb tritt die Seele manchmal mit ausnehmender Klar- heit und Ruhe aus ihrer einstürzenden Wohnung heraus. Ich könnte mehrere Fälle der Art aus meinem Beobachtungskreise beibringen, will mich aber auf den folgenden beschränken. Ein wissenschaftlich gebildeter und gelehrter Mann war inner- halb 7 bis 8 Jahren durch Gehirnwassersucht im höchsten Grade blödsinnig geworden; nur das ohne allen Zusammenhang oftmals wiederholte Wort Domine war noch ein trauriges Die Seele bei Blödsinnigen. 21 Ueberbleibsel, welches auf die frühere Kraft und Klarheit des Geistes hinwies. Der Mann wurde immer schwächer und er- schien zuletzt ganz abgezehrt; aber in dem Maasse, als die Körperkräfte sanken und die Energie dahin schwand, hob sich wieder die Klarheit des Geistes. Sich selbst zurückgegeben und seinen Zustand klar übersehend, blickte er mit freudiger Unterwerfung auf sein bevorstehendes Ende; ohne über das zu murren, was er erduldet hatte, ja unter Anerkennung des vielen Guten in früheren Tagen, ging er verlangend und gei- stesklar dem letzten Stündlein entgegen, wo er die Erde ver- lassen sollte, die ihm nichts mehr bieten konnte. Bei der Section fand sich das Gehirn durch Wasser sehr ausgedehnt, und theilweise dadurch zerstört. Kann hier die Seele mit der Nervenkraft verwechselt werden, wo der Apparat gestört war und beim Entschwinden der Nerven- und Lebenskraft die Klarheit des Geistes sich steigerte ? (s. Anm. 8). So berichtet auch Zimmermann!) von einer zuletzt in Irrsinn verfallenen Frau, die einige Stunden vor dem Tode wieder vollkommen zu sich kam und nun mit solcher Inbrunst und in so erhabener Sprache zu Gott betete, dass bei der Grösse ihrer Bilder und bei der Kraft ihres Ausdrucks die ganze Erde zum Sandkorne zusammen zu schrumpfen schien. Am Ende dieser Herzensäusserung neigte sie das Haupt und war nicht mehr. Kommt auch diese Erhellung nicht bei jenen Unglück- lichen insgesammt vor, so lässt sie sich doch nicht wegleugnen. Nur zu häufig sind die Apparate zu sehr gelähmt, als dass die Seele ihre Empfindungen noch zu äussern vermöchte. Wer aber mit Bedachtsamkeit mehrfach am Sterbebette gestanden hat, der wird, gleich mir, aus einem Winke des Auges, aus einem letzten sanften Drucke der Hand einen bedeutungsvol- leren Abschied entnommen haben, als sich in einer wohlge- setzten Rede kund geben könnte, !) Von der Erfahrung in der Arzneikunst. Zürich, 1763. Bd. 1, S. 464. 180) IND Die Seele in Krankheiten. Auch bei anderen Krankheiten, namentlich bei Brustkran- ken, kommt eine solche Erhellung und Klarheit in den letzten Augenblicken vor, und der Geist bewährt dabei nicht selten eine solche erhabene Ruhe, als wäre er bereits aus dem Irdi- schen geschieden. So lesen wir bei Burdach?), dass Her- der einige Augenblicke vor seinem Tode sagte: „wie wird mir jetzt Alles so klar! dass ich nur bedauere, es nicht mittheilen zu können.“ Es kommt dann bisweilen zu höheren Vorahnun- gen, und nicht bloss über das Herannahen des Todes. So ge- denkt Burdach auch eines Freundes, der im Sterben von den unbeschreiblich beseligenden und erhebenden Gefühlen sprach, die seine Seele durchbebten. Aehnliche Zeugnisse haben wir auch von Ertrinkenden, die wieder zum Leben gebracht wur- den. Zimmermann führt an, dass Kinder, die schwer da- niederliegen, manchmal eine Menge von Kenntnissen, die sonst nur die Frucht des Studiums und der Erfahrung sind, und eine Geisteskraft und eine Beredtsamkeit an den Tag legen, die weit über ihre Jahre hinausgehen; das, setzt er hinzu, sei ein sicherer Vorbote des herrannahenden Todes. Die bei den ältesten Völkern und selbst bei den Erzvätern vorkommende Sitte des letzten Segens, wovon uns bezeichnende Fälle er- halten sind, darf auch wohl als ein Beweis dafür angezogen werden, dass der menschliche Geist in den letzten Augen- blicken sich zu höherer Klarheit erhebt. Kann ich nun nach dem Angeführten noch glauben, dass die zur Klarheit sich erhebende Seele einerlei ist mit der schwindenden Nerven- und Lebenskraft? Das Denken, das Bewusstsein, eine edle That vollbracht zu haben, das Erschauen des künftigen und ewigen Lebens, oder aber den überwälti- genden Aufschwung so vieler Geister sollte ich nicht für etwas Höheres erachten, als den elektrischen oder galvanischen Fun- ken, der aus einem künstlichen Werkzeuge hervorbricht und mit dessen Zerstörung aufhört, oder verschwindend in den 1) Die Physiologie als Erfahrungswissenschaft. Bd. III, S. 614. Leipzig, 1880. Das Sterben. 23 allgemeinen Kräften sich auflöst? Nein! Soll der Offenbarung kein Ohr geliehen werden, so bekehre ich mich lieber zu dem allgemein verbreiteten, fast angebornen Volksglauben, oder ich halte mich an Cicero, der die beseligenden Aussichten des sterbenden Cyrus in unerreichbarer Weise beschreibt, als dass ich mich dieser neuen Lehre anschliesse, die mir Alles raubt. Ich könnte hier schliessen, ohne Ihre Nachsicht noch län- ger in Anspruch zu nehmen. Doch sei es mir vergönnt, schliesslich noch mit einem Worte die Frage zu berühren, die Ihrer Theilnahme nicht ganz unwerth sein dürfte: Was ist das Sterben? ist es so peinigend und qualvoll, als Manche denken? Nach meinem Dafürhalten ganz und gar nicht. Die Nervenkraft, haben wir gesehen, bildet die Ver- mittelung zwischen Seele und Körper. Sie bewirkt die Empfin- dung von Angst und Wehe, wenn der Geist durch starke oder fremdartige Eindrücke berührt wird; aber in dem Maasse, als die Wirksamkeit der Nervenkraft abnimmt, mindert sich auch jene Empfindung, die Eindrücke werden nicht mehr zur Seele hingeleitet und starke Reize werden zuletzt nicht mehr em- pfunden, sind also auch wirkungslos. Das Gebäude stürzt zusammen, die Saiten hören auf zu schwingen und springen, der sich befreiende Insasse fühlt nicht mehr die beengenden Banden, nicht mehr den Streit der Kräfte im absterbenden Körper. Nicht selten werden wir am Todesbette durch hef- tige Convulsionen erschüttert, bei denen die trauernden Freunde an schwere Todesangst denken. Die Seele hat aber keinen Antheil an diesen unwillkürlichen Convulsionen, die den letzten Kampf zwischen den sinkenden Naturkräften und dem sterbenden Organismus darstellen; das ist das einstim- mige Zeugniss derer, die von diesem letzten Ufer wiederum zurückkehrten, oder die doch auf kurze Zeit ihr volles Be- wusstsein zurückerhielten und von Allem nichts wussten. Das spricht laut für die Verschiedenheit einer einschlummern- den Seele und convulsivischer Naturkräfte, zu einer Zeit, wo die Bänder und Fäden, die sie verbinden, sich zu lösen be- 94 Das Sterben. ginnen. Der Tod, sagt der treffliche Zimmermann drei Seiten früher, hat nichts so Erschreckendes, als das Leben jener, die sich den Tod so schrecklich denken. Da uns überall in der Schöpfung liebende Sorgfalt und Zweckmässigkeit entgegentritt, so dürfen wir nicht glauben, dass der Schöpfer in diesen letzten Momenten zwecklos Mar- tern auferlegen wollte: er entrückte der Seele das Bewusst- werden des Streites der Kräfte, der beim Zusammenstürzen ihrer Behausung ausbricht. Den Tod mit dem Schlafe der Puppe vergleichend, welcher der höheren Schmetterlingsform vorausgeht, sagt Herder!) so schön: „Und so zeigt uns die Natur auch (hier), warum sie den Todesschlummer in ihr Reich der Gestalten einwebte Er ist die wohlthätige Betäubung, die ein Wesen umhüllet, in dem jetzt die organischen Kräfte zur neuen Ausbildung streben. Das Geschöpf selbst mit seinem wenigern oder mehrern Bewusstsein ist nicht stark genug, ihren Kampf zu übersehen oder zu regieren; es entschlummert also und erwacht nur, wenn es ausgebildet da ist. Auch der Todesschlaf ist also eine väterliche milde Schonung; er ist ein heilsames Opium, unter dessen Wirkung die Natur ihre Kräfte sammelt und der entschlummerte Kranke geneset.“ ') Ideen zur Geschichte der Menschheit. (Sämmtliche Werke, Thl. 4, S. 237). Anmerkungen. 1. S.6: Der Gedanke nichts anderes, als ein Durchbruch des Galvanismus. Dass ich damit nicht zu viel sage, ist, um von Anderen zu schwei- gen, zur Genüge aus der hypothesenreichen Schrift A. Fourcault’s (Lois de l’organisme vivant. Paris 1529) zu entnehmen. Hier heisst es Vol. 2, p. 94 ausdrücklich: Les sensations et les actions cerebrales qui en dependent, telles que les idees, les souvenirs, l’imagination, le rai- sonnement et la volonte elle m&eme, ne sont qu’un resultat d’actions physiques, ou des mouvements electro-moleculaires excites primitive- ment par le spectacle de la nature, par l’action des sens externes et internes, 2. S. 13: Als wenn ich mich in die Finger gestochen hätte. Hieraus ist auch ersichtlich, dass jene Ansicht unbegründet ist, wo- nach die Wahrnehmung in den peripherischen Enden der Nerven vor sich gehen soll und so vielfache Wege für die Leitung dieser Wahrneh- mungen nicht angenommen zu werden brauchen. Wäre dies der Fall, so könnten wir von einem Stosse auf den Ellenbogen niemals ein Prik- keln in den Fingern bekommen; denn so lange die Finger selbst nicht gereizt werden, würden wir durch einen Stoss auf den Ellenbogenner- ven auch keine Empfindung darin bekommen können. Eben so ver- hält es sich auch mit den Schmerzen, die von Kranken in den bereits amputirten Gliedmaassen gefühlt werden: eine pathologische Reizung im Nervenstamme verursacht hier die gleiche Empfindung, als wären die noch vorhandenen Nervenenden gereizt worden. 26 Nervenkraft. 3. S. 14: Von wo sie die Befehle unseres Willens nach den Mus- keln trägt. Da die primitiven Nervenfasern so ausnehmend fein sind und so nahe bei einander liegen, dass sie im Rückenmarke und Gehirne kaum häutig von einander getrennt zu werden scheinen, die thätige Nerven- kraft aber gleichwohl sich immer in der Bahn des Marks hält, so er- achte ich es für wahrscheinlicher, dass man an eine gewisse Verände- rung oder Umsetzung der Nervenkraft, statt an eine Bewegung dersel- ben zu denken hat, mag man nun diese Veränderung etwa mit den schallerzeugenden Luftschwingungen, wobei die Luft nur schwingt und nicht fortbewegt wird, oder mit den Schwingungen des Lichts nach Euler’s Theorie analog erachten, oder wie sonst erklären. Gegen die Fortbewegung der Nervenkraft scheint auch das zu streiten, dass das abgetrennte Stück eines durchschnittenen Nerven immer noch auf Reize reagirt. Wird das peripherische Ende eines durchschnittenen Muskelnerven gereizt, so erfolgt eine Contraction des Muskels, wobei die Nervenkraft des abgeschnittenen Stücks dem Muskel zuströmen müsste, und ein späterer Reiz würde dann nicht mehr wirken können, weil die Nervenkraft entströmt und das Nervenstück also machtlos wäre. Das ist aber keineswegs der Fall, denn die wiederholte und nochmals wiederholte Reizung hat eine gleich starke Contraction zur Folge. Hierin finde ich aber wieder einen wesentlichen Unterschied zwischen Elektricität und Nervenkraft. Die Nervenkraft ist an das Nervenmark gebunden und demselben eigenthümlich, und sie wird nur, so lange sie wirkt, auf eine nicht näher bekannte Weise erregt oder verändert, ohne nach Art der Elektricität vom Gehirne zu den Muskeln und umgekehrt zu strömen. So erklärt es sich von selbst, warum ein angebrachter Reiz stets dem Laufe auch des feinsten Nervenfadens folgt und niemals überspringt, weil ja die Nervenkraft, da sie an das Nerven- mark gebunden ist und keine Bewegung, sondern nur eine Umänderung erfährt, dieses Nervenmark nicht verlassen kann. 4. S. 15: In Frankreich und in Deutschland. Unbegreiflich ist die Oberflächlichkeit und Leichtfertigkeit, womit viele Autoren bei dieser die Menschheit so tief berührenden Frage über die Seele ihre Stimme in so entschiedener Weise abgeben. Dass ich mir hierbei keine Uebertreibung erlaubt habe, will ich durch ein Paar Raspail; Ferd. Jahn. 27 Citate aus neueren Schriften, die zum Theil von der studirenden Jugend als Handbücher benutzt werden, darlegen, welche Citate aber leicht noch vermehrt werden könnten. In dem sonst viel Scharfsinniges enthaltenden Buche von Ras- pail!) lesen wir zunächst über die Zusammensetzung der Nerven (p. 221): Il resulte &videmment de toutes ces observations, que les nerfs sont imperfores, et que les canaux, par lesquels eircule le fluide qui alimente la pensöe et determine la volonte, ne sont pas abordables a nos moyens, möme les plus delicats, de dissection. Dann fährt er (p. 228) fort: La volonte est le resultat d’une combinaison atomistique entre deux el&ments subtils et impond£erables: je veux dire la perception exterieure ou l’impression d’un cote, et la pro- pension interieure ou le penchant instinctif de l’autre. Les mots idee, jugement et raisonnement n’ont ete crees que pour faciliter le langage; car il n’y a pas plus de jugement sans raison- nement que d’idee sans jugement; ces trois operations existent in- divisiblement dans l’impression. — Les propensions ou penchans instinctifs sont le produit de l’elaboration de l’un de ces organes cellulaires, dont nous avons dit que les grands lobes cerebraux sont la reunion. Les impressions sont le produit d’une excitation ext£rieure. Zuletzt aber schliesst Raspail sein Wort mit einer Art Glaubensbe- kenntniss (p. 550): J’ai dit ailleurs par quel m&canisme nous pensions; je viens de dire par quel mobile nous agissions. Quant aux doctrines contraires fondees sur les dogmes religieux, je les respecte sans les par- tager. Si des illusions sont capables de rendre les hommes heureux, ce serait se montrer bien peu vertueux que de les repousser avec in- tolerance, par cela seul qu’on est heureux soi-möme au moyen d’une realite. Combattre les erreurs avec des passions, ce n’est pas chercher a convaincere. — Plus de guerre aux interets matcriels, encore moins aux interets immateriels: c’est la devise de la göneration qui s’eleve du sein du bourbier de la eivilisation oü nous vivons. : Unter den Deutschen schreibt Dr. Ferdinand Jahn?) in Meinin- gen: Die Naturwissenschaft, die ernste kalte Richterin, zerstört die kindlichen Träume, so hold sie auch seien, und so sehr sie die Gläu- bigen erfreuen und beseligen mögen. Wahrheit ist es, dass das, was Seele heisst, nichts ist, als die Thätigkeit des Gehirns und überhaupt der höheren Gebilde des Nervensystems, und dass das Hirn denkt, wie der Magen verdaut und das Ohr den Schall, und das Auge das Licht assimilirt, dass es somit mit einem eigenen freien Seelenwesen nichts ist, nichts mit seinem Freiwerden im Tode, und nichts mit dem Jenseits, jener transcendenten Schäferwelt, um mit Jean Paul zu reden, von der wir weder ein Ab- noch Vorbild kennen, einer Welt, der nichts 1) Nouveau Systeme de Chimie organique. Paris 1833. 2) Friedreich’s Magazin für philosophische, medicinische und gerichtliche Seelenkunde. 1830. Drittes Heft, S. 75. 38 Grösse des Gehirns. geringeres, als Gestalt, Name und Atlas und Planiglob, und ein Welt- umsegler Vespucius Americus abgeht, für die uns weder Chemie noch Astronomie die Bestand- und Welttheile liefern wollen, einem Dunst-Universum, auf dem aus der entlaubten, verdorrten Seele ein neuer Leib ausschlagen soll. Es gibt eine Fortdauer nach dem Tode, in welcher, um mit einem grossen Arzte zu reden, der Mensch die per- sönliche Auflösung überlebt und eine stete Auferstehung feiert, aber nur so, dass die organische Masse und Thätigkeit, die Individualität aufopfernd, wieder in andere Wesen und neue Gestaltungen übergeht und sich umbildet, dann eine geistige Fortdauer des Individiums in der Art, dass die Handlungen des Menschen in der Geschichte fortleben, und nach ihrem höheren oder niederen Werthe mehr oder weniger auf die Nachkommen übergehen, endlich eine leibliche Fortdauer, welche in den Kindern das Andenken des Menschen erhält, und den Stammvater in seinen spätesten Nachkommen fortleben lässt. Friedreich aber geht so weit, dass er diese ganze Jahn’sche Expectoration, die man nicht ohne Entrüstung und Mitleiden lesen kann, in seine Allgemeine Diagnostik der psychischen Krankheiten 2. Aufl. 1832. S. 365 aufnimmt, mit der Bemerkung, dass man der Sache keinen besseren Ausdruck geben könne, als es von Jahn ge- schehen sei. 5. S. 16: Je mehr die geistigen Vermögen in dem Thierreiche bis zum Menschen hinauf zunehmen. Die relative Grösse des Gehirns haben Manche zum Maassstabe für die höheren Geistesvermögen machen wollen, aber ohne Grund, wie man aus der von Tiedemann!) angestellten Vergleichung des Hirn- gewichts mit den Nerven, worin man allgemein den zumeist zutreffen- den Maassstab findet, entnehmen kann. Oben an steht der Mensch, dann kommt der Orang-Utang, und nach diesem der Delphin, der nach jenen beiden verhältnissmässig das grösste Gehirn hat, ohne dass wir doch bei diesem Thiere etwas von der Ueberlegung und Klugheit des Hlephanten, des Hundes oder des Pferdes kennten. „Wir wissen nur,“ sagt Tiedemann, „zufolge der von Schiffern mitgetheilten Nachrichten, dass der Delphin, wie die Wallfische, gern in kleinen Gesellschaften beisammen leben, dass sie grosse Wanderungen anstellen, dass sie eine grosse Zuneigung zu ihren Jungen haben und dieselben bei Angriffen muthig vertheidigen.“ Da nun aber diese Thiere mehr an der Ober- fläche des Wassers leben und somit der Beobachtung leicht zugänglich 1) Tiedemann und Treviranus, Zeitschrift für die Physiologie. 1827. Bd. 2, S. 251 — 263 und Tab. XII. Naturkräfte und Seele. 29 sind, so wäre es doch zu verwundern, wenn es sich der Wahrnehmung entzogen haben sollte, dass der grossen Gehirnmasse auch eine höhere Entwickelung entspricht. Ss. 15: Dadurch unterscheidet sich die Seele von allen Natur- kräften. Wie die Eigenschaften der Seele von den Naturkräften und wie sehr sie von allen Eigenschaften der Materie abweichen, das tritt uns in überzeugender Weise bei einem anderen einfachen Vergleiche ent- gegen. i Die Erfüllung von Raum und Zeit pflegt man zu den Eigenschaften der Materie zu zählen, das will sagen, jeder Körper erfüllt einen ge- wissen Raum und bedarf einer gewissen Zeit, um von einem Punkte zu einem andern zu gelangen; somit erfüllt er in einem gegebenen Mo- mente nur einen bestimmten Raum in Folge der Undurchdringlichkeit. und er hat in diesem Momente auch eine bestimmte Bewegung. Diese beiderlei Eigenschaften sind bei den Imponderabilien in Abnahme be- griffen. Für die magnetische Kraft ist keine Materie ein Hinderniss, denn sie dringt durch alle Körper hindurch: die Wirkung des Nord- lichts auf die Magnetnadel nahm Arago alsbald in Paris wahr, sobald dasselbe nur im hohen Norden stärker hervortrat. Das Licht durchsetzt die dicksten Krystalle, und wenn es nur durch die Poren dränge, so müsste der ganze Krystall eine einzige Pore, d. h. Nichts sein. Immer bedarf dasselbe noch eines freilich sehr kleinen Zeitraums von 8 Minu- ten, um die 21 Millionen Meilen von der Sonne bis zu unserer Erde zu durchlaufen, und man darf daher wohl sagen, dass es an der Grenze der Materialität steht. Vom Wesen der verschiedenen Kräfte wissen wir eigentlich Nichts; wir nehmen nur wahr, dass in den Körpern eine bestimmte Wirkung stattfindet, die durch die eine oder die andere äussere Ursache eine Veränderung erfahren kann: die Elektricität und der Galvanismus be- wegen sich in der Richtung der Conductoren, um ein zerstörtes Gleich- gewicht herzustellen, die Lichtstrahlen folgen einer bestimmten Rich- tung, die Nervenkraft wirkt nach dem Verlaufe der Nervenfasern. So offenbart sich also in ihnen allen in einem bestimmten Momente nur eine einzige unwillkürliche Wirkung. In unserer Seele dagegen laufen gleichzeitig tausend Thätigkeiten mit Willkür ab, mit so unbegreiflicher Raschheit und Ruhe, als ob es sich nur um eine einzige Aeusserung handelte. Ich will nicht reden von der Raschheit der Willensimpulse und der Muskelbewegungen bei solchen, die rasch auf dem Pianoforte spielen, sondern nur der tausend verschiedenartigen Wirkungen ge- denken, die in der Seele vor sich gehen, wenn zwei Freunde, in einer lieblichen Landschaft wandelnd, in ein Gespräch vertieft sind. 30 Complieirte Muskelactionen. An jedem Beine zählt man etwa 60 Muskeln. Bei jedem regel- mässigen Schritte, also etwa im Zeitraume einer Secunde, empfangen davon etwa 20 Beuger und 15 Strecker an jedem Beine den Eindruck unseres Willens, zusammen also 70, da während des Gehens keine der Muskelgruppen vollständig erschlafft. Dazu kommen noch gut und gern 20 andere, durch deren Wirkung der Körper aufgerichtet erhalten wird. Dabei wird noch eine Bewegung mit den Armen ausgeführt, oder die Hand hält einen Stock gefasst, wobei auch wieder wenigstens 25 Mus- keln jederseits, auf beiden Seiten also 50 wirken, und somit haben wir zusammen etwa 140 Muskeln, die bei jedem Tritte mehr oder weniger durch unsern Willen in Contraction versetzt werden müssen. Ich weiss wohl, dass der Mechanismus dieser Muskeln so kunstvoll ist, dass unser Wille viele Muskeln gleichzeitig anspannt. Allein jede kleine Modifica- tion der Bewegung verlangt eine veränderte Spannung des einen oder des andern Muskels, also einen besonderen Willensimpuls, und die ge- ringste Aenderung des Willens hat alsogleich eine Aenderung des Gan- ges oder der Haltung zur Folge. Ich kann somit diese Bewegungen für keine rein automatischen halten, als würden sie durch einen Apparat ausgeführt, der einmal aufgezogen in gleichmässiger Weise abläuft, wenngleich alle jene Befehle scheinbar unwillkürlich, und ohne dass wir daran denken, ausgeführt werden. Beim Sprechen finden in der Kehle, an der Zunge, am Munde oder an den Lippen zahllose schnelle Bewegungen statt, ja Haller!) berech- nete sogar, dass bloss beim Ertönen von r in dem einen Muskel, näm- lich im Styloglossus, in der Minute 30000 Bewegungen vor sich gehen müssten. Dürfen wir auch diese Berechnung durchaus nicht als eine ganz richtige ansehen, so ist doch wenigstens die Anzahl der gleich- zeitigen Bewegungen aller Muskeln des Kehlkopfs, des Schlundes, des Gaumens, derZunge und der Lippen bei einem schnellen Gespräche eine unberechenbare und bleibt vielleicht nicht hinter der Haller’schen Zahl zurück, und dabei muss jede Bewegung durch unsern Willen regu- lirt werden, um die erforderliche Erhebung des Tons, die nöthige Ar- tikulation und das verlangte Wort heraus zu bringen. Diese Befehle insgesammt werden mit der nämlichen Ruhe und gleich rasch ausge- führt, wie wir einen einzelnen Finger ausstrecken. Es macht aber gar keinen Unterschied, ob wir bei allen diesen Befehlen, die zum Sprechen nöthig sind, auch noch die erwähnten 170 Muskeln durch unsern Willen beeinflussen oder nicht, ob wir also sprechend einhergehen oder dabei sitzen. Der dabei in Betracht kommende Apparat ist so grossartig und zusammengesetzt, dass es uns unbegreiflich vorkommt, wie nichts als der Willensimpuls nöthig ist, um denselben in Thätigkeit zu versetzen. Alle diese befehlenden Aeusserungen des Willens wirken aber nicht beschränkend auf unsern Geist, denn wir vermögen gleichzeitig auch noch Eindrücke und Wahrnehmungen in Masse demselben zuzuführen. 1) Elementa Physiologiae, T. IV, p. 483. P Simultane Wirkungen der Seele. 31 Wir fühlen den Boden, worauf wir wandeln, und dessen Unebenheiten, wir empfinden die erwärmenden Strahlen der Sonne, den Wind und jeglichen Reiz, der den Körper trifft. Trotz aller Willensäusserungen und Gefühlsausdrücke erkennen wir auch noch durchs Gesicht mit glei- cher Leichtigkeit die Tausende von Gegenständen, welche uns umgeben, die Färbung und die Entfernung derselben, die raschen Bewegungen des fliegenden Vogels, die bekannten Plätze und die zahllosen Objecte, die durch Millionen Strahlen in unseren Augen sich abbilden, hören wir nicht nur unsere eigene Stimme, sondern zugleich auch ohne Störung den Gesang der Lerche, das Brüllen der Kinder, den Zuruf des Land- manns, riechen wir die Ausdünstungen und Düfte der Blumen. Diese zahllosen Eindrücke und Befehle, welche gleichzeitig den einen Mittel- punkt, die Seele treffen oder von derselben ausgehen, hindern uns aber auch nicht, unsere Gedanken auszusprechen, ja wir denken während dem noch mehr, als wir in Worten aussprechen können. Dazu kom- men noch die Millionen Wörter, Gedanken, Sachen, Personen, Ereig- risse, Bilder und was sonst nicht Alles, was wir im Gedächtniss herum- tragen. Alles aber geschieht mit solcher Ordnung und Ruhe, als würde nur ein einziger Befehl vom Willen ertheilt, als würde nur Ein Finger gebogen oder nur Ein Eindruck wahrgenommen! Wem schwindelt es nicht bei dem Gedanken an diese zahllosen und complicirten Wirkun- gen, die in einem Momente ohne die geringste Störung von einem und demselben Prineipe ausgehen? Wo finden wir in der ganzen Natur, in der Anziehungskraft, im Galvanismus, selbst in der Nervenkraft, welche die Eindrücke isolirt zuführt, etwas Gleiches oder nur etwas Analoges mit dieser simultanen unbegreiflichen Wirksamkeit der Seele? Die Nervenkraft, aus der die genannten Autoren die Seele ableiten wollen, partieipirt nicht an dieser Mannigfaltigkeit, denn die Nervenfasern, welche der Seele das Fühlbare zuführen, sind von jenen gesondert, welche die Befehle der Seele den Muskeln überbringen; es ist heut zu Tage auf die überzeugendste Weise dargethan worden, dass jene Ner- venfaser, welche Muskelzusammenziehung vermittelt, unempfindlich ist, also nicht gleichzeitig von der Seele weg- und nach der Seele hinzu- leiten vermag. Man kann eine solche Faser quetschen oder durch- schneiden, ohne dass es empfunden wird. Weil die einzelne Nerven- faser nur Eine Wirkung hervorbringen kann, so waren eben zweierlei Fasern nöthig für das Gefühl und für die Bewegung. Wie dürftig hätte die Natur für uns gesorgt, wenn gemäss den Eigenschaften der Ner- venkraft, sobald eine bestimmte Thätigkeit, z. B. das Beugen eines Fin- gers stattfindet, andere Wirkungen, wie das Denken, das Wahrnehmen, aufhören müssten ? Muss nicht jeder anerkennen, dass unsere immaterielle Seele hier einzig dasteht und mit nichts in der Natur verglichen werden kann ? Wer vermag hier noch Eigenschaften der Materie in Zeit und Raum zu finden, oder wer will damit die zahllosen simultanen Wirkungen er- klären, die mit blitzartiger Schnelligkeit überall nach und von diesem 32 Seelenstörung. Mittelpunkte strahlen? Was spricht z. B. entschiedener gegen alle ma. teriellen Vorstellungen, als die Thatsache, dass mit der Anhäufung von Sachen und Vorstellungen in unserem Gedächtnisse die Unterbringung derselben nur um so leichter von Statten geht, was man als Lernen oder Uebung zu bezeichnen pflegt? Nein! die da meinen, die trockne Naturkunde trete den Vorstellungen von einer immateriellen und un- sterblichen Seele spottend entgegen, sie werden durch ihre eigene Rich- terin widerlegt und verurtheilt; auf sie passt jener Ausspruch von Baco de Verulam: Philosophia obiter lihata a Deo abdueit, profundius hausta ad eum reducit. | S. 20: Die Seele selbst erkrankt nicht wie der Körper; das wäre ein Beweis für ihre materielle Grundlage. Das Wort Seelenstörung gebraucht man gewöhnlich in einer dop- pelten Bedeutung. Im moralischen Sinne verstehen wir darunter jenen Zustand, wo die höheren Geistesvermögen, der Verstand, die niedrigen nicht zu beherrschen vermögen und wir die Sclaven unserer Neigungen sind; davon ist hier nicht die Rede. Zweitens versteht man auch jenen Zustand darunter, wo die Seelenvermögen unregelmässig wirken oder herabgestimmt sind, wie beim Irrsein. Im letztern Falle hat man es meines Erachtens bloss mit einer Einwirkung des Körpers auf die Seele zu thun. Manchen Autoren ist der Irrsinn eine Seelenstörung. Nach Hein- roth!) ist jeder Irrsinn nur die Folge der Schlechtigkeit und der Sünde, und er scheut sich nicht, diese Unglücklichen, die schon beklagenswerth genug sind, auch noch zu beschimpfen und zu Verbrechern zu stempeln. Man gründet diese Meinung?) mit darauf, dass die Leidenschaften in der Aetiologie des Irrsinns eine Rolle spielen, und dass heftige Leiden- schaften und manche Arten des Irrsinns einander ähneln. Warum folgt dann aber nicht jeder Leidenschaft der Irrsinn nach? Wer den Einfluss heftiger Leidenschaften auf den Körper kennt, der wird sich dahin aus- sprechen, dass dadurch pathologische Zustände im Körper auftreten können, die nach dem Verschwinden der Leidenschaften fortbestehen und ihrerseits der Seele fremdartige Eindrücke zuführen. Die verschie- denen Constitutionen sind nicht gleich empfänglich für diese patholo- gischen Umänderungen und daher rührt es, dass der Irrsinn so häufig erblich auftritt. Entwickelte sich der Irrsinn nur aus Leidenschaft, dann müssten die heftigsten Menschen, die am meisten jähzornigen auch 1) Lehrbuch der Seelenstörungen. Th. I, 8. 23 — 51. .S. 179 und an- derwärts. 2) 8. unter andern T. Ermerins, Diss. de animi patbematibus morborum mentalium causis praecipuis. Lugd. Bat. 1829, Seelenstörung. 33 zuerst in Irrsinn verfallen, was keineswegs so der Fall ist. Entwickelt sich in einem vollblutigen starken Organismus nach einer heftigen Leidenschaft Irrsinn, der in Tobsucht übergeht, so kann man bisweilen beobachten, dass durch ein paar Blutegel am Kopfe der ganze Irrsinn auf einmal verschwindet. Haben diese Blutegel die Seele selbst ver- ändern können? Haben sie die Seelenstörung weggenommen oder die Leidenschaft weggesaugt? Sie haben nichts gethan, als das überflüssige und nachtheilig aufs Gehirn wirkende Blut fortgeschafft und dadurch die somatische Ursache des Irrsinns beseitigt. Aus den Krankheitserscheinungen ergiebt es sich ebenfalls deutlich, dass beim Irrsinn ein fremdartiger Eindruck die Seele bestürmt, nicht aber eine eigentliche Seelenstörung besteht. Die fremdartigen Ein- drücke, welche aus einem pathologisch veränderten Körper hervor- gehen, können die Vorstellungen verwirren oder verkehrte Wahrneh- mungen hervorrufen, oder durch den krankhaften Zustand der Werk- zeuge, d. h. des Gehirns, kann das Wirken des Geistes behindert oder unterdrückt werden. Eine verkehrte Empfindung kann irre leiten und es kann dann eine Hauptvorstellung alle anderen unterdrücken, so dass der Kranke wie durch eine gefärbte Brille sieht, und wie im Traume zu verkehrten Schlüssen hingeführt wird. Das Urtheil selbst verharrt aber in seiner Thätigkeit, und die Irren fühlen es meistens, dass sie, wenn sie nicht aufmerksam wären, in Widerspruch gerathen würden. Einen Irren, der sich für den Heiland ausgab und behauptete, er sei schon vor Adam da gewesen, fragte ich nach seinem Berufe, und er gab hierauf die Antwort, er sei Kutscher gewesen, in Utrecht geboren und 52 Jahre alt. Bei meiner Frage, wie er denn vor Adam habe sein _ können, trat ihm alsbald der Widerspruch entgegen, und er suchte sich dadurch heraus zu helfen, dass er damals schon als Geist bestanden haben wollte. Manchmal kommt hierdurch die volle Genesung zu Stande. Ist die Ursache der Krankheit aus dem Körper entfernt worden, so bleibt der zur Gewohnheit gewordene tiefe Eindruck noch im Geiste zurück, und dann kann der Irre auf psychischem Wege durch einen stärkeren Ein- druck oder durch ableitende Mittel und dergleichen der Genesung ent- gegengeführt werden, was beim Beginn der Krankheit niemals gelingt, wo alles Zureden vergeblich ist, ja selbst Misstrauen erweckt, da sich eben das körperliche Leiden nicht ausreden lässt. Ein Irrsinniger, der sich für den Heiland hielt und dem ich schon mancherlei verordnet hatte, verlangte aufs Bestimmteste seine Freilassung von mir. Ich er- wiederte ihm eben so entschieden, ich würde ihn nicht freilassen, so lange er sich als den Heiland betrachtete, denn da sei ja seine Entlas- sung unnöthig, weil er hinreichend Macht besitzen müsse, durch die Mauern zu entweichen. Das machte auf ihn einen tiefen Eindruck, und er empfand seine Unmacht so tief, dass er voller Bestürzung gestand, er sähe jetzt ein, dass er nicht mehr sei als andere, und damit war er hergestellt. Wären das Urtheil und die höheren Geistesvermögen bei Schroeder van der Kolk, Seele und Leib. 3 34 Geistesklarheit vor dem Tode. ihm nicht bloss irre geleitet, sondern wirklich erkrankt gewesen, so würden meine Worte wenig gefruchtet haben. Wenn somatische Ursachen die Seele krank machen können, wo sind dann die Grenzen? Dann kann ich durch ein paar Grane Opium eine Seelenstörung herbeiführen. Und müsste dann nicht durch eine grössere vergiftende Menge diese Störung in der Weise zunehmen, dass zugleich mit dem Leben auch die Seele erliegt und vernichtet wird ? Dies scheint schon Cicero!) gefühlt zu haben, wenn er sagt: Sunt enim ignorantis, quum de aeternitate animorum dicatur, de mente dici, quae omni turbido motu semper vacet, non de partibus iis, in quibus aegritudines, irae, libidinesque versentur; quas is, contra quem haec dicuntur, semotas a mente et disclusas putat. 8. S. 21: Beim Entschwinden der Nerven- und Lebenskraft die Klarheit des Geistes sich steigerte? Dieses nach meinem Dafürhalten so überzeugende Beweisstück für die Nichtidentität von Seele und Nervenkraft hat man auch wegdispu- tiren wollen. Jahn und Friedreich an den vorhin angeführten Stel- len, aber auch Andere, suchen diese Erscheinung so zu erklären, als entstände in einem Theile des Gehirns eine vorübergehende pathologi- sche Erregung der Nervenkraft; sie stellen dieselbe auf gleiche Stufe mit jenen dem Tode vorausgehenden Convulsionen, wobei eine patholo- gische Einwirkung in einem andern Gehirntheile statt hat. Es würde dann nur auf die zufällige Affection dieser oder jener Hirnpartie an- kommen, ob ein Kranker vor seinem Ende noch erst wieder in den Besitz seiner Geisteskräfte kommt oder in Krämpfe verfällt. Jeder Un- parteiische, der mit der Sache vertraut ist, wird dem aber nicht bei- stimmen können, und es muss ihm gewiss als eine gezwungene Erklä- rung erscheinen. Die krankhafte Erregung des Gehirns, wie sie etwa im Fieber vorkommt, zeigt uns wohl Phantasien, wilde und verwirrte Vorstellungen, niemals aber jene anhaltende ruhige Erhebung des Gei- stes, wie bei denjenigen, die vor dem Tode des Verstandes wiederum mächtig werden, niemals jene Steigerung und Veredelung der sittlichen Eigenschaften, jene inbrünstige Liebe zu den Verwandten, die wenige Augenblicke früher im wilden Delirium mit Hast verfolgt wurden, und ein Vergeben alles in Wahrheit oder nur in der Vorstellung erlittenen Unrechts, niemals jene vollkommene Unterwerfung unter die Leitung der Vorsicht, die Geringschätzung der irdischen Begierden, die früher- hin manchmal so mächtig hervortraten, den Hinblick auf eine glück- liche Erlösung, wie ich es mehrmals zu bewundern Gelegenheit hatte, 9 Tusculanae Quaestiones. Lib. I, Cap. 33. Geistesklarheit vor dem Tode. 35 Die daneben auftretende Ruhe endlich, die sich manchmal auf mehrere Tage erstreckte, und die nur immer mehr sich steigernde Klarheit, je tiefer die somatischen Functionen sinken, widersprechen doch der lo- calen krankhaften Erregung und dem Kampfe der Kräfte vor dem Ster- ben, da ja den Convulsionen, womit Jahn diese Aufhellung des Geistes in Parallele stellt, ein unruhiges Benehmen oder auch eine Verwirrung der Vorstellungen und ein Phantasiren zur Seite zu gehen pflegt, d. h. die unwillkürlichen physischen Eflecte treten ohne Bewusstsein der Seele ein und die Apparate gerathen dermaassen in Unordnung, dass die Seele keine Eindrücke empfängt oder mitzutheilen im Stande ist. Ist das nicht etwas ganz anderes, als die besprochene erhabene Geistesruhe und die Steigerung der edelsten Empfindungen, wo keine falschen und phan- tastischen Vorstellungen mit unterlaufen, vielmehr eine Klarheit und Zunahme der geistigen Kräfte eintritt, wie sie in den gesunden Tagen solcher Individuen kaum zu erwarten gewesen wäre. Nicht etwa ein- zelne Richtungen der geistigen Thätigkeit treten mit erhöhter Energie hervor, z. B. das Gedächtniss ohne gleichzeitiges Urtheil, sondern die gesammten geistigen Kräfte, weil die höheren Vermögen nicht ohne die niedrigeren zu wirken vermögen, das Urtheil nicht ohne das Ge- dächtniss. Eine andere Erklärung sucht Jahn am angeführten Orte noch darin, dass bei bestehender Gehirnwassersucht das Wasser kurz vor dem Tode durch einen febrilischen Zustand resorbirt und fortgeschafft würde und dadurch die Aufhellung des Geistes sich einstellte. Aber bei jenem Manne, dessen ich vorhin gedachte, fand sich das Gehirn. bei der Sec- tion durch ungemein viel Wasser ausgedehnt; es waren mehrere Pfunde ‘da, wodurch die Gehirnhöhlen ganz angefüllt und ausgedehnt waren. Diesem Einwurfe Jahn’s steht ausserdem noch die Beobachtung ent- gegen, dass eine solche Aufhellung des Geistes auch bei organischen Gehirnaffectionen, bei Erweichung, Verhärtung, Krebsgeschwülsten und dergleichen vorkommt, von deren Verschwinden vor dem Tode doch nicht die Rede sein kann. Mir selbst sind solche Fälle vorgekommen, und auch andere Autoren !) gedenken derselben. Diese Aufhellung und Klärung des Geistes steigert sich manchmal bis zur Ahnung, namentlich bis zur Ahnung des eigenen Todes, obwohl die Krankheitserscheinungen dabei sich weit günstiger zu gestalten pflegen, und die Schmerzen nachlassen oder auch ganz aufhören. Aber auch andere schwer zu erklärende Ahnungserscheinungen kommen vor, die an die höheren magnetischen Erscheinungen erinnern 2). Das giebt auch Jahn zu, sucht es aber aus einer stärkeren Aufwallung des thie- rischen Instincts herzuleiten. Wäre dem so, dann müsste ich die Aeusserungen des Instincts über jene der freien Seele stellen, und das I) Burdach, Bau und Leben des Gehirns. Bd. II, S. 185 und Physio- logie. 1830. Bd. Il, S. 614. 2) Burdach, Physiologie. Bd, III, S. 614. 3*+ 36 Geistesklarheit vor dem Tode. Thier über den Menschen. Nur wer ohne Vorurtheil bei Sterbenden diese Erscheinungen wahrnimmt und den hohen Schwung des Geistes schaut, kann entscheiden, ob hierbei der Instinet, das Thier oder die frei werdende Seele das denkende, fühlende und handelnde Princip ist, welches, der untergehenden Sonne gleich, seine letzten Strahlen ent- sendet. \ Das Lebensalter übt keinen Einfluss auf den Eintritt dieser Auf- hellung des Geistes. Nach Romberg!) berichtet Scheuchzer von einem 109 Jahre zählenden Greise, der in den letzten Jahren seines Lebens blödsinnig geworden war und ein paar Tage vor dem Tode wieder vollständig zu sich kam: nach Eröffnung des Schädels fand man die Gehirnhäute verdichtet, das Gehirn sowohl von aussen als in den Gehirnhöhlen mit Wasser erfüllt und weicher als gewöhnlich. Eben so sind Zeit und Localität dabei ohne Einfluss. Bei den älte- sten Erzvätern geschieht bereits dieses Vorkommens Erwähnung; Ci- cero2) spricht davon, und bei den neueren Autoren findet man vielfach Fälle verzeichnet. Meine Erfahrung geht dahin, dass bei chronischem Irrsinn, wenn eine langsame Auszehrung eintritt, und die pathologischen Erscheinungen im Körper mehr einen chronischen nicht gerade intensiven Charakter zeigen, diese auffallende Erscheinung nur selten vermisst wird, und das kommt auch häufig bei anderen Krankheiten vor. Es lässt diese interessante Erscheinung höhere Kräfte der Seele durchschimmern, und dem aufmerksamen Beobachter eröffnet sie die wichtigsten Aussichten in die Zukunft. Wir entdecken aber hier sicherlich nur die kleinste Seite davon, und können mit Jean Paul?) ausrufen: Es giebt eine wichtige ungeheure Weltgeschichte, die der Sterbenden; aber hier auf der Erde werden uns ihre Blätter nicht aufgeschlagen. D) A. Marshall, Untersuchungen des Gehirns im Wahnsinne und in der Wasserscheu. Aus dem Englischen übersetzt von Romberg. Berlin 1819. S. 100. Anm, 2) De divinatione. Lib. I, Cap. 30. 3) Erinnerungen aus den schönsten Stunden meines Lebens. I. Der Instinct bei Pflanzen, bei Thieren und beim Menschen. Untersuchen und vergleichen wir die verschiedenen Reiche der Natur, so tritt uns ein Hauptunterschied zwischen den todten anorganischen und zwischen den belebten organischen Körpern entgegen, der darin besteht, dass die anorganischen nur ein Apparat von Theilen sind, deren keiner zur Erhaltung und Vollkommenheit des Ganzen unerlässlich ist, da vielmehr ein jeder für sich selbst besteht, wogegen bei den organischen Körpern jeder Theil dem Ganzen dienstbar und nach einem bestimmten Plane gelagert und organisirt ist, damit er seinen Zweck vollständig zu erfüllen vermag. Betrachten wir daher einen Organismus, sei es Pflanze oder Thier, genauer und ler- nen wir seine zusammensetzenden Theile, sowie die Art der Zusammensetzung kennen, so staunen wir zumeist über die hohe Zweckmässigkeit seiner Organisation, wodurch er zu allen jenen Verrichtungen, die zum Leben der Pflanze oder des Thiers gehören, ganz geschickt wird. Jeder Mensch überzeugt sich ohne Mühe von der hohen Zweckmässigkeit des eigenen Körpers, des Auges z. B., dieses unbegreiflichen Kunstwerks, wodurch wir in die genaueste Ver- ; 38 Vollkommenheit der Organismen. bindung mit der umgebenden Welt treten, deren Abdrücke uns durch das Auge gleichsam in die Seele hinein dringen, oder des Ohres, welches die feinsten Schwingungen der Luft aufnimmt und als Schall unserem Ich mittheilt. Oder soll ich auf die Fertigkeit und auf die Kraft unserer Hände hin- weisen, auf die so zweckmässige Festigkeit und Schnelligkeit | unserer Beine? Wo würde ich ein Ende finden, wollte ich in Einzelheiten eingehen! Diese Vollkommenheit des Körpers kommt dem ganzen organischen Reiche zu; bei jeder Pflanze, bei jedem Thiere ist dem Bedürfnisse ganz und gar Rechnung getragen, und eine gleich grosse Vollkommenheit findet sich in beiden Rei- chen. Wenn wir z.B. unsere Hand das vollkommenste Instru- ment nennen, welches bei keinem Thiere nach Form und leich- ter Bewegung, nach Fertigkeit und Kraft in gleicher Vollkom- menheit angetroffen wird, so passt diese Hand doch nur für unsern Körper und für unsere Lebensweise Das Pferd z. B. hat an seinen Hufen die geeignetsten Instrumente, um sich auf festem Boden zu bewegen, und unsere Hände würden dem Pferde keinen Nutzen bringen. Des Pferdes Hufe sowohl als unsere Hände würden nicht für den Löwen passen, der dann der Krallen, dieser wichtigsten Apparate zum Erhaschen der Beute und zur Erhaltung des Lebens, beraubt sein würde. Wir sehen daraus, dass jedem Thiere gerade dasjenige zu Theil geworden ist, wessen es zu seiner Lebensweise bedarf und was für dasselbe das Vollkommenste ist. Wollte ich weiter ausführen, wie das Alles zusammen- hängt, dass jeder Knochen, jeder Muskel im Fusse des Löwen ganz zum Greifen und zur Entfaltung grosser Kraft einge- richtet ist, dass jeder einzelne Theil im Fusse des Pferdes das Seinige mit dazu beiträgt, um Festigkeit und Schnelligkeit herbeizuführen, dass jeder Theil am Arme und an der Hand des Menschen auf Fertigkeit und Vollkommenheit berechnet ist, so würde ich damit erst die würdige Vorstellung von dem vollkommenen und kunstvollen Bau der thierischen Organis- men hervorrufen. Alles steht in so genauem Zusammenhange, Vollkommenheit der Organismen. 39 dass ein Cuvier nur ein kleines Knöchelchen eines ihm unbe- kannten Thieres verlangte, um in Gemässheit der feststehen- den allgemeinen Gesetze und der harmonischen Bildung aller Theile ein Urtheil über die Gesammtform des Thieres und über dessen Wesen abgeben zu können. Neue später gefun- dene Ueberreste eines solchen unbekannten Thieres haben dann auch mehrmals die Richtigkeit jener Ermittelungen aufs Glänzendste bestätigt. Die Tatze des Löwen z. B. weist auf ein fleischfressendes Thier hin, dieses verlangt aber ein beson- deres Gebiss und einen Körper, dessen Theile insgesammt für die erforderliche Schnelligkeit zum Verfolgen und für die nöthige Kraft zum Erfassen der Beute eingerichtet sein müs- sen, während mit den Sinnesorganen die Beute erspäht werden soll. Nicht bloss das Gebiss und die Tatzen müssen kräftig gebaut sein, um die Beute erfassen zu können, sondern in gleicher Weise auch der Kopf und der Nacken, um die Beute fortzutragen, und das Alles ist von der Form der Knochen und Muskeln abhängig; daher dann, wenn nur ein einzelner Knochen bekannt ist, auf die übrigen ein Schluss gemacht werden kann. Alles im Organismus steht in Harmonie zu _ einander, und das Ganze ist ein vollendetes Kunstwerk, wie es nur der vollkommenste Schöpfer zu schaffen vermochte, worin nichts mangelhaft, sondern alles vollkommen ist. Müssen wir die Allmacht und Weisheit des Schöpfers be- wundern, der Alles so vollkommen machte und unsere Erde mit so vielen sprechenden Beweisen seiner unendlichen Weis- heit erfüllte, so wird unser Erstaunen nur um so höher stei- gen, wenn wir bedenken, dass jegliches solches Kunstwerk, dass die Pflanze wie das Thier, aus einem kleinen Punkte, gleichsam aus einem Tüpfelchen hervorgeht, worin noch nichts von der Vortrefflichkeit des künftigen thierischen oder pflanz- lichen Organismus sich offenbart. Ein wunderbares Schöp- fungsvermögen führt uns die Meisterwerke des Allmächtigen täglich in Tausenden von Organismen vor, die aus einem kaum wahrnehmbaren Punkte mit solcher Vollkommenheit sich ent- wickeln. Vermag auch der Mensch nicht in die tieisten Ge- 40 Producte der Eientwickelung. heimnisse der Natur einzudringen, so sind wir doch ausreichend mit Kräften ausgestattet, die Wunderwerke der Schöpfung, wenn auch nur aus der Ferne, zu schauen und zu bewundern, und uns eine gewisse Vorstellung von der Allmacht und Weis- heit ihres grossen Urhebers zu machen. Es sei mir gestattet, die Zweckmässigkeit im Wirken der Lebenskraft bei der Formation des Organismus sowohl, als auch in Beziehung zur Psyche, das heisst als Instinct, der Be- trachtung zu unterziehen, und den Unterschied zwischen In- stincet und sittlichem Principe darzuthun. Im frischen Ei, z. B. vom Huhne, finden wir das Eiweiss und den gelben Dotter, und daneben noch einige zarte Häut- chen und andere Theile, auf deren Beschreibung ich mich hier nicht einlassen will. Vergleichen wir damit das Ei vom Pfau, von der Gans, vom Schwane, so bemerken wir wohl Verschie- denheiten in der Grösse und auch in der Beschaffenheit der Schale, die innere Anordnung dagegen und selbst die Masse ist bei allen fast die nämliche, denn der Geschmack, der die Bestandtheile auf so feine Weise zu unterscheiden im Stande ist, lässt uns nur ganz geringe Unterschiede auffinden. Werden diese Eier der natürlichen oder auch der künstlichen Wärme ausgesetzt, so entwickelt sich in jedem ein Küchlein, dessen sämmtliche Theile genau mit der Form des besonderen Thieres harmoniren. Wie verschieden nimmt sich aber das Gänschen, der Pfau, das Hühnchen, der Schwan aus, wenn wir die Füss- chen oder wenn wir die ganze Körperform in Betrachtung ziehen. Von diesen Verschiedenheiten war im Ei selbst nichts wahrzunehmen, und Niemand würde darin den Grund der späteren Differenz auffinden können !. Es kommt also auf 1) Als ich Froscheier bei sehr starker Vergrösserung mikroskopisch untersuchte, war ich erstaunt, dieselben ganz eben so gestaltet zu fin- den, wie in der gekrönten Abhandlung Bischoff’s (Entwickelungsge- schichte des Kanincheneies. Braunschweig, 1842) die Kanincheneier so schön abgebildet sind. Wollte ich Abbildungen von Froscheiern geben, Schöneres und Genaueres könnte ich nicht bringen, als jene Abbil- dungen des Kanincheneies. Producte der Eientwickelung. 41 die zur Wirksamkeit gelangten Lebenskräfte an, die im Ei schlummerten, und nicht bloss das Küchlein und den Vogel hervorbrachten, sondern auch in jedem der verschiedenen Eier die besondere Vogelart mit der entsprechenden Form setzten, so dass sich im ferneren Wachsthume die specifische Gestal- tung, die Kräfte und Triebe entwickeln, die zur Lebensweise einer jeden Vogelart erforderlich sind. Vergleichen wir ferner ein unbefruchtetes Ei mit einem befruchteten des nämlichen Vogels, so finden wir zuerst ganz und gar keine Verschiedenheit in der Masse, und doch ent- steht aus dem letztern ein vollkommenes Thier, aus dem ersteren dagegen geht nur Verwesung und Zerstörung hervor. Es liegt also nicht sowohl eine verschiedenartige Materie zu Grunde, wenn verschiedene Formen und Kräfte herauskom- men, sondern eine verschiedenartige Lebenskraft waltet ob, die für jede Thierart so berechnet ist, dass sie, nach unwandel- baren einstmals von der Allmacht festgestellten Gesetzen wir- kend, diese grossartigen Producte, diese Meisterwerke einer vollkommenen Organisation hervorbringt. Im Eiweiss oder im Dotter ist noch nichts vorhanden, was mit Knochen, Mus- keln, Gefässen, Nerven, Hirnsubstanz und was sonst im künf- tigen Thiere vorkommt, Aehnlichkeit hätte. Die Lebenskraft producirt dies Alles aus jenen einfachen Materien, ohne ein sichtbares Modell zu benutzen, und dabei wirkt sie so zweck- voll, dass Alles nach jenem unsichtbaren vollendeten Plane in der Entwickelung fortschreitet, und alle Theile nicht nur die richtige Form bekommen, sondern auch, wie nach höherer mathematischer Berechnung, die rechte Stelle einnehmen. Ich überlasse es dem strengen Materialisten, die hierbei in einander greifenden Ursachen und Wirkungen in ihrer Reihen- folge festzustellen und ihren wechselseitigen Zusammenhang nachzuweisen. Aber vergeblich wird er den Versuch wagen, aus verschiedenen Arten von Eiweiss oder Dottersubstanz, aus Elektrieität oder Galvanısmus den Grund heraus zu finden, warum das junge Entchen alsbald im Wasser schwimmt, das Küchlein dagegen das Wasser meidet. 42 Ursprünglicher Bildungstypus. Bedenken wir nun, dass bei jeder Thierart diese specifi- sche Wirkungs- und Gestaltungsweise in der nämlichen Art sich wiederholt im Wachsthum des Körpers, in der Entwicke- lung seiner Eigenschaften und Fähigkeiten, sowie in der Er- weckung des Vermögens, diese Lebenskraft durch Reihen von Individuen hindurch fortzupflanzen und zu verewigen, erwägen wir, dass bei den auf einander folgenden Gliedern diese Schaffungsgesetze unabänderlich fortbestehen, und niemals aus einem Pfau eine Gans, aus einem Huhn ein Schwan wird, so müssen wir wohl zu dem Schlusse kommen, dass die Lebens- kraft jeder Thierart bei der ursprünglichen Erschaffung einer unwandelbaren Gesetzmässigkeit unterworfen wurde, und dass derselben eine sichere und zweckmässige Wirkungsweise zu Theil wurde, kraft deren das einzelne Individuum immer nach seinem besonderen Bedürfnisse sich gestaltet. Ohne eine sicht- bare Ursache pflanzt sich die entsprechende Form des Körpers, pflanzen sich dessen Eigenschaften und Triebe von einem Ge- schlechte zum anderen fort, ohne dass im Verlaufe der Jahr- hunderte eine allgemeine Veränderung oder Modification vor- gekommen ist. Dadurch erhalten sich bestimmte Arten im Verlaufe der Zeit durch Fortpflanzung und die Ordnung der Natur bleibt unverändert. Was von einer einzelnen Art gilt, das gilt auch von allen übrigen Arten, nicht bloss des Thierreichs, sondern auch des Pflanzenreichs; denn auch bei den Pflanzen theilen sich die Eigenschaften und Formen aufs Genaueste den nachfolgenden Geschlechtern mit. Nun berechnen die Botaniker die Zahl der über unsere Erde verbreiteten Pflanzen gegenwärtig etwa auf 200000 Arten; und wer zählt die Thierarten, von den kleinsten das Wasser des Meeres und der Flüsse Bewohnen- den bis hinauf zum Menschen! Der Ursprung aller geht in einem aufsteigenden Stammbaume oder in einer Stammlinie bis zur ersten Schöpfung zurück, wo sie als solche auftraten. Also mehrere Hunderttausende Arten von Pflanzen und Thie- ren, gleich viele verschiedenartige Aeusserungen der Lebens- kraft, gleich viele zweckentsprechende eigenthümliche Gesetze Ursprünglicher Bildungstypus. 43 derselben, die aufs Genaueste für jede Art berechnet und auch der Form und den Eigenschaften des späteren Organismus angepasst sind, obwohl diese Eigenschaften keineswegs immer sogleich auftreten, sondern vielfältig in einer späteren Lebens- periode des individuellen Organismus, je nach den specifischen Eigenthümlichkeiten, sich entwickeln. Und nun denke man sich, dass der erhabene Wille des Allmächtigen diese millionen- fach modificirte, für jede Art des organischen Reichs nach ge- nau berechneten Gesetzen wirkende Lebenskraft durch sein Machtwort: es werde, in die Erscheinung gerufen und durch alle folgende Jahrhunderte unverändert erhalten hat. — Keines Menschen angestrengter Fleiss, kein Menschenleben reicht aus, alle Vollkommenheiten unseres eigenen Körpers zu ergründen. Wie gross ist nicht der Abstand zwischen dem Menschen und Ihm, der dies alles mit Voraussicht aus dem Nichts erschuf, das Gesetz des Waltens vorschrieb und so die Erde zum Ab- bilde seiner Vollkommenheit machte. Diese erhabene Auffassung, wird man vielleicht einwenden, ist aber nicht in der Wahrheit begründet, denn die Materie variirt in verschiedenen Körpern und deren Theilen, und sie ‘ist doch die Ursache der verschiedenen Kraftäusserungen. Es erzeugt die Lebenskraft im Eie noch keine Erscheinungen von A Muskelbewegung, vielmehr verlangt Muskelkraft das Vorhan- densein von Muskeln und Nervenkraft verlangt Nerven; somit ist die Materie Bedingung der Kraft, und eins entwickelt sich aus dem andern. Ist es denn aber nicht die Lebenskraft, wel- che in den verschiedenen Theilen verschiedene Materie schafft und die specifisch eigenthümliche Entwickelung jedes be- stimmten thierischen oder pflanzlichen Organismus herbei- führt? und erfolgt diese Entwickelung nicht für jede Art auf eine besondere, von der Allmacht vorgeschriebene Weise? Ist es anderer Seits nicht die gleiche Frucht, der gleiche Apfel, von der sich die Wespe und der Afie, ja auch der Mensch ernäh- ren kann? oder können wir im Grase unserer Wiesen die ver- schiedenen Bestandtheile finden, die im Pferde, in der Kuh, im Schafe, in der Ziege, in der Gans angetroffen werden? Werden 44 Ursprünglicher Bildungstypus. nicht durch das gesetzmässige Walten der den verschiedenen In- dividuen zugewiesenen Kräfte die verschiedenen Körper aus dem nämlichen Stoffe geformt, genährt und erhalten? Bleibt nicht der menschliche Körper nach Form und Bestandtheilen un- verändert, wenngleich der Eskimo Fische und Thran, der Hindu Früchte verzehrt, der Arme mit Kartoffeln, Brot und Wasser sein Leben fristet, während der Reiche die gewählte- sten Speisen zu sich nimmt ? Kommt es zu Modificationen der Kraft, nicht aber der Materie, so gewahren wir auch alsbald eine veränderte Wir- kung. Durch Vereinigung des Pferdes mit dem Esel wird die Lebenskraft umgeändert und es tritt im Maulesel eine neue Form hervor. Soll man sich denken, dass bei dieser Vereini- gung die materielle Grundlage der Ohren vom Esel ans Pferd übergeht? Ist dies möglich, nachdem die Untersuchungen der Naturforscher dargelegt haben, dass der erste Keim, woraus das Pferd sich entwickelt, ein mit blossem Auge kaum sichtbares Bläschen ist? Dieses Bläschen aber hat bei allen Thieren die nämliche Grösse, ist beim Pferde und beim Men- schen nicht grösser als beim Insecte, so dass die individuellen Verschiedenheiten nicht aus der Materie herzuleiten sind, son- dern nur aus der individuellen Lebenskraft, welche die Ma- terie bearbeitet, umsetzt und zu einem gleichartigen Indivi- duum umwandelt. So viele Thier- und Pflanzenarten unsere Erde bewohnen, eben so viele different wirkende Lebenskräfte wurden bei der Schöpfung durch die Allmacht ins Dasein gerufen. Will man darin nur Modificationen Einer Kraft finden, so sind doch diese Modificationen eben so unveränderlich, wie die unter- schiedenen Gattungen und Arten der Thiere, die ja nur Pro- ducte jener Lebenskräfte sind: wir wären dann gleichberech- tigt, das Pferd als eine Modification der Kuh anzusehen. Die Unveränderlichkeit der individuellen Lebenskräfte, die sich seit der Schöpfung bis auf unsere Tage von einem Individuum aufs andere fortgepflanzt hat, sichert die Ordnung in der Na- tur, so dass noch immer aus einem kaum sichtbaren Punkte, Pflanzenentwickelung. 45 aus einem mikroskopischen Bläschen ein Product sich ent- wickelt, welches gleich vollkommen ist, wie das aus der Hand des Allmächtigen unmittelbar hervorgegangene. Hat sich auch die Materie tausend Male umgeändert, so hat doch die Kraft, welche vom Unendlichen an diese Materie gebunden wurde, im Laufe der Jahrhunderte mit unveränderter Gesetz- mässigkeit ihr Schaffen fortgesetzt. Die ehrfurchtsvolle Bewunderung, zu der wir hierdurch aufgefordert werden, muss nur immer mehr zunehmen, wenn wir der Vollkommenheit und höchsten Zweckmässigkeit jener Gesetze, wonach die Lebenskraft in jeder organischen Art sich bethätigt, näher nachforschen und sie in der aufsteigenden Reihe der organischen Wesen einer Vergleichung unterziehen. Die Pfianzen, diese niedrigeren organischen Wesen, sind gewiss ganz vollkommene Bildungen; jede Pflanze erreicht ihr Ziel, und sie besitzt Alles, was hierzu nöthig ist. Aber die Pflanzen zeigen noch keine Kunsttriebe, die wir bei den Thie- ren in der Form des Instincts so sehr bewundern; ihnen fehlt das Bewusstsein, die Willkür. Mit den beiden letzteren tritt uns ein neues Vermögen, ein psychisches Princip entgegen, welches von der eigentlichen Lebenskraft verschieden ist und zuerst bei den Thieren im Reiche der Schöpfung auftritt. Bei den Pflanzen haben wir also nur die Lebenskraft, welche be- wusstlos nach immanenten Gesetzen in der Materie wirkt und formt, und in deren Wirkung allerdings keine geringere Zweck- mässigkeit und eine gleich unbegreifliche Weisheit sich kund giebt, wie im Instincte der Thiere. Spalten wir eine Erbse oder eine Bohne, so finden wir darin einen kleinen kaum sichtbaren Keim, woraus sich die künftige Pflanze entwickeln soll. Erbse und Bohne sind nicht selbst der Same, sondern nur eine Mitgift des kleinen Kei- mes, woraus dieser seine erste Nahrung bekommt, bevor noch das Würzelchen getrieben hat; deshalb führen alle Samen und Früchte so vielen Nährstoff, gleichwie auch das Vogelei die zur Entwickelung des Jungen nöthige Menge von Nähr- stoffen umschliesst. In diesem kleinen Pflanzenkeime ruht die 46 Pflanzenentwickelung. Lebenskraft und wird unter günstigen Einflüssen in Thätig- keit versetzt, so dass das Wachsen und die fernere Ausbildung der Pflanze nach einem für diese Art höchst zweckmässigen Plane vor sich geht. Diese Lebenskraft begreift auch die An- lage, um aus den aufgesaugten Substanzen Wurzeln und Sten- gel, Blätter und Blumen zu formen, gleichwie nach einem un- sichtbaren inneren Modell, von dem wir im Keime noch keine Spur finden. Jede Pflanzenart erlangt aber die Form, die ihrer Bestimmung angemessen ist, ein Theil nach dem andern entwickelt sich zur Vollkommenheit. Der Stengel wächst in die Höhe, in Festigkeit und Länge auf die Last berechnet, die er zu tragen hat, und ist diese zu gross, dann kommt ihm die Natur zu Hülfe durch besondere für diesen Zweck bestimmte Organe, wie wir denn z. B. an unseren Erbspflanzen oder an den jungen noch nicht hinlänglich festen Trieben des Wein- stockesrankende Fäden auftreten sehen, womit sich die Pflanze an anderen Gegenständen anheften und befestigen kann. In den Blättern lagert sich die Materie in grösster Breite ab, um Luft, Licht und Feuchtigkeit aufzunehmen. Wo sollte ich aber aufhören, wollte ich die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit und Pracht der Blumen und die zum Behufe der Befruchtung getroffenen Einrichtungen hervorheben, so wie die schützen- den Vorkehrungen gegen Kälte und schädliche Einflüsse, oder wollte ich die kunstreichen Organisationen an den Samen auf- zählen, die bald durch eine harte Schale, bald durch ein stacheliges oder, wie der Mohn, durch ein gifthaltiges Samen- gehäuse geschützt werden, so dass die Samen nach der Reife bald wie durch kleine Flügel oder Federn vom Winde fortge- führt oder durch elastische Samenkapseln fortgeschleudert und ausgebreitet werden und in den Boden eindringen. Im Keime kann man von den späteren zweckmässigen Formen der Sten- gel, der Blätter, der Blumen, der Samen eben so wenig eine Spur entdecken, als sich im Keimbläschen des thierischen Eies die späteren Eigenschaften und Triebe des Thieres kund geben. Also auch bei den Pflanzen, gleichwie bei den Thieren, Örganischer Instinct. 47 wird es nicht durch die Verschiedenartigkeit der Materie, son- dern durch die ungleichartige Lebenskraft bedingt, dass jedes Individuum seinem Charakter und seiner Art entsprechend sich entwickelt, selbst auch in einem fremden Boden, dass ver- schiedenartige Pflanzen in dem nämlichen Wasser wachsen, dass der Birnbaum seinen Charakter nicht verliert, wenn er auch auf den Weissdorn geimpft wurde, der ihm seine Säfte zuschickt. Die Lebenskraft schreitet somit auch bei den Pflan- zen auf der einmal vorgeschriebenen Bahn fort, und bei jeder folgenden Generation wiederholt sie den nämlichen Kreis von Wirksamkeiten mit der nämlichen Genauigkeit und Ordnung, wie die Erde ihre jährliche Bahn um die Sonne vollendet. Bei jeder Pflanzenart ist das Walten der Lebenskraft mit soviel Weisheit und Umsicht geordnet, dass der natürliche Einfluss von Klima, Himmelsstrich, Kälte, Hitze und Jahres- zeiten, ja selbst zufällige schädliche Ursachen, nicht vergessen sind, und wir dürfen mit dem scharfsinnigen Autenrieth!) einen organischen oder vegetativen Instinct darin fin- den, der sich vom thierischen Instinete darin unterscheidet, dass die Willkür und das psychische Vermögen dabei nicht mit im Spiele sind. Das Zweckdienliche der Wirksamkeit tritt in beiderlei Fällen in gleicher Weise hervor. Diesen organischen Instinct finden wir auch bei den Thieren; denn bei ihnen äussert sich die Lebenskraft mit gleicher Pünktlichkeit und Vollkommenheit in der Ausbildung des Körpers, und zwar vom ersten Beginnen der Frucht an bis zum höchsten Alter. Diesem zweckdienlichen Wirken der Lebenskraft, dem organischen Instincte, verdanken wir die Aufnahme von Nahrung, das Athmen, den Blutumlauf, das Wachsthum, und alle diese Functionen gehen, wir mögen wollen oder nicht, auf die vollkommenste Weise von Statten. Dieses organische Walten der Lebenskraft ist eben so sehr 1) Joh. Heinr. Ferdinand Autenrieth, Ansichten über Natur- und Seelenleben, herausgegeben von Hermann Friedr. Autenrieth. Stuttgart und Augsburg. 1836. S. 222. - 48 Örganischer Instinet. für die Zukunft berechnet, wie manche thierische Instincte, und für jede Thierart ganz zweckentsprechend. Ich will nur Ein Beispiel auswählen, worin der Zweck nicht zu ver- kennen ist. Die Bildung des Eies beim Vogel ist lediglich das Product der Lebenskraft, Bewusstsein und Wille vermögen dabei weder etwas wegzunehmen noch anzufügen. Diese Eier sind bei manchen Vögeln im Verhältniss zum gesammten Körper grösser, bei anderen wieder kleiner, und bei einer oberfläch- lichen Betrachtung lässt sich in diesem scheinbar zufälligen Unterschiede kein besonderer Zweck vermuthen. Allein je grösser das Ei ist, je mehr Nährstoff für das Küchlein es ent- hält, desto länger muss es gebrütet werden, und um so voll- kommener ausgebildet verlässt dann auch das Küchlein das Ei. Dabei macht sich noch die sorgliche Bestimmung geltend, dass die Jungen von allen jenen Vögeln, die auf dem ebenen Boden nisten, von Huhn, Gans, Schwan, Kibitz, gleich nach dem Ausschlüpfen aus dem Eie das Nest verlassen und laufen und schwimmen können, wogegen die Jungen ‚jener, die auf Felsen, Bäumen und Dächern nisten, also die Raub- und Sing- vögel, die Tauben u. s. w., nackt und blind zur Welt kommen und noch nicht stehen können. Vermöchten die letztern gleich nach dem Auskriechen zu laufen, sie würden, wenn sie das Nest verliessen, herunter fallen und zerschmettert werden; sie können aber erst dann, wenn sie fliegen können, von ihren Beinen Gebrauch machen. Der einfache Grund dieser so be- deutungsvollen Verschiedenheit ist der, dass die erstgenannten Vögel grössere Eier legen, wehalb ihre Jungen bei der grösse- ren Menge von Nährstoff und bei einem längeren Brüten das Ei im vollkommneren Zustande verlassen, dass dagegen die in Höhen nistenden kleinere Eier legen. Die Taube ist zwar grösser als der Kibitz, legt aber doch ein kleineres Ei. Lässt sich hierbei die vorsichtige Sorge für die Zukunft verkennen, wenn bei jeder Vogelart die Lebenskraft als organischer In- stinet die Eier grösser oder kleiner formt, je nachdem die Lebensweise des Vogels und seine Nistungsstelle eine mehr Thierischer Instinet. 49 oder weniger weit vorgeschrittene Entwickelung der Jungen verlangt! Den Thieren, die sich bewegen, die ihr Futter suchen und sich schützen müssen und für die Nachkommenschaft Sorge zu tragen haben, konnte ein organischer blindlings wirkender Instinet nicht mehr unter allen Umständen genügen; bei ihnen machte sich eiu mehr selbständiges, specifisches Wirken nöthig, eine psychische Thätigkeit, wodurch die Lebenskraft oder der Instinct mehr oder weniger nach den besonderen Umständen sich regeln liess. Die Pflanze findet ihre Nahrung immer im Boden, aus dem die Wurzeln sie aufzusaugen ver- mögen; beim Thiere reichte es nicht aus, wenn die Lebens- kraft das Hungergefühl erweckt, vielmehr musste ihm auch das Vermögen zukommen, die Nahrung oder die Beute aufzu- suchen, zu verfolgen und zu ergreifen, das Thier musste, nicht gebunden an eine blinde Führung, mit einer gewissen Auswahl nach den besonderen Umständen sich einrichten können. So wird die psychische Thätigkeit ein unerlässliches Hülfsmittel für das instinetive Handeln der Thiere, steht ganz und gar im Dienste dieses Instinets und hat die Erhaltung des individuel- len Lebens und die Fortpflanzung zum Zwecke. Wenn die Schwalbe durch den Instinet zum Bauen eines kunstvollen Nestes getrieben wird, so weiss sie durch ihr psychisches Ver- mögen den besten Platz dafür ausfindig zu machen, und durch ihr Gedächtniss ist sie in den Stand gesetzt, das Nest, welches sie verliess, wieder aufzufinden. Beim thierischen Instincete haben wir es aber nicht bloss mit bestimmten Neigungen zu thun, die im psychischen Prin- cipe durch die Lebenskraft hervorgerufen werden, sondern das psychische Princip scheint auch zugleich die Fähigkeit mit zu begreifen, Kunstproducte hervorzubringen, — wie denn die Biene ihre Zellen baut, der Biber seine Wohnung. Eine Ein- wirkung der Lebenskraft auf das psychische Prineip scheint hierzu den Anstoss zu geben; die Ausführung dagegen, sowie deren Modificationen je nach den Umständen, setzt eine eigen- thümliche Befähigung des psychischen Princips voraus. Die Schroeder van der Kolk, seele und Leib. 4 50 Thierischer Instinct. Bienen bauen nicht fortwährend Zellen, die Vögel nicht fort- während Nester, sondern nur dann, wenn ein innerer Reiz sie dazu antreibt. Es beruht der organische Instinct in der durch immanente Gesetze bedingten zweckdienlichen Einwirkung der Lebens- kraft auf die Materie und auf den Körper, wodurch letzterer seine entsprechende Form. bekommt, wächst und lebt; beim thierischen Instincte dagegen haben wir eine zweckdienliche und wohl berechnete Einwirkung der nämlichen Lebenskraft auf den Geist oder auf das psychische Vermögen, damit den Bedürf- nissen des lebenden Geschöpfs Genüge geschieht. So besitzen denn die Thiere den eingebornen, unwillkürlichen Trieb oder die Fertigkeit, zum eigenen Besten oder auch zum Nutzen der Nachkommenschaft bestimmte Handlungen vorzunehmen oder Kunstwerke hervor zu bringen. Der Instinct ist kein Product des thierischen Verstandes, er ist nicht aus Ueberlegung her- vorgegangen, er ist keine durch mancherlei misslungene Ver- suche gewonnene Erfahrung. Das Thier nimmt keine Versuche vor, um die Natur zu erforschen oder um Wissenschaft und Kenntnisse zu fördern, — das ist Menschenart; unwillkürlich und ohne weiter die Zweckmässigkeit zu prüfen, oder in der Wahl der Mittel stutzig zu sein, folgt es dem Plane, der ihm durch seine Natur gleichsam im Voraus entworfen wurde, und dadurch ist es in den Stand gesetzt, mit einfachen Hülfsmit- mitteln Kunstwerke zu produciren, mit denen es der Men- schenverstand und menschlicher Kunstsinn nicht aufzunehmen vermag. Dabei hat aber die umfassende und vorschauende Weisheit des Schöpfers den Instinet so zweckdienlich einge- richtet, dass er, auch ohne Eingreifen des psychischen Ver- mögens der Thiere, den Umständen sich anpasst und sich mehr oder weniger modificirt. Das psychische Vermögen der Thiere ist übrigens, gleich dem Instincete, ganz und gar für ihre Bedürfnisse und ihre Lebensweise berechnet, und in diesem engen Kreise ist es ein mächtiges Unterstützungsmittel des Instinets. Der Instinet dient den Ä'hieren als unfehlbarer Führer bei ihren Verrrich- Thierischer Instinct. 51 tungen, und in diesem engen Kreise verräth ihr psychisches Wirken manchmal grosse Schärfe und Feinheit, während in dem, was ausser diesem instinctiven Bereiche liegt, auffallen- der Stumpfsinn, Dummheit und unverständiges Gebahren sich kund giebt. Die Gluckhenne erkennt den Raubvogel, wenn er auch noch so hoch in der Luft fliegt und nur einem Punkte gleicht, und mit ängstlichem Rufe warnt sie die Küchlein; legt man ihr aber ein rundliches, wenn auch nur roh bear- beitetes Stück Kreide ins Nest, so brütet sie gleich sorgsam darauf, wie auf ihren eigenen Eiern. Im Naturzustande wird ihr eine solche Täuschung nicht leicht vorkommen können, und ihr Instinet und ihre Lebensweise sind nicht darauf be- rechnet; den Raubvogel dagegen hat sie in jenem Naturzu- stande tagtäglich zu fürchten. Desgleichen legen unsere Schmeissfliegen (Musca vomitoria und carnaria) die Eier in faulendes Fleisch und auf Aeser, worin die auskommenden Jungen eine mehr als ausreichende Nahrung finden. Durch den aashaften Geruch mancher in unseren Glashäusern ge- zogenen Pflanzen, der Stapelia variegata, Stapelia hirsuta und anderer, werden sie aber dazu verführt, ihre Eier auch in deren Blumen zu legen, und so müssen dann die Jungen aus Mangel an Nahrung insgesammt umkommen. Jene Pflanzen sind eben am Kap zu Hause, und der Instinct dieser Fliegen ist nur für unser Klima berechnet, wo sie keinen derartigen Missgriff in der Natur zu fürchten haben. Neben dem Ge- ruche besitzen also diese Thiere so geringes Wahrnehmungs- vermögen und Urtheil, dass sie nicht im Stande sind, nach dem ganzen Habitus und nach der Farbe ein Stück fauliges Fleisch von einer Blume zu unterscheiden. Verstehen wir also unter Instinet ein unwillkürliches und zweckmässiges Handeln, welches nicht durch den Verstand hervorgerufen wird, sondern durch Eigenschaften und Aeusse- rungen der Lebenskraft, deren Zutheilung der Schöpfer ge- mäss dem Bedürfniss jeder organischen Art mit höchster Weis- heit besorgte, so dürfen wir auch den Pflanzen den Instinct im weitesten Sinne nicht absprechen. Die Verschiedenheit 4% 52 Thierfangende Pflanzen. des Instinets in beiden organischen Reichen beruht nur auf der verschiedenartigen Ausführung und auf der Verschieden- artigkeit der hierzu benutzten Mittel. Bei den Pflanzen wirkt der organische Instinet unmittelbar auf die Materie, bei den Thieren trifft er auch das psychische Vermögen, gelangt somit zum Bewusstsein, und treibt die Thiere zur Ausführung be- stimmter Handlungen an. Das tritt noch deutlicher hervor, wenn wir die beiderlei Wirkungsweisen mit einander verglei- chen, und ich entnehme hierzu einige Beispiele aus der bereits erwähnten vortrefflichen Schrift von Autenrieth, worin die Wahrheit dieses Satzes nach meinem Dafürhalten auf über- zeugende Weise dargethan wurde. Bei mehreren Pflanzen finden sich Einrichtungen, um Wasser zu sammeln und Insecten zu fangen, fast ganz so, wie wir es bei Thieren kennen. Bei der gemeinen Weberdistel (Dipsacus fullonum) bilden um den Stamm herab die verwach- senen Blätter eine Art von Becken, welches sich mit Regen- wasser füllt. Noch entschiedener kommt das bei den in den nordamerikanischen Sümpfen wachsenden Sarracenia- Arten vor, so wie bei der Ceylonischen Nepenthes destillatoria. Hier finden sich eigenthümliche Behälter, worin in reichlicher Menge ein süssliches Wasser abgesondert wird, und dieses scheint viele Insecten anzulocken, die in Massen- darin ertrinken. Diese Behälter haben bewegliche Deckel, welche sich beim Regen und des Nachts beim Thauen schliessen, also zu Zeiten, wo die Insecten weniger umher fliegen; auch haben manche im Inneren Haare, die so gestellt sind, dass die Insecten zwar bequem in die verführerischen Behälter hineinkriechen, nicht leicht aber wieder herauskommen können. Reisende ver- sichern, dass durch die Fäulniss der solchergestalt ertrinken- : den Insecten oftmals ein Gestank sich entwickelt, der die ganze Umgebung erfüllt. Wie förderlich eine solche mit thie- rischen Zersetzungsproducten erfüllte Luft dem Wachsen der Pflanzen ist, weiss man hinlänglich. Bei anderen Pflanzen tritt der Zweck, Insecten zu fangen, in besonderen Apparaten noch entschiedener zu Tage, z. B. Thierfangende Pflanzen. 53 bei Dionaea muscipula, einer Sumpfpflanze in Carolina. An dieser Pflanze kommen eigenthümlich geformte, reizbare Blätt- chen vor, die mit Zähnen besetzt sind und durch ihre rothe Färbung sich auszeichnen, so dass sie schon von fern in die Augen fallen, und zum Ueberfluss sondern sie noch einen Saft ab, dem die Insecten eifrig nachzugehen scheinen. Wagt sich aber ein Insect auf ein solches Blatt, so klappt letzteres zu- sammen und hält das Insect mit den kleinen Zähnen fest, und wohl um so fester, je mehr das Thierchen zappelt, um loszu- kommen, bis endlich das Blatt sich wieder öffnet, wenn das todte Thierchen sich nicht mehr bewegt. Dass es sich hier- bei nicht um etwas Zufälliges, sondern um einen bestimmten Zweck handelt, davon hat man sich durch eigene Versuche überzeugt, deren bei Kirby und Spence!) Erwähnung ge- schieht. Eine Pflanze, auf deren Blätter feine Fleischfasern gelegt wurden, war viel üppiger im Wachsthum, als andere nicht so behandelte, sonst aber ganz gleich gehaltene. Die Zersetzungsproducte der Insecten dringen wahrscheinlich mit dem Regen in den Boden, oder werden auch wohl ohne Wei- teres aufgesaugt, und so düngen und nähren diese Pflanzen sich durch eigene Kraft. Etwas Aehnliches scheint auch bei dem hierländischen Sonnenthau (Drosera rotundifolia und longifolia) vorzukom- men. Diese Pflanze besitzt auch eigenthümliche rothe Blätter. die mit borstenartigen Haaren besetzt sind und einen klebri- gen Saft absondern. In der Wärme und im Sonnenschein krümmen sich diese Blätter, sobald sich ein Insect darauf setzt, und zuletzt hat sich das ganze Blatt umgeschlagen. Da aber ein darauf gesetztes Thierchen, z. B. eine Ameise, rascher zu Grunde geht, als es durch mechanische Verhältnisse ge- schehen könnte, so vermuthet Autenrieth (a. a. O0. S. 231), dass hier eine giftige Einwirkung mit im Spiele sein dürfte. Wir haben also an Pflanzen Vorrichtungen, womit diese durch organischen Instincet das Nämliche erreichen, was wir 1) Einleitung in die Entomovlogie. 1825. Bd. I, S. 324, 54 Thierische Wasserbehälter. auch bei Thieren wahrnehmen; wäre Willkür dabei, so würden wir einen ganz thierischen Instinct darin finden dürfen. Den- ken wir uns z. B. einen Behälter oder eine Art Futteral mit Fäden, die reizbar sind und ein Gift enthalten, wodurch In- secten getödtet werden, so haben wir einen Polypen, worin die Blattform von Sarracenia oder Nepenthes, die Reizbarkeit der Dionaea musecipula und das Gift der Drosera sich ver- einigt haben, mit dem Unterschiede indessen, dass der Polyp nicht bloss reizbar ist, sondern auch mit Willkür handelt. Er unterscheidet lebende Thierchen von todten und von orga- nischen Körperchen, und die letzteren rührt er nicht an, wäh- rend die Blätter der Dionaea sich schliessen, mag ein Holz- splitter oder ein lebendes Insect darauf kommen. Das Ansammeln von Feuchtigkeit, namentlich bei der in den heissen Zonen lebenden Nepenthes destillatoria, mag dem Gewächse selbst zum Vortheil gereichen. Dieser Zweck wird aber weit augenfälliger bei einigen Fischen durch den orga- nischen Instinct erreicht. Während nämlich die durch Kiemen athmenden Fische schnell absterben, wenn die Kiemen ein- trocknen und dadurch die Respiration ausfällt, findet sich im Osten der sogenannte kletternde Barsch (Anabas, Perca scan- dens), der nicht nur längere Zeit (bis zu 4 und 5 Tagen) ausserhalb des Wassers zu leben vermag, sondern selbst, nach der Versicherung mancher Reisender, mittelst beweglicher Stacheln auf Palmen hinauf klettert, namentlich auf solche, die in ihren futteralartigen Blättern Wasser anhäufen. Ueber den Kiemen dieses Fisches sind wasserhaltige Blasen angebracht, deren Wasser langsam austritt und die Kiemen befeuchtet )). Dergleichen Wasserbehälter finden sich auch beim Kameele im Magen, und dadurch wird das Thier befähigt, in den heissen Sandwüsten Afrikas das Wasser längere Zeit entbehren zu können. Bei dem Allem bleibt das Bewusstsein ausser Spiel; !) Milne Edwards, Elements de Zoologie. Bruxelles, 1837. p- 397. Fig. 274. — Autenrieth, Natur- und Seelenleben. S. 240. Thierischer und organischer Instinet. 55 wir haben es nur mit Producten des organischen Instincts zu thun. In Paraguay in Südamerika leben auf thonigem Boden, wohin die Ueberschwemmungen nicht reichen, Krebse, die sich bis 12 Fuss tiefe, nach unten immer weiter werdende Höhlen ausgraben, worin sich das Wasser selbst in der heissen Jah- reszeit erhält, weshalb sie ein ganz geeigneter Aufenthaltsort für diese Thiere sind (Autenrieth, S.241). Der amerikanische Biber arbeitet seine Wasserkammern mit noch mehr Geschick aus. In diesen Fällen sehen wir also den thierischen Instinct dasjenige ausführen, was in den vorher beigebrachten Beispie- len durch den organischen Instinct allein. ohne Mitwirkung des Willens, zu Stande kam. Die Uebereinstimmung des organischen Instinets mit dem thierischen giebt sich noch entschiedener in den Vorkehrun- gen gegen Hitze und Kälte kund, die bei Pflanzen wie bei Thieren vorkommen. Wenn viele Nachtschmetterlinge ihre Eier mit Haaren bedecken, die sie dem eigenen Körper ent- nehmen, wenn manche Raupen bei der Verpuppung ihr Pup- pengehäuse innen oder aussen mit Wolle oder Seide füttern, um sich gegen die Winterkälte zu schützen, obwohl der Winter mit seinen Schneeschauern noch nicht da ist, so leistet der thierische Instinet hier nur dasselbe, was der organische In- stinet an den Knospen unserer Bäume zu Stande bringt, deren spätere Sprossen durch dicke Schutzblätter bedeckt und ein- gehüllt werden. Bei der Buche liegen dieselben in grösserer Anzahl dicht auf einander und sind inwendig mit einer feinen Wolle gefüttert; bei der wilden Kastanie wird die Blattknospe und die künftige Blüthe von einer feinen Wolle umschlossen, und ausserdem sind auch die Schutzblätter noch mit einer harzigen Substanz bedeckt, wodurch die Knospe gegen das Eindringen von Wasser und gegen das Erfrieren geschützt wird. Den Zweck, durch dergleichen Vorrichtungen gegen die Winterkälte einen Schutz zu gewähren, kann man auch deutlich daraus entnehmen, dass bei den Gewächsen der 56 Thierischer und organischer Instinet. heissen Landstriche, wo kein Frost einwirken kann, dergleichen Schutzmittel der Knospen gar nicht vorkommen. Wie aber der organische Instinct bei der Kastanie sich kund giebt, so der thierische Instinct beim nordischen Kreuz- schnabel (Loxia curvirostra). Ganz gegen die Gewohnheit an- derer Vögel legt dieser im Januar, wenn die Erde mit Schnee bedeckt ist, seine Eier, weil jetzt die Samen der Tannenzapfen, womit die Jungen gefüttert werden, zu haben sind. Er be- deckt aber auch das Nest von aussen mit Harz, so dass kein Wasser eindringen kann, und darin ist ihm so wenig. wie der Kastanie, die Erfahrung zu Hülfe gekommen. Den Kreuz- schnabel bestimmt der eingeborne Drang der Lebenskraft, und durch sein psychisches Vermögen wird er veranlasst, sich einer fremden Substanz dabei zu bedienen, bei der Kastanie da- gegen bewirkt die Lebenskraft unmittelbar die Ausscheidung des Harzes aus den Säften und Knospen. Der Effect ist aber in beiden Fällen gleich zweckentsprechend und der besonderen Organisation angemessen. Die bekannte Weinbergsschnecke zieht sich im Herbste in ihre Schaale zurück, und aus ihrem Körper wird dann ein eige- ner Deckel, das sogenannte Epiphragma, abgesondert, welches die Oeffnung des Schneckenhauses deckt und das Thier wäh- rend des Winterschlafes gegen Kälte und Feinde schützt. Darin zeigt sich in gleicher Weise, wie bei der Kastanie, ein organisches und bewusstloses Wirken der Lebenskraft. Ist das nicht eben so bewundernswerth, und ist das nicht eben so gut Instinct, als wenn die Raupe vor ihrem Puppenschlafe das Nämliche vollführt, oder wenn sich eine in Frankreich vor- kommende Spinnenart aus Lehm und Spinnegewebe einen Deckel oder eine Art Fallthür vor ihrem Loche anbringt und ihn mit Fäden, gleichwie an einem Henkel aufhängt ? In allen angeführten Fällen offenbart sich uns ein beson- deres unerklärbares Verhalten der Lebenskraft, mag diese nun im pflanzlichen und thierischen Organismus unmittelbar auf die Materie einwirken, oder mag dadurch beim Thiere im Psy- chischen die angeborne Kunstfertigkeit angeregt und in Wirk- Modifieationen des organischen Instincts. 57 samkeit versetzt werden. Dieses eigenthümliche Verhalten der Lebenskraft wurde durch den Allmächtigen einmal einge- pflanzt, und bei allen folgenden Geschlechtern erhält es sich ohne alle Abänderung. Der Instinet der Thiere, wendet man ein, ist aber doch sehr verschieden von dem organischen, wenn auch noch so zweckmässigem Wirken der Pflanzen. Die Thiere sind ja nicht blosse Automaten, sie besitzen ein psychisches Vermögen und sind mit Willkür ausgestattet, so dass sie mit Bewusstsein den Umständen sich anschmiegen können, und das fehlt der orga- nischen Lebenskraft der Pflanzen wie der Thiere, deren Wir- ken ein unwandelbares durch die eingebornen Gesetze be- stimmtes ist. Ich kann dem nicht durchaus beistimmen. Wenn irgend wo, so müssen wir hier wieder die unerforschliche Weisheit und Vorsicht in der Natur bewundern. Der Schöpfer hat nicht nur jede organische Art mit einer zweckdienlichen Aeusserungsweise der Lebenskraft ausgestattet, sondern jener - Lebenskraft auch noch die unbegreifliche Eigenschaft zuer- theilt, je nach den Umständen und je nach den wechselnden Eindrücken die Aeusserungsweise auf zweckentsprechende Weise zu modificiren. Ich habe z. B. vorhin darauf hinge- wiesen, dass manche Pflanzen, deren Stengel nicht hinreichende Kraft besitzen, um das ganze Gewächs zu tragen, mit Ranken oder Cirrhen versehen sind, damit sie sich an der Umgebung anheften oder anklammern können, Wir lesen aber bei van Hall!), dass die nämlichen Gewächse, welche tiefer in den Thälern an hohen Gegenständen sich emporranken, in höheren Gegenden, z. B. in den Alpen, jene Ranken verlieren, weil sie bei einem üppigen hochgehenden Wuchse weit mehr von der Kälte und vom Winde zu leiden haben würden. Sie halten sich hier mehr am Boden, und aus den Ranken werden Blätter, die durch ihre grössere Oberfläche und ein gedrängteres Zu- 1) Redevoeringen over het plantenryk. Groningen, 1827. p. 16. 58 Modificationen des organischen Instincts. sammenwachsen der Pflanze selbst Schutz bringen, was auf der Höhe sehr wünschenswerth, ja fast unentbehrlich ist. Es ist allgemein bekannt, dass eine höhere Temperatur das Wachsthum bei Pflanzen, bei Thieren und auch beim Men- schen befördert, und brauche ich dies nicht durch besondere Beispiele zu belegen. Müssen wir es nun nicht als eine weise Fügung bewundern, dass, entgegen dieser allgemeinen Regel, das Haar, die Wolle und die Federn nicht in der Wärme, son- dern in der Kälte besser gedeihen, so dass die Thiere eine um so dichtere und mehr erwärmende Schutzhülle bekommen, je mehr sie der stärkeren Kälte wegen eines solchen Schutzes bedürftig sind ? Wir wissen ferner durch Versuche der Physiker, dass keine Farbe dem Durchtritte der Wärme so viele Hindernisse entgegenstellt, als die weisse, weshalb denn auch im Winter der weisse Schnee die Wärme des Bodens zurückhält, und weshalb auch weisse Kleider die Körperwärme am besten be- wahren, weil sie dem Austrahlen der Wärme hindernd entge- gen treten. Müssen wir da nicht von Neuem die unergründ- liche Zweckmässigkeit und feine Vorsorge darin bewundern, dass die Lebensäusserungen der Thiere durch die Kälte eine vollständige Umänderung erleiden, und im Norden das Haar bei den Säugethieren und die Federn bei vielen Vögeln nicht nur gedrängter und kräftiger wachsen, sondern auch die som- merliche Färbung verlieren und weiss werden? Hasen, Füchse und andere Säugethiere, gleichwie viele Vögel haben im Nor- den zur Winterszeit ein weisses Kleid, und während der Land- bär schwarz oder braun erscheint, ist der fortwährend auf dem kalten Eise lebende Fisbär ebenfalls immer weiss. Der Instinct, ein Product der Lebenskraft, kann sich nach Zeit und Umständen ganz ändern, wovon Burdach!) ein Bei- spiel beibringt. Das Schaf nämlich trägt 5 Monate, und es paart sich bei uns im October und November, so dass die Jungen im März und April junges Gras finden. Im südlichen !) Die Physiologie als Erfahrungswissenschaft. 1828. Bd.IT, S. 149. / k /) Pe Tu 3 | ED Ca HL Modificationen des organischen Instincts. 59 SS Europa dagegen taugt das Gras im November und December am besten zur Weide, und demgemäss paart sich das Schaf auch im Juni und Juli, obwohl es doch sicherlich die Zweck- mässigkeit hiervon nicht einsieht. Ein anderes Beispiel be- richtet ebenfalls Burdach!!) vom Schmetterlinge einer unserer Blattraupen. Derselbe hängt zu Anfang des Sommers seine Eier nur ganz locker an die Blätter der Bäume, und es krie- chen bald Räupchen aus, die sich im August einspinnen und auch wieder in Schmetterlinge verwandeln. Die neue Zucht legt später die Eier auch wohl wieder auf Blätter, die aber natürlich im Herbste abfallen. Deshalb umspinnt jetzt der Schmetterling das ganze Blatt nebst dem Stiele, so dass es nicht abfallen, ja selbst nicht durch einen starken Sturm abge- weht werden kann, weshalb auch manche Blätter den ganzen Winter hindurch hängen bleiben. Der Schmetterling verfährt also im Herbst anders, als seine Vorfahren im Frühjahre. Dieses Abfallen der Blätter konnte aber der Schmetterling doch nicht voraussehen, da er es noch nicht erlebt hat, und das Umspinnen kann er auch nicht von seinen Eltern erlernt haben, denn diese haben im Frühjahre nichts Aehnliches ge- than. — Hat der Vogel seine bestimmte Anzahl Eier gelegt, so - beginnt er zu brüten und legt keine Eier weiter; nimmt man ihm aber die Eier weg, so fängt er von Neuem an zu legen, obwohl die Bildung, das Wachsen und das Legen der Eier ganz und gar das Werk der Lebenskraft sind, worauf des Vogels Wille nicht hindernd einwirken kann. Dieses wunderbare Vermögen der Lebenskraft, unter un- gewöhnlichen Verhältnissen eine zweckentsprechende Verän- derung zu erleiden, tritt aber nirgends mit grösserer Inten- sität hervor, als im sogenannten Reproductionsvermögen, wofür ich nur zweierlei aus Autenrieth?) anführen will. Wird der Weinbergsschnecke der Kopf mit Schonung des sogenannten Gehirns weggeschnitten, so kann dieser Kopf ER Ms A 1) Die Physiologie als Erfahrungswissenschaft. 1828. Bd. II, S. 39. 2) Ansichten über Natur- und Seelenleben. 1836. * 5. 244 und 268. 60 Reproduction. wieder wachsen mitsammt den Fühlhörnern, den Augen und den anderen Apparaten, und zwar so vollkommen, dass man denselben vom Kopfe einer gewöhnlichen Schnecke nur durch die hellere Färbung zu unterscheiden vermag. Der Kopf bildet sich also hier nach dem Muster des früheren, der doch nicht mehr vorhanden ist. Wenn aber die Lebenskraft kein materielles Modell zu Grunde legen kann, so muss ihr ein dynamisches Modell zu Gebote stehen, d. h. es muss der Le- benskraft dieser Thiere die Eigenschaft zuertheilt sein, einen zweiten Kopf nach dem Modell des ersten zu reproduciren, aber nur erst dann, wenn jener verloren gegangen ist; denn sonst müsste die Schnecke zwei Köpfe bekommen. Wenn ferner einem Krebse die Füsse und Scheeren, oder auch nur Theile davon weggenommen werden, so reproduciren sich neue und zwar ganz gleiche, und es wächst keine Scheere an einer verkehrten Stelle, z. B. an einem Hinterfusse, obgleich der erste aus dem Stumpfe ausschwitzende plastische Stoff ganz gleich ist, mag nun ein Fuss oder eine Scheere daraus werden. Selbst wenn in unserem Körper ein Theil zerstört wird, wenn z. B. der mittlere Theil des Schienbeins in Folge einer Gewaltthätigkeit abstirbt, so werden die abgestorbenen Theile ausgestossen, und durch Absonderung neuer Knochen- masse wird manchmal ein ganz neuer Knochen producirt, ohne dass der Kranke etwas davon gewahrt, und ohne dass sein Wille etwas dazu beitragen kann, wenn er nur den Gang der Natur nicht stört. Ist denn nun die Reproduction des Schneckenkopfs oder der Krebsfüsse für weniger kunstvoll und zweckmässig zu er- achten, als wenn wir sehen, dass die Raupe ihr verdorbenes Gespinnst, der Vogel sein beschädigtes Nest nach dem näm- lichen Modell wieder ganz machen? Im letztern Falle scheint Ueberlegung und Verstand obzuwalten, die Sache ist aber keineswegs bewunderungswürdiger. In beiden Fällen wirkt die nämliche willenlose aber eingeborne Eigenschaft der Le- benskraft, mag diese entweder als organischer Instinet unmit- Psychisches Vermögen der Thiere. 61 telbar die Materie influiren, oder mag sie als thierischer In- stinet auf das psychische Vermögen einwirken. Wer erdreistet sich, bei allen diesen Wundern der Natur den Schleier weiter zu lüften, um bis zum tiefern Grunde, bis zur unerforschlichen Verknüpfung von Ursache und Wirkung vorzudringen? Wir können uns nur voller Ehrfurcht beugen vor der allwissenden Weisheit und Vorsicht des grossen Schöpfers, der Alles so vollkommen machte, und nicht bloss den vielen Tausenden verschiedener Pflanzen und Thiere je nach ihrer Art eine specifische zweckmässige Lebensäusserung zutheilte, sondern sogar gleichsam im Voraus den besten und sichersten Weg vorzeichnete, auf dem ihre Lebenskraft bei ungewöhnlichen Abweichungen und Zufällen einher zu schrei- ten hat. Wo indessen das Thier mit diesen Eigenschaften der or- ganischen Lebenskraft bei seinen verschiedenartigen Bedürf- nissen nicht mehr auskommen konnte, da schenkte ihm die Natur das psychische, der Willkür zugängige Vermögen als Ersatz für den Instinct, wodurch es in den Stand gesetzt wird, je nach den Umständen das Nothwendige auszuführen. Dieses psychische Vermögen wird durch den Instinet angespornt und wie durch eine unsichtbare Hand gelenkt und geleitet, und dabei ist es mit der nöthigen Kenntniss und mit den Fertig- keiten ausgerüstet, deren das Thier zur Erhaltung des Lebens bedarf, und die zur Herstellung seiner Kunstproducte erfor- derlich sind. Dieses psychische Vermögen verschafft dem Thiere jenes Maass von Freiheit und Willkür, jene Fähigkeit des Beobachtens, jene Ueberlegung und Erinnerung. wodurch es unter den wechselnden Umständen die Mittel seiner Sicher- stellung heraus zu finden im Stande ist. Weiter reicht aber auch der Verstand der Thiere nicht; unter allen ihren ver- schiedenen Vermögen tritt uns kein einziges entgegen, wo- durch über die Beschaffung und Sicherung der zeitlichen Exi- stenz hinaus gegangen würde. Ich komme nun zur letzten Frage, wofür ich Ihre geneigte Aufmerksamkeit noch einige Augenblicke in Anspruch nehmen 62 Instinet beim Menschen. darf. Finden wir das Nämliche auch beim Menschen? Wird der Mensch, gleich dem Thiere, durch den Instinct geleitet und gebunden, oder ist der Mensch ganz und gar frei, dass er da, wo das Thier durch eine unsichtbare Hand geleitet und vor Abirrung geschützt wird, sich selbst vollständig überlassen bleibt? Muss der Mensch durch seine höheren Verstandes- kräfte und durch die Erfahrung Alles lernen, um sich allein zu regieren, oder ist auch ihm ein unsichtbarer Genius zu Theil geworden, der ihn leiten und der seine Schritte lenken kann? —.Der Mensch, das höchste Geschöpf auf Erden, ver- einigt in sich Alles, was in der übrigen Schöpfung zerstreut vorkommt, und ausserdem hat er noch unendlich viel als be- sonderes Eigenthum empfangen. Was die Thiere besitzen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse, zur Sicherstellung ihrer zeitlichen Existenz, das ist auch dem Menschen nicht vorent- halten: seine Lebenskraft wirkt nicht minder in zweckdien- licher und vollendeter Weise, auch bei ihm entwickelt sich jeder Körpertheil aus dem ersten Keime mit Regelmässigkeit und nach den genauesten Proportionen, und er hat mit dem Thiere und mit der Pflanze den organischen Instincet gemein, vermöge dessen die Verdauung, der Säfteumlauf von statten gehen, vermöge dessen der Mensch, er mag wollen oder nicht, wächst und gedeiht. Auch der thierische Instinet fehlt dem Menschen nicht, er bestimmt ihn durch das Hunger- und Durstgefühl für seine Erhaltung zu sorgen, er giebt ihm den Antrieb zur Fortpflanzung, zur Erhaltung des Geschlechts und pflanzt ihm dieLiebe zur Nachkommenschaft ein; — mit einem Worte, der thierische Instinet vollbringt beim Menschen Alles, was seinem Verstande und seiner Willkür nicht überlassen werden durfte, ohne dass seine Freiheit dadurch gänzlich be- schränkt würde. Wir können z. B. die Stimme und die Spra- che modificiren, indem wir schneller oder langsamer athmen, die Luft ganz ausstossen oder anhalten, aber nur bis zu einem gewissen Grade; es kommt aber die nämliche Wirkungsweise auch ohne unseren Willen im Schlafe zu Stande, und zwar durch den organischen Instinct. Wir sind nicht im Stande, Instinet beim Menschen. 63 den Athem so lange anzuhalten, dass unser Leben dadurch bedroht werden könnte, und könnte es auch jemand durch ungewöhnliche Willensfähigkeit dahin bringen, so würde zu- nächst eine Ohnmacht eintreten, wo dann der verbrecherische Wille von selbst ausfiel und das Athmen sich wieder einstellte. Die Natur hat somit das Verbot des Selbstmords in uns selbst mit den stärksten Zügen niedergelegt. Gleich deutlich tritt uns diese Vorkehr beim Schlucken entgegen. Wir können willkürlich schlucken, so oft wir wol- len. Sobald aber der Bissen hinten in die Kehle kommt, wird der Luftcanal unwillkürlich verschlossen und gleichsam unter dem Bissen weggezogen, dass dieser nicht hinein fällt und Erstickung bewirkt. Eine solche Verschliessung der Luftwege darf aber nur kurze Zeit andauern, weil das Athmen dabei stillsteht, und aus diesem Grunde muss die einzelne Schluckbewegung rasch vorübergehen. In der That können wir einen solchen Schluck nicht verlangsamen oder hinaus- ziehen, sondern innerhalb des richtigen Zeitmaasses wird er beim Erwachsenen so gut wie beim Neugebornen beendigt. Es hängt somit von unserem Willen ab, wann wir schlucken wollen, die Zeit dagegen für die einzelne Schluckbewegung ist dem Willen vollständig entrückt und dem organischen In- stinete anheim gegeben. Selbst da, wo der Verstand nicht immer rasch genug zu einem bestimmten Entschluss kommen könnte, wird uns die Hülfe des Instinets zu Theil. Wenn Jemand erschrickt, ins Wasser fällt, oder durch eine plötzliche Gefahr bedroht wird, so führt er zunächst ganz unwillkürlich eine rasche und kräf- tige Einathmung aus; dadurch wird in einem Augenblicke die Brust und der Stamm fixirt und es werden die grossen Brust- muskeln gespannt, die dem Arme zumeist die Kraft verleihen und somit die vorzüglichsten Apparate zur Selbstvertheidigung sind. Bevor wir also nur noch daran denken, befindet sich der Körper im Zustande der Gegenwehr. Wir wissen das aber nicht und haben es auch nicht gelernt, sondern es ge- schieht ganz unwillkürlich durch den Instinct. 64 Geist des Menschen. Wir ersehen hieraus, und ich könnte es noch durch meh- rere Beispiele belegen, dass der Mensch gleich dem Thiere mit jenem Maasse organischen und thierischen Instinets aus- gestattet ist, dessen er zu seiner irdischen Existenz bedarf. Er empfing aber auch noch unendlich viel über das hinaus, dessen er lediglich zur Erhaltung des Lebens bedurfte. Wo das Thier endigt, da beginnt erst der Mensch. Die psychi- schen Vermögen des Thiers, die Erinnerung, die Einbildungs- kraft, eine gewisse Willkür, beschränken sich auf den engen Kreis seiner Gewohnheiten und des thierischen Bedürfnisses, sie sind nur Hülfsmittel des Instinets, in dessen Dienst sie stehen, und sie eignen sich nur dazu, dass sie durch die Ein- drücke des Instinets den Umständen entsprechend in Wirk- samkeit treten. Des Menschen Geist dagegen wirkt nicht nur frei und ungehindert, wir treffen beim Menschen auch neue und höhere Vermögen an, die Sprache und das Denkvermögen, wovon bei Thieren keine sichere Spuren vorkommen, so dass er die ihn umgebende Welt zu erforschen vermag, aus den Ursachen auf die Folgen und aus den Folgen auf die Ursachen schliesst und so, durch ein ihm eingebornes Gefühl geleitet, zur allgemeinen höchsten Ursache, zur Erkenntniss Gottes sich erhebt, oder mit Voraussicht über sein eigenes Ende und seinen Tod nachdenkt. Mit keinem angebornen Wissen ausgestattet, wohl aber mit der Fähigkeit viel zu lernen, wird der Mensch durch das Bedürfniss dazu geführt, den Geist zu üben und die höheren Verstandesvermögen auszubilden. Damit steht es im Ein- klange, dass kein Thier so langsam wächst als der Mensch, dass die Jugend, die bequemste Zeit zum Lernen, bei keinem Thiere gleich lange währt; denn der Mensch muss Alles ler- nen, das Thier dagegerf"bringt die nöthigen Kenntnisse mit. Hierin tritt uns schon die verschiedene Bestimmung beider entgegen: das Thier lebt den Bedürfnissen seines Körpers, der Mensch lebt seinem Geiste. Sollte der Mensch seine höheren Verstandesvermögen entwickeln, dann durfte sein Geist nicht durch den thierischen Instinet als unwandelbare Richt- Sittliche Natur, 65 schnur gebunden und bestimmt werden: ermangelt er auch des unfehlbaren Führers, den die Thiere besitzen, und verfällt er wiederholt in Irrsal, so wird doch hierdurch der Verstand und der Geist geübt, und irrt er in seiner Wahl, so hat er doch die Freiheit zu wählen, die dem Thiere nicht verliehen ist. Er ist nicht mehr das Kind am Gängelbande der Natur, er ist der Erwachsene, der sich selbst zu führen erlernen muss. Sollte aber der Mensch auf dieser hohen Stufe seine Frei- heit behaupten und sich über das Thier erheben, so musste er auch seinen eigenen Neigungen und dem Einflusse des Instincts, den er mit dem Thiere gemein hat und wodurch dieses willen- los beherrscht wird, Schranken anlegen können, er musste, durch Verstand und Vernunft. geleitet, unabhängig von kör- perlichen Eindrücken und von Neigungen da stehen, er musste die Herrschaft über sich selbst bekommen. Nur dadurch konnte er die hohe sittliche und Denkfreiheit erlangen, die nirgends sonst im Thierreiche angetroffen wird. Wenn indessen der Mensch kein höheres Gesetz kennte, wenn ihm keine andere Richtschnur des Handelns gegeben wäre, als das sinnliche Interesse ihm vorschreibt und die Selbstsucht ihm eingiebt, so würde er das verwildertste Ge- schöpf werden, -und seine Freiheit würde in vernunftlose und unbändige Rohheit entarten. Die weise Vorsicht kam hier wiederum zu Hülfe, denn auf dem hohen Standpunkte, wohin sie den Menschen stellte, schenkte sie ihm auch einen höheren, einen edlen Schutzgeist, gleichsam einen psychischen Instinct, der dem Thiere vorenthalten wurde, nämlich die Sittlichkeit, die Anlage zur Tugend, das Gefühl fürs Wahre und Gute, wo- durch seiner geistigen Freiheit keine Schranke auferlegt wurde, und welchem treuen unfehlbaren Führer er unter allen Umständen des Lebens sich getrost anvertrauen darf. Diese sittliche Natur muss aber die ungetheilte Herrschaft erlangen, sie muss nicht bloss die Instinete beherrschen, die beim Men- schen wie beim Thiere vorkommen, sondern auch die höheren Vermögen müssen ihr unterthan sein; mit einem Worte, der Schroeder van der Kolk, Seele und Leib. 5 66 Sittliche Natur. Mensch muss Alles dem an sich Guten, dem unbedingt Guten unterstellen, und dieses höchste Gute ist der feste und edle Wille. Die sittliche Natur, welche in ihrem hohen Adel und in ihrer Gesinnung den himmlischen Ursprung ver- räth und weit über den thierischen Instinet erhaben ist, hat aber mit diesem das gemein, dass sie unwillkürlich wirkt und eingeboren ist. Sie ist nicht die Frucht des menschlichen Verstandes, nicht hervorgegangen aus dem Erproben dessen, was angenehm und vortheilhaft ist, und befindet sich oftmals im Streite mit unserem Willen, mit unseren Neigungen, ja selbst mit unseren irdischen Interessen. Auch ist sie nicht ein Product der Erziehung, denn selbst beim rohesten Natur- menschen wird sie nicht ganz vermisst. Wir lernen sie nicht erst in der Religionslehre kennen, sie ist aber deren alleinige Bedingung, da diese höchste Blüthe der Humanität nur auf diesem Boden treiben kann. Der Gottesdienst, der auch nicht einmal spurweise bei den Thieren vorkommt, ist nicht sowohl die Ursache unseres sittlichen Gefühls, als vielmehr das Mit- tel, dasselbe zu wecken, zu erhöhen und zu veredeln, und unser christlicher Gottesdienst bewährt sich darum in so herr- licher Weise, weil er mit unserer eingebornen sittlichen Natur im vollsten Einklange steht, dieselbe hebt und zu jener Voll- kommenheit und Kraft erhöht, deren sie hier auf Erden fähig ist. Wenn das sittliche Bewusstsein nicht durch die Wirkung oder die Uebung anderer hoher Seelenvermögen zu Stande kommt, so kann es noch weniger, gleich dem thierischen In- stinete, dadurch bedingt sein, dass die Lebenskraft auf den Geist influirt. Die Lebenskraft sowohl, als der auf ihr beruhende thierische Instinct, können durch Krankheit, durch Irrsinn und dergl. eine ausgesprochene Umänderung erleiden, und das sittliche Bewusstsein kann dabei noch unverändert fortbestehen. Ist freilich der Verstand verwirrt und das Be- wusstsein im Allgemeinen gestört, dann muss auch das sitt- liche Bewusstsein darunter leiden; aber selbst während sol- cher Störungen zeigen sich noch Spuren desselben, und mit Sittliche Natur. 67 voller Energie tritt es wieder in die Erscheinung, sobald die Krankheit aufhört. BIT, Ein Beispiel möge dies erläutern. Nicht leicht tritt eine Krankheit mit so furchtbaren Erscheinungen auf, als die Was- serscheu, die vor einigen Jahren in mehrfachen bedauerlichen Fällen hier vorgekommen ist. Die Krankheit erschüttert die Lebenskraft im tiefsten Inneren, so dass sich bei ihr ein neuer bei Thieren vorkommender Instincet entwickelt, nämlich die Beisslust. Indessen inmitten seiner ungeheuren Angst hat doch ein solcher Kranker das sittliche Bewusstsein noch nicht verloren, denn warnend fordert er seine Umgebung auf, vor ihm auf der Hut zu sein. Beim grössten Bösewichte, der vielleicht viele Jahre hin- durch die Beschuldigungen des Gewissens erstickte, lässt sich dasselbe manchmal noch ganz unvermuthet mit starker Stimme vernehmen, selbst dann, wenn die Lebenskräfte allmälig ent- schwinden. Bedürfte es diesen Satz durch Beispiele zu erhär- ten, ich könnte Ihnen erschütternde Fälle vorführen, die mir selbst, gleich anderen Aerzten, vorgekommen sind, wo beim Versinken der Lebenskraft das Gewissen durch die kaum vernehmliche Stimme und durch die sterbenden Lippen zum Durchbruch kam und als rächende Nemesis in voller Kraft sich äusserte. Gewisslich ist die sittliche Natur etwas ganz anderes, als ein thierischer Instinct. Sollte sie als Instinct gelten, so verdiente sie den Namen eines psychischen Instincts, der auf etwas Höheres abzielt, als auf das Thierische und Sinn- liche. In ihr offenbart sich die hohe Abstammung des menschlichen Geistes. Fehlt sie dem Menschen, so steht er nicht mehr achtungswerth da, mag er sich auch vor anderen durch Macht, Stellung, Reichthum, Verstand, oder in Kunst und Wissenschaft auszeichnen. Sie ist der Schutzengel des Menschen, und falls er sich dessen Leitung anvertraut, wird ihm auch ein Höheres zu Theil, das die Erde nicht zu geben vermag. Glücklich, wer sich in diesem Leben dieser Leitung anvertraut und nicht davon lässt, mögen äussere und innere 5* 68 Sittliche Natur. Stürme noch so gewaltig toben, oder mögen sich auch be- quemere und lieblichere Bahnen darbieten, gegen die aber das Sittlichkeitsgefühl die warnende Stimme erhebt. Das bessere, das wahre Vaterland wird ihm zu Theil. II. Verschiedenheit der psychischen Anlage bei den Thieren und beim Menschen, zumal in Betreff des Zwecks der höheren Vermögen. Die Natur hat man vielfach einem aufgeschlagenen Buche verglichen, dessen Schrift eine Bildersprache ist, die wir nur zum Theil zu entziffern im Stande sind. Es lockt uns aber um so mehr zum Lesen dieses Buches und wir werden nur um so mehr durch dasselbe gefesselt. je weiter wir im Verständ- niss der Bildersprache vorschreiten; ja jedes neue Blatt, das wir umschlagen, offenbart uns immer grössere Vollkommen- heiten und Wunder an dem erhabenen Schöpfer, der Alles so vollkommen machte und uns die Fähigkeit verlieh, seine Voll- endung darin zu erfassen und zu bewundern. Wohin wir auch unsere Aufmerksamkeit richten, überall tritt uns die vollkom- menste Ordnung entgegen und Alles in der Natur folgt be- stimmten Gesetzen, überall erkennen wir die höchste Weisheit und Einfachheit in der Wahl der Mittel, die dabei dem vorge- steckten Ziele am besten entsprechen. Wir staunen über die Wahrheit und Unwandelbarkeit der Gesetze, denen die in der anorganischen Natur thätigen Kräfte folgen: die Bewegung 70 Ordnung in der Natur. unserer Erde und des ganzen Planetensystems erfolgt mit sol- cher Regelmässigkeit, dass der Astronom den Stand Jedes Pla- neten, gleich wie des Mondes, auf Jahrhunderte voraus be- rechnet; dieGesetze, nach denen die Schwerkraft, die Cohäsion, die chemische Affinität, die Wärme und so manche andere Kräfte wirken, sichern das Bestehen der verschiedenen Stoffe und Körper auf unserer Erde in solcher Weise, dass die Er- haltung des Ganzen dadurch möglich wird, und unsere Erde zum Schauplatze von so viel Leben und Bewegung sich ge- staltet. Noch weit mehr müssen wir aber staunen, wenn wir dem regelmässigen Walten der mancherlei Vermögen und Kräfte in der organischen Welt nachspüren, wodurch die scheinbar ganz ordnungslosen, unbestimmten und freien Be- wegungen bei Thieren und Menschen auf bestimmte Ziele hin- gerichtet sind, so dass die scheinbare Unordnung und Will- kür in unübertroffener Weise harmonisch zur dauersamen Er- haltung des Ganzen beiträgt. Die Thiere sind gewissermaassen selbstthätige Räder, die in einander eingreifen, und deren zu energisches Wirken durch andere Thiere gemässigt und ins rechte Ebenmaass gebracht wird. Ueberall verfolgen und vernichten die stärkeren Raubthiere die schwächeren Thiere, ohne dass diese ausgerottet werden; — die Jungen sind hülflos und ver- mögen sich meistens selbst noch nicht die nöthige Nahrung zu verschaffen, aber überall wird mütterlich dafür gesorgt; — viele Thiere sind den schädlichen Einflüssen des Klimas und der Gefahr des Verhungerns ausgesetzt, aber sie sind auch mit den Mitteln ausgerüstet, dem Klima zu trotzen oder sich ihm zu entziehen, und ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Mannigfaltige Mittel hat der Schöpfer in Anwendung ge- bracht, wodurch trotz der scheinbaren Verwirrung und uner- achtet der den Thieren zukommenden Willkür diese schöne Ordnung erhalten und das Gleichgewicht hergestellt wird. Mehr denn Einmal habe ich bereits in dieser Versammlung darüber mich auslassen können, als ich z. B. die Mutterliebe in der Natur besprach, oder die Mittel der wehrlosen Thiere, sich drohenden Gefahren zu entziehen, oder als ich von den Thier- und Menschenseele, 73 eingebornen Neigungen und vom Instincte handelte, wodurch die Thiere unwillkürlich zu zweckdienlichen Handlungen an- getrieben werden, wodurch der Wille gebunden und das Thier, gleichwie durch eine unsichtbare Hand, durch einen höheren Genius geführt und geleitet wird. Ich will jetzt noch ein neues Blatt im Buche der Natur aufschlagen, dessen Bildsprache aber so dunkel und schwer zu enträthseln ist, dass nur mit grösster Umsicht vorgegangen werden darf, wenn wir uns nicht durch den Schein verführen lassen oder durch falsche Erklärungen in Verwirrung und in Zweifel versetzen wollen, so dass wir die hohe Zweckmässigkeit der Natur verkennen. Untersuchen will ich nämlich die verschiedene psychische Anlage bei den Thieren und beim Menschen, zumal in Betreff des Zweckes der Verstandeskräfte. Der Gegenstand ist gewiss bedeutsam genug, aber auch dunkel und schwierig, da wir uns niemals mit einiger Sicher- heit auf den intellectuellen Standpunkt zu setzen vermögen, von dem aus die Thiere ihre Umgebung anschauen und zu mancherlei Handlungen angetrieben werden. Es treten dabei so viele nicht zu lösende Fragen und Zweifel entgegen, dass ich mehrmals von der Bearbeitung dieses schwierigen Gebiets abgeschreckt worden bin. In einem früheren Vortrage habe ich nun nachzuweisen versucht, dass die Lebenskräfte und die Seele verschiedene Dinge sind, und da konnte es mir nicht entgehen, dass ein Theil der Beweise, womit ich dort das Vor- handensein eines eigenthümlichen Princips, der Seele nämlich, beim Menschen dargethan habe, auch für das psychische Han- deln der Thiere Gültigkeit hat, so dass wir gezwungen wurden, auch bei den Thieren ein solches Prineip anzuerkennen. Neh- men wir aber ein solches Princip bei den Thieren an, ohne näher nachzuweisen, dass es dem Wesen nach und nicht bloss dem Grade nach von der Seele des Menschen sich unterschei- det, so könnte dies zu Zweifeln über die Fortdauer unseres Ich Veranlassung geben. Auch in dieser Hinsicht empfiehlt es sich zu untersuchen, ob die Natur selbst uns einen so we- 72 Thier- und Menschenseele. sentlichen Unterschied zwischen dem psychischen Principe beim Menschen und bei den Tbieren darlegt. Das will ich jetzt versuchen. Meine Ansichten darüber werde ich in der einfachsten Form klar zu machen versuchen und durch ein- schlägige Beispiele erläutern. Wenn wir uns bei den Schriftstellern nach den psychi- schen Aeusserungen der Thiere erkundigen, so finden wir mei- stens eine Menge von Erzählungen und Anekdoten über die verschiedensten Thiere zusammengestellt, die zum Theil die deutlichsten Zeichen der Ausschmückung an sich tragen. Andere haben die Aeusserungen des Instincts mit dem Ver- stande und der Willkür der Thiere verwechselt, und da die instinetmässigen Handlungen die Zeichen der Vollendung, der Zweckdienlichkeit und der eingebornen Weisheit an sich tragen, so scheinen dann die Thiere den Menschen oftmals an Verstand und an Urtheil zu übertreffen. Endlich haben die meisten Autoren aus diesen verschiedenartigen, dem naturgemässen Verbande entrückten und zusammengestellten Zügen von mancherlei Thieren den allgemeinen Schluss gezogen, dass den Thieren nicht nur Gedächtniss, Ueberlegung, List, Urtheil und Verstand zukommt, sondern auch ein gewisses moralisches Gefühl, da sie für Beleidigungen sowohl als für empfangene Wohlthaten empfänglich sind. Dann bleibt aber kaum noch etwas übrig, wodurch der Mensch in seinen höheren Vermögen von den Thieren sich unterscheidet. Aus diesem Grunde haben denn auch einige die Thierseele auf gleiche Stufe mit der Seele des Menschen gestellt, und um den Glauben an die eigene Fortdauer nicht aufgeben zu müssen, musste eine sol- che auch den Thieren zuerkannt werden. — Wo sollen wir aber alsdann die Grenze finden? Sollen wir das psychische Princip der Thiere, der Würmer, der Insecten, der Infusions- thierchen der menschlichen Seele gleich erachten und unsterb- Handlungen der 'Thiere. 73 lich nennen, da auch sie in gewisser Beziehung einen freien Willen und Gedächtniss kund geben ? Oder sollten die Ergeb- nisse der Naturforschung mit der Offenbarung in Widerspruch gerathen? Das dürfen wir noch weniger annehmen, da eine solche Ansicht ohne Weiteres dem Zweifel und dem Unglau- ben über unsere höhere Bestimmung Thür und Thor öffnet. Eine sehr schwierige Frage, in deren Betreff wir bei vie- len Autoren einer grossen Verwirrung begegnen, ist die: wel- che Handlungen der Thiere kommen auf Rechnung angebor- ner Neigungen und des Instincts, und welche Handlungen der- selben gehen von ihrem intellectuellen Vermögen aus? Es kommt hierbei vorzüglich in Betracht, was ich in einem frühe- ren Vortrage besprochen habe, dass der Instinet nichts ande- res ist, als ein zweckdienliches Walten der Lebenskraft nach bestimmten vom Schöpfer angeordneten Gesetzen. So wirkt die Lebenskraft bei den Pflanzen unmittelbar auf die Materie und bedingt dadurch die Zweckmässigkeit ihrer Formen, ihrer Gewebe und ihrer Thätigkeiten; bei den Thieren wirkt sie ausserdem auf deren psychisches Princip ein. Durch gewisse Eindrücke auf dieses psychische Princip steht sie mit dem in- tellectuellen Vermögen der Thiere im engsten Zusammenhange und sie fordert die Thiere zu mancherlei zweckmässigen Hand- lungen auf, worin eben der thierische Instinct begründet ist. Ist dies richtig, so darf dem Instincte weder Willkür, noch eine intellectuelle Grundlage zugeschrieben werden, d.h. die Leistungen des thierischen Instincets sind weder als Producte des thierischen Verstandes, noch als freie Handlungen anzu- sehen; wohl aber findet sich bei den Thieren ein psychisches Prineip, worauf der Instinct einwirkt, und dieses fehlt bei den Pflanzen. Hierüber ist vor Allem Autenrieth!) nachzulesen. In wie weit nun dieses psychische Vermögen als ein selbstän- diges und eigenthümliches Princip von unserer immateriellen Seele verschieden ist, das vermögen wir nicht zu beantworten, da wir uns vom Wesen selbst der sogenannten unbelebten 1) Ansichten über Natur- und Seelenleben. S. 180 folg. 74 Handlungen der Thiere. Kräfte nur eine schwache Vorstellung machen können, und noch viel weniger über die Art und das Wesen der eigenen Seele und der Seelenkräfte etwas Zuverlässiges anzugeben im Stande sind. Dass indessen die psychischen Vermögen der Thiere nach Zweck und Anlage von unseren höheren Ver- mögen sich ganz und gar unterscheiden, das wird, wie ich hoffe, in der weiteren Darstellung klar sich darlegen. Würde das Thier bloss durch den blinden Trieb bestimmt, wie manche Autoren annehmen, so könnte dieser Trieb nicht den Umständen sich anpassen und danach sich modificiren. Das Raubthier würde zwar Fressgier und Blutdurst an den Tag legen, nicht aber List und Ueberlegung zum Erhaschen der Beute; der Haase würde vor Allem, was sich bewegt oder Geräusch macht, fliehen, wenn er nicht mit dem Vermögen ausgestattet wäre, den feindlichen Hund vom friedlichen Schafe und vom Rinde zu unterscheiden; überhaupt würde das Thier als solches gar nicht existiren, sondern in den be- wusstlosen Zustand der Pflanze verfallen, oder als Maschine, als Automat zu betrachten sein, wozu es Descartes wirklich stempeln wollte. Deshalb musste das Thier mit einem höhe- ren psychischen Principe ausgestattet werden, damit es zu er- kennen im Stande sei, wann es mit Nutzen seinen Neigungen und seinem Instincte Folge geben darf, und wann es gefährlich sein würde, diesem Triebe keine Schranken zu setzen. Durch angebornen Instinet wurden dem Thiere jene Neigungen und jene Kenntniss zu Theil, deren es zu seinem Bestehen bedarf, durch das psychische Vermögen und die Willkür wurde es be- fähigt, jene Neigungen und jene Kenntniss gemäss den Um- ständen zu verwirklichen und damit in Einklang zu bringen. Dieses höhere Vermögen war ein nothwendiges Requisit für die Existenz und das Leben des Thieres; ohne dasselbe würde das Thier zwar, gleich der Pflanze, das Bedürfniss der Nah- rung haben, nicht aber den Willen, diese Nahrung aufzu- suchen, nicht die List und Ueberlegung, um sich der erforder- lichen Nahrung zu bemächtigen oder den dabei obwaltenden Gefahren zu entgehen. Die Pflanze, weil ohne Bewusstsein Gedächtniss. 75 und Bewegung, musste mitten in ihrem Nährmaterial und in ihren Bedürfnissen stecken, so dass sie nur das von allen Sei- ten Angebotene aufzunehmen brauchte, das Thier hingegen musste Alles aufsuchen und zum Theil vorbereiten, deshalb aber auch Bewusstsein, psychisches Vermögen, Instinct, kör- perliche Gewandtheit und Kunsttriebe besitzen. Gehen wir von diesem Standpunkte aus in Kürze die ver- schiedenen psychischen Vermögen der Thiere durch, die nachweislich nur für die irdischen Bedürfnisse bestimmt sind, und vergleichen wir sie dann mit denen des Men- schen, so wird, wie ich hoffen darf, der verschiedene Zweck dieser höheren Vermögen bei den Thieren und beim Menschen von selbst in die Augen springen. Dem Gedächtnisse wird allgemein nur eine niedrigere Stelle unter den verschiedenen psychischen Vermögen einge- räumt; neben dem Willen zählt es auch zu den verbreitetsten Eigenschaften der Thiere, wenngleich es in verschiedenem Grade bei den mancherlei Thieren entwickelt ist. Ganz rich- tig bemerkt Burdach!), dass kein Thier so stumpfsinnig ist, um den Ort nicht wieder aufzufinden, wo ihm Nahrung und Ruhe zu Theil wurde. Man begreift aber auch ohne Weiteres, wie unentbehrlich den Thieren dieses Vermögen ist. Denn wie könnte denn das Thier ohne Gedächtniss sein Nest, seine Jun- gen wieder finden, oder die Beute, die es verborgen hat? Je nach den Bedürfnissen und der Lebensweise der Thiere finden wir aber auch Modificationen des Gedächtnisses. Stär- ker entwickelt ist es bei jenen Thieren, die ein herumschwei- fendes Leben führen, z. B. bei den Zugvögeln, die in dieser Beziehung selbst den Menschen zu übertreffen scheinen. Diese grössere Bevorzugung richtet sich aber nicht etwa nach der Rangstufe der Thiere, denn wir kennen auch Insecten, die im Ortsgedächtniss dem Menschen voraus sind. Offenbar war es nicht Absicht des Schöpfers, eine fortschreitende Thierreihe l) Blicke ins Leben. Leipzig 1842. Thl. I, S. 157; ferner S. 117 und anderwärts. 76 (edächtniss. darzustellen, sondern jedem Thiere wurden die Fähigkeiten oder Vermögen zu Theil, die zu seinem Bestehen und seiner Lebensweise unerlässlich sind, und daher rührt es, dass wir bei manchen niedrigen Thieren und bei Insecten stark ent- wickelte psychische Vermögen antrefien, die bei vielen höher stehenden Thieren nicht vorkommen. So werden die Bienen durch Instinet angetrieben, auszu- fliegen und Honig aus Blumen zu sammeln, wobei sie durch den Geruch geleitet zu werden scheinen, und sie entfernen sich dabei oftmals ziemlich weit von ihrem Korbe, selbst eine halbe Stunde und mehr. Hat die Biene ihr Honigquantum gesammelt, so fliegt sie in gerader Linie nach ihrem Korbe, der vielleicht durch viele Hecken und Bäume verdeckt ist; dem Menschen dagegen dürfte es wohl schwer fallen, diesen geraden Weg ohne Abirrung zurück zu finden, und es muss ein sehr starkes Ortsgedächtniss hierbei die Führung vermitteln. Mit welcher Sicherheit aber die Bienen die Richtung nach ihren Honigwaben verfolgen, das lesen wir bei Kirby und Spence!), wo die Methode beschrieben wird, welche die Honigjäger in Neu-England anwenden, um die Vorräthe der wilden Stockbie- nen in den Wäldern zu entdecken. ‘An einem heitern Tage setzen sie einen Teller mit Honig oder Zucker auf den Boden. Die Bienen entdecken es bald und gehen daran. Die Jäger fangen dann ein paar, die sich voll gesogen haben, lassen eine davon fliegen, und verfolgen genau die Richtung der fliegen- den Biene. Nun entfernen sie sich in querer Richtung ein paar Hundert Schritte von dieser Fluglinie, lassen wieder eine von den eingefangenen Bienen los, und diese eilt ebenfalls in gerader Linie dem Neste oder dem Honigvorrathe zu. Der Punkt nun, wo die beiden Fluglinien sich schneiden, bezeich- net die Stelle, wo der Honig angesammelt wird. Die Be- stimmtheit, womit die Bienen die Richtung einschlagen, ist so auffallend, dass man zu der Annahme kommen könnte, als würden die Bienen durch den Geruch nach ihren Nestern hin- a !) Einleitung in die Entomologie. Thl. II, S. 216. (redächtniss. 27 geführt. Wie leicht würden sie aber dann durch andere Schwärme und Nester oder durch Umsetzen des Windes in die Irre geführt werden können! Dass vielmehr ein beson- deres Ortsgedächtniss dabei im Spiele ist, darf auch aus fol- gendem Benehmen der Bienen geschlossen werden, dessen ebenfalls bei Kirby und Spence (Thl. II, S. 589) Erwähnung geschieht. Versetzt man einen Bienenkorb an einen andern Ort, so entfernen sich die Bienen in den ersten Tagen nicht weit vom Korbe und scheinen zunächst alle localen Verhält- nisse zu erforschen; das war für ihre Lebensweise im Natur- zustande und im Walde unerlässlich, und auch nur dafür ist ihr Ortsgedächtniss berechnet. Denn stellt man während der Abwesenheit der Bienen an die Stelle ihres alten Stocks einen andern ihm ähnlichen, so scheinen sie dies nicht zu bemer- ken, sie gehen hinein und schlagen darin ihre Wohnung auf, wenn auch der frühere Korb nur 50 Schritte davon entfernt steht. Sie kümmern sich nicht darum, was aus der am Mor- gen verlassenen Wohnung und aus deren Einwohnern gewor- den ist, mit denen sie auch nie wieder das alte Verhältniss anknüpfen. Manche Bienenzüchter benutzen dies, um durch Theilung ihre Schwärme zu vermehren. Im Naturzustande der Bienen kommt ein solcher Austausch der Wohnung nicht vor, und deshalb fehlt ihnen auch das Erkennungsvermögen, dessen sie im Naturzustande nicht bedurften. Bei den Zugvögeln tritt das Ortsgedächtniss in einer uns ganz unbegreiflichen Vollkommenheit hervor. Hätte der Mensch auch das grosse Problem gelöst, einen Luftballon nach Willkür zu lenken, gleichwohl würde es Niemand ohne geographische Kenntnisse und ohne einen Compass wagen dürfen, eine Reise nach Afrika zu unternehmen und von dort wieder nach seinem Wohnorte zurück zu kehren; denn ein Verirren wäre hier unvermeidlich. Nichts desto weniger un- ternehmen unsere Schwalben, Störche und so viele andere Zugvögel jährlich solche Wanderungen, und sie finden sich immer wieder an den Ort des früheren Nistens zurück, wenn- gleich im Frühjahre beim entsprossenden Grün Alles ein an- 7s (Gedächtniss. deres Aussehen bat, als im Herbste, wo die Vögel uns ver- liessen. Ein starkes Ortsgedächtniss war bei der Lebensweise dieser Vögel unerlässlich, und sie besitzen es auch in einem Grade, wovon wir uns gar keine Vorstellung machen können. Wie viele Jahrhunderte sind verflossen, welche künstliche Einrichtungen hat der Mensch ersinnen und herstellen müs- sen, ehe ihm seine Vernunft und sein Genie einen Ersatz für dieses Vermögen der Zugvögel brachte, so dass er mit Sicher- heit den Ocean durchsetzen und überall die genaue und rich- tige Bahn für seine Fahrten feststellen kann! Reicht auch der thierische Instinet in diesem Falle wei- ter, als das Ortsgedächtniss des Menschen, so bezieht er sich doch nur auf eine gewisse Anordnung der Dinge im Raume, und da sich nicht andere Vermögen damit verbinden, deren das Thier entbehrt, so kann er eben zu weiter nichts dienen, als um einem nothwendigen Bedürfnisse des Lebens zu ge- nügen. Ohne eine regelmässige periodische Wanderung kön- nen manche Thierarten gar nicht bestehen, und ein Instinct, der diese Wanderung ermöglicht, war für sie ein Lebens- bedürfniss. Anders ist der Mensch gestellt. In den Erzeug- nissen des Ortsgedächtnisses hat er wichtige Materialien für seinen Verstand, und dieser beutet sie nicht bloss für die nie- deren sinnlichen Bedürfnisse aus, sondern auch zur vollkomm- neren Erkenntniss des Erdenrunds, und im Allgemeinen zur Förderung der Wissenschaft und Kunst, ja selbst zur Vervoll- kommnung seiner höheren Natur. Neben den Zugvögeln kennen wir noch manche andere Thierarten, die im Naturzustande umherschweifen und sich durch ein ausserordentliches Ortsgedächtniss auszeichnen. Dahin gehören Tauben, Hunde, Pferde, Katzen u. s. w. Noch auffallender ist es und als ein eingeborner Trieb aufzufassen, dass junge Seeschildkröten, welche im Sande aus- gebrütet werden, gleich nach dem Auskriechen aus dem Ei der See zu eilen, die sie doch noch nicht gesehen haben, wo- durch sie den Verfolgungen der nachstellenden Raubvögel entgehen. Auch wenn man sie von der geraden Linie zur See Gedächtniss. 79 abzulenken sucht, verfolgen sie dennoch dieselbe. Ganz un- begreiflich ist aber, was Burdach!) von einer Seeschildkröte erzählt, die bei der Insel Ascension gefangen worden war. Auf ihr Rückenschild wurden Buchstaben und Zahlen einge- brannt, und sie wurde dann im Canal bei England wieder in die See gesetzt. Zwei Jahre später wurde sie von Neuem bei der Insel Ascension eingefangen. Die Thiere besitzen nicht bloss Ortsgedächtniss, auch für Sachen und Ereignisse mussten sie mit Gedächtniss ausge- rüstet sein, damit sie sich vor einmal bestandenen Gefahren in Acht nehmen könnten. Sie erlangen dadurch die nöthige Erfahrung, und ihre grosse Gelehrigkeit hängt damit aufs eng- ste zusammen. Alte Ratten, deren Bosheit sprüchwörtlich ge- worden ist, lassen sich nicht so leicht in Fallen fangen, und alte Hirsche und Hasen sind listiger auf der Flucht, als junge; auch lassen sich Fische, die in den Angelhaken bissen und wieder abfielen, an dem nämlichen Platze nicht wieder über- listen. Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, dass eine Spinne, der ich während einiger Tage Fliegen gebracht hatte, unbeweglich in ihrem Gespinnste blieb, wenn ich mich näherte, so dass ich sie fast berühren konnte, während eine daneben befindliche Spinne, die ich mehrmals verjagt hatte, die Flucht ergriff und sich verbarg, wenn ich ihr auch noch nicht sehr nahe gekommen war. Vom ägyptischen Aasgeier (Cathartes percnopterus) be- richtet Moritz Wagner), er kenne keinen schlaueren Vogel als diesen. Als die Franzosen Bona erobert hatten, war er noch gar nicht scheu und er flog nicht fort, wenn man selbst ein paar Schritte neben ihm vorbeiging. Die Franzosen fin- gen nun an, auf diese Geier zu schiessen, und seit der Zeit sind die Vögel auf der Hut. Die Nähe des Schlachthauses wollten sie des guten Futters halber nicht aufgeben, aber sie 1) Blicke ins Leben, Thl. II, S. 78. 2) Reisen in der Regentschaft Algier in den Jahren 1836 — 1838. Leipzig, 1841. Thl. III, S. 83. 80 (Gedächtniss. lernten die Europäer von den Arabern unterscheiden. Ein Beduine kann bis auf drei Schritte von ihnen vorbeigehen, und sie kümmern sich nicht um ihn, einen Europäer lassen sie sel- ten auf mehr denn 150 Schritte herankommen, und hat er ein Gewehr oder etwas dem Aehnliches, so fliegt die ganze Schaar schon in grösserer Entfernung auf. Mit Listen, dass man z. B. auf dem Boden herankriecht oder sich in einen Hin- terhalt legt, ist dem schlauen Vogel nicht beizukommen: nur in Beduinenkleidern und wenn das Gewehr verborgen gehalten wird, kann man ihn zum Schusse kriegen. Wenn Vögel auf einem Acker Mais gefressen haben, des- sen Samen in ein Decoct von weisser Niesswurz eingeweicht worden waren, so dass sich eine Betäubung einstellt, dann kommen die anderen Vögel nicht mehr auf dresen Acker. So versichert uns Kalm). Aus diesen Beispielen entnehmen wir nicht nur eine Er- innerung an das Vergangene, sondern wir müssen auch das Vermögen anerkennen, dass die Thiere einen Bericht von der überstandenen Gefahr anderen übermachen können, und dass sie ein gewisses Urtheil besitzen und bei einzelnen constanten Erscheinungen auf das Verhältniss von Ursache und Wirkung kommen. Es wirken demnach hier schon höhere Vermögen; dieselben bethätigen sich aber offenbar nur zur Schirmung des Lebens, und können nicht auf gleiche Stufe gestellt wer- den mit der Sprache und der Vernunft des Menschen. Hierher sind auch besondere Eigenschaften der Thiere zu zählen, die auf folgendem Naturgesetze zu beruhen scheinen. Wenn bei mehreren auf einander folgenden Generationen einer Thierart die nämlichen Eindrücke sich wiederholen, dann pflanzt sich die hieraus entspringende Erfahrung, Scheu und List als angeborne Eigenschaft von den Alten auf die Jungen fort. Wenn der erste Mensch ein unbewohntes Land betritt, so findet er alle Vögel so zahm, dass sie sich mit den Händen greifen lassen; bald aber werden sie scheu, und diese Scheu !) Burdach, Blicke ins Leben. Thl. I, S. 244. Angebornes und angeeignetes Naturell. 81 geht dann auch auf die Jungen über. Lässt man durch ein Huhn Eier von zahmen und von wilden Enten ausbrüten, so flüchten sich die jungen wilden Enden so weit möglich, wenn man sich ihnen naht, die jungen zahmen Enten dagegen kann man mit der Hand fassen. Das kommt besonders bei Thieren vor, die eine weite Verbreitung über die Erde haben und un- ter ganz verschiedenartigen Verhältnissen leben können. Un- sere Hausthiere z. B. besitzen eine solche Schmiegsamkeit, dass sie sich in die verschiedensten Verhältnisse einleben können, und darauf beruht grossentheils die Kunst, Rassen und Varietäten zu erzielen, indem zur Fortpflanzung nur Thiere zugelassen werden, die mit einerlei psychischen Eigen- schaften ausgestattet sind. Die Erfahrungen der Alten gehen dann als psychische Eigenschaften auf die Jungen über. So sind die Jungen von tüchtigen Jagdhunden von vorn herein durch Vererbung gute Jäger; die Jungen von Hunden, die auf die Jagd des Wildschweins dressirt sind, wissen gleich beim ersten Male, wo sie in den Wald kommen, die Schweine in einem Rudel zusammen zu halten, indem sie dieselben immer umkreisen und durch Bellen erschrecken. Die Jungen von nicht .dressirten Hunden stürzen sich auf die Wildschweine und werden zerrissen, wie stark sie auch sein mögen. Die Hunde von Santa Fe, ohne besonders darauf dressirt zu sein, suchen dem Hirsche immer an den Bauch zu kom- men!); was die Erfahrung als zweckmässig darthut, das hat sich zuletzt als Instincet fortgepflanzt. Unsere europäischen Hunde, die nicht dressirt sind, fallen den Hirsch von vorn an und werden das Opfer ihrer Unvorsichtigkeit. Noch auffallen- der ist die Mittheilung von Humboldt’s), dass die amerika- nischen Hunde und Pferde, die doch aus Europa abstammen, mit der Zeit gelernt haben, sich vor den Crocodilen zu schützen, und dass schon die Jungen durch angebornen Instinct 1) A. Duges, Traite de Physiologie compar&e. Paris, 1838. T.], p- 504. 2) Burdach, Blicke ins Leben. Thl. II, S. 241; Duges a. a. O., p- 505. Schroeder van der Kolk, Seele und Leib. 6 82 Züchtung der Thiere. eben so verfahren. Wollen sie Wasser zu sich nehmen, so suchen sie zunächst die Crocodile, vor denen sie sich fürchten, anzulocken, indem sie bellen oder das Wasser mit den Hufen schlagen; dann aber suchen sie rasch einen andern Platz auf, wo sie den Durst ohne Gefahr stillen können. So sind unsere Hausthiere, die seit so vielen Jahrhunder- ten mit dem Menschen zusammen leben, zahm und folgsam geworden. Zu Aristoteles’ Zeiten waren die Hausthiere in Europa wie in Asien noch wild, und selbst vier und ein halbes Jahrhundert später, zu Plinius’ Zeit, hatteihre Zähmung noch keine grossen Fortschritte gemacht. Damals ‚mussten die Römer ihre Höfe für Gänse und Enten noch mit Netzen über- decken, damit die Thiere nicht fortflogen; jetzt sind diese so zahm geworden, dass so etwas nicht mehr nöthig ist. Die Be- schreibung der Kriegsrosse jener Zeit stimmt mehr mit dem, wie uns Pallas die wilden Steppenpferde in Sibirien schildert. Die Anweisungen zur Behandlung des Rindviehs in jener Zeit lassen auch erkennen, dass dieses damals viel wilder und schwerer zu bändigen war). Diese sich vererbenden Veränderungen treten auch im Somatischen auf. Es liegt z. B. in der Art der Kühe, dass sie nur kurze Zeit hindurch Milch geben und damit aufhören, sobald das junge Kalb Gras zu verzehren im Stande ist. Zu Aristoteles’ Zeit kam es noch vor, dass man die Zitzen der Kühe mit Brennnesseln rieb, um eine längere Milchgebung zu erzielen. Im Laufe der Jahrhunderte und beim fortgesetzten Melken der Kühe hat sich das so verändert, dass unsere Kühe jetzt anhaltend Milch geben und auch viel grössere Zitzen be- kommen haben. Bei den vor drei Jahrhunderten nach Ame- rika ausgeführten und wiederum in den wilden Zustand über- gegangenen Kühen hat sich dieses anhaltende Milchgeben wie- der verloren, und ebenso die Vergrösserung der Zitzen 2). 1) Burdach a. a. O., S. 242. 2) Burdach a. a. O., S. 220. Ein merkwürdiges Beispiel von Ver- änderung des Instinets bei Kälbern hat mir mein hochgeehrter Freund, der Veterinärprofessor Numan mitgetheilt. In England lässt man die Selbsterhaltung. 83 Diese Thiere sind mithin mit jenen Eigenschaften ausge- stattet, deren sie zur Erhaltung des Lebens durchaus be- nöthigt sind, und dabei besitzen sie eine solche Schmiegsam- keit, dass ihre Organisation sich den Umständen mehr oder weniger anbequemt, und dass auch ihre Neigungen und ihr Instinet gemäss den neuen Bedürfnissen sich abändern kön- nen. Dabei nehmen ihre intellectuellen Vermögen eine solche Stufe ein, dass vermöge des Gedächtnisses Uebung möglich ist, und die gemachten Erfahrungen sind deshalb für sie nicht verloren. Allein für sie giebt es keine Geschichte und keine Ueberlieferung; ihnen fehlt die Vernunft und die menschliche Sprache. Zum Ersatz wurde ihnen durch den Schöpfer die merkwürdige Eigenschaft zu Theil, dass jene Erkenntniss, die sich bei mehreren auf einander folgenden Generationen durch Erfahrung herausstellte, als angeborner Instinct auf die Nach- kommenschaft übergehen konnte, so dass diese Nachkommen von selbst jene Gefahren vermeiden, denen die Vorfahren erst mit eigenem Schaden zu entgehen lernen mussten. Diese Fähigkeiten und intellectuellen Vermögen der Thiere insgesammt stehen demnach in Beziehung zur Selbsterhaltung, und betreffen vorzüglich das Aufsuchen und Erhaschen der Nahrung, das Vermeiden von Gefahren und die Sorge für die Jungen. Nirgends offenbart sich darin eine Richtung auf et- was Höheres über die sinnlichen Bedürfnisse hinaus, z.B. auf ein interesseloses Forschen nach deutlicher und genauer Erkennt- niss auch solcher Dinge, die mit den Lebensdürfnissen unmit- telbar nichts zu schaffen haben, nirgends begegnen wir dem Versuche, die Natur zu erforschen, Kenntnisse zu vermehren, gebornen Kälber einige Zeit hindurch an der Kuh saugen, während bei uns in Holland das Kalb sogleich von der Kuh wegkommt und mit Milch gefüttert wird. Das englische Kalb bewahrt daher den natür- lichen Instinet des Saugens, und das fand Prof. Human in einem Falle in recht auffallender Weise bestätigt. Ein von einer englischen Kah geworfenes Kalb suchte an anderen Kühen und Kälbern zu saugen und machte immer vergebliche Versuche der Art; bei den holländischen Käl- bern dagegen gewahrt man nie dergleichen, weil dieser Instinct ihnen ganz abhanden gekommen ist. 6* 54 Selbsterhaltung. Wissenschaft zu fördern, den Zusammenhang von Ursache und Wirkung festzustellen. Das Alles ist Eigenthum des Menschen. Das Thier bekümmert sich um Nichts der Art, es lebt nur der Gegenwart und seinen Bedürfnissen, ohne zu untersuchen und zu philosophiren. Ueberdies sind jene Vermögen auch für die besondere Lebensweise der Thiere in sehr enge Schranken gefasst und verschieden bei den verschiedenen Thierarten. Die Thiere empfingen eben nur, was für ihre besonderen Be- dürfnisse und für ihre Existenz nöthig war. Was darüber hinaus geht, ist Eigenthum des Menschen. Diese Sätze hoffe ich durch ein paar Beispiele!), die den wichtigern Thierclassen entnommen werden sollen, klar zu machen und zu befestigen. Die Thiere bedienen sich der geeignetsten Mittel, um ihre Nahrung aufzufinden und zu erhaschen. So setzen sich Bienen und Hummeln auf die Unterlippe der Blume des Löwenmauls, öffnen dadurch die Blume und erreichen so den Honig. Bei den Balsaminen beissen sie ein Loch in den spornartigen An- hang der Blume und saugen dadurch den Honig aus. Ganz merkwürdige Listen wenden die Raubthiere an, um ihre Beute zu erlangen; wir erkennen dabei nicht nur ein deutliches Ueberlegen, sondern sehen auch, dass die Thiere sich unter einander verständlich machen können. Füchse ver- einigen sich manchmal und jagen durch Gebell das Wild auf, während andere in einem engen Wege, welchen das aufgetrie- bene Wild wahrscheinlich durchbrechen muss, aufpassen und Beute machen. Wölfe sollen sich manchmal durch den Hirten und den Hund verjagen lassen, und während dessen fällt ein anderer Wolf die unbewachte Heerde an und vollbringt seinen Raub?2). Die Affen vereinigen sich manchmal zur Plünderung eines Obstgartens, indem sie eine Reihe bilden, und die ge- 1) Mehrfache Beispiele von Schlauheit, von Ueberlegung und rich- tiger Wahl der Mittel, berechnet auf die besondere Lebensweise der Thiere, finden sich bei Burdach, Blicke ins Leben. Thl. I, S?2i9 u. folg. ; 2) Burdach, Blicke ins Leben. Thl. U, S. 163. x Verstandesmässiges Handeln. 85 raubten Aepfel von Hand zu Hand einander zuwerfen, wäh- rend einige ausgestellten Schildwachen gegen Gefahr schir- men: die stärksten und flinksten Affen stehen dabei voran, und scheinen den übrigen die Rollen anzuweisen. — Ganz in- teressant ist auch der Fall in einem französischen Dorfe, des- sen Einwohner in einem Winter durch viele Wölfe beunruhigt wurden. Um sie zu überlisten, brachte man ein todtes Pferd in den Klosterhof, dessen Thür während der Nacht offen ge- lassen wurde. In der Nacht zeigte sich ein grosser Wolf, der mit Vorsicht alles auszukundschaften schien und sich dann wieder entfernte, um bald nachher mit mehreren anderen Wöl- fen zurückzukehren, die nun zusammen über das Pferd her- fielen. Die Thür wurde zugemacht, und aus den Fenstern fing man nun an, auf die Wölfe zu schiessen. Diese suchten zunächst zu entfliehen, fanden aber den Ausgang zu. Da fie- len sie alle zusammen wüthend über den grossen Wolf her, der sie verführt hatte und zerrissen ihn, worauf dann die übri- gen durch Schüsse niedergestreckt wurden. Hier haben wir in der That mancherlei Zeichen von Ueberlegung einer Sache und von stattgefundener Verständigung, ja selbst das Gefühl der Rache wegen Verführung tritt uns entgegen. Eine wechselseitige Verständigung, gleichsam eine Be- sprechung des Erstrebten und der vorzunehmenden Handlun- gen kommt fast bei allen Thieren vor, besonders anschaulich und deutlich bei den Bienen und Ameisen. Das war da, wo viele Individuen in Gesellschaft zusammen leben, eine Noth- wendigkeit, und auch zwischen den beiderlei Geschlechtern, zwischen Alten und Jungen durfte es nicht fehlen. Indessen diese Verständigung erstreckt sich auch nur auf die Erreichung der thierischen Bedürfnisse; ganz fern liegt eine Vergleichung mit unserer Sprache, die nicht angeboren, sondern das Pro- duct des menschlichen Verstandes ist, weshalb sie auch ‘bei den verschiedenen Völkern verschiedenartig sich darstellt. Bisweilen treten uns allerdings Spuren von List und von Ueberlegung entgegen, zumal bei höheren Thieren, wie Hund, Affe, Elephant, die auf den ersten Blick durch die Aehnlich- 86 Verstandesmässiges Handeln. keit mit der menschlichen Handlungsweise unser Erstaunen erregen, und wollte man aus dem einzelnen Falle einen allge- meinen Schluss ziehen, so könnte man leicht darauf kommen, den Thieren höhere Vermögen zuzuschreiben, als sie wirklich besitzen. So erzählt Dug&s!) von einem Hunde Folgendes. Auf der Jagd trieb der Hund ein Kaninchen auf; dasselbe be- schrieb einen grossen Kreis, kam so zur ersten Stelle zurück und verschwand hier unter den Wurzeln eines alten Oliven- baumes in eine Höhle, wohin ihm der Hund nicht folgen konnte. Am nächsten Tage wiederholte sich die Jagd, und das Kaninchen fing wieder an, seinen Kreis zu beschreiben. Da überliess aber der Hund die Verfolgung alsbald dem Jäger und begab sich seitwärts zum Olivenbaume, wo er das Kanın- chen erwartete und auch fing. Dieses Benehmen deutet nicht bloss auf das Gedächtniss des Hundes hin, sondern es lässt auch einen hohen Grad von Ueberlegung- und Schlauheit er- kennen, wie sie auf der Jagd mehrfach vorkommen. Einer solchen Ueberlegung bedarf besonders der Hund, der im Na- turzustande gesellschaftlich auf die Jagd geht, wenn er seine Beute erhaschen will. Die psychischen Vermögen der Thiere sind auch aufs Ge- naueste für die Organisation und Geschicklichkeit ihres Kör- pers berechnet. Die Affen müssen ihre Nahrung zum grossen Theil im Innern von Früchten suchen, und bei der grossen Beweglichkeit ihrer Arme und Finger sind sie auch sehr ge- schickt im Oeffnen von Früchten. Deshalb ist es aber auch nicht zu verwundern, wenn ein an den Strick gebundener Affe im Stande ist, die Knoten des Stricks zu lösen. So berichtet Grant?), dass ein Orang-Utang sehr aufmerksam zusah, als Knoten geschürzt wurden, und sie nachher ganz geschickt mittelst der Zähne und Finger löste. So weit hat es aber kein Affe gebracht, dass er selbst einen Knoten zu schürzen ver- möchte. Ihre Geschicklichkeit im Knotenlösen scheint demnach 1) Physiologie comparee. T. I, p. 440. 2) Burdach, Blicke ins Leben. Thl. I, 8. 241. Verstandesmässiges Handeln. 87 mit ihrer Fähigkeit, Früchte aus den Schalen zu lösen und auszuklauben, im Zusammenhange zu stehen. Dem Hunde fehlt dazu eine entsprechende Organisation der Finger, und wenn es ihm sonst nicht an Schlauheit gebricht, so weiss er sich doch nicht anders zu helfen, als dass er den Strick zu zerreissen oder zu zerbeissen sucht. Die psychischen Vermögen der Thiere äussern sich auch recht anschaulich und in grosser Ausdehnung in der Art und Weise, wie sie Gefahren entgehen. Es kommt dabei auf die Art der Gefahren an, welche die Thiere zu fürchten haben, und man kann nicht sagen, dass die höheren Thiere dabei mehr Klugheit an den Tag legten, als die niedrigen und schwachen, denen ja das Vermeiden der Gefahr ein gleich grosses Bedürfniss ist. Es fehlt ihnen aber jenes freie Ver- mögen, welches die Klugheit des Menschen auch für andere Dinge auszubeuten versteht. Zuvörderst ist es allen Thieren eigen, dass sie ihre Feinde gleich beim ersten Erblicken zu erkennen vermögen, während dem Kinde ein solches angebor- nes Erkennen abgeht. Die Henne erkennt sogleich den hoch über ihr in den Wolken fliegenden Raubvogel und lockt die Küchlein an, um sie zu bedecken und zu schirmen; sie kann aber das ins Nest gelegte Stück Kreide nicht vom Ei unter- scheiden, und brütet gleich emsig darauf, wie auf den Eiern. Sie erkennt es auch nicht, dass die jungen Enten, welche sie ausbrütete, einem andern Thiergeschlechte angehörig sind und ängstigt sich, wenn dieselben ins Wasser gehen. Im Natur- zustande kann ihr weder der eine noch der andere Fall vor- kommen, und deshalb ist sie auch nicht mit der Fähigkeit ausgestattet, dieser Täuschung zu entgehen. Auffallend ist es, wie die Bienen sich gegen ihre Feinde schützen. Wenn z. B. ihr Todfeind, der Todtenkopfschwärmer (Spbinx atropos), in einen Bienenkorb kommt, so scheint der- selbe zunächst nicht beunruhigt zu werden. Dieser Schmet- terling raubt ihnen aber den Honig, und ist dies ein paar Male vorgekommen, und der Vorrath fängt an abzunehmen, so . machen sie am Flugloche aus Wachs Bogen oder Gänge, 88 Bienen. durch die sie selbst kommen, die aber den Honignäscher be- hindern, weiterhin in den Bienenkorb einzudringen !). So er- zählt Reaumur von einer Häuschenschnecke, die eine Reise an den Seiten eines mit Glastafeln versehenen Bienenstocks machte. Die Bienen konnten dem schleimigen Gaste mit ihren Stacheln nichts anhaben, sie hefteten ihn aber zum Zeichen ihrer Rache geradezu fest, indem sie die Oeffnung der Schale ganz mit Wachs und Harz verklebten und die Schale an das Glas befestigten, so dass das Thier in seinem eigenen Hause ersticken musste?). Den Instinct allein kann man hier nicht geltend machen, denn die Bienen mussten jedenfalls das Ver- mögen besitzen, die Umstände zu unterscheiden, die sie auf- forderten, den Eingang in den Bienenkorb durch Bastionen zu vertheidigen, oder die Bewegungen der Schnecke durch Wachs und Harz abzuschneiden. Eine zweckmässigere Wahl der Mittel wird man aber bei den höheren Thieren, die Affen nicht ausgeschlossen, nicht antreften. Wir haben hier einen Beweis, dass bei der Austheilung psychischer Vermögen an die Thiere nicht sowohl die Stufenleiter derselben und ihre Annäherung zum Menschen maassgebend war, als vielmehr die Sicherstellung ihrer zeitlichen Existenz 3). Als Beispiel besonderer Sorge für die Nachkommenschaft will ich nur mit ein paar Worten der Bienen gedenken ®), bei denen wir schon mancherlei Vermögen angetroffen haben. Für die Bienen kommt Alles auf die Erhaltung der Königin an, denn auf ihr beruht die Möglichkeit des Bestehens der ge- sammten Colonie. Ist die Befruchtung erfolgt, dann sind die männlichen Drohnen, die keinen Honig eintragen und nur auf Kosten der Bienencolonie leben, ein unnützer Ballast geworden, und sie werden deshalb auch im Juli oder August insgesammt !) Kirby und Spence, Entomologie. Thl. II, S. 302 u. 577. 2) Kirby und Spence, Entomologie. Thl. II, S. 229. 3) Andere erläuternde Beispiele für die Listen der Thiere, womit sie sich vertheidigen oder Gefahren abwenden, findet man bei Burdach a. 2.05 Themnal, #) Kirby und Spence, Entomologie. Thl. II, S. 201 u. 570. Biber. 89 durch die anderen Bienen getödtet. Ist die Königin todt und befinden sich schon Eier in den Zellen, so bringen die Bienen einige Eier in grössere zu diesem Zwecke hergerichtete Zellen, die hier ausschliefenden Jungen werden mit einer besonderen Speise gefüttert, und entwickeln sich zu neuen Königinnen. In diesem Falle nun lassen die Bienen die männlichen Droh- nen am Leben, weil diesen noch die Befruchtung der künf- tigen Königinnen obliegt. Wir dürfen diese auffallende Han- delsweise wohl nicht als das Ergebniss einer vernünftigen Er- wägung oder einer Einsicht in die Zukunft ansehen; die Bie- nen müssen aber doch durch ein psychisches Vermögen zu unterscheiden im Stande sein, wann sie die Drohnen tödten oder am Leben lassen müssen, und dieses Vermögen, von dem wir uns gar keine Vorstellung machen können, ist doch höchst auffallend, wenn wir damit vergleichen, dass die Bienen, wie ich vorhin erwähnte, einen fremden Bienenkorb, der an der Stelle ihrer früheren Wohnung hingestellt wird, nicht zu un- terscheiden vermögen. Auch hier, wie immer bei den Thieren, haben wir es nicht mit einem auf vernünftiges Urtheil ge- gründeten allgemeinen Vermögen zu thun. Ich will noch auf das Verfahren des Bibers hinweisen !). Dieses Thier verfährt mit ungemeiner Klugheit beim Fällen der Bäume, damit diese so stürzen, wie es für seinen Bau nöthig ist. Sie benagen den Stamm an der Wasserseite etwa 8 Zoll oberhalb des Bodens, hierauf 3 Zoll höher an der an- deren Seite, und der Baum muss dann nach dem Wasser hin umfallen. Ist es nahe daran, dass der Baum fällt, so halten sie zwischendurch inne, schauen in die Höhe und sorgen da- für, dass sie nicht beschädigt werden. Mehr Ueberlegung kann man auch beim geschicktesten Holzhacker nicht erwar- ten. Dabei zeigt der Biber in anderen Dingen durchaus nicht die gleiche Klugheit. Es liegt aber auch jenem Verfahren keine Berechnung oder Ueberlegung zu Grunde, denn alle Biber machen es ganz gleich, ohne es erlernt zu haben. Ein 1) Burdach, Blicke ins Leben. Thl. I, S. 212 u. 214. 90 Naturell der Thiere., eingefangener junger Biber führte den Bau in einem Stalle ganz eben so aus, als ob er am Wasser wohnte, obwohl der ganze Bau hier vollkommen zwecklos war. - Man wird mir vielleicht einwenden, dass bei unseren Hausthieren, zumal beim Hunde und Pferde, Handlungen vor- kommen, die auf ein scharfes Urtheil, auf ein verständiges Ueberlegen hinweisen; ja selbst ein moralisches Gefühl, wenig- stens die Anhänglichkeit, scheint nicht zu fehlen. Cuvier macht aber mit gutem Grunde darauf aufmerksam, dass unsere eigentlichen Hausthiere ursprünglich gesellig in Schaaren zusammenleben, wo dann gewöhnlich Ein Thier das Haupt oder der Anführer ist; deshalb liegt die Folgsamkeit, die An- hänglichkeit, die Achtsamkeit in ihrer Art, und dem Menschen fällt es nicht schwer, sich zum Haupte oder zum Anführer zu machen, dem die Thiere folgen und von dem sie manches an- nehmen. Dazu kommt noch die grosse Schmiegsamkeit und Lenksamkeit der Thiere, dass nämlich das Erlernte durch verschiedene Generationen hindurch endlich als ererbte An- lage oder als Instinet auf die Nachkommenschaft übergeht. Daher rühren die mancherlei Rassen und Varietäten, zumal des Hundegeschlechts, und dadurch geschieht es, dass die Thiere dasjenige, was der Mensch sie lehrt, schnell anneh- men und dass sie des Menschen Handlungen so leicht nach- machen. Nach Cuvier hat der amerikanische Hund, der vom europäischen Hunde abstammt und seit ein paar Jahr- hunderten verwildert ist, doch noch nicht jede Spur der frühe- ren Unterwürfigkeit verloren: er lässt sich weit leichter zäh- men und bändigen, als der neuholländische Hund, der viel- leicht noch niemals vollständig gezähmt worden ist. Wenn Hunde, wie einzelne Fälle lehren, eine solche An- hänglichkeit an ihre Herren hatten, dass sie nach deren Tode aus Traurigkeit starben, so hat dies freilich Aehnlichkeit mit den menschlichen Empfindungen der Freundschaft und Liebe. Indessen ein sittliches Prineip liegt dem nicht zu Grunde, sondern es prägen sich darin die Eindrücke ab, die der von Natur gesellige Hund seit Jahrhunderten durch den Umgang ÖOrang-Utang. 91 mit Menschen bekommen hat, sowie eine durch Vererbung ungemein gesteigerte Anhänglichkeit. Das Anschliessen an ein anderes Individuum gehört zu den natürlichen Anlagen nicht nur des Hundes, sondern auch des Pferdes, der Kuh, des Elephanten und anderer Thiere.. Wenn daher ein Hund, wie es vielfach vorgekommen ist, an ein anderes Thier, sogar an den Löwen, so eng sich anschliesst, dass er nicht von ihm lässt und es fortwährend liebkost, so dürfen wir dies nicht als eine Aeusserung des sittlichen Gefühls auffassen, sondern nur als die Folge des Geselligkeitstriebes. Aber zugegeben, dass der Hund und das Pferd durch eine Jahrhunderte hindurch fortgesetzte Uebung sich verändert haben und dass somit eine Gelehrigkeit und eine Anhänglich- keit bei ihnen zum Durchbruch gekommen ist, von der sie ursprünglich in diesem Maasse nichts wussten, soll denn dies auch auf die Affen passen, bei denen so vielfache intellectuelle Vermögen sich kund geben, namentlich beim Orang-Utang? Wer einen lebenden Orang-Utang zu beobachten Gelegenheit hat, die auch mir zu Theil geworden ist, der muss wohl höch- lich über das Benehmen dieses Thieres erstaunen; ich wenig- stens überzeugte mich auf der Stelle, dass der Orang-Utang in der Art und Weise, seine Empfindungen auszudrücken, so wie in der Nachahmung vieler menschlichen Handlungen, “nicht bloss dem Hunde sondern auch den übrigen Affen weit voraus ist. Schon bei oberflächlicher Betrachtung des Thie- res erfüllt uns das Menschenartige im Ausdrucke, in den Be- wegungen und in manchen kleinen Handlungen mit Verwun- derung, und zweifelnd fragen wir: sind seine psychischen Ver- mögen durchaus verschieden von jenen des Menschen, oder giebt sich nicht ein Geist hier kund, der nur weniger ent- wickelt ist als der unserige, aber vielleicht einer noch höheren Entwickelung entgegenreifen kann ? Ich habe im Vorhergehenden überall nachzuweisen ver- sucht, dass die psychischen Vermögen der Thiere nur Mittel sind, um ihre Existenz zu sichern, deren Ausbildung aber keineswegs ein Lebenszweck der Thiere ist, und dass sie nur 92 Orang-Utang. die Richtung haben auf den engen Kreis ihrer Bedürfnisse. Betrachten wir nun den Orang-Utang in dieser Beziehung, so fällt es nicht schwer, eine Antwort zu geben. Merkwürdiger Weise sind nämlich jene geistigen Vermögen bei den Affen im Allgemeinen, aber namentlich beim Orang-Utang, nur im Ju- gendalter in so hohem Maasse entwickelt; sie verschwinden in der späteren Lebenszeit grossen Theils, und an ihre Stelle tritt ein rohes und wüstes Treiben, blosse Kraftentwickelung und Ungelehrigkeit. So lange der Orang-Utang noch jung ist und noch nicht die volle Körperkraft besitzt, hat ihn der Schöpfer reichlich mit manchen Eigenschaften ausgestattet, mit List, Ueberlegung, Nachahmungstrieb, wodurch er sich in Ermangelung körperlicher Kraft gegen Gefahren schützen kann, und er ahmt dann die Handlungen und die Lebensweise der älteren Affen nach. Ist er ganz ausgewachsen, dann ge- nügt die physische Kraft zu seiner Existenz und die vorher vorhandenen psychischen Eigenschaften gehen grossen Theils verloren. Diese psychischen Eigenschaften bilden demnach kein Element seiner Existenz, er hat darin nur ein temporäres Mittel für sein Bedürfniss und für seine Erhaltung. Diese Verschiedenheit tritt sogar in sehr auffälliger Weise in der “ Form des Schädels entgegen, die in den einzelnen Lebensab- schnitten sehr wechselnd ist. Der Schädel des jungen Orang- Utang steht dem des neugebornen Kindes an Grösse nur we- nig nach, und da der Gesichtstheil nur erst wenig entwickelt ist, so hat der junge Orang-Utang ein recht menschenartiges Aussehn. Beim erwachsenen alten Orang-Utang hat der Schädel nur sehr wenig oder gar nicht an Grösse zugenom- men, und alles Wachsthum concentrirte sich in den stark ent- wickelten Kiefern und Gesichtsknochen. Der Schädel des vierjährigen Kindes ist ziemlich eben so gross, als der eines erwachsenen Menschen; das Thierische ist aber wenig ent- wickelt, die Kiefer und die Gesichtsknochen sind noch klein. Wir gewahren also beim Orang-Utang eine Anlage zur Ent- wickelung der mehr thierischen Apparate, während beim Men- schen Alles auf die rasche und kräftige Entwickelung. des Ge- Anlagen des Menschen. 93 hirns, der Werkzeuge des Geistes, abzielt. So sehen wir, dass zwar beim Hunde, beim Fuchse und bei den anderen Thieren mit den zunehmenden Jahren auch die Klugheit und die Erfahrung zunehmen, beim Orang-Utang dagegen es sich umge- kehrt zu verhalten scheint, als wollte die Natur es verhindern, dass er dem Menschen zu nahe rückt. Er bekommt im Gange der Entwickelung eine ungewöhnliche Kraft und Stärke, ist damit selbstständig geworden, braucht bei seiner Gewandtheit keine Gefahr mehr zu fürchten, und bedarf somit der früher vorhan- denen Anlage zur Nachahmung und vieler anderer psychi- scher Vermögen nicht mehr in gleicher Weise zu seiner Exi- stenz. Vergleichen wir damit noch kurz die Anlage und den Um- fang der Verstandeskräfte beim Menschen, so wird es nur um so deutlicher hervortreten, warum der Mensch eine so hohe Anlage und Begabung empfing, und die grosse Verschieden- heit, die zwischen Mensch und Thier in psychischer Beziehung obwultet, springt von selbst in die Augen. Die Instincte und Vermögen, die zur Erhaltung des Le- bens und zur Sicherung der ganzen Existenz dienen, hat der Mensch eben so gut wie die Thiere, und bei den rohesten Völkern sind sie eben so gut entwickelt, wie bei den civilisir- testen Nationen. Als Instinet empfing er den Trieb zur Selbst- erhaltung, das Hunger- und Durstgefühl für die Nahrungsauf- nahme, den Trieb zur Fortpflanzung und die Kinderliebe zur Erhaltung des Geschlechts; in seinem starken und gewandten Körper und in seinen Verstandeskräften wurden ihm in rei- chem Maasse die Mittel zu Theil, für seine Bedürfnisse zu sorgen und Gefahren abzuwenden. Dagegen wird man nicht behaupten dürfen, das sittliche Gefühl, die Anlage zur Tugend, die Fähigkeit höherer Entwickelung und Vollendung seiner intellectuellen Vermögen, so wie endlich die bei allen Völkern mehr oder weniger deutlich entwickelte Ahnung eines höheren Wesens, seien nur Mittel zur Sicherung seiner thierischen Exi- stenz auf Erden; denn er bedurfte ihrer im strengen Sinne hierzu nicht, und es scheinen auch diese höheren Vermögen 94 Anlagen des Menschen. bei einigen rohen Völkern fast ganz unentwickelt zu bleiben. Da nun in der Natur Alles seinen Zweck hat, und die psy- chischen Vermögen der Thiere offenbar für die Existenz der Thiere bestimmt sind, so müssen wir wohl annehmen, dass der Schöpfer ein höheres Ziel im Auge hatte, als er dem Men- schen die edleren Vermögen schenkte, das sittliche Gefühl, die Anlage zur Tugend und die Fähigkeit einer höheren Voll- endung, welches Ziel bei den Thieren ganz wegfällt, da es mit ihrer zeitlichen Existenz als thierische Geschöpfe nichts zu schaffen hat. Hätte diese höhere Anlage nicht auch einen höheren Zweck, so müssten wir uns zu der Annahme ent- schliessen, dass gerade das Höchste und Edelste im Menschen zwecklos oder wenigstens überflüssig und entbehrlich wäre. Was bei den Thieren bloss als irdisches Mittel zur Sicherung der Existenz diente, das ist beim Menschen ein Mittel für höhere Entwickelung geworden, und diese höhere Entwicke- lung ist der Zweck seines Lebens. Mit dem Menschen beginnt ein ganz neues Reich, wovon bei den Thieren noch keine Spur zu entdecken ist, das Reich der Geisterwelt, das Reich der Vollendung. Die Anlage zur höheren psychischen Entwickelung giebt sich beim Menschen im Körper nicht minder als in den gei- stigen Vermögen kund. Beim Menschen ist der Körper Mittel zur Entwickelung des Geistes, bei den Thieren ist der Geist nur irdisches Mittel für die Bedürfnisse des Körpers. Wer mag eine Vermuthung darüber wagen, was für ein Wesen die- ser Geist der Thiere ist, das heisst, an welches Princip der Schöpfer die psychischen Vermögen der Thiere geknüpft hat! Ueberall aber tritt er bei ihnen als irdisches Mittel für die Existenz auf, während er beim Menschen als höheres Wesen erscheint, welches Erkenntniss, Tugend und Vollendung er- strebt. Ein paar Andeutungen über die Entwickelung von Körper und Geist des Menschen werden dies klar machen. Als wesentlichen Apparat für die geistigen Vermögen haben wir das Gehirn anzusehen und dieses ist beim Menschen nicht nur viel grösser als bei den Thieren, sondern es kom- Dauer der Kindheit. 95 men auch augenfällige Besonderheiten daran vor. Das Wachs- thum des Gehirns beim Menschen ist ein sehr rasches, schon bis zum dritten oder vierten Jahre hin hat es ziemlich die Grösse wie beim Erwachsenen erreicht, während der übrige Körper hierzu einer drei bis vier Mal längeren Zeit bedarf. Das Thier ist weit rascher vollkommen ausgewachsen, und sein Gehirn nimmt mehr gleichmässig mit dem übrigen Kör- per an Grösse zu. Beim Thiere treten alsbald alle intellec- tuellen Vermögen hervor, deren dasselbe zum Bestehen bedarf, und es kommt weiterhin auch zu keiner grösseren Extensität derselben; sein Körper wächst deshalb schnell, damit es für die eigenen Bedürfnisse zu sorgen im Stande sei; einer grossen Vorbereitung, einer längeren Lehrzeit bedarf es nicht, _ und rasch ist die Stufe der Vollendung erreicht. Der mensch- liche Körper wächst langsamer und der Mensch bleibt länger Kind, dafür aber entwickelt sich das Gehirn frühzeitig zum Werkzeuge des Geistes. Das Kind ist länger an seine Eltern, an seine natürlichen Lehrmeister gebunden; die Fähigkeit zur Entwickelung seiner Vermögen und zur Ausbreitung seiner Kenntnisse giebt sich sehr bald kund, seine Lehrzeit aber zieht sich durch die lange Jugendzeit hindurch. Das Thier erlernt wenig, der Mensch dagegen muss Alles lernen; beim Thier erscheint Alles wie eingeboren und vorbedacht, beim Menschen dagegen kommt Alles auf Uebung an und er hat seinen eigenen Weg zu gehen, den er, wenn auch strauchelnd, verfolgen muss. Die Lehrzeit von der Geburt bis zum vollen- deten Wachsthume beträgt beim Menschen etwa ein Viertheil des Gesammtlebens, dagegen beim Fuchse, beim Pferde, beim Elephanten nur Y/,;, beim Hunde, bei der Katze, beim Kanin- chen, beim Esel !/,, bis Ys,, beim Kameel !/;, der Lebens- dauer!). Das Somatische kommt beim Thiere früher zur Reife, und damit erreicht dasselbe seine Bestimmung früher. Das tritt uns schon im Zahnwechsel entgegen, der beim Men- schen etwa im 7. Jahre beginnt, beim Elephanten, der doch 1) Burdach’s Physiologie. Thl. III, 1830, S. 568. 96 Vernunft und Sprache. ein weit höheres Alter erreicht, schon im 2. Jahre, beim Pferde im 10. Monate, bei der Katze im 7., beim Rinde im 5. Mo- natel). Zu dieser längeren Jugend und Lehrzeit passt auch vor- treffllich die länger sich bewährende Eltern- und Kinderliebe, die dem Menschen angeboren ist und durch sein moralisches Gefühl eine Veredelung erfährt. Beim Thiere bezieht sich Alles auf die momentane Existenz: die Jungen, sobald sie im Stande sind, für sich selbst zu sorgen, verlassen die Alten, oder werden von diesen verstossen, das Band der Liebe und Anhänglichkeit, welches sie bisher vereinigte, geht spurlos ver- loren und sie kennen einander nicht mehr. Beim Menschen besteht dieses Band während des ganzen Lebens, es erstreckt sich von den nächsten bis zu den entfernteren Verwandten, und geht so über in die allgemeine Menschenliebe, wodurch der Mensch bestimmt wird, mit Menschen zusammen zu leben und Genossenschaften zu bilden. — Die geselligen Thiere haben zwar auch ihre Genossenschaften und sie verstehen einander; der Umfang ihrer Mittheilungen beschränkt sich aber lediglich auf die enge Grenze des Bedürfnisses. Sie haben keine erlernte Sprache, sondern nur angeborne Zeichen oder Laute, die keiner ausgedehnteren Verbreitung und keines grossen Umfangs fähig sind. Der Mensch ist kein rein geselliges Wesen; für ihn ist das grosse vereinigende Band und die uner- schöpfliche Quelle der Bildung in der Vernunft gegeben, so- wie in der Sprache, die aber keine angeborne ist, die er viel- mehr erfinden muss, weshalb sie auch bei allen Völkern eine verschiedene ist und keine Schranken anerkennt. Von der Natur empfing der Mensch die Anlage, er selbst muss sich aber die vornehmste Quelle für die Entwickelung seines Gei- stes erschaffen. Er ist nicht mehr ein Kind der Natur, son- dern der mündige Sohn der Schöpfung, um selbst zu handeln und sich zu vervollkommnen. „Mit der Organisation zur Rede empfing der Mensch den Athem der Gottheit, den Samen 1) Burdach’s Physiologie. Thl. III, 1850, S. 273. Mensch und Thier. 97 zur Vernunft und ewigen Vervollkommnung, einen Nachhall jener schaffenden Stimme zur Beherrschung der Erde, kurz die göttliche Ideenkunst, die Mutter aller Künste 1)“. Ich verzichte auf eine ausführliche Vergleichung der psy- chischen Eigenschaften des Menschen mit denen der Thiere, und will nur noch einige Hauptmomente von meinem Standpunkte aus ins Auge fassen. Beim Thiere verschafft das Gedächtniss Erfahrung, und wenn fortwährend die nämlichen Eindrücke stattfinden, so vererbt sich dies auch ohne eigne Erfahrung auf die Jungen, so dass es als angeborener Trieb auftritt; doch niemals erhebt sich diese Erfahrung zur Wissenschaft. Beim Menschen ist vermöge der Rede und der allumfassenden Spra- che nicht bloss vom Gegenwärtigen, sondern auch vom Ver- gangenen Mittheilung möglich; für ihn giebt es eine Geschichte, - er vermag mit seinen Gedanken in früheren Jahrhunderten zu leben und durch die Erfahrungen Anderer sich zu bil- den. — Bei den Thieren ist der Verstand auf den engen Kreis ihrer Bedürfnisse angewiesen und als Unmündiger der Vor- mundschaft des Instinets überliefert; beim Menschen erfreut sich der Verstand grösserer Freiheit und Ungebundenheit, und er ist einer höheren Entwickelung und Entfaltung fähig. Das Thier nimmt die der Natur entstammenden Eindrücke einfach auf; beim Menschen wirken diese Eindrücke erweckend auf die höheren Geisteskräfte, er nimmt sie nicht einfach auf, sondern verarbeitet sie, er denkt über die besonderen Eigen- schaften und den allgemeinen Zusammenhang nach und dann erst ist die Erkenntniss sein Eigenthum geworden. Damit har- monirt auch die Einrichtung der Sinneswerkzeuge. Die seit- lich gestellten Augen der Thiere sind so eingerichtet, dass von allen Gegenständen, die in dem grösseren Gesichtsfelde ent- halten sind, gleich deutliche Eindrücke kommen, und dass über- all die Gefahr sowohl wie die Beute leicht und rasch entdeckt wird; der Mensch dagegen sieht nur Einen Punkt auf einmal 1) Herder, Ideen zur Geschichte der Menschheit. Sämmtliche Werke, 1827. Vierter Theil, S. 167. Schroeder van der Kolk, Seele und Leib, 7 98 Mensch und Thier. ganz deutlich und wird durch das Umgebende weniger abgezo- gen, er richtet aber den Blick und die Aufmerksamkeit auf diesen Einen Punkt, er sieht nicht bloss, sondern er nimmt wahr und untersucht die verschiedenen Eigenschaften der Dinge. So haben auch manche Thiere ein recht scharfes Ge- hör: aber kein Thier ist mit der Fähigkeit ausgerüstet, die ge- ringen Verschiedenheiten und Nüancen so vieler tausend Wör- ter, die in verschiedenen Sprachen vorkommen, aufzufassen, und das Gehör des Menschen hat mehr Umfang und ist für die Rede und Sprache bestimmt. Dabei hat die Natur das Gehör eng an unser höheres Ich geknüpft: nichts wirkt stärker auf das innere menschliche Gefühl, als die klagenden Töne des Unglücks, nichts wirkt kräftiger auf unser Gefühl, als die sanfte gefühlvolle Stimme der Mutterliebe und der Freund- schaft. Die Natur hat uns somit empfänglicher gemacht für die elterliche Erziehung, und die mahnende Stimme der Ver- nunft findet bei uns leichter Eingang. Der Mensch empfängt mannigfaltigere Eindrücke und diese werden schärfer von ihm wahrgenommen; er sieht nicht bloss, nein erforscht nach, und das Bedürfniss sowie derMan- gel angeborener Kenntniss treiben ihn an, seine Geistesvermö- gen zu üben. Dabei entwickelt der Mensch allein Nachdenken und Abstraction. Wenn die Thiere da, wo zwei Dinge zufällig wiederholt zusammentreffen, eine gewisse Beziehung wie Ur- sache und Wirkung zu fühlen scheinen, so untersucht der den- kende Mensch die Natur und den Zusammenhang der ihn um- gebenden Welt, von den Erscheinungen kommt er zu den Ur- sachen und er nimmt diese auch da an, wo er sie nicht sieht. So entsteht ihm von selbst der Glaube an eine allgemeine und. höhere Ursache, an ein mächtiges Wesen, aus dem die Welt 0 hervorgegangen ist. Der Glaube an eine Gottheit ist die noth- wendige Folge und die edelste Frucht des Gebrauchs seiner 5 Verstandeskräfte und der Vernunft, und gleichzeitig auch eines fast angeborenen Gefühls. Diesen Glauben finden wir, wenn auch die Vorstellungen und die Benennungen des göttlichen Mensch und Thier. 99 Wesens differiren, zu allen Zeiten und bei allen Völkern, bei den Thieren aber zeigt sich keine Spur davon. Gleichwie der Mensch die Ursachen aus den Wirkungen erschliesst, so leitet er auch umgekehrt aus Ursachen Folgen her; er richtet seine Gedanken nicht bloss auf das Vergangene, sondern er durchschaut auch die künftigen Folgen, und im Voraus vor allen Thieren kann er über seine Geburt wie über seinen Tod nachdenken und das unvermeidliche Sterben vor- aus erkennen. Aus den Ursachen die Folgen erkennend, kann er auch die Folgen seiner Handlungen im Voraus berechnen und durch diese Handlungen bestimmte erzielte Resultate her- beiführen, und so greift er mit Erfolg ein in das Walten der Natur. Vergleicht er dann seine Kunstwerke mit den Erzeug- nissen der Natur, so drängt sich ihm von selbst die Ueberzeu- gung auf, dass höhere Vollkommenheit in der Natur besteht, die ihm die Vollendung und Weisheit des höchsten Wesens, von dem Alleseerschaffen wurde und in Ordnung erhalten wird, wie durch einen Spiegel mit tausendfarbigen Strahlen entgegenführt. In der ganzen Anlage des Menschen, im Somatischen so gut wie in der hohen geistigen Begahung, ist das Ziel nicht zu verkennen, dass er seine geistigen Kräfte und den Verstand üben und sich mehr und mehr vervollkommnen soll. Aber mit der Entwickelung der geistigen Vermögen und der Förderung von Kenntniss und Wissenschaft ist das Ziel des Menschen noch nicht erreicht. Er hat der Tugend und der sittlichen Vollen- dung nachzustreben, und dafür wurde ihm eine innere Stimme, die ihm sagt, was recht und gut ist, ein inneres Gefühl, welches den Menschen selbst im Widerspruche mit seinem Willen zur Vollendung hintreibt und ein sicherer Führer für das Leben ist, und hierin steht der Mensch einzig da, weit erhaben über das ganze Thierreich. Bei den Thieren gewahren wir auch Leiden- schaften, und Beleidigungen erwiedern sie mit Zorn und Ra- che, Wohlthaten mit Erkenntlichkeit; diese Empfindungen ent- sprossen aber nur einem gewissen sympathischen Gefühle und der Selbstsucht, und das nach Beleidigungen und erlittenem Unrecht hervortretende Gefühl ist bei ihnen nur die natürliche Folge 7* 100 Mensch und Thier. des angeborenen Vertheidigungstriebes. Das Gefühl der Pflicht, der Sittlichkeit fehlt den Thieren ; sie entbehren des höheren Schutzgeistes im Leben, durch den die vernünftige Natur des Menschen fortwährend angespornt wird, auf Kosten des Egois- mus und der Selbsterhaltung ein das Irdische überragendes Ziel zu verfolgen, dessen Ideal, wie es das sittliche Gefühl vorspiegelt, hier unerreichbar für ihn dasteht, was ihm aber gerade ein Pfand dafür ist, dass er hier seinen Lauf nur be- ginnt, nicht aber beendigt. Wie die Annahme eines höheren Wesens allen Menschen angeboren ist, so tritt uns auch über- all auf Erden, selbst bei den rohesten Völkern, das Ahnen eines künftigen Zustandes entgegen. Ein wahres Wort sagt Lauvergn&): „Kein Mensch wird als Atheist oder Materia- list geboren; beim Eintritte in die Welt bringt er das Gefühl vom Bestehen eines höheren Wesens, so wie von Recht und Unrecht mit. Wer sich als Materialist bezeichnet, der verleug- net die Stimme seines Gewissens und vertauscht sein väterli- ches Erbtheil gegen eine Lehre, die ihn in die Empfindung des Unrechts einweiht; er ist ein Sclav seiner selbst und opfert die Schätze seines Geistes einer materiellen Lehre, die ihn der unbeschränkten Herrschaft seiner Leidenschaften überliefert. Mag er aber auch im Vollgenusse der Gegenwart ohne sittli- chen Zügel hinleben, bis seine Todesstunde naht, dann verlangt die Gottheit doch ihr Recht und man entdeckt die sprechend- sten Anzeichen des Glaubens an ein höheres Wesen und an die Unsterblichkeit der Seele, auch wenn das Gegentheil scheint angenommen werden zu sollen. — Ein sterbender Atheist ist eine Unmöglichkeit.“ Selbst das Gebet, worin sich das Gemüth zum persönli- chen Gotte wendet, ist nach Burdach?) keine menschliche Erfindung, sondern mehr in der Tiefe unserer Natur begrün- det. Die lebhafte Empfindung und das lebendige Bewusst- !) De Pagonie et de la mort. Paris, 1842. T. 1. Discours prelimi- naire, p. VI. 2) Blicke ins Leben, Thl. 2, S. 264. Bestimmung des Menschen. 101 sein unseres Glücks fordert uns zum Danke auf, und im tief- sten Schmerze kann der Mensch, welche Gesinnung er auch haben mag, nur im Gebete Hülfe finden. Wer erkennt nun nicht verschiedenartige Anlagen beim Menschen und beim Thier? Bei den Thieren sehen wir man- cherlei Vermögen sich entwickeln, aber bei keinem einzigen gewahren wir ein Vermögen, dessen Zweck weiter ginge, als die somatisehen Bedürfnisse zu befriedigen und für die zeitli- che Existenz zu sorgen, nirgends begegnet uns ein Streben nach höherer Vollendung, nirgends ein Gefühl für Pflicht und Tugend, nirgends eine Spur von Erkennen eines höheren Wesens. Im Zeitenlaufe gleichen die Thiere den auf einander folgenden Wel- len der See, die zwar Bewegung und Leben in die Schöpfung brin- gen, aber spurlos verschwinden, um neuen Wellen Platz zu ma- chen. Beim Menschen sind die geistigen Vermögen nicht um der somatischen und zeitlichen Existenz willen da, und im Kör- per wie im Geiste ist unverkennbar die Anlage zu einem edleren Ziele, zu ihrer Erhebung und Veredlung ausgeprägt. Beim Men- schen ist alles für die Uebung des Geistes eingerichtet, für das Streben nach sittlicher Vollendung und für das Erkennen nnd Verehren eines höheren Wesens, das ihm nicht ohne Zweck durch die Stimme des Gewissens ein hier unerreichbares Ideal von Vollkommenheit vorgespiegelt haben kann, welches Ideal nur jenseits der Grenzen der Materie zu erreichen ist. Wie unvollkommen wird aber trotz dieser ausgezeichne- ten Anlagen die höhere Bestimmung des Menschen hier er- füllt! Auf ganzen Völkern lastet noch rohe Unwissenheit und Aberglaube, und auch das Edelste auf Erden bleibt unvollen- det. Herder!) spricht sich also aus: „Entweder irrte sich der Schöpfer mit demZiele, das er uns vorsteckte, und mit der Organisation, die er zur Erreichung desselben so künstlich zu- sammengeleitet hat: oder dieser Zweck geht über unser Dasein hinaus und die Erde ist nur ein Uebungsplatz, eine Vor- 1) Ideen zur Geschichte der Menschheit. Sämmtliche Werke, 1827. Vierter Theil, S. 231 u. 232. 102 Bestimmung des Menschen. bereitungsstätte. — — — — Jedes Thier erreicht, was es in seiner Organisation erreichen soll; der einzige Mensch erreicht’s nicht, eben weil sein Ziel so hoch, so weit, so unend- lich ist und er auf unserer Erde so tief, so spät, mit so viel Hindernissen von aussen und innen anfängt.“ Alles, was unseren Bedürfnissen auf Erden dient, gehört auch der Erde an: wir lassen den Kalk unserer Gebeine in den Gräbern und geben den Elementen wieder, was ihnen ge- hört. Alle sinnlichen Triebe, die dem Menschen in seiner thie- rischen Eigenschaft im irdischen Haushalte dienstbar sind, erreichen ihr Ziel und haben ihr Werk vollbracht; für seine höhere Anlage aber ist diese Erde zu klein und sein Geist, im Glück wie im Missgeschick auf dieser Schule der Unsterblich- keit gepflegt und geübt, sprengt dereinst seine Ketten und reift erst in den Gefilden der Unsterblichkeit. Die Natur in ihrer eigenthümlichen Bildersprache verkündet dies schon in der aufrechten Stellung des Menschen. Er allein hebt das Haupt frei empor und überblickt alles Geschaffene, er richtet die Augen nach aufwärts, und sein Geist, des Him- mels Sohn, jauchzt durch den unendlichen Raum des Weltalls seinem künftigen Vaterlande zu. IV. Einfluss des Körpers auf die Seele beim Menschen. Seit den frühesten Zeiten wissenschaftlicher Cultur wurde auf die Erforschung des Menschen, des vorragendsten Gegenstan- des auf Erden, Gewicht gelegt, und es musste der Mensch dem Menschen vom höchsten Interesse sein; auch wurde der goldene Spruch im Tempel des Appollo zu Delphi: Lerne Dich selbst kennen, zu allen Zeiten als mustergültig und maassgebend anerkannt. Ist aber diese Vorschrift bedeutsam genug, so ist es nur um so schwieriger, ihr nachzukommen, da der Begriff der Selbsterkenntniss ein sehr ausgedehnter ist, und trotz der Höhe, zu welcher die Wissenschaften jetzt emporgestiegen sind, ist diese Selbsterkenntniss noch immer eine ganz unvoll- kommene und wird es auch bleiben. Der Mensch vereinigt nicht nur fast alle Kräfte der Natur nebst den höheren Kräften in seinem Körper, durch seine edleren Vermögen setzt er auch den Fuss in eine andere und höhere Welt, die ausser dem Bereiche unserer Sinne gelegen ist, und durch Körper und Seele sind in ihm zwei Welten vereinigt. Diese Vereinigung und Verschmelzung der Materie mit 104 Verschiedenheit der Menschennatur., einem Immateriellen war von jeher ein schwieriges Problem für die tiefsinnigsten Philosophen und ein Stein des Anstosses für alle Zweifler. Und wer mag hoffen, den Schleier vollstän- dig zu lüften, so lange unser an die Materie gebundener Geist nur materielle Objecte zu schauen vermag, so lange ihm der unmittelbare Anblick der höheren Geisterwelt versagt ist! Indessen dieses Problem ist dem Bereiche unserer For- schung nicht ganz entrückt. Vermögen wir gleich nicht das Wesen unseres höheren Princips zu erforschen, so haben wir doch bedeutsame Anhaltspunkte in der Vereinigung von Seele und Körper, worauf wir mit Erfolg die Untersuchung richten können, und wodurch wir zumeist zur Selbsterkenntniss ge- langen. Hierin haben wir den Schlüssel und die Erklä- rung zu suchen für die mannigfaltigen und fremdartigen Er- scheinungen, dass ein Mensch von dem andern nicht allein hinsichtlich des Temperaments, der Neigungen und der Leiden- schaften sich so auffallend unterscheidet, sondern dass auch durch die sonderbare Verknüpfung von Willkür und Unwill- kürlichkeit, von Freiheit und Gebundensein, nicht selten die auffallendsten Widersprüche in den Empfindungen, Neigungen und Handlungen sich kund geben, und manchmal kaum zu be- stimmen ist, ob eine einzelne Erscheinung der Willkür der Seele entsprungen oder unwillkürlich durch den Körper her- vorgerufen worden ist, oder ob sie aus der Verbindung des Körpers mit der Seele erklärt werden muss. Bei einer früheren Gelegenheit habe ich dargethan, dass im Körper Kräfte der Nerven und des Gehirns wirksam sind, die sich von der Elektricität und vom Galvanismus unterschei- den, dabei aber der Willkür entbehren, und dass daneben noch ein höheres Vermögen, nämlich die Seelenkräfte, vorkommt, dem wir Willen, Verstand, Vernunft und sittliches Gefühl al- lein zuschreiben müssen, worin unser eigentliches Ich sich kundgiebt, und in dessen Zusammenwirken mit den Gehirn- kräften der Zusammenhang zwischen Seele und Körper uns entgegentritt. Dabei drängt sich die Frage auf: welchen Einfluss übt der Körper vermittelst seiner unwill- Bedingungen der Gehirnkräfte. 105 kürlichen Gehirnkräfte auf die mit Willkür wirkende Seele, zumal im gesunden Menschen? Nach allen Rich- tungen hin hierauf eine Antwort zu geben, würde zu weit führen, und will ich mich darauf beschränken, einige der wichtigsten Einwirkungen des Körpers auf die Seele, nament- lich einige unwillkürliche Einwirkungen auf den Willen zu er- läutern, so weit dies in einem einzelnen Vortrage und vor einem gemischten Publikum zulässig ist. Gleichwie die Seele durch die Gehirnkräfte auf den Kör- per einwirkt, z. B. bei der Bewegung der Muskeln, so wirkt auch der Körper durch die nämlichen Kräfte auf unsere Seele. Durch die den Nerven und dem Gehirne zukommenden Kräfte werden uns die Eindrücke von der Aussenwelt und vom eige- nen Körper zugeführt, und es stehen die Kräfte des Gehirns einerseits im genauesten Zusammenhange mit unserem Seelen- vermögen, so dass bei den Thätigkeiten des Geistes, beim Denken u. dergl. ihre Mitwirkung nöthig ist, während sie an- dererseits an das Gehirn selbst in untrennbarer Weise so ge- "knüpft sind, dass jede Veränderung des Gehirns auf sie und dadurch auch auf unsere Seele einen besondern Einfluss übt, Verletzungen des Gehirns daher auch Störungen im Wirken unserer Seele zur Folge haben. Betrachten wir daher die Modificationen und Veränderungen der Gehirnkräfte durch somatische Ursachen, so kann uns dadurch die Einsicht eröff- net werden in das vielfach Unwillkürliche, wodurch unsere Empfindungen, Vorstellungen und Handlungen sich färben, während wir doch im Wahne stehen, ganz willkürlich zu handeln. Ich will zunächst einige somatische Erscheinungen betrach- ten nebst den Gesetzen, denen die Lebenskräfte im Allgemei- nen und die dem Gehirn zukommenden Kräfte im Besondern gehorchen. So ist es ein allgemeines Gesetz, dass in einem gesunden Organe alle Lebenskräfte einer gewissen Reizung bedürfen, wenn sie in Wirksamkeit kommen sollen: das Blut ist so der Reiz für die Schläge des Herzens, die Nervenkraft ist der Reiz für die Contraction der Muskeln und wird selbst 106 Blut und Gehirnkräfte. wieder durch unseren Willen afficirt. Jede Thätigkeitsäusse- rung des Körpers setzt einen Reiz oder eine Erregung voraus, und die Intensität oder Lebendigkeit der Thätigkeitsäusserung richtet sich wieder nach der stärkeren oder schwächeren Erre- gung der Lebenskräfte eines Theils. Die Erhaltung des Körpers selbst und seiner einzelnen Theile, so wie auch der Lebenskraft, verlangt die ununterbro- chene Ernährung, d. h. es muss ein gesundes arterielles Blut in gehöriger Menge durch den Körper strömen; dieses kehrt aber aus allen Theilen als schwarzes venöses Blut zu- rück, nachdem es seine nutritive und reizende Wirkung voll- bracht hat. Das Blut zählt zu den nothwendigsten und nach allen Seiten wirksamsten Reizen des Körpers, und seine che- mische Zusammensetzung als Ernährungsmaterial, seine arte- rielle Constitution als hellrothes Blut, seine Menge, ja auch der Modus seiner Bewegung kommen dabei in Betracht. Da nun von der Circulation des Blutes, von dessen gehöriger Zu- bereitung und Einwirkung auf den lebenden Körper das Leben selbst abhängt, so wurde dieser bedeutsame Process wohl- weislich unserm Willenseinflusse entrückt: die Nutrition und Circulation erfolgen auch in den Nerven und im Gehirne, ohne dass wir etwas davon wahrnehmen und ohne dass wir den dabei wirkenden Reiz zu beeinflussen vermögen. Das Blut zählt zu den unwillkürlichen Reizen für die Lebenskraft. Wie aber das Blut auf den gesammten Körper einwirkt, so übt es auch seinen Einfluss auf die Lebenskraft des Gehirns, und in ihm haben wir ein entschiedenes Moment für unwill- kürliche Eindrücke und für Erregungen der Gehirnkräfte, die ‚wiederum auf die Seele zurückwirken und woraus manche Er- scheinungen erklärt werden können, bei denen unser Wille, ohne dass wir es wissen, mit fortgerissen wird. Die Verände- rungen und Erregungen der Lebenskräfte und des Gehirns theilen sich nämlich mehr oder weniger der Seele mit, aber als blosse Erregung, ohne zu bestimmten Vorstellungen zu füh- ren, gleich jenen Eindrücken, von denen die Sinnesorgane be- troffen werden. %“ Wirkung des Sympathicus. 107 Eine andere gewichtige Einwirkung auf die Lebenskräfte im Allgemeinen und auf das Gehirn im Besonderen kommt durch das sogenannte vegetative oder unwillkürliche Nerven- system, das heisst durch den Sympathicus zu Stande. Dieser Nerv ist fast durch den ganzen Körper verbreitet und be- herrscht die vornehmsten Lebensverrichtungen, die Verdauung, die Blutbereitung, den Blutumlauf und die Nutrition; dabei wirkt er ohne unser Bewusstsein und ohne den Einfluss des Willens, so dass alle genannten Lebensprocesse unserem Wil- len entrückt sind. Der Symphaticus führt aber dem Gehirne und durch dieses unserer Seele eigenthümliche dunkle Ein- drücke zu, d. h. er bestimmt theilweise die Empfindlichkeit unseres Gehirns und bringt uns statt klarer Vorstellungen mehr dunkle Empfindungen, das Hungergefühl, den Geschlechtstrieb, mancherlei Neigungen und Eindrücke. Wie aber die Gehirnthätigkeit unwillkürlich durchs Blut erregt und gereizt wird und wie daneben der Symphaticus verschiedenartige Eindrücke zuführt und gleichsam eine ver- . schiedenartige Stimmung hervorruft, so kann auch unser Wille zu diesen unwillkürlichen Aeusserungen Veranlassung geben. Die Seele kann durch ihren Willen als Reiz auf die Gehirnkräfte einwirken und diese in Thätigkeit versetzen. Diese Erregung der Kräfte aber theilt sich bei heftigerer Ein- wirkung dem unwillkürlichen Nervensysteme mit, welches dann seinerseits im gereizten Zustande und in der veränderten Stimmung wiederum auf das Gehirn zurückwirkt und eine Reibe unwillkürlicher Erscheinungen hervorruft, zu denen so- mit unser Wille den ersten Anstoss gegeben hat. Die Erklä- rung dieser Erscheinungen wird uns weiterhin die Sache deut- licher machen. Wir haben so die beiden hauptsächlichsten Quellen ken- nen gelernt, aus denen unwillkürliche Eindrücke auf unsern Geist hervorgehen, den Blutumlauf und das unwillkürliche Nervensystem, und da der Symphaticus selbst mehr oder weni- ger auf die Circulation influirt, so wirken oftmals beide ge- meinschaftlich auf die Gehirnkräfte und dadurch auf die 108 Das Blut im Gehirnleben. Seele. Jetzt können wir nun die Einwirkungen des Körpers auf die Seele näher in Betrachtung ziehen. Das Blut, dieser vom Willen unabhängige Reiz für die Lebens- kräfte ist auch im Gehirne von hoher Bedeutung. Denken wir uns, dass jemand aus allen Kräften gelaufen ist und ganz ausser Athem zu uns kommt; der Puls ist schneller und klopft hef- tig und ein Andrang des Blutes zum Kopfe ist deutlich zu er- kennen. Würde dem Menschen in diesem Augenblicke eine tief- sinnige Frage vorgelegt, so würde er antworten, dass er in die- sem Momente nicht über die Frage nachzudenken vermöge, er müsse sich erst erholen, bevor er die Sache ruhig überle- gen könne. Durch den raschen Blutandrang und das Klopfen der Hirngefässe wurden die Gehirnkräfte in lebhafte Erre- gung versetzt, alle Eindrücke auf die Seele erfolgten mit Hast, mit Heftigkeit und mit Flüchtigkeit, und das ruhige Nach- denken wurde zunächst unmöglich. Erst wenn die überstür- zenden Aeusserungen im Somatischen, namentlich in der Cir- culation zur Ruhe gekommen sind, kann eine geregelte Mitwir- kung der Seele den besänftigten Verlauf der Gehirnkräfte begleiten. Noch deutlicher tritt dies nach dem Genusse von Wein oder Spirituosis hervor. Das Blut strömt dann in rasche- rem Laufe zum Kopfe, durch die stärkere Reizung wird die Gehirnthätigkeit eine erregtere und die Eindrücke erfolgen mit grösserer Lebhaftigkeit: namentlich die Einbildungskraft wird erhöht, und durch die verschiedenen Eindrücke entstehen lebhaftere Vorstellungen, kräftigere und grossartigere Bilder. Deshalb gehören wohl die Dichter zu den grössten Lobrednern des Weins, durch dessen erregende kinwirkung manchen die kräftigsten Bilder und dichterische Gedanken gekommen sind; denn ohne eine erregte Phantasie ist an keinen poeti- schen Aufschwung zu denken. Darum wird aber auch im Sprüchworte des reizbaren Geschlechts der Dichter (irritabile vatum genus) gedacht. Steigert sich jedoch der Blutandrang durch zu reichli- chen Genuss von Wein oder von Spirituosis, dann treten die Das Blut im Gehirnleben. 109 Bilder und Vorstellungen zu rasch und in unregelmässiger Weise auf, der Verstand vermag ihnen nicht zu folgen, und die Seele kann sie nicht beherrschen; das Ungeregelte macht sich dann in Gang und Sprache bemerklich, und durch die ge- ringste Veranlassung können heftige, leidenschaftliche Ausbrü- che hervorgerufen werden. Jeder Pulsschlag ist ferner von einer Hebung des Gehirns begleitet, und deshalb wird dieses bei einem stärkeren Blut- andrange und durch Anhäufung des Bluts zu sehr ausgedehnt und sein zartes Gewebe erfährt einen Druck. Das hat die ent- gegengesetzte Wirkung zur Folge. Die Gehirnthätigkeit wird durch diesen Druck gehemmt, mehr oder weniger gelähmt, die Eindrücke der Sinnesorgane werden nicht mehr genau überge- führt, die Seele kann die verwirrten, unwillkürlichen Vorstel- lungen und die sinnlichen Eindrücke nicht mehr voneinander unterscheiden, und ihre Wahrnehmungen werden ebenfalls un- geregelt. Sinnlose Vorstellungen, ja ein vorübergehender Zu- stand von Irrsinn sind die natürlichen Folgen, bis zuletzt ein stärkerer Druck die gesammte Gehirnthätigkeit hemmt und einen tiefen Schlaf herbeiführt, Aehnliches sehen wir auch im Fieber. Im Hitzestadium, wo das Blut zum Kopfe steigt, ist der Kranke unruhig und kann keinen Augenblick in der Lage bleiben. Nimmt der Blutandrang und die Reizung noch mehr zu, dann steigern sich durch die starke Gehirnerregung die unwillkürlichen Vorstellungen dermaassen und die Phanta- sie wird so aufgeregt, dass der Kranke die entstehenden Bilder nicht mehr von wirklichen Bildern zu unterscheiden ver- mag; so entstehen dann Delirien, die sich bei einem stärkeren Grade von Reizung und Entzündung bis zur Wuth und Raserei steigern. Aus einer stärkeren Erregung des Gehirns und der da- durch gesetzten vermehrten Thätigkeit der Geistesvermögen in Folge von Blutandrang erklären sich auch noch manche andere sonst schwer verständliche Erscheinungen. Hierher gehört vielleicht die Beobachtung, dass Kinder, die an der Englischen Krankheit leiden, einen grossen Kopf zu haben 110 Das Blut im Gehirnleben. pflegen und sehr gut auffassen. Denn nach Haller!) findet man die Blutgefässe des Schädels bei ihnen stärker entwickelt, und somit muss auch das Gehirn bei ihnen stärker gereizt werden. Es ist ferner eine bekannte Sache, das schiefe, ver- krümnte, bucklige Individuen, bei denen das Blut rascher und kräftiger zum Gehirne strömt, sich meistens durch Lebhaftig- keit und Schärfe des Geistes auszeichnen. Menschen mit lan- gem Halse sind meistens ruhiger und langsamer, jene mit kur- zem Halse lebhafter, bewegter, leidenschaftlicher. So hat Na- poleon, wie Burdach?) erwähnt, einen auffallend kurzen Hals, wenngleich daraus allein sein Charakter nicht erklärt werden soll. Selbst aus der Körperstellung ist manchmal zu entnehmen, dass das Gehirn vom Blute erregt und gereizt wird. So giebt es Individuen, namentlich schwächliche, deren Gedankengang im Liegen ein weit besserer ist, weil dann der Andrang des Blutes zum Kopfe sich steigert. So gedenkt auch Bricheteau?) eines Menschen, der nur dann etwas auswendig lernen konnte, wenn er mit dem Kopfe ganz niedrig lag. Bei vollblutigen Individuen würde hierbei durch den reichlichen Blutzufluss der Geist betäubt und niedergehalten werden. Ganz besonders zeigt sich diese Einwirkung des Blutes auch in Krankheiten. Bei Nervenfieberkranken, wo Blutan- drang zum Kopfe besteht, werden manchmal schon durch tiefe Lage des Kopfes Delirien erweckt. Bei Blutmangel dagegen, z. B. nach heftigen Blutstürzen, fliesst in der aufrechten oder sitzenden Stellung nicht genug Blut zum Gehirne, und es stel- len sich dann durch den Ausfall des Blutreizes Ohnmachts- anfälle ein, die beim Niedriglegen des Kopfes wieder verschwin- den. In noch mehr auffallender Weise habe ich Aehnliches bei einem Tobsüchtigen beobachtet, der 90 Pulsschläge hatte. Als sein Puls durch Digitalis auf 60 Schläge gesunken war, trat Ruhe ein und als durch Fortgebrauch der Digitalis der Puls sogar auf 50 Schläge fiel, war der Mann still, schwach und 1) Elementa Physiologiae. T. 4, p. 402. 2) Vom Baue und Leben des Gehirns. Bd. 3, S. 117. 3) Journal compl&mentaire. T. 4, p. 17. Das Blut im Gehirnleben. 111 niedergeschlagen. Als aber dann mit dem genannten Heilmit- tel ausgesetzt wurde, hob sich der Puls wieder auf 90 Schläge und damit kehrte auch die frühere Tobsucht wieder. Ebenso berichtet Cox!) von einem Kranken, der bei 40 Pulsschlägen halbtodt, bei 50 Schlägen melancholisch und bei 70 Schlägen ganz bei sich war, dagegen bei 90 Schlägen in Raserei verfiel. Kopfverletzungen haben nicht selten ähnliche Erscheinungen und eine Aufregung zur Folge. So berichtet Haller?) von einem Blödsinnigen, der eine schwere Kopfwunde bekam und dabei ziemlich im Besitze seiner Geisteskräfte war; allein mit der Genesung verfiel er auch wieder in seinen früheren blöd- sinnigen Zustand. Gall:) hat mehrere Fälle gesammelt, welche darthun, dass Menschen, die in der Kindheit beschränkten Gei- stes waren, nach schweren Kopfwunden entschiedene Talente entwickelten. Das erklärt sich wohl am besten so, dass durch eine solche Verwundung der Blutzufluss sich vermehrt und dadurch eine vermehrte Erregung der Gehirnthätigkeit zu Stande gebracht wird. Aus diesen Fällen, deren Anzahl sich wohl noch vermehren liesse, ersieht man, dass ein nicht allzu- sehr vermehrter Blutandrang zum Gehirn dessen Energie ver- mehrt, wobei dann die Aeusserungen des Seelenlebens rascher, leichter und lebendiger ablaufen können. Vornemlich wirkt diese Erregung der Gehirnthätigkeit auf die Einbildungs- kraft; die Seele gewinnt zwar keine bestimmten Vorstellun- gen, wohl aber eine Anreizung zu lebhafterer Aeusserung und unbestimmte Bilder, wozu die Einbildungskraft den Text liefert. Im Ganzen scheint letztere, als eins der niedrigsten Seelenvermögen, mit der Gehirnthätigkeit im engsten Zusam- menhange zu stehen. Wie wir durch unsern Willen sie zu be- thätigen und ganz willkürlich ein einzelnes Bild uns vorzufüh- ren im Stande sind, so wird sie auch wohl durch die Gehirn- thätigkeit erweckt, so dass unwillkürliche Bilder hervortreten 1) Nasse’s Zeitschrift für psychische Aerzte. 'Thl. 1, S. 68. 2) Elementa Physiologiae. T. 4, p. 294. 3) Sur les fonctions du cerveau. T. 1, p. 215. 112 Hallucinationen ; Träume. im Traume und im Delirium. Somit ist die Einbildung uns nicht gänzlich anheimgegeben, vielmehr wird sie unter dem Einflusse des Körpers zum Theil ein unwillkürlicher Vorgang. Findet ein zu starker Blutandrang zum Kopfe statt und wird die Gehirnthätigkeit zu sehr angespannt, dann vermag die Seele, wie schon bemerkt, nicht mehr die unwillkürlichen Aeusserungen der Einbildungskraft zu beherrschen, die fal- schen Vorstellungen und Eindrücke von den wahren zu unter- scheiden, es entsteht Delirium oder Irrsinn. In der That lei- den die meisten Irren an einer unregelmässigen Blutströmung zum Kopfe, wobei sich die Hände meistens kühl anfühlen, der Kopf dagegen heiss. Dadurch entstehen manchmal unwillkürli- che Erscheinungen und Sinnestäuschungen, so dass jemand am hellen Tage Personen zu sehen glaubt, die nicht da sind, wo- von der englische Arzt Alderson!) viele Fälle mittheilt. Sehr merkwürdig ist der Fall des Buchhändlers Nicolai, dessen auch Scheltema?) gedenkt. Dieser sah sein Zimmer manchmal ganz mit Menschen angefüllt; ein Aderlass oder Blutegel am Kopfe genügten aber in solchen Fällen, um die Erscheinungen zum Verschwinden zu bringen. Damit haben wir auch die Er- klärung der Träume, die keineswegs, wie man wohl angenom- men hat, rein psychische Erscheinungen sind. Die Gehirnthä- tigkeit ruht zwar im Schlafe und die Seele empfängt während desselben keine Eindrücke; allein durch geringe somatische Aeusserungen, durch stärkeren Andrang des Blutes zum Kopfe wird die Gehirnthätigkeit alsbald wirksam und durch diese die Einbildungskraft: eine tiefe Lage des Kopfs, ein festge- bundenes Halstuch, eine reichlichere Aufnahme von Speise und Getränk, selbst das geringste Unwohlsein können das herbeiführen. Ist die Erregung nur schwach und flüchtig, dann haben wir flüchtige Traumbilder, die keinen Eindruck hinter- lassen; der Traumbilder von stärkerer Erregung dagegen erinnern wir uns meistens deutlich, Wird das Gehirn stärker 1) Nasse’s Zeitschrift für psychische Aerzte. Thl. 1, S. 274. 2) De verbeeldingskracht en hare uitwerksels. 1835, p. 36. Träume; Beschaffenheit des 3lutes, 113 gereizt, dann sind die Träume lebhafter, und deshalb kommen sie bei lebhaften Irren sehr häufig vor, und sehr gewöhnlich beobachtet man sie bei beginnender Kopfwassersucht der Kin- der. Wollte man die Träume als blosse Wirkung der Seele gelten lassen, dann wäre die frei wirkende Seele ganz und gar ungeregelt, willenlos und ordnungslos. Das Verwirrte in den Träumen findet seine Erklärung in den zufälligen willenlosen Erregungen der Gehirnthätigkeit, die gleich unbeständig sind, wie die Wogen der unruhigen See, Hieraus erklärt es sich auch, dass im wachen Zustande, wenn wir über etwas nachden- ken oder mit jemand in einem Gespräche begriffen sind, manch- mal allerlei Bilder und flüchtige Eindrücke in uns auftauchen, die man füglich als Traumbilder bezeichnen könnte. Sie kom- men meistens dann vor, wenn der verstärkte Blutumlauf im Gehirne erregend auf die Gehirnthätigkeit einwirkt, und wer- den im gesunden Zustande allerdings kaum wahrgenommen; doch klagt schon Gaubius?) mit Recht darüber, dass sie sich oftmals gar schwer unterdrücken lassen. Treten solche “durch rascheren Blutumlauf hervorgerufene Eindrücke mit grösserer Energie hervor, dann können sie den geregelten Gang der Gedanken und der seelischen Wirkungen stören, wie das in der Trunkenheit geschieht. Bei noch stärkerem Auf. treten bewirken sie Delirien und Verstandesverwirrung. Bei der Gehirnthätigkeit kommt es aber nicht bloss auf die Menge des Blutes an und auf das mehr oder weniger rasche Zuströmen zum Gehirne, sondern auch auf dessen Qua- lität: das arterielle Blut wirkt reizend und belebend, das ve- nöse betäubend. Daraus erklärt sich guten Theils der Einfluss der Luft. Die tägliche Erfahrung lehrt, dass eine reine, mäs- sig trockene Luft, zumal bei Vollblütigen, im Allgemeinen Ge- wecktheit des Geistes zur Folge hat, während bei nebliger feuchter Luft der Kopf schwer, der Geist abgespannt und träge ist, ja bei manchen Constitutionen ein förmlicher Missmuth !) De regimine mentis, Lugd. Bat. 1767, p- 25. Schroeder van der Kolk, Seele und Leib, 8 114 Jahreszeit und Klima. sich einstellt!). Daraus erklärt es sich wohl, dass Selbstmorde so häufig in der nebligen Jahreszeit vorkommen, weil durch diese der schon gedrückte geistige Zustand nur noch mehr sich steigert. Villeneuve?) berichtet, dass von den zehn Selbstmor- den, die in Paris innerhalb zwei Jahren allwöchentlich vorfie- len, neun bei nebligem und regnerischem Wetter ausgeführt wurden. Dieser Einfluss tritt uns auch an den Bewohnern von Gebirgsländern entgegen: sie sind alle beweglicher, fröhli- cher und leichter erregbar, sie haben eine lebhaftere Phanta- sie und sind leidenschaftlicher. Der Einzelne erfährt das selbst wieder beim Besteigen eines Berges: je höher er auf- steigt, um so rascher der Puls, um so leichter die Bewegung, um so lebendiger der Geist, bis endlich in der zu sehr verdünn- ten Luft das Athmen leidet und Mattigkeit sich einstellt. In den tiefen, engen und feuchten Thälern der Schweiz und Sa- voyens tritt uns Trägheit und Stumpfsinnigkeit, ja häufig Blöd- sinn und Cretinismus entgegen, wozu aber verschiedene Ursa- chen beitragen können. — Aus der ungleichartigen Erregung des Körpers und dessen Rückwirkung auf den Geist und die Phantasie, worauf die Verschiedenheit des Klimas, die klare, warme, trockne, schwere oder drückende Luft und vielleicht auch der Elektricitätszustand der Atmosphäre von Einfluss sind, erklärt sich auch die Verschiedenheit des Charakters !) In Serrurier’s Abhandlung über den Einfluss der Witterung auf unsern psychischen Zustand (Nasse’s Archiv f. psych. Aerzte, Bd. 2, S. 264) wird der sonderbare Fall erwähnt, dass Milton’s Genie vom September bis zum Frühjahrsäquinoctium sich glänzend hervorthat, wäh- rend es zu jeder andern Jahreszeit in Trägheit feierte. Hier kann man nicht wohl das feuchte Wetter zur Erklärung herbeiziehen. 2) 8. Nasse’s Archiv f. psych. Aerzte, Bd. 2, S. 279. Der Einfluss der feuchten Witterung, zumal bei Individuen, die durch vorausgegan- gene Krankheiten geschwächt waren, ist sehr auffallend aus der unge- mein grossen Anzahl von Selbstmorden zu entnehmen, die gegen Ende des Jahres 1828 in Gröningen und Sneek vorfielen. Die meisten dieser Unglücklichen waren von der sogenannten Gröninger Epidemie von 1826 auf 1827 hart betroffen gewesen. In dem Städtchen Sneek mit 6000 Ein- wohnern kamen damals 4 Selbstmorde in einer Woche vor, darunter ein Junge von 8 Jahren (Arntzenius, Diss. de Suicidio, p. 52 et 147). Lungensüchtige. ak verschiedener Völker, das heftig Leidenschaftliche der Neger und Italiener, die Lebhaftigkeit der Bergbewohner in der Schweiz und in Tirol, die rasche Beweglichkeit der Franzo- sen, zumal der Südfranzosen, das ruhige Gebahren der Nieder- länder. Den Einfluss der Luft und der Athmung erkennen wir auch in einer verschiedenartigen Formation des Körpers. Unter sonst gleichen Umständen zeigen Menschen mit breiter Brust und entwickelten Athmungswerkzeugen, bei denen also das Blut der Lufteinwirkung besser ausgesetzt ist, mehr Muth, Kraft und Festigkeit des Willens, während Engbrüstige mehr Furcht und mürrisches Wesen verrathen '), So sind auch die reissenden Thiere mit den mehr ertwickelten Athmungsorga- nen reizbarer und muthiger als die Pfilanzenfresser, deren Brust kleiner ist. Recht auffallend ist dies bei Lungensüchtigen, bei denen die allgemeine Reizbarkeit durch die Entzündung der Lungen - sich steigert. Durch die Erregung der Lebenskraft wird das Blut so arteriell und gleichsam entzündlich,, dass selbst das Venenblut manchmal an dunkler Färbung einbüsst. Da die Entzündung der Lungen schmerzlos verläuft, das entzündliche arterielle Blut und dessen beschleunigter Andrang zum Kopfe die Gehirnthätigkeit aber sehr erregt, so wird auch der Geist ganz lebendig und hell, es werden Pläne und Entwürfe für so lebhafter die Hoffnung auf Genesung vor, je mehr ihre Krankheit zunimmt. Sogar Aerzte, die sonst ihren eigenen Zustand recht wohl zu beurtheilen im Stande waren, verfielen dabei in Irrthum und im Hinschwinden des Körpers sah ich sie noch Pläne für die Zukunft entwerfen. Wenn das Blut nicht gehörig gereinigt wird und eine mehr venöse Beschaffenheit behält, dann fehlt dem Gehirne der noth- wendige Reiz und seine Thätigkeit wird herabgedrückt und behindert, Kohlendunst erzeugt Ermattung, Schwere und Ein- a ') Burdach, Bau u. Leben des Gehirns. Thl. 3, 8. 121. 8*+ 116 Venöse Blutbeschaffenheit. genommenheit des Kopfes, Schläfrigkeit; zuletzt wird die Ge- hirnthätigkeit ganz gelähmt und es tritt Erstickung ein. Das Einspritzen venösen Blutes in die Kopfschlagadern eines Thiers hat ganz den nämlichen Erfolgt): das Thier wird hinfällig, betäubt und erstickt alsbald, wenn nicht schleunig arterielles Blut zugeleitet wird, wodurch es wieder ins Leben kommt. Daraus erklären sich wohl, zum Theil wenigstens, die Traurig- keit, die Gedrücktheit und Abspannung des Geistes bei Leber- und Unterleibsleiden, weil das dicke, schwarze Venenblut der Eingeweide nicht gehörig gereinigt wird, ebenso die Muthlosig- keit beim Scorbut, weil hier das wässrige venöse Blut nicht hinlänglich reizend einwirkt?). Dabei kommt noch in Betracht, dass die arterielle und venöse Beschaffenheit des Blutes nicht bloss auf die Thätig- keit des Gehirns von Einfluss ist, vielmehr auch die übrigen Theile des Organismus, namentlich aber der Sympathicus, durch arterielles Blut in Erregung versetzt werden. Dieser wirkt nun auch wieder auf alle Theile, selbst aufs Gefäss- system und aufs Gehirn zurück und ruft somit das Gefühl des Wohlbefindens, der Munterkeit und Fröhlichkeit, der Leichtig- keit aller Lebensverrichtungen hervor. Der Sympathicus kann eigenthümliche Empfindungen erregen, wodurch neue un- willkürliche Erscheinungen und frische Eindrücke auf den Geist zu Stande kommen, die wir aus dem Einflusse des Blu- tes aufs Gehirn allein herzuleiten nicht berechtigt sind. Eine verstärkte Herzthätigkeit, die Reizung des Gehirns durch eine kräftigere Circulation, hat auch grössere Energie des Geistes !) Bichat, Sur la vie et la mort. 4 Ed. Paris, 1822, p. 360. 2) Burdach, Bau u. Leben des Gehirns. Thl.3, S. 115. — Bei man- chen an Melancholie Leidenden zeigt sich ganz unverkennbar ein passi- ver Blutandrang zum Gehirne und eine verlangsamte Cireulation, wobei die Hände kühl sind, der Kopf aber heiss und geschwollen erscheint: das schwarze venöse Blut scheint aber nicht rasch genug vom Gehirne abzuströmen, und seine Anhäufung veranlasst ein Gedrücktsein des Geistes und Schwermuth. Daher kommt es dann, das Melancholische manchmal im Fieber, wo die Circulation beschleunigt ist, lebhaft und fröhlich werden (Burdach, ebend. S. 111). Selbstbeherrschung. 117 zur Folge, befördert die geistige Belebung und den Muth. Kommt es aber durch die gesteigerte Herzthätigkeit zu einer Erweiterung des Herzens, dann wird der Blutumlauf gestört, das Herz vermag nicht alles venöse Blut aufzunehmen, dieses sammelt sich im Gehirne an, und so entsteht eine gedrückte, schwermüthige Stimmung. Bildet sich dagegen eine Herzent- zündung aus, dann wird der Sympathicus selbst angegriffen und es entwickelt sich eine grosse Angst, deren sich der Kranke durch keinerlei Gründe zu entschlagen vermag und die ihn nicht selten zur Verzweifelung treibt. Die Störung der Circu- lation ist ohne Zweifel grossen Theils an diesen Erscheinun- gen Schuld, doch ist auch wohl die Affection der Herznerven nicht ganz unbetheiligt dabei. So kommen wir von selbst zu einer Erklärung der com- plicirteren Wirkungen des Körpers auf den Geist. Die Gehirn- thätigkeit wird nicht nur durch den stärkeren Eindruck des Blutes unwillkürlich angespornt, sie kann auch durch die Seele gereizt und in ein lebhaftes Wirken versetzt werden. Die Er- regung beschränkt sich aber keineswegs auf den Kopf, theilt sich vielmehr dem ganzen Nervensysteme und namentlich auch dem Sympathicus mit, der nun als ein zweites Centrum neben unserem Willen einwirkt und seine erhöhte Wirksamkeit auf das Gefässystem uud auf dasGehirn überträgt. So erklärt sich das mehr oder weniger Unwillkürliche der Leidenschaften. Wird z. B. jemand durch ein Wort heftig beleidigt, so vermag er diesen starken Eindruck durch festen Willen noch zu unter- drücken, so dass er sich bemeistert und ruhig bleibt, nament- lich wenn er in Selbstbeherrschung sich geübt hat; überrascht ihn dagegen die Sache zu sehr, dann wirken die heftig aufge- resten Seelenkräfte auf den Körper zurück, und zwar zunächst aufs Gehirn und Nervensystem, was eine secundäre Erregung des Sympathicus zur Folge hat, und es entsteht Herzklopfen und vermehrter Blutandrang. Diese Wirkungen sind nun der Beeinflussung durch unsern Willen gänzlich entrückt. War die Gehirnthätigkeit schon durch den ersten Impuls gesteigert, so nimmt dies durch den unwillkürlich vermehrten Blutandrang 118 Selbstbeherrschung. und die Reizung des Blutes noch mehr zu, und es ist nicht mehr möglich, den Sturm augenblicklich durch den Willens- einfluss zu beruhigen. Die vorhandene heftige Erregung des Gehirns und Rückenmarks findet vor Allem in den Muskeln einen Ausdruck, die für gewöhnlich kraft unseres Willens von diesen Theilen aus erregt werden, es entsteht nämlich ein fort- währendes Bewegen des Körpers, der nicht mehr zur Ruhe kommt. Der solchergestalt in Wuth Versetzte schlägt mit den Händen, selbst auf unschuldige Gegenstände, und stampft mit den Füssen, seine Gesichtsmuskeln sind krampfhaft ge- spannt, die Augen blitzen und nehmen im ersten Augenblicke eine fast unbewegliche Stellung unter den gerunzelten Augen- brauen ein. Der im Gehirne erweckte Sturm wirkt aber auch unwillkürlich auf die Seele zurück und veranlasst leicht un- überlegte Handlungen; schwächere Eindrücke werden gar nicht mehr wahrgenommen, der Mensch hört und sieht fast nichts neben dem Gegenstande seiner Wuth, ein ruhiges Nachdenken ist ihm geradezu nicht möglich, und durch die heftige Leiden- schaft wird er, ohne widerstehen zu können, fortgerissen. Die Folgen der ersten Aflection des Gefäss- und Nervensystems, beschleunigte Circulation und Unruhe des ganzen Körpers, hören nach Beseitigung der Ursache noch nicht auf, so wenig als die hohen Wogen der stürmischen See nach dem Aufhören des Sturms: Ruhe kehrt erst wieder, wenn die unwillkürlichen Wirkungen des Körpers durch Ruhe zum Schweigen gekom- men sind!). Man räth deshalb, einem in Zorn Versetzten einen Stuhl anzubieten und ihn zum Sitzen zu nöthigen; es verlangsamt sich dann die Circulation, es entsteht Ruhe im Körper, die Ge- hirnthätigkeit wird herabgestimmt, und die Seele kehrt wie von selbst zur Vernunft und zur ruhigen Stimmung zurück und erlangt ihre Herrschaft wieder. Nach Grohmann’) sollen 1) Eine lebendige und getreue Schilderung dieses Einflusses des Körpers auf den Geist findet man in dem trefllichen Schriftehen von Gaubius (De regimine mentis quod medicorum est. Lugd. Bat. 1747, p- 5, 29, 37 und an anderen Stellen). 2) Nasse’s Archiv f. psych. Aerzte. Bd. 6, S. 266. Deprimirende Einwirkungen. 119 bei heftigen und jähzornigen Individuen die Blutgefässe des Kopfes sehr weit sein, und Bird!) giebt an, dass ein anhalten- des heftiges Toben nur bei solchen Irren gefunden wird, deren Kopfschlagadern besonders weit sind. Ferner beobachtete Parry?) bei Irren, dass er einen drohenden Wuthanfall ab- schneiden und die Kranken zur Besinnung bringen konnte, wenn es ihm gelang, die Carotis zu comprimiren und den Blutzufluss zum Gehirne zu vermindern; liess er aber mit dem Comprimiren nach, so kehrte auch die Wuth mit dem wieder- kehrenden Blutandrange zurück. Gleichwie bei den erregenden Leidenschaften macht sich auch bei entgegengesetzten Zuständen, bei Niedergeschlagen- heit und Traurigkeit, ein unwillkürlicher Einfluss auf unsern Geist geltend. Die Wirkung ist hier eine mehr anhaltende, jedoch wieder verschieden, jenachdem ein plötzlicher Eindruck und ein Schreck auf das Nervensystem einwirkt, wie etwa die unerwartete Nachricht vom Tode eines Verwandten, oder eine langsamere Einwirkung stattfindet. Das Streben der Seele ist - dann auf Einen Punkt gerichtet und für Vorstellungen und Eindrücke, die damit nicht in Zusammenhang stehen, ist sie mehr oder weniger unempfänglich; Aufregungen, Begierden, sinnliche Eindrücke schweigen, da die Seele in sich gekehrt ist, und dadurch kommt es zu einer eigenthümlichen Abspan- nung in den Aeusserungen des gesammten Nervensystems, und durch allgemeine Erschlaffung und Schwächung der Muskeln wird der Gang träge und schwer. Der Sympathicus nimmt ebenfalls Theil, und namentlich in den Brust- und Bauchorga- nen werden alle Functionen herabgestimmt: die Säfte wer- den nicht in gehöriger Menge abgeschieden, die Verdauung liegt danieder, der Appetit schwindet, durch eine Art Gefäss- krampf wird die Circulation, zumal im Unterleibe, erschwert, die Leber fungirt nicht mehr gehörig als Blutreinigungsorgan, es stellt sich ein Gefühl von Enge und Schwere in der Herz- 1) Friedreich’s Magazin. Thl. 2, S. 34. 2) Friedreich’s Diagnostik d. psych. Krankheiten. S. 210. 120 Deprimirende Einwirkungen. grube ein, bei den seltneren Athemzügen durchläuft das Blut weniger gut die Lungen und häuft sich im Herzen an, weshalb von Zeit zu Zeit durch einen Seufzer dem Bedürfnisse des tieferen Athemholens Genüge geschieht. Das venöse Blut kann sich nicht gehörig aus dem Gehirne in das angefüllte Herz entleeren, und durch dessen abspannenden Einfluss, verbunden mit der deprimirenden Wirkung des Sympathicus, wird die Gehirnthätigkeit herabgedrückt. Diese Trägheit und dieses Gedrücktsein theilt sich aber dem Geiste mit, der an lebhaften Zerstreuungen keinen Theil mehr nehmen kann. Wenn im Sympathicus jene Wirkungsweise, die ihm be- reits durch die Gemüthsstimmung zugeführt wird, auch noch durch eine krankhafte Affection sich geltend macht, z.B. durch Verstopfung, durch Indigestion, so stellt sich die nämliche Reihe unwillkürlicher Erscheinungen ein. Durch die Affection dieses Nerven und die Störung des Blutumlaufs wird die Gehirn- thätigkeit niedergehalten, es tritt ein Gefühl von Gedrücktsein auf, eine eigenthümliche ängstliche Spannung in der Herz- grube, und der Mensch geht ganz und gar in Trauer auf, d.h. er trauert, ohne zu wissen warum. Die Phantasie führt nur traurige Bilder vor, die Vernunft vermag die somatische Ursa- che der Traurigkeit nicht zu bannen, und-so kann diese Traurigkeit zur Verzweifelung führen !). So erkennen wir deutlich eine doppelte von den Leiden- schaften ausgehende Wirkung, nämlich eine willkürliche und eine als Reactionserscheinung auftretende unwillkürliche An- fangs hängt es von unserm Willen und unserer Selbstbeherr- 1) Mehr denn Einmal habe ich beobachtet, dass nach reichlicher Ausführung krankhaft angehäufter Massen in den Eingeweiden eine Niedergeschlagenheit des Geistes wie durch Zauber auf Einmal ver- schwunden war. Ich selbst wurde in einer Krankheit drei Tage lang ohne Nachlass durch unwillkürliche Traumbilder und Phantasien ge- quält, wobei ich meiner selbst ganz bewusst war, und dieser Zustand hörte im Nu auf, sobald es zu einer Ausführung verdorbener Stoffe kam. Hieraus ersieht man ganz unwidersprechlich, wie solche Stoffe einen nachtheiligen Eindruck auf die Eingeweidenerven machen, woraus dann wieder eine unwillkürliche Einwirkung aufs Gehirn resultirt. Temperamente. 121 schung ab, dass wir uns bezwingen und zurückhalten; sind aber erst unwillkürliche somatische Aeusserungen zum Durch- bruch gekommen, dann sind die Folgen und die Einwirkungen auf den Geist nicht länger von unserm Willen abhängig. Allen Leidenschaften und Affeceten mischt sich dieses Unwillkürliche bei, und zwar je nach der Verschiedenheit des Charakters und nach der Reizbarkeit des Naturells. Bei dem einen hat das Unwillkürliche viel mehr Einfluss und Gewalt über den Geist als bei dem andern, und jener ist, ohne es selbst zu wissen, der Sclav seines Körpers, während der andere nur selten aus seinem regelmässigen Gange herauskommt. Darauf gründen sich die sogenannten Temperamente, deren bereits bei den Alten vier unterschieden werden: das cholerische oder irri- table, das sanguinische oder lebhafte, das melancholische oder schwermüthige, das phlegmatische oder torpide. Viele Men- schen werden fast ganz durch ihr Naturell bestimmt, während sie sich selbst zu beherrschen glauben. Durch seine Unter- suchungen der menschlichen Natur kam Grohmann!) zu dem tröstlichen und versöhnenden Resultate, dass der Mensch nicht “ bösartig, sondern nur ein schwaches und gebrechliches Ge- schöpf ist. Selten vollbringt er das Böse mit ganz freiem Wil- len, sondern meistens in Irrthum und Vorurtheil befangen, oder ohne Kenntniss und im blinden Triebe. Gar oft, fährt Groh- mann fort, habe ich den mit sich selbst in Zwist, Missmuth und Hass streitenden Menschen untersucht: ihn scheint ein feindlicher Dämon zu beherrschen, Bitterkeit und falsche Auf- fassung kommen fortwährend von seinen Lippen, Misstrauen und Argwohn halten ihn am Zügel, Widerwille ist sein Be- gleiter. Und was findet man bei diesem nicht bösen, wohl aber unglücklichen Menschen? Seine Gesichtsfarbe spiegelt es ab. Hätten wir ein Elixir, wodurch sich die Circulation und die Nervenwirkung in seinen Eingeweiden und im Unter- - leibe anders gestalteten, so würde das Dunkle und Schwarze aus seinem Leben ausfallen, und Freudigkeit, Gutmüthigkeit !) Friedreich’s Magazin für Seelenkunde. Thl. 1, Heft 4, S. 116. 122 Temperamente. und Theilnahme würden uns wieder an ihm entgegen treten. Aufbrausende, zornige Menschen heisst man zur Besinnung kommen, bevor sie handeln. Könnte man aber die apoplekti- sche Constitution verändern, den Hals länger und die stark klopfenden Gehirnpulsadern enger machen, die Circulation verlangsamen, dann würde das sittliche Gefühl nicht so häu- fig daniederliegen, und die Seele würde nicht so vielfach durch einen Orkan bestürmt werden. Von der Wahrheit der Grohmann’schen Angaben habe ich mich durch den Verkehr mit mancherlei Menschen vollkom- men zu überzeugen Gelegenheit gehabt. Jeder Mensch hat seine schwache Seite. und die meisten verkehrten Neigungen, mit denen wir zu kämpfen haben, nehmen den Ursprung aus dem Körper und reissen den Unbedachtsamen und Gedanken- losen mit sich fort, weil er die Waffen nicht gebraucht oder nicht gebrauchen lernte, welche die Vorsicht in unserm mora- lischen Gefühle und in unserm freien Willen niedergelegt hat, und womit wir jene Neigungen bekämpfen und Herren über unsern Körper bleiben können. Diese sittliche Natur, welche mit eingeborner Kenntniss das Gute vom Bösen unterscheidet und uns zu ersterem anspornt, verbunden mit dem freien Wil- len und der Fähigkeit, dem Bösen immer zu widerstehen, ist das Charakteristische und Höchste im Menschen, und die Schuld unserer Thaten lässt sich durch die Heftigkeit unserer Leidenschaften und durch unsere Temperamentsstimmungen, die wir nicht zu beherrschen lernten, nicht abwälzen. Ohne den Kampf gegen diese bösen Neigungen "kann keine Tugend bestehen. Der Einfluss der körperlichen Constitution tritt uns auch in den verschiedenen Lebensperioden entgegen: die vier Tem- peramente wiederholen sich beinahe in den vier Hauptperio- den des Lebens. Noch überzeugender gewahren wir dies, wenn die Constitution durch Krankheit eine Veränderung er- leidet. So berichtet z. B. Bird von einem Hypochondristen, der zwanzig Jahre hindurch über mancherlei eingebildete Lei- den geklagt hatte und zuletzt von Lungenschwindsucht befal- Menschliche Freiheit. 123 len wurde. Von da an fühlte er sich besser, alle Klagen und Beschwerden verschwanden in dem Maasse, als die Auszehrung fortschritt, und mit freudiger Aussicht in die Zukunft entwarf er mancherlei Pläne. So machte die von ihm nicht erkannte Krankheit seinen Klagen wie seinem Leben ein Ende, während er in seinem hypochondrischen Zustande, wo keine Gefahr drohte, niemals von Aengsten frei war. Ich könnte noch manche Fälle der Art beibringen und ausserdem noch durch Beispiele den Einfluss des Verdauungs- und Zeugungsapparates auf das Naturell und die Gemüthsver- fassung genauer nachweisen. Es ist aber aus dem bisher Bei- gebrachten schon ersichtlich genug, wie mächtig der Körper auf die Seele, auf die Denkweise, die Neigungen, die Be- sierden, die Handlungen einwirkt, und wie reizbar und ver- änderlich das bewegliche Spiel unserer Gedanken und Affecte ist. Ist denn nun etwa unsere Seele dem schwankenden Boote auf dem Ocean zu vergleichen, welches dem Spiele der wech- selnden Wogen Preis gegeben ist? Wo bleibt dann die hoch- gepriesene Freiheit und Kraft des Menschen, wenn so viel ‚Unwillkürliches seine Vorstellungen bestürmen, sein Urtheil irre führen, die Kraft seines Geistes schwächen oder hemmen kann ? Freilich übt das Unwillkürliche überall mehr oder weni- ger Einfluss auf den Willen, selbst ohne dass wir es immer be- merken, und unser Denken und Handeln wird dadurch modi- ficirt. Die menschliche Freiheit ist aber, wenn auch beschränkt, deshalb noch nicht aufgehoben. Es erhellt gerade hieraus der Zweck unseres irdischen Daseins und unsere hohe Stel- lung über den Thieren. Der Mensch ist frei, sobald er nur die Herrschaft über seinen Leib erlangt und seine höhere An- lage, die Kraft der Seele und den festen Willen, durch Uebung zu befestigen weiss. Wie eine feinere Erziehung selbst das Aeussere des Körpers verändert, wie eine frei empfindende Seele sich auch im Gesichte und im ganzen Körper abspiegelt, der rohe ungebildete Mensch dagegen sich schon auf den er- sten Blick verräth, so verändern sich auch die inneren Theile und die organischen Kräfte in Folge von Uebung. Belehrt uns 124 Triebe und Leidenschaften. doch die Erfahrung, dass jemand, der lange Zeit der Spielball seiner Leidenschaften war, weit schwieriger dieselben zu über- winden vermag. Die somatischen Einwirkungen auf den Geist, der Andrang des Blutes zum Kopfe treten um so intensiver hervor, je öfterer sie wiederkehren und je andauernder sie sind. Wie die Muskelkraft im Arme des Fechtmeisters oder im Körper des Lastträgers durch Geübtwerden sich steigert, so wird auch der Sturm der Leidenschaften immer heftiger und die Freiheit verliert sich unter dem Drucke des Körpers. Deshalb kommt so viel auf Erziehung an. Nach eigener FEr- fahrung wird es wohl allseitig anerkannt werden, dass die jugendlichen Eindrücke, die frühe Zügelung der Triebe in der ersten Blüthe des Lebens meistens für das ganze folgende Le- ben erfolgreich sind. Ein Kind, das sich noch nicht zu beherr- schen im Stande ist, wird fortwährend der Spielball seiner Launen, Triebe und Leidenschaften, und die Eltern und Erzie- her müssen es lenken, bis das stärker entwickelte Gefühl der Pflicht und die Vernunft seinen Willen kräftigen. Das Thier ermangelt dieser Selbstbeherrschung, und nur durch einen stärkeren Eindruck, z. B. durch Furcht und Schrecken, kön- nen seine Neigungen und Triebe gezügelt oder unterdrückt werden; der Mensch, der sich selbst beherrscht, nimmt dadurch eine höhere Stellung ein. Diese Beherrschung gelingt um so leichter, je weniger den ersten Launen und Trieben nachgege- ben und der unwillkürlichen Reaction des Körpers Vorschub geleistet wird, durch deren volle Entwickelung die Geistes- kraft erlahmt. Hier gilt im vollen Sinne das Wort: principiis obsta, bevor der unwillkürliche Einfluss des Körpers zu mäch- tig wird. Der verführerische Eindruck einer Schönheit, die anschei- nend günstige Gelegenheit und die Vereinigung der Umstände können bei einem feurigen Jünglinge Empfindungen erwecken, die er durch die Kraft und den Willen seines Geistes, durch das sittliche Gefühl der Pfiicht und durch die Vernunft nieder zu halten vermag. Verfliest aber der erste entscheidende Moment, dann macht sich der stürmische Trieb geltend, der gesammte Willensfreiheit. 125 Körper kommt in Aufruhr, das Blut jagt nach dem Gehirne, und die Seele, durch die gewaltige Wirkung der Gehirnthätigkeit niedergehalten, vermag in so gefährlichem Augenblicke den somatischen Sturm nicht länger zu bewältigen. Die ruhige Ueberlegung, der vernünftige Wille sind dahin, und unbedacht- sam folgt der Jüngling den somatischen Eindrücken, die ihn zur blinden Wuth treiben, woraus er nur zu spät mit nagen- den Gewissensbissen erwacht. Als Gegengewicht dieses unwillkürlichen somatischen Ein- flusses ward dem Menschen vor dem Thiere die Vernunft und das sittliche Gefühl zu Theil. Die Vereinigung mit dem Kör- per führt.zu einem beständigen Kampfe, wobei es von unserem freien Willen und von der Uebung abhängt, ob wir uns selbst mehr oder weniger lenken. Wenn aber der Körper und das besondere Naturell oft- mals so entschieden bei unserm Denken und Handeln in den Vordergrund treten, wie steht es dann mit der Verantwortlich- keit für unsere Handlungen? Kann denn, wenn jemand im Zorne einen Mord verübt, von einem freien Handeln die Rede ‘sein? Dass ein solcher Mörder im Augenblicke der That, in Folge des gewaltsamen unwillkürlichen Wirkens des Körpers und der Leidenschaften, meistens des Denkens und der Ver- nunft nicht mächtig ist, bedarf keines besondern Beweises; daraus folgt aber noch nicht die volle Unschuld des Mörders. Es giebt Fälle, wo auch der Gesetzgeber einen Unterschied macht und selbst Straflosigkeit ausspricht. Die Entscheidung über den Grad der Willensfreiheit bei einer That ist manchmal höchst schwierig. Der Einfluss des Körpers auf den Geist lässt sich bei Krankheitsprocessen manchmal kaum ermessen, und solche Krankheitsprocesse können lange unterdrückt sein und manchmal rasch zum Aus- bruche kommen, eine kurzdauernde sogenannte transitorische Manie erzeugend. So konnte ich bei einem Manne, den ich über ein Jahr lang einer sorgfältigen Untersuchung unterwarf, nichts Irrsinniges auffinden, und doch hatte er in einem, wie er selbst angab, ihm unerklärlichen Drange, dem er nicht zu 126 Beschränkung der Willensfreiheit. widerstehen vermochte, sein liebstes Kind ums Leben bringen wollen. Der Gedanke, die schreckliche That, an der er verhin- dert wurde, beinahe vollbracht zu haben, hatte einen solchen Eindruck auf ihn hervorgebracht, dass-dadurch Genesung ein- getreten zu sein schien. Ein solcher Eindruck, wie z. B. das unerwartete Eintreten einer Person, ja ein scheinbar ganz zufälliges Ereigniss, kann dem Spiele der unwillkürlichen Phantasie ein Ziel setzen und den Sturm zerstreuen, so dass wir uns selbst wiedergegeben werden. So erzählt Groh- mann), dass zwei Brüder, durch Armuth und Elend getrieben, ihrem Leben wechselseitig ein Ende machen wollten. Da fing ein kleiner Hund, den sie zufällig mitgenommen hatten, wegen eines Schmerzes heftig zu heulen an, und bei dieser Schmerz- äusserung wurden sie aus ihrer Betäubung herausgerissen durch den Gedanken: wenn unsere Mutter über unseren Tod einen ähnlichen Schmerz empfinden sollte! Durch diese ganz unbedeutende Veranlassung kehrte ihnen die Vernunft wieder, der Wille erlangte die nöthige Kraft und muthvoll kehrten sie zurück. Der Mensch erfreut sich also hierin keiner unbeschränk- ten Freiheit, wenn er es auch glaubt, sondern mehr oder weni- ger ist er dem Einflusse des Körpers unterworfen. So wenig der Wille den Einfluss des Geistes auf das Somatische ganz aufzuheben und z. B. das Auftreten der Schamröthe zurück- zuhalten vermag, sobald ein beschämendes Gefühl das Blut durch alle Gesichtsgefässe treibt, eben so wenig vermag der Wille eine gänzliche Umänderung des Charakters herbeizu- führen. Der Mensch kann den Einfluss des Körpers auf den Geist bändigen, nicht aber vollkommen abhalten. So ist die menschliche Freiheit eine verschiedenartige je nach dem Natu- rell und dem Charakter, worauf Erziehung, Lebensstellung, Klima, Alter und Krankheitszustände einen so entschiedenen Einfluss üben. Um mit sicherer Hand die Gewalt und den Einfluss der somatischen Aeusserungen auf den Willen abzu- 1) Zeitschrift f. psych. Aerzte. Thl. 1, S. 485. Hirnleben und Seelenleben. 127 wägen und den Grad der Verantwortlichkeit zu bestimmen, dazu bedarf es mehr denn menschlicher Einsicht, und wir überlassen dies Gott. Niemals vermögen wir mit vollkomme- ner Wahrheit den sittlichen Werth der Handlungen unserer Nebenmenschen abzuschätzen, wir beurtheilen dieselben von unserem Standpunkte aus, d. h. mehr oder weniger einseitig, und empfinden nicht die nämlichen somatischen Eindrücke, die auf sie einwirkten. Endlich mag nach Allem, was bisher angeführt wurde, die Frage gerechtfertigt erscheinen, ob nicht Gehirnthätigkeit und Seele einerlei sind? Wenn durch eine Erregung des Kör- pers die seelischen Vermögen sich steigern, wenn aus einer materiellen Ursache Neigungen der Seele sich entwickeln, giebt es denn da noch einen Unterschied zwischen Seele und Gehirnthätigkeit? Dieser Unterschied ist aber doch vorhan- den, und vielleicht tritt er uns nirgends schärfer entgegen, als in dem bisher Besprochenen. Die Erregung der Gehirnthätigkeit, die erhöhte Reizbar- keit des Gefässsystems haben freilich einen leichteren und rascheren Verlauf unserer Handlungen und Vorstellungen zur Folge, auch unser Gefühlsvermögen wird dadurch gar sehr beeinflusst und Begierden können dadurch erweckt und modifi- cirt werden, es kommt aber dabei kein tieferes Urtheil, es kom- men keine schärferen Verstandesvermögen zum Durchbruch. Bei kräftiger, rascher Circulation zeigt sich oftmals eine recht bewegliche Seele mit einem beschränkten Verstande; einer weniger raschen Organisation ist oftmals eine ruhigere, dabei aber tiefer eindringende Seele verliehen, wo die Gedanken zwar nicht gleich rasch auftauchen, dabei aber klarer sind, und wo das Urtheil ein tieferes ist. Die regere Gehirnthätig- keit bringt also keinen grösseren Verstand, sondern nur ein rascheres Wirken, das Gehirn ist dann nur ein bequemeres Werkzeug der Seele. Es können daher bei ganz entgegen- gesetzten Körperconstitutionen die vorzüglichsten Geistes- vermögen gefunden werden. Nicht die Seele an und für sich, 128 Hirnleben und Seelenleben. sondern die wechselseitige Wirkung von Körper und Seele be- dingt den Charakter. Sodann gewahren wir überall einen Kampf zwischen unse- rem Willen und einem Drange, der ausser oder neben unserem Willen dasteht, also nicht mit diesem identisch ist, und den wir auch mittelst unseres Willens zu zügeln im Stande sind. Dieser Nerven- oder Gehirnkraft kommt, gleich allem Somati- schen, der Charakter der Unwillkürlichkeit zu, der allen Natur- kräften gemein ist; ihre Wirkungen sind festen Gesetzen unter- worfen, und sie äussert sich gemäss den Eindrücken, von denen sie berührt wird. Je mehr die Gehirnkraft erregt und in Wirksamkeit versetzt wird, um so mehr Unwillkürliches; mischt sich den Handlungen bei. Ich habe dafür das Beispiel des Wüthenden und des Betrunkenen angeführt, bei denen nicht etwa der Verstand gesteigert, sondern nur durch die un- gestüme Gehirnthätigkeit verdrängt und unterdrückt ist. Das Gleiche sehen wir bei Irrsinnigen und Delirirenden, bei denen durch die gesteigerte Erregung der Gehirn- und Nervenkraft die verständige Leitung des Denkvermögens in Ausfall ge- kommen ist. Die sinnlichen Eindrücke und die Empfindungen werden uns mittelst des Körpers zugeführt, sie charakterisiren sich durch das Unwillkürliche und gestalten sich auch ver- schieden nach dem Naturell: daher die bei verschiedenen Men- schen wechselnde Auffassung dessen, was schön und ange- nehm ist. Anders verhält es sich mit dem sittlichen Gefühle. Das Gefühl für Recht und Billigkeit, für Pflicht und Tugend kann allerdings mit mehr oder weniger Klarheit hervortreten; das hängt aber nicht vom Naturell ab. Nirgends wird im Princip Schlechtigkeit und Verworfenheit für Tugend, Uebelthat für Pflicht erachtet, wenngleich auch hier Irrthum unterläuft. Das sittliche Gefühl ist nicht der unbeständigen Gehirnthätig- keit anvertraut, vielmehr ist es ein sicherer Begleiter unseres höheren Princips. Glücklich, wer es einstmals gepflegt und veredelt zurückbringt. Die Seele ist demnach ein höheres Princip, als dessen Hirnleben und Seelenleben. 129 unterscheidende Kennzeichen freier Wille, Urtheil, Vernunft und sittliches Gefühl zu nennen sind. Wohin wir auch in der Natur blicken, nirgends ausser uns finden wir eine mit diesen Eigenschaften ausgestattete Kraft. Der sonderbare Wider- spruch, worin sich der Mensch zeigt, findet nach Herder!) darin seine Erklärung, dass er das verbindende Glied zweier Welten ist, dass „sein Zustand, der letzte für diese Erde, zu- „gleich der erste für ein anderes Dasein ist, gegen den er, „wie ein Kind, in den ersten Uebungen hier erscheint. — — — „Sofort wird klar, welcher Theil bei den meisten hienieden „der herrschende sein werde. Der grösste Theil des Menschen ist „Ihier; zur Humanität hat er bloss die Fähigkeit auf die Welt „gebracht, und sie muss ihm durch Mühe und Fleiss erst ange- „bildet werden. Wie wenigen ist es nun auf die rechte Weise „angebildet worden! Und auch bei den besten, wie fein und „zart ist die in ihnen aufgepflanzte göttliche Blume! Lebens- ‚lang will das Thier über den Menschen herrschen, und die „meisten lassen es nach Gefallen über sich regieren. Es zieht „also unaufhörlich nieder, wenn der Geist hinauf, wenn das ‚„Herz in einen freien Kreis will. Und da für ein sinnliches „Geschöpf die Gegenwart immer lebhafter ist, als die Entfer- „nung, und das Sichtbare mächtiger auf dasselbe wirkt, als . „das Unsichtbare, so ist leicht zu erachten, wohin die Wage „der beiden Gewichte überschlagen werde. — — — Die edel- „sten Verbindungen hienieden werden von niedrigen Trieben, „wie die Schiffahrt des Lebens von widrigen Winden, ge- „stört, und der Schöpfer, barmherzig-strenge, hat beide Ver- „wirrungen in einander geordnet, um eine durch die andere „zu zähmen, und die Sprosse der Unsterblichkeit mehr durch „rauhe Winde als durch schmeichelnde Weste in uns zu er- „ziehen. Ein viel versuchter Mensch hat viel gelernt, ein „träger und müssiger weiss nicht, was in ihm liegt, noch we- „niger weiss er mit selbstgefühlter Freude, was er kann und 1) Ideen zur Geschichte der Menschheit. Sämmtliche Werke, 1827, Thl. 4, $. 240. Schroeder van der Kolk, Seele und Leib. 9 130 Hirnleben und Seclenleben. „vermag. Das Leben ist also ein Kampf, und die Blume der „reinen unsterblichen Humanität eine schwer errungene Krone. „Den Läufern steht das Ziel am Ende; den Kämpfern um die „Lugend wird der Kranz im Tode.“ Ist nun auch der Einfluss des Körpers auf die Seele je nach Temperament, Lebenszeit und wechselnder Erregbarkeit bedeutsam genug, der Mensch besitzt gleichwohl die höhere Freiheit, die ihn in Stand setzt, den Eindrücken und Neigun- gen, die aus seinem Naturell entspringen, zu widerstehen und sie zu überwinden. In ihm ist also etwas Selbstständiges vor- handen, etwas über der Gehirnthätigkeit Stehendes, und seine Seele darf nicht mit der Gehirnthätigkeit identificirt werden. Das Gehirn wirkt unwillkürlich, und wird durch Eindrücke und Reize, die es treffen, erregt; die Seele ist mit Urtheils- fähigkeit, mit Verstand und Vernunft ausgestattet, sie handelt frei, und das sittliche Gefühl dient ihr als Compass auf der Lebensbahn, veredelt sie und spornt sie an, höhere Vollkom- menheit zu erstreben. Nur so erklärt sich die Erscheinung, deren ich bereits frü- her (in der ersten Abhandlung) gedacht habe, dass, wenn vor dem Tode die unwillkürliche Gehirnthätigkeit und die sinn- lichen Eindrücke in Wegfall kommen und die Banden, womit unser höheres Princip an die Materie gefesselt ist, sich lockern, alsdann die Seele oftmals mit grösserer Freiheit, mit Klarkeit und in reinen Empfindungen sich offenbart, mit hellen in die Zukunft reichenden Strahlen als untergehende Sonne ihre leib- liche Hülle verlassend. Ist dieses höhere Princip hienieden aufs Engste an die Kräfte der Materie gebunden, können wir hienieden nur Ma- terielles erkennen, hemmen jene irdischen Kräfte unsere voll- kommene Entwickelung, so dürfen wir doch erwarten, dass wir nach dem Verlassen dieser ersten Pflanzschule höheren noch unbekannten Kräften vereint sein werden, dass wir freier und edler in der Schöpfung dastehen und in dieser höheren Schule zu wahrer Vollkommenheit und zu einer Reife kommen werden, za der hienieden nur die ersten Keime gelegt wurden. Br Die Selbstständigkeit der Seele, bestätigt durch die verschiedenen Entwickelungs- stadien des Menschen. ; Wenn wir um uns die Werke der Natur betrachten und -—” auf deren unendliche Verschiedenheit und Menge achten, wobei Alles in harmonischer Ordnung nach Einem Ziele hinstrebt, so muss uns die Masse von Leben und Bewegung im organi- schen Reiche am meisten in Verwunderung setzen. Im Pflan- zen- wie im Thierreiche haben wir einen ununterbrochenen Wechsel von Werden und Vergehen, und doch erhält sich das Ganze, ohne dass wir.die verborgene Macht sehen, die Alles schafft und zusammenhält. Fassen wir aber einen einzelnen Organismus ins Auge und suchen hier den Zusammenhang zwischen den organischen Apparaten und den Lebensäusserungen zu ermitteln, so tritt uns die gleiche Ordnung und Harmonie entgegen, und wir überzeugen uns, dass in der ‘Schöpfung überall Mittel und Zweck zusammenfallen, dass jeder einzelne Theil nicht bloss um seiner selbst willen da ist, sondern auch zum Bestehen und Leben .des ganzen Organismus beiträgt. Alles ist mit uner- gründlicher Weisheit gerade so geordnet, wie wir es sehen. Jede Pflanze wie jedes Thier ist gerade so gebaut, die Lebens- äusserungen und Kräfte derselben sind so geregelt, und ihre Eigenschaften und Fertigkeiten wirken so harmonisch zusam- 9* 132 Seele und Leib. men, wie ihre Existenz, ihre Lebensweise und ihre Bedürfnisse es erfordern; nichts ist vergessen, nichts ist überflüssig oder nutzlos, Alles verkündet uns den grossen Meister, dessen Voll- endung sich in seinen Werken abspiegelt. Wenden wir uns zum Menschen selbst, so finden wir, dass neben den somatischen Wirkungen und den Nervenkräften, die im lebenden Körper wirken, auch noch neue und höhere Vermögen und Geistesgaben vorkommen, die uns in solcher Weise nicht wieder in der lebenden Natur entgegentreten. Beim Menschen treffen wir das höhere Ich, den mit Verstand und Vernunft ausgestatteten ‚Geist, welcher die Wunder der Natur untersucht und erforscht, Ursache und Wirkung berech- net, und sich bis zum letzten Grunde des Weltalls, bis zum Schöpfer selbst erhebt, worin er die unendliche Weisheit und die Quelle alles Erschaffenen voll Ehrfurcht anstaunt. Der Natur dieses höheren Princips sowohl, als auch der engen Verbindung der Seele mit dem Körper, hat man zu allen Zeiten eifrig nachgeforscht. Im Allgemeinen erachtet man die Seele für ein höheres selbstständiges Princip, dem unser Körper nur als temporäre Wohnung und als Instrument zugewiesen ist. Indess wollen auch Manche, zumal in der Jetzt- zeit, die Seele nur als den Ausfluss der dem lebenden Körper eigenthümlichen und an die Materie gebundenen Kräfte gelten lassen, oder als eine in den Nerven und im Gehirne durch den Stoffwechsel bewirkte Kraftäusserung. Nach Professor Ludwig Fick!) in Marburg ist die Seele die Vereinigung der centralen Nervenströme, und als Product somatischer Kräfte entbehrt sie jeder Selbstständigkeit: sie ist nach ihm Eins mit dem Körper, Eins mit der Materie, durch deren Wirkung sie ersteht, und auch eben so hinfällig und vergänglich als die Formen der Materie. denen sie ihr Auftreten zu verdan- ken hat. Dass Seele und Körper, wie wir es an den übrigen Wer- ken der Schöpfung wahrnehmen, in harmonischer Weise auf ') Müller’s Archiv 1851, Heft 5, S. 385. Seele und Leib. 133 Ein Ziel hinwirken, ist nicht in Abrede zu stellen. Dass der Körper auf unsere geistigen Thätigkeiten und auf unser ge- sammtes höheres Wesen einen sehr grossen Einfluss übt, das lehrt die tägliche Erfahrung, das entnehmen wir dem eigenen Naturell, dem Temperamente, den mehr oder weniger hervor- tretenden Neigungen und Leidenschaften, ja das beweisen uns die Irrsinnigen in so betrübender Art. Führt denn aber die Natur, führen alle diese Erscheinun- gen wirklich zu dem Schlusse, dass Seele und Körper Eins sind, dass unser höheres Ich nichts ist als eine Aeusserung unserer höchsten somatischen Kräfte und dem Stoffwechsel ent- springt? oder zeigt uns nicht vielmehr die genauere Untersu- chung, dass die Seele keineswegs ein unmittelbares Product des Körpers, sondern der Körper nur ein Instrument für die Seele ist, die als selbstständiges und hienieden unerforschba- ‘res Wesen den Körper bewohnt und nur mit dessen Hülfe ihr höheres Ziel zu erreichen im Stande ist? Ich will versuchen, das Buch der Natur selbst aufzuschla- gen, ob sich hier nicht eine Aufhellung dieser bedeutungsvol- len und dunklen Fragen auffinden lässt, indem ich eine Skizze der aufeinanderfolgenden Entwickelungsstadien des Menschen entwerfe, und so die Entsprossung der höhern Geistesvermö- gen beim Kinde, ihre weitere Gestaltung im Jünglingsalter, ihre volle Entfaltung beim Manne, und endlich ihre Reife im Greisenalter verfolge. Da wird es sich zeigen, ob unser hö- heres Ich, die Verstandeskräfte, die Vernunft, das sittliche Gefühl Producte der somatischen Kräfte sind und mit diesen Kräften in den verschiedenen Lebensepochen gleichen Schritt halten, wie es bei wirklicher Einheit oder Identität von Seele und Leib zu erwarten wäre. Sobald das neugeborene Kind in die ihm neue Welt einge- treten ist, erwacht es aus einem bis dahin ungestörten Schlafe, — en" 134 Das Neugeborne. worin äussere Reize kaum auf dasselbe einwirken konnten, durch fremdartige noch nicht empfundene Eindrücke. Seine Sinnesorgane sind aber noch nicht so ausgebildet, dass sie diese Eindrücke genau und richtig aufnehmen könnten, und seine noch unentwickelten Geisteskräfte vermögen sie noch nicht zu unterscheiden: das Kind hat Eindrücke und Empfin- Er dungen, aber noch keine Wahrnehmungen, Krr- do. w 2 Das Seelebeleben des Kindes ist zuerst nichts anderes, als ein temporäres Empfangen von Eindrücken, die noch nicht begriffen werden. In dieser ersten Schule lernt es die Empfin- dungen von einander unterscheiden, und wenn sie sich vielfach wiederholen, weiterhin mehr und mehr verstehen und begrei- fen; die sinnlichen Eindrücke führen so zu Wahrnehmungen, sie sind die von der Aussenwelt gebotene Nahrung des Gei- stes, der erste Stoff für das Nachdenken. Das Licht abgerech- net, welches in die Augen fällt, scheint das Kind zuerst kaum noch von anderen Wahrnehmungen erreicht zu werden, alsvon dem fremdartigen Gefühle des Hungers oder Durstes. Früher ging seine Nutrition ohne alle Unterbrechung von Statten; jetzt wird es aus dem wohlthätigen Schlafe,“ gleichsam der Fortsetzung des Fruchtlebens, durch das erste unangenehme Gefühl von Hunger oder Durst erweckt, was ihm einen unwill- kürlichen Schrei erpresst. Die eigene Stimme, die hierbei durchbricht, gehört wieder zu seinen ersten Währnehmungen. Da die gütige Natur für Alles gesorgt hat, so kommen die zum Saugen nöthigen Bewegungen nicht durch den Willen des Kin- des oder durch verständiges Nachdenken zu Stande, sondern ganz unwillkürlich stellen sie sich ein: bei jeder Berührung der empfindlichen Lippen stellt sich eine Saugbewegung ein, und selbst neugeborene Kinder, denen das Gehirn fehlt, saugen gleich gut. So lange das Kind den eigenen Körper noch nicht beherrschen kann, ist diese Beherrschung durch eine eigene künstliche Einrichtung dem Körper selbst anvertraut, für Alles ist Sorge getragen, nichts ist seiner Unerfahrenheit und dem noch nicht fixirten Wollen und Wirken überlassen. An der Mutter Brust geschieht dem ersten Bedürfnisse 2 Das Neugeborne. 135 Genüge, hier wird dem Kinde das angenehme Gefühl der Sät- tigung und Befriedigung, hier hat es den ersten Lebensgenuss in der neuen Welt. Die fortwährende Wiederkehr dieses Be- dürfnisses und die nachfolgende behagliche Sättigung giebt die- ser Wahrnehmung mehr Dauer und Bestand. Wird das Kind weggenommen, oder wirkt eine andere fremdartige Empfindung auf dasselbe, es dreht alsbald den kleinen Mund wieder zur Seite, um aufs Neue seinem Bedürfniss auf genussreiche Weise zu genügen, denn es uuterscheidet der Mutter Brust noch nicht von anderen fremdartigen Reizen oder Wahrnehmungen. In seinem noch dunklen Selbstbewusstsein erfolgt aber damit der erste Schritt zu höherer Selbstentwickelung: es liegt darin - die erste Andeutung des Gedächtnisses, wodurch ihm ein dunk- les Gefühl des früheren Genusses zu Theil wird, und damit fängt das Kind schon an, in der Vergangenheit zu leben. Die Sinnesorgane sind noch unvollkommen und erst all- mälig wird das Kind empfänglich für mehrfache Eindrücke. Nur in den Pausen des sonst anhaltenden Schlafes bekommt es “in kleinen wiederholten Gaben sinnliche Eindrücke und dadurch wird es vor Ueberreizung bewahrt. Zuerst scheint das Kind noch taub oder wenigstens hart- hörig zu sein. Die Trommelhöhle ist noch mit Flüssigkeit an- gefüllt, deren Stelle erst langsam durch die eindringende Luft ersetzt zu werden scheint; diese Erfüllung der Trommel- höhle muss aber beim Kinde eben so Taubheit bewirken, wie eine solche unter gleichen Umständen häufig in späteren Jahren vorkommt. Nach ein paar Wochen nahm ich aber doch mehr- mals deutlich wahr, dass-die Kinder Geräusch empfanden. Jedenfalls wird aber ein Kind in der ersten Zeit durch Lärm weniger leicht in seinem ruhigen Schlafe gestört, als spä- terhin. Das Gesicht als das erste Sinnesorgan verschafft dem Kinde die ersten Wahrnehmungen und bringt dasselbe in nä- here Beziehung zur Aussenwelt. Bereits wenige Stunden nach der Geburt sah ich die Augen des Kindes den Bewegungen 136 Anfänge des geistigen Lebens. eines etwas entfernten Lichtes nachgehen. Nach Burdach!), dessen sorgfältigen Beobachtungen ich hauptsächlich folge, unterscheidet sich das Kind hierdurch von allen neugeborenen Säugethieren, bei denen so etwas nicht vorkommt. Durch die starke Wölbung der Augäpfel und der von ihnen umschlosse- nen Linsen scheint aber das Auge noch längere Zeit mehr für nahe Gegenstände eingerichtet zu sein; die Unbeweglichkeit der Augäpfel in den ersten Tagen, sowie die manchmal noch vorhandene Pupillarmembran scheinen aber das Gesicht noch zu verdunkeln, und das Kind erfreut sich zwar des Lichts, aber es sieht noch nicht, es nimmt noch nicht wahr. Zuerst folgt das Kind dem Lichte, dann verfolgt es helle Gegenstände und deren Bewegung, und bald erwacht durch die wiederholten Eindrücke eine eigenthümliche Thätigkeit des Geistes, das Licht nämlich verursacht ihm einen angenehmen Eindruck, und im Dunkeln giebt es seine Ungeduld zu erkennen. Durch die sich immer wiederholenden Eindrücke erlangt das Kind schon in den ersten Monaten eine gewisse Kennt- niss der Gegenstände. Das Fremdartige scheint ihm Befriedi- gung zu schaffen, und das erste unwillkürliche Lächeln um den zarten Mund im zweiten oder dritten Monate versetzt die spähende Mutter in ein Entzücken über die schnelle Entwicke- lung ihres Lieblings. Im dritten Monate geben sich Wohlgefal- len und Unlust schon deutlich genug zu erkennen. Dabei nimmt das Gedächtniss zu und es steigert sich die Combina- tion der empfangenen Eindrücke. Früher schrie das Kind, wenn es Hunger hatte, so lange, bis es an die Brust gelegt ward und im Saugen seine Befriedigung fand; vom dritten Monate an wird es in der Regel schon still, so wie es nur auf- genommen wird, und an die Brust gelegt: es weiss nun be- reits durch wiederholte Erfahrung, dass seinem Bedürfniss alsbald Genüge geschehen wird. Weiterhin weiss es, was sein Schreien für Folgen hat, und nun schreit es absichtlich, um etwas zu erlangen. So entwickelt sich ein eigenthümliches \) Die Physiologie als Erfahrungswissenschaft, Thl. 3, 8. 185, Anfänge des geistigen Lebens. 137 oder spontanes Wirken des Geistes; das Gedächtniss nimmt zu und das Kind giebt seinen Willen kund. Betrachten wir diese merkwürdige Erscheinung etwas nä- her! Seele und Körper sollen Eins sein, oder die Seele soll nichts sein, als Nerven- oder Gehirnkraft. Folgt dies aus einer vorurtheilslosen Beobachtung der Natur? Jeder Nerv, jeder Gehirntheil wirkt nur nach einem empfangenen Ein- drucke, nicht aber von sich aus, immer auf die nämliche Weise. Beim Kinde sehen wir dagegen ein neues Princip, ein selbst- ständig wirkendes Wesen oder Vermögen langsam wie aus einem Schlafe heraustreten, ein Princip, worin sich Willkür und Bewusstsein kund geben, was bei keiner Nervenkraft an- getroffen wird, ein Wesen, welches auf das Gehirn und auf die Nervenkraft einwirkt, oder Eindrücke empfängt und aufnimmt, bewahrt und verarbeitet, sich aneignet und dann wieder aus- sendet, ohne sie indessen wie durch einen Spiegel augenblick- lich zu reflectiren. Es handelt dieses Wesen vielmehr nach ‚ eigenem Willen in Gemässheit eines selbstständigen Vermögens und es wird nicht mehr bloss passiv angetrieben. So vermag ich die Gleichheit oder Identität der Seele und des Körpers nicht aus der Natur herauszulesen, eher dieses, dass die Seele ein besonderes selbstständiges Princip ist, welches sich noch weiter entwickeln muss. Wie zuerst der kindliche Geist in der Aufnahme von Ein- drücken sich passiv verhält und kein eigenes Wirken darlegt, so wirkt er auch noch nicht auf den Körper des Kindes. Die ersten Bewegungen erfolgen unwillkürlich und ohne Ziel; das Kind hat noch nicht die Absicht, etwas zu fassen, es be- herrscht noch nicht die Bewegungen der Arme. Sehr frühzei- tig führt es dagegen die Händchen zum Munde. Vom dritten Monate an beginnt es auch nach etwas zu greifen, als Vor- versuch sich aufzurichten. Das eigentliche Tasten und Begrei- fen kommt weit später; es verlangt eine höhere Thätigkeit des Geistes und eigene Untersuchung. Es ist eine ganz ver- fehlte Ansicht, wenn manche Autoren behaupteten, das Kind bekomme durchs Tasten den ersten Eindruck von Entfernung ns 138 Anfänge des geistigen Lebens. und Grösse, und durchs Fühlen lerne es sehen. Schon lange sieht und unterscheidet das Kind Gegenstände in verschiede- nen Entfernungen, bevor es dieselben begreift und untersucht; es ist noch nicht der philosophischen Betrachtungen und Be- weisführungen fähig, die ihm von der Phantasie jener Autoren angedichtet werden, indem sie sich das Kind als einen kleinen Philosophen denken, der bereits über die Eigenschaften der Dinge philosophirt und Schlüsse zieht. Gegen das Ende des dritten Monats nimmt die Entwicke- lung sehr rasch zu: die Aufmerksamkeit wird gespannter und die Nachahmung beginnt. Ich beobachtete um diese Zeit schon ein Falten des Mundes, um das Geräusch nachzuahmen, das dem Kinde vorgemacht wurde. Ein rascher Wechsel der Dinge überrascht das Kind, und es jauchzt darob vor Freude. Als neue Erscheinung kommen jetzt die ersten Aufwallungen und Leidenschaften , wogegen späterhin so hart anzukämpfen ist: das Kind giebt deutlich seinen Unwillen und seinen Zorn zu erkennen; es schreit, es stösst mit den Beinchen und wehrt sich, so gut es kann, beim Waschen; im verschiedenen Tone des Geschreis drückt sich schon aus, was in ihm vorgeht. „Kein Thier,“ sagt Burdach!'), „ist nach der Geburt so unge- duldig und geberdet sich so leidenschaftlich, als der Mensch; er allein findet die Schranken seines Lebens so unerträglich, weil er mit höherer Kraft begabt und zur Freiheit beru- fen ist.“ Zugleich mit der Leidenschaftlichkeit entwickelt sich aber auch Gemüth und Gefühl. Anfangs ist das Kind noch gleich- gültig und der Freude unzugänglich, erst durch wiederholte angenehme Eindrücke muss dies Gefühl in ihm erweckt werden. Zuerst gewähren ihm nur sinnliche Eindrücke Vergnügen, z. B. glänzende Gegenstände, weiterhin auch die sanfte mensch- liche Stimme, und vom vierten Monate an jauchzt es vor Freude, wenn ihm zugesprochen wird und wenn es ein freund- liches Gesicht sieht. Die Wiederholung macht es ihm zu 1) Physiologie, Thl. 3, 8. 201. Anfänge des geistigen Lebens. 139 einem Bedürfnisse, diese Freude zu geniessen, es wird gesellig und will nicht mehr allein sein. Die Gewohnheit oder die Erinnerung des Gefühls, wie es Burdach nennt, fängt an sich geltend zu machen, und mit ihr beginnt die Erziehung. Durch die tägliche Gewohnheit wird das Kind zunächst an die Mut- ter gefesselt, bei der es Ruhe und Befriedigung findet, und weiterhin auch an die übrigen Hausgenossen. Der hierdurch erwachte Trieb nach Geselligkeit ist der erste Keim der aus Liebe entsprossenen Gegenliebe, und das edelste menschliche Gefühl, die Liebe, wendet sich somit zuerst der Mutter zu, dann den Geschwistern, und mit der Erweiterung des Gesichts- kreises auch der übrigen Menschheit. Es wird dieses Gefühl vornehmlich durchs Gehör und somit durch Zusprache hervor- gerufen. Wie sehr das Gehör auf dieses Gefühl einwirkt, dar- über belehren uns die von Geburt an Taubstummen, die im Allgemeinen weniger gesellig und dabei weit eigensinniger sich darstellen; sie bewältigen die Leidenschaften ungleich ‘schwerer als Blindgeborene. Der Ton der Klage rührt uns weit mehr, als der Anblick eines Unglücklichen. Das Gehör wirkt mächtiger auf das Gefühl und spricht stärker zum Ge- müthe, das Gesicht wirkt mehr auf den Verstand. In der ferneren Entwickelung unterscheidet "das Kind auch rascher das Fremde und Ungewohnte vom bereits Be- kannten: den Fremden starrt es zuerst mit weiten Augen an, dann wendet es das Gesicht ab, verbirgt sich an der"Mutter- brust und fängt an zu schreien. So tritt ein neues Gefühl, die Furcht, auf; das Kind wird scheu und ängstlich, wenn ein Un- bekannter ihm naht. Nun erkennt es auch, was ihm angenehm und seiner Auf- merksamkeit werth ist, es will danach greifen, und in diesem Begehren des Erfassens liegt das erste Verlangen nach Be- sitz. Das Kind ist noch ganz und gar Egoist. Die Vorstel- lung, dass etwas einem Andern angehöre, entwickelt sich erst später durch Entbehren und Aufopferung; dazu gehört ein Be- wältigen der Begierden, ein Beherrschen seiner selbst. Wir dürfen uns nicht wundern, dass dies dem Kinde schwer fällt, 140 Anfänge des geistlichen Lebens. da ja so viele Menschen in dieser Beziehung Zeitlebens Kinder bleiben. Werden die Begierden des Kindes fortwährend befriedigt, merkt es, dass man seinen Wünschen dienstbeflissen nach- komnit, dass man ihm giebt, was es verlangt, so lernt es immer mehr die Macht seines Wollens kennen, und durch Schreien verschafft es sich das, was es nicht unmittelbar erreichen kann. Giebt man dagegen nicht fortwährend hierin nach und versagt man ihm auch manches Verlangte, dann lernt es seine Begier- den bezwingen und gehorsam sein. Durch ungesäumte Befrie- digung aller Wünsche macht man das Kind zum Sclaven sei- ner Begierden, durch ein schliessliches Nachgeben fördert man seinen Figensinn, wobei die Selbstbeherrschung, diese mäch- tige Kraft im Menschen, ihm fremd bleibt. Der Eigensinn und die Halsstarrigkeit verzögern die höhere Entwickelung, das Kind bleibt eben Kind und ist meistens für sein ganzes übri- ges Leben verdorben, wenn nicht später Widerstand und Zwang der Umstände seinen starren Willen brechen. Mit jedem neuen Monat wachsen die Geisteskräfte des Kindes. Das Gedächtniss wird stärker, und unter Aeusserungen der Freude erkennt es früher gesehene Gegenstände wieder, ja bald erinnertes sich auch solcher Dinge, die es nicht unmittel- bar vor Augen hat, es ist im Stande, dieselben seinem Geiste vorzuführen und in Gedanken zu zeichnen; seine Einbildungs- kraft erwacht und giebt sich schon in den Träumen kund. Wenn das Kind im fünften und sechsten Monate Gegen- stände fasst, dann fängt es auch an, sich damit zu beschäfti- gen, der Geist wird thätiger, das Spielen und Untersuchen beginnt. Durch bestimmte Laute geben sich mehr und mehr die Begierden zu erkennen, und im achten Monate sucht das Kind schon bestimmter Töne und Worte nachzumachen: es will zum ersten Mal nicht bloss seine Begierden durch Töne, sondern auch seine Gedanken durch Worte ausdrücken, indem es sich der Sprache bedient, wobei ihm eine so zweckmässig von der Natur verliehene und in der späteren Lebenszeit fast unbegreifliche Gelehrigkeit zu Theil ward. Sprache. 141 Man darf aber nicht ausser Acht lassen, dass das Kind bereits die Bedeutung mancher Wörter kennt, z.B. seinen und seiner Eltern Namen, bevor es dieselben noch aussprechen kann. Hören wir eine ganz fremde Sprache, so erfolgt das Erlernen nicht so leicht; ein Dolmetscher, ein Lehrer, eine Grammatik, ein Wörterbuch machen sich nöthig. Das Kind erlernt die Sprache ohne diese Hülfe. Es hat kein Wörterbuch, keinen Dol- metscher, und wenn ihm auch manche Namen wegen der fort- dauernden Wiederholung geläufig sind, so bekommt es diesel- ben auch wieder in ganz anderem Sinne zu hören. Wie viel Auf- merksamkeit gehört nicht dazu, um die oftmals bildliche Bedeu- tung mancher Eigenschaftswörter (süsses Kind, süsser Zucker, schönes Wetier — Kleidehen — Püppchen) zu verstehen, um die Zeitwörter, die keine sichtbare Sache darstellen, in der mehrfachen Abwandlung und Bedeutung, in der sie gebraucht werden, zu begreifen und in der wechselnden Stellung und Verbindung wieder zu erkennen, um die Bedeutung der Far- ben, der Zahlen sich zu eigen zu machen. Und doch haben wir Beispiele in Menge, dass Kinder unter der Aufsicht fran- zösischer Bonnen zwei Sprachen auf einmal erlernen. Einer meiner Freunde hat mir sogar mitgetheilt, dass er ein von hol- ländischen Eltern in Verviers geborenes Kind gekannt habe, das mit vier Jahren je nach den Umständen in vier verschiede- nen Sprachen sich vernehmen liess, ohne sich zu verwirren: Holländisch, Französisch (die Sprache der meisten gebildeten Einwohner), Wallonisch (das allgemeine Idiom der niederen Volksclasse), Deutsch (die Sprache einiger dortigen Familien, mit denen die Eltern in Verkehr standen). Wir haben hier eine Staunen erregende Gelehrigkeit des Geistes, und dadurch erhebt sich das Kind weit über alle Thiere. Der Papagei lernt freilich einzelne Worte nachsprechen, ihre Bedeutung jedoch versteht er nicht. Man kann aber dem Kinde nur die Namen der Gegenstände und Personen beibringen ; alles Abstrahirte und die besonderen Eigenschaften, die nicht den Gegenstand selbst darstellen, zu begreifen, ist eigenes 142 Sprache. Werk des kindlichen Geistes, und es wird ohne eine dafür bestimmte Methode erlernt. 5 Hierin offenbart sich vor Allem, wie der,Körper der Er- ziehung des Geistes zu Hülfe kommt, da er nicht bloss sinn- liche Eindrücke, Töne und Worte dem Geiste zuführt, sondern auch die Fähigkeit besitzt, die Gedanken in Tönen und Wor- ten, durch Rede und Sprache wiederzugeben. Dadurch entwickeln sich Verstand und Geistesanlagen. Durch die Sprache und die Be- deutung der Wörter wird das Kind auf die umgebenden Gegen- stände mehr aufmerksam gemacht und es lernt deren Eigenschaf- ten kennen. Wörter und Namen sind Denkzeichen für unsere Erin- nerung, der Name führt uns von selbst die Sache zurück. Die Zah- len erlernt das Kind am spätesten und am schwierigsten, gleich- wie bei vielen uncivilisirten Völkern das Zahlensystem nicht weit geht. Versuchen wir übrigens, wie Gerdy!) mit Recht be- merkt, etwa die in unserer Bibliothek enthaltenen Autoren zusam- men zu zählen, ohne dass wir uns die Sache in Zahlen denken, sondern indem wir uns bloss die Namen vorführen, so kommen wir kaum bis auf zehn Stück, ohne in Verwirrung zu gerathen. Der Sprachfähigkeit verdankt es der Mensch hauptsäch- lich, dass er sich so sehr über die T'hiere erheben kann, in- dem er seine schon an und für sich höhere Anlage und sei- nen Verstand entwickelt; mit und durch den Körper wird der Verstand gehoben. Sind nun dieserhalb unsere Geistes- vermögen und unsere Gedanken Producte der Materie und Kraftäusserungen des Körpers, oder sind sie Wirkungen eines selbstständigen Vermögens, eines eigenthümlichen Prineips, zu dessen Entwickelung der Körper beitragen muss?, Mit anderen Worten, ist der menschliche Geist gleich dem thieri- schen um des Leibes willen da, oder der vergängliche Leib um des Geistes willen, nämlich als irdischer Diener, unter dessen Beistand der Geist sich zu entwickeln im Stande ist ? Hierauf wird sich, wie ich hoffe, bald eine noch bestimmtere Antwort ergeben. 1} Annales psychologiques, T. 1, p. 374. Sprache. 143 Die Sprache, dieses unvergleichliche Eigenthum des Men- schen, bemerkt Burdach!) sehr richtig, ist keineswegs bloss in der Organisation des Körpers und des Stimmorgans be- gründet. Manche Thiere können Worte nachahmen und aus- sprechen, ohne deshalb der Sprache mächtig zu sein, und der Stumme erschafft sich statt der tönenden Sprache eine Geberdensprache, die bei keinem Thiere vorkommt. Sie be- ruht auf dem Vermögen, das Gemeinsame an den Erscheinun- gen in einen Begriff zu fassen, so wie auf dem Bestreben, den Be- griff in einer als Zeichen nutzbaren sinnlichen Form wieder nach aussen darzustellen, so dass durch die Art und Weise, wie diese Zeichen untereinander verbunden werden können, jeder Gedanke sich ausdrücken lässt. Die Sprache ist kein unmittelbares Geschenk der Natur, sondern eine Erfindung des thätigen Geistes, denn jedes Volk hat eine andere Spra- che; nur den Trieb zum Sprechen bringt der Mensch mit. Hörte das Kind in’ der Gemeinschaft mit Anderen keine Spra- -che, es würde sich selbst eine Sprache erschaffen. Das sehen wir bei den Taubstummen. Selbst die blind und taub- stumm Geborenen lernen durchs Gefühl sprechen und sich vollkommen entwickeln, wenngleich ihr Geist den meisten sinnlichen Eindrücken verschlossen ist. Geist und Gemüth resultiren also nicht aus den sinnlichen Eindrücken, sondern wohnen als eigenes selbstständiges Princip im Körper. Ich kann es mir nicht versagen, den wahrhaft rührenden Fall der Laura Bridgman mitzutheilen, den uns Burdach?) neben manchen anderen Erzählungen von blind und taubstumm Geborenen vorführt. Bei diesem in Nordamerika geborenen Mäd- chen entwickelte sich Schärfe der Geisteskräfte und zartes Gefühl, obwohl es blind und taubstumm war, keinen Geruch besass und einen ganz abgestumpften Geschmack hatte, so dass sie einen Rhabarberaufguss meistens mit Thee verwech- selte. Im achten Jahre kam sie 1837 in die Blindenanstalt }) Blicke ins Leben, Thl. 2, S. 189. 2) Blicke ins Leben, Thl. 3, S. 53. 144 Laura Bridgman. in Boston; hier fühlte sie sich alsbald glücklich und war voll Dankbarkeit gegen ihre Lehrer, weil sie in der Anstalt mehr Nahrung für ihren Geist fand, als in dem elterlichen Hause zu Hannover in Nordamerika. Als sie ein halbes Jahr darin war, wurde sie von der Mutter besucht: sie betastete deren Hände und Kleider, ohne sie zu erkennen, und wandte sich dann von ihr ab, als wäre es eine fremde Person. Bei den vielerlei Ge- genständen und Eindrücken, die seit der Entfernung aus dem elterlichen Hause ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat- ten, war bei den beschränkten Sinnesvermögen die Erinnerung an das elterliche Haus abgeschwächt worden. Sie freute sich über eine mitgebrachte Perlenschnur, die sie früher getragen hatte, und gab dem Director der Anstalt, Dr. Howe, zu verste- hen, es sei ein Geschenk aus ihrer früheren Wohnung; die Mutter ‚aber, von der sie Liebkosungen empfangen sollte, stiess sie weg und sie begab sich zu ihren Spielgenossen. Als sie durch die Mutter noch etwas Anderes aus dem elter- lichen Hause erhielt, wurde sie sehr aufmerksam, untersuchte den Gegenstand genauer und gab Dr. Howe zu verstehen, die Dame müsse wohl aus Hannover hergekommen sein; sie gestattete jetzt auch ein paar Liebkosungen, ging aber dann doch wieder gleichgültig von ihr fort. Einige Augenblicke später näherte sich die schmerzlich getroffene Mutter noch- mals, und da schien es ihr in den Sinn zu kommen, jene könne doch keine Fremde sein; sie fing an, der Mutter Hände sorgfältig zu befühlen, sie wurde ganz blass und dann wieder feuerroth, Hoffnung und Zweifel lagen bei ihr im Streite. Als die Mutter sie an sich heranzog und sie küsste: da warf sie sich voll Entzücken an deren Brust und ging nicht wieder von ihr. Für ihre früheren Spielgenossen und für ihr Spielzeug hatte sie jetzt keinen Sinn mehr. Beim späteren Scheiden der Mut- ter bewies das nun neunjährige Mädchen eben so viel Verstand und Ueberlegung, als tiefes Gefühl. Sie begleitete die Mutter bis vor das Haus, sich an sie andrängend; dann aber griff sie überall herum, um zu wissen, wer um sie wäre, Als sie eine liebe Lehrerin erkannte, hielt sie sich mit einer Hand an Spontaneität. 145 dieser, während sie mit der andern krampfhaft die Mutter fasste; dann liess sie die letztere fahren, kehrte sich um, und hielt sich schluchzend an die Lehrerin. Ist diese rührende Erweckung von Gefühl und Liebe, dieses Wirken des Verstandes bei einem Kinde, bei dem so wenige sinnliche Eindrücke Eingang hatten, nichts anderes, als eine aus Stoffwechsel hervorgehende einfache Kraftäusserung der Materie? Haben wir nicht vielmehr hier ein selbstständiges Wesen vor uns, welches bei aller Unvollkommenheit der Sin- nesorgane, wie sie bei keinem Thiere in solcher Art vorkommt, sich über alle Hindernisse erhebt, sich selbstständig und frei entwickelt? Nicht die fortwährende Wiederkehr der Sinneseindrücke, die wir zuletzt kaum noch empfinden, macht unsere Sinnes- organe schärfer, sondern die spontane Aufmerksamkeit des Geistes auf diese oder jene Wahrnehmungen. Der Blind- geborene hat ein feineres Gefühl; erlangt er aber sein Gesicht, -dann verliert sich allmälig jenes feine Gefühl, weil die Aufmerk- samkeit nun vom Gefühle sich mehr dem Gesichte zuwendet. Also nicht das Sinneswerkzeug, sondern der spontan wirkende Geist verschafft uns die Fähigkeit schärferer Wahrnehmung. Und dieser Geist sollte nichts Selbstständiges sein? Der blinde und taubstumme James Mitchell in Schottland lernte nicht bloss sein Haus, sondern auch die Umgegend kennen: er ging allein spazieren und kam zu rechter Zeit wieder nach Hause, obwohl ihn nichts anderes leiten konnte, als das Gefühl. Man findet bei Burdach noch viele Fälle verzeichnet von Indivi- duen, die durchs Gefühl die Buchstaben und deren Bedeutung kennen lernten, wodurch dann eine Fühlsprache möglich wird, zum Beweise, dass der Mensch unerachtet des Mangels der Sinnesorgane seinen selbstständigen Geist zu entwickeln im Stande ist. Gleich dem Geiste wächst nun äuch beim Kinde der Kör- per und seine Kräfte nehmen zu. Es beherrscht seine Bewe- gungen, lernt stehen und gehen und ohne Stütze sich bewegen. Durch die täglichen Uebungen wird der Körper gekräftigt, die Schroeder van der Kolk, Seele und Leib, 10 146 Entwickelung des Kindes. zunehmende Kraft aber wirkt wiederum auf den Geist zurück und so schreitet die Entwickelung beider fort. Bei Beurtheilung Anderer legt das noch wenig erfahrene Kind überall seinen beschränkten kindlichen Standpunkt zu Grunde. Ich habe mehrmals beobachtet, dass ein Kind im dritten, ja selbst noch im vierten Lebensjahre bei einer Zurechtweisung die Augen schloss, als würde es dann selbst nicht gesehen, oder dass es mit geschlossenen Augen nach einer verbotenen Schüs- sel griff, in der Meinung, Andere sollten die kleine Näscherei, die es selbst nicht sah, auch nicht wahrnehmen. Doch schon zu lange habe ich mich durch die Kinderstube fesseln lassen, jenen Schauplatz, wo die Bildung des Menschen ihren Anfang nimmt, und wo so viele Samen ausgestreut wer- den und aufkeimen, die weiterhin Rosen oder Dornen bringen werden. Bei der ferneren Entwickelung gehören Lebhaftigkeit und Beweglichkeit zu den eigenthümlichen Zügen des Kindes. Schnell ist es in seinen Bewegungen, in seinen Gedanken und Vorstellungen, und leicht geht mancher Eindruck verloren; es bedarf öfterer Zurechtweisungen, wenn etwas Wurzel schla- gen und sich befestigen soll. Die stets wiederkehrende und immer vollkommener erfol- sende Wahrnehmung der Dinge, die sich auch von mehreren Seiten darstellen, das Bedürfniss einer Beschäftigung, die Em- pfänglichkeit für fesselnde Eindrücke machen das Kind neu- gierig und weiterhin auch wissbegierig; es beginnt die Lehr- zeit und damit eine eigenthümliche Thätigkeit des Geistes, der hierbei weniger durch zufällige äussere Umstände und Ein- drücke, als durch den eigenen Willen und den eigenen Drang bestimmt wird. So wächst das Kind zum Knaben und zum Jünglinge heran. Bei keinem Thiere dauert die Jugend und die Lehrzeit gleich lange, wie beim Menschen, denn er muss Alles lernen und sich zu höherer Bildung vorbereiten. Dabei giebt sich bald eine Verschiedenheit beider Geschlechter kund: der Knabe in seinen roheren Spielen übt mehr die Körperkraft und will sich selbst- Jünglingsalter. 147 ständig machen, dabei aber dringt sein Geist tiefer in das We- sen der Dinge ein; das sanftere Mädchen eilt dem Knaben in der gesammten Entwickelung, in der Empfindung für das Wahre, Gute und Schöne voraus. Ohne hierauf näher einzuge- hen, will ich nur darauf hinweisen, wie mächtig der Leib auf die Entwickelung von Geist und Gemüth einwirkt. Schon beim Kinde und beim Knaben verrathen sich die An- lage und der ganze Charakter, und diese entwickeln sich noch mehr beim Jünglinge. Durch das verschiedene Naturell bekommt jedes Individuum seine eigene Färbung, die sich späterhin zum eigenthümlichen Temperamente gestaltet, und in diesem Sinne bringt jedes Kind seineeigene Art und Anlage mit. Eltern, die darüber keine Erfahrung haben, lassen sich wohl sehr klug über diesen Punkt aus, sie meinen oftmals, das neugeborene Kind sei ein weisses unbeschriebenes Blatt Papier, worauf sie nach Gutfinden schreiben könnten, was ihnen das Beste dünkt. Thatsache ist es, dass die Natur dieses Blatt bereits beschrie- “ben hat, und dass man sich glücklich schätzen darf, wenn man den Inhalt verbessern kann, indem man hier ein Komma, dort ein Semikolon anbringt, besonders aber am richtigen Platze ein Punktum setzt. Die Seele mag ursprünglich Eine sein, aber sie verhält sich wie das Auge, und der Leib wie die Brille; durch die ein jeder mit seiner Färbung unter verschieden- artiger Vergrösserung und Genauigkeit Alles um sich herum wahrnimmt. Oder der Leib ist ein besonders gestimmtes In- strument, welches die Eindrücke der Aussenwelt mit diesem oder jenem besonderen Tone mehr oder weniger lebhaft zuführt; wodurch das Gemüth eine Umstimmung erfährt. Vermittelst des Leibes bildet sich nicht nur der Geist, sondern er modi- fieirt sich nach dem individuellen Aufbau des Leibes, und er verändert sich auch nach den Lebensepochen. Auf den Leib und auf die Erziehung kommt es indessen nicht allein an, — in dem ganz verwahrlosten Casper Hauser entwickelte sich späterhin doch eine gute Anlage. Allerdings kann ein Kind durch schlechte Erziehung sehr verdorben werden, doch hat es die Natur nicht ganz der Willkür der Eltern Preis gegeben; 10* 148 Jinglingsalter. es ist kein Stück Thon, woraus die Eltern nach Willkür einen Menschen oder ein wildes Thier zu formen vermöchten. Das Edelste, sagt Burdach, die Phantasie, die Erhebung der Seele, die Gluth des sittlichen Gefühls und die Liebe werden nicht erlernt, sondern nur genährt und gefördert. Den Einfluss des Leibes auf die Seele nehmen wir auch entschieden beim Jünglinge wahr, wo das Somatische der Vollendung immer näher rückt: das Muskelsystem hat sich entwickelt, und das Blut treibt kräftig durch die Adern, aber auch im Geiste paaren sich Lebhaftigkeit und Kraft, Muth und Unternehmungsgeist. Die frühere Flüchtigkeit der Eindrücke hat sich gemindert, es erwachen Selbstbewusstsein und Nach- denken, und der Jüngling will sich durch eigene Kraft bilden; das Lernen wird jetzt Studium, die Neugier wird Wissbegierde, aus der Empirie entwickelt sich die Wissenschaft. Der Jüng- ling strebt nach Weisheit und eigener Bildung, er will selbst- ständig, nach aussen wirken und das elterliche Haus wird ihm zu enge. Wird bei dem ruhigen und bescheidenen Jünglinge die Circulation eine lebhaftere, wird seine aufbrausende Lebhaftig- keit, wird sein Zorn erweckt, so verliert er alsbald die Herr- schaft über seine Empfindungen, die nun seinen Geist über- wältigen, und er kehrt wieder zum Zustande des Kindes zu- rück, das sich noch nicht selbst lenken konnte. Ist er denn aber bei dieser Steigerung der somatischen Aeusserungen, bei der Beschleunigung der Circulation, bei der grösseren Lebhaf- tigkeit des Stoffwechsels verständiger geworden ? Ist sein Ur- theil jetzt ein richtigeres, ist sein sittliches Gefühl verstärkt ? Oder gleicht er nicht eher einem Irrsinnigen, bei dem durch noch stärkere somatische Eindrücke der Geist im Sturme der Empfindungen fortgerissen wird, dessen spätere Genesung aber den Beweis liefert, dass der Geist nicht verändert und ver- kümmert worden war, sondern in seiner eigenthümlichen Ener- gie fortwirkte? In eigenthümlicher Weise kennzeichnet sich die Einwirkung des Leibes und der aus diesem entspringenden Begierden auf den Geist darin, dass unter den Irrsinnigen Jünglingsalter. 149 viele sich etwas Höheres dünken, sich als Fürsten, Könige, Kaiser und Millionaire fühlen, und dass andere sich für Böse- wichter halten und von Gott verlassen wähnen, während mir dagegen noch kein Irrsinniger vorgekommen ist, der auf seine grössere Tugend, auf seine Bravheit und Menschenliebe ge- pocht hätte. Wird dagegen dem muthigen Jünglinge durch starken Blutverlust oder durch eine Krankheit die Kraft entzogen, so sind zwar sein Muth und seine Thatenlust dahin, sein Verstand aber ist geblieben und sein sittliches Gefühl ist nicht erlo- schen. Verkündet die Natur hierin nicht aufs Deutlichste, dass die Seele ein selbstständiges Wesen ist? zwar in Abhängig- keit vom Leibe, aber nicht Eins damit, und nicht zugleich mit ihm dahin schwindend ? Der kräftigen Jünglingsnatur entstammen aber auch neue Empfindungen, lebendige und starke Eindrücke, die Stürme der Leidenschaften und Triebe umtoben seinen Geist. Es ist der bedeutsamste, aber auch der gefährlichste Abschnitt des Lebens, ein Kampf um die Herrschaft zwischen Leib und Seele, von dem das künftige Schicksal abhängt: der Jüngling kann sich selbst und seine Begierden besiegen und durch eigene Kraft als ein Mann dastehen; oder er erliegt den bestürmen- den Eindrücken, Begierden und Neigungen, folgt ihrem Gebote und kehrt so zur Stufe des unmündigen Kindes zurück, als Trunkenbold, Wollüstling, oder Missethäter dahin sinkend. Zum Glück steht ihm hierbei ein stiller Genius zur Seite, der ihn durch alle Windungen des Lebens leiten kann und ihn niemals ganz verlässt, wenn er auch noch so lange dessen Stimme überhört, nämlich die nur beim Menschen vorkom- mende Stimme des Gewissens, das Gefühl der Pflieht, des Rechts, der Tugend, der Gottverehrung, die ihm in diesem Streite die Palme des Sieges bietet. Das ist nichts Erlern- tes. Ohne durch Andere darauf hingewiesen zu sein, weiss der Taubstumme, weiss selbst der blindgeborene Taubstumme durch angeborenes Gefühl, was gut und böse, was recht und un- recht ist. 150 Jünglingsalter. Das Kind war durch und durch Egoist. Den kräftigen Jüngling treibt das erwachte Gefühl zum Handeln an, doch nicht bloss für eigenen Ruhm und Ehre, sondern auch für An- dere; mächtig schlägt sein Herz für Alles, was gross, gut und schön ist. Das Vorübergehende und Flüchtige genügt ihm nicht länger, er hat an sich selbst nicht mehr genug, die Liebe entflammt seine Brust, und die Phantasie spiegelt ihm eine erdichtete Welt vor, die er in der Wirklichkeit noch nicht kennt. Mit Recht sagt Burdach!): „Die Einheit des Le- bens und der Friede der Kindheit ist gewichen: mit Wehmuth erkennt der Jüngling, dass die reifende Individualität ihm das Glück nicht bringt, welches er davon erwartet hatte: ein un- bestimmtes Sehnen bemächtigt sich seiner, und unbefriedigt wendet er seinen Blick von der Gegenwart auf die Zukunft, von der Wirklichkeit auf das Uebersinnliche.*“ — So lebt er zum Theil in der Zukunft, welche ihm durch die leben- dige Phantasie in schönen Farben vorgespiegelt wird. Er hat seine poetische Epoche. So tritt er endlich aus dem Reiche der Träume und Ein- bildungen in die rauhe Wirklichkeit über. Das geht aber häufig genug nicht ohne viele Stösse und getäuschte Erwar- tungen ab; er erfährt, wie eitel und wie überspannt seine Vorstellungen zum Theil waren, er bildet sich aber durch die oftmals harte Erfahrung der Wirklichkeit und Wahrheit zum Manne heran. Eine treffende Schilderung der kühnen Erwartungen und des stolzen Muthes des Jünglings haben wir in Schiller’s Idealen: Wie sprang, von kühnem Muth beflügelt, Beglückt in seines Traumes Wahn, Von keiner Sorge noch gezügelt, Der Jüugling in des Lebens Bahn. Bis an des Aethers bleichste Sterne Erhob ihn der Entwürfe Flug; Nichts war so hoch und nichts so ferne, Wohin ihr Flügel ihn nicht trug. 1!) Physiologie, Thl. 3, S. 291. Jünglingsalter. 151 Und gleich trefflich schildert Schiller ebendaselbst die getäuschten Erwartungen: Es dehnte mit allmächt’'gem Streben Die enge Brust ein kreisend All, Herauszutreten in das Leben, In That und Wort, in Bild und Schall. Wie gross war diese Welt gestaltet, So lang die Knospe sie noch barg; Wie wenig, ach! hat sie entfaltet, Dies Wenige, wie klein und karg! In diesem oftmals harten Kampfe kommt ihm sein mit der Zeit mehr und mehr beruhigtes Naturell zu Hülfe. Er ist noch im Besitze seiner körperlichen Kraft und diese hat selbst zugenommen, seine geistigen Kräfte sind auch nicht abge- stumpft; aber das Blut strömt nicht mehr gleichschnell und brausend durch seine Adern, sein nicht mehr so hoch fliegen- ‘ des Naturell bewährt sich besser gegen Gemüthsbewegungen, und durch den Zorn wird er nicht mehr gleich widerstandslos, wie früher, fortgerissen. Das Gehirn, das Werkzeug seines Geistes, befindet sich in einem weniger gereizten Zustande, und so kann er sich einem ruhigeren Nachdenken hingeben, seine Einbildung ist durch die Erfahrung geläutert und nicht mehr so hochfliegend, er hört mehr auf die Stimme der Ver- nunft, erwägt die Dinge besser, und da er die Wirklichkeit vom Scheine besser unterscheiden gelernt hat, so verfolgt er leichter den Zusammenhang von Ursache und Wirkung und berechnet auch vorsichtiger die Folgen seiner Handlungen. So lernt er mehr sich selbst beherrschen, Verstand und Ver- nunft bekommen das Uebergewicht über sein Naturell, er wird unabhängiger von sich selbst, und trotzt als Mann den Stürmen des Lebens. Tritt er aus diesem Streite, an jenem grossen Scheide- wege des Lebens, gleich einem zweiten Hercules als glückli- cher Sieger hervor, dann steht er als Mann da im Besitze der vollen Kraft. Durch Erziehung, durch reifen Verstand, durch Vernunft, durch sittliches und religiöses Gefühl gebildet, durch 152 Mannesalter. die Erfahrung des wirklichen Lebens belehrt, hat er die Macht erlangt, sich selbst zu beherrschen, und ist dadurch für die sittliche Freiheit gereift: er ist ein Mensch, er ist ein Mann. Nur der sich selbst Beherrschende ist zum Menschen heran gereift. Die früheren Ideale und Träume hat der Mann in der Wirklichkeit nicht ganz wiedergefunden, aber als thätiger und nützlicher Bürger des Staats, als liebender Gatte und Vater sieht er seine Wünsche befriedigt, in dem Bemühen, dem Staate und den Seinigen Nutzen zu schaffen, findet er Befrie- digung und Genuss. Früher mehr Egoist und sich selbst le- bend, weiht er jetzt sein Leben auch Anderen und ist glück- lich in ihrem Glücke. Dieser reine Genuss gewährt ihm ein beglückenderes Gefühl, als jenes unbestimmte Streben und Verlangen der Jugend mit allen Rosenfarben ihm zu verschaf- fen vermochten. Kräftig und wahr sagt Tiedge: Durchschaut das ganze Luftgebiet: Kein Paradies für Engel! Was diese Erd’ einmal erzieht, Hat auch der Erde Mängel. Nur eine Freud’ ist unbefleckt; Und diese Seelenweide, Die schon nach Himmels Wonne schmeckt, Heisst Freud’ an fremder Freude. Der Mann soll wirken und schaffen. Mögen ihn auch Sorgen bekümmern, es sind Reize, die ihn treiben, die Be- schwerden des Lebens mit Ausdauer nieder zu kämpfen. Durch den häufigen Umgang mit Menschen lernt er, trotz manches strauchelnden Fehltritts, jeden Menschen mehr von dessen Standpunkte aus beurtheilen; im Ernste des Lebens unterscheidet er das Wahre vom Scheine. Nun komme ich wieder auf die Frage, ob aus dieser Um- änderung des somatischen und seelischen Zustandes im reifen Lebensalter zu entnehmen ist, dass Leib und Seele Eins sind ? Ist die Seele das Product somatischer Kräfte, weil der mehr Mannesalter. 153 ins Gleichgewicht gekommene Bau des Körpers harmonisch dahin wirkt, dass der Geist in seinem ruhigen Nachdenken und Wirken jetzt weniger Störungen erfährt und so die Em- pfindungen seines Körpers bemeistert? Gewiss nicht! Wie aber Alles in der Schöpfung auf Ein Ziel hinwirkt und seinen Zweck hat, so erlangt das reifere Alter in dem mehr zur Ruhe gekommenen Leibe allerdings die Musse und die Kraft, um die Zügel des Verstandes zu lenken. Napoleon hatte für gewöhnlich nur 40 Pulsschläge, also etwa halb so viele, als der mittlere Mensch, und sicherlich trug dieses körperliche Verhältniss viel dazu bei, dass er in den bedeutsamsten Mo- menten seines stürmischen Lebens Ruhe und Kaltblütigkeit behauptete. Wird man aber Napoleon wegen dieser trägen Circulation Klarkeit des Geistes und ein kräftiges, rasches Wirken der Seele absprechen wollen ? Das Gehirn eines erwachsenen Mannes zeigt weder unter dem anatomischen Messer, noch bei der sorgfältigsten mikro- skopischen Untersuchung Verschiedenheiten vom Gehirne eines Jünglings oder selbst eines Knaben. Dabei aber welche Ver- schiedenheit des Geistes! Wenn der Geist nur Gehirnwirkung ist, warum, frage ich immer wieder, zeigt dann das Knaben- gehirn, bei dem jetzt lebhafter vor sich gehenden Stoffwech- sel, nicht auch den vollen Verstand des gereiften Alters? Lehrt uns nicht vielmehr die Natur in alle dem ganz deutlich, dass unser Geist ein besonderes selbstständiges Princip, ein eigenthümliches Vermögen ist, das sich zwar mit dem Leibe hier entwickelt und nach Vollendung strebt, aber deshalb noch nicht Eins ist mit dem Leibe ? Ich wende mich zuletzt noch zum hohen Alter oder Greisen- alter. Im Allgemeinen ist es nicht richtig, wenn man den Greis als einen abgelebten, stumpfen, matten und kalten Men- schen schildert. Das Greisenalter hat freilich seine Gebre- chen, aber manche davon sind nur die herben Früchte frühe- rer Lebensweise, und man darf doch dem Bilde des Greises keinen kranken Zustand zu Grunde legen, so wenig als man das Bild der Jugend von einem schwindsüchtigen Jünglinge 154 Greisenalter. entnehmen wird, weil die Schwindsucht dem jugendlichen Alter besonders eigen ist. Wir denken uns also einen gesun- den Greis und fragen, welche Veränderungen in der Organisa- tion auf Geist und Gemüth bestimmend einwirken ? Mit Recht sagt Burdach?): „Das Leben ist seinem Wesen nach, also auch vom Anfange bis zum Ende, harmonische Kraftäusse- rung, und eine naturgemässe normale Krankheit ist ein Un- ding: wie das Greisenalter an sich kein Marasmus ist, ebenso wenig ist es Blödsinn und Geistlosigkeit.“ Was Manche als Gebrechlichkeiten des Greisenalters ansehen, das ist nur eine weise, harmonische Anordnung, die ich nachzuweisen versu- chen werde. Grundcharakter ist es aber, dass der Greis mehr in sich selbst gekehrt ist, weniger durch die Aussenwelt be- rührt wird und auch weniger nach aussen wirkt. Die beim Greise eingetretenen somatischen Veränderungen tragen viel, ja Alles dazu bei, um ihn im Wirken und Handeln vom kräftigen Manne zu unterscheiden. Er hat nicht mehr die Lebhaftigkeit der Jugend oder die Kraft des Mannesalters, das täglich an ihm Vorübergehende wirkt nicht mehr so stark auf ihn ein, und der Verkehr mit der Aussenwelt ist nicht gleich lebhaft, wie früher; alles eine natürliche Folge der Veränderungen, die im Organismus eingetreten sind. Die Sinnesorgane sind stumpfer, die Muskeln schwächer geworden, somit wirken auch die äusseren Eindrücke nicht mehr gleich lebhaft ein und die Reaction nach aussen erfolgt minder ener- gisch; an dem lebendigen Treiben der Jugend will und kann der Greis nicht mehr Theil nehmen, er verlangt mehr Stille und Ruhe. Wie aber die Circulation träger wird, das Herz weniger kräftig wirkt, zugleich auch die Energie des Nervensystems sinkt, so ist der Greis auch den Leidenschaften weniger unter- worfen. Die Begierden, wie bereits Cicero so schön in seiner Schrift „de senectute* schildert, treten weniger heftig bei ihm hervor, er ist weniger zornmüthig und leidenschaftlich, lässt 1) Physiologie, Thl. 3, 8. 421. Greisenalter. 155 sich weniger leicht von der Einbildungskraft fortreissen, viel- mehr bekommt der ruhige überlegende Verstand, das durch langjährige Erfahrung gereifte Urtheil bei ihm die Oberhand. Den Werth der Dinge hat er im wechselvollen Leben kennen gelernt, und er lässt sich nicht mehr durch veränderlichen Scheingenuss verlocken. Da die Aussenwelt durch die schwä- cheren Sinnesorgane weniger auf ihn einwirkt, so geht das Gegenwärtige und Alltägliche leichter an ihm vorüber und er wird vergesslicher; sein Gedächtniss für den vorübereilenden Lauf der Dinge nimmt ab. Dagegen erhält sich die Erinne- rung früherer Tage, seiner Jugend, sowie dessen, was er als Mann gethan und geschaffen hat, mit unverwischbarer Klar- heit vor seinem Geiste. Das ist das Eigenthum seiner Seele geworden, durch Erinnerung bewahrt er die Früchte seiner ‚ Erfahrung und bekommt so ein richtiges Urtheil über den Werth der Dinge. Er wagt sich selten an etwas Neues, weil er nicht weiss, ob er das Ende erreichen wird; im Herbste des Le- bens sammelt er lieber die Früchte seiner Arbeit. Beim Verfall des Leibes, trotz der trägern Circulation, der Abnahme der Kräfte, der Abstumpfung der Nerven, zei- gen aber die Verstandeskräfte keine Abnahme. Unter dem Sil- berhaare verbirgt sich noch häufig ein heller Geist; Weisheit und vernünftiges Urtheil hat man zu allen Zeiten dem Alter zugestanden. Wie Pruys van der Hoeven!) ganz treffend sagt, man würde sich sehr irren, wenn man hinter den Run- zeln des Gesichts und unter dem grauen Lockerhaar Winter- kälte und Winterfrost suchte, denn im Innern glüht noch das Feuer, das früherhin nach aussen loderte. Das höhere Ich sinkt noch nicht zusammen, wenn auch der Leib starr und zerbrechlich geworden ist. Wie das Auge fernsichtig wurde, und kleine Details in der Nähe nicht mehr so gut erkennt, so übersieht auch der Greis, wie uns der Humboldt’sche Kos- mos zeigt, mehr das Grosse, das Allgemeine, das Fernliegende, und er überliefert wohl noch die auf dem Gebiete der Wahr- !) Anthropologisch onderzoek, 1851. p. 196, 156 Greisenalter. heit, des Rechts, der Sittlichkeit, der Religiosität gesammel- ten Erfahrungen seinen Freunden und Verwandten, oder der Nachwelt. Wenn auch minder thätig für das Allgemeine, er- theilt er doch nützlichen Rath; und ist auch seine Organisa- tion weniger empfänglich und weniger reizbar, so ist er doch nicht gleichgültig für die Freuden und Leiden der Mitmenschen. Erst vor Kurzem vernahmen wir rührende Worte in dem schö- nen Gedichte des ehrwürdigen vierundachtzigjährigen Mau- rits Cornelis van Hall, worin er der Wohlthaten gedachte, die so vielen Unglücklichen in der Irrenanstalt zu Meeren- berg zu Theil werden. Aus Erfahrung weiss der Greis, wie hinfällig und ver- gänglich die Dinge meistens sind, und deshalb klammert er sich um so fester an das, was ihm beständig und dauerhaft erschienen ist, und deshalb tritt in den reiferen Jahren der Sinn für Wahrheit und Pflichterfüllung, für Tugend und Gottesverehrung um so entschiedener hervor. - „Nirgends fin- det sich,“ sagt Rush!), „ein Beispiel, dass gute moralische Eigenschaften oder religiöse Gesinnungen, welche den Mann auszeichneten, bei dem Greise schwächer geworden wären.“ So viel steht fest, entschuldigt man Fehltritte und tadelns- werthen Leichtsinn bei der Jugend, verdammt und verurtheilt man sie beim Manne, so sind sie beim Greise ein Gegenstand des Ekels und der Verachtung. Der Greis nimmt wohl noch Theil an einer anständigen Fröhlichkeit unter Freunden, ist aber doch mehr ernst ge- stimmt und in sich gekehrt. Seine Kinder sind erwachsen und selbstständig geworden und haben meistens das elterliche Haus verlassen, die Jugend mit ihrem lebendigen Treiben trennt sich von selbst vom Greise und sucht ihre besonderen Vergnügungen, die Altersgenossen und Freunde sind meistens dahin gegangen und das nachkommende Geschlecht sympathi- sirt weniger mit ihm, weil es unter anderen Anschauungen !) Sammlung auserlesener Abhandlungen zum Gebrauche praktischer Aerzte, Leipzig, 1775, Bd. 17, S. 127. Greisenalter. 157 herangewachsen ist. Deshalb bleibt er mehr sich selbst über- lassen, und da die Erinnerung an frühere Tage unverkürzt sich erhalten hat, so lebt er mehr in der Vergangenheit und in der Zukunft. Als Mann ist er seinen Pflichten gegen die Gesellschaft und gegen die Seinen nachgekommen und er hat für Andere gelebt: am Ende seiner Laufbahn lebt er mehr sich selbst, und im Rückblick auf die Vergangenheit streift sein Geist schon voraus ins künftige Vaterland. So wird er durch seine Organisation und durch die Umstände, ja durch die Natur von selbst dahin geführt, aus seinem früheren Leben die Lehren der Erfahrung, der Lebensweisheit und deren Früchte zur eigenen letzten Bildung zu sammeln. Durch die un- geschwächte Erinnerung führt er sich das frühere Leben gleichwie in einem Spiegel vor, und bei der Aussicht auf das herannahende Lebensende kommt er zur Selbstprüfung: er hält Abrechnung mit seinem Leben. Was er in einem gut angewandten Leben früher mit An- strengung und mit Ernst zu erreichen trachtete, das ist dem Greise in der Hauptsache zu Theil geworden: die Leiden- schaften sind gedämpft, der spannende Kampf hat ausgetobt, ihn lohnt der freudige Sieg. Zurückschauend auf sein frühe- res Leben wird er von selbst zur Dankbarkeit gestimmt gegen den Allgütigen, der ihn unter so vielen Wohlthaten bis hier- her führte. Durch den Gedanken des herannahenden Endes steigert sich das religiöse Gefühl; die Ueberzeugung, dass die innere Stimme, die ihm niemals ganz entwich, eine wahrhaf- tige ist, lässt ihn ruhig und voll Vertrauen der Zukunft entge- gen gehen. Ein Beispiel hiervon bietet uns sogar der heid- nische Sokrates, der im ruhigen Hinblick auf die Zukunft den Giftbecher trinkt. Von diesem Gesichtspunkte aus ist das wahre hohe Alter nicht ein gebrechliches Ende, sondern die Krone des Menschen- lebens, wo der Mensch die wahre Freiheit erlangt, sein eigener Meister und Richter wird, wo Vernunft und Verstand, sitt- liches Gefühl und Religiosität die Zügel führen, und wo die Strenge durch Menschenliebe gemildert wird. Die Liebe, die 158 Materie und Geist. schönste Blüthe des Menschenlebens, wird auch beim Greise nicht alt. In dem vorgeführten Bilde des Lebensganges ist uns der Leib als das Mittel erschienen, wodurch unser höheres Prin- cip zur Entwickelung gelangt. Durch seine Veränderungen in den verschiedenen Lebensepochen wirkt er harmonisch darauf hin und befähigt uns, unsere Bestimmung zu errei- chen. Der Leib wird alt, aber kein Rückschritt zeigt sich in der höheren Entwickelung des Geistes. Ueberblicken wir das aufgestellte Gemälde der Entwicke- lung des menschlichen Geistes noch einmal, und stellen wir uns dann die Frage, ob Leib und Seele wirklich Eins sind? ob die Seele nur das wandelbare Product einer somatischen Kraft und somit unselbstständig ist? Ich bewundere die Kraft jener, / die bei solcher Ueberzeugung noch den Glauben an eine Zu- kunft haben können und denselben verlangen. Mir fehlt diese Kraft: wo mir jede Basis weggerückt wird, da habe ich auch für den Glauben keine Stütze mehr. Die Natur lehrt uns das Gegentheil. Wären Verstand und sittliches Gefühl nichts Selbstständiges, sondern nur physische Kräfte des Lebens, die aus dem Stoffwechsel hervorgehen, warum sind sie dann so dürftig, ja eigentlich noch gar nicht vorhanden beim Kinde, in dessen Leibe alles lebt und schafft und bei dem der Stofl- wechsel so energisch von Statten geht? Wie wäre es dann möglich, dass beim Greise, wo doch der Stoffwechsel und alle somatischen Thätigkeiten so sehr viel unvollkommener ablau- fen, der Verstand, das Urtheil, das sittliche und religiöse Gefühl eine so hohe Stufe erreichen? Warum wird denn bei stärkerer Erregung des Leibes oder des Gehirns, bei Zorni- gen, Wüthenden, die Seele in ihrer Wirkung behindert und mit fortgerissen? Müsste sie nicht vielmehr, wäre sie ein Pro- duct stärkerer somatischer Aeusserungen, in erhöhter Thätig- keit auftreten? Wenn die Seele nichts Selbstständiges ist, wie kommt es dann, dass sie dasjenige, was sie sich einmal zu eigen gemacht, auch als bleibendes Eigenthum bewahrt, und Materie und Geist, 159 dass dieses beim wechselnden Spiele der somatischen Kräfte , sich nicht verändert, und im hohen Alter nicht abnimmt? Zr f Ist es nicht ein sonderbarer Widerspruch, dass wir jenen einen selbstständigen Mann nennen und als solchen vereh- ren, der den aus seinem Körper entspringenden Trieben und Be- gierden Widerstand leistet und sie zu unterdrücken vermag, und dennoch dem hohen Principe, welches ihn hierzu befä- hist, ihm die Kraft verleiht, sich über jene Antriebe zu erhe- ben, keine Selbstständigkeit cinräumen wollen? Wäre die Seele nur das Product einer materiellen Kraft, oder wäre sie, wie Ludwig Fick und Andere behaupten, nur das Resultat von Nervenströmen, dann wirkte ja das Product der erzeu- senden Ursache entgegen und bezwänge seine eigene erschaf- fende Kraft, was für mich undenkbar ist. Ist die Seele nichts, als eine mehr oder weniger erweckte Lebenskraft, so fällt jede moralische Verantwortlichkeit dahin. Dann ist es aber auch eine Täuschung, wenn die Natur uns die innere Stimme des Gewissens eingepflanzt hat, die wir bei allen Menschen und Völkern, dagegen bei keinem Thiere antreffen. Blicken wir auf den Greis, so sehen wir bei ihm das ange- borene Gefühl der Gottesverehrung, das der Mensch nicht vom Thiere erlernen konnte, frei von Leidenschaften und Trieben in der schönsten Blüthe, und mit diesem angeborenen Gefühl verbindet sich noch ein anderes allen Menschen eingepflanztes Gefühl, nämlich des Fortbestehens in einer andern Welt. Sollte die Natur ein so grausames Spiel mit uns treiben und uns eine Lüge einpflanzen? Redet der Schöpfer in seinen Werken eine solche Sprache zu uns? Ist es nur Nervenkraft, wenn der menschliche Geist sich so erhebt, dass er nicht nur den Abstand und die Bewegung der Himmelskörper auf viele Hunderttausend Millionen Meilen bestimmt, sondern auch ihre Dichtigkeit berechnet und ihre Grösse bestimmt ? Der Naturforscher, erwidert man, kennt aber nur Materie und materielle Kräfte, die für ihn Eins sind mit der Materie; Immaterielles giebt es für ihn nicht, da alle Thätigkeit aus materiellen Kräften hervorgeht, die an die Materie gebunden —— 160 Materielles und Immaterielles. sind. Was berechtigt ihn aber zu solcher Annahme? Wäre wirklich jegliche Thätigkeit an unsere grobe irdische Materie gebunden, oder zeigt uns die Natur nicht auch hierin Unter- schiede und Uebergänge ? Was für eine Materie ist denn der Lichtäther, an den der Naturforscher selbst glauben muss, und dessen Schwingungen in der Minute viele tausend Millio- nen Meilen durcheilen? Denke man sich diesen Lichtäther auch noch so fein, er müsste, wäre er mit den Eigenschaften der irdischen Materie ausgestattet, an den äussersten Gren- zen unserer Atmosphäre, die mit mehr denn Kugelgeschwin- digkeit unserer Erde folgt, einen gewissen Widerstand finden, und heftige Luftströmungen sowie allverwüstende Orkane müssten die unvermeidliche Folge sein. Dieser Lichtäther ge- hört auch nicht unserer Erde an, sondern dem Weltall. Ver- mögen wir es auf Gesetze der wägbaren Materie zurückzufüh- ren, dass ein starkes Schwanken der Magnetnadel, welches bei uns wahrgenommen wird, in dem nämlichen Augenblicke auch in Asien und in Sibirien, in Europa und in Nordame- rika stattfindet, und zu gleicher Zeit am Südpole in entge- gengesetzter Richtung vor sich geht? Oder können wir es mit den Erscheinungen der trägen Materie zusammenreimen, dass der elektrische Telegraph unsere Berichte innerhalb eines kleinen Bruchtheils einer Secunde über einen grossen Theil des Erdbails fortführt? Nach meinem Dafürhalten hat guten Theils die unglückli- che Unterscheidung des Materiellen und Immateriellen zu grosser Verwirrung in dieser Beziehung Veranlassung gege- ben. Würden wir nicht sicherer verfahren, wenn wir in der Natur das durch die Sinne Wahrnehmbare von dem trennten, was nicht durch die Sinne wahrnehmbar ist? Wer giebt uns das Recht zu der Annahme, dass die Grenzen der Natur die Grenzen unserer Sinnesorgane nicht überschreiten, und dass in jenen Schatzkammern nichts Selbstständiges vorkommen kann, was sich der Wahrnehmung, der Messung und Wägung entzieht? Lieber will ich unseren Geist für etwas Selbstständiges halten, das dem Bereiche unserer Sinnesorgane entrückt und den Ahnungen. 161 physikalischen Gesetzen unserer irdischen Materie nicht unter- worfen ist, als dass ich einen Glauben aufgebe, den die Natur in unser Inneres eingeschrieben hat! Es ist ein von der Naturforschung unbedingt anerkannter Satz, dass nichts Materielles, nichts Selbstständiges, nicht ein- mal das kleinste Atom aus der Schöpfung verschwindet. Dann muss auch jenes höchste Selbstständige ein Unsterbliches sein. Zum Schlusse nur noch die Frage, ob derartige Eigen- schaften an unserer Seele vorkommen? In diesem Betracht sei es mir daher gestattet, mich auf zwei eigenthümliche Beob- achtungen zu beziehen, die mir zu verschiedenen Zeiten bei zwei Kranken vorgekommen sind. Ein ‚Kranker versicherte mir am Morgen voller Bestürzung, durch eine ihm un- erklärbare Erscheinung habe er den Tod seines Vaters ver- nommen, und eine weibliche Kranke erfuhr in der gleichen Weise den Tod ihres Gatten. Beide wussten nichts vom Kranksein ihrer Angehörigen. Der Tod des Vaters wurde mir drei Tage später aus einer entfernten Provinz gemeldet, den Tod des Ehegatten erfuhr ich am nächsten Tage aus einer nahe gelegenen Stadt. Beide Todesfälle waren möglicher Weise in dem nämlichen Augenblicke eingetreten, wo die Erscheinungen stattgefunden hatten. Bei dergleichen Erzählungen muss ich nachdrücklich vor Leichtgläubigkeit, ja vor Aberglauben warnen, und wenn mir von glaubwürdigen Personen manche derartige Erlebnisse mit- getheilt worden sind, so habe ich mir es stets zur Regel ge- macht, dieselben nicht gerade in Abrede zu stellen, mich aber nur auf dasjenige zu verlassen, was ich selbst mit Bestimmt- heit wahrgenommen hatte. Die Annahme indessen, dass bei diesen von mir beobachteten Fällen (und es sind mir noch einige andere vorgekommen) bloss der Zufall sein Spiel gehabt habe, scheint mir noch bedenklicher, als zu glauben, dass un- ter besonderen Umständen unser Geist mit in der Natur verborgenen Kräften in Verbindung treten kann. Diese Eigenschaft eben erhebt ihn über Raum und Zeit, und sicher- lich ist sie nicht für diese irdische Existenz der Seele zuge- theilt worden. Schroeder van der Kolk, Seele und Leib. #1 N 162 Ahnungen. Mit Recht sagt Herder!): „Einzelne Beispiele des Ge- dächtnisses, der Einbildungskraft, ja gar der Vorhersagung und Ahnung haben Wunderdinge entdeckt von dem verborge- nen Schatz, der in menschlichen Seelen ruhet. — — — Der eine unzählbare Menge (von Kräften) in meinen Körper führte und jeder ihr Gebilde anwies, der meine Seele über sie setzte und ihr ihre Kunstwerkstätte und an den Nerven die Balın anwies, dadurch sie alle jene Kräfte lenket: wird ihm im grossen Zusammenhange der Natur ein Medium fehlen, sie hinauszuführen? Und muss er es nicht thun, da er sie eben so wunderbar, offenbar zu einer höheren Bildung, in dies or- ganische Haus führte?“ 1) Ideen zur Geschichte der Menschheit. Sämmtliche Werke, 1827. Thl. 4, S, 244 u. 213. vi Die Mutterliebe in der Natur. Verfolgen wir mit Aufmerksamkeit den Haushalt der Na- tur, so muss unsere Bewunderung und unser Nachdenken er- weckt werden über die Fülle des Lebens, welches bei allem Widerstreite der Kräfte und Thätigkeiten überall ausgeschüt- tet ist, über die Einheit des Zweckes bei aller Verschieden- artigkeit der Mittel, sowie über die feststehende Ordnung trotz der scheinbar grössten Verwirrung. Die Millionen Ge- schöpfe, welche die Oberfläche unserer Erde bewohnen, befin- den sich in einem fortwährenden Kampfe auf Leben und Tod; überall werden die Schwächeren durch die Stärkeren verfolgt und Tausende von Thieren werden täglich eine Beute grausa- mer und blutgieriger Nebengeschöpfe, die nur auf diese Weise zu bestehen vermögen. Der Tod des einen Geschöpfes ist Bedin- gung für die Existenz eines anderen. Inmitten dieser endlosen Vernichtung bleibt aber dennoch das Ganze. Wodurch erhält sich nun, bei diesem fortwährenden Mor- den und Zerstören, das sichere Gleichgewicht im grossen Haus- halte der Natur? Warum vertilgen die Löwen, die Tiger, die Wölfe nicht die wehrlosen Thiere auf unserer Erde? Woher kommt es, dass durch die Adler, die Falken und die anderen Raubvögel das schwache und zahme Geflügel nicht ausgerot- tet wird, dass keine Entvölkerung der Flüsse durch die Kro- 11* 164 Haushalt in der Natur. kodile, der Meere durch die Haifische herbeigeführt wird? Durch welche Mittel werden die wehrlos geborenen Jungen ge- gen alle diese Feinde geschützt, und wodurch wird bei dem hülfsbedürftigen Zustande fortwährend das Nöthige für sie beschafit ? Der scheinbaren Unordnung, der allseitigen Verwüstung wird durch die zweckmässigsten Vorkehrungen ein Ziel ge- setzt. Die Grausamkeit der reissenden Thiere wird, wo es nö- thig ist, in Schranken gehalten. Die Triebe der Thiere wer- den durch deren Bedürfnisse bestimmt. Den Abgang einer vorausschauenden Vernunft und eines berechnenden Verstan- des, um die Mittel zu eigener Vertheidigung und zum Schutze der Jungen aufzufinden, ersetzte der Schöpfer durch hierauf berechnete Begabungen: er liess aus ibrer Organisation Nei- gungen und Instincte hervorgehen, die der Lebensweise jedes Thieres entsprechen, er dachte für die Thiere, er führte das ganze Thierreich an unsichtbaren Zügeln mit einer Weisheit und Vorsorge, die über alle menschliche Berechnung weit hin- ausgehen. Die angeborenen Neigungen und Triebe sind Aeusserungen eines höheren Willens in der Thierwelt, und dadurch sind sie gleich vollkommen, als die Quelle, der sie entstammen; es ist die Sprache, worin sich der Schöpfer in der Natur vernehmen lässt. Das wahrhaft Schöne in der Natur tritt uns nicht ent- gegen in den glänzenden Farben der Blume, nicht in der Pracht des Waldes bei Sonnenaufgang, nicht in der lieblichen Land- schaft, sondern vielmehr in der Weisheit, die uns überall ent- gegenstrahlt, in den Gedanken des Schöpfers selbst, die wir in der Natur wie in einem aufgeschlagenen Buche lesen kön- nen, und worin sich die Weisheit und Grösse des Schöpfers tausendfarbig und stets rein wiederspiegelt. In sprechendster Weise offenbart sich das eigentliche wahre Schöne der Natur in der liebevollen Muttersorge für die Nachkommenschaft, der wir im gesammten Thierreiche begegnen. Diese soll hier durch einige Beispiele erläutert werden. Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass Einheit Erhaltung der Arten. 165 des Zweckes bei grosser Verschiedenartigkeit und unendlichem Reichtliume der Mittel für diesen Zweck stets in der Natur verbunden sind. Nirgends in der ganzen Schöpfung tritt uns ein solcher Zweck in schärferer Zeichnung vor Augen, als in der Sorge für die ungestörte Erhaltung der verschiedenen Ar- ten. Bei der ausserordentlichen Verschiedenartigkeit der Le- bensweise und der Bedürfnisse, die bei den Tausenden von Thieren auf unserer Erde obwalten, musste es auch gleich ver- schiedenartige Mittel geben, welche jenem Zwecke dienen. Viele Tbiere leben zu kurze Zeit, um für ihre Brut sor- gen zu können; sie sind bereits gestorben, bevor noch die Jungen die Eier verlassen haben. Aber auch diese werden nicht vergessen; auch für sie wird mütterlich gesorgt. Manche, wie die Fische, sind zu wenig an einen bestimm- ten Platz gebunden, weil sie Nahrung aufsuchen oder Gefahren vermeiden müssen, und können deshalb ihre Jungen nicht auf- ziehen; aber auch für diese ist die Natur eine sorgsame Mut- ter. Nur bei den höheren Thieren, die vermöge ihrer Organi- sation und Lebensweise sich mehr dazu eignen, wurde das Auf- ziehen den Alten anvertraut. Bei jenen bleiben die Jungen ihrem Schicksal überlassen und die Natur selbst vertritt gleich- sam Mutterstelle; bei diesen hat die Natur diese Sorge zum Theil an die Eltern abgetreten, indem sie ihnen die Mittel zur Ernährung der Jungen und die Mutterliebe gewährte. Um bei der Beschauung dieses reichen Naturgefildes eine gewisse Ordnung einzuhalten, werde ich zuvörderst ein Paar mehr allgemeine Bemerkungen vorausschicken über die Sorge, welche in dieser Hinsicht in der gesammten Natur hervortritt, um dann überzugehen auf einzelne Züge des Instinets und der angeborenen Liebe, womit im ganzen Thierreiche, von den In- secten bis hinauf zum Menschen, für die Jungen gesorgt wird. Eine erste Schwierigkeit, welche die Natur beim Aufziehen der Jungen zu besiegen hatte, war die Beschaffung einer für die zarte Organisation passenden Nahrung, die auch in ausrei- chender Menge da sein musste. Diese Nahrung musste zudem je nach der Verschiedenartigkeit der Thiere eine verschiedene 166 Nahrung; Zeit des Ausschlüpfens. sein, und sie durfte auch nicht gleichartig sein mit dem, was die stärkeren Mägen der Alten aufzunehmen im Stande sind. Z/u dem Ende wurden die Säugethiere mit Brüsten ausgestat- tet, wo die Jungen in der warmen Muttermilch eine für den zar- ten Magen berechnete Nahrung finden, die nur einer geringen Verarbeitung bedarf, um in Chylus und Blut umgewandelt zu werden. Manche Vögel, namentlich Körner fressende, sind mit einem Kropfe versehen, worin das den Jungen zu verabrei- chende Futter, um deren noch schwacher Verdauung zu Hülfe zu kommen, erweicht wird. Die Jungen der niedrigen Thier- arten können alsbald nach der Geburt ihre Nahrung sich selbst aufsuchen, und diese finden sie vermöge besonderer Einrich- tungen oder in Folge einer angeborenen Sorgfalt der Alten, wovon ich noch weiterhin reden werde, immer in überflüssiger Menge. | i Eine andere vorzügliche Sorge der Natur giebt sich darin kund, dass die Thiere, bei uns wenigstens, nicht in allen Jahreszeiten geboren werden, sondern im Frühling: die wär- mere Temperatur befördert das Wachsthum, die Jungen ha- ben keine strenge Winterkälte durchzumachen, und in Ueber- fluss ist passendes Futter vorhanden. Im Frühjahre sprossen die Pflanzen wieder hervor, das Gras oder die Blätter sind noch mild, saftreich, zart und dabei in Menge vorhanden: so finden die Jungen der Pflanzenfresser gleich überall ein leicht verdauliches Futter, bei dem sie üppig gedeihen. Die Raub- thiere können dann eine reiche Ernte halten, weil andere junge Thiere in Ueberfluss vorhanden sind, deren leicht verdauliches Fleisch den schwachen Mägen ihrer eigenen Jungen gerade recht zusagt; letztere aber, deren Kräfte noch nicht ganz ent- wickelt sind, können sich im Fange anderer junger Thiere üben, die ihnen noch keinen vollständigen Widerstand ent- gegensetzen können. Hätten sie nur mit alten Thieren zu thun, so würden sie in der Regel unterliegen und zu Grunde gehen. Aehnliches finden wir auch bei den Insecten und anderen niedrigen Thieren, sowohl bei den pflanzenfressenden Insecten, Massenproduetion. 167 als bei denen, welche von anderen Insecten leben. Bei man- chen hat die Natur wahrhaft wunderbare Vorkehrungen zur Erhaltung des Geschlechts getroffen. Die Blattlaus z. B., die in unseren Gärten so häufig vorkommt, bringt im Frühjahre und den ganzen Sommer über lebendige Junge, und zwar lau- ter Weibchen. Im Herbste, wenn die Blätter abfallen und die ganze Vegetation aufhört, würden diese Insecten aus Mangel an Nahrung oder wegen der eintretenden Winterkälte insge- sammt zu Grunde gehen müssen: ein Nachtfrost würde hin- reichen, diese Thierart aus der Reihe der lebenden Wesen auszustreichen. Die besondere Vorsorge der Natur hat es aber so geordnet, dass die Organisation der zuletzt erschei- nenden Brut sich ändert, undnun auch Männchen ausschlüpfen, die sich paaren, worauf dann die Weibchen statt lebendiger Jungen Eier hervorbringen, welche die strengste Kälte über- stehen. Aus diesen Eiern entwickelt sich im Frühjahre, sobald die Blätter treiben, ein neues Geschlecht von Blattläusen, wel- che nun wieder eben so, wie die Voreltern, lebendige Junge hervorbringen. Eine dritte erspriessliche Sorge ist dahin getroffen, dass die Jungen gegen Gefahren geschützt werden. Bei den höhe- ren Thieren übernehmen die Alten diese Sorge. Bei vielen niedrigen Thieren, einige Ausnahmen abgerechnet, kommt keine Vorsorge und keine Vertheidigung durch die Alten vor, weil diese dann meistens zu Grunde gegangen sind. So kön- nen andere Thiere die Jungen ungestraft verfolgen, und diese sind wehrlos jener Fressgier ausgesetzt. Neben mancherlei anderen Vorkehrungen gegen die gänzliche Ausrottung solcher Thiergeschlechter beurkundet sich darin die Vorsorge der Natur, dass die Thiere sich in um so grösseren Mengen fort- pflanzen, je mehr Gefahren ihnen oder ihren Jungen drohen, und je mehr andere Thiere die Aesung an ihnen finden. Da- her die starke Vermehrung der Insecten und einiger anderen niedrigen Thierarten. So kann eine Mottenart innerhalb eines Jahres 200000 Individuen hervorbringen. Ein Nachtfalter könnte in der dritten Generation bereits anderthalb Millionen 168 Massenproduction. Eier produciren. Entgingen die Blattläuse während eines Jahreslaufes der Vertilgung, so würde die Erde die gesammte Nachkommenschaft kaum fassen können: die einzelne Blatt- laus würde mit der fünften Generation schon 5000 Millionen Junge bringen, und es entwickeln sich im Jahreslaufe wenig- stens 20 Generationen. Wahrhaft wunderbar ist diese Frucht- barkeit! Dadurch erhält sich aber auch die Thierart trotz der mannigfachen Verfolgungen, die ihr drohen, und Hunderte von Thieren, die davon leben, haben reichliche Nahrung. Eine derartige Fruchtbarkeit treffen wir auch bei den Fischen an. Der Hering legt 20- bis 50000 Eier; bei der Schleihe zählte man 383000, beim Karpfen 621600 Eier, bei einem Steinbutt reichlich eine Million, bei’ einem Kabeljau 3,444000. Eine grosse Anzahl dieser Eier wird von anderen Thieren verzehrt, und manche werden auch wohl gar nicht befruchtet; diesem Verluste wird durch die starke Vermehrung Rechnung getragen, und es wird somit dem Untergange ein- zelner Arten vorgebeugt. Wären die grossen pflanzenfressen- den Thiere gleich fruchtbar wie die kleinen, das Pflanzenreich würde bald aufgezehrt sein; vermehrten sich die Raubthiere gleich stark wie die Pflanzenfresser, die grossen Raubthiere gleich stark wie die kleinen, so würden sie zu grosse Verhee- rungen anrichten. So ist Alles in der Natur berechnet, und das nöthige Gleichgewicht und die Ordnung bleiben gesichert. In der Hand der Natur sind die Raubthiere das Baummesser, womit alle wilden Schösslinge abgeschnitten werden, und so erhält sich überall lebendiges Wachsthum. Die Existenz der Raub- thiere ist wieder vom Ueberfluss an Beute abhängig. Auf den Pflanzen in Spitzbergen lebt fast kein einziges Insect, und somit kommt auch kein von Insecten lebender Vogel dort vor. In Grönland kennt man schon mehr denn 20 verschiedene In- secten, aber auch wenigstens zwei Vogelarten, die von Insecten leben. In den wärmsten Strecken Amerika’s, wo ungemein viele Insectenarten leben, kennt man Hunderte von Vogel- arten, die der mächtigen Ausbreitung der Insecten eine Schranke Angeborne Triebe und Neigungen. 169 setzen; denn sie leben von Inseeten, werden aber selbst wie- der die Beute anderer Vögel. So steht Alles in harmonischem Zusammenhange; die Fruchtbarkeit einer Thierart bedingt das Leben einer anderen. Bei solcher Zerstörung und Verwüstung könnte man der Natur vielleicht Grausamkeit vorwerfen! Aber auch in der Beziehung ist Vorkehrung getroffen. Viele Thiere scheinen ihre Beute durch ein Gift sogleich unempfindlich zu machen und vor einem qualvollen Tode zu bewahren; bei den grösse- ren Raubthieren aber haben die Fangzähne eine solche Stel- lung, und der Instinet führt die Thiere so, dass meistens so- gleich die grosse Gehirnschlagader durchbissen wird, wodurch in wenigen Augenblicken Bewusstlosigkeit entsteht und der Tod viel schmerzloser eintritt. Auf diesem Wege wird auch dem schmerzvollen Hungertode durch Nahrungsmangel und Alter vorgebeugt. dem die Thiere sonst nur nach langen Qua- len zur Beute fallen würden. Ich habe mir aber nicht die Aufgabe gestellt, nachzuwei- sen, wie das Gleichgewicht in der Natur hergestellt wird, son- dern ich wollte durch einige Beispiele darthun, wie gründlich die Natur für die nachkommenden Geschlechter sorgt. Die glänzendsten Beweise dafür finden wir in den Instineten und Trieben der Thiere, wodurch dieselben zu so richtigen und zweckentsprechenden Handlungen bestimmt werden, und worin wir vor Allem die Weisheit des Schöpfers zu bewundern ha- ben, der Alles so vollkommen machte. Wo das Thier noch zu schwach und zart und zu wenig entwickelt ist, um sich selbst lenken und leiten zu können, da wurden ihm unwandelbare angeborene Neigungen zu Theil, wo- mit die Ueberlegung und der Verstand ersetzt werden; wo es nicht selbst zu denken vermag, da übernimmt die Natur das Denken. „Sie dachte ihm vor,“ sagt Herder!), „da sie die Kräfte in solche und keine andere Organisation setzte, und 1) Ideen zur Geschichte der Menschheit. Sämmtliche Werke, 1827. Thl. 4, 8..122. 170 Instinetive Sorge für die Nachkommenschaft. nöthigte das Geschöpf nun, in dieser Organisation zu sehen, zu begehren, zu handeln, wie sie ihm vorgedacht hatte.“ Durch- laufen wir von diesem Standpunkte aus das Thierreich vom Insecte bis zum Menschen, so tritt uns überall die Sorge der Mutter für die Nachkommenschaft in wunderbarer Weise ent- gegen. Bei den Insecten kommt es vielfältig vor, dass die Jun- gen nicht für sich selbst zu sorgen vermögen, und doch sind die Alten bereits dahin, wenn das künftige Geschlecht zum Leben erwacht; ohne eine besondere Vorkehrung der Natur oder der Eltern müssten hier die Jungen zu Grunde gehen. Die Mutter sorgt hier für die Brut, ehe sie noch da ist, und sie sucht Futter für dieselbe, bevor sie noch ein Eı gelegt hat. Da nun aber auch hier, ähnlich wie bei den höheren Thier- arten, die den Jungen dienliche Nahrung meistens eine ganz andere ist, als die der Alten, so richtet sich das Weibchen nicht nach dem eigenen Geschmacke und nach dem eigenen Bedürfnisse, sondern legt die Eier auf solche Pflanzen, an de- nen die Jungen die ihnen entsprechende Nahrung finden. Die Sandwespe gräbt Löcher in sandigen Boden und bringt eine Spinne oder ein Räupchen hinein, die sie nicht getödtet, son- dern nur durch Einführen des Stachels nach einer bestimmten Stelle des Nervensystems betäubt und gelähmt hat, wodurch ihrer Fäulniss und Vermoderung vorgebeugt wird; dann aber lest sie in jedes solches Loch ein Ei und das daraus schlü- pfende Junge findet sogleich seine Nahrung. Andere Wespen öffnen wieder von Zeit zu Zeit diese sorgfältig verschlossenen und Anderen unkenntlichen Gänge, sobald die Larven den ein- gebrachten Vorrath verzehrt haben, was die Alten genau zu wissen scheinen, bringen neuen Vorrath in das Nestchen und verschliessen es wieder sorgfältig, um alle Feinde abzuhalten. Die Holzwespe bringt neben das Eichen in der Zelle eine Art von Teig, den sie selbst zubereitet hat, und der für sie keine Nahrung ist, wohl aber der aus dem Ei kommenden Larve vortrefllich zusagt. Eine andere Wespe, die selbst von vege- tabilischen Substanzen lebt, sammelt 11 bis 12 kleine grüne Instinetive Sorge fir die Nachkommenschaft. 171 häupchen oder Maden und befestigt sie bei dem Ei, als wüsste sie, dass ihre eigene Nahrung den Jungen schädlich sein würde: die ausschlüpfende Made findet so hinlänglichen Vorrath einer für die jetzige Lebensperiode passenden Nahrung, bis sie wei- terhin als vollkommenes Insect aus dem Pflanzenreiche sich ernähren kann. Nach Kirby und Spence!) lässt sich die Wespe in der Sammlung jener Maden durch deren Grösse be- stimmen, von den grösseren nimmt sie nur 8 bis 9, von den kleineren 11 bis 12. Immer aber nimmt sie erwachsene Maden, als wüsste sie, dass nur solche ganz erwachsene Thierchen ohne Futter lange genug in dem kleinen Neste leben können, und dass jüngere noch im Wachsthum begriffene Maden wegen Futtermangel alsbald absterben und in Verwesung übergehen würden. Der Ringelraupenschmetterling saugt Honig und Blumen. Wer lehrte ihn nun, was er ja niemals gesehen hat, dass die Jungen, die erst im nächsten Jahre aus den Eiern schlüpfen, keines Honigs bedürfen, sondern junger Blätter? Er legt seine Eier weder in eine Blume, noch auf die Blätter, die im Herb- ste abfallen, sondern vermittelst einer harzartigen, kein Was- ser durchlassenden Substanz befestigt er sie an jungen Zweigel- chen, als ahnte er, dass die liebliche Frühlingssonne die jun- gen Blätter hervorlockt, an denen das junge Räupchen beim Verlassen des Eies Nahrung finden wird. Nicht minder merkwürdig ist es, dass die Jungen die Eier nicht eher verlassen, als bis die jungen Blätter zu treiben an- gefangen haben, was doch bei den verschiedenen Baumarten zu verschiedenen Zeiten eintritt. Die Eier der Blattläuse, die auf Birken und Eschen leben, zeigen keinerlei erkennbaren Unterschied ; gleichwohl schlüpfen, obwohl die Temperatur und die klimatischen Verhältnisse ganz die nämlichen sind, die Jungen aus den Eiern der Birkenblattlaus mit dem Ausbruche der Blätter aus und zwar einen Monat früher, als die Jungen der Eschenblattlaus, weil die jungen Blätter der Esche um so 1!) Entomologie, Thl. 1, S. 382, ee u ne 172 Instinctive Sorge für dıe Nachkommenschaft. \ viel später hervorbrechen. Spence!) nahm einen kleinen Bir- kenzweig, woran Eier abgesetzt waren, mit nach Hause und setzte ihn in einem Kruge Wasser in sein geheiztes Zimmer: die Blätter brachen etwa einen Monat vor der gewöhnlichen Zeit hervor, und mit ihnen zugleich zeigten sich auch schon junge Blattläuse. Zeigt sich in diesem harmonischen Zusam- mentreffen nicht eine wahre mütterliche Sorge der Natur, selbst für die geringsten Geschöpfe, ohne welche diese mei- stens, wenn ihnen im ersten Saftgrün die Nahrung fehlte, zu Grunde gehen müssten? Jene Insecten, deren Junge noch im Verlaufe des Sommers auskriechen, legen ihre Eier auf die Blätter selbst, als wüssten sie, dass jene jetzt nicht um die Zweigelchen herumgelegt zu werden brauchen. Vielfach bedarf es nicht bloss einer andern Nahrung, son- dern auch eines andern Mediums. Die Larven der Florfliegen, der Eintagsfliege, sowie mancher Mückenarten und anderer Insecten leben in Wasser, worin die Alten nicht bestehen kön- nen; allein in der Sorge für ihre Brut überwinden diese die natürliche Scheu und legen ihre Eier ins Wasser, oftmals nicht ohne Lebensgefahr. Wo sollte ich aber aufhören, wollte ich die Vorrathskammern der Bienen, Wespen, Ameisen be- schreiben, die schon an und für sich einer Betrachtung werth wären, deren Beschreibung aber hier zu weit führen würde. Manche Insecten überwachen das Auskriechen ihrer Jun- gen, und diese erfreuen sich der elterlichen Sorge, die ihnen in keinem minderen Grade zu Theil wird, als den höheren Thieren. Manche Spinnen umhüllen ihre Eier mit einem Ge- spinnstsäckchen, das sie am Rücken befestigen und überall mit sich herum tragen. Wird dieses Säckchen vorsichtig der Mut- ter weggenommen, so befestigt sie einen langen Faden daran, zieht es, sobald es losgelassen wird, wieder an sich heran und entflieht damit. Bonnet?) setzte die Anhänglichkeit dieses Thierchens auf folgende Probe. Er trieb eine Spinne mit !) Kirby und Spence. Entomologie Thl. 2, 8. 485. 2) Kirby und Spence. Entomologie Thl. 1, S. 397. Spinne; Skorpion, 172 ihrem Eiersäckchen in die Grube eines Ameisenlöwen, eines sehr gefrässigen Thieres, das am Boden einer kegelförmigen Höhle, die es in Sand gräbt, unglücklichen Thieren auflauert, um sie als Beute zu erhaschen. Die Spinne suchte davon zu rennen, war aber nicht schnell genug, um zu verhindern, dass der Ameisenlöwe ihren Eiersack packte, den er unter den Sand zu zerren suchte. Dagegen wehrte sich die Spinne mit allen Kräften, aber das Säckchen riss ab. Da erfasste es die Spinne wieder mit ihren Kiefern und verdoppelte ihre Anstren- sungen. Doch vergebens! Der Ameisenlöwe war der Stärkere, und er zog das Säckchen zugleich mit dem Vertheidiger in den Sand hinein. Die unglückliche Mutter hätte ihr Leben retten können, wenn sie die Eier fahren liess; aber sie liess sich eher lebendig begraben, ehe sie sich von ihrer Brut trennte. — Sind die jungen Spinnen aus diesem Säckchen, das von der Mutter erst geöffnet werden muss, ausgebrochen, dann setzen sie sich auf den Rücken der Mutter, die sie noch eine Zeitlang mit sich herumträgt und für sie sorgt. Selbst der so allgemein verabscheute Skorpion bietet uns ein Beispiel der Mutterliebe. Sobald er Gefahr bemerkt, öft- net er den Mund, die kleinen und zarten Jungen kriechen hinein, und er bringt dieselben in Sicherheit. Später öffnet er dann den Mund wieder und lässt seine Lieblinge heraus. Ich könnte diese- Beispiele noch erheblich vermehren, sie genügen aber, um uns die Ueberzeugung zu verschaffen, dass auch bei den ganz verachteten und verkannten Geschöpfen, die wir wohl dem sogenannten Ungeziefer zuzählen, die grössten Wunder in der Natur auftreten. Sie liefern uns den Beweis, dass für alles Geschaffene mit gleicher Liebe und Güte, mit unendlicher Weisheit und Vollkommenheit gesorgt wird. Die Fische überlassen zwar die Eier ihrem Schicksale, allein die mütterliche Sorge ist dabei doch nicht ganz ausge- schlossen. Durch einen natürlichen Instinct angetrieben suchen sie ihre Eier an Stellen abzulagern, wo sich zahlreiche Was- serinsecten finden, die den künftigen Jungen reichliche Nah- rung bieten können, und wo die Jungen auch den wenigsten 174 Das Stichlingsmännchen. Gefahren ausgesetzt sind. Manche, wie die Salmen, schwim- men zu dem Ende flussaufwärts, und mit grosser Behendigkeit und .Kraft vermögen sie selbst Wasserfälle zu überspringen, wie ich einmal bei einer Forelle mich selbst durch den Augen- schein zu überzeugen Gelegenheit gehabt habe. Die Salmen’ machen dann eine Grube im Sande, legen die Eier hinein und decken die Grube wieder zu, um ein Wegschwemmen und Auseinandertreiben der Eier zu verhüten. Im Sanct Lorenzstrom, oberhalb der Wasserfälle des Nia- gara, führen auch manche Fische am Strande kleine Dämme aus Steinchen auf, die sie mit dem Munde zusammen tragen, damit die dahinter abgesetzten Eier nicht durch den mächti- gen Strom fortgeführt werden. Manche Stichlingsarten (Gasterosteus) bauen selbst eine Art Nester, in denen die Eier abgesetzt werden. Nach Co- ste!) baut das Männchen ein überdachtes Nest aus Pflanzen- fasern und Grashalmen und verbindet dieselben fester durch einen dem eigenen Leibe entstammenden Schleim. Das Fun- dament wird zuerst dadurch befestigt, dass die Pflanzentheile durch Reibung immer enger zusammengedrängt werden. Wenn ein Stiel nicht zum Baue passt, so wird er weggeschafft und durch einen andern ersetzt. Nun bekommt das Nest ein Ge- wölbe, und es wird eine zweite Oefinung durchgebohrt, so dass das Thierchen durchschwimmen kann. Ist es so weit, dann sucht sich das Männchen unter den in der Nähe befindlichen Weibchen eine Braut aus, die jetzt von der Natur mit einer unge- wöhnlichen Färbung ausgestattet worden ist, und führt sie in sein Nestchen wie in ein Brautgemach, worin die Eier abge- setzt werden. Hiernach holt er ein zweites Weibchen, und so enthalten dann diese Nester nach Coste manchmal 1000 bis 2000 Eier. Ganz im Gegensatze zu dem, was wir von anderen Thieren wissen, hält das Männchen allein Wache bei dem Neste, woran das Weibchen keinen ausschliesslichen Antheil hat. Ja diese 1) Instructions pratiques pour la Piscieulture. 1853. p. 67 et 74, BP" Das Stichlingsmännchen. 175 Weibchen sind sogar seine gefährlichsten Feinde, die die Eier zu verzehren suchen. Vier Wochen lang muss das Männchen die Eier gegen die mehrfach wiederholten Angriffe dieser Räu- ber unverdrossen vertheidigen; während dieser ganzen Zeit verlässt es das kleine Nest nicht, und sorgt unablässig für Al- les. Zunächst wird das Nest dadurch fester gemacht, dass die eine Oefinung wiederum verstopft und das Nest mit Steinchen bedeckt wird, die manchmal halb so gross sind wie der eigene Körper und mit Mühe aus der Umgebung herbeigeschleppt werden. Nun ist bloss Eine Oefinung zu bewachen, und vor dieser fasst das Männchen anhaltend Posto, die Vorderflossen fortwährend bewegend, so dass die Eier immer einen Strom frischen Wassers bekommen; denn ohne diese Strömung wür- den die Eier sich mit Schimmel bedecken und nicht ausgebrü- tet werden. Jeder andere Fisch oder jedes Weibchen, das dem Neste zu nahe kommt, wird vertrieben. Vermehrt sich die Anzahl der Feinde, so kommt wohl eine List in Anwendung; das kleine Thier macht Bewegungen, als stürze es auf eine Beute und entfernt sich ein Paar Augenblicke vom Neste, die Feinde folgen ihm begierig, um an der ungesehenen Beute sich zu betheiligen, und sind sie auf diese Weise weggelockt, so kehrt das Männchen bald an den geliebten Platz zurück. Ge- lingt es, durch diese unnachlässigen Bemühungen den Schatz zu hüten, und sind die Jungen dem Ausschlüpfen nahe, so ver- doppelt das Männchen seine Anstrengungen: die herbeige- schafften Steinchen werden entfernt, es werden mehrere Oeff- nungen am Neste angebracht, die anhaltende Wasserströmung wird verstärkt, und die Eier werden bald an die Seite, bald in die Mitte des Nestes geschafft. Sind nun nach 10 bis 12 Ta- gen die jungen Fischchen da, so müssen sie doch noch längere Zeit gegen Feinde geschützt werden. Zuerst sind sie noch schwer beweglich, weil der schwere Dottersack an ihnen hängt. Das Männchen duldet aber nicht, dass sie über die Ränder des Nestes hinausgehen, jeder Flüchtling wird im Munde wieder ins Nest zurückgetragen. Giebt es mehrere solche Ausreisser, so werden auch wohl mehrere auf einmal gefasst, ohne ihnen 176 Krokodil; Schildkröte. Schaden zuzufügen. Die grössere Familie bedarf aber freilich auch eines grösseren Raumes, und das Männchen lässt dann die jungen Fischchen in der Nähe des Nestes herumschwim- ‚men. Allein nach Art eines Schäferhundes schwimmt das Männchen um die junge Brut herum und sucht seine Heerde zusammen zu halten, bis sie nach etwa 20 Tagen sich selbst überlassen werden können. Wie gefrässig der kleine Fisch auch sonst ist, während dieser ganzen Zeit hat er keine Nahrung zu sich genommen. Kann sich die mütterliche Sorge der Natur wohl sprechender erweisen, als bei diesem Thierchen ? Auch bei den Amphibien, die zwar meistentheils die Jun- gen ihrem Schicksale überlassen müssen ‚ fehlt diese mütterli- che Sorge der Natur nicht. Bei den Krokodilen geht sie wei- ter als bei manchen anderen. Sie suchen nach r. Humbodt!) die am Ufer unter Sand versteckten Eier gegen die Zeit auf, wo die Jungen auskriechen, rufen die Jungen, die auch antwor- ten, führen sie zum Flusse und schützen sie, Dessen ist die Schildkröte nicht fähig, die in ihrem Schilde zwar Mittel zum eigenen Schutze besitzt, dagegen mit keinerlei Waffen von der Natur ausgestattet ist. Die Natur lässt es gleichwohl nicht am Schutze der Jungen fehlen. Die Seeschildkröte macht auch ein Loch in den Sand am Ufer, um die Eier hineinzulegen, und deckt sie dann wieder zu, dass sie durch die Sonnenstrah- len gebrütet werden: den auskriechenden Jungen lauern aber Schaaren von Vögeln und andere Thiere auf. Wunderbarer Weise eilen nun die Jungen Schildkröten, vermöge eines ange- borenen Triebes, unmittelbar nach dem Auskriechen der See zu und entgehen so ihren Feinden. Hemmt man sie auf dieser Bahn und sucht man ihnen eine andere Richtung zu geben, in- dem man sie umdreht, so wenden sie sich doch sogleich wie- der nach der See um, die sie noch niemals gesehen haben. Wer belehrte sie über diesen Weg und wer beschenkte sie mit einem Compass? Muss man nicht erstaunen über den un- ERBEN Te. 2 TORE ') Reise in die Aequinoctialgegenden, Stuttgart 1815. Thl, 3, S. 427, Ehegenossenscha ft bei Thieren. 77 begreiflichen Instinet der Natur, der diese Thiere blindlings antreibt, für ihre Erhaltung zu sorgen ? Die stärksten Züge von Liebe und Sorgfalt für die Jungen finden wir aber bei den Vögeln, wo die Alten in fortwähren- der Pflege nur ihnen zu leben scheinen. Der bei den Vögeln waltende Instinct zeigt sich in einer edleren Form und es ver- bindet sich damit noch ein Verhältniss, das bei den niedrige- ren Thieren nicht in gleicher Weise angetroffen zu werden _ pflegt, nämlich eine Art Ehegenossenschaft. Wer kennt nicht in dieser Beziehung unsere Tauben, namentlich die Turteltau- ben, die von den Dichtern so viel als Muster treuer Liebe be- sungen worden sind’? Die besondere Sorge der Natur giebt sich hierbei wieder darin zu erkennen, dass nach einer ziem- lich durchgreifenden Regel die gemeinsame Betheiligung von Männchen und Weibchen bei jenen Arten vorkommt, wo die Jungen in der ersten Zeit wirklich der gemeinschaftlichen Hülfe bedürfen. Wo die Jungen sogleich überflüssige Nah- rung finden, wie bei unseren Enten und Hühnern, da war so etwas nicht nöthig; wo dagegen die Nahrung herbeigeschafft werden muss und wo die unvollkommenen Jungen der mütter- lichen Erwärmung nicht lange entbehren können, da mussten sich beide Alten an der Besorgung der Jungen betheiligen, und hier hat auch die Natur selbst eine solche Verbindung oder Ehe eingerichtet. Eine solche eheliche Genossenschaft besteht bei manchen Thieren so lange, als die gemeinschaftliche Sorge für die Jun- gen es nöthig macht, und erreicht erst ihr Ende, wenn diese erwachsen sind. Unter den Säugethieren finden wir dies z. B. bei den Fledermäusen, den Ratten, den Kaninchen. Von den Vögeln gehören hierher viele Raub- und Singvögel, desgleichen die Raben. Zur Zeit der Auswanderung trennen sich die Paare, im nächsten Jahre scheinen sie aber wieder zusammen zu kom- men. Bei Adlern und Tauben, unter den Säugethieren bei Füchsen und Rehen, bleibt die Verbindung für das ganze Le- ben bestehen. Einen recht auffallenden Beweis lieferte ein Storch, dessen Weibehen einer Verwundung wegen die Reise Schroeder van der Kolk, Seele und Leib. 12 178 Vösel. {eo} nicht mit antreten konnte: drei Jahre hintereinander suchte er im Frühjahr das Weibchen wieder auf, und dann blieb er auch während des Winters bei demselben‘). Sehr innig ist diese Verbindung bei den Papageien, namentlich bei den sogenannten Inseparabeln. Nachdem Bonnet?) ein solches Paar vier Jahre lang ernährt hatte, verfiel das Weibchen in Altersschwäche und konnte nicht mehr zum Futtertroge kommen, wurde aber von dem Männchen gefüttert; als es schwächer wurde und nicht mehr auf. die Sprosse kommen konnte, suchte das Männchen mit Anstrengung aller Kräfte es heraufzuziehen; als es end- lich starb, lief das Männchen mit grosser Unruhe hin und her, - versuchte ihm Nahrung beizubringen, blickte es zuweilen still an, gab ein klägliches Geschrei von sich, und starb nach eini- gen Monaten. Die Natur stattet auch manche Vögel zur Paarungszeit mit einer ungewöhnlichen Pracht der Federn aus, als wollte sie da- durch die eheliche Liebe noch steigern. Andere verkünden ihr Glück in lauten Tönen: die Turteltaube girrt, die Lerche erhebt sich unter Gesang hoch in die Lüfte, das Nachtigallmännchen flötet seinen lieblichen Gesang, während das Weibchen brütet. Sobald indessen die Jungen ausgekrochen sind, schweigt die Nachtigall, als fürchte sie die Nähe des Nestes zu verrathen, und hilft die Jungen mit füttern. Bei diesem Futterzutragen benehmen sich die Thiere aber auch ganz vorsichtig: sie flie- gen nicht ohne Weiteres zum Neste, sondern verstecken sich in einiger Entfernung davon im Gebüsche, um unvermerkt zur Brut kommen zu können, und gleich umsichtig benehmen sie sich beim Verlassen des Nestes. Manche Vögel schaffen auch ihre Jungen fort, wenn sie dieselben entdeckt wissen. Nimmt man einer Nachteule ein Junges aus dem Neste, so schafft sie die übrigen Jungen in der folgenden Nacht fort. Aehnliches kann man wohl bei Hunden ') W. Vrolik, Het leven en maaksel der dieren. I. p. 58. 2) Betrachtungen über die Natur, übers. von Titius 1803, 5. Aufl, Thl. 2, S. 207. Vögel. 179 und Katzen beobachten. Die Thiere wenden auch merkwürdige Listen an, um die Feinde von den Nestern abwendig zu ma- chen. Kommt ein Mensch oder ein Hund in die Nähe eines Rebhuhnnestes, so fliegt das Männchen mit ängstlichem Ge- schrei auf und warnt das Weibchen, dann aber lässt es sich mit hängendem Flügel auf den Boden nieder, als könnte es nicht fliegen oder wäre es verletzt, um so den Feind, der eine leichte Beute zu gewinnen hofft, vom Neste wegzulocken; das benutzt aber das Weibchen, um mit den Jungen zu entfliehen. Aehnliches beobachtet man auch bei anderen Vögeln. So er- zählt Coste!), wie er selbst durch die List einer Lerche sich habe täuschen lassen. Er sah das Thier auf einmal vor sich und nur langsam bewegte es sich fort, als fehlte ihm die Kraft dazu. Coste bückte sich, um es zu fassen; wenn er es aber zu fassen vermeinte, da entfernte es sich, anscheinend mit grosser Anstrengung, weiter. So wurde Coste auf einen be- nachbarten Acker gelockt, und jetzt erhob sich die Lerche, nachdem der Verfolger weit genug vom Neste weggekommen zu sein schien, mit fröhlichem Gesang hoch in die Lüfte. Nach Bonnet?2) flogen Schwalben in brennende Häuser, um ihre Jungen zu retten, oder mit ihnen unterzugehen. Vor Allem aus bewährt sich aber die Muttersorge der Vö gel im Bau der Nester, die sie mit grossem Fleisse in Betracht ihrer geringen Hülfsmittel auch mit grosser Kunstfertigkeit herzurichten wissen. Gleich allen Kunstproducten, welche aus einem eingebornen Triebe hervorgehen, sind die Vogelnester in ihrer Art ganz vollkommen, ja es sind wahre Meisterstücke. Wo die Natur Lehrerin ist und der unentwickelte Verstand den Thieren zu Hülfe kommt, da ist Alles gleich schön und zweckmässig, würdig der Natur und über jeden Tadel erhaben. Ich will mich auf ein paar allgemeine Bemerkungen und auf einige Beispiele beschränken. Die Vogelnester sind immer auf die Zahl und Grösse der 1) Instructions pratiques pour la Piseiculture. 1853, p- 78. 2) Beobachtungen u. s. w. Thl. 2, S. 229. 12* 180 Nester der Vögel. Jungen berechnet, und darin wird sich kein Vogel irren. Kleine Eier erkalten leichter und verlangen eine mehr andau- ernde Wärme; deshalb bauen die kleinen Vögel tiefere Nester, und ihre Eier liegen auf einem weicheren und besser erwärm- ten Bette, so dass sie beim Ausfliegen des Vogels nicht so rasch erkalten können. Das Nest der Lerche ist viel tiefer und die Eier darin liegen wärmer, als beim Storche oder bei der Gans. Die Nester werden aber mit Dingen ausgefüttert, die zu den schlechten Wärmeleitern zählen, mit Stroh, Moos, Haa- ren, Flaumfedern oder sonstigen Federn. Sehr beachtens- werth ist auch in dieser Hinsicht das Verfahren des Nordischen Kreuzschnabels (Loxia curvirostra). Dieser Vogel legt im Ja- nuar, wenn es regnet und schneit, seine Eier, weil jetzt, und nicht im Frühjahr, die Samen des Tannenbaums, womit die Jun- gen gefüttert werden, in Menge vorhanden sind. Das Nest würde aber durch die fortwährende Feuchtigkeit sich erwei- chen und das Brüten bei der hierdurch verursachten Kälte un- möglich fallen, hätte die Natur den Vogel nicht angewiesen, sein Nest mit Harz zu bestreichen, als wüsste er, dass Schnee und Wasser dann nicht mehr eindringen können. Aber nicht blos für die Wärme, sondern ganz besonders auch für den Schutz der Eier wie der Jungen sorgt der Vogel beim Bau seines Nestes durch kunstreiche Einrichtungen, die um so complicirter und um so schirmender sind, je mehr Ge- fahren drohen. Ja es richtet sich die Bauweise ganz nach den Feinden, die zu befürchten sind. Unsere Singvögel bringen ihre Nester meistens in dichtes Laub oder in einen hohlen Baum, wo sie von Raubvögeln nicht gesehen oder auch nicht erreicht werden können. Die Vögel in heissen Ländern würden da- durch noch keinen Schutz gegen Affen und Schlangen haben, die ihnen überall nachstellen; deshalb bringen viele ihre Ne- ster an die zumeist nach aussen reichenden, über Wasser be- findlichen Aeste, wohin die Feinde nicht kommen können. Der Bengalische Kreuzschnabel ist damit noch nicht zufrieden und macht aus Pflanzenfasern und dürren Grashalmen ein ellen- langes Seil, das er am äussersten Ende eines Baumastes über Nester der Vögel. 181 Wasser befestigt und woran er dann das Nest anhängt, so dass dieses vom Winde hin und her geschleudert wird, aber allen Feinden unerreichbar ist. Manche Nester haben die Oeflnung seitlich, ja bei ande- ren ist sie selbst auf der unteren dem Wasser zugekehrten Seite angebracht und ein Seitengang führt zu den Jungen. Der sogenannte Schneidervogel (Orthotomus) heftet drei Blät- ter eines Baumes durch Baumwollenfäden mit seinem Schna- bel zusammen, und am Ende der Fäden bringt er einen Knopf an, um das Durchgleiten zu verhüten. Dieses Nest ist von an- deren Blättern des Baumes fast nicht zu unterscheiden. In Abyssinien regnet es manchmal viele Monate hindurch ohne Unterbrechung, wobei der Wind aus Westen geht. Die Loxia abyssinica nun baut ihr Nest stets in der Weise, dass - die. Oeffnung nach Osten gekehrt ist, und dabei werden die Eier durch einen undurchdringlichen Deckel von oben gegen Regen geschützt. Unsere Schwalbe erreicht den nämlichen Zweck dadurch, dass sie ıhr künstliches Nest an den Balken der Wohnungen anklebt. In Ostindien formt eine Schwalben- art die bekannten essbaren Vogelnester aus Speichel, und diese werden an beinahe unzugänglichen Felsen befestigt. Auch auf die Lebensweise und auf die Nahrung der Vögel wird beim Nesterbau Rücksicht genommen; wenigstens kommen die Nester vieliach dahin, wo die Nahrung am leichtesten zu beschaffen ist. Die Adler und andere Raubvögel bringen die Nester auf hohe Felsen und Bäume, wo sie eine grosse Fern- sicht haben und leicht von fern das kleine Wild erspähen können. Der Kiebitz und andere wählen sich zum Nestbau einen weichen Boden aus, worin sie leicht die nöthigen Wür- mer finden, und am liebsten benutzen sie den Rand einer Sen- kung oder eines Grabens, wo sie das Nest unbemerkt verlas- sen können. Die Wasservögel legen ihr Nest am Ufer an, oder sie haben auch schwimmende Nester, denen beim höhe- ren Wasserstande keine Gefahr droht. Gleich sorgsam sind die Vögel im Schutze ihrer Eier und ihrer Jungen. Es kümmert sie nicht, dass sie keine Wafien 182 Ungleiche Entwickelung auskriechender Vögel. haben, und sie führen die Vertheidigung manchmal mit Le- bensgefahr. Der kleine Kolibri, der selbst einer gewissen Spin- nenart zur Beute wird, vertheidigt seine Eier mit solcher Wuth, dass er dem sich Nahenden ins Gesicht stürzt. Bei vie- len Raubvögeln liegt diese Vertheidigung den Weibchen ob, und diese sind dann grösser und stärker als die Männchen. Sie brüten um so nachhaltiger, je näher dem Auskriechen die Jungen sind, als wüssten sie, dass diesen eine Erkaltung jetzt weit gefährlicher ist. Die wilden Enten, sonst ‚so furchtsam, lassen. sich manchmal mit der Hand auf dem Neste fassen. Manche Vögel, namentlich jene, die weisse Eier legen, wie z. B. Enten, bedecken das Nest, wenn sie es verlassen, mit Heu oder mit Blättern, um die Eier vor Erkaltung zu schützen und sie zugleich den Feinden zu verbergen. Der Kiebitz thut das nicht; seine schwarzgrünen Eier sehen wie Gras und Erde aus und fallen so weniger in die Augen. Im Ferneren zeigt sich auch die mütterliche Sorge der Natur in der ungleichartigen Entwickelung der Jungen beim Auskriechen. Die Jungen solcher Vögel, die ihre Nester am Boden haben, wie unsere Hühner, Enten, Kiebitze, haben beim Auskriechen stark entwickelte Beine und sie verlassen das Nest sogleich: die jungen Enten gehen alsbald ins Wasser und suchen sich schon Nahrung; die anderen halten sich an die Mutter, die ihnen Nahrung vorlegt und sie durch eigenthümli- che Töne zum Verzehren auffordert, oder sie vor Gefahren warnt. Die Jungen solcher Vögel, die auf Felsen oder hohen Bäumen nisten, würden, falls sie das Nest sogleich verliessen, herabstürzen und zerschmettert werden. Dem wird aber da- durch vorgebeugt, dass die Jungen hier weit unvollkommener herauskommen: die Eier sind weit kleiner, die Jungen daher auch weniger ausgebildet beim Verlassen des Eies, und sie werden nicht nur ziemlich nackt und blind geboren, sondern auch mit so schwachen Beinen, dass sie nicht laufen können, bevor sie zu fliegen im Stande sind. Nach 14 Tagen bis 3 Wo- chen können die Sing- und Raubvögel fliegen. Die jungen Hühnchen und Wasservögel können zwar bald Futter suchen Fütterung bei Vögeln. 183 und sich drohenden Gefahren entziehen, aber das Fliegen geht erst nach 2 bis 3 Monaten. Bei jenen sind die Flügel mehr entwickelt als die. Beine; bei letzteren verhält es sich umge- kehrt. So ist denn auch bei den Hühnern und bei anderen die Sorge der beiden Alten weniger erforderlich, und dieselbe ist meistens den Weibchen allein überlassen; bei manchen verlässt sogar das Männchen sein Weibchen während des Brü- tens und kehrt erst im Herbste wieder zu ihm zurück. Bei den Sing- und Raubvögeln brütet das Männchen so gut wie das Weibchen, und sie sorgen wechselseitig für ihre zarten Jungen, zumal wenn die Nahrung schwerer zu erlan- gen ist und vielleicht aus grösserer Entfernung herbeigeschaftt werden muss. Bei Spechten und Eulen hat man sogar beob- achtet, dass das Männchen die Jungen allein aufzog, wenn das Weibchen in Gefangenschaft gerathen war. So accommo- dirt sich sogar dieser schöne angeborene Instinct der Natur zufälligen und ungewöhnlichen Umständen. Bei den Tauchern und Wasserhühnern hilft das Männchen brüten, es kümmert sich aber nicht um die Jungen, die unter Leitung der Mutter überall hinreichend Nahrung finden. Bei den meisten gepaarten Raub- und Singvögeln und beim Fisch- reiher brütet das Männchen nicht mit, es holt aber Futter für die Jungen, weil die Mutter das Nest zu lange verlassen müsste, wenn sie auch dafür sorgen wollte. Bei den Singvö- geln bleiben die Alten noch längere Zeit in der Nähe des Ne- stes, auch wenn die Jungen ihrer Sorge nicht mehr bedürftig sind. Eine Bachstelze hatte einen jungen Kuckuck in einer hohlen Eiche ausgebrütet, dieser konnte aber nicht durch die enge Oeffnung herauskommen; da gab die Bachstelze ihre Herbstreise auf und fütterte den Kuckuck noch bis in den Win- ter hinein. So modificirt sich der Instinet überall nach den Bedürfnissen und nach der Lebensweise der Thiere. Sind die Jungen aus dem Eie gekrochen, so schafit die Mutter vor allem die Eierschalen aus dem Neste, die den Jun- gen leicht Schaden bringen könnten, und dann erst sorgt sie für deren Fütterung. Die Insectenfressenden zerkleinern die 184 Säugethiere. Insecten und füttern ihre Jungen damit. Die Raubvögel er- weichen das Fleisch erst im Kropfe, so dass es leicht zu ver- dauen ist; weiterhin 'bringen sie ihrer Brut junge getödtete Thiere, dann solche, die nur mehr oder weniger verwundet sind, zuletzt aber kleine lebendige Thiere, so dass sie ihre Kräfte im Fangen üben können. Die von Gesäme Lebenden, z. B. unsere Tauben, erweichen das Futter erst im Kropfe und geben es dann den Jungen in den Schnabel. Unsere Sper- linge und andere füttern die Jungen zuerst mit Insecten, als wüssten sie, dass die Sämereien, wovon sie selbst leben, von den schwachen Mägen noch nicht verdaut werden können. So verzehrte nach Bradley’s Beobachtungen ein Sperlings- paar zur Zeit, wo es die Jungen fütterte, innerhalb einer Wo- che 3360 Raupen. Das Füttern erfolgt nach einer strengen Reihenfolge, so dass kein Junges vergessen oder auf Kosten der anderen zweimal gefüttert wird; es kommt eins nach dem andern an die Reihe. Mit allen diesen Vorkehrungen, die auf Erhaltung der Art berechnet sind, ist aber der Natur noch nicht genügt. Für den Fall, dass die Jungen durch Raubvögel vertilgt werden, sind die Alten mit der wunderbaren Eigenschaft ausgestattet, dass sie aufs Neue Eier lesen können, was sie sonst nicht thun. Mit unermüdlichem Fleisse wird ein neues Nest gebaut und nochmals gebrütet, um den erlittenen Verlust auszu- gleichen. Ich komme jetzt zu den Säugethieren, an deren Spitze der Mensch steht, der Endpunkt der sichtbaren Schöpfung: auch hier begegnen wir gleich starken Zügen von mütterlicher Sorge. Das ehemässige Zusammenleben kommt hier so wenig, wie bei den Vögeln, als allgemein verbreitete Einrichtung vor. Die jungen Säugethiere bedürfen auch nicht alle der Sorge beider Eltern; denn mit der Muttermilch wird das erste Be- dürfniss befriedigt. Die Pflanzenfressenden finden im Früh- ling hinreichend Nahrung, und die Jungen sind bald im Stande, für sich selbst zu sorgen und bei drohender Gefahr sich unter den Schutz der Mutter zu begeben. Die Jungen der Raub- Säugethiere. 185 thiere sind durch ihre anfängliche Blivdheit und durch ihre schwachen Gliedmaassen eine Zeit lang an das Nest gebunden, gleich den Jungen der Raubvögel. Hätte die Mutter hier für sich selbst und für die Jungen das nöthige Futter herbeischaf- fen, so müsste sie anhaltend das Nest verlassen, und die Jun- gen wären dann gefährdet. Hier tritt das Männchen wieder helfend ein, seine Tigerwuth vertauschend mit Zuthätigkeit zum Weibchen und zur Brut: eins von den Alten beschirmt die Jungen, das andere geht auf Raub aus und führt immer wieder Futter zu. Ihr Nest oder Lager verlegen die Säugethiere, gleichwie die Vögel, an ganz verborgene Stellen. Der Löwe verwischt die Spur zu seinen Jungen dadurch, dass er mehrfach dahin und dorthin läuft; oder er vertilgt auch mit dem Schweife die Spuren seiner Fährte. Der männliche Fuchs schleppt im- mer für das Weibchen und für die Jungen Nahrung in den Bau, er lässt aber keine Knochen liegen, und er raubt auch nicht in der Nähe seines Nestes. Der Marder entledigt sich der Losung fern von seinem Baue und auch die der Jungen schafft er fort, damit das Nest nicht durch den Geruch verra- then wird. Die Biber führen kunstvolle Bauten aus, worin sie Vor- räthe von Lebensmitteln aufstapeln. Bevor die Jungen zur Welt kommen, füllen sie ihre Magazine, die von beiden Alten benutzt werden. Sobald indessen die Jungen geboren sind, überlässt das Männchen den Vorrath dem Weibchen und sucht sich sein Futter anderwärts. Indessen bleibt es nicht ganz ge- trennt vom Weibchen, sondern besucht letzteres zwischen- aurch. Ganz sorgsame Vorkehrungen hat die Natur bei den Beu- telthieren getroffen, deren Jungen sehr frühzeitig in einem unentwickelten Zustande geboren werden, so dass diese Thiere zweimal im Jahre sich paaren können. Die Jungen finden in einem hinten am Unterleibe angebrachten Beutel, gleichwie in einem Vogelneste, Unterkommen; der Beutel gewährt ihnen die nöthige Erwärmung und Beschirmung und sie finden darin 186 Kindliche Gegenliebe. die Muttermilch. Sind dann die Jungen so weit, dass sie den Beutel verlassen können, so begeben sie sich bei drohender Gefahr auf den Rücken der Mutter, halten sich mit den Schwänzen am Schwanze der Mutter fest, und diese flieht nun mit ihren Lieblingen davon. Bei den höher gestellten Thieren treten immer mehr die Leidenschaften und Neigungen zu Tage, und so gewahren wir bei den Säugethieren auch schon deutlicher Andeutungen kindlicher Gegenliebe zu den Alten. Das junge Wallross ver- lässt die Mutter nicht, wenn diese auch getödtet wurde. Ich beobachtete einmal, dass ein Lamm nach dem Tode seiner Mutter sich in grosser Unruhe befand: es kratzte immer mit den Pfoten daran, als sollte sie dadurch erweckt und ins Le- ben gerufen werden, und durch Blöcken und andere Bewegun- gen verrieth es deutlich genug seine Verlegenheit, seinen Schmerz und seine Unruhe. Man erzählt auch von einer alten blinden Ratte, ihre Jungen hätten sie nach ein paar Brodtkrü- meln hingelockt und sie alsbald wieder in Sicherheit gebracht, als ein Geräusch näher kam. Die Andauer dieser Kindesliebe unterliegt übrigens einem srossen Wechsel. Die Trennung der Mutter und der Jungen erfolgt bei den Vögeln, wenn die Jungen fliegen können, bei den Säugethieren, wenn das Säugen der Jungen aufhört. Bei den Tauchern bleiben die Jungen bis zur Herbstreise bei der Mutter, und die Männchen treten die Reise allein an. Bei den Pflanzenfressern, denen es nicht an Nahrung gebricht, dauert die Verbindung länger als bei den Raubthieren. Die grossen Raubvögel treiben ihre Jungen frühzeitig fort, dass sie sich ein Jagdgebiet suchen. Bei den in der Wildniss lebenden Vögeln oder Raubthieren hört die Verbindung im Herbst oder Winter auf, wenn die Nahrung abnimmt. So waltet und ord- net die Natur überall und in vernehmlicher Sprache verkün- det sie uns ihre mütterliche Sorge. Die Zeit gestattet mir nicht, noch viele Beispiele von mütterlicher Liebe und Sorgsamkeit aus der Reihe der Thiere vorzuführen, die oftmals so rührend ist, dass manche Men- - Kindesliebe. 187 schen dadurch beschämt werden könnten. Nur ein Paar davon will ich noch auswählen. Bei einem meiner Freunde hatte eine Katze ihr Wochen- bett in einer Kinderwiege aufgeschlagen. Man schaffte die Jungen fort, und die Wiege wurde in einen Teich gestellt, um sie zu reinigen. Alsbald war die alte Katze verschwunden, und als man nach einiger Zeit die Wiege wieder aus dem Wasser zog, fand sich die Katze darin ertrunken. Das Thier hatte seinen natürlichen Widerwillen gegen das Wasser über- wunden, war nach der Wiege geschwommen, aus der es die Jungen zu erretten hofite und ging dabei selbst zu Grunde. Würde man solche Mutterliebe beim Menschen nicht eines Standbildes würdig erachten’ Allgemein bekannt ist die Mutterliebe der Affen; davon berichtet uns Pöppig!) einen recht charakteristischen Zug: „Was man von der ausserordentlich grossen Liebe der Affen erzählt, ist wirklich wahr, und ich selbst bin Zeuge von einem Beweise gewesen, der mir auf geraume Zeit die Lust zu dieser Jagd benahm. Um einen jungen Coaita-Affen zur Auferziehung zu erhalten, hatte ich in einer der dichten durch die Baum- kronen nur langsam fortziehenden Heerden ein Weibchen zum Ziel erlesen, welches ein ziemlich grosses Junges an sich ge- drückt trug. Es war lange unmöglich, dem listigen Thiere beizukommen, von dem alle anderen. gleichsam die Gefahr ahnend, entflohen. Der erste Schuss verwundete es in den Hinterfüssen und zwang es zu langsamen Bewegungen. Der zweite traf edlere Theile, ohne jedoch zu tödten; allein höchst unangenehm war die Empfindung, als durch den langsam wei- chenden Pulverdampf auf einem wankenden Zweige das Thier sichtbar wurde, welches im Augenblicke des Zielens die Gefahr für das Junge erkennend sich über dasselbe zusammengerollt hatte, und also den ganzen Schuss empfing. Der Todeskampf trat bald ein, aber anstatt nach Art der getroffenen Männchen sich 1) Reise in Chili, Peru und auf dem Amazonenstrome. Bd. 2, S. 236. 188 Sorge für die Jungen. mit dem langen Schwanze aufzuhängen,, und so das Junge der Gefahr eines heftigen Sturzes nach eingetretener Erstarrung auszusetzen, glitt die Sterbende an einer Schlingflanze nach einem breiteren Aste hinab, legte dort behutsam ihre Bürde hin, und stürzte gleich darauf todt zu meinen Füssen nieder. Ich habe nach jener Zeit nie mehr vermocht auf weibliche Af- fen zu schiessen.“ Blicken wir nun noch einmal auf das bisher Mitgetheilte zurück, so tritt uns die Natur unverkennbar als eine sorgsame Mutter entgegen, die alle ihre Kinder mit gleicher Liebe umfasst. Bei den meisten Insecten ist die Fortpflanzung das Endziel ihres Lebens und sterbend überlassen sie der Natur ihre Nach- kommenschaft; aber keines wird vergessen, für alle wird müt- terlich gesorgt, und das zarte Räupchen findet bei der Geburt ebenso gut junge Blätter, die es ernähren, als das neugeborne Kind die Mutterbrust. Die höheren Thiere sorgen selbst für ihre Brut, werden aber dabei blos durch angeborene Neigun- gen bestimmt: ihre Bösartigkeit wandelt sich in Liebe, ihre‘ Furchtsamkeit in Muth um, und sie sind Kinder am Gängel- bande der Natur. Einzig und allein der höher gestellte Mensch konnte diese Leitung missen: nur der Mensch konnte sich selbst beherrschen, die Nachkommenschaft behüten und zu hörerer Sittlichkeit heraufbilden. Sollte denn aber allein der Mensch, der als schwaches, hülfloses und durchaus unkundiges Kind in die Welt eintritt, ohne andere angeborene Triebe als die für seine thierische Existenz berechneten, und der dabei mit einer höheren Anlage ausgestattet ist, so stiefmütterlich angesehen worden sein ? Nein, auch beim Menschen, wo Alles nach einem anderen und höheren Plane angelegt ist, treten uns in deutlichen Zügen die wohlthätigen und liebreichen, aber höheren Absichten des Schöpfers entgegen. Bei den niedrigen Thieren, haben wir gesehen, sorgt die Natur allein als treue vorhersehende Mutter, bei den höheren Thieren wurde die Sorge für das Ernähren und Aufziehen der Jungen den Alten anvertraut, die Natur aber behielt sich vor, Sittliche Erziehung des Menschen. 189 die Triebe, die Neigungen, die geistigen Richtungen und Gedan- ken zu lenken, die der Schöpfer jedem Thiere gemäss seinen Bedürfnissen eingepflanzt hat; nur beim Menschen hat der Schöpfer die Entwickelung und Erziehung des Körpers ebenso- wohl, als die des Geistes, den Aeltern überlassen. Dem Kinde wurde nur die Fähigkeit und die Anlage zu Theil; die Eltern besitzen die erworbene Kenntniss und den Verstand, die durch die Kindesliebe gehoben, durch das angeborene sittliche Ge- fühl und das Bewusstsein eines höheren Ursprungs veredelt werden. Der Mensch, nicht aber das Thier, muss sich selbst bilden, er muss zu einer höheren Stufe der Humanität und des sittlichen Werthes aufsteigen, er muss sich zur Tugend und Gottesfurcht, ja selbst zur Unsterblichkeit vervollkomm- nen. Seine Geisteskräfte durften nicht in die Fesseln des In- stinets geschlagen sein, und zu dem Ende wurde er zwar ohne eingeborene Kenntnisse, aber auch frei geboren, um sich zu einem selbstständigen frei denkenden Wesen zu entwickeln, um durch eigene Kraft und Uebung, durch Kampf in Liebe und Leid, zur Gewinnung eines höheren Standpunktes sich vorzu- bereiten. Deshalb verlängerte die Natur seine Jugend und seine Lehrzeit, wie bei keinem anderen Thiere, weil er Alles lernen muss bis auf die eigene Sprache, die jedem Thiere seinem Bedürfnisse entsprechend angeboren ist. Er soll nicht mehr der geborene Knecht oder der folgsame Sclav sein am Leitbande der Natur, sondern der geliebte freie Sohn im Hause des Vaters, dessen Bild er, und nur er allein, im Busen trägt, Damit hält auch die Mutterliebe des Menschen gleichen Schritt, sie ist edeler, höher und weiter reichend, da sie sich nicht blos ein körperliches Aufziehen, sondern auch die sittliche und verständige Entwickelung des Geistes zum Ziele setzt; sie streut bei ihren geliebten Kindern die Saat der Kenntniss, der Tugend, der Gottesfurcht und Liebe aus, sie erweckt im Menschen das Gefühl fürs Wahre, Gute und Schöne, ja ihre Blicke schweifen noch jenseits des Grabes. Wer diese erhabene Sprache des Schöpfers, die mit lau- | ter Stimme in der Natur zu uns redet, versteht und begreift \ 190 Sittliche Erziehung des Menschen. der kann nicht fragen, ob auch in der Natur die reine und hohe Moral und die echte Humanität gepredigt wird? Wer nachforscht und nachdenkt, kann nicht daran zweifeln, dass eine Bibel der Natur vorhanden ist, die der Schöpfer selbst geschrieben hat, und deren Grundtext er noch ebenso rein und unverfälscht erhält und bewahrt, wie er einstmals aus sei- ner Hand gekommen ist! Soll aber gerade diesen letzten erhabenen Ansichten im Buche der Natur ein verfälschter Text zu Grunde liegen? Sollen wir in dem angeborenen Gefühle der höheren sittlichen Anlage des Menschen, die hier nimmer zur vollkommenen Reife gedeihen kann, eine Lüge erkennen? Hätte uns der Schöpfer ein trügerisches Scheinbild eingepflanzt, welches nach höheren Stätten sittlicher Vollendung hinweist, die gar nicht existiren? Hätte er uns hier den Becher der Unsterblichkeit und der Vollendung hingehalten, um denselben, wenn wir ihn mit den Lippen berühren und ‚zu geniessen wünschen, für immer weg- zuziehen? Nein! wo die Natur also spricht, da kann keine Lüge Platz greifen. Sehr richtig sagt Herder!): ‚Entweder irrte sich also der Schöpfer mit dem Ziel, das er uns vorsteckte, und mit der Organisation, die er zu Erreichung desselben so künst- lich zusammen geleitet hat: oder dieser Zweck geht über un- ser Dasein hinaus, und die Erde ist nur ein Uebungsplatz, eine Vorbereitungsstätte« Ganz nachdrucksvoll singt Tollens: Und wenn der andachtsvollen Erde Der Herr sich nahte, dass ihm dort Ein ird’sches Bild gezeiget werde, Worin Er treu sich spiegle fort, Sie spräch: schau hier in Wonn’ und Lust Den Säugling an der Mutter Brust. So schön das auch gesagt ist, das schönste und erhabenste Bild einer Mutter kann ich nicht in dem finden, was ihr mit ') Ideen z. Gesch. der Menschheit. Sämmtliche Werke, 1827, Thl. 4. S. 231. Sittliche Erziehung des Menschen. 191 den Thieren gemein ist. Gar oft habe ich als stiller unbe- merkter Zeuge das erhabene und entzückende Schauspiel genossen, eine vortreffliiche Mutter zu schauen, die im Kreise ihrer Kinder, welche Auge und Ohr ihren Worten zuwandten, den Samen der Kenntniss, der Tugend und Gottesfurcht aus- streute, das sittliche Gefühl höher auszubilden bemüht war, und die Kinder Ihm näher zu bringen suchte, von dem Alles kommt. Und das sollte ein falsches untergeschobenes Blatt im Buche der Natur sein? Die rührenden und vertrauensvollen ‚Worte auf dem Grabsteine einer Mutter: „Vater! hier bin ich mit jenen, die Du mir gegeben, Dir bringe ich sie dankend zu- rück ‚“ sollten Unwahrheit enthalten? Gott sollte ein so un- barmherziges Gaukelspiel treiben mit der erhabenen Mutter- liebe, die er selbst eingepflanzt hat ? Nein, ihr Mütter! erkennet darin eure höhere Stellung und den erhabenen Beruf auf Erden. Die Erziehung des Thier- . reichs nahm der Schöpfer selbst an sich und er vollführte das Werk mit liebevoller Sorge, indem er die Thiere mit angebo- renen Neigungen und Vorstellungen, die ihren irdischen Be- dürfnissen entsprechend sind, ausstattete. Die Zügel zur sitt- lichen Ausbildung des Menschen legte er dagegen in die sanfte, liebreiche Mutterhand; unter deren Führung sollte die höhere himmlische Blüthe entsprossen und wachsen. Mütter! Ihr steht hier an der Stelle des Höshsten: die höhere sittliche Ent- wickelung, die menschliche Ausbildung überliess Er dem treuen Mutterherzen, das zu Liebe ünd Gottesverehrung erschaffen ist. Hier ist euer erhabenster Wirkungskreis, hier seid ihr Boten und Engel des Höchsten, Schutzgeister der Menschheit, um zu echter Humanität und höherer Erziehung zu führen, das Ge- fühl für das Wahre, Gute und Schöne zu erwecken, zur Tu- gend, Gottesfurcht und Liebe heranzubilden und damit zu der höheren Stätte zu geleiten, von wo die Tugenden zur- Menschheit herabstiegen. BE . Ist dies die Sprache, die wir im Buche der Natur lesen, wo uns Alles in hoher Liebe und Wahrheit, in Vollendung 192 Sittliche Erziehung des Menschen. ir, die nur die äussere chforschen im Stande sind, voll ehr- eisheit, Liebe und Grösse Alles durch das Machtwort und Rinde der Natur zu dur furchtsvoller Bewunderung die W des erhabenen Schöpfers an, der „es werde“ hervorgerufen hat. Ordnung entgegentritt, so staunen W F