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18 PAN Peſtalozzi's

ſaͤmmtliche Schriften.

Mit den allergnaͤdigſten Privilegien Ihrer Majeftäten des Kaiſers aller Neußen und Königs von Polen, des Koͤnigs von Preußen, des Königs von Bayern, des Königs von Wuͤrtemberg, Seine König. Hoheit, des Großherzogs von Baden und der Hoch— loblichen Cantonsregierungen der Eidgenoſſenſchaft.

Stuttgart und Tuͤbingen, in der J. G. Cotta'ſchen Buchhandlung. 1 82 2.

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Ueber

Sefesgebung

und

Kindermord. (Fortſetzung.)

Peſtalozzi's Werke. VIII. 1

Siebente Quelle des Uebels. Innere und aͤußere Folgen fruͤherer Laſter.

Siebentens ſind die innern und aͤußern Folgen eines fruͤhern laſterhaften Lebens eine der vorzuͤglichſten Quel— len des Kindermords.

Bei den einten artet das Elend, welches das Laſter immer verfolgt, in eine Maßleidigkeit des Lebens aus. Das Gefuͤhl ihrer Noth, Mangel von irgend einer Ausſicht fuͤr die Beſſerung ihrer Umſtaͤnde und ihres Herzens, und ein dunkles, verwirrtes Ahnen, ihr Kind werde in jeder Ruͤckſicht eben ſo elend, ja noch ſchlimmer werden als ſie, bringt eine ſolche ungluͤkliche Mutter gar leicht zum Ge⸗ danken an dieſe ſchreckliche That.

Bei gar vie en andern arten dieſe Folgen des Laſters in harte Gefuͤhlloſigkeit und in eine, alle innere Menſch— lichkeit verlaͤugnende Verſtockung aus.

Als Quellen dieſer gedoppelten, ſpaͤtern Folgen des Laſters und des daraus entſtehenden vielfachen Kindermords gehören hieher:

Erſtens, das flüchtige Leben aller weggejagten, ver: bannten und heymathloſen Menſchen. Zweytens, das freywillige Herumſtreichen alles muͤſſigen Geſindels. Drit-

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tens, die Ruchloſigkeit, welche durch die meiſten Beſtra⸗ fungsarten des Laſters im Innern des Menſchen noch er— hoͤht und verſtaͤrkt wird. Viertens, das gewaltſame Verbergen geſchehener Verbrechen, welches den Menſchen immer in einen Zuſtand von Frechheit und Gewaltthaͤtig— keit bildender, Unruhe verſetzt und ihm alle ſittliche Beſ— ſerung und häusliche Ordnung faſt unmoglich macht. Fünf. tens gehoͤrt beſonders hieher die innere Verhaͤrtung der Maͤdchen, die ſchon ein merkliches Alter haben, und bey einem unkeuſchen Leben es dennoch nie dahin bringen fon. nen, einen Mann zu bekommen.

Man erſtaunt, in den Criminalacten die groͤſte Anzahl Kindermoͤrderinnen zwiſchen 30 und go Jahren zu finden, und man erzittert, wenn man den auffallenden Unterſchied von Gewaltſamkeit, von wilder Rohheit und innerer, har⸗ ter Unmenſchlichkeit, welcher die Thaten dieſer veralteten verglichen mit den Thaten der juͤngern Kindesmoͤrderin⸗ nen begleitet, bemerkt.

Menſchenfreund! Wenn du vor ihnen erbebſt, ſo wende dein Angeſicht nicht weg; erforſche die Quelle dieſer Ver: heerung.

Sie iſt das uneheliche Leben der Zeit. Alles, ſelbſt die Veränderung in den Berufsarten, im Eſſen und Trin⸗ ken, reizt das Volk zur Ausartung der Sinnlichkeit Die Schaaren von Unverehelichten uͤberlaſſen ſich ohne Maß al⸗ len Reizungen ihres Naturbeduͤrfniſſes, ohne die Freyheit zu beſitzen, es in Unſchuld und Rechtlichkeit befriedigen zu durfen; und keine Macht der Ehrenfeſtigteit oder ſchuͤtzen⸗

5 der Nationalſitten ſteuert dem Verderben des Landes. Wir haben nicht einmal die Beicht mehr. *)

*) Ich ſchalte hier die in meinem Schweizerblatt unter den aus dieſem Manuſcript ausgeloſchenen Stellen ſich befindende Bemerkung ein.

„Ich habe erſt neulich meinen guten Nachbar L“ von H* „gefragt, warum bey ihnen im Freyamt ſo wenig Exempel „vom Kindermord vorkommen.“

„Das macht die Beicht, war die Antwort. Nein, wir duͤr⸗ „fen, nicht wie ihr. Ich war auch jung, aber man ſagt's ei⸗ „nem fo allein und fo ans Herz; man wiederholt's ſo oft „und ſo feyerlich, und rathet nicht in Tag hinein, ſondern „auch juſt und eigentlich auf das, was noth iſt und obhan⸗ „den ſchwebt, daß es hilft, wo ſo ein Ungluͤck geſchehen „könnte. Der Pfarrer koͤmmt mit der Beicht immer leicht „vorher auf den Grund, und huͤtet den Anfaͤngen, wo man „ſich auch noch ſo ſcheut und ſchaͤmt. Und dann iſt's noch das: „man hoͤrt bey uns mit der Unterweiſung nicht auf, wenn die „Kinder 14 bis 15 Jahr alt ſind. Jeſus Maria! die Seel⸗ „ſorge ſollte ja eigentlich erſt dann fuͤr ſie recht angehn.“

Es iſt Wahrheit in dieſer Antwort, und wenn ſie ſchon miß⸗ braucht worden ſeyn mag, ſo hat die Beicht dennoch in ih⸗ rem Weſen gewiß große Kraͤfte fuͤr die Bildung des Volks.

Die Reformation gab uns, indem ſie dieſelbe abſchaffte, Maͤnner mit wahrem Seelſorgerherzen; aber ſie hat das Band aufgelöst, welches das Volk zu dem Ohr feiner Seel: ſorger, die jetzt nicht mehr Reformationseifer und Reforma— torenachtung beſitzen, hinzulenkte, und man darf ſich nicht verlaͤugnen, das Weſentliche der prieſterlichen Seelſorge, die enge, nahe Kenntniß der Pfarrkinder, verliert ſich durch die Folgen der zu allgemein und zu unbedingt weggeworfenen

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Das Mädchen genießt Jahre lang, ohne daß ſich je» mand darum bekuͤmmert, die wolluͤſtigen Beſuche geiler Buben, und huͤtet ſich dabei, daß es nicht ſchwanger werde; aber die groͤßere Wildheit immer gereizter Begierden, ein Anfall von geilem Furor, in welchem es ſeiner nicht mehr maͤchtig, oft nur ein Glas zu viel Wein, zerreißt dann das Band feiner Menſchen verheerenden Bedaͤchtlichkeit, und das Maͤdchen wird ſchwanger. Alle Anmuth und Kinder⸗ liebe muß ſo einem Maͤdchen nothwendig mangeln. Die Leibesfrucht in ihr ſelber iſt ihr ein Gegenſtand des Haſſes und der Sorgen, und gebildete Unmenſchlichkeit iſt eine Folge des fortdauernden Genuſſes der Wolluſt, mit Erſti— ckung ihrer Folgen, und die Sorgfalt, kinderlos zu bleiben

Beicht taͤglich mehr, und ebenſo entkraͤften ſich die engen, das Herz wahrhaft zuſammenbindenden Verhaͤltniſſe zwi⸗ ſchen den Pfarrern und dem Volk immer ſichtbarer.

Und doch ſoll eine jede wahre Volkserleuchtung alle Bande der Herzlichkeit zwiſchen vaͤterlichen und kindlichen Verhaͤlt⸗ niſſen vorzüglich ſicher ſtellen. Die Reformatoren thaten es, und waren des Volks innig geliebte Vater und der Fuͤr⸗ ſten treue, biderbe, aͤlteſte und weiſeſte Kinder.

Aber die Prieſter des Lands ſind dieſes bey uns nicht mehr alſo. Sie ſind in unſrer Mitte vielſeitig geſunken zu ge⸗ lehrten, vom Volk nicht verſtandenen Predigern, und zum Spott der armſeligſten, niederſten Laune eines jeden, auch des unwuͤrdigſten Beamten im Land, ſo wie jedes Reichen.

Das heißt aber weniger nicht, als die Kraft ihres Stands zur Beförderung und Sicherſtellung der Sittlichkeit und Gluͤckſeligkeit der Nation hat ſich in fo weit bey uns aufs gelöst,

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beym Genuß der Leichtfertigkeit und wolluͤſtiger Beywoh— nungen iſt nichts weniger als taͤgliche Uebung im Weſent⸗ lichen des Greuels des Kindermords.

Das iſt die Lage von tauſend liederlichen, unzuͤchtigen Maͤdchen, die nicht heurathen koͤnnen.

Menſchheit! auch ſie verdienen Mitleiden; denn das gemeine Volk bildet ſich nie ſelber, und iſt nicht ſchuld, wenn das Heurathen im Land allgemein ſchwer und der Nationalton allgemein zur Wolluſt und zum Muͤſſiggang

hinlenkt. Ich will über dieſen beſondern Artikel nichts weis ter ſagen, ſondern mache nur allgemein uͤber den ganzen Geſichtspunkt dieſer Quelle unſers Uebels folgende Bemer— kung.

Die Folgen der geſchehenen Verbrechen im Verbrecher ſelbſt aus zulöſchen, ſoll um ſo mehr ein weſentliches Ziel des Geſetzgebers ſeyn, als die buͤrgerliche Genugthuung, um welcher willen er den Verbrechern eine Strafe auflegt, in den weit meiſten Faͤllen am ſicherſten durch eben dieſe in— nere Ausloͤſchung der Folgen des Verbrechens im Verbre— cher ſelber erzielt werden kann.

Das Weſentliche der Genugthuung, die ein Verbrecher der Geſellſchaft ſchuldig iſt, beſteht darin, daß er ſich den Umſtaͤnden, Lagen und Verhaͤltniſſen unterziehe, durch welche der Fortgang ſeines Verbrechens am beſten im Volk ge— hindert und vermindert wird.

Und das vorzuͤglichſte Mittel, durch ihn ſelber eine wirkliche, reale Hinderung und Minderung ſeines Verbrechens zu erzielen, iſt ſeine ſittliche Beſſerung und die daraus flieſ— ſende Hoffnung ſeiner buͤrgerlichen Wiederherſtellung.

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Dieſes große Ziel einer weiſen und menſchlichen Ge⸗ ſetzgebung fordert vor allem aus die wirkſame Sorgfalt, daß die erſtern und kleinern Vergehungen der Verbrecher nicht wirkliche Quelle und Urſache ihrer ſpaͤtern und mehrern und groͤßern Greuel werden. . Der Geſetzgeber muß desnahen Vorſehung thun, daß die letzten Funken des Guten, der im Menſchenherzen des Verbrechers noch lodert, nicht durch die Beſtrafungsarten feiner Verbrechen ausgeloͤſcht werden; er muß ferner die Gefahren und Umſtaͤnde des verborgenen und verſchwie⸗ genen Laſters ſo wenig als moͤglich druͤckend, verwirrend und herzverderbend werden laſſen, und inſonderheit gegen die erſten kleinen Ausbruͤche des neuen, unverhaͤrteten La⸗ ſters mit Behutſamkeit, Schonung, mehr bildend, huͤtend und im Geheim zurechtweiſend, als oͤſſentlich beſtrafend zu Werk gehn.

In dieſem Geſichtspunkt koͤnnen alle Beſtrafungen des Laſters, in ſo fern das Uebergewicht ihres Eindrucks fuͤr den Verbrecher nicht Sitten verbeſſernd, nicht anders als landgefaͤhrlich angeſehn werden, indem ſie den Geiſt des Verbrechens im Innern der Thaͤter nur ſtaͤrken, und dann in der Folge durch ſie auch im Volk allgemein ausbreiten.

Achte Quelle des Uebels. N Die aͤußern Umſtaͤnde der Mädchen während ihrer Geburtsſtunde. Die Verwirrung, die Beunruhigung, das Entſetzen, die unmenſchliche Verlaſſung, Verſtoſſung und Vernach— laͤſigung dieſer Elenden vor, während und gerade nach ih⸗

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rer Geburtsſtunde, iſt in den weit meiften Fällen die ent- ſcheidende Quelle des Kindermords.

Auch das Thier fordert einen ruhigen Winkel zum Ge— baͤhren, und wahlt und bereitet ihn zu dieſer Stunde.

Und der Menſch hat in ſeinem Leben keinen Augen— blick, keinen Zeitpunkt, in dem ihm der Genuß von Ruhe und Hülfe und Menſchlichkeit fo unumgaͤngliches Beduͤrf— niß ſeiner Natur iſt, als in der Stunde ſeines Gebaͤhrens.

Mangelt der Gebaͤhrenden dieſe Huͤlfe in dieſer Stunde, ſo kommt ſie in raſende Wuth, wird Thier und Unmenſch, und alles, was ſie in dieſer Lage thut, iſt thieriſche Hand— lung der Fieberverwirrung und innern Wuth.

Menſchen! Das begegnet dem Vieh des Feldes. Thiere, die in ihrer Geburtsſtunde verwirrt und beunruhigt wer— den, verlieren die Anmuth fuͤr ihre Jungen. Noch vor wenig Tagen ſah man eine Katze, welcher man inwaͤh⸗ rend ihrem Ablegen die zwey erſten Jungen aus dem Neſt gethan, welches ſie ſich waͤhlte, dieſe zwey Jungen zuerſt verlaſſen, und hernach ſelber freſſen. Zu den zweh andern, welche ſie hernach ablegte, trug ſie alle Sorge, und wohl gemerkt, es war nicht der Kater, ſondern die Mutter ſel— ber, welche die Kaͤtzchen fraß. Man traf fie unzweydeu— tig mit einem angefreſſenen, noch lebendigen, blutenden Kaͤtzchen im Maul an.

Menſchen! Geſetzgeber und Richter! Das Maͤd⸗ chen, welches in feiner Geburtsſtunde verwirrt und beaͤng— ſtigt wird, verliert, wie nothwendig, in dieſen Umſtaͤn— den ſelbſt die thieriſche Anmuth fuͤr ſein Junges.

Das Mädchen, das in dieſer Stunde von dem Juͤng⸗

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ling, der es umarmt, verlaſſen, und von allen Menſchen verſtoſſen, vernachläffigt, und von allen Umftänden beun- ruhigt und geaͤngſtigt wird, und ohne Huͤlfe gebiehrt und ohne Huͤlfe gebaͤhren muß, iſt in Lagen und Umſtaͤnde verſetzt, in welchen ſeine Verzweiflung und ſein Mord als faſt unausweichliche Folge ſeiner unbefriedigten thieriſchen Beduͤrfniſſe in der Geburtsſtunde erſcheinen. a

Ich will nicht wiederholen, was ich ſchon geſagt, aber ich glaube, es ſeh nothwendig, daß die Geſetze Verfuͤgun⸗ gen treffen

1. Daß jedermann, wer er ſey, der ein Mädchen ges ſchwängert und ſchwanger wiſſe, und nicht fuͤr ihn's da— hin Sorge traͤgt, daß es beruhigt und beſorgt kindbetten koͤnne, dafür verantwortlich ſey, und nach Uunſtaͤnden fuͤr die Folgen ſeiner Unmenſchlichkeit an Ehr' und Gut ge— ſtraft werden ſoll.

2. Daß keine Stadt oder Gemeinde ein ſchwangeres und naͤhiges Weib fort- oder weiters ſchicken duͤrfe, ohne beſtimmte Sorgfalt, daß es ruhig auf dem Weg kindbet— ten koͤnne, wenn es allfaͤllig vor Erreichung feiner Hey— math niederkommen ſollte.

5. Daß kein Wirth einem hochſchwangern Weibe die Nachtherberg abſchlagen duͤrfe, ſondern demſelben, wenn es allfaͤllig niederkommen ſollte, die nothwendige Huͤlfe auf Koſten des Staats angedeihn laſſen muͤſſe.

4. Daß weder Herrſchaften noch Meiſterleute eine Dienſtmagd aus Urſache der Schwangerſchaft fortſchicken dürfen, ohne die von der Polizey zu beſtimmenden Schritte zu thun, durch welche das, Mädchen dem Auge der oͤf—

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fentlichen Aufſicht und der wohlthatigen Verſorgung des Staats für dieſen Umſtand unterworfen würde.

5. Daß alle Perſonen, welche eine Gebaͤhrende ſchreyen und um Huͤlfe rufen gehoͤrt, oder Zeichen ihrer Noth und ihres Beduͤrfniſſes zu geben geſehn haben, und ihr nicht mit Rath und That bepgefprungen, item alle Herrſchaften und Meiſterleute, welche eine ſolche Perſon immediat vor oder nach der Geburt, mit Vorwiſſen ihrer Umſtaͤnde, ohne Sorgfalt fuͤr ſie und das Kind zum Haus hinaus ſchicken, als muthwillige Veranlaſſer des Kindermords angefehn und beſtraft werden ſollen. 58

Der Geſetzgeber muß immer vorher mit den Nuͤchtern reden, ehe er ſich an die Betrunkenen wendet, und muß ſich vorzuͤglich an denen halten, die bey ihren Sinnen ſind; erſt wenn er das gethan, kann! er noch ſehn, ob er ſich auch den Stummen und Tauben, und denen, ſo vor Angſt und Noth am ganzen Leib zittern und beben, ver⸗ ſtaͤndlich machen koͤnne.

Einige Reſultate ſowohl dieſer allgemeinen als beſondern Betrachtungen, und Feſtſetzung des Mittelpunkts aller Geſichtspunkte uͤber dieſen Gegenſtand, und aller aͤchten Vorbeugungs mittel gegen dieſes Uebel.

Wenn ich jetzt alles Geſagte wieder zuſammen ins Aug faſſe, fo zeigt es ſich:

1. Daß die Handlung des Kindermords allemal eine Folge gegenſeitiger Leidenſchaften, Fehler und Suͤnden ſo— wohl des Maͤdchens als des Juͤnglings iſt.

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2. Daß auch Fehler, Leidenſchaften und Sinden des Drittmanns, oder ſolcher Perſonen und Umſtaͤnde, welche man ganz auſſer dem Kreis derer, die im Verbrechen ver- wickelt ſind, anzuſehn gewohnt iſt, oft die eee Quelle des Uebels ſind.

5. Daß überhaupt, fo verſchieden die Quellen des Ue⸗ bels zu ſeyn ſcheinen, fie dennoch unendlich unter ſich ver woben ſind, ſo daß immer eine neben der andern wirkt, eine die andere veranlaßt und verſtaͤrkt.

Ich will das Weſentliche dieſer Beobachtung eine Weile verfolgen.

1. Ich ſagte erſtlich, Kindermord ſey allemal eine Folge gegenſeitiger Leidenſchaften, Fehler und Suͤnden, ſowohl des Mädchens als des Juͤnglings; ich haͤtte aber vielleicht richtiger geſagt, der Kindermord ſey das letzte Reſultat eis ner Reihe von menſchlichen Schwaͤchen und Sünden auf . beyden Seiten, wovon aber die letzten, die That immediat veranlaſſenden Urſachen oft einſeitig, und mehrentheils nicht bey der Thaͤterin, ſondern bey dem Juͤngling zu ſu— chen ſind.

Die bloſſen natuͤrlichen Folgen des unehelichen Bey— ſchlafs führen nicht zum Kindermord. Der Juͤngling, der nicht durch anderwaͤrtiges, inneres Verderben fein Men⸗ ſchenherz verloren, oder wenigſtens in ſich ſelber erſtickt und vergraben hat, weint in den Armen des Mädchens, daß er nicht heurathen kann, und iſt ihm Huͤlfe und Troſt, und das Mädchen denkt nicht daran, fein Kind zu ermor⸗ den, ſo ſehr es leidet. Aber es mordet, wenn fein Zünge ling ein Unmenſch, deſſen Herz durch Laſter, die von ganz ;

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andrer Art fegn koͤnnen, verhaͤrtet, und fein Beyſchlaf ohne Neigung fuͤr das Maͤdchen, die bloſſe Handlung allgemein ausartender, geſetzloſer, ehrloſer und ſchaͤndlicher Sinnlich⸗ keit eines zu allem Verbrechen und zu aller Menſchenzer— ſtoͤrung gebildeten und verheerten Herzens iſt, oder auch, wenn er um aͤußerer Umſtaͤnde willen ſich als ein Unmenſch bezeigen muß, ob er's gleich nicht iſt, ja, dann mordet ſeine Betrogene, die lieber ſaͤugte; fie mordet, denn fie verzwei— felt. Waͤre der Juͤngling Menſch, ſaͤhe das Maͤdchen oft nur eine Thraͤne zur rechten Zeit in feinem Auge, es würde nicht verzweifeln nicht toͤden.

In dieſer Vorſtellung der Sache, duͤnkt' mich, enthuͤlle ſich eine ſehr entſcheidende Seite der Schwaͤche der Crimi— nalgeſetzgebung in dieſem und vielleicht in andern Verbrechen.

Hier iſt der Juͤngling Moͤrder, und geht leer aus; das Maͤdchen rast, und wird geſchlachtet; ſo ſichtbar iſt Irr— thum in den Grundſaͤtzen vieler Todesurtheile.

Und eben fo ſichtbar erhellet, daß eine Criminalgeſetz— gebung, die auf Gerechtigkeit und Menſchlichkeit gegruͤn— det, der wahren Nationalſittlichkeit befoͤrderlich ſeyn ſoll, in der Unterſuchung eines jeden Verbrechens zu den Real— quellen der zu beſtrafenden That hinauf dringen muß.

Ich hoffe aber, man verſtehe, daß ich nicht ſage, zur Erforſchung der Herzensgeſinnungen und Endzwecke der Verbrecher, ſondern nur, einerſeits zu den beweisbaren Tha— ten der das Verbrechen veranlaſſenden Mitſchuldner, anders ſeits freylich auch zu den aͤußern Umſtaͤnden, welche zum Verbrechen verleitenden Reiz hatten; denn auch dieſen glaube ich, ſey die öffentliche Gerechtigkeit ſchuldig, ſo viel ent-

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ſchuldigendes Gewicht zu geben, als fie in der Ae ver⸗ anlaͤſſendes Gewicht hatten.

2. Ich ſagte ferner, auch Fehler, Leidenſchaften und Irrthuͤmer des Drittmanns, oder folder Perſonen und Um— ſtaͤnde, die eigentlich ganz außer dem Kreis der Perſonen zu ſeyn ſcheinen, welche man als in dieſer Handlung ver— wickelt anzuſehn gewohnt iſt, ſeyen oft die wahre, eigent⸗ liche, veranlaſſende Urſache des Uebels.

Und da offenbar auf der einen Seite in dem Grad, in welchem der Kindermord eine Folge von feſt und enge zuſammenhaͤngenden Suͤnden, Laſtern und Irrthuͤmern meh— rerer Perſonen iſt, die harte einzelne Befirafung der Moͤr— derin nicht dasjenige iſt, was ſie ſeyn ſollte, naͤmlich eine, den allgemeinen Quellen des Uebels allſeitig entgegenwir— kende Handlung, und auf der andern Seite die Stopfung der Quellen großer Landesverbrechen dem Staat um ſo viel wichtiger iſt, je mehr Theile des Staatskoͤrpers Ein— fluß und Antheil an demſelbigen haben, ſo iſt es ſehr wich— tig, daß man ohne Umſchweif hieruͤber auch die Geſetzge— bung und die Staatsverwaltung in ihren Verirrungen nicht in der Blindheit laſſe, wenn ihr Einfluß ſelber eine vor⸗ zuͤgliche Quelle ſolcher ungluͤcklicher Handlungen iſt.

Geſetzgebung und Staats verwaltung find und werden in dem Grad unfaͤhig, den Quellen des Uebels real Ein— halt zu thun, als ſie ſelbſt daran Theil haben. So we— nig als der hartherzige Privatmann ſein Unrecht gegen ein Madchen damit gut machen kann, wenn er ihm auf ſei— ne Klage hin die Thuͤre weist, fo wenig kann die Gejeg- gebung und die Staatsverwaltung das diesfaͤllige Unrecht

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im Land damit heilen und den Ouellen der diesfaͤlligen Uebel damit Einhalt thun, wenn ſie mit den Kindesmoͤr— derinnen ſo kurzen Proceß machen, und ihnen den Kopf vor die Fuͤße legen. T

Man ſehe die Sache doch noch einmal in dem einfachen Geſichtspunkt an, irrige buͤrgerliche Grundſaͤtze und Genieſ— ſungen verderben das Herz des Manns, und der Mann verderbt das Weib; dann droht das Geſetz dem zu Grunde gerichteten Weibe, und dieſes ſucht Rettung gegen das un— weiſe Geſetz, und nimmt zum Mord ſeine Zuflucht. So ſichtbar hat eine jede Geſetzgebung, welche nicht allgemein zur Ausbildung und Veredlung unſrer Natur hinzielt, An— theil an einer Handlung, welche das Reſultat vielfach ver— wickelter Thorheit, Laſterhaftigkeit und Hartherzigkeit iſt; daher der Geſetzgeber, welcher den Quellen dieſes Uebels ſteuern will, den allgemeinen Quellen der Laſter, und be— ſonders denen, welche eine irrige Staatsgeſetzgebung am leichteften ſelbſt anfachet, dem Stolz, dem Familienhoch— muth, dem Geiz, dem Muͤſſiggang, dem Luxus, der boͤ— ſen Quelle von allem dieſem, der thieriſchen Selbſtſucht unſrer Natur, entgegenwirken muß, wenn er dem Kinder— mord real entgegen wirken ſoll.

3. Die dritte allgemeine Beobachtung, die ich uͤber die Quellen des Kindermords machte, iſt, daß, ſo verſchieden ſie uͤberhaupt ſcheinen, ſie dennoch unendlich unter ſich ver— woben ſind, ſo daß immer eine neben der andern wirkt, eine die andere veranlaßt und verflärft.

Hier iſt Untreue die Quelle der That, aber ſie iſt eine Folge der Armuth; dort iſt Armuth die Quelle der That,

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aber ſie iſt eine Folge der Untreue; hier iſt Hochmuth und buͤrgerliche Anmaſſung die Quelle der That, aber ſie ſind eine Folge der irrigen Geſetzgebung; dort find irrige Ges ſetze die Quelle der That, aber ſie ſind eine Folge des Hoch⸗ muths und der buͤrgerlichen Anmaſſung; hier iſt Harther⸗ zigkeit die Quelle der That, aber ſie iſt eine Folge des Be⸗ trugs und der Verfuͤhrung; dort iſt Betrug und Verfuͤh⸗ rung die Quelle der That, aber ſie ſind eine Folge der Hart⸗ herzigkeit und der Geſetze und Sitten, die hartherzig ma. chen; hier iſt Verſtellung, Heuchlerfitten Quelle der That, aber fie iſt Folge der Unnatur der Geſetzgebung und Sit⸗ ten, die ſie in das Leben der Menſchen hineinbringen; dort iſt's Elternhaͤrte, aber ſie iſt Folge des Kinder-Ungehor⸗ ſams; dort iſt's Kinder-Ungehorſam, aber er iſt Folge der Elternhaͤrte, u. ſ. w. In allen Nuͤangen der Kindermords⸗ geſchichten ſind die Quellen der That unendlich verwickelt.

Ihr Anblick ſcheint in dieſem Geſichtspunkt ein Ge⸗ webe, deſſen Faͤden kaum zu ſondern, und deſſen Anfang, Ordnung und Fortgang gaͤnzliche Verwirrung vieler eine zeln durch einander wirkender Urſachen zeigt.

Man ſcheint in einen ewigen Cirkel geſtellt, der ſich in Millionen Punkten anfaͤngt, und allenthalben wieder ſei⸗ nen Anfang verliert.

Wenn wir aber naͤher ſehn, ſo zeigt ſich, daß es nicht Verwirrung in den Keimen des Uebels, ſondern in dem Sproſſengewebe ihres Wachsthums iſt.

Und wenn wir alle Arten von Laſtern im Bild ihrer verheerenden Wirkungen betrachten, fo finden wir, daß im« mer die gleiche Verwirrung in den Reſultaten der Laſter⸗

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haftigkeit einer jeden Art herrſche, indeſſen die Keime und allgemeinen Quellen der Laſterhaftigkeit fehr einfach find.

So lange aber der Geſetzgeber feine Aufmerkſamkeit nur auf das verwirrte Gewebe der tiefern Folgen der La— ſterhaftigkeit wirft, ſo lange er nur gegen die einzelnen Verbrechen und die ſpaͤtern Reſultate der Laſterhaftigkeit wirken will, fo ſtoͤßt er immer unzweydeutig auf die groſ— ſen Klippen, an welchen die Geſetzgebung der Welt ſo un— endlich viel ſcheitert; nämlich Sünden und Laſter, die aus Selbſtſucht entſpringen und in der Selbſiſucht Nahrung finden, durch Geſetze und Mittel zu heilen, die ebenſo aus Selbſtſucht entſpringen und in der Selbſtſucht ihre Nah— rung finden, d. i. Laſter durch Laſter und Leidenſchaften durch Leidenſchaften vertilgen zu wollen.

Aber alle Geſetzgebung, die das thut, und nicht feſt und ſtark und einfach gegen die allgemeinen Quellen des Laſters einwirkt, ſteht auf keinem feſten, die Gluͤckſeligkeit der Menſchen befoͤrdernden Fuß. 8

Und der Mann, deſſen Geſetzgebung der Laſterhaftig— keit der einen Kreiſe mit der Laſterhaftigleit der andern durchkreuzen und hemmen will, bringt en über fein Land.

Ja, die Geſetzgebung bringt Verheerung uͤber das Land, die dem Hochmuth des Bürgers den Stolz ihrer Raͤthe, dem Geiz der Geiſtlichkeit die Gierigkeit der Civilbeamten, der Unzucht des Volks die Habfucht der Sittengerichte, und dem Raſen der elenden, bemitleidenswuͤrdigen Moͤr— derin das Schwert und kaltbluͤtige Urtheilsſpruͤche einſei— tiger, beſchraͤnkter und ſelbſtſuͤchtiger Richter entgegenſetzt.

Peſtalozzi's Werke. VIII. Yr 2

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Nein, Menſchen! mit Schwächen und Laſtern hemmr man keine Laſter, und mit Unmenſchlichteit bildet man keine Menſchlichkeit.

Geſetzgeber der Welt! Eine jede Schwaͤche und ein je— des Laſter, das euern Schutz findet, erhöht die Stärke al⸗ ler derer, die ihr unterdruͤcken wollt. Wenn ihr auf euern Richterſtuͤhlen zum Schutz eines Theilhabers an einem Verbrechen den andern Theilhaber an demſelben mit der Geiſſel und dem Schwerdt eurer Macht, als den allein Schuldigen, ſtrafet, ſo macht ihr die Gerechtigkeit des Lands zu einer Dienſtſtelle der Suͤnde ſelber, die ihr ſtraft. Ihr gebt ihr Kraft und Leben, wo ſie ſiebenfach ſchadet, und toͤdet fie oft, wo fie in ihrem Jammer, ohne weiter. ges faͤhrdenden Einfluß auf andere, ſchon von ſich ſelber vergeht.

Aus allem Geſagten erhellet:

1. Daß die aͤchten Grundſaͤtze gegen die Quellen des Kindermords nicht in der Beſtrafung der einzelnen Aus⸗ bruͤche dieſer That ſelber zu ſuchen.

2. Daß auch Grundſaͤtze, Handlungen und Geſinnun⸗ gen andrer Menſchen, die nicht geſetzlich als Mitverbre- cher koͤnnen angeſehn werden, dennoch mehrentheils einen weit ſtaͤrkern Einfluß auf die That ſelbſt haben, als die innere Laſterhaftigkeit der Thaͤterin; daß alſo Geſetze, welche weſentlich und real gegen die Quellen des Kindermords wirken ſollen, den Grundſaͤtzen und Thaten dieſer andern Menſchen ebenſo rechtlich anpaſſend ſeyn ſollen, als der einzelnen Thathandlung der Ungluͤcklichen.

3. Daß die anſcheinende Verwirrung der Quellen des

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Kindermords ſich allein in der Erforſchung der einfachen

Quellen der allgemeinen Unſittlichkeit aller Stände auflöſe.

4. Daß die Geſetze, welche wahre und eigentliche Hülse

mittel dagegen ſeyn ſollen, mit pſychologiſch tiefgreifender

Kraft auf die erſten einfachen Quellen der Unſittlichkeit der Menſchen einwirken moͤſſen.

5. Daß die Geſetze gegen den Kindermord, welche die⸗ ſes nicht thun, auch nicht als wahre und gute Huͤlfsmit⸗ tel gegen denſelben koͤnnen angeſehn werden. |

6. Daß Überhaupt alle Geſetze, fie mögen ſeyn von welcher Art ſie wollen, welche zu Erhoͤhung laſterhafter Neigungen und Unſüttlichkeiten Anlaß, Reiz und Spielraum geben, in unſerm Fall, wie bey allen andern Verbrechen, zu nichts anderm hinwirken, „als das unendlich verwirrte „Gewebe der allgemeinen Quellen des Kindermords ſo „wie der allgemeinen Laſterhaftigkeit des Lands noch mehr „zu verknuͤpfen und zu verwirren, und alſo im Innern „des menſchlichen Herzens die Quellen der Greuel zu ver— „Stärken, gegen welche zu wirken fie bejiimmt ſcheinen.“

Aus allem dieſem ziehe ich dann folgenden allgemeis nen Schluß, daß die achten, wahren und allgemeinen Hülfd- mittel gegen den Kindermord in der erufibajten Ergreifung aller derjenigen Mittel und Wege beſtehen, durch welche in allem Volk, beym großen wie beym lleinen, wahre, ins nere Herzenstugend und ungeheuchelte Freude an allem Schoͤnen, Edeln und Guten, und ein wahrer, ernſter und ſtiller Abſcheu vor allem Boͤſen und Schaͤndlichen erzielt werden koͤnne.

Aber man wird mir hier einwerfen, es ſey eigentlich

o Par

20 jetzt nicht die Frage von allgemeinen Befoͤrderungsmitteln der Sittlichkeit, ſondern von eigentlichen und beſtimmten Huͤlfsmitteln, um dem Kindermord abhelfliches Maß zu fihaffen. =) |

1. Ich antworte hierauf, wenn bep der forgfältigften Betrachtung allein und ausſchlieſſend nur auf den Kinder mord paſſender Huͤlfsmittel gar nicht: herauskommt

2. Wenn ferner auch bey Betrachtung der beſondern Hülfsmütel gegen die nähern Veranlaſſungen der einzel⸗ nen Thaten wieder faſt nichts, wenigſtens nichts allgemein Helfendes und Troͤſtendes heraus koͤmmt, als nur, in fo fern dieſe auch auf entfernte Quellen der That paſſen, und auf Grundſaͤtze gebaut find, die allgemein gegen alle Arten der Unſitlichkeit und des Laſters wirken, fo denke ich doch, werde man die Nothwendigkeit zu den allgemeinen Quellen der Unſittlichkeit und des Laſters empor zu ſteigen geſtehen muͤſſen.

Ob es ſich aber wirklich ſo verhalte?

Ich will noch einmal zuruͤckſehn auf allen Detail des Kindermords.

Verlaͤugne es dir, Leſer! wenn du kannſt, daß hier kin⸗ diſcher Ehrgeiz, dort jugendlicher Ungehorſam, hier Gefal⸗ len an leichtfertigen Worten, dort armſelige Schleckerepen, bier verfpieltes Geld, dort unſinnig gekaufte Koſtbarkeiten, hier Stolz, dort Geiz, hier Herrſchaftsſitten, dort Sklaven⸗ | raͤnke, hier Heucheley, dort Frechheit u. ſ. w. gleichſam

„) Dieſe Stelle bezieht ſich auf die Einſchraͤnkung des Ge⸗ ſichtspunkts des Verfaſſers, in fo fern er damals mit Abſicht auf die ausgeſchriebene Preisfrage geſchrieben.

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als die vorbereitenden Urſachen der eigentlichen, nähern Quellen des Kindermords muͤſſen angeſehn werden.

Und nun, Leſer! wirf deinen Blick auf's Ganze, und antworte, ſollte es möglich ſeyn, die wahren Huͤlfsmittel der Millionen Nuͤangen der Quellen des Kindermords, die ſich in ihrem Lauf unendlich durchkreuzen, anders als bei den allgemeinen Quellen der Laſterhaftigkeit des menſchli⸗— chen Herzens zu finden.

Ich bin mit allem dieſem weit entfernt, zu behaupten, man muͤſſe nicht auch gegen die verſchiedenen Arten der nähern Quellen des Kindermords mit moͤglichſter Detail— ſorgfalt arbeiten.

Aber ich wiederhole, dieſes alles wirkt nicht weit, nicht kraͤftig, nicht vielſeitig, viel weniger allgemein.

Man prüfe die Natur aller dieſer Detailshuͤlfe, man verfolge ihr Weſen mit feſtem Auge bis in ihr Innerſtes, und ſehe ihre aͤußern Theile genau und von allen Seiten an, und man wird auf allen dieſen Wegen allemal fin⸗ den, daß, je beſſer und ſicherer jedes dieſer Mittel beſtimmt fuͤr Ort und Platz, wo es wirken ſoll, erfunden werden wird, deſto mehr werde es auch zu der allgemeinen Em— porhebung der Sittlichkeit mitwirken.

Man wird finden, daß es unmöglich ſehn wird, von irgend einem Detailshuͤlfsmittel in einem großen Grad Hoffnung zu ſchoͤpfen, daß es real und kräftig helfen werde, als nur nach Maßgebung, daß daſſelbe ſich den Grund— ſaͤtzen nähert, welche die Menſchheit überhaupt zu allem Guten allgemein emporheben wollen, zu den Grundſaͤtzen, welche die Gluͤckſeligkeit der Menſchen, nur in ſeiner allge—

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meinen Ausbildung zur Tugend, und wahre Tugend nur

in uͤbereinſtimmenden und allgemein in Ordnung gehalte⸗ nen Grundtrieben des menſchlichen Herzens anerkennen.

„Daher die innere Veredlung des geſetzgeberiſchen Wil⸗ „lens und der obrigkeitlichen Gewalt das einige Fundas „ment aller tiefwirkenden und im Allgemeinen wahrhaft „Hülfe verſprechende Gegenmittel gegen die Verbrechen „anzuſehn iſt und angeſehn werden muß.“

NUBES TESTIUM,

Ehe ich weiter ſchreite, will ich den Gegenſtand, den ich behandle, durch woͤrtliche Darlegung der Ausſagen eis niger Criminalacta verhoͤrter Kindesmoͤrderinnen zu bes leuchten ſuchen. a

Leſer! Ich war nicht in der Lage, zu waͤhlen; es ſind ganz zufaͤllig die Faͤlle, ſo mir in dem Landwinkel, in dem ich lebe, zur Hand zu bringen; moͤglich geweſen. Aber daß fie aus Originalacten mit woͤrtlicher Genauigkeit ab⸗ geſchrieben worden, dafuͤr ſtehe ich.

I. Dorothe St” * alt 22 bis 25 Jahr.“

Von wem ſie ſchwanger?

Von einem Fridli aus dem Wirtemberger Land, der ihr noch vor acht Tagen die Ehe verſprochen, aber ihr verbotten, es Jemand zu ſagen, daß ſie ſchwanger, mit verdeuten, ſie ſoll noch ein paar Wochen warten, bis ihr Dienſtziel vollbracht, ſo wolle er ſie zur Kirche fuͤhren.

Warum es keinem Menſchen feine Schwangerſchaft ge

ſagt ?

23

Es habe es nicht fagen dörfen, aus Forcht, der Fridli werde hoͤhn (zornig). Ob das Kind, wie es auf die Welt kommen, gelebt?

Ja, es habe ſich gerodt, die Augen auf und zu gethan, ein wenig geſchrieen, fie fey aber bei Zerreißung der Nas belſchnur hinter ſich in Ohnmacht gefallen, da fie aber wie der zu ſich ſelber gekommen, habe das Kind kein Lebens⸗ zeichen mehr gegeben.

Bericht des Geiſtlichen.

Sie hat eine entſezliche Forcht vor dem Tod, und flehet alle Menſchen um der Erbaͤrmden Gottes willen an, ob doch keine Rettung ihres Lebens Statt habe ꝛc.

II. 1708. Regula R* *.

Ob ſie gewiß wiſſe, daß der Rudi, des Muͤllers Knecht, Vater ihres Kinds ſeye?

Ja, es ſehe gewiß wahr.

Warum es ſo ungluͤckhaftig geweſen, daß es ſeine Schwangerſchaft Niemand geoffenbaret?

Es hätte gern gewuͤnſcht, den Rudi zu ſehen, und es ihm zu offenbaren, habe ihn aber nie koͤnnen zu Geſicht kriegen, im Haus haͤtte es ſolches auch etlichemal gern geſagt, aber es habe leider die Leut gefoͤrchtet, aber unſern Herr Gott nicht.

Wie, und wann es das Kind umgebracht', vor oder nach der Geburt?

Es habe das Kindli nach der Geburt mit der einen Hand beym Haͤlsli umgedrehet.

Ob es dieß gethan, ſobald es geboren war?

24 Ja, das Kindli habe auch, indem ſie in dieſer That begriffen war, ein klein Gebsli (Schrey) g'laſſen, nach dem ſeyen ihm die Aeuglein eingefallen, fie aber alſo erſchro— cken, daß ſie zu ſich ſelber geſagt: ack, mein Gott! wie haſt du das thun koͤnnen; und ſey darauf in ein Ohn⸗ macht gefallen. i

III. 1729. Margaretha L* 24 Jahr alt.

Von wem ſie ſchwanger?

Ob ſie mit ſelbigem verſprochen geweſen? Er habe ſollen einen Schein vom Ehegericht holen, fege aber weggegangen. Ob man ihr im Dorf die Schwangerſchaft vorgeworfen? Ja, und ſie hab bekannt, daß ſie ſchwanger. Wo ſie niedergekommen? ö Im Wagenſchopf neben der Scheuer. Ob ſie dieſen Ort mit allem Fleiß vorgeſehen, um da⸗ ſelbſt zu gebähren ? | Ja. Ob ſie nicht gerufen, da das Kind werden ſollen? Nein. Warum ſie das nicht gethan? Weil ſie eine ſchwer und große Suͤnderin. Ob das Kind wirklich geſchrien? Ja, ſie hab es wirklich ſchreyen gehoͤrt. Wie ſie hernach mit dem Kind umgegangen? 1 Sie muͤſſe bekennen, ſie habe das Kind am Hals gefaßt, und ſelbigem mit den Fingern zwey Druͤck gegeben, und

25 dieß um deßwillen, mit felbiges niemand höre ſchrehen, und fie ſolches, wenn es todt, in die Gülle thun konne.

Wie lang fie ſchon von Haus? Sieben Jahr.

IV. 1752. Veronika H“ * von N * alt 21 Jahr.

Aus was für Urſachen es ſich von Haus begeben?

Seine Baas Barbara Wr habe Tuch ab einer Bleiche geſtohlen, und weil das Geſchaͤft kundbar worden, habe es, weil es auch mit intereßirt geweſen, ſich davon ge⸗ macht.

Ob es ſchon damals gewußt, daß es ſchwanger?

Es habe damals noch gezweifelt, ob es ſey oder nicht.

Wie es mit dem Kind umgegangen?

Unten an der Stegen des Geſellenhauſes fen das Kind von ihm auf den Boden gefallen, fie habe es fogleich auf— gehebt, und zu dem naͤchſt dem Haus befindlichen Brunnen getragen, daſelbſt die Erde unter dem Kengel weggeſcharrt, und das Kind dahin gelegt, auch 2 Steine genommen, der eine größer als der ander, worauf das Kind einen Schrey gethan hierauf ſey ſie wieder in die Stube gegangen.

Wer der Vater des Kinds fen?

J. M* von dem ſie vor 2 Jahren auch ſchon ein Kind gehabt. Delingventin bittet, daß man ihr zu Ders richtung ihres noͤthigen Gebaͤts einige Tage ſchenken wolle.

V. Anna Br ſagte aus:

Nachdem es am Sonntag am Morgen in Geburts— ſchmerzen war, habe es feiner Meiſterin gerufen und geſagt,

26

es fen ihm erſchroͤcklich weh, daß es nicht mehr aufſtehen moͤge, ſie aber habe ihm alle Schand und Spott und Fluch angehenkt und geſagt, daß ſie die Nacht uͤber wohl gemerkt, daß es ſo etwas abſetzen werde. Worauf es ihr geantwortet: ach, mein Gott! anſtatt, daß ihr mir helfen und rathen folltet, ſchwoͤret und fluchet ihr uͤber mich.

Es geſteht, daß es nicht eigentlich genamſet, daß es in Kindesnoͤthen, und ſagt, es habe ſich auf alles, was vor⸗ gegangen, gefoͤrchtet, und ſich fo gut moͤglich ſelbſt gehol⸗ fen; weiter aber dem Kind kein Gewalt angethan, ſie ſehe zwar ſelbſt ein, daß ihr Kind haͤtte bey Leben bleiben koͤn⸗ nen, wo fie die noͤthige Hilf gehabt hätte, deſſen Ermang⸗ lung ſie lediglich ihrer Verſtockung und erwaͤhnter Forcht zugeſchrieben.

Bericht des Geiſtlichen.

Sie hat zwar im Anfang behauptet, und noch jetzt, daß ſie keine vorſetz iche Moͤrderin ihres Kinds geweſen; ſie geſteht aber doch, daß ſie ſich durch das Verſchweigen ihrer Umftände eines vorſetzlichen Mords hoͤchſt verdaͤch⸗ tig gemacht ꝛc.

VI. Aus dem Verhoͤr der BFH Hen von Bon zeichne ich folgende Umſtaͤnde aus.

Ihr Alter 44. Jahr.

Sie war von ihrer Hausfrau dem Chorgerichte und von dieſem dem Pfarrer als ſchwanger angegeben, und dieſer befahl augenblicklich, ſie aus dem Dorfe fort— zuſchaffen. Als ſie ihr Kind ſchon getoͤdet, kam ſie

27

wieder in's Dorf, und ſagte ihrer Hausfrau: „der Herr „Gott habe das Kind gereicht (geholt), und es ſey unter „Licht bey der Abenddaͤmmerung) nahe bey einer Kirche „begraben worden.“ Sie ließ darauf den Ehemann, von dem ſie ſchwanger geweſen, in einen Nebenweg rufen, verlaͤugnete ihm im Anfang, daß das Kind todt ſey, und hernach, daß ſie ihm Gewalt angethan. Sie uͤbernachtete auf dieſe Unterredung unter einem Baum. Sie war ſchon 7 Jahr von ihrem Manne weg, und ſeit der Zeit war dieſes das zweyte uneheliche Kind.

VII. Anna Bös 17235.

Wie alt ſie ſey?

Fuͤnfzig Jahr.

Ob ſie verheurathet?

Nein, ſie ſey mit einem Bernhard M' verſprochen zeweſen, auch von demſelben ſchwanger worden, er habe ſie aber nicht wollen zur Kirche fuͤhren, er ſey davon ge— lauffen.

Wie lange es feit dem ſey?

Acht oder neun Jahr.

Ob das Kind noch lebe?

Nein, ſie hab es in Buch in ein Scheuer liegen laſ— ſen, und es ſey von Baͤttlerleuten weggetragen worden.

Dieſes behauptete ſie gegen alle, ihr zur Confrontation, fie verwirrenden Zeugen, hielt die Tortur aus, am 18. Julius, und beharrte auf ih⸗ rer Ausſage. Am 24. aber geſtand ſie dem Geiſtlichen

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freywillig, daß fie das Kind ertraͤnkt habe, und gab den 25. den Inquiſitoren folgende Antwort:

Sie ſeye an einem Morgen fruͤh mit ihrem fuͤnfvier⸗ teljährigen Kind gegen die L * gegangen, und habe daf- ſelbe, da es friſch und geſund geweſen, hineingeworfen, das Kind ſey auch lang auf dem Waſſer geſchwommen, ehe es untergeſunken.

Was ſie zu dieſer erſchrecklichen That vermocht?

Nichts als der Hunger, indem ſie daſſelbe nicht mehr zu erhalten gewußt.

Extract aus dem Ehegerichts-Manual wegen Anna G Abo 1711. Im December ward fie wegen ihrer Schwan⸗ gerſchaft vonftitufrt, und hat zum Vater ihres 25 Wochen tragenden Kinds angegeben, den in der Fremde ſich bes findenden Bernhard M? *. 1722 iſt ſie dieſes Kinds geneſen, und hat es zu V taufen laſſen, zu Wi bey einem Haus niedergelegt, und daven gegangen. Als ſie nun den 21. Julii hierfuͤr zur Red geſtellt worden, iſt fie beharret, der Vater des Kinds ſeye dedeuter Mi, die Urſache aber, daß ſie das Kind niedergelegt, ſey die Armuth, daß ſie ſolches zu erhalten außer Stands.

Als ſie nun den 24. Julii, den 29. Julii, den 5. Au⸗ guſt, den 25. Aug. und 14 Sept. in Gefangenſchaft ernſtlich eraminirt, und mit der Ruthe gezuͤchligt, verbliebe fie auf dem Bernhard M*, daß er der Vater des Kinds ſey, geſtund aber doch dabey, daß 6 Wochen hernach Jacob K* von L* es ſie auch beſchlafen.

29 Deßnahen ward erkennt:

Daß, weil Gt zwaren auf dem Vater des Kinds, NB. an der Tortur beharret, aber die Schwaͤn⸗ gerung nach ihrer Ausſag mit der Entbindung nicht uͤbereinſtimme, fo habe fir den rechten Vater noch nicht angegeben, deßnahen fie die GH das Kind an ſich ſelber haben, und ſammt dem Kind Stadt und Lands verwieſen ſeyn ſolle.

Sie erhielt's noch faſt ein Jahr, und end» lich ertraͤnkt ſie es.

Barbara Bit: hat Folgendes ausgeſagt:

Es ſey die verhafte Gu * am Tag, da fie ihr Kind ettraͤnkt, zu ihr gekommen, ihr Buͤbli auf dem Arm tras gend, da habe fie ihr das Kind, welches ſtark geſchryen und gehungert, genommen, ihm Brod gekaͤuet, und es ihm zu eſſen gegeben, auch ſelbiges aufgewunden, und geſehen, daß es große Schwillen an dem Leibli ge⸗— habt, worauf fie zu der Ge geſagt: ſchau, wie das Kind ausſieht! worauf der Senn aus dem Hen dazu gekommen, und geſagt, daß er ihr Milch gegeben, und daß fie das Kind in die Neſſeln geworfen; fie die Gee habe darauf das Kind wieder genommen, ſey dem Hoch ge— richt zugegangen, und habe dem armen Kind etliche Schlag auf den Hintern gegeben, von da fep fie dem Waſſerrad zugegangen, welches die Schnitter geſehn.

VIII. Verhoͤr mit einer Dienſtmagd in n.

Ich hatte am Sonntag Nachts ein heftiges Grimmen, fo daß die Nebenmagd vor meinem Aechzen nicht ſchla—

30 fen konnte; da blieb ich in dem Beth mit Wiſſen meiner Herrſchaft, das dauerte bis am Montag e

War niemand bey euch? N

Ja, man brachte mir Thee und Kirſchenwaſſer; end⸗ lich, da ich allein war, bekam ich das Kind; ich ward aber ſo ſchwach ob dem Geneſen, daß ich das Kind neben mich legte, und liegen ließ, bis ich mich erholt hatte, da ſah ich, daß das Kind todt war, und wickelte es in ein altes Hembd, und legte einen Ziegel davor.

Sepdt ihr nachher im Hauß uͤber Nacht geblieben?

Ja.

Was iſt am Dienſttag begegnet?

Die Jungfer kam und ſagte: manfolltemepe nen, es ware eine Kindbetterin da geweſenz gab mir meinen Lohn, und ſchikte mich fort. Es war ſchon ſpaͤth. Ich kehrte bei einem Lehenmann an der Schügenmatt ein. Wie ich da war, kam die ältere Jungfer, und fragte, ob ich nicht ein Kind zuruͤckgelaſſen? ich ſagte ja, da ſprach ſie, ich ſoll lommen und es reichen. 8 Ich gieng hin mit der Lehenfrau, dieſelbe und die Magd giengen mit mir zum Kind, da war es ſchon flarrend. Da hab' ich's eingewickelt und in den Stall gelegt, und bin dort über Nacht geblieben. Morndes kam die He— bamm, beſah das Kind, und ſagte, ſie muͤſſe es anzeigen.

Iſt das Kind todt oder lebendig zur Welt gekommen?

Ich mußte mir helfen, und konnte nicht anderſt als ihns drucken ꝛc.

Warum ſie von ihrem Mann weg?

Er habe fie verflaͤcht, und fie ihn, welches ihr jetzt gar ſchwer falle.

Warum ſie einander ſo verflucht?

Er ſey ein zornmuͤthiger Mann, und nicht völlig behm Verſtand geweſen, er habe auch ſchon eine Frau gehabt, welche deßwegen nicht mit ihm leben koͤnnen, und Jeder mann habe ſie gleich ungluͤcklich geachtet, da ſie ihn ge⸗ nommen. ö

Ob ſie dem Gutſchner ihre Schwangerſchaft eroͤffnet?

Nein, ſie haͤtte gern mit ihm geredt, aber niemals koͤnnen.

Ob fie auch mit Jemand anderm etwas zu thun ges habt?

5 Ja, mit einem Herr Apotheker.

Ob ſie mit dieſem hernach geredt?

Nicht ſelber, aber ſie habe ihm durch eine Magd ſa⸗ gen laſſen, daß fie ſchwanger, und fie glaube von ihm, ſolcher aber habe ſehr wuͤſt gethan, und ihr drohen laffen, er wolle alles anwenden, daß ſie ans Halseiſen muͤſſe.

Ob ſie hernach mit ihm geredt?

Nein, ſie habe ihm durch die Magd ſagen laſſen: er ſoll ſie nicht ungluͤcklich machen, damit ſie in einem Dienſt bleiben koͤnne.

Ob ſie ihrer Nebenmagd auch nicht geſagt, daß ſie werde niederkommen?

Nein, ed. fen gar boͤs geweſen, ed hätte es eher der Jungfer geſagt.

Ob ſie in den Schmerzen Jemand gerufen?

Sie hab gerufen: Herr Jeſus! Herr Jeſus! ich muß ſterben. Aber es ſeh Niemand gekommen.

Warum ſie nicht expreß um Hilf gerufen?

\

52 Sie habe aefärchtet, die Magd thue ihr gar wuͤſt, und reiße ſie aus dem Beth. Ob, da das Kind aus Mutterleib geweſen, ſie annoch ein gefaͤhrliche Hand an ihns gelegt? Ach Jeſus nein.

Zweyte Information.

Warum ſie in den groͤßten Schmerzen nicht jemand ihre Umſtaͤnd eroͤffnet? .

Weil fie gefürchtet, man moͤchte fie aus dem Beth reißen und fortjagen.

Ob ſie nicht denken ſollen, daß, wenn ihr Niemand zu Hilf komme, fie und das Kind in der größten Lebensge— fahr ſich befinden, und das Kind nothwendiger Weiß um⸗ kommen muͤſſe? N

Ja, ſie habe es wohl gedacht.

Hiermit fey ihr nichts daran gelegen geweſen, ob das Kind todt auf die Welt komme? Sie ſagte weinend nein.

Sie habe ſich hiermit auch vorgenommen, das Kind auf die Welt zu bringen, wenn daſſelbe auch ſchon das Leben darob haͤtte einbuͤſſen muͤſſen?

Ja.

Warum ſie ſo heftig an des Kinds Haͤlsli gezogen?

Der boͤſe Geiſt habe ihr ſolcher Geſtalten zu geſezt und geſagt, fie ſey grad gleich verloh⸗ ren, und werde weder Gnad noch Barm herzig⸗ keit mehr bey Gott erlangen, und das Kind

wuͤrde

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würde noch viel 'gottloſer werden als fie: darauf habe fie das Kind beym Haͤlsli gedruckt.

Wie lang ſie es am Haͤlsli gedruckt?

Nicht lang, es ſey gleich geſtorben. i

Ob fie es hiermit gedrüdt bis es geſtorben?

Ja.

Hiermit habe ſie es mit Vorſatz gedruͤckt, daß es ſterben muͤſſen. f

IX. 1713. Anna B***. Bericht von Vorgeſetzten und Aelteſten.

Das Menſch ſey viele Jahre ausſchweifend hin und her gereist unter dem Vorwand des Bothens, der Herr Pfar— rer habe es ihm oft verwieſen, und auch ihre Mutter zu Red geſtellt, daß es ſich des Herumſchweifens muͤſſige und zu Haus bleibe. Letztverwichenes Jahr iſt es gar allezeit dem Krieg nachgezogen, und hat bey einem Kraͤmer ge— dient, und ſo viel als gehulfen marquetenten. Anderer Ver⸗ dacht iſt auch viel auf ihr geruhet. Ihre Schwangerſchaft hat fie hartnaͤckig geläugnet.

Ihr Verhoͤr iſt wegen eines heftigen Krebsſchadens im Mund verwirrt und unverſtaͤndlich. Ihr Alter war 30 Jahr.

Wegen dieſes Schadens iſt folgender Bericht des Geiſt⸗ lichen merkwuͤrdig.

Wir haben auf hohen Befehl das Menſch beſucht, und vorderſt befunden, daß ſie nichts im Stand iſt zu reden, das man klar verſtehen koͤnne von wegen einem Krebs— ſchaden, der ihr, Gott b'huͤt' uns! Mund und Kiefel an⸗

Peſtalozzi's Werke VIII. 3

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gegriffen, und dem noch nicht gehulfen werden mögen, ſonder das Uebel und Schmerzen frißt um ſich, daß es nicht lang mehr dauern dürfte, und beſorglich der Ort auch etwas un bequem.

X. Von Anna S*.

Lautet des Pfarrers Bericht: Sie ſey von armen El— tern erzeugt, als ein vaterloſes und mutterloſes Waisli aus dem Almoſen erzogen worden. In ihrem ißten Jahr gieng fie fort in einen Dienſt, ward bald darauf von eis nem Ehemann ſchwanger, das Kind aber iſt geſtorben. Was fie ſint dieſem erſten Fehler für einen Wandel ges fuͤhrt, ſey ihm unbewußt, er habe fie bis in letzterm Heu— monath nicht geſehen, da ſie gekommen anzuzeigen, daß fie ſchwanger. Sie gab einen Jacob Z * als Vater an, welcher laͤugnete, ſie beharrte aber beſtaͤndig auf ihm, ſo— gar in während den ſtaͤrkſten Geburtsſchmerzen. Verwi— chenen Freytag kam ihr Hausmeiſter zu mir und ſagte, das Menſch habe am Abend ihr Kind friſch und geſund zu Beth getragen, um Mitternacht haben ſie es gehoͤrt ſchreyen, am Morgen aber ſey ſie zu ſeiner Frau gelommen, und habe ihr geſagt, es bewege ſich nicht mehr, ſie wiſſe nicht, ob es todt ſey oder nicht. Ich ließ das Kind viſi⸗ tiren, des Scherers Bericht beunruhigte mich. Ich gieng zu der Perſon hin, ſie geſtund jezt, daß ſie den unrechten Vater angegeben, der 3 *, ob er ihr ſchon auch in Un— ehren beygewohnt, ſey nicht der rechte Vater, fonder ein Schwab; ihr Schwager ** habe es ihr angerathen und befohlen, den erſten anzugeben, und gefagt, fie ſolle in al-

1

55

len Geburtsſchmerzen auf ihm beharren, und ſich nicht foͤrchten, wenn es Zeit ſey, ſo koͤnne fie das Kind gebaͤh— ren, ſie moͤge den rechten oder unrechten Vater angebenz der Z ** fen ein Landskind, von dem bekomme fie das Fronfaſtengeld, vom Schwab nichts. In Anſehung des Kinds ſagte ſie, ſie habe es geſaͤugt, und ſey dabey ent— ſchlafen, und auf das Kind zu liegen gekommen, und da ſie erwachet ſey es todt unter ihr gelegen. Auf dieſer Auſſag beharrete ſie bis der Amtsboth kam, ſie abzuholen, und man ihr noch einmal das Kind vor Augen legte, da ſie dann bekannte, das Kind habe viel in der Nacht gewe nt, darüber fen fie erzoͤrnet worden, und habe ſelbiges an ih— rer Bruſt erdruͤckt. Da das arme Kindli mit dem Tod ringend angefangen erbaͤrmlich zu gröchfeln (roͤcheln) habe es ſie ſehr erbarmet, daß ſie ihns ſchier nicht vollig um— bringen koͤnnen ꝛc. 8

Verhoͤr mit ihr. Wie alt? 55 Jahr. Ob es wiſſe, warum es gefangen? Weil es ſein armes Kind umgebracht. Wann und wo es Kindbetteri worden? Vor 5 Wochen in des Ehegaumer B*** Haus. Ob es ſich mit ſeinem Kind allzeit da aufgehalten? Ja. e Ob es dem Kind ordentlich gewartet? Ja, es ſey ihm lieb geweſen. Wo es das Kind gewoͤhnlich gehabt?

3 Ss

gr

Allzeit in ſeinem Beth.

Ob nicht es und ſein Kind vergangenen Donnerſtag mit einander friſch und geſund ins Beth gegangen, was es mit dem Kind in dieſer Nacht vorgenommen?

Das Kind habe geſchryen, es habe ſolches um Mitter⸗ nacht gerathſammet und geſaͤugt, um 2 Uhr habe es ſein Geſchrey wiederum angefangen, da ſey es verdrieslich wor— den, ſonderlich weil es ſtark gefroren, fo daß es das Kind von der Bruſt weggenommen, am Hals und G'nik mit der Hand gedruͤckt.

Wie lang es gewaͤrt, bis das arme Kind todt gewe— ſen?

Da es ſelbiges einige Zeitlang gedruckt, und ſolches unterdeſſen 2 oder 5 Schrey gelaſſen, es auch gemerkt, daß etwas am Hirnſchaͤdeli gewichen, habe es ſolches gehen laſſen, worauf das Kind noch eine Weile groͤchslet, und die Haͤndli gewunden, bald darauf aber kein Lebenszeichen von ſich gegeben.

Was es da mit dem Kind weiter vorgenommen?

Es fey am Morgen in die Stube gegangen, und habe des Ehegaumers Frau geſagt, es glaub, ſein Kind ſey todt, dieſe habe ihm geantwortet, fie fol es herunterbringen, welches ſie gethan, mit verdeuten, ſie wiſſe nicht, wie es zugegangen.

XI. Anna G 32 Jahr alt. Erſtes Verhoͤr.

Ob fie dem Menſchen, von dem fie ſchwanger gewe⸗ fen, ihre Schwangerſchaft eroͤffnet? Nein, ſie habe ihn auſſer einem einzigen Mal nicht mehr

2

57 geſehn, und ihm auch die Schwangerſchaft nicht geoffenba⸗ ret, und auch keinem andern Menſchen.

Warum das?

Weil ſie immer geglaubt, es muͤſſe nicht auskommen.

Ob fie nicht von der Hebam befragt, warum fie eie nen ſo groſſen Bauch habe?

Wohl, aber ſie habe geantwortet, ſie ſey ein verderb— tes Menſch von wegen der ſchlechten Speis, weil ſie uͤber die theure Zeit nur Rauchmehl eſſen muͤſſen.

Wie es mit der Geburt zugegangen?

Es ſey die ganze Nacht bis am Morgen in Kindes— noͤthen gelegen, das Kind ſey todt zur Welt kommen, und ſie habe ſolches 4 bis 5 Wochen nicht empfunden.

Ob ſie ſolches nicht mißhandelt?

Nein, Gott wiſſe, daß ſie ihm nichts gethan.

Zweytes Verhoͤr.

Ob ſie mit gutem Gewiſſen ſagen koͤnne, das Kind ſey todt zur Welt gekommen?

Es habe ein einziges Athemzuͤgli gethan. Ob fie mit gutem Gewiſſen ſagen koͤnne, fie habe keine Hand an ihns gelegt?

Nein, ſie koͤnn es leider nicht.

Ob ſie ihm keinen Streich auf den Kopf verſetzt?

Sie habe ihm mit dem rechten Bein das Koͤpfli zer. druͤckt.

Ob ſie dem Kind nicht auch Stich verſetzt habe?

Nein.

Ob ſie kein Meſſer im Sack getragen?

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Wohl freyplich. -

Man zeigte ihr das Meſſer, und ſie geſtund jetzt, daß fie mu demſeiben dem Kind erſllich eine Wunde in das Halsli, eine in das Bruͤſtli, eine in das Koͤpfli, und eine in das Schenkeli, und überhaupt etwan 6 Stich verſetzt habe. |

Ob es nicht noch mehr Stich gethan?

Es iſt leider Gott erbarm an dieſen genug.

Bericht des Geiſtlichen.

Wir gewahreten eine recht viehiſche Gefuͤhlloſigkeit an dieſem Meuſchen ꝛc.

XII. 1692. Elsbeth S* ſagt aus:

Daß ſie vor dem an zerſchiedenen Orten gedienet, ſint ungefaͤhr 5 oder 6 Jahren in der Stadt, hernach vor 2 Jahren auf dem Land, da ihres Meiſters Sohn ſie auf die Ehe hin beſchlafen, aber da er fie ſchwanger geſehn, ſich aus dem Staub gemacht, worauf ſie ins B. B. ge⸗ gangen, und das Kind zu X" nach dem Namen ſeines Vaters taufen laſſen. Da ſeye es ſeither im Land herum gezogen, und wenige Zeit vor ſeiner letzten Niederkunft von S wieder heimkommen, am Tag vorher habe es ſich bey ſeines Vaters Bruders Frau, einer Hebamme gemeldt, und ſey da morndes in den Raͤben eines todten Kinds geneſen, und habe ſelbiges in einer Drucken (Schachtel) daſelbſt vergraben. Es wiſſe nicht, ob es das Kind vor der Geburt noch empfunden, fie. habe das kalt Weh ge

habt.

5

Das Kind hat ein Athemzuͤgli gethan, wills nur ſa— gen, die Herren ſind gar gut hans (habe es) druckt ins Haͤlsli, weiß nuͤd ob vornen oder hinden hat nuͤd lang mit ihm gewährt iſt bald todt gſy han das Kind nit in Trucken knuͤtſcht, fie iſt groß znug gſy han ſinther manchmal denkt, haͤtt ichs nur ins Fuͤrguͤrtli gnommen, und gen Sch“ treit (getragen), 's iſt mich herzlich g'rauen, ach, mein Gott! wie will ich doch noch baͤten ach, mein Gott! haͤtt ich doch das nit than! han wohl denkt, es werd ausko, wenn ich mehr auf dem Her— zen haͤtti, fo weiti mehr bekennen daß Gott erbarm! will Gott um ein ſeliges End baͤten.

XIII. 1709. Bericht eines Pfarrers wegen ei⸗ ner Blutſchand und Kindermord.

Was die Bosheit will verbergen, Oeffnet Gott durch ſeine Schergen iſt ein Sprichwort der Alten.

Dieſe zwey Menſchen waren ſint 5 Jahren, daß das Anneli bey ihm dient, im Verdacht allzugroßer Vertrau— lichkeit. Ich ſtellte ihn zu Red mit verdeuten, daß ich gern ſaͤhe, wenn das Menſch wegen des boͤſen Geſchreys aus dem Dienſt gehn wuͤrde. Er machte Einwendung, es werde ihm geſtohlen, er doͤrfe Niemand anderm trauen; er ſetzte hinzu, er wiſſe wohl, daß es ſeiner Mutter Schu ſter, und was darauf ftehe.

Nachher vermehrte ſich das Geruͤcht, daß ſie ſchwan— ger. Auf meine Vorſtellung verſprach er, ſie wegzuſchi— cken, that's aber nicht.

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Auf Anfrag an die Nachbarn, wie die Schwanger- ſchaft habt verborgen bleiben koͤnnen, antworteten:

1. F Sie habe nur keine Schwangerſchaft ders muthet; fie habe ihns in der Ernd ernſthaft mit 15 bis 20 Schnittern ſchneiden geſehen, und nichts gemerkt; und es habe noch eine gute Farb gehabt, da es ſchon geneſen ſey ſoll.

2. R. SW. Er habe mit dem Delinquenten wegen ſei es unguten Weſens wenig Gemeinfchaft gehabt; er fen ihm Über die Aecker gefahren ꝛc.

5. B. Schw *. Sie haͤtte ihm dergleichen nie ges traut. Sie hätte Leib und Leben gelaſſen, es waͤre un⸗ ſchudig. Freytag vor dem traurigen Sonntag habe fie einen Wagen aus dem Schopf hinaus ziehn ſollen, deſſen Rader fo voll Koth geweſen, daß fie Hilf haben muͤſſen, da ey es ihr kommen helfen, daruͤber ſie ſich jetzt hernach beſtürze, daß es ein naͤhiges Weibsbild ſoviel thun mögen, und den Sonntag darauf 8 Tag nach der Gemißt habe es ſich luſtig gemacht, und auf Vernehmen, was das Gemuͤr⸗ mel von ihm tede, ſchollenweis (unmaͤſſig) gelachet.

4. S. Frß *. Es ſey wahr, die Weiber haben in der Erndt gemurmelt, es ſtehe mit dem Menſchen nicht rich— tig, er ſelbſt aber habe nichts bemerkt, das Gered ſey in den benachbarten Doͤrfern groͤßer geweſen, als bei ihnen ſelber; er denke, man habe ſich gefoͤrchtet, man werde beym Wort genommen, wofuͤr der Heini gut genug geweſen, denn er habe das noch gedrohet, da das Kind ſchon todt im Haus gelegen. Zudem ſolle man ſich erinnern, daß

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das Meidli den Gebrauch gehabt, den Zipfel ſeiner Schuͤrze in der Hand zu haben, und ins Maul zu nehmen.

Dieſes Menſch begehrte in feiner Gefangenſchaft drun— genlich ihren Seelſorger, und bekannte nichts, bis dieſer kam. Zu dieſem fagte fie dann: Ach, ich darf es ſonſt Niemand ſagen, und bitte, nehmet es von mir an; ach, ich darf es nicht ſagen, der Heini iſt beym letzten Heukrehahnen betrunken heim ge— kommen, da hab ich ihn ausziehn muͤſſen ꝛc. ſie ſey ganz allein geweſen, da ſie die Wehen angekommen; fie ſeyh aus Ohnmacht auf das Kindli gefallen, da fie ſich aber wieder erholt, habe es noch gelebt.

XIV. Maria Blu 25 Jahre alt, eine Seidenweberinn. 8

Wann ſie ihre Zeit verloren?

Sie habe ſelbige zwey Jahre faſt nicht geſpuͤrt.

Ob ſie das Kind waͤhrend der Schwangerſchaft nicht empfunden? N |

Sie wiſſe einmal nichts darum, und habe keine Ach— tung darauf gegeben.

Sie ſoll eine runde Bekanntnuß thun, wie es zuge— gangen. NE 90 Sie habe am Mittwoch den ganzen Tag gewimmet (Trauben geleſen), als ſie am Abend heimgekommen, habe ſie zur Mutter geſagt, der Bauch thue ihr wehe. Dieſe hab' ihr zur Antwort gegeben: ich denk', du habeſt gar viel Trauben geeſſen, du Sau. Auf dieſes hin ſey ſie— ins Bett gegangen, und die ganze Nacht durch mit ihr

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ſelbſt wegen empfundenen großen Schmerzen zu thun ge« habe, und morndes am Morgen, als die Mutter aufge⸗ ſtanden, und aus der Kammer hinausgegangen, ſeyen endlich die ſtaͤrkſten Schmerzen gekommen, da Niemand bey ihr geweſen.

Ob das Kind nach der Geburt noch gelebt?

Anfangs wollte die Delinquentin dieſen Umſtand nicht wiſſen, mit Vorgeben, fie ſey in einem ſochen Stand ges weſen, daß ſie vor Forcht und Schrecken deſſen nicht wahr⸗ genommen. Auf geſchehenen ernſthaften Zuſpruch aber und Vorhalten, daß fie ſolches allbereit zweymal bekennt, geſtund ſie, ja das Kind habe gelebt, und wirklich ein Schreyli gelaſſen.

Ob es ein Knaͤbli oder ein Toͤchterli geweſen?

Das koͤnne ſie nicht ſagen, ſie habe ſolches aus großer Furcht und Schrecken nicht wahrgenommen, ſonder geſchwind gefochten, und ſo zu reden gezappelt, damit es Niemand merke.

Ob die Mutter ſelbige Nacht auch bey ihr gelegen?

Ja. |

Ob felbige nichts wahrgenommen?

Sie hoͤre nicht wohl, daher ſelbige nichts verſpuͤren moͤgen.

Ob gewiß Niemand bey Handen geweſen, da fie nies dergekommen?

Sie koͤnne mit gutem Gewiſſen ſagen, kein einziger Menſch, auch habe fie der Mutter nichts dörfen ſagen; denn Delinquentin gefoͤrchtet, ſie ſchlage ſie zu todt.

Was ſie vermoͤgen, ihre Schwangerſchaft zu verhehlen?

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Sie wiſſe es eigentlich nicht, fie habe gefürchtet, die Mutter ſchlage fie zu todt.

Im zweyten Examen.

Ob ihre Mutter nichts davon gewußt?

Weder wenig noch viel, mit dem weitern hinzuthun, ſie habe oͤfters vor der Mutter geſchworen, ſie gehe nicht mit dem Kind, und alſo ſie und andre Leut betrogen; auch daure ſie Niemand ſo wie ihre alte Mutter.

Des Pfarrers Bericht von dieſer Perſon.

Sie iſt 1707 von einem Vater erzeugt, der ſich nicht lang nach ihrer Geburt mit einer Huren zum Land hinaus gemacht, und ſo ohne einen Vater auferzogen worden, ſie hat von Jugend auf den Muͤſſiggang geliebt, woruͤber ſie auch von meinem Vater und mir oft beſchuldigt worden. Als fie zu mehrern Jahren gekommen, hat fie geſtohlen,

und iſt dafür mit Gefaͤngniß und der Ruthen beſtraft wor—

den. Sinther hab' ich gar nichts mehr von ihr gehoͤrt, bis ſie mich 14 Tag vor dem Ungluͤck frecherweis auf dem Weg aus der Kirchen angeredt, ich ſoll ihr zu ihrem ehr— lichen Namen helfen, es gebe gottloſe Leute, die ſagen, ſie ſey ſchwanger, welches faul und falſch. Ich habe meinem Chorgericht befohlen, auf die Reden hieruͤber Acht zu ge— ben, und etlich Tag hernach ernſtlich mit ihrer Mutter geredt, wie es eigentlich mit ihrer Tochter ſtehe, die mir dann bezeugt, ſie habe die Tochter gehandhabet, und es ſtehe alles richtig, ich ſolle ohne Sorg ſchlafen; ich bin alſo von der Tochter ſowohl als von der Mutter übel be— trogen worden.

7 * 44 . XV. Ueber alle Maßen merkwuͤrdig ſind die Criminal⸗ acta gegen Verena K*, welche im October 1699 hinge⸗ richtet worden.

Verhoͤr vom ı8ten September.

Warum ſie ihre Geburtsſchmerzen ſo zu Nacht, und als ihr Bruder um 12 Uhr, da der Waͤchter vorbeyge⸗ gangen, fie gefragt, ob er die nöthigen Leut kommen laſ⸗ ſen muͤſſe, und auch morndes ihrer Schweſter die Geburt verlaͤugnet?

Sie habe vierzehn Tage vor der Geburt ein ſtarkes Naſenbluten und Kopfſchmerzen gehabt, davon fie ganz ſinnlos worden. Da fie des Kinds geneſen, ſey fie in der Sinnlofigteit zweymal aus dem Bett aufgeſtanden, weß⸗ wegen fie das andere Mal willens ihre Nothdurft zu vers richten, das Kind uͤber die Gelten Zuͤber) geboren, darauf ſie wieder ins Bett gegangen, und ſinnlos als ein Stock geblieben.

Daß fie aber an der Nacht ihrem Bruder, der die nöthi- gen Leut ihr hab' kommen laſſen wollen, keine Antwort ge geben, und morndes ihrer Schweſter die Geburt nicht ges fagt, ſey die Urſache, weil Gott ihr die Grad, ehr⸗ liche Leut anzuſprechen, wie vormals nicht hab' werden laſſen.

Weilen nicht zu glauben, daß ſie verwirrt geweſen, ſo ſolle fie fügen, was fie zu fo einem unmenſchlichen Ueber— ſitzen über einen fo garſtigen Zuber beym Gebähren ver⸗ anlaſſet, und was fuͤr Gedanken ſie gehabt?

Nach langem Inſiſtiren antwortete ſie, der Teu—

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fel habe fie getrieben, Gott b’hät uns darvor, die Gedanken aber wiſſe ſie nicht, als daß ſie nicht werde gute Gedanken gehabt haben; woruͤber ſie fer— ner auch auf ſeelzerſchneidendes Zuſprechen hin nichts bes kennen wollen, deßwegen gut erachtet worden, die aus dem göttlichen Wort ruͤhrende Schneidung des annoch ſtei— nernen Herzens durch Herrn Pfarrer *** interveniren zu laſſen, welche doch ſo viel als unfruchtbar bis auf den ſpaͤten Abend ſich erzeigt, da ſie dann auf herzzerſchnei— dendes Zuſprechen bekennt:

1. An der Geburt, Nachts um 12 Uhr, habe ihr Bru— der ſie gefragt, ob er die Weiber ſolle heißen kommen? ſie aber, weilen ſie ſchon geboren, und durch den Trieb des Satans, Gott bewahr! wie vormals be— ſchehen, nicht um Hilf bitten koͤnnen, ihme kein Antwort gegeben, ſonder im Bett bis morndes um 8 Uhr als ein Stock gelegen, und die Geburt verſchwiegen.

2. Sey ſie etwa 2 Stund im Bett gelegen, da ſie die Kindswehe angekommen, darauf ſie aufgeſtanden, und ſonſt uͤber den Zuber geſeſſen, worauf die Noth ſie angekom— men, und die Geburt in die Gelten fallen laſſen.

3. Sie habe allzeit gemeint, es habe ihr eine boͤſe Frau angethan, daß ſie ihr Kind ſo gebaͤren muͤſſen; denn als ſie 14 Tag vor der Geburt ſo ſehr geblutet, habe ſel— vige, als der Scheerer ihr das Blut geſtellt, gezuͤndet und geſagt, du kommſt jetzt nur ein ſchoͤneres Kind uͤber, ſie habe geantwortet: das geb' Gott! und die Frau: o du Maulaͤfli! du mußt dir nicht fürchten. Von da an fen

46 fie alleweil nicht rechten Sinns geweſen; fie habe ſich mit weißem Zeug auf das Kind verſehen.

Als dieſe Ausſag ihr als ihrem Gewiſſen wi⸗ derſprechend zu ſeyn ausgelegt worden, und fie zu Entlaͤſtigung ihres bey Verhehlung der Wahrheit beſchwerten Herzens, vermahnt worden, hat ſie endlich bekennt: |

a) Der boͤſe Geiſt habe fie beredt, Gott b'huͤt! mit dem Einſprechen: „Gang (gehe) mit deiner Buͤrde uͤber „die Gelten, und laß ſie darin, ſo kommſt deiner Be— „ſchwerd ab, und wird dir wieder wohl.“ Als es ge— ſchehen war, habe ſie geſagt, b'huͤt uns Gott darvor; er habe ihr aber die Gnad Gottes hinterhalten, daß ſie es nicht mehr heraus nehmen koͤnnen, darauf ſie ins Bett gelegen, und wie ein Stock geblieben.

b) Seit dem fie fo ſtark durch die Naſe geblutet, naͤm⸗ lich 10 oder 14 Tag vor ihrer Geburt, habe ſie den Ge— danken gehabt, wenn ihr Kind nur todt geboren wuͤrde; auch habe fie ſelbiger Zeit das Kind in den Zuber zu ges baͤren vorbedacht.

c) Sie glaube, wenn ſie ihrem Bruder die Sache, als er ſie um 12 Uhr wegen der Hebamme gefragt, geſagt haͤtte, das Kind waͤre errettet worden. N

d) Sie muͤſſe geſtehen, daß ſie die Urſache des elenden Tods ihres Kinds ſey.

Ausſagen der K* ** halber.

a) Ihr Bruder, ein alberner, faſt blinder Menſch, ſagt, daß an der Nacht, da die elende Geburt geſchehen, er

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feiner Schweſter gewachet, in der Stube, er habe fie gehört in der Stube herum muchen, und im Kopf g'heben (klagen), und als er ſie um Mitternacht gefragt, ob er ſolle die Weiber heißen kommen, habe ſie ihm nichts geantwortet, als, ſie werde erſt in 14 Tagen Kindbetterinn.

b) Ihr Ehemann: er habe 10 Jahr in ſeinem Ehe—

fand von feiner Frauen nichts verwirrtes oder ungebuͤhr— liches gehoͤrt oder gemerkt, ſie habe auch gebetet; er ſey leider erſt 10 Tag nach der Geburt aus dem Schwaben⸗ land heimgekommen. Wenn er zu Haus geweſen waͤre, ſo waͤre das Ungluͤck eigentlich nicht begegnet, er wiſſe nicht, und kane nicht ſagen, (man wirds ihn gefragt haben), ob ſie die grauſame That aus Urſach, daß das Kind nicht moͤchte erhalten werden, gethan, er habe ſie, da er ins Schwabenland gegangen, zum Gebet vermahnt, und daß ſie ſich mit Lupfen und Tragen nicht zu ſtark bemuͤhe.

c) Die Hebamme ſagt, fie ſeye von der Vrena die ganze Zeit, da fie ſchwanger geweſen, nie beſchickt wor— den. Am Morgen um 6 Uhr, da das Kind ſchon gebo— ren geweſen, habe man ſie beſchickt, ſie habe das Kind aus der Gelten genommen, und geſagt: Vreneli! b'huͤt uns Gott! was haſt du geſinnet, daß du dein Kind dahin gelegt haſt? Worauf ſich dieſe nicht rechten Sinnes ge— ſtellt, und geſagt: Will mans taufen? Sie habe ihr geantwortet: ich meyne, du haft ihns getauft. Weiter ſey ihr nichts im Wiſſen.

d) Anna Mi der Vrena Gſchwey ſagt: fie habe ihr am Mittwochen einen Botten geſchickt, und da ſie zu ihr

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kommen, geſagt, der Kopf thut mir fo grauſam weh, koch doch meinen Kindern, und trag mir das Waſſer ein, welches fir gethan, Abends habe ſie wieder geſchaut, wie es um ſie ſtehe, ſie habe aber allzeit grauſam Kopfwehe gehabt, deßnahen ſie zu ihrer Schweſter Barbel gegangen, und geſagt: ich weiß nicht, wie es mit dem Vrene iſt, es g'hebt ſich fo grauſam im Kopf, worauf fie mit ihr hin⸗ gegangen, ein gleiches Klagen uͤber Kopfweh gehoͤrt, ſie habe aber allzeit geſagt, es waͤre ihr nicht wehe zum Kind. Morgens grad nach der Battzeit, da das Kind ſchon von ihr geweſen, fen fie wieder zu ihr gekommen, und habe gefragt: wie es um ſie ſtehe, und warum ſie nicht auf wolle? Worauf fi egefagt, was fie aufthun' wollte, es ſey ihr wieder beſſer. Uebrigens habe ſie nicht koͤnnen mer⸗ ken, daß ſie nicht bey Sinnen.

e) Die Barbel ſagt: am Mittwochen Morgen fen die Vrena ſo grauſam in dem Haus aus einem Gemach in das andere gelaufen, ſich im Kopf gehebende, fey aber bey gutem Verſtand geweſen, alſo daß die Nachbarsfrau zu ihr geſagt: es kann nicht anders ſeyn, als die Vrena hat Kindsnoth. Sie aber habe nichts reden wollen.

Als ihr im zweyten Examen die Wahrheit zu reden ernſtlich zu Sinn gelegt worden, hat ſie je letzte Aus⸗ ſag PT und gefagt:

. Seit dem Bluten habe fie je lange je böfere Ges ya und im Sinn gehabt, das Kind wie geſchehen hinzurichten, aus dem Grund, es habe dann ſchon genug

gedient und geeſſen.

2. Daß ſie, da ſie in Kindsnoͤthen geweſen, Niemand

geru⸗

SEE gerufen, ſey die Urſach, weil fie ein hartes Herz gehabt und das Kind nicht gewuͤnſcht.

3. Erſt um 11 Uhr habe ſie das erſte Weh bekommen da fen fie aufgeſtanden, und wieder niedergelegen; als fie das andere Weh angekommen, feye fie aufgeſtanden, über die Gellen geſeſſen, ſie habe nicht koͤnnen hinweg kommen, bis die Nabelſchnur zerriſſen, das Kind habe ſie ſo in dem Zuber liegen laſſen, und gemehynt, es wäre ſchon todt. Den 27. September auf beſchehene Citation der Leu— ten, die wiſſen moͤchten, daß Vrena noch bey ledigem Leib ſchwanger geweſen, ſind die Ausſagen des Ehemanns: es moͤchte geweſen ſeyn, aber ihm unwiſſend, ſonſt haͤtte er fie nicht zur Kirche geführt. Maria Tö** ſagt, fie habe dem Herrn Pfarrer nichts geſagt, als was im gan— zen Staͤdtlein geredt worden, fie koͤnne aber keinen Bes ſtand darum thun, noch einige Anzeig. Der Ehemann beſtaͤtigte ſeine Unwiſſenheit, auf ernſtes Andringen ſagte er, er habe das Gemurmel auch gehoͤrt, und ſie gefragt, er wiſſe nicht mehr, was ſie geantwortet; und nach lan- gem Staunen ſagte er, ſie habe nicht gelaͤugnet, aber ge— ſagt: was geht es jetzt dich an, du mußt die Leut reden laſſen. Dabey es geblieben; er beharrte darauf, daß waͤh— rend der Zeit er zu ihr gegangen, kein andrer bey ihr ge— weſen.

Auf dieſes hin iſt die Ke“ ernſtlich befragt worden; fie behauptete, hierin geſchehe ihr Unrecht, Gott wiſſe es, daß ſie unſchuldig ꝛc.

Hieruͤber iſt fie an die Folter geſchlagen, und aufge zogen worden, da ſie beſtaͤndig ausgerufen: Gott weiß! d

Peſtalozzi's Werke. VIII. 4

50 Gott weiß! daß ich unſchuldig bin, ich muß um einer Sache willen, in der ich unſchuldig bin, gepeinigt werden. “efennt ihre anderen Verbrechen, und jammerte immer⸗ hin, wenn ſie nur bey ihrem Soͤhnli waͤre!

Seelſorger⸗ Bericht.

Das Menſch ſeye ſehr unwiſſend, und glaube auf den Herbſt heimzukommen.

Spaͤterer Bericht: Es nehme zu an der Erfennts niß ſeines Heils.

Letzter Bericht. Es habe herzliche Reil und einen reinen Glauben an Jeſum.

Poſtſeriptum: Dieſen Morgen hat fie ſchwere Ruͤng (Gemuͤthsunruhe); ihre Schweſter hatte fie auch beſſer vergaumen koͤnnen, aber auf Zuſpruch ſich wieder gefaßt.

Vorſchritt zu einem groͤßeren und noch ent— ferntern Ideal.

Ich ſtelle mir einen Fuͤrſten vor, deſſen Geſetzgebung im Ganzen den weſentlichen Beduͤrfniſſen der menſch— lichen Natur entſprechen wuͤrde, und erforſche die Bahn, auf welcher dieſer dem Graͤuel des Kindermords entge— genwirten wuͤrde.

Ueberzeugt von dem allgemeinen Zuſammenhang aller Schwaͤchen, Fehler und Laſter des Menſchengeſchlechts und von den grenzenloſen Folgen dieſes Zuſammenhanges, wenn ſeine unter ſich ſo enge verbundenen Verirrungen nicht im Innern der Menſchennatur ein abſchreckendes und

51 zu einer entgegengeſetzten Richtung des Geiſtes und des Her— zens hinlenkendes Gegengewicht finden uͤberzeugt, auf der andern Seite, von dem eben fo allgemeinen Zuſammen— hang alles Guten unter einander, von dem Einfluß einer jeden guten That, einer jeden reinen Geſinnung, einer jeden wahren Erkenntniß und einer jeden rechtlichen und menſch— lichen Anſicht der Dinge auf die allgemeine Entfaltung, Be— lebung, Ausbildung, Veredlung und Wiederherfiellung aller Grundlagen und Grundkraͤfte der Menſchennatur, gruͤndet mein Geſetzgeber das Werk ſeiner Geſetze auf die innern, hoͤhern Anlagen, die Gott ſelbſt in die Menſchheit gelegt hat.

Das Wohl der Menſchheit auf die Ausbildung und Veredlung ihrer Anlagen zu bauen, die Menſchheit auf die Höhen innerer Größe und reiner Tugend empor zu lenken, und ſie vor der Zerruͤttung ihrer Grundtriebe und vor den Tiefen des Laſters zu bewahren, das iſt der oberſte Endzweck ſeiner Geſetzgebung.

Und ſo wie er aus der innern Natur unſers Weſens die Regeln und Grundfäge feiner Geſetzgebung erforſcht, fo erforſcht er auch die Wege Gottes, und die Alt und Weiſe, mit welcher er die Menſchheit durch ihre Verhaͤltniſſe und durch die Genießungen zufaͤlliger Güter ſegnet, und ſucht auch diesfalls in ſeiner Tiefe der Bahn zu folgen, welche ihm in himmliſchen Hoͤhen Der vorzeichnet, der alles gut gemacht hat. Alles, wodurch er ſieht, daß Got- tes Vorſehung den Segen der einzelnen Menſchen und gan— zer Gegenden befoͤrdert, alles dieſes braucht er als Weg— weiſung, die ihm von oben herab zu feinem Zweck vor— leuchtet. Landesreligion, Nationalerleuchtung, Nationale

4 *

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vorurtheil, Nationalreichthum, Natſonalarmuth, Begeg⸗ niſſe von Gluͤck und Ungluͤck, die Thaten der Weiſen und den Unſinn der Thoren, alles, beſonders aber die Bande des Bluts und der Natur, die Bande der Freundſchaft und Liebe, fo wie die Bande der buͤrgerlichen Verhaͤlt⸗ niſſe, braucht er zu feinem Endzweck, um auf allen die⸗ fen Wegen Rahe, Tugend und Weisheit in die Herzen und Hätten ſeines Volks zu bringen. Er ſieht, daß die Mittel, durch welche Gott den Segen der Menſchen be— foͤrdert, in ihrem Weſen ungleich ſind. Er ſieht innere Grundbegriffe in unſrer Natur, deren feſtes und unerſchuͤt— tertes Daſeyn allen Menſchen unumgängliches Beduͤrfniß ihres Segens iſt. Er ſieht, daß ohne ein, in ſeinem In— nern zufriedenes Herz kein Menſch gläcklich, und daß zur allgemeinen Befriedigung dieſes Naturbeduͤrfniſſes Zutrauen auf Gott, Glaube des Herzens an ſeine Vaterguͤte in das Innere der Menſchennatur gelegt iſt.

Darum baut er auf den Glauben an Gott, die Tugend ſeines Volks, als auf den Fels, den Gott ihm gezeigt.

Der Menſch kann leiden und ſterben und befriedigt ſehn beym Glauben an Gott, d. h. alle Beduͤrfniſſe des Koͤrpers und des Geiſts koͤnnen durch das Zutrauen an die Vaterguͤte der Gottheit erſetzt und entbehrlich gemacht werden; aber den Mangel dieſes Zutrauens erſetzen der Menſchheit keine Genießungen der Erde, keine Ausbildung des Geiſtes und kein Sinnengenuß des Herzens. Alle dieſe Vorzuͤge und Genießungen ſegnen den Menſchen nur da» durch und nur dann, wenn fie auf dieſes oberſte Beduͤrf— niß unſrer Natur ſeſt gebaut ſind.

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Mein Geſetzgeber wirft feinen Blick auf das Gewirre des Erdenlebens, und die zufälligen Güter der Menſchheit erſcheinen ihm ſelber in Verbindung mit dem Gebrauch, den der einzelne Menſch von ſeinen Kraͤften und Anlagen macht, in einer faſt unerklaͤrbaren Verwirrung vor den Augen. Hier ſieht er einen mit vie em Verſtand ſich ſelbſt, ſeine Leibes- und Seelenkraͤfte zu Grunde richten; dort einen andern mit wenig Anlagen ſeine Leibes- und See— lenkraͤfte in Ordnung halten, aͤufnen, ausbilden und Stuf— fen von Vollkommenheit erreichen, die fuͤr ſeine Anlagen unerreichbar ſcheinen. Hier ſieht er unbegreifliche Dumm⸗ heit an einem, der weiſe ſeyn koͤnnte; dort unbegreifliche Kraft in der Anwendung ſeines Verſtands an einem, der ſeiner Anlagen halber Muͤhe hatte, nicht als ein Dumm⸗ kopf zu erſcheinen. Hier ſieht er einen, der mitten unter begünſtigenden Umſtaͤnden nichts anfangen, nichts ausrich— ten, nichts durchſetzen kann; dort einen andern, der allen Hinderniſſen trotzt, alle Schwierigkeiten uͤberſteigt, allen Mangel uͤberwindet, keine Kraft außer ſich ſelbſt ſucht, und Hoͤhen anklimmt, die fuͤr ihn unerreichbar ſcheinen; dort einen wie einen Muͤdling hinanklimmen, einen an— dern hinauffliegend nach gleichem Ziel, und beym Ziel ſelbſt iſt bald der Muͤdling unzufrieden, bald der ſo hinaufflog, und bald beyde. Hier ſieht er einen mitten im Gewuͤhl des Reichthums weiſe, dort einen beym einfachſten Leben thoͤrichter als alle Reichen. Hier ſieht er einen Armen ſich emporbilden zur Ruhe, zur Weis heit und Tugend; dort ſieht er einen andern ob dem bloßen Schein, ob der bloßen Gefahr der Armuth verzweifeln. Eine ſolche Vers

54 wirrung findet mein Geſetzgeber in den Folgen der zufälli- gen Gaben Gottes an die Menſchen. Aber in allem die— ſem Gewirre entdeckt er immer den unausſprechlichen lauten Ruf der Gottheit an das innerſte Heiligthum des menſchlichen Herzens, dieſe Gaben allgemein als Gaben ſeiner Vaterguͤte zu erkennen, ſie in Liebe mit einander zu genießen und ihren frohen Genuß keinem Erdenſohn, keinem unſerer Brüder druͤckend mangeln zu laſſen, weil fuͤr alle genug da iſt. Er ſieht aber auch, daß dieſer Ruf Gottes an die Menſchheit im allgemeinen nichts weniger als erkannt und beherzigt wird. Er iſt aber zugleich uͤber⸗ zeugt, daß er von dem Menſchengeſchlecht nur in ſo weit wahrhaft anerkannt und beherzigt werden kann, als es ſich durch Gottesfurcht zu der ſünlichen Kraft, dieſe An⸗ ſicht wahrhaft beherzigen zu koͤnnen, zu erheben vermag. Er ſieht, daß der Menſch beym Mangel der Liebe Gottes und des Naͤchſten ſich ſelbſt allen Genuß der Erdenzuͤter verbittert, und hingegen den Mangel der Erdenguͤter beym reinen Genuß der Liebe Gottes und des naͤchſten leicht traͤgt. Er ſieht dieſe reine Gottes- und Menſchenliebe ſich allge» mein durch die einfachſten Wege in aller Menſchheit ent⸗ huͤllen. Er ſieht fie in der ſtillen Hätte des Landmanns, in der Vaterliebe gegen ſeine Kinder und in der Kinder⸗ liebe gegen ihren Vater ſich entfalten. Er ſieht ſie auf der bluͤhenden Wieſe, beym reifenden Korn und beym Genuſſe des frohen Safts der Trauben und des milden Safts der reinen Milch, beym Anblick der waͤrmenden Sonne und der ſeelerhebenden Freuden der Nacht auf allen die— ſen Wegen ſieht er die Guͤter der Erde dem frommen,

55 gottesfuͤrchtigen Sinn der Menfchennatur zum Segen werden.

Er ſieht, beſonders auf dieſer Bahn, haͤusliche Liebe und Liebe Gottes, haͤusliche Freuden und Freuden der Religion mit ſchweſterlich umſchlingenden Armen neben einander wohnen. Er ſieht im Gegentheil hinwieder, auf entgegengeſetzter Bahn, ſteigende Leidenſchaften und wilde Begierden die reinen Genießungen des haͤuslichen Le— bens und ſeiner Segnungen zerſtoͤren. Er ſieht in den Schranken der haͤuslichen Genießungen und der anſpruch— loſen Arbeitſamkeit die Liebe Gottes und des Naͤchſten am einfachſten ſich bilden, erhalten und ſtaͤrken, und je genauer er die Folgen des Gluͤcks und Ungluͤcks, das in der Welt iſt, ins Aug faßt, deſto auffallender wird ihm

1. Daß alle zufaͤlligen Genießungen des Gluͤcks ohne Liebe Gottes und des Naͤchſten den wahren Segen der Menſchennatur nicht begruͤnden, ſondern im Gegentheil untergraben;

2. Daß alles Leiden des Menſchen, der ſeinen Gott und feinen Nächften aufrichtig liebt, ihn nicht wahrhaftig ungluͤcklich macht, ſondern ſeine innern Kraͤfte ſtaͤrkt und bildet, und ihn ſelbſt uͤber alles Elend emporhebt;

5. Daß die reine Liebe Gottes und des Naͤchſten, die fo unumgaͤngliches Beduͤrfniß unſrer Natur iſt, am reinſten und beſten im frommen und frohen Genuſſe unſerer milienverhaͤltniſſe emporkeimen.

Desnahen ſucht mein Geſetzgeber ſein Volk auf den einfachen Wegen der Natur zur Liebe Gottes und des

56 Naͤchſten, zur Begrindung, Sicherſtellung, Belebung und Veredlung der Segnungen des haͤuslichen Lebens * zuheben und darinn ſicher zu ſtellen.

Aber es iſt hier nicht der Ort, zu zeigen, wie er die⸗ ſes im Allgemeinen auszufuͤhren verſuche; ich muß mich dem urſpruͤnglichen Gegenſtand, von dem meine geaͤußerten Anſichten ausgingen, wieder naͤhern, und wenn ich dem Faden meiner Betrachtungen von oben herab folge, ſo ſehe ich, daß der Staat, der dem Kindermord Einhalt thun will, dahin zielen muß, daß die ganze Kraft ſeiner Geſetzgebung dahin lenke, reine Gottes und Naͤchſtenliebe und ſtille, bildende haͤusliche Genießungen allgemein ſicher zu ſtellen. Faſſet die Reihe der Quellen des Kindermords noch einmal ins Auge, und ſagt, ob nicht in der ganzen Verſchiedenheit ihres Anſcheins dennoch allenthalben auf⸗ fallend iſt, daß Mangel der Liebe Gottes und des Naͤch— ſten, und zerſloͤrte haͤusliche Tugend und zerfiörter haͤus⸗ licher Segen, welcher immer in aller Menſchheit den Man⸗ gel der Liebe Gottes und des Naͤchſten begleitet, die hoͤhern und vorſtehenden Urſachen und Quellen der ungluͤcklichen That geweſen, und daß uͤberhaupt alle Menſchen, welche Gott und den Naͤchſten lieben, und ihre Faͤhigkeiten, An; lagen, Verhaͤltniſſe und Umſtaͤnde, ſie moͤgen noch ſo klein und eingeſchraͤnkt ſeyn als ſie wollen, ſtille, beſcheiden, thätig und dankbar gegen Gott und den Menſchen zu Nutzen ziehn, dadurch auf die befte, allgemeinſte und ficherfie Art vor den Tiefen des Elends und den Verſuchungen des Laſters und der Verbrechen bewahrt werden. Koͤnnt ihr das laͤugnen? Menſchen! fo redet. Koͤnnt ihr es nicht,

57 fo ſeyd nicht unbillig, die Behauptung, daß mein Geſetz⸗ geber ſein Werk in dieſen Hoͤhen anfangen und all ſein weiteres Thun auf die Sicherſtellung dieſer vorzuͤglichen und erfien Bedärfniffe der menſchlichen Gluͤckſeligkeit bauen muͤſſe, zu verſpotten.

Er wird auch herunterkommen von ſeinen Hoͤhen in euern Geſichtskreis, ihr Unglaubige! Ja, Menſchen! er» leuchtete, weiſe, bedaͤchtliche, gutherzige, geſchaͤftige Men⸗ ſchen! ihr ſeyd unglaubig gegen alles, was hohe, einfache, reine und allgemeine Wirkung aufs menſchliche Herz ſucht. Aber mein Geſetzgeber geht die Wege, die ihm der Ur- heber ſeiner Natur in ihm ſelber enthuͤllt, mit Glauben und Zutrauen auf Den, der das Menſchenherz gebildet. Und mit Glauben auf Den, der alles gut gemacht hat, folgt er beſonders den Spuren der goͤttlichen Weisheit in der Beförderung der Mittel und Wege, die erſten, vor⸗ züglichſten und ſtaͤrkſten Wuͤnſche der Menſchheit allgemein zu befriedigen. Ha, mit reicher Hand hat der Herr ſie ausgeſtreut, die Freuden des Lebens, und die Befriedigung der erſten Wuͤnſche deines Herzens iſt allenthalben an dei— ner Hand und an deiner Seite, Sohn der Erde! Aber die Menſchen haben die Guͤte des Herrn, der die Erde mit Ueberfluß ſegnete, verkannt. Unbruͤderlich haͤuft der Starke die Blumen des Lebens zuſammen; aber die Blu⸗ men des Lebens faulen auf ſeinem fuͤndlichen Haufen, und ſie welken in der Hand deſſen, der ſie raubgierig ſammelt. Ha, der Herr hat fie nicht geſchaffen, daß fie nur Wenige koſten, darum duften ſie nicht Wohlgeruch fuͤr den Mann, der fie uͤberweidig und gewaltthaͤtig feinen Vruͤdern raubt.

58 Das Feld iſt weit, in welchem mein Bild von allen Seiten im hellen Licht ſteht; aber ich habe jetzt nur einen Geſichtspunkt im Auge, und ſchraͤnke mich ein.

Unſere politiſche Einrichtungen, welche in tauſenderley Formen unſere Eitelkeit über das Verhaͤlnniß unſers Brod— korbs emporheben und dadurch das eheloſe Leben ſo all— | gemein verbreiten, find die vorzuͤgliche und erfie Quelle

der Graͤuelthaten, denen wir nachforſchen.

Der verworfene Jude, deſſen Glauben ihn zwingt, ſeinem Sohne, ſobald er mannbar, Brod und ein Weib zu verſchaffen, weiß nichts pon dieſen Graͤueln, und fo unter den Chriſten einige von den Sekten, die es ſich zur Angelegenheit machen, der Eitelkeit und dem Hoch— muth ihrer Brüder gelinde Schranken zu ſetzen, und kei— nen von ihnen ſo leicht ohne Brod und ohne ein Weib zu laſſen, ſind im gleichen Fall. Und mein Geſetzgeber findet es nicht unter ſich, von der Weisheit der Verworfenen, und von den Erfahrungen der Verachteten Nutzen zu ziehn, und ſorgt dafuͤr, daß ſein Volk allgemein Brod und die Soͤhne ſeines Lands allgemein und zu rechter Zeit Weiber finden; und damit das moͤglich werde, ſo ſorgt er, daß die etwas reicher und wohlhabender gewordenen Nachkom— men der zuͤnftigen Handwerker unſerer Städte ihr Sehn und Leben, ihr Thun und Laſſen nicht zum Ruin ihres Stands ihnen unpaſſenden Etiquetten-Anmaßungen unter⸗ werfen, fondern ſich an Lebensweiſen gewöhnen, bey wel: chen ſie auch wieder, wie ihre Vaͤter, in den Stand kom— men koͤnnen, ſich ſchlecht und recht, und ſo wie ſie wohl

59 konnen und mögen, aber mit Gott und Ehren, mit Weib und Kind durch die arme Welt zu bringen.

Er fängt aber auch hier fein Werk nicht bey den nies dern, ſondern bey den hoͤhern Staͤnden an. Er ſetzt feſte und ſtarke Graͤnzen den ausſchweifenden Sitten der Edeln, der Krieger und ihrer buͤrgerlichen Affen, und es iſt ſein Ernſt, daß dieſe vorzuͤgliche Volksklaſſe ſich nicht durch ihre Sitten in Lagen ſetze, in denen fie jo viel als allge— mein nicht heurathen duͤrfen; es iſt ſein Ernſt, daß der Vorrang der hoͤhern Volksklaſſen fie nicht zu Handlungen und Lebensweiſen berechtige, und nicht zu Sitten verfuͤhre, die unumgaͤnglich dahin wirken muͤſſen, die reine, ſtille, haͤusliche Gluͤckſeligkeit der niedern Volksklaſſen zu unters graben.

Er ſetzt auch dem Unweſen der Gilden- und Zunft— einrichtungen, welche ehedem unſchaͤdlicher geweſen ſeyn mögen, gegenwärtig Schranken, und ſchont eben fo wenig den Ausſchweifungen, welche von den Freyheiten des Aka— demieweſens veranlaßt werden. Er ſieht den Hochmuth des gemeinen Manns Millionen Menſchen, deren Stand ſie zu Handarbeiten fuͤhren ſollte, dieſen immer mehr aus— artenden Schulen für müſſigere und hoffaͤrtigere Brod— quellen, die aber bey hundert und hundert von ihnen zu Hunger⸗ und Elendquellen werden, aufopfern. Er ſieht zahlloſe dieſer akademiſchen Handwerksburſche zu Grunde gerichtet in ihre buͤrgerlichen Haͤuſer zuruͤckkehren, und unter Verachtung, Hohn und Elend ſich ſelbſt und dem Vaterland ein Leben verlieren, welches bey gemeinen Berufen ihnen ſelbſt und dem Vaterlande ſegensvoll hatte

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werden koͤnnen. Er entdeckt in dem Muͤſſiggang und in den Anmaßungen dieſer in und für ihren Stand ſo viel— ſeitig mißleiteten Buͤrgersſoͤhne eine ausgedehnte Quelle des immer ſteigenden Sittenverderbens des ganzen bürgerlichen Stands, und des damit verbundenen Steigens aller Arten von Verbrechen und Noth und Graͤuelthaten.

Ihn lenkt weder das Brodgeſchrey der muͤſſigen Buͤr⸗ ger, noch der geſigelte Proteſtationsbrief des Stadtraths, der die Schwaͤchung ſeiner Zollrechte auf Menſchen, We⸗ gen und Vieh vorweist, von ſeiner geraden Bahn. Er antwortet dem Stadtrath, der Zoll ſey um des Menſchen und der Menſch nicht um des Zolls willen erſchaffen, und es ſey beſſer, der Zoll gehe um des Menſchen willen, als der Menſch um des Zolls willen verloren und den Buͤrgern, es ſey ihnen beſſer, daß ſie bey einem grünen Kraut die Tugend und die Selbſtſtaͤndigkeit ihrer Gefchlech- ter erhalten, als daß ihre Soͤhne, wie es bey ſo vielen unter ihnen der Fall iſt, in Hauslehrer⸗, Schreiber- und

' Wiben Dienſten dig Sitten, Ehre, Kraͤfte und Tugenden 2 ihres Stands verlieren und ihre Schweſtern noch anreizen, in Kinder, Stuben- und Kammermaͤdchendienſten dem naͤmlichen Schickſal entgegen zu gehn.

Einlenkung des Gegenſtands auf die Natur aͤchter Schulanſtalten.

Er faͤngt auch ſeinen geſetzgeberiſchen Einfluß gegen den Kindermord ſchon bey den erſten Stuffen des menſchlichen Alters an. Er ſieht im Ungehorſam und in der Frechheit und noch mehr in der Heucheleh und Verſtellung des Kin-

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derſtands eine vorzuͤgliche Quelle des Uebels, und weiß, daß ein reines, beſcheidenes, folgſames Kinderherz ſelten in Lagen kommt, die zu dieſen Graͤueln auch nur anreizen. Darum ſucht er fein Volk dahin zu lenken, daß feine Hause väter und Hausmuͤtter ihre Kinder allgemein zu einem reis nen, frommen Gehorſam und überhaupt zu einem ſtillen, edeln, eingezogenen, beſcheidenen Weſen emporheben. Er ſucht in dieſem Geſichtspunkt die Eltern ſeines Lands in den Stand zu ſtellen, ihren Kindern den Realunterricht, den ſie beduͤrfen, ſo leicht, ſo einfach und rein allge— mein, ſelber in ihrer Wohnſtube und an ihrer Seite, ge— ben zu koͤnnen, als ſie dieſes wahrlich in einigen beſon— dern Stuͤcken mit ihrem guten Rath und ihren reinen Zurechtweiſungen und den feſten Anweiſungen, allerhand Sachen recht anzugreifen und zu behandeln, ſchon tau= ſendfach thun, ohne es zu wiſſen.

Er verhehlt dem Staat die auffallende Wahrheit nicht, daß durch blindes Zutrauen auf ſchlechte Schulanftalten zahlloſe Menſchen verloren gehn, und die erſten Grund— keime der Schamloſigkeit, der Unſittlichkeit, der ſchaͤdlich— ſten, trotzigſten Vorurtheile und einer unglaublichen Ent— kraͤftung der Menſchheit, in den Irrthuͤmern dieſer Anſtal— ten zu ſuchen ſind, deren Verbeſſerung ohne vorhergehende Emporhebung des Volks zu Erfuͤllung ſeiner Hauspflichten freylich unerreichbar iſt.

Man ruͤhme, was man will von den guten Folgen der Schule, ich werde nicht widerſprechen, alles iſt wahr, wenn es da iſt; aber die Haut des Menſchen iſt mehr werth als ſein Rock, und das Kind ſeines Vaters und

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feiner Mutter bleiben iſt mehr werth als ſchreiben und leſen koͤnnen. Und noch mehr, Unwiſſenheit iſt beſſer als Erkenntniß, die nur Vorurtheil und Brille iſt, und langſam ſelber aͤuf eigene Erfahrungen kommen iſt beſ— ſer, als ſchnell Wahrheiten, die andre Leute einſehn, durchs Auswendiglernen ins Gedaͤchtniß bringen, und mit Worten geſaͤltigt, den freyen, aufmerkſamen und forſchenden Beobachtungsgeiſt ſeines eignen Kopfs verlie— ren. Noch mehr, die Unwiſſenheit des Hauskinds iſt lern— begierig, der Irrthum des Schulkinds iſt unausloͤſchlich. Das Haustind braucht feine Augen und Ohren in allweg, das Schulkind ſieht und hoͤrt mit den Augen und Ohren des Schulmeiſters. Noch mehr, der Vater hat ſein Kind allein, der Schulmeiſter die Kinder des ganzen Dorfs; der Vater, der es will, kann ſeine Wohnſtube leicht ſo froh und rein und gut ſtimmen, als es zur freyen, edeln, guten und reinen Bildung ſeines Kinds nothwendig iſt und der Schulmeiſter, der das kann gieb ihm alle deine Kinder, Stadt und Dorf, wo er wohnt er thut goͤtliche Werke aber ich kenne ihn nicht.

Ich will mit allem dem nicht mehr ſagen, als daß die Schulanſtalten im Allgemeinen nur in fo fern zur Bes förderung der Sittlichkeit und Gluͤckſeligkeit der Menſchen wirken, als ſie auf die hoͤher und weiter fuͤhrende Erzie— hung, die nur Eltern geben koͤnnen, gegründet und diefer _ mit weiſem Verhaͤltniß untergeordnet find.

Dieſe Wahrheit wird reifen, wie alle andere Wahrheit reifen muß, und im naͤchſten Jahrhundert wird man die Faͤhigkeiten der Schulmeiſter „an der Biegſamkeit, mit

| 63 „ihren Lehrfaͤchern in die beſondern Lagen der einzelnen „Hausvaͤter hineinzuſchalten, und nahe und fihtdare Ende „zwecke für das Hausgluͤck und für Berufsbildung ihrer „Eleven zu erzielen“ pruͤfen.

Ich habe aber die Pflicht der Vaͤter und Muͤtter, ihre Kinder, was ſie immer koͤnnen und moͤgen, ſelber zu leh— ren, jetzt nur als Mittel zur Sicherſtellung, Veredlung und Verengerung der Naturverhältaiffe zwiſchen Eltern und Kindern angeſehn, in ſo fern ich dafuͤr halte, daß in der reinen Ausbildung dieſer Verhaͤltniſſe die allgemein ſten Quellen alles Menſchenſegens, der auf einem ſtillen, from— men, verjiändigen und arbeitſamen Leben beruht, liegen, und in dem folglich auch die vorzüglichſten Mittel gegen alle Verbrechen, welche durch die Aufloͤſung der Kraft vies ſer haͤuslichen Verhaͤltniſſe erzeugt und veranlaßt werden, geſucht werden muͤſſen. In dieſem Geſichtspunkt ſoll das Kind meines Geſetzgebers an der Hand ſeines Vaters und an dem Arm ſeiner Mutter, als ſeinen erſten Lehrern und Wohlthätern, emporwachſen, und ſein Vater und ſeine Mutter werden an ſeiner Seite, ſo gewiß ihnen ein wah— res Vater- und Mutterherz nicht mangeln wird, lernen, ihm mehr Vater und mehr Mutter zu ſeyn, als wenn ſie auf der erſten Akademie unſers Welttheils drey Jahre lang über das Weſen und den Umfang der Vaters und Mut— terpflichten die beſten Vorleſungen angehoͤrt haͤtten. Und die Kinder! o Menſchen! duͤrft ihr zweifeln, daß ihre Bil— dung nicht tiefer, reiner und feſter ſehn wuͤrde, wenn ſie ihre Pflichten im Heiligthum ihrer Wohnſtube und in An⸗ ſchauungen, die dem Heiligthum der Wohnjlube eigen find,

64 | erlernen würden; dürft ihr zweifeln, daß fie an der Seite guter Eltern nicht beſſer zu aller Weisheit und zu aller Tugend gebildet wuͤrden, als wenn ſie von ihrer Seite weggeriſſen ohne Water: und Muttereinfluß auf ihre Bil⸗ dung gelaſſen wuͤrden. Nein, nein, der Menſch darf auch in dieſem Fall den Brunnen des lebendigen Waſſers nicht verlaſſen, und auf Sodbruͤnnen, die kein Waſſer haben, feine Hoffnung ſetzen. Die Stimme der Natur, die Stimme der veredelten, der ſittlich erhobenen Natur iſt allmaͤchtig. Sie machte Joſeph in der Stunde der Verſuchung ausſprechen: „wie ſollte ich ein ſo großes Uebel thun, und wider mei⸗ nen Gott ſuͤndigen.“ Und wahrlich, das Gefuͤhl der ver— edelten, der erhabenen Natur, das ſich in den Gefuͤhlen der Kinderliebe gegen ihre Eltern allgemein ſo rein, ſo zart, ſo kraftvoll ausſpricht, macht tauſend und tauſend Kinder guter Eltern in der Stunde der Verſuchung ausſprechen: wie ſollte ich ein ſo großes Uebel thun, und meinem guten Vater und meiner guten Mutter mit dieſer Suͤnde einen ſolchen Jammer anrichten. So rettet die Stimme der Natur, die ſich im kindlichen Pflichtgefuͤhl ausſpricht, tau⸗ ſend und Millionen Kinder guter Eltern in der Stunde der Verſuchung, und es iſt in der Belebung, in der Erhaltung, in der Verſtaͤrkung und in der Veredlung dieſes Pflicht» gefuͤhls, worin mein Geſetzgeber die erſten Huͤlfsmittel gegen die Uebel des Kindermords und aller Verbrechen, welche in der Schwaͤchung der Stimme der veredelten Natur, die ſich in den reinen Verhaͤltniſſen des haͤuslichen Lebens fo maͤchtig und kraftvoll ausſpricht, ihre Quelle zu ſuchen.

Aber wer wird fie hören, die Stimme dieſes Geſetz⸗ gebers

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gebers in dem Lermgeraͤuſch des Laſters unfver Zeit, deren Staatskunſt lieber den jauchzenden Ruf des Werbers: „wer Vater und Mutter nicht folgen will, der komme zu „mir und diene dem Koͤnig, zu dem ich ihn von Vater „und Mutter weg hinfuͤhren will“ hoͤrt, als die ſtille Stimme 8 der Weisheit: „Kind! geh' in deine Huͤtte, folge deinem „Vater und deiner Mutter, auf daß es dir wohl gehe „dein Lebenlang“ —! 0

Von dem Geſchlechtstrieb und den urſachen feiner allzufruͤhen Entwicklung.

Auch die Sorgfalt der Natur, den Geſchlechtstrieb langſam zu entwickeln, iſt meinem Geſetzgeber Wegweiſung in feiner Art und Weiſe, den Quellen des Kindermords Einhalt zu thun; und er findet, daß der Menſch, der im Schweiß ſeines Angeſichts ſein Brod ißt, langſam reift. Er ſieht den Sohn und die Tochter des weiſen Landmanns (Kleinjogg) in einer Kammer ſchlafen, ihre Schamhaftig⸗ keit erhalten und reines Herzens ſeyn im reifenden Alter. Der ſtaunende Städter fragt den weiſen Landmann: hat das da keine Gefahr? Und feiner Sache ſicher, antwortet der Landmann: nein, das hat keine Gefahr bey Leuten, die muͤde ins Bett gehn.

Aber mein Geſetzgeber ſieht dann auch gute Söhne frommer Buͤrger und weiſer Edler, die nicht im Schweiß ihres Angeſichts Brod ſuchen und nicht muͤde ins Belt gehn, dennoch ſpaͤt reifen; aber er findet, daß auch dieſe, den Tag über in thaͤtiger Geſchaͤfligkeit eine Erziehung genoßen, in welcher ihr Gehirn nicht durch die boͤſen Bil—

Peſtalozzi's Werke. VIII. 5

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der einer erhitzten Einbildungskraft, die im Muͤſſiggang, in niederer Sinnlichkeit und in den Tiefen der Gottes⸗ vergeſſenheit Nahrung finden, verdorben worden. Hin⸗ gegen ſieht er auch auf dem Land den muͤſſig erzogenen, einzigen Sohn des Schulzen, den gemaͤſteten Sohn des Wirths, des Muͤllers und des Kraͤmers, und in der Stadt Herrchen von aller Art, luͤftige Romanenhelden und magere Amazonen vor ihrer Mannbarkeit der Geilheit aufgeopfert, entkraͤftet und ſerbend.

Das Auge weiſer Eltern, einfache und reine haͤusliche Sitten, ernſte, geſchaͤftige Thaͤtigkeit in allen Staͤnden, Entfernung der Weichlichkeit in den Sitten der Jugend, nicht beſondere Zimmer fuͤr das unerzogene Volk, und Aufſicht, die Liebe iſt und zu Liebe hin fuͤhrt, reine Freu⸗ den erlaubt und zu Hoffnungen, zu guten, reinen Hoff: nungen fuͤr Zeit und Ewigkeit erhebt, das iſt die Grund⸗ ſtimmung der Sitten, durch welche mein Geſetzgeber bey ſeinem Volt und beſonders bey feinen Edeln der fruͤhzei— tigen Entwicklung des Geſchlechtstriebs vorzubiegen ſucht. Und indem er den reifenden Geſchlechtstrieb durch die ſich weit vor dieſem in ihm entwickelnde Schamhaftigkeit in feſten Schranken zu erhalten trachtet, unterſcheidet er die wahre Schamhaftigkeit der Natur vor ihrer heuchleriſchen Nachaͤffung. Dieſe, die vor der Natur und dem Natuͤr⸗ lichen ſelber erroͤthet und Eckel faßt gegen das, was Pflicht iſt, dieſe Nachaͤffung der Schamhaftigkeit, die aber keine wahre Schamhaftigkeit, ſondern ein bloßer Selbſtbetrug und ein Zeugniß der menſchlichen Schwaͤche und Kraft⸗ loſigkeit iſt, iſt dem kraftvollen Volk meines Geſetzgebers

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ein Vorwurf feiner Verachtung und feines Spotts. Die wahre Schamhaftigkeit, zu welcher er ſein Volk bildet, mildert die Rohheit unſrer Begierden, ſie lenkt uns ab von dem ſtillen Gift geiler Vorſtellungen, ſie hebt uns uͤber unreine Wuͤnſche, die ohne edlere Empfindungen von Liebe und Treue nur thieriſch raſen, empor, kurz, ſie iſt ein hohes, heiliges Veredlungsmittel der Genießungen des Geſchlechtstriebs, und ein reiner, freyer und froher Muth iſt immer der weſentliche Ausdruck der wahren Scham⸗ haftigkeit, wie er ebenſo immer der weſentliche Ausdruck der wahren Unſchuld iſt. Mein Geſetzgeber geht auch hierin nicht ſchwaͤcher in der Ausbildung feines Volks als die Natur ſelbſt. Er verhehlt dem reifenden Alter die Gegen» ſtaͤnde der ehelichen Pflicht nicht. Er entferut die reifende Tochter nicht von den Schmerzen der Geburt ihrer Mut— ter. Er laͤßt ſie nicht unbekannt mit den Beſchwerden und Zufaͤllen des ſchwangern Weibs. Er verbirgt und verdun⸗ kelt dem reifenden Juͤngling nicht die Geſtalt des Maͤdchens. So wie Gottes Natur alle Schoͤnheit nicht in nackter Bloͤße, aber immer im leichten Kleid und nie in einem, das We⸗ ſen der Schönheit ſelbſt verunſtaltenden und verkruͤppeln⸗ den Gewand darſtellt, fo ift die Kleidung, die mein Ge- ſetzgeber dem Maͤdchen des Lands gibt, rein, edel, leicht, wuͤrdig und die Bildung der Natur eben ſo ausdruͤckend als bedeckend. Und im Heiligthum der Wohnſtube ſcheut die ſaͤugende Mutter den reifenden Sohn nicht. Sie fuͤrch— tet nichts Boͤſes von der Erfuͤllung deſſen, was ihre taͤg— liche Pflicht iſt.

Der Sohn des Landmanns, der an der Seite der ſaͤu—

R *

0

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genden Mutter fein Morgen- und Abendgebet verrichtet,

reift ſpaͤt und der Sohn der Kaͤdtiſchen Dame, die ſich mit dem Säugling in ihr Kabinet fluͤchtet, damit er ihre

Entbloͤßung bey ihrer Pflichthandlung nicht ſehe, zahlt

frühe die Kammerjungfer für die Oeffnung des Mieders,

ſieht die Bruͤſte einer Hure, die er nicht zu ſehen ſuchen

wuͤrde, wenn ſeine Mutter ihren Saͤugling in ihrer Wohn⸗

ſtube nicht mit unnatürlicher Sorgfalt gegen ihn und feine

Unſchuld geſtillt hätte.

Aber indem mein Geſetzgeber den frohen, offenen, heitern Gang der Unſchuld befoͤrdert, huͤtet er ebenſo mit ernſter Kraft den erſten Keimen der Frechheit und Ungebundenheit des jungen Volks. Er befeſtnet alle Schranken von Ordnung und alle Bande der Beſcheiden⸗ heit und Sitten, deren Aufloͤſung die innere Scham⸗— haftigkeit des Volks zerſtoͤrt, und er haͤlt dieſe fuͤr einen heiligen Ausfluß der allgemeinen ſittlichen Kraft des menſch⸗ lichen Herzens, welche von allen Arten von Handlungen, die irgend einen Anſchein von Schlechtheit und Unwuͤrdig⸗ keit an ſich tragen, gleich empoͤrt, die Gefuͤhle des Ge⸗ horſams, der Treue, des Glaubens, der Liebe und der Ehrerbietung ebenſo gut bildet und ſchuͤtzt, als diejenigen der Keuſchheit. Er glaubt, daß, wo die wahre Kraft der Schamhaftigkeit einem Menſchen in irgend einer Reihe ſei⸗ ner Handlungen mangelt, da fey fie auch im Ganzen feines’ Charakters, und alſo auch in Ruͤckſicht auf die Keuſchheit, nicht in zuverlaͤſſiger Wahrheit in ihm gegruͤndet.

Desnahen fordert mein Geſetzgeber, daß ſein Volk nicht blos in Sachen der Keuſchheit ſchamhaft ſcheine, ſondern

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daß überhaupt wahre und allgemeine Schamhaftigkeit feine Tugend und Sittlichkeit in allen Verhaͤltniſſen und Be— ziehungen ſicher ſtelle, und lenkt desnahen ſeine ganze Kraft zur Ausbildung und Sicherſtellung der haͤuslichen Tugend ſeines Volks. i

Aus dieſen Anſichten fangen dann aber auch die we— ſentlichen Quellen unſerer Zeitunſittlichkeit und unſerer Zeit abſchwaͤchang an, ſich zu enthuͤllen. Es mangelt naͤmlich unſern Staatsgeſetzgebungen am allgemeinen, feſten, ein⸗ fachen, bildenden Einfluß auf die wahren Fundamente der haͤuslichen Kraft und der haͤuslichen Tugend des Volks. Die durch unſere egoiſtiſche Zeitverkuͤnſtlung irrgefuͤhrten Staaten konnten faſt nicht anders, ſie mußten egoiſtiſch werden, wie unſere Zeit es allgemein ſelbſt iſt, und in der Verblendung dieſes Zeitgeiſts faſſen fie das Menſchen— geſchlecht nur in feinen collectiven Verhaͤltniſſen ins Auge. Die Individualverhaͤltniſſe der einzelnen Menſchen und mit ihnen das innere, heilige Weſen der wahren Beduͤrfniſſe der Menſchennatur fallen ihnen unter dieſen Umſtaͤnden täglich mehr aus den Augen. Die Folgen davon find heiter. Der einzelne Buͤrger geht dem Verſinken ſeiner ſelbſt auf den. Wegen der Privatſelbſtſucht entgegen und die Staaten gehen dieſem Selbſtverſinken auf den Wegen der oͤffentlichen Selbſtſucht entgegen. So wie die anſchwellende Privat— ſelbſtſucht die heiligen Bande der Verhaͤltniſſe zwiſchen El- tern, Geſchwiſtern, Verwandten, Nachbaren, Geſpielen u. ſ. w. aufloͤst, fo löst die öffentliche Selbſtſucht die heiz ligen Bande, die, indem ſie alle Staͤnde im Staat unter einander verbinden, das fittliche, geiſtige, häusliche und

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buͤrgerliche Wohl des Ganzen begruͤnden, in ihrem Weſen auf; und es muß in begden Verhaͤltniſſen allenthalben dahin kommen, wo dem Verderben der oͤffentlichen und Privatſelb ſucht nicht in feinen Anfangspunkten, in feinen Quellen Einhalt gethan wird; es muß allenthalben dahin kommen, wo es an ernſter und weiſer Sorgfalt mangelt, die Jugend des Landes in den Schranken der wahren, aͤchten Schamhaftigkeit zu aller haͤuslichen Weisheit und zu aller buͤrgerlichen Kraft zu erziehn, deren ſie in ihren Privat- und in ihren öffentlichen Verhaͤltniſſen bedürfen.

Und hier zeigt ſich eigentlich, was uns am vorzuͤglich⸗ ſten mangelt, und worin wir im eigentlichen Verſtand vielſeitig ſelber hinter denjenigen Voͤlkern zuruͤckſtehn, die wir Barbaren nennen, die aber vor einem grauen Haupt auffiehn und die Alten ehren, und vorzüglich hinter un⸗ fern fo geheißnen unerleuchteten Altvaͤtern, bey denen Vaͤ— ter und Muͤtter allgemein in hohen Ehren ſtanden, und jeder, auch der unbedeutendeſte Lehrer bey feinen Zoͤglin— gen, denen er ſich aber auch ſchlecht und recht und ohne Anmaßung widmete, ein Anſehn hatte, das Gehorſam und Ehrerbietigkeit in die Herzen der Jugend zu pflanzen geſchickt war und das Menſchengeſchlecht in feinen erſten Bedürfniſſen Ordnung und Weisheit lehrte.

Aber die raſenden Verheerungen einer falſchen Ehrliebe, die ſich täglich ſtaͤrker in den Geiſt der Zeit und durch ihn in den Geiſt der Staatsverwaltung eben wie in den Geiſt des Privatlebens aller Bürger hineindringt, lenkt die Kraft alles deſſen, was die reinern und edlern Geſinnungen des Menſchengeſchlechts und ſeine wichtigſten und beſten Ge—

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nießungen ſichern ſollte, immer mehr beyſeits, und zerflört die beſten Grundlagen der Menſchheit, die ſeine Tugend und Weisheit in einfaͤltigern Zeiten ſchuͤtzten.

Ich wende mich auf eine andere Seite des Gegen⸗ ſtands. Es iſt immer ein vorzuͤgliches Ziel der Staats— geſetzgebung, die Handlungen der Regierung zu verein— fachen, und dieſe Vereinfachung iſt immer nur inſofern moͤglich, als die Regierung dieſelbe vorzuͤglich und allge— mein durch die Mitwirkung der ſtillen, geſicherten Wohn⸗ ſtube des Buͤrgers zu erzielen ſucht.

Desnahen iſt es auch in dieſem Geſichtspunkt ein vor⸗ zuͤgliches Ziel der Staatsgeſetzgebung, die haͤusliche Weisheit und Kraft des Bürgers allgemein zu befördern und zu dieſem Endzweck die engern Verhaͤltniſſe der Menſchheit allgemein warm und edelmuͤthig belebt im Volk zu erhalten. Der Buͤrger muß allgemein und vorzuͤglich fuͤr Weib und Kind, für Freund und Bruder, für Nachbar und Gemeindsge- noß ſorgen lernen; aber das ſollte er auch in Ruͤckſicht auf den Staat wohl lernen, denn es iſt auf dieſer Bahn, worauf er weſentlich und allgemein für dieſes Verhaͤltniß forgen und ihm dienen lernt. Der Vaterlandsgeiſt unſe⸗ rer Vorfahren hatte in dieſer engen Bildung ſeine erſte Nahrung; aber jetzt ſchwatzen unſere unbaͤrtigen Knaben in allen Winkeln von den Beduͤrfniſſen des Staats, folgen weder Vater noch Mutter, verſpotten die Unſchuld, bes. ſchimpfen das Alter, verwirren den Sinn derer, die der Hauszucht, der Gemeindsordnung, der Schul- und Kirchen⸗ zucht mit Ernſt das Wort reden; mitten indem ſie mit

72 großen Worten vom Menſchenrecht und leiblicher und gei- ſtiger Freyheit und ſolchen hohen Dingen ſprechen und dem oberflaͤchlichſten Geſchwatz darüber das Wort reden, gibt ihre öffentliche Denk— und Handlungsweiſe dem Geiſt aller Verbrechen Nahrung, und das wahre Wohl eines jeden Landes iſt ſicher g efähıdet, wo dergleichen Leute in öffentlichen, Geſchaͤften, als vorzüglich brauchbar angeſehn werden. Ich ſage auch dieſes nicht ohne Ruͤckſicht auf meine Anſichten über die Urſachen des Kindermords. Die unglücklichen Folgen des raſend wachſenden Ehrgeizes un— ſers Zeitgeifis und aller Erbaͤrmlichkeiten feiner Eitelfeits- anhaͤngſel ſprechen die Aufmerkſamkeit meines Geſetzgebers im hoͤchſten Grad an. Er unterdruͤckt in ſeiner National⸗ auferziehung mit jeder Kraft, die in ſeiner Hand iſt, die erſten Keime des unſittlichen Hochmuths und der fruͤh frechen Anmaßungsſucht der Kinder feines Volks in allen Stän- den. Er ſieht im Fruͤhreifen der Standesanmaßungen, wie im Fruͤhreifen des Geſchlechtstriebs, die erſten Quellen der Abſchwaͤchung unſerer Staaten, und er haͤlt auch das Vorziehn unbaͤrtiger und unfaͤhiger Männer und das Nach⸗ ſetzen erfahrner und ihrer Stelle gewachſener Maͤnner um ihres mindern Standes willen, ſo wie alle Urſachen, welche das ſtolze Herabblicken der Hoͤhern gegen die Niedern, ſo wie die Frechheit der Vorzugsanſproͤche im Fluͤgelkleid und in Bubenſchuhen naͤhren und beleben, fuͤr die eine ſehr vorzuͤgliche Quelle unſerer weſentlichſten Zeitübel. Er lehrt desnahen den jungen Edelmann, wie den Buͤrger, Brod für feinen Stand bey Arbeit, und Ehre und Würde bey den Folgen der Arbeit, bey dem Verdienſt ſeines Stands

75 ſuchen und finden. Er verhaͤrtet das Herz und verwirrt den Kopf ſeiner jungen Edeln nicht mit Affenſpielen von Praͤſidenten und Commandoſtellen, ehe ihnen ihre Kins derſtimme gebrochen, und wirkt ſo auf dieſer Bahn von oben herab gegen den hohen Kitzel der Eitelkeit und der Selbſtſucht, deren Folgen in allen Verhaͤlniſſen namenlos find. Er iſt überzeugt, daß er die Schamhaftigkeit der Nation in der Kraft ihres Weſens nicht wieder herzuſtel— len vermag, wenn er nicht auf der einen Seite den Ver— heerungen der Eitelkeit in allen Staͤnden in ihren Quellen Einhalt zu thun, auf der andern Seite die Ehrenfeſtigkeit aller und befonders der niedern Stände auf eine ſolide Weiſe zu begruͤnden im Stande ſeyn wird. Er ſucht desnahen die Ehrengenießungen der niedern Staͤnde, die genoſſenen Ehrenrechte aller, auch der kleinſten Städte und ſogar der gemeinſten Doͤrfer in ihrem Weſen zu erhalten und zu ſchützen. Er achtet die Erhaltung dieſer Ehrengenießungen fuͤr den weſentlichen Pfeiler des reinen Segens des Mit— telſtands. In eben dieſer Rückſicht und mit eben dieſer Sorgfalt ſchuͤtzt er denn auch die Nationaltrachten, Hands wertsverbindungen und Bauernanhaͤnglichkeiten an die Sit— ten und Gebräuche ihrer Vorältern, in fo fern dieſe Buͤr— gertrachten, dieſe Handwerksverbindungen, dieſe Bauern— anhaͤnglichkeiten ſolche Sitten, Denkungsarten und Geſin— nungen befoͤrdern, welche dieſen Staͤnden, ihren Erwerbs— mitteln und Erwerböverhältniffen angemeſſen und geeignet ſind, bey den Individuen eines jeden Standes eine Le— bensweiſe zu erzeugen, zu erhalten und ſicher zu ſtellen, die mit den weſentlichen Fundamenten alles deſſen in Ueber

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einſtimmung ſteht, was den wahren Segen dieſer Staͤnde zu begruͤnden geeignet iſt.

Beſondere Einleitung des Gegenſtands auf die Umſtaͤnde der Dienſtbothen.

Das Volk der Dienſtbothen erregt in dieſer Abſicht feine beſondere Aufmerkſamkeit. Er ſieht ihre zahlloſe Menge im eheloſen Leben ſich ſelbſt verderben. Er ſieht ſie in ihrem Alter vielſeitig mit den Schandzeichen des tiefſten Elends gebrandmarkt, als den verheerten Auswurf der Nation und die verſpottete Hefe des menſchlichen Geſchlechts unter allen Leiden der Entkraͤftung, Unzufriedenheit und Schande dahingehn. Er unterwirft desnahen ihren Stand einer Staatsſorgfalt, deren Beſtimmung dahin geht, der Verheerung deſſelben Einhalt zu thun, und zu ſorgen, daß die aus den Dienſten getretenen Knechte und Maͤgde uͤber— haupt als Mitglieder der Geſellſchaft zuruͤckkommen, die am Ort ihrer Heimath noch brauchbar ſind. Er weiß,

daß uͤberhaupt an allen Orten, wo viele Dienſte gehalten “=

werden, denſelben fehr leicht wäre, ſich verſchiedene Kennt; niſſe und Fertigkeiten zu erwerben und eigen zu machen, die ſie nicht blos mit Nutzen auf ihren Doͤrfern treiben, ſondern durch welche ſie ſich noch ſelber einen Vorſprung der Erwerbsmittel und Erwerbskraͤfte vor ihren dießfalls weniger gebildeten Mitdorfgenoſſen verſichern koͤnnten.

Und er ſieht in dieſen Ausſichten, welche eine weiſe Benutzung der Dienſtzeit dieſer ungluͤcklichen Klaſſe von Menſchen eröffnen koͤnnte, einen weſentlichen Standpunkt,

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auf welchen der Einfluß feiner dießfaͤlligen Staatsſorgfalt und der dafuͤr errichteten Behoͤrde gerichtet ſeyn muß.

Er fordert desnahen die in Berufsangelegenheiten uͤber— haupt und in den Localquellen der gemeinen Arbeitſamkeit beſonders erfahrnen und erleuchteten Männer auf, Mit⸗ glieder der verſchiedenen Behörden im Land, die er dieß— falls aufſtellte, zu werden. Ob ihnen allen iſt eine hohe Staatsoberaufſicht. Alle Dienſte der Staͤdte ſind unter die Aufſicht der Mitglieder dieſer Behoͤrden vertheilt. Ein jedes derſelben muß zu Handen der Oberbehoͤrde dieſer Staats— obſorge Ueberſehungstabellen uͤber die ihm uͤbergebene Zahl Dienſie halten, welche die allgemeinen und beſondern Aus— ſichten, die der Staat und ihre Heimath ſich von dieſen Leuten verſprechen duͤrfen, mit einem beſtimmten Detail ins Licht zu ſetzen geſchickt find. Die Gewiſſensraͤthe in den Provinzen, und bürgerliche, mit den Berufsſachen und Verdienſtquellen vorzuͤglich bekannte und erfahrne Maͤn⸗ ner find die Raͤthe dieſer Staatsoberaufſicht über die im Lande organiſirten, dießfaͤlligen Unterbehoͤrden. Die Pflicht jedes Mitglieds dieſer Behoͤrden geht dahin, den ihm an— vertrauten Dienſtbothen ausfuͤhrlich die verſchiedenen Er— werbsbranchen und Verdienſtquellen bekannt zu machen, die in der Stadt, in welcher ſie dienen, leicht zu erlernen und ihnen beym Zuruͤcktreten auf ihre Doͤrfer zu genug— ſamen Quellen eines ehrlichen Unterhalts dienen koͤnnen.

Sie haben ſich in der Art und Weiſe, ihren dießfaͤlli— gen Pflegekindern Rath und Wegweiſung in dieſem Fache zu ertheilen, genau nach den Localumſtaͤnden ihrer Hei— math zu erkundigen, um ſicher zu gehn, daß ſie mit ihrem

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Rath und mit ihren Wegweiſungen ſich nicht felber zum Schaden dieſer Leute irren, und fie nicht auf ſolche Ver- dienfibranchen lenken, die um beſonderer Localumſtaͤnde willen in ihren Dörfern allzuſchwierig oder gar unmöglich wären. Sie haben in den Berathungsſtunden, welche fie- dieſen Verlaſſenen ertheilen, dahin zu ſehn, daß die viel⸗ fachen Ausſichten eines gewiſſen und ſichern Verdienſts den Muth dieſer Leute emporheben, und daß die Luſt und Liebe, ſich dereinſt wieder in ihren Doͤrfern haͤuslich nies derzulaſſen, warm und lebhaft in ihnen bleibe. Mein Geſetzgeber hält es für eine vorzügliche Angelegenheit des Staats, daß dieſe Luſt und Liebe, ſich wieder in ihrer Heimath zu ſetzen, im Dienſtenvolk lebhaft unterhalten werde, und darum ſchraͤnkt er ihren Aufwand, ſo lange ſie in Dienſten ſind, ein, damit ſie ſo viel moͤglich nicht allgemein verzaͤrtelt und von unſinniger, unverhaͤltnißmaͤßi⸗ ger Gemaͤchlichkeit von der Anhaͤnglichkeit an ihre Heimath zurückzukehren abgelenkt werden; und er braucht die Knechte und Mögde feiner Städte jährlich etliche Tage zu beſtimm⸗ ten, gemeinen, offentlichen Frohndienſten, und das nur, um den verheerenden Ausartungen ihres Hochmuths, ihrer Gemaͤchlichkeit und ihres Muͤſſiggangs Schranken zu ſetzen.

Seine Sittenaufſicht theilt alljaͤhrlich einigen, auf ihre Dorfer zurückgetretenen Dienſten, welche ſich weiſe ver⸗ heurathet und für ihre Doͤrfer wichtige, neue Erwerbs— branchen und Verdienſtquellen eröffnet haben, ehrende Er⸗ munterungspreiſe aus ꝛc. ꝛc.

Freunde der Menſchheit! Ausſicht und Hoffnung zum ehelichen Leben iſt aller Menſchheit Schutzwehr, die Scham⸗

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haftigkeit zu ſichern, und Rath und vaͤterliche Wegweiſung in Berufs- und Brodangelegenheiten iſt der einfachſte Weg, Ausſichten und Hoffnungen zu einem gluͤcklichen, ehelichen Leben auf eine vernuͤnftige Art im niedern Volk allgemein zu machen. Und die geſicherte Schamhaftigkeit des Volks, die eine Folge der allgemein geſicherten Ausſicht zu Er— werbung eines rechtmaͤßigen Brods und zum ehelichen Stand iſt, iſt oberſtes und allgemeines Naturvorbeugungs⸗ mittel gegen die Thaten, die zu den Graͤueln des Kinder mords führen. *)

Mein Geſetzgeber baut wieder auf die innern Anlagen und Neigungen unfrer Natur.

Ich ſchreite weiter, zu ſehn, wie mein Geſetzgeber auch die innern Anlagen, Neigungen und Kraͤfte, welche bey Juͤnglingen und Maͤdchen, bey reifendem Alter, als An— lagen, Kraͤfte und Neigungen dieſes Zeitpunkts erſcheinen, benutze, die wahre Schamhaftigkeit im Volk allgemein ſicher zu ſtellen und dadurch den Quellen unſers Uebels abzuhelfen.

Er ſieht beym Juͤngling durch das lebendige Gefuͤhl ſeiner ausgebildeten Kraͤfte ſich einen maͤchtigen Stolz auf ſich ſelber, ſeine Unabhaͤngigkeit und Freyheit entwickeln.

„) Anmerkung. Ich bin überzeugt, der Traum dieſes Vor⸗ ſchlags und aller moͤglichen ahnlichen iſt nur durch den Vor⸗ ſchritt von Erziehungsmaßregeln moͤglich, die aber unend— lich tiefer wirken muͤſſen, als unſere, vom wirklichen Men⸗ ſchenleben abgeſonderte und darum auch daſſelbe in keinem Stand zu befriedigen faͤhige Schul- und Unterrichtsmitte! dieſes nicht zu thun vermoͤgen. 8

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Dieſer Juͤnglingsſtolz, dieſes Gefähl feiner Frepheit, bis er ſchmachtet, liebt und gebunden iſt, iſt das hohe Na⸗ turband ſeiner Schamhaftigkeit, das ihn auf reinen und heiligen Wegen zum dauerhaften Gluͤck der ehelichen Ge⸗ nießungen leitet. Daher huͤtet ſich mein Geſetzgeber, die⸗ ſen ſtolzen Juͤnglingsmuth in ſeinem Land zu ſchwaͤchen; im Gegentheil, er ſucht dieſen Muth vielmehr zu ſtaͤr⸗ ken. Durch ländliche, mit Muth erfüllende Spiele belebt er die natuͤrlichen Anlagen dieſes Zeitpunkts. Er ſieht die ſtarken, freyen Aeußerungen dieſes Juͤnglingsmuths, wenn auch ſchon nicht immer kalte Bedaͤchtlichteit fie genug⸗ ſam leitet, mit der Nachſicht an, die ein weiſer Vater feinem eigenen Sohne gönnt, wenn ſich feine Kräfte in dieſem Zeitpunkt enthüllen; denn er weiß, daß dem Juͤng⸗ ling den Muth dieſes Alters zu nehmen, ohne ihm den⸗ ſelben durch die ſanftern Bande der Liebe oder einer höhern Weisheit zu beſchraͤnken, nichts anders iſt, als die gefaͤhr⸗ lichſten Keime des ſtillen Laſters und verborgener Verbrechen in ihm zu entwickeln. Er huͤtet ſich daher, kleine jugend⸗ liche Kühnheiten mit tiefer Beſchaͤmung und entehrender Härte zu ſtrafen. Er mipbilligt Geſetze und Sitten, welche die ſich eben enthüllenden Kräfte der Menſchheit erfhüt-

ternd zurüͤckſtoſſen; und den Juͤngling, der feinem Belei⸗ diger etwa einen kraͤftigen Schlag ſetzt, wirft er nicht leicht in den entehrenden Thurm, ſondern weist ihn vaͤterlich zurecht mit Schonung feines Gefühls; denn er fuͤrchtet ſich, einen Verbrecher zu bilden, und weiß, daß er es thun wurde, wenn er den eben ſich enthuͤllenden Jugend⸗ ſtolz ob einer Handlung, die nicht Bosheit war, allzube⸗

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ſchaͤmend kraͤnken wuͤrde. Nein, er ſchont den Juͤnglingen, und mindert die Knabenfreuden des Landes nicht. Aber er ſucht ihren Stolz zum Edelmuth emporzuheben und ihre Freuden vor aller Niedertraͤchtigkeit und Schandbarleit zu reinigen. National- und Localkenntniſſe, Erleuchtung, Sittengewohnheiten und Vorurtheile u. ſ. w. geben dem Geſetzgeber dann naͤhere Leitung, wodurch und wie er an jedem Ort dieſen Endzweck der Veredlung des Juͤnglings⸗ muths, und dieſer Knabenſpiele erzielen koͤnne.

Eben fo wie der Juͤnglingsmuth iſt ihm der Maͤdchen⸗ ſtolz Sicherſtellung ihrer Schamhafligkeit und ihrer Tugend.

Aber er weiß, daß der Maͤdchenſtolz ſich verliert, wo das Maͤdchen ohne Ausſicht und ungluͤcklich iſt; ſo wie der Juͤnglingsmuth ſich verliert, wo die Juͤnglinge im Land. weder Hand noch Fuß regen, will geſchweigen, den Mund aufthun duͤrfen, ohne Gefahr, dafür verantwortlich ge— macht zu werden und beweiſen zu muͤſſen, daß die Bewe— gung ihrer Haͤnde, ihrer Füge und ihres Munds dem Va— terland keinen Nachtheil und keine Gefahr bringen koͤnne.

Er ſorgt dafuͤr, daß die Juͤnglinge des Landes fruͤhe lernen, fuͤr die Quelle des ſichern Frohſinns ihrer Tage, für ſelbſtſtaͤndiges Brod, mit eigenen Haͤnden zu ſorgen. Er ſorgt dafuͤr, daß das Heurathen armer Maͤdchen und armer Juͤnglinge allgemein leicht werde und die Ausſich— ten zum Eheſtand wohlerzogener Menſchen durchaus nicht ſchwer fallen muͤſſe. Maͤdchenſtolz und Knabenſtolz ſtirbt, wo dieſe Ausſicht mangelt; aber wo dieſe Ausſicht geſichert iſt, und Koͤrbe geben den Maͤdchen ein Spiel, und Koͤrbe empfangen den Knaben ſchwere Laſt iſt und ſchwere Buͤrde,

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ja, wo die Knaben um die Braven und Schönen eifernd buhlen, da werden die Knaben beym Buhlen noch braͤver, und bey den Mädchen wird unter dem Buhlen die Braͤpſte noch braͤver und die Schoͤnſte noch ſchoͤner. Die Freuden der Maͤdchen in dieſem Zeitpunkt ſollten dieſe meinem Ge⸗ ſetzgeber entgehn, daß er ſie nicht benutzte zur Sicherſtel⸗ lung aller Kräfte und Tugenden feines Volks, wozu fie die Vorſehung fo ſichtbar beſtimmt hat? Nein, fie entgehn meinem Geſetzgeber nicht, und auch ſein Alter erneuert ſich beym Anblick jugendlicher Freuden, und die Freuden des Maͤdchenſtands ſind dem Geiſt ſeiner Geſetzgebung heilig. Ja, das ſtolze Maͤdchengefuͤhl, das den Frauen» ſtand fuͤr Schande und Laſt haͤlt, bis es liebt, die mun⸗ tere Luſt des Maͤdchens, dem Juͤngling zu ſagen, „ich „will dich nicht ich will keinen ich will frey ſehn „ihr boͤſe Knaben ich will euer Joch nicht“ die kurze Freude des Maͤdchens, dieſes zu ſagen, bis es liebt und hinſinkt in den Arm des Juͤnglings, dem es geſtern ſagte, „ich will dich nicht“ die freye und frohe Munterkeit des reinen und guten Maͤdchenſtands, der den Juͤngling ſo ſtolz macht, wenn ſeine Geliebte ihm endlich „ja“ ſagt, iſt in der Hand meines Geſetzgebers ein kraͤftiges Mittel, die reine Tugend und Glüuͤckſelig eit feines Volks ſicher zu ſtellen, und er iſt weit entfernt, daß er den laͤndlichen und auch den kleinſtaͤdtiſchen Aeußerungen dieſes Mädchen- ſtolzes in ihren Verbindungen, Bruderſchaften, Gleich⸗ kleidungen, mit allen ihren kleinen Pumpaffektationen, Hinderniſſe in den Weg legen ſollte; er ſucht vielmehr, wie bey den Juͤnglingen durch Veredlung ihres Stolzes

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und nicht durch ſeine Unterdruͤckung, noch viel weniger durch Trennung der allgemeinen Maͤdchenverbindungen, die Freuden dieſes Stands zu hemmen, und es iſt ihm leid, wenn die Sitten des Volks ſo fein werden, daß ſelbſt die Maͤdchen keine allgemeine Freuden mehr mit einander und öffentlich haben, und ihr Stolz, in der Kirche und auf dem Markt Hand in Hand geſchlungen mit ein⸗ ander zu Dutzenden zu erſcheinen, ſich verliert, und dieſe allgemeine und öffentliche Eitelkeit des Corps in die beſon— dere, weit gefaͤhrlichere Eitelkeit des einzelnen Maͤdchens, alle andern auszuſtechen und allein zu ſchimmern, aus« artet. Und ſo wie den lachenden, froͤhlichen Muth des Maͤdchens, ſo braucht mein Geſetzgeber auch das empö= rende Gefühl deſſelben wider alles, was unanſtaͤndig ift und Schande veranlaffen kann, und ſucht mit allem feinem Einfluß auch dieſen Grundtrieb des Geſchlechts bey ſeinem Volk ſicher zu ſtellen und rein zu erhalten.

Aber er weiß auch, daß es unumgaͤnglich einen Grad von geſicherter Ehrenfeſtigkeit im Volk fordert, ehe der Geſetzgeber auf ausgebildete Grundtriebe der Menſchheit bauen kann; denn die hoͤhern Gefuͤhle der Natur erſterben im Herzen des Elenden, der mit ewiger, unausloͤſchlicher Schande belegt, durch keine ungekraͤnkten Menſchenge— nießungen zum Selbſtgefuͤhl ſeiner Anlagen, ſeiner Kräfte und ſeiner Rechte emporgehoben wird.

Was ſoll die Schamhaftigkeit der Negerin, deren Leib nicht ihr Eigenthum iſt? Was ſoll ſie dem Sklavenmaͤd— chen, welches bald ein edelgeborner Baͤrenjaͤger, bald des

Peſtalozzi's Werke VIII. 6

82 Baͤrenjaͤgers Meifter, ein Koſakenlieutenant, aus Laune mit der Knute geißelt?

Mein Geſetzgeber gruͤndet alſo die Nationalſchamhaf⸗ tigkeit des Volks auf einen Grad der Ehrenfeſtigkeit und geſicherten Lebensgenuß in den niedern Staͤnden, ohne welche das reine Naturgefuͤhl des Menſchen gewaltſam gehindert wird. Aufhebung der Leibeigenſchaft, wie ſie jest iſt, und aller Rechte, welche den Bauern in fei- nen Lebensgenießungen noch unter den Zuſtand der Leib— eigenſchaft hinabſetzen, kurz, allgemeine Feſtſetzung des Stands der niederſten Menſchheit in Lagen und Verhaͤlt⸗ niſſe, welche das Gefuͤhl der innern Wuͤrde und Hoheit unſrer Natur nicht zernichten, das ſind unumgaͤngliche Folgen des eben vorſtehenden Grundſatzes meines Geſetz⸗ gebers. Aber was ich fordere das iſt viel? oder wenig? wie ihr wollt, Menſchen! oder wie ihrs gebet. Denn es iſt gewiß, daß das alles bey ſehr kleinen Ge— nießungen dennoch Platz haben koͤnnte, wenn man dem Menſchen dieſes Wenige auf eine, ſein Herz erhebende und ſeinen Geiſt belebende Weiſe geben wuͤrde. Man mag nun gegen die Menſchheit thun, was man will und wie man's will, ſo wird ewig eine unwiderſprechliche Wahrheit bleiben, daß die Emporhebung der niederſten Staͤnde aus Lagen und Verhaͤltniſſen, die die reine Entfaltung der 1 Kräfte der Menſchennatur unmoͤglich machen, un; umgaͤngliches Beduͤrfniß der Nationalwuͤrde aller Stände iſt, und daß in dem niederſten und letzten Dorfe eine jede brave, arbeitſame, unbeſcholtene Ehren-Haushaltung eine Art von Achtung genießen ſollte, die ſie ſichtbar von allen

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liederlichen, verſchwenderiſchen, beſcholtenen Haushaltungen unterſcheiden und auszeichnen würde, und daß im nieder⸗ ſten Dorf die Ehrliebe des Volks allgemein zu einem Eh⸗ renfeſtigkeitston gereizt und emporgehoben werden ſollte; ja, das gute Muͤtterchen im Dorf ſoll auf ſeinen vollge— ſtopften Kleiderſchaft, an dem es die Tage ſeines Lebens fuͤr ſeine Kinder ſparte, und kuͤnſtelte, bis ſie ihn voll hatte, ſie darf und ſoll auf dieſen vollgeſtopften Schaft ſtolz ſeyn. Laß auch den Alten ſtolz ſeyn auf ſeine Freund⸗ ſchaft mit dem braven Pfarrer, auf ſeine Erkenntniß in der heidelbergiſchen Heilslehre, oder wenn du lieber willt und er's wohl hat, auf ſeine Kuͤhe, auf ſeine Aecker, auf ſeine bluͤhenden Söhne, oder worauf du in der Welt willt, nur gieb ihm etwas, daß er nicht ohne Stolz ſey, und fein Thun alle Aufmerkſamkeit auf Ehrenfeſtigkeit verliere und ſo ſich zur Niedertraͤchtigkeit hinlenke; und beym nie⸗ derſten Maͤdchen im Land lenke ſeinen Stolz, den du ihm nicht geben mußt, auf ein verdientes Bett und Kaſten und auf ſtarke reinliche Kleider. |

Es iſt Erfahrungsſache, daß wo die aͤußern Zeichen ehrenfeſter Sitten vernachlaͤſſigt werden, ſich auch das innere Weſen der wahren Schamhaftigkeit verliert, mit welchem Verluſt dann die Grundlage aller Verbrechen gelegt wird.

Daher huͤtet mein Geſetzgeber der Ehrenfeſtigkeit ſeines Volks und allen Sitten und Gebraͤuchen im Land, die fie fhägen und befördern. Aber auch hier iſt fein Huͤten nicht Herrſcherhut, welche die Menſchheit nicht bildet; nein, fein Huͤten iſt das muntere Huͤten eines Hirten, der ſeinen Schafen auf der ſanfteſten Flöte vorſpielt. Die

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Wölfe find fern, die Hunde ſchweigen, die Thfte Fühlen, die Schafe drängen ſich um den Baum des Hirten, er ſteht in ihrer Mitte und flötet.

Wann er ſchweigt, draͤngen ſie ſich enger an ihn, lecken ihm Hand und Stab und Floͤte und Aaſer. Mein Ge⸗ ſetzgeber ſitzt mitten unter feinem Volk, wie ein Schäfer, und ſingt ihm Lieder. N

Spottlieder über den Verſchwender, der Weder und Wieſen durch feine Gurgel hinabſchluͤrft Spottlieder über den Joͤngling, der frühe aufſteht zur Buhlſchaft und ſpaͤt zu der Arbeit, die dem Madchen, um welches er wirbt, Brod ſchaffen ſollte Spottlieder über das Maͤd⸗ chen, das träge iſt am Spinnrad, an dem es fein Braut⸗ bett ſpinnt und deſſen Faͤden zu dieſem Bett grob ſind, das ſchoͤn und rein ſeyn ſollte, zur Freude des Juͤnglings und zur ſpaͤten Zierde des Hauſes Spottlieder uͤber das Hoffartsmaͤdchen, das nichts ſpart, und bunte Roͤcke und Bänder nur hat und keine guten Hemder Spott— lieder uͤber Juͤnglinge, die behm Trunk und Spiel Thaler zeigen, und keine Aecker, keine Kühe und keine Web— ſtuͤhle haben Spottlieder über Juͤnglinge, die Liebe luͤ⸗ gen und Geld ſuchen Spottlieder über Keßlervolk, das Ehepfaͤnder nimmt, wieder zuruͤckgibt, und wieder nimmt Ehrenlieder der Arbeit, dem Fleiß, dem treuen Aus» harren, dem braven Stillſchweigen in der Liebe Ehren— lieder dem Braͤutigam der ſeine Braut ausſtattet und haͤlt wie brav Ehrenlieder der Braut, die ihrem Braͤuti⸗ gam mitbringt, was braͤuchlich iſt, und ihn haͤlt wie brav iſt über das alles, und noch über viel mehr, gibt

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mein Geſetzgeber feinem Volke warme Lieder, und ſucht beſonders den Maͤdchen im Land dadurch das Gefuͤhl fuͤr Schönheit und Ehre und den Abſcheu vor Schande und Spott auf Gegenftände zu lenken, die die wahre Scham haftigkeit der Nation ſicher ſtellen.

Ein, mit meinem Hauptgeſichtspunkt in Ver⸗ bindung ſtehenden, Hinblick auf Gluͤcksguͤter, Nepotisme, Staatsverſchwendung und Finanzoperationen.

Ich verfolge meinen Pfad noch einen Schritt weiter. Mein Geſetzgeber ſieht die Natur eben ſo ſparſam das, was man großes und ſchnelles Gluͤck heißt, ertheilen, als er fie uͤberfluͤſſig und wohlthaͤtig in der Befriedigung deſſen, was die wahren Beduͤrfniſſe der Menſchheit ſind, antrifft. Sie ertheilt ihren Guͤnſtlingen nicht an jeder Morgenauf— wart und bey jedem Handkuß uͤberwaidige Gaben, aber ſie ſichert der Menſchheit allenthalben bey einem weiſen und arbeitſamen Leben genugſamen Unterhalt. Sie ſcheint auch nicht beſonders beſorgt fuͤr die eigentliche Beruhigung ihrer anſcheinenden Guͤnſtlinge, aber ſie zeigt ſich allge— mein beſorgt fuͤr die Beruhigung des anſpruchsloſen, ſtil— len, arbeitſamen Haushaltungstons. Und es fällt allent— halben auf, daß wahre Beruhigung und haͤusliche Gluͤck— ſeligkeit behm Beſitz ausgezeichneter Gluͤcksguͤter ohne Vers gleichung ſchwieriger zu erhalten, als beym Genuſſe der eingeſchraͤnkten Umſtaͤnde, bey welchen der Menſch mit Gott und Ehren, ohne kraͤnkende Sorgen und ohne er— ſchoͤpfende Anſtrengungen ſein Brod ſucht und findet.

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Die Natur lenkt den aufmerkſamen, weiſen Menſchen durch auffallenden Mangel von einem wahren Gluͤck, wel⸗ ches ſo gewoͤhnlich den Beſitz großer Guͤter begleitet, von dem Wunſche nach ſchnellen Achwechslungen ſeiner Glͤͤcks⸗ umſtaͤnde ab, und zeugt in zahlloſen Beyſpielen, daß dem Menſchen uͤberhaupt keine Gluͤcksumſtaͤnde ſo ſehr zur wah⸗ ren und dauerhaften Freude werden, als diejenigen, welche durch feinen Fleiß gegruͤndet und weiters mit eben der Sorgfalt, mit eben dem Fleiß muͤſſen erhalten werden, mit welchem ſie erworben worden ſind. So zeigt die Erfah⸗ rung auch allenthalben, daß der Menſch immer am vor⸗ zuͤglichſten gluͤcklich iſt, wenn er unbeneidet im Kreiſe der⸗ jenigen Nachbaren, Verwandten und Freunde lebt und ſtirbt, unter denen er aufwuchs. Ebenſo zeigt ſie, daß die Vorſehung oft in denjenigen Lagen, die man Ungluͤck und Elend heißt, wahre innere Groͤße entfalte, und da die Grundlage erhabener Gluͤckſeligkeit lege, wo aͤußere Verheerung den Menſchen unter den tiefſten Ruinen zu begraben ſcheint. Mein Geſetzgeber ſieht zahlloſe Menſchen in Noth und Elend ſich Wege zur Ruhe und Freude bah⸗ nen. Er ſieht aus den unterſten Tiefen des Ungluͤcks Maͤnner Hoͤhen erſteigen, auf welche niemand hinanzu⸗ klimmen ſich wagt, als wer ſich im ſtarken Durcharbeiten ſolcher ſchauervollen Tiefen Kraͤfte gebildet. Er ſieht im ſtillen Gang des gluͤcklichen Mittelſtands den reinſten Ge⸗ nuß der Segnungen des Glücks. Er, ſieht die Natur in dieſem glücklichen Mittelſtand den Menſchen allenthalben am reinſten und ſicherſten durch den allgemeinen Trieb der Kinderliebe zu Einrichtungen, Anſtalten und Vorſorgen

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für das Gluͤck feiner Familie hinlenken, und fo durch die Liebe zum häuslichen Segen durch Eigenthum die Bande der Familien verhaͤltniſſe, die in fo vielen andern Geſichts— punkten Grundlagen der Nationalgluͤckſeligkeit ſind, noch enger knuͤpfen.

Mein Geſetzgeber folgt auch hierin der Leitung ſeiner weiſen Fuͤhrerin, und dieſe entfernt ihn mit Macht von dem Geiſt der Staatsgeſetzgebungen, welche unaufmerkſam auf den Familienwohlſtand des gemeinen Manns ſo un⸗ endlich kuͤnſteln, um in allen Ecken ihre Guͤnſtlinge ohne alles Verhaͤltniß für ihre Lage und für ihren Verdienſt zu bereichern, zu verſinnlichen, und gedankenlos uͤber das Beduͤrfniß der innern Veredlung, der haͤuslichen Weisheit und der geiſtigen und ſittlichen Kraft der hoͤhern Staͤnde nur ihre aͤußere Vergoldung ſuchen, wuͤnſchen und be— treiben. Er weiß, daß es ein unumgaͤngliches Beduͤrfniß fuͤr die Sitten und die Gluͤckſeligkeit der Nation iſt, daß der Reichthum, den Regierungskenntniſſe, Regierungsar— beiten und Regierungsſtellen bringen, eben ſo wohl als der Reichthum, den andere Arten von Kenntniffen, Urs beiten und Berufen bringen, dem Verhaͤltniß des innern Realverdienſts derer, die ihn beziehn, angemeſſen ſeyn ſoll; und er iſt uͤberzeugt, daß Regierungsſtellen und Regie: rungsarbeiten, die ihre Beſitzer ſchnell in Lagen ſetzen, welche mit ihren ehemaligen Umſtaͤnden ſo wie mit dem innern Weſen ihres Verdienſts und ihrer Verdienſtskraͤfte unnatürlich contraſtiren, eine der vorzuͤglichſten Quellen der Nationalunſittlichkeit und der Zerſtörung der haͤuslichen Gluͤckſeligkeit aller Staͤnde iſt.

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Ueberhaupt iſt aller ſchnell gewonnene Reichthum fite tenverderbend. Der Gnadenreichthum iſt es um einen Grad mehr als der Kaufmannsreichthum; und der Nepo⸗ tenreichthum iſt die oberſte Stuffe dieſes Landverderbens. Das Gift ſeines Verderbens geht noch uͤber dasjenige des Spielerreichthums empor. Der Nepotenreichthum, der Koͤnigreiche eben fo ſehr zu Grunde richtet, als er in Städten, die nur ein paar Gaſſen haben, das Hausgluͤck der guten Buͤrger verderbt, dieſer Nepotenreichthum, der ganz nicht vom Verdienſt und Arbeitſamkeit abhaͤngt, ſon⸗ dern vielmehr ſchon im Schulknaben den Keim aller Thaͤ⸗ tigkeit, aller anſprachloſen Wetteiferung und aller innern Stärke und reinen Menſchenwuͤrde zernichtet, iſt eine der vorzuͤglichſten Landesgefahren, denen mein Geiepaeher, zu Leibe geht.

Leſer! Ich bin an den ans meiner Bahn, mer nähere mich den Höhen, auf denen die Quellen der Irr⸗ thuͤmer und Laſter entſpringen, die unſere Thaler ver⸗ heeren. |

Die in unſerm Zeitalter aufs hoͤchſte geftiegene Staatz⸗ eitelkeit hat unſaͤgliche Quellen des Nepotism eröffnet „und die Fuͤrſten und Oberkeiten werden durch die Irrthuͤmer ihrer Finanzen und ihrer Hausunordnung gehindert, den Landes verheerungen dieſes in ſchrecklichen Progreſſionen im Lande vorſchreitenden Nepotenverderbens in Resin Duellen Einhalt zu thun.

Wo der Edelmann ſeinem Intendanten ſhulsig iſt, da werden die Herrſchaften ausgeſogen, und wer zufehn muß, und nicht helfen kann, iſt der Edelmann felber.

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Die Sitten der Zeit helfen ihm zwar in der Bitterkeit dies fer Leiden; er geht dann aus feiner Provinz in die Haupt⸗ ſtadt, ruft die ausgeſogenen Herrſchaften in Papier zu ſich ins Hotel, und richtet ſich ein, daß er bey Abtretung eines Theils feiner anererbten Güter in fremde Hände den- noch ſtandesmaͤßig leben kann; er erſpart ſich bey dieſer Einrichtung gewoͤhnlich die Ausgaben fuͤr eheliche Kinder und die Sorgen einer laͤſtigen, die Oekonomie feiner Haus— haltung auf einen feſten Fuß gruͤndenden, oder dieſelbe auf einem ſolchen erhaltenden Hausordnung.

Das Finanzſyſtem der Fuͤrſten iſt freylich nirgends vollends alſo; aber ihre Finanzoperationen bilden gar oft und viel in ihren Umgebungen Leute, die ſo leben; und viele von ihnen opfern doch unwiderſprechlich den guten Zuſtand ihres Volks gar oft ihren Schuldſachen, ihren Entlehnungsmanieren und ihrer haͤuslichen Unordnung auf.

Ob Millionen Graͤuel, Landes verheerungen und Vers brechen aus der ihnen eintraͤglichern Entlehnungsmanier im Land entſtehn, das iſt ein Geſichtspunkt, der in dieſem Fall gar oft nur als Nebenſache in Betrachtung koͤmmt. In der Colliſion eines chimeriſchen Finanzzuſtands und dem Hauswohlſtand der gemeinen Landeseinwohner ent— ſcheidet in dieſem Fall leider gar oft blos die Gegenwart wahrer oder blos anſcheinender Geldbeduͤrfniſſe, und wer: den hie und da wahrſcheinlich fo lange darüber entfcheis den, bis die Einkuͤnfte einiger Reiche für Jahrhunderte an die Staatsglaͤubiger verpfandet find. Dieſe Umſtaͤnde erſchweren natuͤrlich die innere Veredlung des geſetzgeberi— ſchen Willens, und der Macht, in deren Hand dieſer

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Wille gelegt iſt und ohne innere Veredlung dieſer aͤußern Macht iſt keine wahrhaft wirkſame Landesgerechtigkeit möglich. N

Die Race des Menſchengeſchlechts gleicht nichts weniger als einem Klotze Erz oder einem Stuͤck Holz, dem es gleichgültig iſt, wer es zu gießen, zu modeln oder zu ho⸗ beln in die Hand nimmt. Sie iſt wie außer ihr Klima verſetzt, wenn es ihren Fuͤhrern an wahrer Weisheit und innerer Menſchlichkeit mangelt. Wenn du das nicht haſt, ſo magſt du ſonſt mit ihr machen, was du willſt, ſie liebt dich nicht, ſie achtet deiner Lehre nicht und baͤumt und ſtraͤubt ſich wider deine Gewalt. Dann werden ihre Gebrechen Verbrechen. Sie ſind und bleiben aber immer Folgen der Irrthuͤmer, Leidenſchaften und Fehler der Fuͤhrer des Volks, welche daſſelbe nicht nach ſeiner Natur und nach ſeinen innern Beduͤrfniſſen beſorgen, und das Blendwerk der offentlichen Gerechtigkeit und der aͤußer— lichen Wohlthaͤtigkeitsanſtalten, welches dann mit Arbeits⸗ und Zuchthaͤuſern, mit Schwert, mit Galgen und Rad, mit Galeeren, Karren, Findelhaͤuſern, Spitaͤlern, Hals» eiſen, Bußenregiſtern, Tarifkunſtwerken, Geſetzfolianten, Almoſenanſtalten, Wittwencaſſen, Stiftungen, Lotterien, Erziehungshaͤuſern, Verpfründungshaͤuſern, und was weiß ich, was alles ins Mittel treten will, bleibt in alle Ewig— keit ohne Realwirkung fuͤrs Volk, ſo lange als die innere Stimmung der oberkeitlichen Macht nicht edel und rein iſt, und das Volk nicht uͤberhaupt nach dem wahren Geift einer wirklich menſchlichen Regierungskunſt geleitet und in ſeinen vorzuͤglichſten Beduͤrfniſſen ſeiner innern wahren

91 Natur gemaͤß behandelt und befriedigt wird. Aber eben dieſes, ‚namlich, das Volk in feinen vorzuͤglichſten Beduͤrf⸗ niſſen feiner, wahren, innern, veredelten und zu veredeln— den Natur gemäß zu behandeln, iſt der Stein des An⸗ ſtoßens. Ohne innere Veredlung der hoͤhern Stände, und ohne aͤußere, gute Hausordnung der Hoͤfe und der Per⸗ ſonen, welche den Willen und die Macht der Geſetzgebung in ihrer Hand haben, hat keine ernſte Aufmerkſamkeit auf die erſten Beduͤrfniſſe der Menſchheit, folglich keine wahre Befriedigung derſelben ſtatt. Und wo dieſes fehlt, da mangelt das reine, weſentliche und heilige Band der oͤf— fentlichen Landesgerechtigkeit; und in dieſem Fall ſteht dann das Goͤtzenbild, das dann zumal mit dem Namen Gerechtigkeit unverdienter- und unverſchuldeterweiſe prangt, nicht als heiliger Segen im Land. Ich ſpreche es aus; denn es iſt wahr, die Scheingerechtigkeit, die in dieſem Fall als Goͤtzenbild im Land daſteht, iſt nicht ſegen-, nein, ſie iſt als Goͤtzenbild fluchbringend im Land. Sie pflanzt in dieſem Fall, mitten indem fie getoͤdete, eingeſperrte und verheerte Verbrecher zu Huͤgeln aufthuͤrmt, Haufen und Berge Verbrechen. Es iſt wichtig, dieſe Anſicht in ihren weſentlichen Urſachen und Quellen ins Aug zu faſſen. Wo immer die Finanzen des Staats in der Unordnung ſind, da kann die Regierung den wahren Quellen der haͤuslichen Unordnung und des haͤuslichen Ungluͤcks des Volks ſelten Einhalt thun, ſie muß leider nur gar zu oft den Verhee— rungen, welche aus dem Daſeyn dieſer Umſtaͤnde entſtehn, kraftlos mit in einander geſchlungenen Haͤnden zuſehn. In dieſen Umſtänden aber ſind dann der Fuͤrſt und das

92 Volk wahrlich gleich zu bedauern. Wer vorzuͤglich dar⸗ unter leidet, daß er den Verwuͤſtungen im Jaͤnern des Reichs nicht abhelfen kann, iſt der Fuͤrſt ſelber; wer aber vorzuͤglich daran Schuld iſt, indem er in gemaͤchlicher Ruhe die Fette des Landes ausſaugt, das aͤlleſte Kind des Staats, den Adel, im Janern ſeiner weſentlichen Ver⸗ haͤltniſſe zu Grunde richtet, und den juͤngern Sohn des Lands, der ſich zu feiner Stuͤtze erheben will, die Hand— lung, eben ſo wie den Adel, in ſeinen innerſten Kraͤften erlahmt, wer auch dem Mittelſtand im Heiligthum feiner Kraͤfte ans Herz greift und in Millionen ehemals geſegne⸗ ten Huͤtten im Land den Fluch der Zerruͤttung, der Ver— wirrung, des Unfriedens und des Unſegens hineinbringt, iſt der Geiſt der Zeit, der durch das zuͤgelloſe Ueberge— wicht unferer Sinnlichkeit und unſers Luxus über die Ans ſprachen unſers Geiſts und unſers Herzens den gegenſei— tigen Einfluß aller Staͤnde gegen einander ſo verderblich gemacht hat, als er den erſten Fundamenten des Privat- wohls der Individuen im Heiligthum ihres Einfluſſes in der Wohnſtube des Volks verderblich ans Herz gegriffen. Mit der aus dieſen Umſtaͤnden nothwendig hervorgehenden Abſchwaͤchung aller Staͤnde mußte, trotz allem Schein des Gegentheils, nothwendig das Weſen der Verarmung, oder vielmehr des innern Verſinkens unſerer meiſten Staaten erfolgen. Wir mußten dahin kommen, wo wir wirklich find; -und ich muß, wenn ich auch in dieſer Hinſicht den weſentlichen Gegenſtand dieſer Boͤgen ins Aug faſſe, noch einmal wiederholen: in der ewigen Nothwendigkeit der Ans lockung des Volks der Einwohner auf Anſichten, Grund⸗

95 ſaͤtze und Beduͤrfniſſe, die eine Folge dieſer Umſtaͤnde, find die erſten Urſachen der vorzuͤglichſten Verbrechen und alles Ungluͤcks, das aus ihnen entſpringt, zu ſuchen.

Es iſt in der großen Oekonomie wie in der kleinen wahr, wenn einmal die Erſchwingung der Zinſe der Haupt» geſichtspuntt der Finanzoperationen ſeyn muß, ſo geht faſt nothwendig der Endzweck, um deſſenwillen man das Kapital aufgenommen, verloren.

Es iſt in der oͤffentlichen wie in der Privatoͤkonomie wahr, man muß immer ein wenig reicher ſeyn als man thut; wenn man aber arm iſt, ſo muß man nicht beym Jahrlohn der Untermagd, noch bey dem Taglohn des Waſ— ſertragers und Holzſpalters, ſondern bey dem Tanz-, Ceri— monienmeiſters und Leuten ihres gleichen anfangen, ſich einzuſchraͤnken; man muß den Speck mit mehr Sorgfalt vor der Katze als vor den Mäuſen einſperren und mit den Gaſtmaͤhlern und Einladungen auf eine Weiſe zu Werke gehn, daß es keine Gefahr mehr hat, daß man mit der offenen Tafel ſein Haus auffreſſe.

Das iſt freylich fuͤr tauſend und tauſend Menſchen, beſonders fuͤr ſolche, die ſich einbilden, es habe ihnen in Ruͤckſicht auf den Gebrauch ihres Eigenthums und ihrer Rechte niemand nichts zu befehlen, eine harte Rede, von der ſie ſagen: wer mag ſie hoͤren? Aber wenn unſer Zeit— alter je eine Wahrheit laut zu hoͤren nothwendig hat, ſo iſt es dieſe. Die Weisheit, die Ordnung und Unabhängige keit der Höfe in Geldſachen iſt das Fundament der Staͤrke des Reichs, des allgemeinen Volksgluͤcks und der oͤffent— lichen Landesgerechtigkeit. Menſchheit und Fuͤrſten! Ohne

94 dieſes Fundament ſind alle Projekte, irgend einer Branche der Nationalunſittlichkeit und irgend eines Nationalungluͤcks Einhalt zu thun, nichts anders als Schloͤſſer in der Luft, die der Wind mit den Wolken herbeyfuͤhrt und mit den Wolken wieder verſchwinden macht. Sie entſtehn in einem Augenblick und verſchwinden eben fo ſchnell. )

Ganz im Geiſt einer wahren, den Quellen der Nas tionalverbrechen real entgegenwirkenden Geſetzgebung waren die Erſparungs⸗Maßregeln Frankreichs unter Nekker, und wenn je ein Rieſenſchritt gegen die vorzuͤglichſten Quellen der Ausſchweifungsgraͤuel in einem von der haͤuslichen Unordnung der obern Staͤnde verheerten Land verſucht worden, ſo iſt es das Edikt von der Aufhebung der Ge— neraleinnehmer in Frankreich. 2

Ludwig fuͤhlte auch, was er gethan, und es iſt wahr, er durfte als Menſch ſagen, was er als Koͤnig geſagt: „daß er ein Werk gethan, welches ſeinen Abſichten von „Sparſamkeit, von Einſchraͤnkung und guter Wirthſchaft „angemeſſen, und durch die Hinderniſſe, welche ſelbiges „dem Luxus in den Weg lege, fuͤr die Sitten heilſam „ſeyn werde; ein Werk, welches durch Zernichtung der „Mittel, durch bloße Gunſt zu großen Reichthuͤmern zu „gelangen, alles aufmuntern werde, die muͤhſamen Pfade „zu betreten, wo Fleiß und Talente nur langſam zu maͤßi⸗ „gen Belohnungen führen.” So lautet das koͤnigliche Zeugniß von den wahren Quellen des Nationalverderbens 2) Ich bitte auch hier zu bemerken, daß dieſe Stelle vor vier

zig Jahren geſchrieben worden.

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95 Europa's und von den aͤchten Mitteln, denſelben wahr: haft Einhalt zu thun. Ich weiß nichts hinzuzufegen; der ganze Geiſt meiner Abhandlung ruht in dieſem Wort des Koͤnigs.

Abermaliger Rückblick auf das Ganze, und Betrachtungen über das Hausgluͤck des Volks.

Ich nehme die Reihe der Urſachen des Kindermords noch einmal vor mich, und faſſe von neuem die Natur der Quellen und der Gegenmittel des Uebels ins Auge; ich ſehe, daß ſich die Quellen der That allgemein von Geſinnungen und Umſtaͤnden, bey denen das reine Gluͤck der füllen haͤuslichen Genießungen untergraben, herleiten laſſen, und daß die Mittel, welche demſelben entgegen wirken, mit gleicher Kraft fuͤr die Sicherſtellung des Hausgluͤcks wirken muͤſſen.

Daher nehme ich den Hausſegen des Volks fuͤr den Mittelpunkt an, gegen welchen ſich mein Gegenſtand von allen Seiten zuruͤcklenken, und von welchem er auf alle Seiten wieder ausgehn muß.

Alles, was von nahem oder von fernem den Haus ſegen des Volks untergraͤbt und zerſtoͤrt, befoͤrdert nahe oder ferne den Kindermord, und alles, was nahe oder ferne den Hausſegen ſichert, in Ordnung bringt und in Ordnung erhaͤlt, verhuͤtet eben ſo nahe oder ferne den Kindermord. Mein Geſetzgeber findet desnahen, die Re— gierung habe nach dem Maß, in welchem das Hausgluͤck der Einwohner durch das Steigen der ſich ſelbſt, d. i, den

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Anſpruͤchen der Sinnlichkeit und der Gierigkeit uͤberlaſſe⸗ nen Nationalreichthuͤmer und der von der verderblichen Kunſt ihres Luxus ausgehenden Nationalverfeinerung uns tergraben wird, ihre Maßregeln zum Schutze des eigen— thumsloſen Volks, welches bey einreißenden, verfuͤhrenden Sitten am meiſten leidet, zu verdoppeln.

Aber er laͤßt ſich auch hierin von keinem einſeitigen Geſichtspunkte irre lenken. Die Freyheit, mit welcher Got⸗ tes Fuͤhrung die Menſchheit leitet, die Weisheit, mit welcher ſie auch Noth, Elend, Tiefe und beſonders die das Mehr der Menſchheit anſcheinend laͤſtende Ungleichheit zur Aus⸗ bildung der Kraͤfte und Anlagen unſrer Natur, und zur Vermehrung und Veredlung der Genießungen des Ganzen gebraucht, und das Uebergewicht, das auch bey der eine fachſten Entwicklung der menſchlichen Kräfte dem Arbeit⸗ ſamen Brod, dem Kuͤhnen Gluͤck, dem Traͤumer Hoff— nung, dem Schlauen Einfluß, dem Starken Gewalt gibt, und überwiegenden Kräften Gehorſam verſchafft, dieſe auch in der einfachſten Entwicklung der menſchlichen Anlagen auffallenden Naturquellen aller Standes- und Vermoͤ⸗ gensunterſcheidungen ſichern ihn vor allen Traͤumen einer idealiſchen Gleichheit unter den Menſchen. Eben ſo wenig ſucht er durch Einſchraͤnkung der Nationalreichthuͤmer oder der Nationalaufflarung dem Sittenverderbniß Einhalt zu thun, durch welches die niedern Staͤnde ſo oft verheert werden. Er weiß, daß bey Voͤlkern, die an Einfichs ten, Genießungen, Erfahrungen und Fertigkeiten tief zus ruͤckſtehn, allenthalben die Fundamente des allgemeinen

Menſchenſegens und der allgemeinen Menſchenberuhigung man⸗

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mangeln, daß fie folglich nicht zuf dieſer Stufe geloſſen, noch weniger mit Kunſt und Willen darauf feſtgehalten werden dürfen, Er findet auf der ganzen Erde den un⸗ gebildeten, zurädgefegten Mann auch in den gluͤcklich— ſten Umſtaͤnden nicht menſchlich, ſondern nur ſinnlich ge— bildet und in ungluͤcklichen Umſtaͤnden immer thieriſch ver— wildert. Hier ſieht er Haufen Sklaven in Ehrloſigkeit, Unverſtand, in dunkeln Rauchhuͤtten in ſinnlicher Behag— lichkeit ihr Leben verlieren, dort ſieht er ſie in ſinnlicher Unbehaglichkeit daſſelbe verwuͤnſchen; hier ſtehn ſie wild, gewaltſam, grauſam und muthvoll, dort niedergeſchlagen, niedertraͤchtig, falſch und furchtſam vor feinen Augen; hier ſieht er ſie in dummer Leichtglaͤubigkeit zu jedem Kreuz⸗ zug, dort in dummer Gierigkeit zu jedem Raubzug bereit— willig und hinwieder in dummer Leidenſchaftlichkeit zu je— dem Aufruhr geneigt; hier fieht er fie in barbarifcher Recht⸗ loſigkeit einem in Felſen niſtenden Zwingherrn gehorchen, dort in ſteinharten Ketten unſinniger Rechtsformen durch ihr Leben an der Naſe herumgefuͤhrt.

Er weiß zwar wohl und laͤugnet es gar nicht, daß ſolche, bildungshalber verwahrloste und hintangeſetzte, Menſchen durchaus nicht allgemein ſinnlich unglücklich find. Er weiß, daß ſie ſich gar oft thieriſch und ſinnlich ganz wohl und glücklich fühlen, und den Zuſtand, in dem fie ſich befinden, um keinen Preis mit dem Zuſtand gebilde— ter Menſchen und Voͤlker vertauſchen wollten, und er ift dabey auch feibit überzeugt, daß fie ſich in diefem Zuſtand | wirklich beſſer befinden, als wenn fie dem Verderben einer, von den Fundamenten aller wahren Menſchenbildung ent

Peſtalozzi's Werke. VIII. | 7

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blösten, boͤſen Volksverkuͤnſtlung preis gegeben würden. Er erkennt, daß es wirklich wahr ift, daß je weniger der Menſch braucht, je leichter er das findet, was er bedarf, je milder die Sonne in ſeinem Klima ob ihm ſcheint, je ruhiger er in ihrem Schatten ſchlaft, je behaglicher er ſich beym taͤglichen Baden entkleidet und wieder abtrocknet, deſto mehr iſt er im Allgemeinen auch ſinnlich gutmuͤthig und von roher Grauſamkeit und Gewaltthaͤtigkeit ferne. Aber mein Geſetzgeber achtet dieſe Sinnlichkeitsvortheile für das Menſchengeſchlecht gar nicht wichtig, und iſt da⸗ bey uͤberzeugt, daß die Horizonte, wo die Menſchen ſich einer ſolchen finnlihen Behaglichkeit uͤberlaſſen koͤnnen, ohne durch Hunger und Mangel darin geſtoͤrt zu werden, auf dieſer Erde, die allenthalben Dornen und Diſteln trägt, fehr felten find, und weiß dabey noch, daß das menſchliche Herz die Keime des Emporſtrebens ſeiner Natur in der unruhigen Huͤlle ſeines Fleiſches und ſeines Bluts in ſich ſelber tragt, das ihn auch in den reichſten, gluͤck— lichſten Zonen das ſinnliche Gluͤck dieſer, durch das Stilf- ſtellen der Belebung ſeiner Kraͤfte zu erkaufenden, Behag⸗ lichkeit nicht ungeftört und ungekraͤnkt genießen läßt; aber in den meiſten Horizonten der Erde fordert das bloße Brod, welches der Menſch haben muß, allgemein eine ſehr ausgebildete Ueberwindungsſtaͤrke gegen die Geluͤſte dieſer idealiſchen Sinnlichkeitsbehaglichkeit, die den Menſchen ge⸗ wiß ſonſt allgemein anwandeln wuͤrden, wenn er nicht lieber Brod aße als hungerte.

Und fo iſt unzweydeutig im ſtrengen Brodbeduͤrfniß der zwangvolle Uebergangspunkt von der geprieſenen Eins

99 8 falt des Kinderalters des Menſchengeſchlechts in das Joch der Sitten und Kuͤnſte, und einmal hinuͤbergegangen aus dieſen eliſeiſchen Feldern in den brodbedüͤrftigen Erdball, dann iſt unſtreitig gewiß ein höherer Grad det Entmwid- lung det Kräfte und Anlagen der Menſchheit beſſer als ein kleinerer. a

Mein Geſetzgeber laͤßt ſich beym Anblick des Maͤnner⸗ unglücks und der Verheerungen, welche die mehrern Kraͤfte und Wuͤnſche dieſes Alters veranlaſſen, nicht irrlenken. Et weiß, daß Kinder ungluͤcklich fen koͤnnen wie Juͤng⸗ linge und Männer, und er vergleicht den Zuſtand der vor⸗ geſchrittenen Nationalerleuchtung unbefangen mit dem Kin. derzuſtand der Menſchheit, in welchem der unentwickelte, rohe Erdenmann vor ſeinen Augen erſcheint. Bey dieſer Vergleichung findet er unzweydeutig vie! Gluͤck und viel Ungluͤck in beyden Altern der Menſchheit; aber er findet auch, daß das Ungluͤck des Kinderſtands der Menſchheit nicht durch die Kunft widernatuͤrlich lange in dieſem Kin⸗ derzuſtand zu bleiben, ſondern durch eine weiſe Empor⸗ bildung zur Befriedigung der Beduͤrfniſſe des Maͤnneralters geheilt werden kann; und wieder, daß das Ungluͤck des Maͤnnerſtands nicht in der Zuruͤcklenkung der Nationen zu ihrem Kinderſtand, ſondern in der Ausbildung und Ver⸗ edlung der Maͤnnerkraͤfte zu der beruhigenden Weisheit des alles vollendenden Alters zu ſuchen.

Die Natur will allenthalben vollendete Reifung, aber es fordert ſchwache Bluͤthen und heiße Sommertage, ehe der Segen des Herbſts ſeine Fruͤchte zum Koſten anbietet. Ewiger Winter iſt der Stand der Natur, den du lobteſt,

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guter Rouſſeau; aber du ſahſt nur heiße, brennende Sommertage uͤber die Menſchheit und einen hohen Grad ihrer Verheerung. Du lebteſt neben boͤſen Weiſen, die der Welt wenig Gutes zu thun geſchienen haben, und es ging dir wie einem Maͤdchen, das edel und gut, aber auch traͤumend und traͤge hinblickt in die arge, boͤſe Welt und alle ihre Muͤhſeligkeiten und Gefahren; das gute Maͤdchen wuͤnſcht wieder ein Kind zu ſeyn, und hat auf eine Art wohl recht, aber es iſt zu Mutterpflichten und Mutterſorgen beſtimmt und darf die Fortdauer feiner Kine derſpiele nicht einmal wuͤnſchen.

Mein Geſetzgeber ſieht freylich, daß große Genießungen große Begierden erregen, aber er ſieht auch, daß große Begierden große Kraͤfte enthuͤllen, und daß die Anlagen der Menſchheit ohne emporhebende Endzwecke und große Begierden erſterben. Er ſieht, daß ohne Verſuchung keine Ueberwindung, und ohne Ueberwindung keine Staͤrke im Menſchen iſt. Er ſieht, daß ohne den Drang noͤthigen— der Umſtaͤnde, großer Beduͤrfniſſe und hoher Endzwecke nirgends ſich der alles durchſetzende Muth enthuͤlle, der in allen Lagen und Umſtaͤnden die Wohlthaͤter der Menſch— heit bildet. Kurz, alles zeigt ihm, daß die Menſchheit zur Ausbildung ihrer Anlagen beſtimmt, und alſo die Auf— klaͤrung der Nationen ein unumgaͤngliches Beduͤrfniß der Welt iſt.

Auf der andern Seite aber weiß er auch, daß alle Aufklaͤrung der Menſchen, wenn ſie wirklich Gutes wirken und den Volksſegen wirklich befoͤrdern ſoll, wahrhaft ſeyn, d. i. auf pſpchologiſch wohlgeordneten Fundamenten ruhen

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und aus denſelben hervorgehn muß. Er weiß, daß die wahre Volkserleuchtung nicht auf der Ausdehnung ſeiner woͤrtlichen Erkenntniſſe, ſondern auf der geiſtigen Erhe— bung dieſer Erkenntniſſe uͤber den Trug ihrer woͤrtlichen Oberflaͤchlichkeit ruht. Er weiß, daß die wahre Volkser— leuchtung nur aus der Erhoͤhung ſeiner ſittlichen, geiſtigen und Kunſtkraͤfte hervorgeht, ſo wie ſie vorzuͤglich dazu hinfuͤhrt. Er weiß, daß fie weſentlich in der Uebereinſtim— mung ſeiner Kenntniſſe mit ſeinen vorzuͤglichſten Beduͤrf— niſſen und feinen weſentlichſten Verhaͤltniſſen beſteht, und auf der Unterordnung ſeiner Neigungen unter ſeine beſten Einſichten, auf der Uebereinſtimmung ſeiner Fertigkeiten, Uebungen und Sitten mit den richtigſten Urtheilen ſeines Kopfs, und endlich auf einer ſorgfaͤltigen Stimmung der Aufmerkſamkeit und der Auhaͤnglichkeit des Volks zu dem Wichtigſten, Weſentlichſten und Nothwendigſten.

Mein Geſetzgeber haͤlt die Klage uͤber die Verheerung der Sitten, welche von der Ausdehnung des Erwerbs und der Einſichten einer Nation herruͤhren, für die Klage eines Manns, der einen fetten Bach in ſeinem ganzen wilden Lauf durch ſeine Matte ſtroͤmen laͤßt, und dann klagt, ſein Waſſer trage ihm nur Grien und Sand in dieſelbe; er muß den Bach in Schleuſen faſſen und ihn zu viel— facher, ſtiller Vertheilung uͤber ſeinen Boden fuͤhren, dann wird er ihm auf eben der Matte, die er ohne dieſe Sorg— falt verheert, reiches Futter pflanzen. Er hält es für die Klage ſchwacher Augen, daß die Sonne jemal zu hell ſcheine, und die Sprache der alles erſtickenden Armuth und des eigenſuͤchtigen Neids, daß zu viel Reichthum im Land

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ſey; wenn er aber feine Augen auf die auffallende Schiefe und Einſeitigkeit unſrer gegenwärtigen Auftlaͤrung, auf die Hintanſetzung der weſentlichſten Theile einer wahrhaf⸗ ten Nationalerleuchtung wirft, wenn er die allgemeine Er⸗ kaltung unſrer Zeit über alles Wichtige und Nahe, und den Raſereydrang zu Taͤndeleh und Spielwerk und zu allem Fremden und Unnuͤtzen, wenn er das ſchwere Ge⸗ fühl einer allemhalben herrſchenden Unzufriedenheit mit ſei⸗ nen Umſtaͤnden, wenn er die auffallende Ungenuͤgſamkeit des Nationalvermoͤgens zu den Sitten der Zeit, wenn er den taͤglich ſich vermindernden Genuß haͤuslicher Freuden und den ebenſo täglich ſteigenden Prunk der öffentlichen Erſcheinungen und die auffallende Leerheit dieſer letzten an Bildung zu wahrer, ermunternder Freude und Ruhe und Lebensgenießung ſieht, ſo glaubt er, man habe nicht uͤber Erleuchtung, ſondern uͤber Dunkelheit, und nicht uͤber Reichthum, ſondern über Mangel zu klagen, und er ver— hehlt es nicht, daß unſer Zuſtand ihm blos als ein Zu- ſtand der Dämmerung vorkommt.

Inzwiſchen iſt Daͤmmerung freylich beſſer als Nacht, und es it niemand, der den Neichihum Hollands nicht der Armuth der elenden Schiffer, die ein paar Jahrhundert früher in dieſen Provinzen gelebt, vorziehe. Es iſt nie⸗ mand, der Petersburg von dex See verſchlungen wuͤnſche, damit Rußland geblieben waͤre, was es geweſen iſt. Es iſt auch kaum jemand, der den auf die Reformation im⸗ mediat folgenden Volks vorſchritt in der Nationalerleuch⸗ tung nicht für beſſer halte, als die ihr vorhergegangene dunkle Zeit. So entſcheidend iſt der Vorzug des Lichts

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vor der Finſterniß, der Aufklärung vor dem Aberglauben, und des Ueberfluſſes vor dem Mangel. Und wir müffen, einerſeits um den Punkt, auf welchem wir dießfalls ftehn, richtig zu beurtheilen, anderfeits um den Vorſchritt unfrer Erleuchtung und unſrer Reichtümer weiſe zu leiten, ſolche Geſichtsdata ins Auge faſſen, und dann fragen: warum iſt der eine Menſch bey ſeinem Reichthum gluͤcklich, und der andere nicht? warum iſt der eine bey vielen Einfi che ten minder gluͤcklich als der andere bey wenigern? warum iſt der Herrenhuter, der Mennoniſt, der Quaker fo ſicht⸗ bar bey großen Reichthuͤmern gläcklicher als die reichen Erben der Generaleinnehmer in Frankreich? warum ſind die Soͤhne des Landadels im Gebrauche ihrer Reich⸗ thuͤmer gewöhnlich weiſer als die Söhne des Hofadels? warum ſpart der Hollaͤnder ſeinen Reichthum ſo allgemein? warum der Engellaͤnder nicht alſo? warum jagt das eine Dorf ſeinen Verdienſt durch die Gurgel, und iſt elend? warum ſpart das andere bey ſeiner Gewerbſamkeit, und iſt bluͤhend? Noch mehr. Warum war die Nationaler. leuchtung bey der Reformation den guten Sitten und dem Hausſegen der Nationen ſo offenbar vortheilhaft? warum iſt die Nationalerleuchtung unfrer Zeit den guten Sitten und dem Hausſegen der Nationen ſo offenbar hinderlich?

Die Reſultate ernſter Betrachtungen über die Funda. mente des Hausſegens aller Staͤnde uͤber die Geſchichtsdata und Weltepochen, die uͤber dieſen Gegenſt and vorzuͤgliches Licht geben, werden uns zeigen, daß der Wachsthum an Einſichten bey einzelnen Menſchen, und bey ganzen Na⸗ | tionen, auf eine gar ungleiche Weiſe Platz greift; daß

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einige Menſchen, und einige Nationen, ſich in weiſer Ord⸗ nung erleuchten und ihre Yufmertfamteit auf Gegenftände lenken, welche die Sittlichteit und den Hausſegen des Volks befördern, und daß hingegen andere dieſen Wachs⸗ thum der Nalionalfenntniſſ e auf Gegenſtaͤnde lenken, welche

den Hausſegen und die Sittlichkeit der Nation untergra⸗ ben, u. ſ. w.

nee

Und hieraus erhellet, daß die Leitung und Fuͤhrung der Nationen bey ihren ſteigenden Einſichten und Reich⸗ thümern auf diejenigen Kenntniſſe und zur Bildung der- jenigen Neigungen, welche ihnen in ihrer Lage die noth⸗ wendigſten und wichtigen find, dasjenige iſt, was das Steigen der Kenntniſſ und Reichthümer zum Segen des Volks macht. Aber dann erhellet aus eben dieſen Beob— achtungen weiter, daß der beſtimmte Punkt unſrer Zeiter⸗ leuchtung und unfrer Zeitreichthuͤmer weit größer in feinem Schein als in ſeinem Weſen iſt, und daß es uns auffal⸗ lend an Ordnung und Verhaͤltnißmaͤßigleit im Beſitz und im Gebrauch dieſer beyden Vorzuͤge fehlt.

Allenthalben ſchimmern Detailkenntniſſe, aber immer wird feſter, reiner und uns in unſern naͤchſten Lagen be⸗ ruhigender Wahrheitsſinn ſeltener. Man ſieht die halbe Welt das Einmaleins auswendig koͤnnen, aber auch das gedankenloſe Rechnen und in fo, weit das Gedane kenlosſeyn unter uns ſo allgemein werden als das Aus⸗ wendigfönnen des Einmaleins. Man ſieht zahlloſe Dichter, aber unter ihnen nur ſehr wenige, die dieſe zahlloſen ver— draͤngen. Man ſieht bald mehr Gelehrte als Kammerdie⸗ ner, aber man bedarf jetzt mehr Kammerdiener als Ge—

105 ER lehrte. Man erhebt ſich in einzelnen Auszeichnungen dem Anſchein nach uͤber die Wolken, aber das Ganze unſers Thuns und Laſſens, unſers Wiſſens und Koͤnnens iſt, wie der Zuſtand der Feudalbauern, feſt an den Koth der Erde gebunden, uͤber den wir uns nicht zu erheben ver— mögen, Unſer Thun und Laſſen, unſer Wiſſen und Kön- nen hat keinen feſten Zuſammenhang unter ſich ſelber. Unſere Nationalerleuchtung ruht nicht auf feſtem Wahre heitsſinn und ausgebildeter Menſchenkraft, ſonſt wuͤrde ſie ſtaͤrker wirken, weniger poſaunen und weiter fuͤhren. So iſt's auch mit dem Reichthum. Man ſieht allenthalben tauſend Triebraͤder in Bewegung, das Volk zu lehren, zu zwingen, zu treiben, Geld zu verdienen; aber man vergißt, das das Volk nur in ſo weit wahrhaft Geld ver— dienen kann, als es zum weiſen Anwenden des Gelds, eben wie zu ſeinem Erwerben, gebildet und emporgehoben iſt. Und ſo fehlt es allenthalben an Fundament und Ord— nung in den neuen Weisheits und Geldfiſcherey-Anſtalten unſrer Zeit.

Der Schluß dieſer Nachforſchungen wird alſo dahin auslaufen, man muͤſſe das Volk, das man erleuchten will, durch Mittel zu erleuchten ſuchen, die die Menſchen in ihrem Weſen allgemein und tief fuͤr den ganzen Umfang alles deſſen, was ihnen an Leib und Seele nothwendig iſt, ergreifen und fie zu demſelben mit pſpchologiſch-wirk⸗ ſamer Kraft hinlenken. Es iſt desnahen unmoͤglich zu verkennen, daß das Fundament einer jeden wahren Na⸗ tionalerleuchtung ſowohl als das Fundament aller Weis- heit im Erwerb und Gebrauch der Reichthuͤmer eines und

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eben daſſelbe iſt, nämlich die allgemeine innere Veredlung der Grundtriebe des Volks, welche beym armen, gebrech— lichen Menſchen nur durch ſeine Hinlenkung zum wahren, lebendigen Glauben an Gott und an die Seligkeit der Liebe zu erzielen iſt.

Iſt das Wahrheit, Menſchen! ſo iſt meine Bahn hei— ter. Aber eben ſo heiter iſt dann auch, daß der Gang der gegenwaͤrtigen Zeiterleuchtung im Großen und Allge— meinen nicht in der Ordnung. Die ſtolze Erleuchtung ſpottet der Tempel und Heiligthuͤmer, und raubt dem armen Volk des Lands den Stecken und Stab, woran es ſtille und fromm zur Ewigkeit hinwandelte, und die Grund— ſaͤtze, worauf es bisher ſein gutes Herz, ſein Hausgluͤck und alle Freuden des Lebens und alle Hoffnungen des Todbettes gegruͤndet, und gibt ihm dagegen nichts als Leichtſinn und Unruhe und einen verhaͤrteten Sinn.

Dieſer Geſichtspunkt ſetzt den Unterſchied der Epoche von Luther's Volkserleuchtung und von der gegenwaͤrtigen Welterleuchtung, die von Frankreich ausgegangen, in ein heiteres Licht. Ich rede aber dießfalls gar nicht von dem Unterſchied des Meynungenſtreits der damaligen und der gegenwärtigen Zeit, ſondern von dem Unterſchied der An— ſichten uͤber die Fundamente des Volksgluͤcks und des Na⸗ tionalſegens und dem mehr oder mindern Wahrheitsſinn, der dießfalls in der Reformationsepoche und in der unſri⸗ gen ſtatt findet. |

Und nun, Zeitalter! ich leere mein Herz aus, und ſage es, wie ich es denke: wer nicht an Gott glaubt, dem mangelt die Liebe des Naͤchſten, und wem die Liebe Got:

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tes und des Nächten mangelt, dem mangelt das Intereſſe fuͤr die erſten Angelegenheiten des Menſchen und mit ihm das Fundament der wahren Weisheit des Lebens.

Desnahen iſt Unglaube und Mangel von Liebe eine Quelle von Unordnung in dem Vorſchritt der Erkenntniſſe des Menſchen, deren Folgen auf keine Art durch die Hei— terkeit und Ausdehnung alles uͤbrigen, was der Menſch ſonſt wiſſen mag, verguͤtet werden kann; und alle Er— leuchtung des Menſchen, die ſich nicht auf Gottesfurcht und Liebe gruͤndet, iſt ewig des Fundaments beraubt, auf welches der ſchwache Sterbliche die Werke ſeines Kopfs bauen muß, wenn er ſeinen Kopf ſelber vor Verwirrung und Irrthum bewahren will.

Das zwehyte Beduͤrfniß einer wahren Nationalerleuch— tung iſt, daß es lerne, ſein Wiſſen und ſein Wollen in den Schranken deſſen zu erhalten, was es wirklich bedarf, und was ihm wirklich dient, und weder durch den Trug— ſchein des Vielwiſſens noch durch denjenigen des Reich— thums von der Bahn, in Uebereinſtimmung mit ſich ſelber zu leben, abgelenkt und abgehalten werde.

Mein Geſetzgeber ſucht desnahen fein Volk mit Sorg— falt zum Genuß des Vorſchritis der Einſichten und des Erwerbs, zu welchem er daſſelbe hinleiten will, vorzube— reiten; und es iſt ſo entfernt, daß der bloße Vorſchritt der Reichthuͤmer oder der Erleuchtung, unabhaͤngend von der Art und Weiſe, wie die Nation von beyden einen Gebrauch macht, ihn befriedigen oder erfreuen ſollte, daß er vielmehr einen kleinen Vorſchritt ſeines Volks in beyden Stücken für wichtiger und ſegensreicher fuͤr ihns haͤlt,

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wenn er in Ordnung geleitet, als einen groͤßern, der des Fundaments der wahren menſchlichen Beruhigung beraubt, den Wohlſtand der Nation nur anſcheinend erhoͤht.

Ich falle bey den Nachforſchungen dieſer Begriffe wie⸗ der auf das Beyſpiel einiger Sekten, und beſonders auf die Wiedertaͤufer.

Die es ihr Hausgluͤck iſt fo allgemein, und ihre haͤus⸗ liche Weisheit und Ordnung der erlauchteten Rechtglaͤubi⸗ gen ſo uͤberwaͤgend, daß ſie z. E. auf Lehen, von denen ſie einen Drittheil mehr Pacht zahlen als ihre nicht ſekti— reriſchen Vorfahren, allen haͤuslichen Wohlſtand, den ſie wuͤnſchen, genießen, indeſſen, daß die erſten mit Noth und Elend ihren kleinen Pachtzins nicht haben erſchwingen koͤnnen.

Und die Urſachen hievon ſind ſo offenbar in dem Un— terſchied ihrer, auf Religionsgrundſaͤtzen ruhenden und zu haͤuslicher Gluͤckſeligkeit hinzweckenden Verfaſſung gegruͤn⸗ det, daß ein patriotifcher Buͤrger an einem Ort, wo man fie bisher geduldet, ihre dortige Einſchraͤnkung unumgang⸗ lich nothwendig findet, „weil wir (ſo ſagte er zu mir) „unſre Geſetzgebung und Polizey unmöglich zu der ein: „fachen Weisheit der ihren emporheben koͤnnen, und da „wir das nicht koͤnnen, ſo wuͤrden unſre Angehoͤrigen, die „hieran nicht ſchuld ſind, Unrecht leiden, wenn ſie nach „und nach von dieſen Sektirern allgemein von ihren Lehen „verdraͤngt wuͤrden, welches gewiß geſchehen wuͤrde, wenn „man ihnen eine uneingeſchraͤnkte Duldung geſtattete; denn „es iſt unmöglich. (fährt er fort), daß unſer Bauer, der „troͤhlt und ſpielt und ſauft und flucht und feinen Ruhe⸗

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„tag im Schenkhaus, welches gewöhnlich das Wohnhaus „ſeines Schulzen, oft ſelber ein Lehenhaus ſeines Land— „vogts iſt, verteufelt, und in ſeiner Mitte keinen „Menſchen ehrt, keinen Menſchen hochachtet und keinen „Menſchen rathsfragt, oͤkonomiſch mit dem Wiedertaͤufer „concurriren, und ebenſo haushaͤlteriſch, weiſe und gluͤck— „lich ſeyn koͤnne als dieſe, die nicht troͤhlen, nicht ſpielen, „nicht ſaufen, und freylich keine Richthaͤuſer und keine „Pfarrhaͤuſer haben, aber in ihrer Mitte haͤusliche „Weisheit ehren und in ihrer Religion die eigentlichen „Grundſtuͤtzen ihres Wohlſtands und einfache, weiſe Bil— „dung dazu finden.“

Mein Geſetzgeber wird ſich uͤber die Schwierigkeiten emporſetzen, welche einen eingeſchraͤnkten Magiſtrat um unabhelflich genannter Verfaſſungsfehler willen zur Un— duldſamkeit gegen die erſten Bepfpiele einer wahren, reinen, haͤuslichen Weisheit verleiten, und mit hoher, einfacher Kraft dahin ſtreben, daß man in ſeinem Reich auch Men— ſchen dulden koͤnne, die alle Einfalt und haushaͤlteriſche Tugend dieſer Sektirer beſitzen.

Naͤherung zu meinem letzten Wort über Ge— ſetzgebung und Kindermord. |

Leſer! Wirf deinen Blick noch einmal zuruck auf die erſten Aeußerungen meiner Gefühle über dieſen Gegenſtand und vergleiche fie mit den letzten, zu denen mich die Nach» forſchungen uͤber denſelben hinfuͤhrten, und du wirſt ſehn, daß, was allgemein mangelt, den Menſchen durch den

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Genuß des Wohlſtands und der Aufklaͤrung gluͤcklich zu machen, auch dasjenige iſt, was mangelt, um den Ge— fahren, welchen die ſteigenden Nationalreichthuͤmer und Nationalkenntniſſe die gemeinen Staͤnde ausſetzen, Einhalt zu thun; und wieder, daß dasjenige, was dießfalls man⸗ gelt, eben dasjenige ift, was auch mangelt, um den vor⸗ zuͤglichſten Quellen des Kindermords Einhalt zu thun.

Dieſer auffallende Zuſammenhang des Ganzen und die Verknuͤpfung und innere Verbindung dieſer Grgenfiande als Ringe an einer Kette gruͤndet ſich auf das allgemeine Beduͤrfniß unſrer Natur der Entwicklung unfrer Kraͤfte, und die Veredlung ihres Gebrauchs auf rein pfychologiſche Fundamente und auf den ewigen, unerſchuͤtterlichen Fel— ſen der Reinigung, Heiligung und Sicherſtellung dieſer Fundamente auf Gottesfurcht gegründet, Mein Geſetz— geber braucht desnahen alle Nationalverhaͤltniſſe, alle Lo» callagen, allen öffentlichen Einfluß, fo wie alle Regie— rungstraͤfte, die in feiner Hand find, und alle Privat: kraͤfte, die er zu beleben im Stand iſt, zu dieſem Endzweck.

Er lenkt den Reiz aller Volksgegenſtaͤnde, den Ton der offentlichen Befehle, die Laune der öffentlichen Spiele, die Anmuth der Kunſtwerke; er leitet den Vorſchrüt der rechnenden Weisheit, die Lebhaftigkeit der erhöhten Em— pfindſamkeit, die Gewalt der Beredſamkeit, den Reiz der Dichtkunſt, die Macht der Regierungsſprache, und ſelbſt den Fratzeneindruck der Theater- und Charlatanskuͤnſte, kurz alles, ſo entfernt es etwas beytragen kann, dieſen Grundpfeiler der menſchlichen Erkenntniſſe im Volk zu dieſem Endzweck ſicher zu ſtellen. 8

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Aber er weiß auch, daß wahre Gottesfurcht und wahre Weisheit eins und eben daſſelbe iſt, und er kennt keine Got⸗ tesfurcht und keine Gottesliebe auf Erden, als nur beym arbeitſamen, ordentlichen, haushaͤlteriſchen, gerechten und billigen Menſchen. Hausordnung und Hausgluͤck find ihm einzig und ewig das unzwehdeutige Merkmahl eines gottes— fuͤrchtigen Volks; und er erkennt hier den eigentlichen Schei— dungspunkt wahrhaft weiſer Regierungsgrundſaͤtze von allen vielſeitigen Abweichungen der tauſenderley ſich auf Irrthum und Unmenſchlichkeit gruͤndenden Regierungsabwege; denn er haͤlt alle Regierungen nur in dem Maß fuͤr weiſe, als ſie das Ungluͤck und die Verbrechen des Volks zu verhuͤten geeig— net find. Und das Ungluͤck des Volks verhuͤtet ſich nur durch ſeine haͤusliche Weisheit und durch ſeinen, aus den ewigen, unveraͤnderlichen Grundſätzen der wahren Men— ſchenbildung hervorgehenden und in der Gottesfurcht ge— heiligten Hausſegen des Volks.

Mein Geſetzgeber kennt die Wahrheit dieſer Grundſaͤtze beſonders in dem vorliegenden Gegenſtand. Vor der ſtil— len Gottesverehrerin ſtirbt frühe der Keim der unedeln Wuͤnſche, die in ihren ſpaͤtern Folgen die Graͤuel veranlaſſen, denen wir nachforſchten. Er halt desnahen dieſe, beym Volk allgemein früh entfaltete und rein erhaltene Gottesfurcht für das vorzuͤglichſte Mittel, zu verhuͤten, daß die Reize des Geſchlechtstriebs daſſelbe nicht gewaltſam verleiten, feine Naturkraͤfte ohne Sorgfalt und Weisheit aus bloßem Sinn— lichkeitsendzweck zu erſchoͤpfen, und braucht daher feinen ganzen Einfluß, dieſen Endzweck zu erzielen.

Es ſind unter ſeinem Volk reine, einfache, aber warme

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Lieder von der Liebe Gottes, und der Liebe frommer Juͤng⸗ linge und Maͤdchen, von der Seligteit des Eheſtands; Lob⸗ lieder auf Juͤnglinge, denen Gott Kraft gibt zu Ueber— windungen, die ſchwer ſind; Loblieder dem frommen und reinen Maͤdchen, das feinem Geliebten ausharrt und war: tet, und viele fromme Lieder reiner Haushaltungsfreuden, ſogar von ewigen Belohnungen der Keuſchheit, und von den hohen Freuden des Manns und des Weibs, wenn ſie mit ihren Frommen allen vor Gott ſtehn und ſagen: „Siehe, hier ſind wir und die Kinder, die du uns gege— „ben haſt.“ Solche hohe, aber menſchliche, ſolche ferne, aber wirkſame und ſtimmende Bilder der Dichtkunſt braucht mein Geſetzgeber, den Quellen des Kindermords, oder viel— mehr uͤberhaupt der Unordnung im Innern des Menſchen zu ſteuern. Lieder der Ewigkeit, die den Erdenmenſchen, den Vater, den Sohn, den Bruder, den Ehemann, das Kind, den Unterthan, den König, den Lehrer, den Rei— chen und den Bettler vor Gott ſtellen, mit aller Menſch— lichkeit ihres Erdenlebens nicht Ewigkeitslieder, die den Wurm im Staub zum Weltenſchoͤpfer emporbilden. Der Erloͤste meines Geſetzgebers iſt kleiner als Lavater's, ſo fromm und warm und liebend und glaͤubig wie der ſeinige; aber nicht Thronen und Reiche beſchaͤftigen ihn, wenn ſeine Hinterlaſſenen ihn ſingen; nicht ferne Welten und unendliche Sonnenſyſteme, wenn das Gluͤck ſeines Erdballs ihn anſpricht; nein, ſeine Hinterlaſſenen, ſeine Kinder, ſeine Geliebte, ſein Koͤnig und ſein Bettler ſind die Bilder, die den Erlösten meines Geſetzgebers in Volks⸗ liedern vor dem Angeſicht Gottes beſchaͤftigen. Doch,

f was

115 was fage ich fo viel von den Liedern des Volks. Von oben herab, vom Throne meines Geſetzgebers, vom in nerſten Laut feines Hauſes ſtroͤmt Liebe zu Gott und den Menſchen herab in ſein Volk, und ertoͤnt gleich in dem Machtſpruch ſeiner Geſetzgebung, in dem Jubel ſeiner Feſte, in dem Geſang ſeiner Kirchen und in den Spielen ſeines froͤhlichen Volks; mit einem Wort: g

e r i ſt ein Chriſt.

Er opfert ſich ſeinem Volk, und weiß, daß ohne dieses Opfer des Herrſchers keine die Menſchheit e digende Geſetzgebung mai iſt.

Doch, ich erwache von meinem Traum. Ich ſehe die Zeitwelt in ihrem ganzen Thun und Laſſen, und be⸗ ſonders die meinen Gegenſtand naͤher beruͤhrende Juſtiz in ihren Geſetzen, Verhaͤltniſſen, Beamteten und Hand— langern vor mir ſtehn. Es iſt mir, ich hoͤre ganze Hau⸗ fen ſolcher Menſchen mit vereinigter Stimme mich anrus fen: du haſt jetzt ſo lange geredt, aber hoͤre, du haſt uns mit allem dem, was du geſagt, von nichts uͤberzeugt, als daß du traͤumſt und nicht in der Welt lebſt, wie ſie wirklich iſt; es iſt dir alles nicht recht, was wir deiner Moͤrderinnen halber gethan haben und was wir ihrent⸗ halben thun koͤnnten, und was, ſo lange die Welt ſteht, ihrenthalben geſchehen iſt. Sag' doch denn einmal nur beſtimmt, was wir, wenn der Sal wieder eintritt, 1 halben thun ſollen. ö 556

Peſtalozzi's Werke. VIII. 8

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Aber, wenn ich mir das Bild der Fragenden, wie ich

mir daſſelbe denke, dann vorſtelle, ſo ſteht mir das Wort

im Munde ſtill. Ich weiß fuͤr Leute, die nach allem, was ich geſagt, jetzo noch alſo fragen koͤnnen, keine Ant: wort, ſo wenig als ich Huͤlfsmittel fuͤr Staaten weiß, die weder durch ernſthafte Bildung fuͤr die Sittlichkeit des Volks forgen, noch durch Einſchrankung irriger, verfuͤh; render, buͤrgerlicher Grundſaͤtze den Quellen des Uebels vor⸗ beugen, noch durch edle, den politiſchen Verführungen und Unordnungen angemeſſene Huͤlfe die elenden Opfer unſerer Verkuͤnſtlung vor der Verſuchung zum Küinder⸗

mord bewahren wollen, für ſolche Staaten weiß ich dieß falls keine Huͤlfe.

Und du, Bild der Gerechtigkeit auf alten Bruͤnnen, blind an Augen, taub an Ohren und lahm an Haͤnd' und Füßen, mit dir rede ich gar nicht ich weiß keine Specifica und keine Arcana für deinen menfchenverderb- lichen Apothekerkram alter Charlatan, mit dir rede ich nicht. Ich hoffe auf beſſere Zeiten ich hoffe auf ein beſſeres, auf ein einfacheres, auf ein weniger verkuͤnſtel⸗ tes Geſchlecht. Es wird kommen es wird gewiß kom⸗ men. Aber es iſt noch nicht da. Doch, es bereitet ſich vor. Es bereitet ſich ſelber durch die aͤußerſten Folgen, die fein langes Nichtdaſeyn herbeygefuͤhrt haben, mit Sicherheit vor. Auch der kleinſte Mann, der in einem Winkel des Welttheils tief fühlt, daß wir die Erneuerung des Wohnſtubenſegens, den unſere Väter genoßen, in.

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allen Ständen verloren und dringend wieder beduͤrfen, auch der kleinſte Mann, der in einem Winkel Europa's empfindet, daß der ganze Geiſt der Geſetzgebung und der oͤffentliche Wille ihrer heiligen Macht auf den Pfeilern

einer Gerechtigkeit, die auf Gottesfurcht gebaut,

einer Menſchlichkeit, die auf Demuth ruht,

einer Schonung, die aus Liebe entquillt,

einer Weisheit, die dem Boͤſen, ehe es da iſt, vor⸗

beugt, und eines Edelmuths ruhen ſoll, der ſich dem Land und dem Volk des Lands opfert, wann und wo

ees noͤthig, | auch der kleinſte Mann, der in einem Winkel Europa’s dieſes alles fuͤhlt, iſt in der Hand Gottes ein Werkzeug, durch welches Gott ſelber dieſe beſſere Zeit, an die ich im Vertrauen auf ihn glaube, herbey führen wird. Sie iſt freylich noch ferne, doch ich hoffe auf fie, ich hoffe auf einen König, einen Menſchenfreund, einen Mens» ſchenvater, einen Diener und einen Bruder ſeines Volks, der auf ſeinem Throne die Folgen unſerer allgemeinen Verkuͤnſtlung und alle Menſchenleiden, die daraus ent— ſtanden, fuͤhlen wird, wie ſie jetzt ſchon tauſend und tauſend edle Menſchen im Land, auf die niemand ſieht und die niemand hoͤrt, ſehn und fühlen. Er wird kom⸗ men, er wird kommen, und wird auf ſeinem Throne ſehn, hoͤren und fuͤhlen, was jetzt nur wenige, die in ſeinen Hoͤhen leben, auch nur ahnen. Und wenn er er— ſcheinen, wenn er da ſeyn wird, wird ſich in allem Volk

& 8 *

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die Stimme erneuern: der Thron iſt ein Stuhl Gottes, der der Menſchheit geweiht iſt, und die erſten Stuͤtzen des Throns ſind in allen Staͤnden die Maͤnner, deren hoher, edler Sinn mit dem Thron, dieſem geheiligten Stuhl Gottes, fuͤr die Menſchheit einig iſt.

Weber die

Idee der Elementarbildung.

—U—U—U—d A=

Eine Rede,

gehalten vor der Geſellſchaft der Schweizeriſchen Erzie— hungsfreunde, in Lenzburg im Jahr 1809.

von

Heinrich Peſtalozzi.

Vorrede. kr

Dieſe Rede, die von derjenigen, welche ich in Lenz⸗ burg wirklich gehalten, merklich verſchieden iſt und das Gepraͤg eines fremden, auf mich wirkenden Einfluſſes ſichtbar an ſich traͤgt, laͤßt den in dieſem Zeitpunkt in unſerer Mitte herrſchenden, voreilenden Drang zu ei— ner philoſophiſch begruͤndeten Darſtellung der Idee der Elementarbildung im ganzen Umfang ihres Zu— ſammenhangs mit ihrem tiefern, innern Weſen, mit— ten durch die unwiderſprechliche Wahrheit ihrer Haupt— anſicht, auffallend durchſchimmern. Sie iſt alſo von dieſer Seite als ein bedeutendes Beleg der Geſchichte meines Hauſes und meiner Beſtrebungen in dieſem Zeitpunkt anzuſehn. Es iſt aber nicht zu laͤugnen, daß dieſe Voreilung in dieſem Zeitpunkt uns zu groſ— ſen Uebereilungen und vorzuͤglich dahin fuͤhrte, daß ſich das Bild des großen Gedankens, der unbeſtreit— bar der Idee der Elementarbildung zum Grunde ligt, in uns ſelber mit dem Bild unſers, dieſe Idee betref— fenden, wirklichen Thuns auf eine Weiſe vermiſchte, daß wir den Einfluß der Schwäche des letzten auf uns ſere Anſicht von der Natur und der Wahrheit des er— ſten nicht mehr, wie wir ſollten, in uns ſelber erkann⸗

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ten, und uns im Gegentheil dahin verirrten, das Traumbild unſerer, in ihrer Wahrheit noch gar nicht erkannten, Idee, als waͤre es dieſe, in ihrem ganzen Umfang von uns erkannte, Wahrheit ſelber, ins Aug’ zu faſſen, und in Gefolg dieſes Grundirrthums nicht nur die literariſche Erforſchung dieſer Idee ſelber, ſondern ſogar die oͤffentliche Darſtellung und allgemei⸗ ne Bekanntmachung der beſchraͤnkten Vorſtellung, die wir von ihr hatten, weit wichtiger zu achten und zu behandeln, als die praktiſche Bearbeitung der Mit⸗ tel, durch die ſie allein wahrhaſt dargeſtellt und ins Leben gefegt werden kann. Dieſer Irrthum fuͤhrte uns weit, und ich darf wohl ſagen: hinc ille lacry- me. Wahrlich, er machte uns im innerſten Weſen unſerer Beſtrebungen und unſerer Pflichten verirren. Ich ſchweige davon, und beruͤhre nur eine Anſicht mei⸗ nes Gegenſtands, von der mir aber ſehr wichtig iſt, daß man ſich uͤber mein wahres Urtheil diesfalls nicht irre. Die Kuuſt der Elementarbildung iſt in ihrem Weſen als eine menſchliche Kunſt, oder vielmehr als eine menſchliche Zugabe der goͤttlichen Grundlage der innern Naturgemaͤßheit in der Entfaltung unſerer Kraͤfte, die im Weſen dieſer Kräfte ſelbſt ligt, anzus ſehn. Vermoͤg dieſer Anſicht find alle Kunſtbemuͤ⸗ hungen unſers Geſchlechts, die die Entfaltung und Bildung unſerer geiſtigen und phyſiſchen Kraͤfte, zu deren pſychologiſchen Begruͤndung die Idee der Ele— mentarbildung hinlenkt, zum Zwecke haben, den hoͤ⸗

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hern Geſetzen der ſittlichen und religioͤſen Bildung uns ſers Geſchlechts zu unterordnen.

So unſtreitig dieſes aber iſt, ſo unſtreitig iſt 5 wahr, die geiſtigen und phyſiſchen Anlagen unſrer Natur haben, eben wie die ſittlichen, die ewigen und ſelbſtſtaͤndigen Fundamente ihrer Wahrheit und ihres Rechts in ſich ſelbſt; und die Unterordnung ihrer menſchlichen Bildungsmittel unter das Recht und die Wahrheit der ſittlichen Anſpruͤche unſrer Natur iſt nicht die Unterordnung des goͤttlichen, ewigen Rechts der Wahrheit und Selbſtſtaͤndigkeit dieſer Kraͤfte un⸗ ter die Wahrheit, das Recht und die Selbſtſtaͤndig⸗ keit irgend einer andern Wahrheit und irgend ei⸗ nes andern Rechts. Weit entfernt, daß die Unter⸗ ordnung der menſchlichen Bildungsmittel der Denk⸗ und Kuunſtkraft unter die hoͤhern Gefege der Sittlich⸗ keit und Religioſttaͤt das Recht und die Wahrheit der geiſtigen und phyſiſchen Kraͤfte unſerer Natur be— ſchraͤnken, und ihre Selbſtſtaͤndigkeit gefaͤhrden, iſt fie vielmehr geeignet, die Freyheit, Stärkung, Ver: edlung und Selbſtſtaͤndigkeit dieſer Kräfte und Ans lagen ſelber zu begruͤnden und zu ſtaͤrken. Dieſe Un⸗ terordnung iſt eine Unterordnung des Goͤttlichen im Goͤttlichen; aber keine menſchliche Anmaßung darf ſich an die Stelle dieſes goͤttlichen Rechts hinſtellen, um die Unterordnung der geiſtigen und phyſiſchen Bil— dungsmittel unter das Getrieb ihres menſchlichen Ein— fluſſes auf die ſittliche Bildung des Kinds zum Dienſt

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der menſchlichen Selbſtſucht und der menſchlichen Ans maßung dahin zu mißbrauchen, die Selbſtſtaͤndigkeit, Freyheit, Staͤrkung und Veredlung der geiſtigen und phyſiſchen Anlagen unſers Geſchlechts zu verwirren, zu hemmen und zu ſchwaͤchen; und es iſt ſicher, alle, auf der Bahn einer ſolchen ungoͤttlichen, menſchlichen Verirrung erzeugte und dadurch veroͤdet und iſolirt in der Menſchennatur daſtehende, ſittlich und religiös dargelegte Anſpruͤche und Geſinnungen, wenn ſie auch noch ſo ſehr durch die hoͤchſte Ueberſpannung der Imagination belebt und unterſtuͤtzt wuͤrden, ſind durchaus als keine befriedigende Bildungsmittel der Segenskraͤfte des wahren Glaubens und der wahren Liebe anzuſehn. Jede, das heilige, innere Weſen der goͤttlichen Unterordnung des Menſchlichen, Wech⸗ ſelnden und Willkuͤhrlichen unter das Goͤttliche, Ewi⸗ ge und Bleibende der Menſchennatur mißkennende, fo wie jede, auf die Einheit und Gemeinkraft derſel⸗ ben ſtoͤrend einwirkende Bildungs- und Unterrichts⸗ weiſe deſſelben traͤgt das Gepraͤg ihrer ungoͤttlichen, menſchlichen Verirrung in ſich ſelber, und zwar in dem Grad um ſo mehr, als ſie den Mittelpunkt ih⸗ rer Verirrung durch die thieriſche Sinnlichkeit ihrer Selbſtſucht, oder auch durch die geiſtigere Sinnlichkeit ei⸗ ner, für ihren Irrthum unnatuͤrlich belebten, Einbil⸗ dungskraft unterftäßt, So ſelbſtſtaͤndig und genug⸗ thuend die Fundamente der Sittlichkeit, Glauben und Liebe, nach ewigen Geſetzen entfaltet und ihrer Rei⸗

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fung entgegengeführt werden muͤßen, fo ſelbſtſtaͤndig und genugthuend muͤßen auch die Denk- und Kunſt⸗ kraͤfte der Menſchennatur entfaltet und ihrer Reifung naͤher gebracht werden. Die meunſchliche Kunſtein— miſchung in die Entfaltung der ſittlichen und religioͤſen Geſinnungen iſt der Abirrung zur unnaltuͤrlichen Zer— ſtoͤrung der Segenskraͤfte der Einheit der Menſchen— natur eben ſo unterworfen, als dieſes die menſchliche Kunſteinmiſchung in die Entfaltung der geiſtigen und phyſiſchen Segenskraͤfte unſrer Natur auch iſt. Es iſt aber auch die eigentliche Beſtimmung der Idee der Elementarbildung, dieſen gedoppelten Abwegen der Einmiſchung der menſchlichen Kunſt in die Entfaltung unſerer Kräfte und Anlagen vorzubeugen; und fo wie ſie in dieſer Ruͤckſicht das Beduͤrfniß der Unter⸗ ordnung aller ihrer Mittel unter die Wahrheit und das Recht der ſittlichen und religioͤſen Auſprachen unſ— rer Natur anerkennt, erkennt fie auch das Beduͤrfniß der ſelbſtſtaͤndigen und genugthuenden Entfaltung je— der einzelnen Kraft unſerer Natur, und ſpricht in dies ſer Ruͤckſicht die Trennung der Entfaltungsmittel un⸗ ſerer Kräfte und Anlagen von den Bildungsmitteln der Fertigkeiten, die der Anwendung dieſer Kräfte zum Grunde liegen, als weſentliches Beduͤrfniß ihrer Be— ſtimmung an, und fordert, daß die Bemuͤhungen fuͤr die Entfaltung der Kraͤfte denjenigen fuͤr die Ausbil— dung ihrer Anwendungsfertigkeiten weſentlich vorher— gehen. Sie muß es fordern. Ohne Anerkennung

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der Wahrheit dieſer Anſicht iſt keine pſychologiſche Organiſation der Bildungs und Unterrichtsmittel uns ſers Geſchlechts denkbar, ſo wenig als ohne Hinlen⸗ kung der Bildungs- und Unterrichtsmittel unſers Ge⸗ ſchlechts zur ſelbſtſtaͤndigen und genugthuenden Aus⸗ bildung jeder einzelnen, menſchlichen Kraft die heilige und ewige Bahn geoͤffnet werden kann, die zur Harz monie unſerer Kräfte und zum Gleichgewicht derſel⸗ ben unter einander hinzufuͤhren vermag, ohne deren Erzielung durchaus kein allgemeiner Vorſchritt zur Begruͤndung der ſittlichen, haͤuslichen und buͤrgerli⸗ chen Beruhigung unſers Geſchlechts durch die Erzie— hung denkbar iſt. Aber dieſes groſſe Ziel, welchem das Menſchengeſchlecht von jeher nachſtrebte und wel⸗ chem es auch jezt nachſtreben muß, geht durchaus nicht aus der geiſtigen Tiefe der Nachforſchungen uͤber das Weſen der Menſchennatur und dem aus ihr herzu— leitenden Weſen der Entfaltungsmittel ihrer Kraͤfte hervor; im Gegentheil, es geht weſentlich und allge— mein aus tauſend partiellen Erfahrungen des wirk— lichen Thuns der Natur in der Entfaltung unſerer Kraͤfte ſelbſt hervor; und dieſe Erfahrungen ergeben ſich im allgemeinen weit lebendiger aus dem, was wir thun, als aus dem, woruͤber wir nachdenken. Die Wirkung des Thuns iſt in dieſer Ruͤckſicht unendlich weit eingreifender auf die Belebung des ganzen Um⸗ fangs unſerer Kraͤfte und Anlagen, als dieſes das iſo⸗ lirte Nachdenken über unſere Kräfte ſelber je zu ſeyn

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vermag; und wir müffen auch in dieſer Ruͤckſicht feſt ins Aug' faſſen, unſer Wiſſen und unſer Koͤnnen iſt Stuͤckwerk, und der Weg zur Erkenntniß der Wahrs heit, beydes, in unſerm Wiſſen und in unſerm Koͤn— nen, geht von dieſem Stuͤckwerk aus, und iſt ſeiner Natur nach ein durch dieſes Stuͤckwerkzerriſſener Weg. Aber wir muͤſſen ihn wandeln. Wir muͤſſen ihn auch in der Erforſchung und Bearbeitung der Idee der Elementarbildung wandeln. Die wahren Mittel zu ihrer Befoͤrderung liegen, wie diejenigen der allge⸗ meinen Cultur unſers Geſchlechts, in ihrer unendli— chen Verſchiedenheit in der Hand des Menſchenge⸗ ſchlechts ſelber und aller ſeiner, die Cultur dieſes Ge⸗ ſchlechts zu fördern fähigen, Kenntniſſe, Kräfte und Tugenden. Jedes Scherflein, das einzelne Mens ſchen zu ihrer Befoͤrderung beytragen, ob es gleich als ein nichtiger Tropfen in ein unermeßliches Meer faͤllt, iſt dennoch in jedem Fall in dem Grad geſegnet, als der Menſch es anmaßungslos hingibt und ſich nicht traͤumeriſch uͤber den Werth ſeiner Gabe und uͤber den Einfluß derſelben ſelbſtſuͤchtig verirrt. Jeder Men⸗ ſchenfreund freue ſich zwar des kleinſten Scherfleins, das er zur Befoͤrderung dieſer Idee beyzutragen vers magz aber keiner, keiner von allen werfe ſich auf zum Helden und Schoͤpfer des groſſen Gedankens; keiner, keiner werfe ſich auf zum Richter, Leiter und Schaͤtzer der Gaben, die ein anderer für dieſen Zweck dar⸗ bringt. Jeder, jeder wandle in Unſchuld und Rein⸗

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heit in den Schranken, in denen ihm fein eigenes Licht zu zuͤnden vermag. Der Reiz, auſſer dieſe Schran⸗ ken herauszutreten, iſt zwar in unſerer Mitte ver- ſchwunden, oder wenigſtens gemindert; aber, Freunde! laßt das Ende unſrer diesfaͤlligen Verirrung nicht der Anfang der Erſchlaffung unſers Eifers zur Befoͤrde— rung der groſſen Folgen ſeyn, die auch ein kleiner, ein⸗ zelner Schritt zur Aeufnung, Foͤrderung und Erwei⸗ terung der wahren, aͤchten Mittel der Elementarbil⸗ dung nothwendig haben muß. Freunde der Meuſch⸗ heit und der Erziehung! laßt uns in unſern weitern Beſtrebungen fuͤr dieſen Zweck beym Feſthalten der heiligen Ueberzeugung von dem ſegensvolleu Einfluß der Religion auf die Reinigung und Heiligung aller Kräfte und Anlagen der Menſchennatur in der Beurs theilung und in der Benutzung der menſchlichen Bil dungsmittel unſers Geſchlechts das weſentliche Beduͤrf— niß der Harmonie unſrer Kraͤfte und des durch ſie zu erzielenden Gleichgewichts derſelben nie aus den Au⸗ gen verlieren, und uns ſorgfaͤltig davor huͤten, daß keine unſrer Erziehungsweiſen und ſogar keines unſe— rer Erziehungsmittel uͤberwaͤgend weder zu einer herz— loſen Verſtandesthaͤtigkeit, noch zu einer geiſt- und ges daukenloſen Herzeusbelebung hinlenke. Huͤten wir uns beſonders, die Mittel gegen das Scheitern an die⸗ ſer beydſeitigen Klippe in irgend einer Maßregel zu ſuchen, die ein vielſeitig belebtes Uebergewicht einer einzelnen, menſchlichen Anlage uͤber alle andern zu ih⸗

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rer Folge haben koͤnnte. Wir muͤſſen die Mittel ae gen dieſe gegenſeitigen Verirrungen in ſolchen Maß⸗ regeln ſuchen, die ihrer Natur nach geeignet ſind, die Harmonie der menſchlichen Kraͤfte und durch ſie das Gleichgewicht derſelben unter einander mit pſychologi⸗ ſcher Sicherheit zu begruͤnden und zu erhalten. In dem, durch das Stuͤckwerk des menſchlichen Lebens zerriſſenen, Gang der Cultur unſers Geſchlechts iſt das Ergreifen des einzelnen Guten, das jedem Aus genblick des Lebens eigen iſt und weſentlich den Se gen dieſes Augenbliks ausmacht, und das Feſthalten deſſelben mit dem ganzen Umfang unſrer Kraͤfte, mit Herz, Geiſt und Hand, das erſte, weſentliche Befoͤrderungsmittel der wahren, menſchlichen Kunſt. Dieſes Mittel aber iſt in ſeinem ganzen Umfang durch— aus nicht ein Reſultat des vielſeitig belebten, menſchli— chen Denkens und Forſchens, es iſt im Gegentheil ein Reſultat des allſeitig belebten, menſchlichen Thuns, des thaͤtigen Lebens in Wahrheit und Liebe. Alle innere, wahre Kraft des Denkens und Forſchens, ſo— gar des Denkens und Forſchens im Goͤttlichen und Heiligen, wird durch dieſes Thun im Leben begruͤn— det und ſtark. Die Anſtrengung in allem guten Thun des Lebens, die unermuͤdete Anſtrengung in Erfüllung feiner Pflichten und in der vielſeitigen Selbſtuͤberwindung, die eine ſolche Anſtrengung ers fordert, iſt wahrlich dann auch das hoͤchſte Glau— bends und Dankopfer, das du dem Schöpfer dei⸗

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ner Gaben und Anlagen zu bringen vermagſt. Wahrlich, wahrlich, es iſt das heiligſte Gebeth, das aus der tiefen Kraft deines glaubenden und lieben⸗ den Herzens zu Gott deinem Vater aufzuſteigen vermag.

Iferten, am 16. October 1821.

Der Verfaſſer.

Perehete Herren und Sreande!

800 halte, die Urſache, warum ihr mich zu euerm Präſt identen erwählt, ruhe weſentlich auf dem Erfolg mei⸗ ner paͤdagogiſchen Unternehmung und auf der Zahl mei⸗ ner Dienſtjahre in dieſem Fache. Ich kann zwar die letz⸗ te Urſache nicht eigentlich loben; eine junge Geſellſchgft iſt nicht wohl unter einem alten Fuͤhrer. Ihr beduͤrft einen von reifem Alter, aber nicht einen von, überreifem. Ihr habt indeſſen zum Theil gegen die Folgen dieſes um⸗ ſtands Vorſehung gethan, und erwartet von mir als Fuͤh⸗ rer zum Voraus nicht viel. Ihr ‚fühlt. in, euch fetbft Kraft für eure Fuͤhrung. Das beruhigt mich, und ich freue mich ‚darüber. Ich koͤnnte euch nicht führen, wenn ich auch ſollte. Meine Zeit iſt voruͤber, meine, Krafte neh⸗ men ab, und meine Tageslaſt wird indeſſen immer groͤſ⸗ ſer und immer uͤberſpannter.

Indem ich jedoch mit aller ndlichen Auhaͤnglichkeit zu allem ſtehe, wozu ihr euch fuͤr die Menſchheit und das Vaterland verbindet, weiß ich meinen Dank fuͤr die Achtung, die ihr mir mit eurer Wahl erwieſen, nicht beſ⸗ fer auszudtuͤcken, als wenn ich euch die Anſichten meines Thuns und Treibens in meiner Anſtalt nach ihren we⸗ ſentlichſten Geſichtspunkten vor Augen lege.

So wie meine Stellung gegen euch über meine Kräfte iſt, ſo iſt es auch diejenige zu meinem Unternehmen. Es

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ift eigentlich nicht das Meine; ich vermochte das nicht, was ich gethan, weder an Geiſteskraft noch an phyſiſchen Mit⸗ teln. Wie hätte ich bey dem Bewußtſeyn des beſchraͤnk⸗ ten Grads meiner Kraͤfte und bei meiner Lage auch nur daran denken duͤrfen, das unternehmen zu wollen, was aus den ſchwachen Anfaͤngen meines ſo Felsen rag ten. Thuns entſprungen!

Jetzt ſteht es da, vor den Augen der Wett, beides m große Idee und als große Anſtalt, in meiner Hand und auf meinen Schultern eine Laſt, die ich kaum zu tragen vermag, angefangen und unvollendet; in einigen Theilen kaum noch bluͤhend, in andern der Reifung nahe; in einigen ſeelerhebend, in andern mit Sorgen belaſtet; von einigen Seiten des Erfolgs ſicher, von andern der ndthigen Mittel beraubt; gelobt von Einigen, getadelt von Andern; beurtheilt von Vielen, gekannt von Wenigen; nachgeahmt, ehe es da, verpfuſcht, ehe es gekannt iſt; Aberal in feinem Aeußern zwiſchen Mißverſtand und Uns kunde ſchwankend. So lag das Unternehmen, ſo liegt es noch jetzt. Waͤre ich jung, ſo koͤnnte es liegen und rei⸗ fen, und ich durfte nicht zudringlich ſeyn, viel darüber zu reden und ins Licht zu ſetzen, was man nicht ſieht; aber da ich alt bin, ſo liegt mir der ſchnellere Erfolg meines Thuns ſehr am Herzen. Dieſer haͤngt indeſſen vielſeitig von der Firirung der oͤffentlichen Meinung über daſſelbe ab. Auch machte mich das Schwanken dieſer Meinung für meine Zwecke ſehr beſorgt. Ich wuͤnſchte lange eine ernſte öffentliche Pruͤfung meines Gegenftandes, und glau- be einiges gethan zu haben, ſie zu verdienen; aber die

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Neigung hierzu ſchien ſeit einer Weile in der nähe, fie ſchien im Vaterlande ſi ch eher zu vermindern als zu ver⸗ mehren; im Gegentheil, es ſchien ſich hie und da in demſel— ben einige Neigung zum Entſtellen der Sache, zum bloſ— fen Belaͤcheln derſelben zu aͤußern. So wie man ſich z. B. gefiel, in öffentlichen "Blättern zu äußern, daß man in den bedeutendſten Staͤdten des Vaterlandes kaum das Daſeyn eurer Geſellſchaft, verehrte Herten, kenne; e ge⸗ fiel man ſich hie und da, den Gegenſland meiner Unter: nehmung als unter der Würde und unter dem Geſichts⸗ kreiſe von Maͤnnern, die das Erziehungsweſen und die menſchliche Kultur wiſſenſchaftlich und nach hoͤhern Anſich⸗ ten ins Auge faſſen, anzuſehen, und die Aufmerkſamkeit der bedeutenden Fremden auf denſelben als eine Folge ih rer Unbekanntheit mit der wirklichen Wahrheit, die man in der Nähe beſſer kennen muͤſſe, in die Augen fallen zu machen. Das Lebendige des Widerſpruchs ſchien zwar ei⸗ nige Zeit ſich durch das Wachſen der Gleichgültigkeit zu mindern; aber das war eigentlich das Schlimmſte, was begegnen konnte. Es iſt Kraft im Widerspruch, et bringt in jedem Falle dem, der deſſen werth iſt, Segen; aber Lauheit und Kaltſinn bringen nie Segen. Wer immer die Wahrheit und den Menſchen liebt, muß deßwegen der Lauheit und dem Kaltſinn in jedem Falle mehr als dem Widerſpruch entgegen wirken. Wo Lauheit und Kalt⸗ finn, dieſes Erbtheil eines jeden tief verdorbenen und tief entwuͤrdigten Geſchlechtes, platzgreift, da iſt die Seele der Wahrheit und Liebe verſcheucht, und die Seele des Irr⸗ ihums und der Selbſtſucht findet auf allen Seiten ihre

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Armſeſſel, um darin ihre fpottende Stimme gegen die Wahrheit und Liebe, gemaͤchlich laut werden zu laſſen. Aber umgekehrt, wo die Lauheit nicht platzgreift, da fin⸗ det die Seele der Wahrheit und Liebe immer in warmen Herzen der Menſchen einen bereiteten, Wohnplatz, und dem Irrthum mangelt dann in unſerer Natur das Heer der Dienſtknechte, mit dem, die niedere Selbſiſucht die Schwaͤchen er Mepfhrn zu umgeben gewohnt iſt. Es war mir wichtig, in Ruͤckſicht auf ‚meinen, Gegenſtand den Zuſtand dieſer Lauheit in meinen naͤchſten umgebun⸗ gen zu entfernen, und ich bath in dieſer Abſicht die Tag⸗ ſahung des Vaterlandes um den, offfziellen Schritt der Pruͤfung meines Unternehmens.“ Sie hat. meine Bitte ge⸗ waͤhrt; ich danke es, dem edeln Greifen, der ihr vorſtand. Sie wird mein Unternehmen; prüfen, und was auch im⸗ mer das Reſultat, ihrer Unterſuchung fon ı wird, ‚fie, wird dem Zuſtande des Kallſinnes über ‚den. Gegenſtand ein Ende machen z, ihre Wahrheit wird die Wahrheit des Be terlandes, und ihre Zweifel werden die der. Edelſlen de des Vaterlandes werden, und dieſe werden zur, Wahrheit durchdringen, und mein, Alter wird in der Belebung des Forſchens nach Wahrheit uͤber meinen Begenfiand Befrie⸗ digung, finden. it m Gi „„ Aher auch euch,, verſammelte Sue bitte ich aus gleichen Abſicht, prüfet daſſelbe; auch euch bitte ich, wir derſtehet dem Kaliſinn und der Lauheit, mit der die Selbſt⸗ ſucht, des ſchwachen Zeitgeiſtes aller Liebe des reinen gu⸗ ten Herzens den Tod gibt. I“

ie an die Tagſatzung, alſo wende ic mich auch an

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uch, Freunde der Erziehung, Freunde der Jugend, und mit euch an den weiten Umfang der Frrunde der Menſch⸗ heit, wo fie immer leben und ſeyen“ e Das, was ich euch jetzt vorleſe, und was ich mit eüch dem weiten Umfang der Freunde der Menſchheit ans Herz legen werde, iſt eben das, deſſen That und Wahrheit die offentlichen De: putirten an Ort und Stelle umerſuchen werden! Auch auf euch, verſammelte Maͤnner, in denen ich mir gleich⸗ ſam die uns naͤhere Repriſentatiorn⸗ der Volksliebe, die in den Herzen der edlern Menſchen allgemein ſchlaͤgt, vor⸗ ſtelle, ja auch auf euch, Manner ber Menſchheit, Maͤn⸗ ner des Volks, duch! uf euer Urtheil über mein Thun ſchaut das Galler, und mit ihm die Menſchheit; auch euch oil ich, ſo viel an mir iſt, in den Stand ſtellen, von meinem Thun, on meinen Zwecken und von mei⸗ ten Mitteln, richtig ürkheiten zu könne! at al a Es iſt indeſſen tchts⸗ weniger als die Vorleſung einer Rede, die dieſes erzielen kann. Ohne bie Ausführung meines Gegenſtandes Ar der Naͤhe zu ſehen, iſt kein ent⸗ ſcheidendes ſicheres Uttheil uͤber denſelben moglich; ſelber macht auch das Sehen der Unternehmung der Methode in der Anſtalt nicht unmittelbar ein gründliche Urteil mög» lich. Der Umfang der Zweige der erſtern, ſo wie des Per⸗ ſonals des er ft zu groß, um leicht uͤberblickt wer⸗ den zu koͤnnen. Einige Eigenthuͤmlichkeiten beider ſind von dem Gewoͤhnlichen des Unterrichts und der Erziehung zu abſtechend, und haͤngen mit der Entſtehung und dem Gange des Ganzen zu tief und bw innig zuſammen, als daß ihre Natur bey einer bloßell allgemeinen Ans und

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Ueberſicht auffallen konnte. Die. Sache kann ferner in Perſdulichkeiten erſcheinen, die viele gar nicht anſprechen, die manche fo gar zurückſtoßen, und deren Eindruck, wer Wahrheit ſucht, „überwinden, und von dem Gegenſtande rein zu ſondern feaͤhig ſeyn muß. Die Stuffe, auf der die Unternehmung gegenwartig ſteht, iſt das Reſultat in ihr ſelbſt gereifter Verſuche, Beobachtungen, Erfahrungen und Forſchungen, die, ſich auf das gruͤnden und unaufhoͤrlich wieder durch, dasjenige erweiterten und, ergaͤnzten, was mir und den mit mir vereinigten Freunden und Gehülfen taͤglich vor Augen lag, und worauf einerſeits ein Spiels raum, anderſeits Beduͤrfniſſe hinführten, die ſonſt an kei⸗ nem Orte und in, keiner Haushaltung, und eben fo mes nig in einer Privat- oder offentlichen Schule Statt finden. Es iſt natürlich, daß, wer die, Sache ſehen will, auch muß ſehen koͤnnen; daß er, hellen und unbefangenen Gei⸗ ſtes und reinen Gemches, fuͤr das Weſentliche der Grund⸗ ſaͤe wie der Ausübung Sinn habe, und ſich für daffelbe eine Zeitlang gleichſam außer ſeine gewohnten Anſichten und Gefühle müffe heraus verſetzen ‚innen aber auch dieß iſt für eine richtige Pruͤfung des Gegenſtandes noch nicht einmal genug er muß ſogar uͤber ſeinen gewohn⸗ ten Geſichtskreis und ‚über die Methode zugleich hinaus, einen hoͤhern Standpunkt der Vereinigung beider und der Erkenntniß ihres Verhaͤltniſſes zu faſſen faͤhig ſeyn. Wie dieß nur durch hohe Kraft moͤglich iſt, ſo iſt es von einer andern Seite nur dadurch moͤglich, wenn durch Verſuche und Erfahrung die Mfthode in ihm ſelbſt zu eben ſo deut⸗ lichen und feſten e reift, als ſeine bisherige An⸗

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ſicht und Ueberzeugung durch die Eindrücke feines vorher gehenden Lebens und Studiums zu deutlichen und feftem Reſultaten gereift iſt. f Idftitt Was ich euch vorleſe, ſoll bewegen nur fo viel wir⸗ ken, denjenigen von euch, denen die wahre Pruͤfung der Sache am Herzen liegt, genugſame Beweggruͤnde zu ge⸗ ben, meiner Anſtalt, wenn es immer moͤglich iſt, einige Tage der Pröfung zu ſchenken. Selbſt dieſe Pruͤfung, um die ich euch bitte, ſoll nur dazu dienen, einen feſten Punkt zu gewinnen, auf den die verſchiedenen Darſtellun⸗ gen der Methode, die Einwuͤrfe und Rechtfertigungen, zuruckgefuͤhrt werden muͤſſen, um zu deutlichen Reſulta⸗ ten zu fuͤhren nur dazu, um ſich durch die beſtehenden Thatſachen zur Ahnung des Geiſtes und des Umfangs des Ganzen zu erheben, und zu einer anhaltenden Erfor⸗ ſchung deſſelben zu erwecken, wodurch es allein erkannt, und ohne die kein einzelner Theil recht begriffen werden, und kein unternommener Verſuch weder gelingen noch zur Wahrheit führen kann. Ich weiß zwar, eine Reiſe zu uns iſt vielen von euch nicht moͤglich, aber vielen iſt ſie auch jetzt oder in der Zukunft leicht moͤglich; und viele, denen ſie nicht leicht oder gar nicht moͤglich iſt, haben Freunde und Bekannte, die einer ſolchen ernſthaften Pruͤfung mei⸗ nes Gegenſtandes fähig, und in der Lage find, derſelben die noͤthige Zeit aufzuopfern. 11 f Nicht nur der geſicherte Fortgang dieſer Berfuge, die

an fo vielen Orten zur Einführung der Methode oder ih⸗ rer einzelnen Theile gemacht werden, ſondern der geſicherte Fortgang der Menſchen- und Volksbildung überhaupt for-

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dert, daß man äber dieſen Gegenſtand richtig ürtheile. Wohin aber auch immer einzelne Urtheile über meine Be⸗ muͤhungen ausſchlagen werden; daran liegt nichts“ Die Sache iſt zu einer Kraft gediehen, deren Wirkung mitten im Schatten ihres äußerlichen Daſeyns nur durch eine höͤ⸗ here Kraft ſtill geſtollt werden kann, und nichts iſt mir ſchaͤtzbarer, als dieſe höhere, mein Thun ſelber, wenn es durch ſeine Schwäche mit ihr in Conflict kommen koͤnnte, ſtillſtellende Kraft. Ich ſuche ſie; ſie iſt mir als die ſchön⸗ fee Blume, die ich mir auf mein Grab wünſchen kann, ſchuͤtzbar, und je größer der Schatten ſeyn wird, den ſie auf mein Grab werfen wird, je cee werde ch in dem⸗ ſelben ruhen! . iz n: Doch ich gehe zur Sache! ur mac? uaum unterſuchen zu konnen, ob und wie weit dis von“ mir bezweckte Erziehungsweiſe der Menſchheit und dem Vüterlande wirkliche Vortheile gewähren konne, muß man nöehwendig vor allem aus beflimmen, was ſie iſt ; ober wenigſtens ſeyn ſoll. Sie iſt und fol elementäriſch und als Elementarmethode organiſch⸗ gen etiſch ſeyn. Ich nenne die Methode organiſch⸗ genetiſch im Gegenſatze gegen den Begriff einer hiſt oriſch⸗genetiſchen, weil dieſer Begriff zu der Anſicht führen könnte, als muͤſſe die Entwicklung und der Unterricht alle die Umwege, Krümmungen und Verirrungen durchlaufen, oder wenig“ ſtens meht oder minder darſtellen, um zur Wahrheit und Selbſtſtaͤndigkeit zu gelangen, die das Menſchengeſchlecht, wenn les blos nach ſeinem empiriſchen Gange ins Auge gefaßt wird, durchlaufen hat. Dieß iſt keineswegs meine

2 157 Meinung. Ich anerkenne vielmehr Anfangspunkte der Erziehung) die in dem Weſen der Menſchennatur liegen; ſchon an ſich Wahrheit und die Wirkung der Selbſtſtaͤn⸗ digkeſt dieſer Natur ſelbſt find, und durch deren reines Auffaſſen und Entwickeln dem Kinde eben jene zu zahllo⸗ fen Irrthümern fuͤhrende Abwege und Umwege erſpart werden ſollen, denen der Menſch jedesmal auf einem blos ſinnlichen Gange, deſſen Reſultate er eben ſo ſinnlich und verwirtt auffaßt, unterliegt. Doch ich mache den Ver⸗ ſuch, die dießfaͤlligen Eigenthümlichkeiten meiner Anſichten von der Methode im Einzelnen näher zu erklären. Sie bezweckt das Auffinden und Feſthalten weſentlicher Elemente, d. h. unveraͤnderlicher Anfangs“ und Fortleitungspunkte alles Und terrichts und aller Erziehung. Sie bezweckt das Auffinden, nicht das Erfinden der Elemente. Nicht um neuen, bisher noch nicht vorhandenen Bildungsſtoff, ſondern um deine richtige Würdigung, Auffaſſung und Ber arbeitung des mit der Schoͤpfung des Menſchengeſchlech⸗ tes ſchon vorhandenen; nicht um eine bisher unbekannte Bildungsform der kindlichen Natur, fondern um das Ver⸗ ſtiehen und um die Anwendung derjenigen iſt es zu thun, nach der die Gottheit ſelbſt von je her in dem Seyn und Wirken aller Kreaturen ſich offenbarte. Nur das Verkann⸗ te ſoll beſſer und allgemeiner anerkannt, das Zerſtreute ſoll geſammelt, das Verwirrte geſoͤndert und geordnet wer⸗ den. Die Erziehung ſoll ſich ſelbſt begreifen lernen, und der Erzieher dadurch in feine Würde eintreten „daß er in Einheit mit der Ratur den Willen und das Werk der

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Vorſehung am Zögling nach ihrem in ihm ſelbſt ausge⸗ druͤckten Geſetze erfuͤlle. Sie bezweckt das Feſthalten, nicht das Aufſtellen der Elemente. Denn eben, was Gott von je her in der Natur aufgeſtellt und dem Menſchengeſchlecht in ihr dargeboten hat, ſoll dieſes ins Auge faſſen und zu feiner Bildung benutzen. Nur die Willkuͤr ſoll verbannt werden, und das Thun des Nothwendigen mit Freyheit an ihre Stelle treten. Was der reine Inſtinkt bewußtlos, aber mit ſicherm Erfolg that, ſoll der Erzieher mit Ein⸗ ſicht und anſchauender Erkenntniß thun; was die Natur mit Nothwendigkeit hervorbrachte, ſoll die Erziehung mit Vernunft uͤbernehmen, und in ihrem Verfahren eben ſo umfaſſend und eben fo ſicher des Erfolgs ſeyn. Der In⸗ ſtinkt, mit einem Wort, ſoll ſich, ohne von ſeiner Kraft zu verlieren, in Erkenntniß, die Empirie, ohne ihre Un⸗ ſchuld und ihren reinen Sinn fuͤr die Beobachtung der Natur in allen Geftalten aufzuopfern, in Geſetz, und das Geſetz, ohne von ſeiner Strenge etwas nachzulaſſen, in Liebe verwandeln. u

Elemente einer folchen: . Were Metbobe find diejenigen Anfangspunkte des Kennens, Koͤnnens und Wollens, die gleich dem Saamenkorn, das in die Erde gelegt, und, durch ihre erregenden Eins, fluͤſſe befruchtet zum Halm, zur Bluͤthe und zur Frucht erwaͤchst, das Menſchliche im Kinde, ſeine Hu manität oder die Keime der Erkenntniß des Wahren, des Gefuͤhls des Schoͤnen und der Kraft des Guten, inn ihrem ganzen Umfang in ſich ſchließen und, inder vollendeten Ent

259 5 wicklung dieſer Keime, die Wahrheit, die Schoͤnheit und die Gute im Kinde ſelbſt vol lendet verwirklichen. Die Methode ſoll in der Ent⸗ faltung derſelben, und unmittelbar durch ſi e, zugleich den Willen des Kindes, ſeinen Trieb zum Wahren, ſein Wohlgefallen am Schönen und ſeinen Eifer fuͤr das Gute fo felbfiftändig und lebendig wieder in Anſpruch nehmen, daß ſi ich die Erkenntniß des erſten, der Sinn fuͤrs zweyte und die Kraft fuͤr das dritte in ihm, ſo weit das Maß und die Schranken feiner Natur deſſen nur immer fähig ſind, harmoniſch entfaltet. Sie ſoll durch die Art, wie fie dabeh verfaͤhrt, den Stuffengang der Natur in der Ent⸗ wicklung des Menſchen den Vorſchritt, nach dem dieſer das Kind allmaͤhlig zu immer weiterer Einſi cht, immer hoͤherer Kraft und immer reinerer Liebe erhebt, nicht. nur befolgen, ſondern ihn in ihrem Organismus ſelbſt anſchau⸗ lich machen und weſentlich ausdruͤcken. Sie ſoll die menſch⸗ liche Erkenntniß und die menſchliche Kunſt ſelbſt, wie ſie aus ihren eigenthuͤmlichen einfachſten Keimen entfpringt, eben fo weſentlich und anſchaulich, nicht nur von ihm, ſondern durch daſſelbe ſelbſt entſtehen laſſen. Sie ſoll dasjenige, was die Natur, das Leben, die Geſchichte, als Reſultat des Daſeyns der Erfahrung und der Weisheit der Jahrhunderte, dem Kin: de zum Lernen aufſtellt, mit demjenigen ins Gleichgewicht bringen, was es aus ſich ſelbſt erzeugen muß, um ſeine Kraft mit ſeinem Wiſſen, ſeine Beduͤrfniſſe mit ſeinen Trieben, die Forderungen ſeiner aͤußern Lage und Ders haͤltniſſe mit dem, was es in ſich trägt, in Uebereinflim- _ mung zu erhalten.

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um ihrer Aufgabe bewachen zu ſehn und ihren Na⸗ men zu verdienen, muß d die Methode auf den Ur⸗ ſprung aller a surädgefühet werden. als Minfhenert beben ben war, that, um das 5970 der Testen auch nur möglich zu machen, aufſuchen, und die Putte zur Klarheit bringen, durch welche ſie als Menſchenwerk wirklich wurde. Dieſe liegen i in dem, wor⸗ in der Meiſch, ungeachtet aller Kultur und aller Außen 15 ſchellbaren e, wache die t Rette ben ter allen gingen noch iſt, geweſen iſt, was er bleiben wird, und was ihm als angeſtammtes eigen Gut bleiben muß, fo lange er ſich nicht ſelbſt aufgibt. Die Geſammtküftut unfere Geſchlechts macht aber ſelbſt wieder einen goth endigen Theil“ dieſes ſeines ürſprän glichen, d. he, in feinem Weſen gegründeten Dafenns aus. Wie ihre Bedeutung nur in dem, was ihr Holberg und unabhängig von ihr da iſt, boitfiänbig gefaßt werden kann, ſo wird hin wie⸗ derum dieſes Vorhergehende vürch fie erſt bollſtaͤndig, deut⸗ lich und illätbar: Dieſe Kultur gibt, als ein ſolcher we⸗ ſentlicher The ei des Daſehns 'unfere Geſchlechts begriffen, über den Gang feiner Entfaltüng, über feine Beduͤrfniſſe zum Behufe der Etziehüng, eben fo lulbrütüche Nur

ſchlͤſſe. S In dieſem Geiſte und lach diefer Anſicht geht die Mer thode nicht nur auf das Urſprüngliche der Menſchen⸗ natur, ſondern eben fo auf das Urſpruͤngliche jedes

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einzelnen Unterrichtsgegenſtandes, und jedes Wiſſens, Koͤnnens und Wollens, das dem Kinde durch die Erziehung und den. Unterricht eigen, gemacht werden ‚fell, zuroͤck. Sie faßt in jedem Fall, bey ihren erſten Anfangen ſowohl als bey ihrem Vorſchritt mit kind⸗ lichem Sinn die ſich entfaltende Natur, in ihrem Keim. Ihre Bildungsmittel beruhen nicht auf den zufälligen Ver⸗ haͤltniſſe en, Lagen und Umſtaͤnden, in denen fie) das ein⸗ elne Kind befindet, ſondern vielmehr auf den Kraͤften der Menſchennatur ſelber und auf den Realgegenſtänden, aus welchen die Verhaͤltniſſ e der Menſchen, und die Wahr⸗ heiten, die ſich von dieſen Verhaͤltniſſen ableiten, entſprin⸗ gen. Sie iſt aber eben ſo wenig jenen äußern Verhaͤlt niſſen, Lagen und, Umftänden entgegen geſetzt, als die Wend enn und die Realgegenſtaͤnde, aus denen das Zufaͤllige entſpringt, in der Natur der Dinge dem letztern entgegen geſetzt ſind. 8 |

Die Methode ſoll ſich nicht nur uberhaupt auf die Menſchennatur gruͤnden und aus ihr hervorgehen; ſie ſoll dieſelbe in ihrer Individualitaͤt ſelbſt im Kinde unmittelbar darſtellen. Die Menſchenna⸗ tur im ganzen Umfange ihrer Anlagen, Kraͤfte, Bedürf⸗ niſſe und Verhaͤliniſſe iſt nicht nur der Anfangs und Mit⸗ telpunkt, ſondern auch das letzte Ziel, der ausſchließende Gegenſtand ihrer Aufgabe. Sie muß fi ch daher vor al⸗ lem aus von dem Weſen dieſer Natur Rechenſchaft geben; und eben hier theils in dem beſtimmten Bewußtſeyn ei⸗ ner ſelbſiſtaͤndigen Anſicht von der Menſchennatur an ſich und dem Kinde, das erzogen werden ſoll, theils in der

142 Eigenthuͤmlichkeit dieſer Anſicht unterſcheidet ſich ganz vor⸗ zuͤglich die Methode von den bisherigen Erziehungsarten und Grundſaͤtzen. Sie iſt der gewoͤhnlichen Meinung ganz entgegen, daß das Kind noch nicht menſchlich, erſt durch Bildung und Unterricht zum Menſchen erhoben, daß es anfangs eine blos thieriſche Natur, erſt durch thieriſche Thaͤtigkeit und thieriſche Erziehungsmittel zu einer geiſti⸗ gen Natur umgeſchaffen werden muͤſſe. Ihr unbedingter Grundſatz iſt: Was nicht ſchon in ſeinem erſten Urſprung menſchlich, was nicht 'ſchon in feinem fruͤheſten Entkei⸗ men geiſtig, was nicht ſchon in ſeinen leiſeſten Regungen ſittlich ſey, werde es nie, ſo hoch man es auch ſteigere, in ſo weiter Umfaſſung man es entfalte. So wenig aus Boöſem je Gutes hervorgehen konne, fo wenig fönne ſich aus an ſich Thieriſchem je Menſchliches, aus an ſich Sinnli⸗ chem je Geiſtiges, aus an ſich Unreinem je Sitliches er⸗ zeugen. Ihr dießfaͤlliger Zweck geht daher eben fo unbe» dingt und allgemein dahin, das an ſich und urſpruͤnglich Menſchliche, Geiſtige und Sittliche im Kinde zu erfaſſen, zu beleben und zu ſtaͤrken. Mit andern Worten, fie be: trachtet und behandelt daſſelbe mit dem erſten Augenblicke als eine menſchliche, geiſtige und fittlihe Natur und ans erkennt in ihm gar kein anderes Daſeyn und Wirken. Die erſte göttliche Offenbarung über den Menſchen iſt ihr ers ſtes Vertrauen zu ihm, es iſt ihr in der That und Wahr heit Bild Gottes. Sie ſieht es eben ſo wenig als eine tabula rasa an, die erſt von außen beſchrieben, als ein leeres hohles Gefaͤß, das erſt mit fremdem Stoff angefuͤllt werden muͤſſe, um etwas zu enthalten; ſondern als eine

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wirkliche, lebendige, ſelbſtthaͤtige Kraft, die mit dem ers ſten Augenblicke des Daſeyns auf ihre eigene Emwicklung und Erweiterung organiſirend und organiſch wirkt, die ers zeugt, wie ſie aufnimmt, die formt und geſtaltet, wie fie hervorbringt und indem fie es thut. Die aͤußere Nas tur, die muͤtterliche Beſorgung, die haͤusliche Umgebung erregt und beſtimmt, richtet und leitet zwar durch ihre Eindruͤcke die Thaͤligkeit dieſer Kraft; aber auf ihre Nas tur vermag ſie nichts. Sie fuͤhrt ihr vermittelſt der durch jene Eindruͤcke hervorgebrachten Anſchauungen und Ges fuͤhle Nahrung und Lebensreize zu; aber indem die Nas tur des Kindes dieſe aufnimmt, trägt fie ſelbſtſtaͤndig in ſich den Grund ihres Lebens und die Geſetze ihrer Thaͤ— tigkeit. Die Anſchauungen und Gefuͤhle ſelber, welche die aͤußern Eindruͤcke veranlaſſen, gehoͤren der innern Kraft des Kindes an. Sie ſind als ihre Erzeugniſſe ſchon urs ſpruͤnglich menſchlich, geiſtig und ſittlich. Von den aͤuſ— ſern Gegenſtaͤnden, an denen ſie der Menſch zuerſt, und eben dadurch an ihnen ſich ſelbſt und fein Inneres wahr⸗ nimmt, getrennt, rein und ſelbſtſtaͤndig ange— ſchaut und empfunden, werden und ſind ſie die einfachen und un veränderlichen Elemente aller rein menſchlichen, rein geiſtigen, rein ſittlichen Kultur der Kindheit und der Menſch— heit.

Durch dieſe Anſicht von der Menſchennatur wird die Methode erſtens weſentlich poſitiv; dieß iſt ein weiterer eigenthuͤmlicher Charakter von ihr. Die Humas nitaͤt, die ſie im Kinde vorausſetzt, bildet eine volle Kno—

Ä 144 ſpe, ein beſeeltes Ganzes, einen Inbegriff ſtrebender oder energiſcher Anlagen und aufnehmender Faͤhigkeiten, die in unzertrennlicher Einheit unter ſich nach allen Seiten des Daſeyns ausſtrahlen und von allen Seiten daſſelbe einſaugen; Anlagen, die ſich als Triebe und Kraͤfte, Faͤ⸗ higkeiten, die ſich als Sinne offenbaren, und die alle da⸗ durch, daß ihre Thaͤtigkeit und Empfaͤnglichkeit ſich ſelbſt nach innern Geſetzen begraͤnzt und ſchließt, ein individu⸗ elles Daſeyn erhalten. Die Methode ſoll die humanen Triebe des Kindes innerhalb ihrer eigenthuͤmlichen Schran⸗ ken, d. h. an dem durch ſie ſelbſt erzeugten und eben da⸗ durch ihre Natur ausſprechenden Stoff, und an der durch fie ſelbſt befolgten und eben dadurch ihre Geſetze verkuͤn⸗ denden Form human bethaͤtigen. Sie ſoll die humanen Sinne des Kindes innerhalb eben dieſer Schranken, d. h. an der durch ſie ſelbſt geforderten und eben dadurch ihnen entſprechenden Gegenſtaͤnden der aͤußern Natur, und in der durch den umfang und den Grad ihrer Faſſungskraft bedingten Menge und Reihenfolge derſelben human befaͤ⸗ higen. Dieſe Bethaͤigung und Befaͤhigung aber iſt nicht Beſchraͤnkung von außen, ſondern Erweiterung von in⸗ nen. Sie geht nicht auf negative Hinderung des Boͤſen, ſondern auf poſitive Belebung des Guten. Sie arbeitet gegen die Schwaͤche durch Vermehrung der wirklich vor⸗ handenen Kraft; gegen den Irrthum durch die Entwick⸗ lung der inwohnenden Keime der Wahrheit; gegen die Sinnlichkeit durch Naͤhrung und Staͤrkung des Geiſtes. Die Reinheit und Unſchuld, mit der fie das Kind em. pfängt, iſt ihre eigene Reinheit und Unſchuld; ihr leben⸗ diger,

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diger, durch die Liebe thätiger Glaube an daſſelbe üt ihre | Gewißheit und Garantie. Sie nimmt, ihrer Beſtimmung, daß ſie nur dem Hoͤhern uͤber ſie, der goͤttlichen Natur im Kinde, dienen und zur vollen Erſcheinung im Daſeyn verhelfen, nicht ſie ſich unterwerfen ſoll, vollkommen be— wußt und derſelben beſtaͤndig eingedenk, im Erzieher Knechtesgeſtalt an, und gibt ſich, zwar nicht feiner ſinn⸗ lichen Willkuͤr, nicht ſeiner Perſoͤnlichkeit, aber dem Leben und dem Geſetz in ihm, mit freudigem Gehorfam, als dem Willen der, Gottheit ſelbſt hin. Der aͤchte Lehrer der Methode, voll Demuth die Schwaͤche und Beſchraͤnkung ſeiner eigenen Perfönlicleit fuͤhlend, wagt es nicht, ge⸗ waltſam in den Gang des Zoͤglings einzugreifen, ſeine Richtung willkuͤrlich zu beſtimmen, ſeine Begriffe, ſeine Zwecke und ſeine Meinung ihm aufzudringen. Mit hei⸗ liger Scheu naͤhrt und pflegt ihr Lehrer das Vorhandene als eine Pflanze, die der himmliſche Vater gepflanzt hat. Er oͤffnet ihm immer weitern Spielraum. Er huͤtet ſich wohl, etwas davon ausrotten zu wollen, damit er nicht den Weizen mit dem Unkraut ausrotte. Wie er in dies ſem Geiſte, in chriſtlichem Sinne, voll anſpruchloſer Bes ſcheidenheit und Hingebung, die menſchliche Natur unbe— dingt achtet und als ſtilles Werkzeug im Reiche Gottes wirkt, ſo ſteht er in prieſterlicher Wuͤrde als Mittler da, zwiſchen dem Kind und dem Leben. Er iſt im ſokratiſchen Sinn der Geburtshelfer ſeiner menſchlichen und geiſtigen Selbſtſtaͤndigkeit, feiner Individualitaͤt, d. h. der göttli- chen Idee in ihm, die in ſeiner Perſoͤnlichkeit ſichtbar und wirklich werden ſoll. Peſtalozzi's Werke VIII. 10

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Unmittelbar alfo, indem die Methode poſitiv iſt, geht fie zweytens individuell vom Kinde ſelbſt, das fie vor ſich hat, aus, ja es gibt uͤberall kein Poſiti⸗ ves in der Erziehung und dem Unterrichte, als eben das Kind als Individuum, und die individuell in ihm vor⸗ handene Kraft. Ueberall ſo gar, wo Methode iſt, in Kunſt, in Wiſſenſchaft, im Leben, iſt fie durch ſich ſelbſt noth⸗ wendig individualiſirt, und individualiſirend. Es iſt da⸗ her nicht moͤglich, die Natur der Dinge und des Men⸗ ſchen mehr zu mißkennen, als durch den Vorwurf, eine allgemeine Erziehungsweiſe ſey der Individualität entge⸗ gen. Einzig darin beſteht eben ihre Allgemeinheit, daß ſie die Individualitaͤt jedes Einzelnen als ſolche darſtellt und bildet. Die Methode will nichts entwickeln, als was

im Kinde als Anlage vorhanden iſt, und dieſe Anlage felbft

hinwiederum einzig von ihr aus, und aus ihrem innern Mittelpunkte. Eben ſie anerkennt und macht anerkennen, daß ſo wie jeder Zoͤgling ein geſchloſſenes Ganzes, ein bey allem Reichthum und allem Umfang ſeiner Faͤhigkei⸗ ten gerade fo und nicht anders, nach nothwendigen Ge⸗ ſetzen ſich entfaltendes Individuum ausmacht, eben ſo auch jede einzelne Anlage deſſelben hinwiederum ein individu⸗ elles Daſeyn ausmache, das zwar mit hohem Reichthum und unendlicher Vielſeitigkeit, aber zugleich mit unabaͤn⸗ derlicher Nothwendigkeit, den Gang und die Geſetze ſeiner Entfaltung in ſich traͤgt. Der Reichthum und die Viel⸗ ſeitigkeit dieſer Anlagen und Faͤhigkeiten, dieſes Gangs und dieſer Geſetze, kann zwar den ſchwachen und ober— flaͤchlichen Beobachter verwirren, daß er, ihren Faden auf⸗

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zufinden und feſtzuhalten unfähig, ſich ins Meer der Em⸗

pirie und willkuͤrlichen Herumtappens verliert. Aber die Natur behauptet dennoch ihr Recht, und die Methode wird

ihrem treuen Beobachter das Mittel darreichen, in den

Organismus ihrer Bildungsſtufen zu blicken, um wenig⸗ ſtens zu ahnen und ſich von dem beſtimmen zu laſſen,

was er nicht durchdrin t. Eben das Vermoͤgen, die In⸗

dividualuaͤt im Kinde, feine Selbſtſtaͤndigkeit als Andidi- duum zu ſchauen, zu erkennen, wie ſich die Humanitaͤt in unendlichen Geſtalten ausgebiert und auf unzaͤhlige

Weiſen in jedem einzelnen Dafepn eigenthuͤmlich wird,

und wie doch wieder die eine Menſchheit in allen erſcheint, wie jeder ein Spiegel des Ganzen iſt, und dieſes, als das Eine, Unwandelbare und Ewige, mehr oder minder ſicht—

bar, in weiterm oder engerm Umfange, mit größerer oder

geringerer Herrlichkeit offenbaret; dieſes zu erkennen iſt die Wonne des Methodikers, d. h. des Erziehers, der ſei—

ne Aufgabe und fein Verhaͤltniß zur Menſchheit erkennt. Sie iſt fein Werth, feine Kraft, fein Lohn, der uner-

ſchoͤpfliche Quell ſeiner Liebe und der begeiſternde Trieb ſeiner Thaͤtigteit. So niedrig und gering das einzelne Individuum, ſo beſchraͤnkt und unvolltommen ſeine Ans lage ſey, er betrachtet es als ein Bild der Humanitaͤt, er ſieht in ihm, mit Ehrfurcht, eine Offenbarung der gött- lichen Idee. Mit dieſer Anſicht vom Menſchen ſteigt und veredelt ſich ſeine Anſicht von der ganzen Natur. Er ſelbſt wird edler durch den Adel ſeines Geſchaͤftes, und indem er andere erzieht, bildet er nur ſich ſelbſt, und er— hebt ſich zur wahrhaften Erkenntniß und zum wahrhaften 10 *

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Leben. Das Wahre ſchon in ſeinem Keim erfaſſend, das Schoͤne in jeder Geſtalt begruͤßend, von jeder leiſen Re— gung des Guten hingeriſſen, durch das Aeußere nie gehin⸗ dert, das Innere wahrzunehmen, iſt liebende Sorgfalt gegen alle ſeine Natur, und ohne ſich uͤber die Eigenthuͤm⸗ lichkeit und die durch ſie geſetzten Schranken eines Indi⸗ viduums zu taͤuſchen, ohne ſie uͤber ſich ſelbſt erheben oder aus ihrer Beſchraͤnkung herausreißen zu wollen, ſtellt ſich ihm, in jedem Kinde, die Wuͤrde und der Adel der Menſchheit, nur in einer andern Geſtalt dar. Er will nichts anders, als daß es das, was es iſt und ſeyn kann, vollkommen ſey, und er vermag dieß, wie er jenes er» kennt.

Wie die Methode in Hinſicht auf das Kind poſitiv iſt, und vom Selbſtſtändigen, d. h. Individuellen in ihm aus⸗ geht, ſo iſt ſie es in Hinſicht auf den Unterricht, oder auf das Koͤnnen und Wiſſen. Sie geht eben ſo vom Selbſtſtaͤndigen jedes Unterrichtsfaches aus, das fie mit⸗ theilt. Nicht zum Reflektiren uͤber das, was die Dinge nicht ſind, ſondern zur Intuition, zum unmittelbaren Bewußtſeyn deſſen ſich zu bringen, was ſie wirklich find, iſt ihr dießfaͤlliges Beſtreben ohne Ausnahme. Was ihr von den Keimen in der ſinnlichen Natur, was ihr von den Anlagen und Faͤhigkeiten des Menſchen uͤberhaupt gilt, daß ſie naͤmlich produktiv ſind, und ſich aus ihrem ſelbſt⸗ ſtaͤndigen Anfangs- und Mittelpunkte organiſch entwickeln, das gilt ihr auch von den Elementen aller menſchlichen Kunſt und aller menſchlichen Wiſſenſchaft. Sie geht von dem Grundſatz aus, daß alles menſchliche Wiſſen und

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* 149 Koͤnnen reelle Anfangspunkte habe, in denen jede einzelne Wiſſenſchaft und Kunſt als in ihrem Keim enthalten iſt, in denen ſie in ihrer Unendlichkeit und Begraͤnzung eingefchlofs, fen liegt; durch die fie ein Geſondertes im Gebiete des Da- ſeyns ausmacht; daß dieſe Elemente ihr Weſen ſelbſt aus⸗ ſprechen; daß fie in Hinſicht ihrer nothwendig, kon⸗ ſtitutiv, abſolut ſind, ewig an ihr Daſeyn gebunden, und nur aufhoͤren, wenn ſie ſelbſt aufhoͤrt. Das Reich des Geiſtes iſt ihr wie das Reich der Natur, nach einem Ge⸗ ſetz, dem der Organiſation, in unzaͤhlige Individuen zer⸗ fallend, die eben alle dieſes Geſetz ſogleich unmittelbar aus⸗ druͤcken, und in ihrem Stufengange nur hoͤhere Erſchei⸗ nungen und Bilder, nur geſteigerte Potenzen einer und eben derſelben alles beſeelenden Urkraft ſind. An das Auf⸗ finden dieſer urſpruͤnglich individualiſirten Keime des Wiſ⸗ ſens und Koͤnnens, durch die jede einzelne Uebung der Humanitaͤt gerade dieſe und keine andere ausmacht, iſt der wahre Unterricht und die paͤdagogiſche Gymnaſtik iin weiteſten Sinne geknuͤpft. Wie der Inſtinkt dieſe Keime zu aller Zeit nothwendig hervorbringt, ſo hat er ſie auch zu aller Zeit entwickelt und ihre Geſetze befolgt. Der wahre Unterricht iſt deßwegen das, was das aͤchte Genie von je her gethan; er iſt der Weg, den dieſes von je her aus eigener Fülle gefunden, und eben darum als unwan⸗ delbare Wahrheit, als den Gang der Natur und des Gei— ſtes, als Methode ausgeſprochen hat. Dieſe unmittelbar, unbedingt, als Thatſache in feinem eigenen Gange aufs zuſtellen, iſt der eigenthuͤmliche Charakter der Genialitaͤt. Die Methode hinwiederum am tiefſten aufgefaßt, am le—

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bendigſten begriffen, iſt nichts anders, als was das Ge⸗ nie, d. h. die ganze Natur, wo ſie in der hoͤchſten Ener⸗ gie, und am beſtimmteſten individualiſirt hervortritt, pro⸗ duzirt. Sie gibt ſich bey den Heroen jeder Kunſt und Wiſſenſchaft als ſolche und als Ausdruck der Menſchenna⸗ tur zugleich kund. Freylich hat die organiſch-genetiſche Elementarmethode nicht den Wahn, das Kind von gemei⸗ nen Anlagen zum Fluge des Genies zu erheben; fie kennt, wie teine andere, aus Thatſachen und Erfahrungen, die Verſchiedenheit der Anlagen und Stufen des geiſtigen Da⸗ ſeyns, und unterſcheidet ſie wohl; aber ſie bleibt auch feſt boy dem Grundſatze, daß die geiſtige Natur überall als ſolche, wirkt, daß es eben die kulturgeſchichtliche, d. h. paͤda⸗ gogiſche Bedeutung des Genies iſt, die Bahn zur Wahr heit, und zur Kraft für alle zu beſchreiben und vorzuzeich⸗ nen, daß das, was das Genie ſchoͤpferiſch hervorruft, nach dem gleichen Gange vom genieloſen Menſchen durch gei⸗ ſtigen Sinn und Empfaͤnglichkeit aufgenommen werden ſoll, damit es Gemeingut für die Menſchheit werde. Es nach den beſtimmten Abſtufungen und Schranken, welche die Verſchiedenheit des Alters, der Kraͤfte, der Staͤnde u. ſ. w. mit ſich bringt, kurz nach dem Beduͤrfniß jedes Ein⸗ zelnen zu dieſem Gemeingut zu machen, darnach ſtrebt die Humanitaͤt der Methode. In dieſem Sinne will ſie, daß allen geholfen werde und jeder zur Erkenntniß der Wahr⸗ heit komme, nämlich: ſo weit er fie faſſen kann; und nut auf ihrem Wege iſt die Ausfuͤhrung dieſes Grundſatzes, einem jeden gerade das zu geben an Bildung, was ihm Noth thut, möglich, weil ſie in dieſer Bildung gerade von

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der Kraft jedes beſtimmten Individuums, von der be⸗ ſtimmten Stufe, auf der es jedesmal ſteht, von dem Gans ge der Zeit in ihm und von dem beſtimmten, Verhaͤlt— niſſe, in dem es jedesmal lebt, ſelbſt ausgeht. In dieſem Sinne erwartet ſie eine Zeit der Ausgießung des Geiſtes über alles Fleiſch, wo die höhere Wahrheit einzelner Mens ſchen zu einem allgemeinen Wahrheitsfinn, die höhere Kraft der Einzelnen zu einer Geſammtkraft erwachſen wird. Sie bleibt ihrem Entwicklungs- und Erweiterungsgrund⸗ ſatz auch hierin getreu, und glaubt dem Ausgezeichneten und Großen unter den Menſchen, ſo wie in Kunſt und Wiſſenſchaft, eben dadurch am wuͤrdigſten zu huldigen, daß fie es nationell macht, und ins Leben des Volkes nicht durch Populariſirung des erſten, ſondern durch die Krafterhebung und Weckung des letztern unmittelbar ein⸗ fuͤhrt.

Aus dieſen Geſichtspunkten ſoll es denn auch eine allgemeine Methode ſeyn, und ſie muß es. Nicht nach der verkehrten Anſicht: die Men⸗ ſchen, die Kraͤfte, die Charaktere, die Geſinnungen und Handlungsweiſen der Zoͤglinge gleich zu machen und die Stande und Verhaͤltniſſe zu vermiſchen. Nein, die Methode will, daß jeder Zoͤgling aus ſich ſelbſt in ſein Verhaͤltniß und in ſeine Umgebungen hinein wachſe. Ihre Allgemeinheit liegt in den bisher aufgeſtellten Grundſaͤtzen, daß jede menſchliche Anlage im Kinde auf dem gleichen organiſchen Trieb beruht, daß jede Kunſt oder Erkenntniß, eben darum weil ſie individuell iſt, fuͤr alle unwandelbar gleiche, ewig feſte Elemente hat,

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und ihre Natur nie veraͤndern kann. So wird, um Bey⸗ ſpiele zu geben, ewig das Fundament aller koͤrperlichen Entwicklung, die Bewegung und Uebung des Koͤrpers und ſeiner Gelenkigkeit ſelbſt ſeyn; ewig wird das mathe⸗ matiſche Talent, inſofern Mathematik uͤberhaupt nur blei⸗ ben kann, ſich nur an Zahl und Form, Einheit und Viel⸗ heit, Größe und Figur, an ihren Verhaͤltniſſen und Kom⸗ binationen entfalten koͤnnen, und ewig bleibt der Stufen⸗ gang, in dem dieſes geſchehen muß, durch den geiſtigen Organismus des Menſchen beſtimmt, der ſelbſt wieder nach beſtimmter Ordnung wirkt. Ewig wird die Entwick⸗ lung der Denkkraft des Menſchen an die Entwicklung ſei⸗ ner Sprachkraft geknuͤpft, und die Sprache das Objekt ſeyn, an dem er ſeines geiſtigen Weſens und der geiſtigen Natur der Dinge uͤberhaupt gewahr wird. So wird das Auge des Menſchen, und jedes Auge ohne Ausnahme gleich, ſich nur am Sichtbaren, das Ohr am Hoͤrbaren, das Gefuͤhl am Empfindbaren uͤben und ſchaͤrfen. Der Sinn und die Kraft fuͤr die Wahrheit im engern Sinn, muß bey allen ſich an Anſchauung des Reellen, der Sinn fuͤr das Schoͤne und Gute an Anſchauung der idealen Rei⸗ he der Exiſtenz, jener nur an der realen, dieſer an der idealen Seite der einzelnen Dinge entzuͤnden und bilden. Das jedem einzelnen Sinn der Menſchennatur entſpre— chende Objekt, die jede einzelne Anlage des Kindes in An⸗ ſpruch nehmende That aufzufinden, und in der Form dar⸗ zuſtellen, wie es die ſteigende Faͤhigkeit jener Sinne, der ſich erweiternde Umfang dieſer Kraͤfte fordert, das iſt das

155 Allgemeinheits⸗ Prinzip, auf deſſen Realiſirung die Me⸗ thode ausgeht.)

Wenn und inſofern ſie dieſes leiſtet, erſcheint ſie als wirkliche Vermittlerin aller paͤdagogiſchen Gegenſaͤtze, von denen aus ſie theils von Seite des Realismus, theils von Seite des Formalismus, theils von Philanthropiften, theils von Humaniſten einſeitig ins Auge gefaßt wird; ſie ſoll die Erforderniſſe der Menſchen— und der Berufs-, der individuellen und der bürgerlichen, der haͤuslichen und der oͤffentlichen Bildung, jede zu ihrer Zeit und auf ihrer Stufe vereinigen; ſie ſoll den geſunden Verſtand, wie jede Höhe des Geiſtes und Herzens befrie- digen. Unterricht und Lehre unmittelbar an das Unver⸗ aͤnderliche und Ewige der Umgebungen der Menſchennatur und ihres Seyns ſelber anknuͤpfend, kommt ſie dahin, nicht nur den bisherigen Gegenſatz zwiſchen Elementar- und angewandtem Unterricht, ſondern auch zwiſchen der Formal⸗ und Realbildung, und eben fo zwiſchen einer ſogenannten vorbereitenden Kraftentwicklung zur Wiſſen⸗ ſchaft und dem Wiſſenſchaftlichen ſelbſt, wie er in der bis⸗ berigen Form ſtatt fand, ganz aufzuheben. Sie bildet, wie es ewig in der Ratur der Menſchheit liegt, die Kraft ö und das Organ zur Wiſſenſchaft durch Mitthei—

*) Man würde uns ſehr mißverſtehen, wenn man aus die ſem Grundſaz, wie er da ſteht, folgern wollte, als ſollte überall und alles und für alle methodifirt werden. Die Rede iſt von dem, was fur jede Anlage als Vildungsmit⸗ tel bearbeitet werden muß. Außerdem bleiben die Mens ſchen, die Natur und das Leben, ja noch uͤberall unendlich.

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lung wahrhaften Wiffens, und erzeugt wahr⸗ haftes Wiſſen umgekehrt eben durch die Ent⸗ faltung des Organs der Wiſſenſchaft. Sie ahmt auf dem geiſtigen Gebiete das hohe Thun der Natur in der Koͤrperwelt nach. Wie dieſe in jedem Gewaͤchs auf je⸗ der Stufe feiner Entfaltung Stoff und Form in ihrer gegen⸗ ſeitigen Durchdringung harmoniſch darſtellt und entwickelt, und wie jedes Gewaͤchs in der ganzen Zeit ſeines Wachs⸗ thums auf der einen Seite in jedem Punkt ſeines ganzen Seyns vollendet, d. h. als ein ganzes in harmoniſcher Ue⸗ bereinſtimmung ſeiner ſelbſt, in keinem Theil und von keiner Seite ſeines Wachsthums weder zu weit vorgeſchrit⸗ ten noch zuruͤckſtehend, auf der andern Seite aber den⸗ noch unvollendet, d. i. in beſtaͤndigem Wachsthum begrif⸗ fen, erſcheint: alſo ſucht die Elementar« Bildung Stoff und Form im Kinde auf jedem Punkt ſeiner Bildung in gegenſeitiger Durchdringung harmoniſch, und das Kind ihrer Fuͤhrung erſcheint in der ganzen Zeit ſeiner Bildung von der einen Seite auf jedem Punkt dieſer Bildung vol⸗ Jendet, d. h. als ein Ganzes in harmoniſcher Ueberein⸗ ſtimmung ſeiner ſelbſt, in keinem Theil und auf keiner Seite ſeines Wachsthums weder zu weit vorgeſchritten, noch zuruͤckſtehend, von der andern Seite aber dennoch unvollendet, nicht zum Ziel feiner Reifung gebracht, ſon⸗ dern immer noch in einem beſtändigen aba begrif⸗ fen. So ‚bringt fie, ihren, Aging dahin, daß er die Le⸗ bens wiſſ enſchaft und Kunſt. als ein organiſches Ganze aus fig) ſelber erzeuge. Wie ſie von der erſten Seite an ſich wiſſenſchaftlich iſt, ſo iſt ſie von dieſer Seite an ſich im

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hohen Sinne des Worts kuͤnſtleriſch. Sie ſucht auch von jener aus weſentlich der Idee der Erziehungskunſt zu ent⸗ ſprechen. Sie iſt in ihrem Weſen ſelbſt die Natur, vom Menſchen begriffen, wie ſie im hohen Gang ihrer ſelbſt feſtſteht und darin aufrecht einherwandelt, ihres Ziels ſicher, ſich ſelbſt in allen ihren Kraͤften ergreifend und bildend als ein Ganzes in der Einheit ihres goͤttlichen Daſeyns. Wenn ſie ſich ſelbſt treu bleibt, ihre Bedeutung nicht mißverſteht, und ihre Elemente nicht einſeitig auffaßt, ſo fuhrt fie den Unterricht durch alle Gegenſaͤtze hindurch und.läßt jeden an ſeinem Ort und zu ſeiner Zeit erſcheinen. Reich wie die Na⸗ tur hat ſie Empfaͤnglichkeit, Gelenkigkeit und Weite des Sin⸗ nes genug, um jedes Gewaͤchs aufzunehmen, das aus dem Boden der Humanität entſprießt. Ein beſchraͤnkter Geiſt kann ſie beſchraͤnken, und der Thor fie zum Gefaͤſſe feiner eigenen Thorheit mißbrauchen, aber fie bleibt dennoch, was ſie iſt, in ihrem wahren umfang begriffen, nicht. das Werk einzelner Individuen, noch viel weniger das Werk einiger hinfaͤlligen Perſoͤnlichkeiten, ſondern die Aufgabe der Ge— ſchichte, das Geſchaͤft der menſchlichen Kultur im Ganzen und Großen, das Werk der Natur ſelbſt im Gange der Ente wicklung des menſchlichen Geſchlechtes. Sie wird ſich er⸗ weitern und ausbilden, wie die Menſchheit ſich ihrer von Gott ihr aufgegebenen Beſtimmung ſtufenweiſe naͤhert, und Schritt für Schritt die Huͤlfsmittel entdeckt, die er ihr in ſich ſelbſt und in der Natur zu ihrer Grrekung dargebo⸗ then.

Freunde, ich flaune ſelber vor dem Bude iin Groͤße unſerer Natur und ihrer heiligen Anſpruͤche; aber die reine

156 | Natur iſt ſich in jeder Höhe ihrer Schwäche bewußt, und muß es ſehn. Der Menſch, wenn er in ſich ſelber blickt, fühlt, bei jedem unſchuldigen Bewußtſehn feiner innern Höhe die Schranken feiner Kraft und fein Unvermoͤgen, ſich ſelbſt in den Anſpruͤchen ſeines hoͤhern Seyns ein Genuͤge zu leiſten. Aber die Schwäche des Einzelnen iſt nicht die Schwaͤche der Menſchen; die Schwaͤche der Menſchen iſt | nicht die Schwäche der Methode. Ob du vor der Idee in ihrem Umfang ſtauneſt, ob du noch ſo ſehr das Zuruͤckblei⸗ ben der That hinter ihr fuͤhleſt; du gelangſt auch zu der That, der du faͤhig biſt, nicht, ohne das Feſthalten der ganzen Idee. Daß aber die letztere gegruͤndet, daß ihre Ausfuͤhrung die Aufgabe der Erziehung und kein Traum ſey, das beweißt die Thatſache, daß ſie in ihren Anfangs⸗ punkten in der Menſchennatur wirklich iſt, daß die Erfah⸗ rung die Methode ſelbſt in ihrer lebendigen Einheit und Har⸗ monie, im inſtinktmaͤßigen Verfahren der Mutter gegen das Kind, unwiderſprechlich aufſtellt.

In der That, fo rein und fo hehr ſpricht ſich das Da- ſeyn und der Zuſammenhang des Ganzen der Methode nirs gend aus, als in der Handlungsweiſe der entweder ganz ge⸗ bildeten, oder ganz einfachen und menſchlich natuͤrlichen Mutter gegen ihren Saͤugling. Dieſe Handlungsweiſe iſt rein urſpruͤnglich; da miſcht ſich noch keine menſchliche Kunſt, keine menſchliche Verirrung ein. Sie iſt rein ele⸗ mentariſch; da ſpricht ſich die Natur noch ganz aus: ihr Inſtinkt redet in dieſer Handlungsweiſe noch lebendig, und ſo weit und ſo lang er darinn lebendig redet, iſt in allem Thun der Mutter Einheit, lebendige Einheit fuͤr Weckung,

157 / für Belebung des Geiſtes, des Herzens und der phyſiſchen Kraͤfte des Kindes. Sie iſt rein poſitiv. Ohne Umwege, ohne Ungewißheit und Zweifel geht fie aus der unmittelbas ren Anſchauung der Beduͤrfniſſe des Kindes hervor, geht auf ihre unmittelbare Befriedigung. Sie iſt rein organiſch. Da ſproſſen durch ſie allenthalben die geweckten Kraͤfte des Kindes als Keime weiterer Fortſchritte; freylich iſt fie nur Weckung des erſten einfachſten Selbſtgefuͤhls dieſer Kraͤfte, aber fuͤr ihr aller gemeinſames Gefuͤhl, oder vielmehr die Weckung der Einheit der ganzen kindlichen Natur, die bei jedem Theil ihrer Entfaltung im Weſentlichen als ein Ganzes, als eine unzertrennte Einheit angeſprochen wird und angeſprochen werden muß. Aber ſie bietet in dieſer Einheit und durch ſie uͤberall die Anfangspunkte und den Faden fuͤr die Entfaltung jeder eigenthuͤmlichen Anlage dar. Sie umfaßt das Kennen, Koͤnnen und Wollen des Kindes zugleich, und wirkt doch auf jedes derſelben auf das Indie viduellſte und Beſtimmteſte. Sie iſt allgemein, wie ſich die Beduͤrfniſſe aller Kinder im Weſentlichen gleich ſind. Sie iſt aber eben ſo vermittelnd durch die Art des Daſtehens der muͤtterlichen Perſoͤnlichkeit zwiſchen dem Kinde und ſei— nen ſaͤmmtlichen Umgebungen und Verhaͤltniſſen ; zwifchen der Perſönlichkeit des Kindes felbft und der in ihm nur noch als Inſtinkt wirkenden Vernunft, d. h., ſeiner Idee. In ihr ſind die Gegenſaͤtze, die das Leben aufſtellt, zwar be— ſtimmt ausgedruͤckt, und doch in der hoͤchſten Harmonie ver— einigt. Das Kind iſt der Mutter gegenuͤber als Indivi— duum durchaus ſelbſtſtaͤndig. Die Mutter ſucht nicht ſich, ſondern das Kind. Sein Leben, wie es iſt, iſt ihre Luſt,

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und die Beſorgung dieſes Lebens ihre heiligſte Treue. Als Kind aber iſt das Individuum in ihm in dieſer Freyheit zugleich gehorſam, und der gebildeten Vernunft der Mut⸗ ter unterworfen. Auch iſt die Elementar-Bildung unſers Geſchlechts nichts anders, als eine aus dem Gefuͤhl der Einheit und Nothwendigkeit dieſer Handlungsweiſe hervor⸗ gehende Sorgfalt, im ganzen Umfang aller Mittel für die Entfaltung der einzelnen Anlagen und Kräfte unſerer Nas tur, mit den Anſpruͤchen dieſer Einheit derſelben in Ueber⸗ einſtimmung zu bleiben. Daher findet ſie auch im Thun der Mutter den reinen und allgemeinen Anfangspunkt ih⸗ res Strebens, ihr in der Wirklichkeit durch Gott feibji ge— offenbartes Urbild, und mit ihm das Fundament aller Grundſaͤtze, auf denen ſie ruht, und aller Mittel, deren ſie bedarf. Von dieſem Keim ausgehend beſteht beſonders die Kunſt der Elementar-Bildung weſentlich in einem lüs ckenloſen Anknuͤpfen aller Erziehungsmittel an das Weſen dieſer rein muͤtterlichen Handlungsweiſe gegen das Kind. Jedes Erziehungsmittel, das nicht in ſeinem Weſen von dieſer Handlungsweiſe ausgeht, und die Entfaltung der einzelnen Anlagen nicht mit dem Geiſt und der Kraft, mit der Einfalt und Harmonie betreibt, iſt daher nicht methodiſch, ſondern gehört unter die vielſeitigen Nothbe— helfe irgend eines Mangels genugthuender, elementariſcher Erziehungskraͤfte und Erziehungsmittel, und kann auch nur in ſo weit als nuͤtzlich und brauchbar angeſehen werden, als es da ſteht, um Erziehungsluͤcken auszufuͤllen, die nicht da ſeyn ſollten, und Folgen von Erziehungs-Verirrungen ſtill zu ſtellen, die das Kind ſchon auf Abwege gegen die

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Natur gefuͤhrt haben. So weit in Uebereinſtimmung mit den Zwecken der elementariſchen Bildung kann freylich auch das Thun eines ſolchen nicht rein elementariſchen Mittels dahin wirken, die zerſtoͤrte Einheit unſerer Natur wieder herzuſtellen, die Verwirrung, die aus den Reſultaten un⸗ richliger Mittel unſerer einzelnen Kraͤfte entſprungen iſt, zu vermindern, und den Zuſtand der Gewaltthaͤtigkeit ſtill zu ſtellen, der bei der zerſtoͤrten Einheit unſerer Natur nothwendig gegen uns ſelbſt und gegen unſer Geſchlecht entſteht. Denn wir ſind alle, wenn die Einheit unſerer Natur zerſtoͤrt, und ihre goͤttliche Harmonie in uns nicht erhalten oder wieder hergeſtellt iſt, ein ſchwaches, anmaßli— ches Geſchlecht, gegen uns ſowohl, als gegen unſere Bruͤ—

der. ö 1 So wie das ſinnliche Gefuͤhl jedes Uebergewichts von aͤußerlichen Kraͤften, von welcher Art dieſe auch immer ſeyn moͤgen, die innere Einheit in uns ſelbſt zerſtoͤrt, und uns dahin fuͤhrt, unſern Mitmenſchen die Benutzung jedes Winkels der Erde, der uns nahe beruͤhrt, nur unter der Bedingniß feiner Unterordnung unter unſere Selbſiſucht, gerne zu erlauben und ihn, nur auf dieſe Art bruͤderlich mit uns vereinigt, auf demſelben Gotteswege zu ſeiner Ver⸗ edlung gehen laſſen zu wollen; ſo zerſtoͤren wir auch durch jede ſinnliche anmaßliche Feſthaltung des Uebergewichts ein— zelner Kraͤfte zum Nachtheil der andern, in uns ſelber das Heiligſte unſerer Natur. Die beruͤhrten Folgen davon ſind unausweichlich. Jedes Zeitverderben der Erziehung hat, ſeinen Grund in der Hinlenkung unſerer Natur zu den Schwächen und der Anmaßung, welche die einſeitige Ent

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faltung irgend einer einzelnen menſchlichen Kraft mit ſich

führt; und man kann nicht in Abrede ſeyn, dieſe Hinlen⸗ kung ſelbſt wieder hat ihren Grund im Mangel an Feſt⸗

haltung des elementariſchen Fundaments der Erziehung, der

Einheit unſerer Natur. Und ſo wie dieſes wahr iſt, ſo iſt eben ſo gewiß, daß die Anſichten, Grundſaͤtze und Fer⸗ tigkeiten, welche die Elementar-Bildung, wenn fie wahr: haft iſt, gibt, geeignet ſehn muͤſſen, den Folgen dieſer Ver⸗ irrung mit Kraft Einhalt zu thun. Sie muß zwar, in Folge der Eigenthuͤmlichkeit der Erſcheinung unſerer Natur im wirklichen Daſeyn, in die ſittliche, geiſtige und phyſiſche Elementar⸗Bildung eingetheilt werden. Sie zerfällt ſelbſt von ihrem Anfangspunkte, vom Thun der Mutter aus, in dieſe drei Richtungen, deren erſtere im Wollen, deren zweite im Kennen, und deren dritte im Können des Kindes ur— ſpruͤnglich begruͤndet iſt, und daſſelbe wieder begruͤndet. Aber dennoch iſt es gewiß, nirgends erſcheint das Funda⸗

ment der Elementar-Bildung, die Einheit unſerer Natur, ö

und der unzertrennte innere Zuſammenhang aller unſerer

Kraͤfte heller, als wenn wir die elementariſche Bildung der einzelnen Kraͤfte unſerer Natur in ihren wanne Ab⸗ theilungen aufſtellen.

Ich unternehme es indeſſen nicht, das Weſen dieſer Abtheilungen aus dem Weſen der menſchlichen Natur in ihrem Umfang zu entwickeln; ich werfe nur einen Blick auf die Eigenthuͤmlichkeiten einer jeden dieſer Abtheilungen und auf ihre innere Harmonie nach bekannten Geſichts⸗ punkten. Dabei muß ich Sie aber, meine verehrten Her-

ren, zum Voraus bitten, die. allfälligen Kunſtausdruͤcke, de⸗ ren

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ren ich mich der Kuͤrze halber bediene, in dem Sinne zu nehmen, den ihnen der Zuſammenhang gibt, und ſie als nichts anders anzuſehen, als das Reſultat des Beduͤrfniſ— ſes, die bezeichnenden Worte zu finden.

Die ſütliche Elemeiſtar-Bildung iſt nichts anders als die reine Entfaltung des menſchlichen Wollens durch die hoͤ⸗ hern Gefuͤhle der Liebe, der Dankbarkeit und des Vertrau— ens auf das Fundament der Vollkommenheit, in der fie ſich in ihrem erſten Entkeimen im reinen Verhaͤltniſſe zwi— ſchen Mutter und Kind ausſprechen. Das Ziel dieſer Bil— dung iſt ſitrliche Vollendung unſerer Natur; ihre Mittel ſind Uebungen im Streben nach Vollkommenheit im ſittli— | chen Denken, Fühlen und Thun. Auf das Sichtbare ges

richtet, offenbart fie ſich als Moral im Handeln (phyſiſch), auf das Unſichtbare, als Religion im Fuͤhlen oder Schauen (gemuͤthlich hyperphyſiſch). In jener ſtellt ſich die reale, in dieſer die ideale Seite eines und eben deſſelben An, fangspunktes des ſittlichen Lebens dar. Die vermittelnde Einheit, das Band beider iſt, intelektuell erſcheinend, die Erſcheinung, die weſentlich den Charakter des Menſchen be— gruͤndet. Als Erkenntniſſe werden die Moral und die Reli- gion zugleich wiederum Gegenſtaͤnde der intellektuellen Bil, dung, und jene nimmt dadurch einen ideellen, dieſe einen re— ellen Charakter an. Alle dieſe Seiten und Elemente ſind in der elementariſchen Entwicklung der ſittlichen Gefuͤhle har— moniſch und lüdenlos vereinigt. Da unſere Natur die Voll— kommenheit der Sittlichteit nur in einem hoͤhern Weſen, nur in Gott zu erkennen vermag, ſo knuͤpft ſich das erſte durch die Mutterliebe und den Glauben an fie erzeugte Peſtalozzi's Werke. VIII. 11

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Streben nach ſittlichem Denken, Fühlen und Thun, an die Ahnung des Glaubens an Gott, die aus der Wahrheit der kindlichen Liebe, des kindlichen Dankes und des Find- lichen Vertrauens ſo einfach und natuͤrlich hervorgeht. Die Reihenfolgen der Mittel zur Sittlichkeit von ihrem Ur⸗ ſprung aus, von der mit ſo vielen Reizen begleiteten Mut⸗ ter- und Kindesliebe bis zum chriſtlichen Dahingeben feis ner ſelbſt fuͤr Wahrheit und Liebe in den Tod, finden nur in reinem Glauben an Gott und in wahrer Religioſitaͤt ihre Quelle und ihre reine und ſichere Stuͤtze. Keine menſchli⸗ che Kunſt und keine menſchliche Kraft kann ihnen etwas anders unterſchieben. Sie ſind und bleiben die einzigen Mittel der reinen und wahren Sittlichkeit, und die Stuffen⸗ folgen ihrer Entwicklung ruhen auf nichts anderm, als auf der Wahrheit ihres Wachsthums ſelbſt, die aus ſich ſelbſt ausgeht, und nur in der Reinheit ihrer Kraft den Trieb des Fortſchrittes in ſich ſelbſt fuͤhlt. Die intellektuelle Elementarbildung iſt hinwieder nichts anders, als die reine Entfaltung des menſchlichen Kennens oder unſerer Vernunftkraft, durch ein hoͤchſt einfaches Ha⸗ bituellmachen ihres Gebrauches ſelber. Und da dieſe Kraft in ihrem Weſen ſich erſtens an die Anſchauungseindruͤcke, welche die Gegenſtaͤnde der Welt auf unſere Sinne machen, anſchließt, zweitens auf der gebildeten Leichtigkeit ruhet, dieſe Ur-Eindruͤcke, oder vielmehr die einfachen Reſultate ihrer Wirkung auf unſer Inneres, als die Elemente aller menſchlichen Erkenntniß, in uns ſelbſt zuſammenzuſetzen, zu trennen und zu vergleichen, ſo fordert die intellektuelle Elementar-Vildung 1) pſpchologiſche Leitung der Einwir⸗

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kung der Natur auf das Vernunftweſen zur Anregung und Sammlung der Eindruͤcke, welche die Vernunft, d. h. die lebendige, geiſtige Kraft im Kinde, bei der Anſchauung und im Leben der Natur nothwendig erzeugt; 2) pſychologiſche Benutzung dieſer Eindruͤcke, als der von der Natur ſelbſt weſentlich und unveränderlich gegebenen Mittel, wodurch die geſammte Geiſtes- oder Vernunftkraft in uns am leich⸗ teſten ausgebildet werden kann. Die Mittel, in denen ſich das Werk der Vernunft in uns in der Natur ſelbſt offen⸗ bart, find Sprache, Zahl und Form. Auf das Hervorbrin— genkoͤnnen und Verſtehen der in ihnen liegenden Wahrhei— ten und Verhaͤltniſſe gerichtet, erzeugen ſie die Verſtandes⸗ bildung; auf das Hervorbringenkoͤnnen und Fühlen der ih» nen inwohnenden Schoͤnheit, Harmonie und Vollkommen⸗ heit gerichtet, erzeugen ſie die aͤſthetiſche Bildung. |

Die Mittel unſerer intellektuellen Elementar- Bildung muͤſſen, wie die der fittlichen, rein vom Gebrauche dieſer Kraft ſelbſt ausgehen; und ſo wie das Kind von dem An⸗ fangspunkte der vollkommenen Mutterliebe, und von die> ſer bis zur Liebe entfernter Menſchen ſich erweitern muß, und wie mit dieſer Erweiterung zugleich ſein ganzes In— neres menſchlich hoͤher ſteigt und ſich ſittlich emporhebt, ſo muß auch die elementariſche Entfaltung unſerer Geiſtes— kraft von der hohen Vollendung der hoͤchſt einfachen Ans fangspunfte im Denken, durch luͤckenloſe Schritte ſich er— weitern, und mit dieſer Erweiterung und dorch ſie zu den hoͤhern Stufen des verwickeltern und tiefern Denkens und zu der Erkenntniß verwickelter Gegenſtaͤnde und Anſichten emporſteigen.

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Der innern Einheit unferer Natur gemäß, iſt endlich auch die phyſiſche Elementar- Bildung nichts anders, als eine pſychologiſche Entfaltung des Koͤnnens oder der dem Kinde inwohnenden pielſeitigen phyſiſchen Kraͤfte, die gleich⸗ falls wiederum durch nichts anders, als durch ein hoͤchſt einfaches Habituellmachen ihres Gebrauches ſelber erzielt wird. Die Entfaltung dieſer Kräfte geht von dem einfa⸗ chen Anfangspunkte der Bewegung aus. Die Bewegung auf felbfiftändige Leichtigkeit und Sicherheit im Gebrauche der Glieder und auf Ueberwindung koͤrperlicher Hinderniſſe gerichtet, erzeugt Kraft; auf geſetzmaͤßigen und harmoni⸗ ſchen Ausdruck gerichtet, Anſtand, mit Bewußtſeyn und nach Zwecken geſteigert, jene Berufs-, dieſe Kunſtfertigkeit. Sie ſchließt ſich an das taͤgliche Beduͤrfniß und an die Be⸗ ſorgung ſeiner ſelbſt behm Kinde an; ſie erweitert ſich durch die haͤusliche Sorgfalt fuͤr die Umgebungen, durch welche ſie zugleich menſchlich empor gehoben und geheiligt wird.

Auf dem naͤmlichen Wege, auf dem ſich das Kind zur ſittlichen und geiſtigen Selbſtſtaͤndigkeit erhebt, erhebt es ſich auf dieſe Weiſe durch luͤckenloſen Vorſchritt und umfaſſenden Gebrauch ſeiner koͤrperlichen Kraͤfte, auch zur phyſiſchen Gewandtheit und buͤrgerlichen Selbſtſtaͤndigkeit empor. Von keinem geſchloſſenen Kreiſe, von dem aus es ſich ſelbſt nur verengern koͤnnte, ſondern vom Mittelpunkte ſeines Weſens ſelbſt ausgehend, verbreitet es den Umfang ſeiner Thaͤtigkeit nach allen Seiten, ſo weit ſeine Kraͤfte reichen. Da

So felbftftändig alſo die Elementar» Bildung jede Rich⸗ tung dieſer Menſchenkraͤfte, und hinwiederum die einzel»

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nen Anlagen und Thaͤtigkeiten, in welche jede derfelben aufs neue zerfaͤllt, ins Auge faßt und von ihrem Anfangspunkt aus entwickelt, ſo nimmt eben fo ihr Gang bey der Ue⸗ bung jeder Einzelnen ganz im Geiſte der Mutter feine Hu— manität allgemein in Anſpruch. Die Elementar-Bildung der einzelnen Anlage des Herzens beſchaͤftigt und uͤbt alle Gefühle des Herzens, die der einzelnen Anlage des Geis ſtes alle Kraͤfte des Geiſtes, und die der Sinne und der Glieder den ganzen Körper. Eben ſo ſetzt der Gang ih⸗ rer ſittlichen Uebung auch die Geiftes- und Koͤrperkraͤfte des Kindes, der Gang ihrer geiſtigen Entfaltung auch die des Herzens und ſeiner ſinnlichen Organe, und die koͤrperliche Gymnaſtik die geiſtige und ſittliche Natur deſſelben, gleich dem Inſtrument, deſſen eine rein geſtimmte Saite zugleich andere harmoniſch geſtimmte Saiten anklingt, in Bewe— gung und Thaͤtigkeit. Alles poſitive in der menſchlichen Natur wirkt durchgreifend wie in dem Poſitivſten und Xes bendigſten des menſchlichen Thuns, dem Trachten nach dem Reich Gottes und nach ſeiner Gerechtigkeit, das Uebrige dem Menſchen von ſelbſt zufaͤllt.

Wenn, nach dieſen Geſichtspunkten, uͤber den Zweck Hund Umfang der Elementar-Bildung in der Hauptſache kein Streit ſeyn kann; wenn fie möglich ſehn muß, weil die Natur ſie in der Mutter und im Inſtinkt des Genies, ja überall in ihrem Thun ſelbſt aufſtellt, weil ſie alſo in hiſtoriſcher Hinſicht oder als Thatſache und auf einzelnen Punkten allgemein ſelbſt anerkannt und durchaus wirklich iſt und immer war; wenn ferner die ausgeſprochenen For— derungen gegruͤndet ſind, weil die Menſchennatur ſie macht;

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und wenn endlich ihre Erfüllung nothwendig iſt, damit dieſe Natur befriedigt werde; ſo fragt es ſich, in wie weit leiſten die von uns in unſrer Anſtalt als elementariſch an. geſehenen und erklaͤrten Bildungs— und Unterrichtsmittel dieſen Forderungen ein Genuͤge? und in wie weit entſpre⸗ chen ſie in ſittlicher, intellektueller und phyſiſcher Hinſicht der Idee und dem zu ihrer Beurtheilung hier an ſie geleg⸗ ten Maßſtab? Eine genügende Antwort dieſer Fragen kann eben ſo wenig Gegenſtand dieſer Rede ſeyn, als es eine ges nuͤgende Erörterung der Grundſaͤtze ſelber wäre, Ich werfe auch darauf einige Blicke, weniger fuͤr die Beſtimmung, der Sache ſelber, als vielmehr Winke zu geben, wie die Unterſuchung angeſtellt und wovon ausgegangen werden muß, um ſichere Reſultate zu erzielen.

Vor allem ſehe ich mich hier zu der Bemerkung ver⸗ anlaßt, daß bei dieſer Unterſuchung nicht von dem ausge⸗ gangen werden darf, was der Unternehmung noch fehlt, ſondern von dem, was in ihr nach der Idee des Ganzen pofitiv da, was durch fie wirklich ſchon hervorgebracht iſt. Dieſes Einzelne aber muß eben ſo nothwendig, nicht in ſei⸗ ner Einzelnheit, ſondern in ſeinem Verhaͤltniß zum Ganzen betrachtet werden. Jeder einzelne Theil eines erſt im Bes ginnen feiner Laufbahn, in den Anfaͤngen feiner Entwick— lung begriffenen Syſtems iſt nur ein Bruchſtuͤck, und jede Beurtheilung, welche, ohne den Begriff des Ganzen voll— ſtaͤndig gefaßt zu haben und den Theil in dieſem zu be⸗ greifen, vielmehr das Ganze aus dieſem beurtheilen, und es verwerfen wollte, waͤre eben ſo unverſtaͤndig als unge— 0 recht. Aber um ſo gerechter ſind dann die Fragen, und

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um fo ftrenger fordere ich zu ihrer Feſthaltung felbft auf: Iſt jeder einzelne Theil, fo wie er ausgeführt da ſteht, noth⸗ wendig im Ganzen begriffen? Stellt er ein organiſches Glied deſſelben dar? Spricht er ſeinen Geiſt mit Klarheit aus? Entſpricht er den Forderungen aller uͤbrigen Glieder gerade auf der Stelle, auf die er hingehoͤrt? Ergaͤnzt er eine weſentliche Luͤcke, gerade ſo wie ſie ergaͤnzt werden muß, und wie fie ohne ihn nicht ergänzt werden konnte.

Weſentlich als ſolche haben ſich die bisher ausgear— beiteten und erſchienenen Elemente und Formen der Ele— mentar⸗ Bildung angekuͤndigt, und zwar als dem Geiſte der letztern gemaͤß, d. h., wirkend auf die menſchliche Na— tur, ihren Beduͤrfniſſen und ihrem Geſammtzuſtand auf der Elementarſtufe entſprechend. Sind ſie dieſes? Be⸗ zeichnen ſie eine nothwendige Epoche, ein beſtimmtes Ge⸗ biet der geiſtigen Entwicklung? iſt ihre Beſchaffenheit mit einem Worte den Geſichtspunkten gemäß, die wir im An» fange als die Aufgabe der Methode bezeichneten?

Wir erkennen, daß der Umfang der intellektuellen Ele— mentarmittel allgemein von Zahl, Form und Sprache aus— geht; wir muͤſſen alſo, um dieſe Fragen richtig beantwor— ten zu koͤnnen, naͤher ins Auge faſſen, was Zahl, Form und Sprache eigentlich zur Entfaltung der intellektuellen Kraͤfte unſerer Natur beytragen, und in dieſer Ruͤckſicht iſt offenbar: Die Anfangspunkte, von denen ſie ausgehen, ſind Elemente der Erkenntniß. Sie ſind dem Menſchen eigenthuͤmlich. Sie liegen im Organismus ſeiner geiſtigen Natur. Sie find Produkte ihrer Thaͤtigkeit. Sie find im unveraͤnderlichen Weſen der Humanitaͤt gegeben, als die

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erſten felbftftändigen Keime ihrer Aeußerungen und ihrer Entfaltung; ſie ſind poſitiver Natur. Sie koͤnnen nicht ſelbſtthaͤtig dem Kinde zur Anſchauung gebracht und ent⸗ faltet werden, ohne Hand und Auge zu uͤben, ohne Luſt und Gefühl anzuregen, ohne das Herz und den Willen in Anſpruch zu nehmen. Der allgemeinen Form der Gei— ſtesthaͤtigkeit gemaͤß fuͤhren ſie dieſelbe von ihrem erſten vollendet beſtimmten Hervortreten ins Aeußere bis auf die Stufe des ſelbſtſtaͤndigen Bildes der Begriffe von Sei— ten des Verſtandes, und bis zum erwachenden Bewußt— ſeyn der Ideen von Seiten der Vernunft; dadurch insbe— ſondere vom bisherigen Gange verſchieden, daß dieſer Be— griffe gab ohne Elemente, Ideen gab ohne Anſchauung und Entwicklung. Als allgemeine Elemente der Humanität find ſie eben ſo offenbar wieder Fundamente der humanen Be⸗ rufsbildung; überall fordert das Leben ihre Erkenntniß, wie die durch ſie geuͤbten Kraͤfte und Fertigkeiten.

Die Elementaruͤbungen der Zahl insbeſondere ſind ge— eignet, die Kraft des reinen geiſtigen Schließens von ihrer erſten keimenden Entſtehung bis zu ihrem Daſtehen in ho» her Vollendung zu entfalten, und aus ihr entſpinnen ſich die reinen, luͤckenloſen, ſelbſtſtaͤndigen innern Mittel diefer - Entfaltung. Die elementariſchen Uebungen der Form ent⸗ wickeln ebenfalls die geiſtige Schlußkraft, ſo wohl durch den unfehlbaren und nothwendigen Eindruck ihrer ſelbſt, als durch die Reſultate luͤckenloſer und jede Aufgabe ganz erſchoͤpfender Zuſammenſetzungen von den geraden und krummen Linien, und den daraus hervorgehenden noth— wendigen Wahrheitsverhaͤltniſſen. Alle Wahrheit und alle

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Schluͤſſe, die ich durch die Zahl hervorbringe, entfalten ſich aus dem reinen Weſen der menſchlichen Denkkraft ſel— ber, d. h. die Denkkraft entfaltet ſich beym Gebrauch die, fer Mittel gleichſam durch ſich ſelbſt. Hingegen alle Wahr⸗ heit und alle Schluͤſſe, die ich durch Bearbeitung der Form hervorbringe, liegen als reine und vollendete Produkte des Geiſtes im Weſen der geraden und krummen Linien, und der durch ſie moͤglichen Zuſammenſetzungen.

Beide, fo wohl die elementariſche Zahl-, als die ele⸗ mentariſchen Form-Uebungen, fuͤhren nicht bloß zum Er— kennen der Wahrheit, ſondern auch beſtimmt zu ihrem Er— finden. Sie beſchaͤftigen nicht bloß die Denktraft im Uns terſuchen derſelben, ſondern fie beleben auch die Einbil— dungskraft zum freyen Spiel ihres Aufſuchens und ihres ſchoͤpferiſchen Zuſammenſetzens. Vermoͤge der innern Kraft, die ſich durch Uebungen der Zahl in mir entfaltet, bringe ich die Wahrheiten, die rein innerlich in meiner Natur lie— gen, mir zum Bewußtſeyn. Zur Auffindung von reinen Verhaͤltnißwahrheiten, die aus der Betrachtung aͤußerer ſinn⸗ licher Gegenſtaͤnde entſpringen, kann mir nur die Formen⸗ lehre, das iſt, die Kenntniß des Weſens und der moͤglichen Verbindungen der Formen, den Weg bahnen. Die Art, wie beide Gegenſtaͤnde in der Zahlen- und Formenlehre dem Kinde zum Bewußtſeyn gebracht werden, ſchließt ſich unmittelbar an das Thun der Natur und an das Thun der Mutter an, und ſteht mit beiden in hoher Uebereinſtim— mung. Der Anfang von dieſen beiden Mitteln unſerer ins tellektuellen Entfaltung, geht weſentlich von dem erſten kind⸗ lichen Bewußtſeyn der aͤußern Eindruͤcke aus. Zwar iſt

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ſchon die erſte Wirkung dieſer Eindrͤcke, wie ſie auf die Sinne ſinnlich iſt, auf die geiſtige Natur des Kindes oder auf ſein Inneres geiſtig, wenn das Kind gleich dieſes Gei⸗ ſtige lange nicht zu unterſcheiden vermag; aber ſie erſcheint in ihrem erſten Sichtbarwerden als Sinnenerfahrung. Die Erfahrung, zum Beyſpiel, daß das Feuer mehr brennt, als laues Waſſer, iſt eine ſolche, durch das Be⸗ wußtſeyn des Mehrs oder Minders und durch die Anſchau⸗ ungserkenntniß des Feuers und des Waſſers, in der kindli⸗ chen Seele entfaltete Wahrheit. In den Anfangseindruͤ⸗ cken, durch die ſie entfaltet worden, erſcheint Zahl und Form in der Anſicht des Kindes noch unzertrennt. Das Mehr⸗ ſehn und das Feuer, das Minderſeyn und das laue Waſ— ſer, iſt im Anfangseindruck des Kindes gar nicht verſchie— den; wiederholt es eben dieſe Erfahrungen des Mehrs und des Minders an andern Gegenſtaͤnden, ſo lernt es allmaͤhlig das Mehr und Minder von den Gegenſtaͤnden trennen, in denen es erſcheint; es erhebt ſich zum dunkeln Bewußtſeyn der Fundamente der Zahl und ihrer Verſchieden— heit von der Eigenſchaft und der Form; es ſieht nun das Feuer und das Waſſer an ſich an, und denkt ſich das Mehr und Minder in andern Gegenſtaͤnden, eben ſo wie in die— fen. Das Bewußtſeyn des Vielerley fo wohl in den For⸗ men als in den Zahlen dehnt ſich allmaͤhlig aus, und der Augenblick erſcheint, wo man die erſten einfachen Uebungen der Zahl und Formenlehre dem Kinde geordnet bepbringen kann. Natürlich muͤſſen die Fundamente der erſten reinen Anschauungen von Form und Zahl, die es jetzt verſuchen ſoll, ihm durch Gegenſtaͤnde, die es im Kreiſe ſeines haͤus—

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lichen Lebens vorher ſchon lebendig erkannt hat, beygebracht werden. Es erſcheint deßnahen auch von dieſer Seite, daß die Mutter, die es ſchon von ſeinem erſten Erwachen an im dunkeln Bewußtſehn dieſer Fundamente belebte, es auch jetzt zu dem deutlichen Erkennen derſelben hinfuͤhren ſoll; und fie muß dieſes natürlich an eben den Gegenſtaͤn⸗ den verſuchen, die dem Kinde ſchon lange vorher ohne die ſen Zweck zum feſten Bewußtſeyn ſind gebracht worden. Da wo die Abſtraktion, oder vielmehr die Kraft der reinen Bildung und Anſchauung der Zahl und der Form, im Kinde durch die Mutter bewirkt iſt, was weniger von dem Al— ter des erſtern als von ſeiner fruͤhern oder ſpaͤtern, lang— ſamern oder ſchnellern Entwicklung abhaͤngt, greift nun die Elementarmethode ſelbſtſtaͤndig ein, und fuͤhrt auf dieſe Fundamente ihr Gebaͤude auf. 5

In Ruͤckftcht auf das dritte Bildungsmittel unſrer intellektuellen Kraͤfte, die Sprache, ſehen wir, ſie iſt wie Zahl und Form, ein unnachlaͤßliches Bedingniß der Ent— faltung der Menſchlichkeit unſerer Natur. Wie dem Thier ſeine eigene Tonart gegeben iſt, um ſeine Empfindungen auszudruͤcken, ſo iſt dem hoͤher begabten Menſchen die Sprache als Mittel, ſeine Erkenntniſſe, ſeine Gefuͤhle, ſeine Zwecke, ſeine Hoffnungen und ſeine Sorgen ausdruͤcken zu koͤnnen, gegeben. Die Sprache iſt an ſich, in der alle gemeinſten paͤdagogiſchen Bedeutung betrachtet, der Inbe⸗ griff des geiſtigen Bewußtſeyns des Menſchengeſchlechts von ſich ſelbſt und von der Natur. Wie daher jede menſchliche Thaͤtigkeit vom Bewußtſeyn unzertrennlich iſt, und durch dieſes ſich ihrem Charakter nach als menſch—

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lich offenbart, fo ift das Sprechen unzertrennlich von allem menſchlichen Lernen und Ueben. So wenig das Kind ohne Sprache ſich der Naturanſchauungen und Eindrücke deutlich bewußt werden kann, ſo wenig kann es ohne ſie zur Erkenntniß auch nur der allererſten Elemente von Form und Zahl gefuͤhrt werden. Ich betrachte die Spra⸗ che hier als eine allgemeine Darſtellungskraft alles deſſen, was durch den Umfang aller Fundamente und aller Quel- len der menſchlichen Erkenntniß in uns entfaltet worden iſt. Und hier iſt offenbar, daß ſie ebenfalls, wie Zahl und Form, ſelbſtſtaͤndig und von den Gegenſtaͤnden, an denen ſich ihre Kraft uͤbt, unabhaͤngend, mit beiden gleichartig und gemeinſam wirkend, daben aber in ihren Entfaltungs⸗ mitteln ihrer Natur nach, an den Gang der ihr vorher— gehenden Entfaltungsmittel der menſchlichen Kraͤfte gebun— den iſt. Und, ſo wie in ſittlicher Hinſicht, gehen hier in intellektueller, alle ihre Mittel von der Natur der Selbſt— beſorgung des Kindes, von ſeinen Beduͤrfniſſen und von dem Einfluß ſeiner naͤchſten Umgebungen aus. Der Gang, durch den die Sprache das Kind menſchlich zu ent falten geſchickt iſt, muß deßnahen der naͤmliche ſeyn, durch den Zahl und Form dieſes ebenfalls zu thun geſchickt iſt. Der Gang, durch den das Kind reden lernt, und der, durch den es denken lernt, muß alſo einer und eben der— ſelbe ſeyn. So ſteht die Einheit der Menſchennatur in allen Mitteln der Elementar-Bildung in erhabener Ue⸗ bereinſtimmung vor unfern Augen. Selber die erſte me- chaniſche Developpirung der Sprachkraft druͤckt das feſte Band dieſes von der Elementarfuͤhrung uͤberall reſpektirten

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Ganges der Natur mit Kraft dadurch aus, daß das gedop, pelie Fundament der Sprachkraft, der innere Drang, ſich durch Toͤne zu aͤußern, und der dieſen Drang belebende Eindruck der muͤtterlichen Rede, ſich in der Vorſtellung des Kindes mit einander vermiſcht; ſo wie Zahl und Form ſich in ihrem erſten Eindruck mit der Vorſtellung des Ges genſtandes, in dem ihm dieſe erſcheinen, auch vermiſcht. Das Wort der Mutter iſt dem Kinde im Anfang ſchon kein bloß thieriſcher Laut. Wenn es gleich nicht unmittel⸗ bar das Wort, das es aus ihrem Munde hoͤrt, von an— dern Toͤnen zu unterſcheiden vermag, ſo ſpricht es daſſelbe doch menſchlich an, ſein Eindruck iſt doch bleibend und bereitet die Bildung feiner Sprachkraft ſchon mitten in der noch beſtehenden Unmoͤglichkeit des Redens, Koͤnnens und in der gaͤnzlichen Unfaͤhigkeit des Verſtehens der Worte, die es hoͤrt. So wie es bloß durch die ſinnliche Einwir⸗ kung ihm vorſchwebender Gegenfiände auf feine Sinne zum erſten Bewußtſeyn von Zahl und Form gelangt, fo geht es in ſeinen Anfangsbeſtrebungen zur Sprache zu gelangen, von dem ſeinem kindlichen Alter eigenem Tone feines ſinnlichen Beduͤrfniſſes, vom Schreyen aus, ſteigt dann bald von dieſem zum lachenden lieblichen Lallen. Das Wort ſeiner liebenden Mutter iſt ihm ein aͤhnliches, liebliches, lachendes Lallen. Es ſieht ſchon Liebe, Sorg— falt, Leitung und Ernſt in dieſem muͤtterlichen Lallen. Es faͤngt an, das Lallen der Liebe vom Lallen des Ernſtes, und das Lallen der Sorgfalt vom Lallen der Freundliche keit zu unterſcheiden. Es wird ſich mit jedem Tage meh— rerer Worte der Liebe, mehrerer Worte des Ernſtes und der Sorgfalt bewußt.

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Der Ton feines ſinnlichen Bedürfniffes kann ihm

jetzt nicht mehr genügen; fein’ Schreyen mindert, fein Lal⸗ len mehrt; es moͤchte jetzt das Lallen der Mutter, es möchte den Ton ihrer Liebe, den Ton ihres Ernſtes nach⸗ machen. Das Bewußtſehyn des Worts der Mutter iſt ihm nicht mehr ein leerer Schall, das erſte Bewußtſeyn beides, der Sprache und der Sprachfaͤhigkeit, hat ſich in ihm ent» faltet. Der Drang reden zu koͤnnen, wird in ihm immer lebendiger: es wird ihm noch ſchwer, aber es wendet Kraft an, es will reden; ein Wort geraͤth ihm. Die Mutter iſt entzuͤckt, ſie herzt das redende Kind, es iſt ihr wie eine neue Erſcheinung, es erſcheint ihr wie ein Kind einer neuen Schöpfung. Es erſcheint ihr als ein menſch— licheres Weſen. Das Kraftgefuͤhl des Kindes wird bei— des, durch das Bewußtſeyn ſeines Erfolgs und durch die Liebe der Mutter, belebt. Es redet immer mehr; und die Mutter bemuͤhet ſich immer mehr mit dem beſeligen— den Gefuͤhle der Freude und der Liebe, den Rededrang des Kindes zu befriedigen und zu beleben. Das geiſtige Ich des Kindes organiſirt ſich. Sein inneres Bewußt⸗ ſeyn von ſich erwacht. Mit dem Wort Ich, das es zum erſten Mahl ausſpricht, mit dem erhabenen Ausdruck: ich bin hat es ſich ſelbſt gewonnen, und mit ihm einen ewig feſten Mittelpunkt aller Weltanſchauung und aller Welter⸗ fahrung. Dieſes ſein Selbſt, ein Spiegel der Welt, der es zugleich unaufhoͤrlich und auf unendliche Weiſe an die Welt und ihre Gegenſtaͤnde knuͤpft, wird wiederum der all⸗ gemeine Anfangspunkt, an dem die Elementarlehre der Sprache nach allen Seiten ſich fortleitet, deren vereinigen⸗

175 den Mittelpunkt wir in der Idee des Buchs der Mütter aufzuſtellen geſucht haben.

Das Ich des Kindes, als Mittelpunkt ſelbſtſtaͤndiger Geiſtesentwicklung, zerfaͤllt wie die Elementar-Bildung, ſchon urſpruͤnglich und mit dem Daſeyn in drey Richtun— gen; wie namlich jene als Bildung des Herzens, als Bildung des Geiſtes und als Bildung des Körpers in's Auge gefaßt werden muß, ſo muß das Buch der Mütter, das Kind von ſeinem einen Element aus, dem Ganzen feiner ſelbſt, feinem Ich, fi) als Herz, als Geiſt, als Koͤr— per in's Aug faſſen lehren. Als Körper iſt es ſich Ge⸗ genſtand der Selbſtanſchauung und Selbſtempfindung; als Geiſt, Gegenſtand der Selbſtthaͤtigkeit und des Selbſt— bewußtſeyns; als Herz, Gegenſtand des Selbſtwollens und Selbſtgefuͤhls. Das Daſeyn jeder dieſer drey Kräfte zer» fallt wieder in das Räumliche und in das Zeitliche, in die wirkende und aufnehmende Seite derſelben. Am Koͤr⸗ per erſcheint erſtre in den Gliedern, die zweite in den Sin— nen; am Geiſte offenbart ſich jene als die innern Kraͤfte, dieſe als die innern Sinne, naͤmlich als Wahrheitsſinn, als Kunſtſinn, als moraliſcher Sinn und als religioͤſer Sinn. Die ſechs erſten Uebungen des Buchs der Mütter ſtellen dem Kinde das Raͤumliche ſeines koͤrperlichen Daſeyns, die Glieder und ihre Eigenſchaften; die ſiebente, das zeitliche deſſelben, die Sinne und ihre Thaͤtigkeiten, bis auf eine gewiſſe Stufe dar. Bloß von der Empfindung oder von irgend einer einzelnen Kraft oder Empfaͤnglichkeit des Kine des auszugehen, waͤre hier eben ſo viel, als wenn man in der Mathematik die Formenlehre, anſtatt durch Kon⸗

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ſtruktion alle Formen durchzufuͤhren, und zu erſchoͤpfen, ſie einſeitig bloß auf das Dreyeck oder Viereck gründen wollte. Der Gang der aufgeſtellten Uebungen laͤßt das Kind unmittels bare Thatſachen, reine Reſultate ſeines Bewußtſeyns und ſeiner Wahrnehmung ausſprechen. Weit entfernt, daß feine Aufmerkſamkeit und Thaͤtigkeit dabey ein einſeitiges Voreilen des Verſtandes, das Werk der Reflexion waͤre, ſammelt es dadurch umfaſſenden Stoff, reelle Fundamente zu kuͤnftiger, gruͤndlicher Reflexion, zur Kraft eines hellen und geſunden Verſtandes.

Wie die Zahl, die Form und die Sprache von den ſinn⸗ lichen Gegenſtaͤnden, an denen ſich das Kind ihrer zuerſt ſinnlich bewußt wird, getrennt, an ſich und ſelbſtſtaͤndig dargeſtellt, angeſchaut, aufgefaßt und aus ſich entwickelt werden muͤſſen, um zu Elementar-Mitteln der geiſtigen Entwicklung erhoben zu werden; wie ohne dieſe reine ob— jektive Soͤnderung und Darſtellung ewig nie weder ein Zahlenſyſtem, noch die Mathemalik, noch die Sprachlehre haͤtte entſtehen koͤnnen, ſo iſt dieß eben ſo ſchlechthin mit der Natur des Kindes oder mit ſeinem Ich als Gegen— ſtand ſeiner Entwicklung der Fall. Es muß unbedingt nothwendig, um in ſeinem Verhaͤltniß zur Welt, oder viel⸗ mehr zum Weltall, einerſeits zur Selbſtſtaͤndigkeit zu ge- langen, anderſeits ſich ſelbſt wiederum als lebendiges Dr- gan zu bilden, das das Leben einfach und kraftvoll in ſich aufnimmt, ſich an ſich, geſoͤndert von den äußerlichen Din, gen, ins Auge faſſen, und was es als ſolches iſt, hat, will, kann, ſoll, muß, elementariſch luͤckenlos uͤberſchauen

lernen, d. h., es muß ſich ſelbſt objektiv werden, um von einer

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einer durchgefͤhrten Anſchauung feiner Beziehungen, Kräfte, Beruͤhrungen mit dem Daſeyn, empfaͤnglich fuͤr alles und geſchikt zu allem, was ihm aufgegeben iſt, auf einer 50» hern Stufe in die Natur zurückzutreten, und in voller Harmonie ſich mit ihr auf immer zu vereinigen. Auch hier iſt die Forderung, welche die Elementar-Bildung macht, kein leerer Wunſch, und der Stoff, den ſie darbie— tet, kein eitler Begriff. Die Menſchlichkeit ſelbſt und die Philoſophie ſind ihr zu aller Zeit darin vorangegangen. Die Entwicklung der letztern war von je her an dieſen Punkt geknuͤpft. Es iſt Faltum der Geſchichte, daß jeder Menſch und jedes Zeitalter nur fo viel wahre Humanitaͤt, Weisheit, Guͤte, Tugend, Religion beſeſſen haben, als ſie ſich ſelbſt auf dieſe Weiſe in ihrer Natur, ihren Kraͤften und Beduͤrfniſſen, durchfuͤhlten und durchſchauten, daß fie die Welt, das Leben, die Kunſt, die Wiſſenſchaft, kurz al les Vorhandene nur in ſo weit human zu erkennen, zu betreiben, zu genießen faͤhig waren, als ſie es in dieſem Punkte gebracht hatten. 5 b

Wundern wir uns nicht uͤber die Inhumanitaͤt eines Zeitalters, das dieſer Idee nicht faͤhig iſt, das ſo gar den Sinn fuͤr ſie in ſich voͤllig, wenigſtens in der Erziehung, ausgelöfht zu haben ſcheint. Kaum gibt es eine merk— wuͤrdigere Thatſache, als die ihm beſonders angehoͤrende Verzauberung auch der beſſern Köpfe, ja fo gar der aus⸗ gezeichnetſten Denker, daß ſie ihre eignen Ideen nicht mehr erkennen, fo bald fie als Thatſachen aufgeſtellt find; daß ſie ſich in ihren Forderungen, die ſie als Begriffe ausſprechen, überall verwirren, wo es Wirklichkeit und

Peſtalozzi's Werke. VIII. 12

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Realiſirung gilt. Aber ſie laͤßt ſich aus der allgemeinen Abweichung: Die geſammelten Kenntniſſe und die vorhandenen Einrichtungen, in ihrem Ur ſprunge, wie ſie aus der Menſchennatur her⸗ vorgingen, und wie ſie im Weſen der letztern liegen, anzuſchauen, und ſie darauf zu bezie⸗ hen, erklaͤren. i

Nirgend hat ſich dieß offenbarer als in den Urtheis ben über das Buch der Mütter, in der Art, wie man es gebrauchte, und in der Anwendung, die man von ſeiner Idee und von ſeiner Form auf andere Gegenſtaͤnde machte, gezeigt. Freylich iſt die Sprache ſchon an ſich, und noch mehr als Organ aller andern Erkenntniſſe, und als Bedingung der Mittheilung, von unendlicher Vielſei⸗ tigkeit. Leicht moͤgen jedoch der Anfangspunkt ihrer for⸗ malen Entwicklung und die Mittelglieder ihrer Fortleitung gefunden werden. Um ſo ſchwerer aber iſt es, in Hin— ſicht auf die Seite der reellen Entwicklung den Mittele punkt und Inbegriff der Elementar-Anſchauungen, d. h. der Eindruͤcke, Vorſtellungen, Begriffe und Ideen, an den alles Wiſſen des Kindes ſich anknuͤpft, und durch den es zur Wahrheit über ſich ſelbſt und feine Umgebungen ges langt, aufzufinden, und ihn anzuerkennen, ob gleich er von der Natur aufs deutlichſte bezeichnet iſt; um ſo ſchwerer iſt es, ihn auch, wo er aufgefaßt und anerkannt iſt, ein. fach, harmoniſch, luͤckenlos und allſeitig, und doch weder weitlaͤufig noch pedantiſch, durchzufuͤhren.

Von ſehr richtigem Gefühl des Beduͤrfniſſes eines fole chen Mittelpunkts ausgehend, ihn als Prinzip fo gar le⸗

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bendig fuͤhlend, gerieth Comenius in der Ausführung ohne Einheit, ohne Zuſammenhang, ohne Philoſophie, ohne Anſchauung des innern organiſchen Lebens im Kinde auf die Menge der Dinge Verſtaͤndiger dennoch als die, de— nen (das Objektive und Subjektive durchaus vermiſchend) jeder einzelne ſinnliche Gegenſtand zur Uebung der Spra⸗ che und Anſchauung gleich gilt, wollte er dem Kinde alle Gegenftände des Daſeyns empiriſch vorführen. Aber der Kreis der Gegenſtaͤnde um den Menſchen her iſt beſchraͤnkt, und weil Comenius ſeine Idee nur in dem Prinzip der ſinnlichen Anſchauung faßte, die ſich ihm, als der einigende Mittelpunkt (denn einen ſolchen mußte er doch haben) darſtellte, fo gerieth er aus Beduͤrfniß auf Abbildungen, und ſchuf feine gemahlte Welt. Baſedow dehnte in ſei— nem Elementar-Werk, indem er zu ſeinem Hundert Kup— fertafeln eben fo wohl hundert Bände hätte liefern koͤn— nen, nur aus, was Comenius angefangen hatte. Kühn und groß in ſeinen Beſtrebungen, aber die geiſtige Selbſt— ſtaͤndigteit der Menſchennatur verkennend, bloß im Mate— riellen und in ſinnlichen Begriffen lebend, materialiſir⸗ te er die Erziehung vollkommen und unterwarf das Kind unbedingt der objektiven ſinnlichen Welt. Nicht nur, was das Kind in ſeinen Umgebungen in der Natur nicht ſehen konnte, wurde ihm nun in Abbildungen vorgeführt, fondern auch das, was es jeden Tag in der Natur ſelbſt wahr und vollkommen ſehen kann. Man nahm den Reiz und die Leichtigkeit, die ſinnliche Schwaͤche des Kindes zu zerſtreuen, für das Kriterium der paͤdagogiſchen Zweckmaͤſ— ſigkeit an; und in dem man die Natur ſuchte, gerieth man 12 *

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in die abſoluteſte Unnatur, eben weil man fie da fuchte, wo fie nicht iſt, im bloß aͤußern und ſinnlichen Daſeyn. Es war das Verdienſt der Reviſoren, den Baſedowiſchen Materialismus wenigſtens zu pfychologiſiren; aber leider, nur ihn, nicht die Erziehung, pfychologiſirten ſie. Sie ga⸗ ben wenigſtens die ſinnliche Anſchauung, den reellen Ein⸗ druck der Naturgegenſtaͤnde, dem Unterricht wieder zuruck; und ihre Schuld iſt es nicht, wenn noch heute Buchfabri⸗ kannten und Kraͤmerſeelen das ſchlechthinnige Verwerfen von Bildern und Kupferſtichen fuͤr die Elementar-Ent⸗ wicklung, der Duͤrftigkeit ihres Urſprungs zuſchreiben. Schon vor Baſedow erſchien zwar Rouſſeau, wie eine hoͤhere Natur, als Wendepunkt der alten und neuen Welt in der Paͤdagogik. Von der allgewaltigen Natur all⸗ gewaltig ergriffen, die Entfernung ſeiner Zeitgenoſſen vom ſinnlichkraͤftigen eben fo wohl, als vom geiſtigen Leben, wie kein anderer fuͤhlend, ſprengte er mit herkuliſcher Kraft die Feſſeln des Geiſtes, und gab das Kind ſich ſelbſt, gab die Erziehung dem Kinde und der menſchlichen Natur zu⸗ ruͤck. Allein im Widerſpruch mit ſich ſelbſt, im Wider⸗ ſpruch mit der Geſellſchaft und ihren unveraͤnderlichen Beduͤrfniſſen, im Widerſpruch ſelbſt mit dem menſchlichen Geiſte und den Geſetzen feiner Entfaltung im Daſeyn, weil er ſich des hoͤhern Punktes der Einheit der Natur und der Kultur, von dem erſt ihre Verſchie⸗ denheit ausgeht, nicht bewußt wurde, war er weder im Stande, die Selbſtſtändigkeit des Kindes durch die or⸗ ganiſche Belebung und Entwicklung ſeiner geiſtigen Selbſt⸗ thaͤtigkeit zu behaupten, noch die innere Welt des Men⸗

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ſchen mit feiner aͤußern in Harmonie zu bringen. Wenn darum das Zeitalter ihn nicht faßte, und nur im Gegen⸗ ſatze mit ſich ſelbſt begriff, ſo wurde er beſonders von den Erziehern faſt ohne Ausnahme mißverſtanden. Nur ab⸗ goͤttiſche Verehrer, oder blödfinnige Erklaͤrer oder erbitterte Gegner findend, blieb ſein Emil in ſeiner erhabnen, als Thatſache der Kultur welthiſtoriſchen Bedeutung (eben ſo wohl, als die große Idee vom Comenius) ein verſiegel⸗ tes Buch, und bewirkte keine einzige Erſcheinung, die ſei— nen Geiſt in's Licht geſetzt haͤtte.

Das Buch der Muͤtter, vom Selbſt des Kindes, als dem durch die Mutter entwickelten Anfangspunkt ausge⸗ hend, und ſich dadurch an ihr Thun, ſo wie an das Thun der Natur im Kinde harmoniſch anſchließend, macht das Kind in Hinſicht auf Sprache als Nomenklatur mit allen Redetheilen, fo mit der Verbindung der Worte zu Sägen, bekannt und praͤgt ſie ihm uͤbend ein. Indem es die Theile und Gegenſtaͤnde, die es benennt, ſelbſt aufſuchen muß, ſetzt es ſeine Anſchauungs- und ſeine Bemerkungs— faͤhigkeit in Thaͤtigkeit. Zuerſt ſein raͤumliches Daſeyn, ſeine Glieder, ihre Eigenſchaften, ihre aͤußern Verhaͤltniſſe in's Auge faſſend, dann zu den Faͤhigkeiten und Thaͤtig— keiten feines zeitlichen Daſeyns, feines Vermögens zu em— pfangen und zu wirken, zu feinen Sinnen und feinen Kraͤften fortſchreitend, wird es ſeiner ſelbſt im Einzelnen bewußter und erwacht ſo zu einer immer klarer und um— faſſender werdenden Ahnung ſeiner Verhaͤltniſſe zur Natur und zu ſeinen Umgebungen. Im zuſammenhangenden Foriſchritte vereinigt ſich das Sinnliche und das Geiſtige

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zur Einheit einer Erkenntniß bey ihm. Das Aeußere und das Innere, das Subjektive und das Objektive, Sprach⸗ und Erkenntnißkraft inüpfen ſich an einander. Wie das einigende aͤußere Band davon die Sprache iſt, ſo iſt das einigende innere Band das Ich des Kindes, d. h. ſein Bewußtſeyn, feine Anſchauung, fein Gefühl von ſich ſelbſt. Der Zoͤgling tritt mit voller Unſchuld und kindlicher Unbe⸗ fangenheit, aber zugleich mit Sicherheit in's Gebiet der Selbſt⸗, der Welt⸗, der Menſchen-Kenntniß und Erfahrung zugleich ein. Ohne Anmaßung lernt er ſich in den nothwendi⸗ gen Schranken und Verhaͤltniſſen feiner Natur zugleich ken⸗ nen, fuͤhlen und bewegen. Zwar kommt er dadurch nicht da⸗ hin, uͤber alles zu reden; er kann's nicht, und will's nicht. Aber ſein Reden iſt das Reden der Wahrheit und der Empfin⸗ dung, nicht des Scheins und der Taͤuſchung.

Wer haͤtte nicht darauf rechnen ſollen, ein ſolcher Verſuch, der den Beduͤrfniſſen der Zeit um fo angemeſſe— ner ſchien, je mehr die Klage uͤber das zerſtuͤckelte Wiſſen und die Kraftloſigkeit der paͤdagogiſchen Brockenlehre laut geworden war, wuͤrde wenigſtens, als Verſuch, in ſeiner Bedeutung gefaßt und in ſeiner Tendenz anerkannt werden. Aber nichts weniger als dieſes. Er ſoll das Kind zu ſich felbft hinfuͤhren, den blinden Eindruͤcken der Außenwelt und der ſklaviſchen Hingebung an ſie entziehenz er ſoll ein feſter Punkt ſeyhn, an dem es, indem es ſich ſelbſt findet, zugleich den Schluͤſſel der Dinge finden kann; und auf's neue mißbraucht man ſeine Form, um das Kind dem Objektiven zu unterwerfen. Es entſteht ein neuer Comenianismus, der ſich nur darin vom alten unterfcheis

185 det, daß er ſich auf die umgebenden Gegenftände beſchraͤnkt und keine Bilder zu Huͤlfe nimmt. Hier wird es nur formal aufgefaßt: man ſpinnt aus ihm einen logiſchen Schematis— mus von Haupt- und Neben-Grund- und untergeordne— ten Abtheilungen, und verliert ſich ſo in's Mechaniſche und Leere. Dort verliert man ſich in's Materielle und findet es zutraͤglicher, ſtatt das Kind ſich ſelbſt in's Auge faſſen zu laſſen, es mit Tiſchen und Baͤnken, Scheren und Lichte putzen nach jenem Typus zu beſchaͤftigen. Was bei Ba⸗ ſedow mißleitete, die empiriſche Anſicht und der ganz miß⸗ verſtandene Begriff: der Unterricht muͤſſe ſich nach dem ſinnlichen Intereſſe und dem koͤrperlichen Reitze des Kin⸗ des richten (ein Begriff, in dem ſich alles Verderben der autuͤbenden Paͤdagogik als in feinem Centrum vereinigt, und der nur da Statt findet, wo man ſeine hoͤhere gei— ſtige Natur nicht anzuregen, zu bethaͤtigen, fo zu intereſ— ſiren weiß, daß das Kind des körperlichen Reizes vergißt), wird der Forderung der Elementar-Methode: der Unter⸗ richt muͤſſe naturgemaͤß und fuͤr das Kind belebend ſeyn, untergeſchoben. Der Idealismus ſelber verſinkt am Buche der Mütter zum Materialismus, und macht bloße koͤrper— liche Senſationen zum Mittelpunkt ſeiner Ausfuͤhrung. Es fehlte nur noch, daß man, was wirklich geſchah, um den Grundjag der Anſchauung und des organiſchen Zuſam— menhangs, dem die Elementar-Methode eine ganz andere, ganz geiſtige Bedeutung gab, fuͤr die wiſſenſchaftlichen Kenntniſſe auszuführen, fie in Form eines Stammbaums darſtellte, wie man eben fo die Formenlehre als Kinder ſpiel ſchon in die Pädagogik eingeführt hat. Nichts in

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der Methode 0 den Empirikern empiriſch, den Wiſſen⸗ ſchaftsmenſchen wiſſenſchaftlich, den zartgebildeten fein und glatt genug. an ſetzte hinzu, man that davon, man riß aus dem Zuſammenhang, man entſtellte den Geſichts⸗ punkt; aber wenige uͤberließen ſich mit Ruhe dem Faden eines Verſuchs, deſſen wiederholte Anſicht und Durchfuͤh⸗ rung ihnen den enthuͤllten Geiſt offenbaren und ſie in den Stand ſetzen konnte, ſelbſtſtaͤndig das Mangelnde zu er⸗ gaͤnzen, das Abgebrochene fortzuſetzen und zu vollenden. Freylich iſt dieſe Ergaͤnzung nicht moͤglich, ohne den reinſten Sinn kindlicher und muͤtterlicher Unſchuld und Ein⸗ falt, ohne den anſpruchloſen und göttlichen, durch keine Weltanſichten und Weltzwecke verwirrten Sinn der Liebe und Hingebung an das in der Sprache ſich offenbarende Gemuͤth des Kindes. Dieſe Vollendung iſt nicht moͤglich, ohne die Menſchennatur im hiſtoriſchen Gang der Sprach— entwicklung, ja aller menſchlichen Bildung uͤberhaupt, mit eben fo hoher Geiſteskraft als friſcher Lebensfuͤlle erforſcht zu haben. Sie iſt nicht moͤglich, ohne zartes Auffaſſen der Lebensregungen des Kindes in ihren leiſeſten Anklaͤngen, und ohne den Sinn fuͤr die Harmonie aller Thaͤtigkeiten, welche die es umgebenden Geſtalten der Natur in ihm auf⸗ regen. Aber eben dieſes entſpringt nicht aus einem empi⸗ riſchen Beobachten des Einzelnen, nicht aus einem will⸗ kuͤhrlichen, von den Aeußerungen des Kindes abſtrahirten paͤdagogiſchen Silhouetten ziehen der Umriſſe ſeiner Seele, ſondern aus einem genialen Schauen der Bedeutung die⸗ ſer Aeußerungen; aus dem Erfaſſen und Durchdringen der Scele ſelbſt, die ſich darin ſpiegelt. Sie fordert jenes in»

| 185 | nere Auge, mit dem Haman und Herder die Menſchheit, mit dem Novalis die Natur in ihren Erſcheinungen ſahen.

Wie jetzt die Elementar-Bildung, ſo wie ſie ſchon ausgeführt iſt, die Verſtandes- und Erkenntnißkraft des Kindes urſpruͤnglich poſitiv, harmoniſch und umfaſſend in Anspruch nimmt, und alfo die reelle Seite der Elemente und Gegenſtaͤnde, die in ihrem Weſen liegen luͤckenlos darſtellt; ſo wird dadurch auch zur Anſchauung und Er⸗ kenntniß ihrer rein ideellen und fombolifchen Seite das Fundament gelegt eine Seite der Bildung, die bey den Alten wirklich ſelbſtſtaͤndig vorhanden war, die als Trieb und Beduͤrfniß auf dem Gebiete der Kunſt, des Lebens und der Religion, theils in zerſtuͤckelten Ueberreſten, theils in einer Menge einzelner Geſtaltungen noch lebendig von Zeit zu Zeit neu hervorbricht und ihr allgemeines Wiedererwachen prophetiſch veckuͤndet.

Es iſt indeß nicht genug, daß die Grundſaͤtze und die Ausfuͤhrung der intellektuellen Elementar-Bildung ſich nur in Hinſicht auf die geiſtige Natur und Entwicklurg des Menſchen bewähren. Sie müflen ſich auch eben fo noth— wendig durch ihre allgemeine Uebereinſtimmung mit den übrigen Anlagen und Faͤhigkeiten deſſelben rechtfertigen. Sie muͤſſen nicht nur mit dem Entfaltungsgange der letz— tern überhaupt in Harmonie ſtehen, ſondern auch ihn aus» ſprechen. Sie muͤſſen ein weſentlich die Selbſtſtaͤndigkeit jener uͤbrigen Anlagen anſprechendes und befoͤrderndes Mit— tel ihrer Entwicklung ſelbſt ſehn. Verhaͤlt ſich dieſes mit der intellektuellen Elementar-Vildung wirklich fo? Iſt fie vor allem aus mit der ſittlichen Natur des Menſchen, iſt

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ſie mit den weſentlichen Thatſachen, welche die Geſchichte der Menſchheit im Gang ihrer ſittlichen Entwicklung auf⸗ ſtellt, in vollendeter Uebereinſtimmung?

Gehen wir zur Beantwortung dieſer Fragen einer⸗ ſeits zuruͤck auf die im vorhergehenden aufgeftellten Grund» ſaͤtze der ſittlichen Elementar- Bildung, fo ſehen wir, daß auch der ganze Umfang dieſer Uebungen nichts anders iſt, als ein Reſultat des pſychologiſch geordneten und belebten Gebrauchs der in uns wohnenden ſittlichen Kraft, eben ſo nach dem Impuls des Strebens der ſittlichen Natur ſelber zu ihrer dießfaͤligen Entfaltung. Faſſen wir anderſeits vom ſittlichen Standpunkte aus die bisherige Darlegung

der Natur und des Weſens der einzelnen Abtheilungen der intellektuellen Elementar-Bildung und ihrer Mittel in's Auge; ſo erkennen wir in ihr nicht nur die aus der Ein-

heit unfrer Natur nothwendig hervorgehende innere Ueber⸗ einſtimmung aller unſrer Kräfte und Anlagen und ihren unzertrennlichen ewigen Zuſammenhang unwiderſprechlich, ſondern es erhellet aus derſelben eben ſo heiter, daß der Mittelpunkt, von dem dieſe Uebereinſtimmung weſentlich ausgeht, und nothwendig angeſprochen wird, nicht die ins tellektuelle und noch weniger die phyſiſche, ſondern die ſitlliche Kraft unſrer Natur iſt, und daß folglich die intel- lektuelle Bildung an ſich fon den Menſchen ſittlich in Auſpruch nimmt. 5

Die hoͤchſte Thatſache des Weſens und Gangs der ſittlichen Entwicklung des Menſchengeſchlechtes, welche die Geſchichte der Menſchheit auſweist, iſt keine andere als die des Chriſtenthums. Dieſe Thatſache iſt der Inbe⸗

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griff und der Erkenntnißgrund aller uͤbrigen ſittlichen That⸗ ſachen unſrer Natur. Die Sittlichkeit ſelbſt, wie ſie in der unwandelbaren und ewigen Beſchaffenheit des Men⸗ ſchen liegt, hat ſich in der Perſon und im Geiſte ſeines Stifters geoffenbart; und der dießfaͤllige Zweck feines Da- ſeyns, die Menſchheit in allen ihren Individuen auf eine ihr ganzes Daſeyn umfaſſende Weile zu verſittlichen, d. h. ſittlich zu erziehen, erhebt das Chriſtenthum ſelbſt wiede— rum zum unwandelbaren und ewigen Prüfftein jeder ſitt— lichen That zum Pruͤfſtein des ſittlichen Werths jedes Erziehungsverſuches in feinem Weſen.

Unterſuchen wir das Chriſtenthum nach unſrer im Anfang auf eſtellten Idee der Elementar-Bildung naͤher, ſo finden wir in ihm, als dem goͤttlichen Erziehungsmit— tel des Menſchengeſchlechts zur Sittlichkeit, alles, was wir als den Inhalt und die Aufgabe jener Idee forderten, mit der größten Klarheit und in einem überfinnlichen Lichte aufgeſtellt, und wir koͤnnen unfre Forderungen und Grund» ſaͤtze als eben fo viele Forderungen und Grundſaͤtze des Chriſtenthums anſehen, nur daß ſie in dieſem weit erhab— ner erſcheinen als wir ſie darzuſtellen vermoͤgen. Es ſtellt nicht nur in der Idee, von der es ausgegangen, ſondern auch eben ſo vollendet in den Mitteln, die es organiſirte, in der Thatſache der Bildung, die ſich hiſtoriſch von ihm herſchreibt, eine elementariſch-ſittliche Erziehung auf. We— ſentliche Elemente, d. h. unveraͤnderliche Anfangs- und Fortleitungspunkte dieſer Erziehung, find von ihm aufge» ſtellt und bearbeitet. Dieſe Elemente find, wie ſeine Fort⸗ ſchritte, allenthalben durchaus poſitiv und individualiſirt.

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Sie ſtellen die Individualität der ſittlichen Natur des Men⸗ ſchen und die Individualitaͤt der Sittlichkeit an ſich in ih⸗ rer reinſten und geſchloſſenſten Erſcheinung dar. Ueberall vergleicht ſein Stifter die Gruͤndung ſeines Reichs mit dem organiſchen Bildungsgang der Natur. Frey von allen aͤußern Formen hat er es im Innern des Menſchen ges gruͤndet. Mit einem Schlag das ganze Gebiet der Men⸗ ſchenſatzungen niederwerfend, oder vielmehr ſich durch den Standpunkt, auf dem er ſteht und auf den er alles ſtellt, mit einem Mahl daruͤber erhebend, fuͤhrt er die ſittliche Erziehung unbedingt auf das urſpruͤngliche, Einfache, Reine und Unvermittelte aller ſittlichen Regung, auf die

Gefühle der Liebe, des Danks und des Vertrauens zuruͤk. Das unwandelbare, abſolut allgemeine und zugleich eben ſo abſolut individualiſirte d. h. in jedem Individuum als ſolchem Tugend und Gewiſſen begruͤndende Weſen der Sittlichkeit ſetzte er in jedem Menſchen voraus, in dem er die Freyheit des Willens vorausſetzte. Freyheit des Wil⸗ lens hinwieder ſetzte er faktiſch, d. h. im wirklichen Da⸗ ſeyn des Menſchen erſcheinend, geiſtig in die Wahrheit, die von Gott ausgeht und von der Gott das Urbild iſt; gemuͤthlich in die Liebe, die von Gott ausgeht, und von der Gott das Urbild iſt; phyſiſch in das Handeln in der Wahrheit und in der Liebe, das von Gott ausgeht und von dem Gott das Urbild iſt. Die in der Sittlichkeit des Menſchen dargeſtellte Harmonie und Einheit dieſer Wahr⸗ heit, dieſer Liebe und dieſes Handelns, ſtellt er als das hoͤchſte Ziel, als das wahrhaftige Daſeyn des Menſchen, als Vollkommenheit dar. Vollkommen ſollen wir fepn,

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wie der Vater im Himmel. Der Weg zu dieſer Voll⸗ kommenheit iſt Gehorſam in unbedingter Hingebung an den Willen Gottes; Tugenduͤbung, Selbſtverlaͤugnung, Venichtung der Perſoͤnlichkeit. Dieſe Selbſtverlaͤugnung, dieſe Vernichtung der Perſönlichkeit iſt aber ſelbſt nichts anders als das Leben der goͤttlichen Idee in uns, das fitt- liche, das ewige Leben. Der Gehorſam hinwieder, durch den dieſes Leben realiſirt wird, iſt kein knechtiſcher, fone dern ein kindlicher Gehorſam, kein Hingeben an einen frem— den Willen, ſondern der eigne frepe Wille ſelber; das Ge⸗ ſetz, das in der Natur, im Weſen der Freyheit, der Wahr⸗ heit und Liebe liegt, und das dieſe ſich ſelbſt auflegt. Es iſt das Geſetz der eignen Vollkommenheit, nach welcher der Menſch nicht anders als ſtreben, der Seligkeit, die er nicht anders als wollen kann. Es iſt als Geſetz, das Gehorſam fordert, zwar unbedingt nothwendig, aber als ein Geſetz, das die Freyheit des Individuums ſich ſelbſt als die Bedingung ihres Daſeyns, als feinen eignen hoͤch— ſten Werth, und als ſeine Vollkommenheit und Seligkeit auflegt, unbedingt frey. Dieſe Freyheit hat der Menſch nur in der ihm inwohnenden Idee, aber nicht als irdiſches Naturweſen, nicht als ſinnliches Geſchoͤpf, weil er als letz— teres, die ewige Wahrheit nicht erkennt, die ewige Liebe nicht fuͤhlt, und fern vom goͤttlichen Handeln, d. h. im Abfall von Gott iſt. Soll er frey werden, ſo muß ihn der Sohn frey machen, d. h. er muß die in ihm geoffen⸗ barte göttliche Idee durch Gehorſam ſich aneignen, und im Gehorſam goͤttliche Wahrheit und Liebe lernen und uͤben; aber dieß kann er immer nur als Erfuͤllung des Geſetzes

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feiner eigenen Natur, als Entwicklung der göttlichen Idee in ihm ſelber, ſeine Liebe zu ihr, und ſeines Lebens in ihr.

So gruͤndete Jeſus das Werk der Sittlichkeit auf die göttliche Wuͤrde der menſchlichen Natur im Kinde, in dem er dieſe Wuͤrde als urſpruͤnglich anerkannte oder vielmehr wiederherſtellte, und die ganze Anſicht und Behandlung des Menſchen und des Kindes auf die ſymboliſche Darſtel⸗ lung dieſer ſeiner goͤttlichen Natur (in der Taufe) baute. Er ſetzte eine Fuͤlle ſittlicher Anlagen im Menſchen vor⸗ aus, die er durch luͤckenloſe Uebung, durch ſich unaufhoͤr⸗ lich erweiterndes Thun zur Selbſtſtaͤndigkeit erhob. Er gab der Thaͤligkeit dieſer Anlagen eine allſeitig vollendete Anſchauung in ſeiner Perſon und knuͤpfte ſie an das Hoͤchſte, an die Idee der Gottheit, die er ſelbſt vergegen⸗ waͤrtigte und ſichtbar machte. In dieſer Idee gab er den Menſchen einen hoͤchſten Geſetzgeber und Richter, einen allgegenwaͤrtigen Zeugen ſeiner Handlungen und ſeiner in— nerſten Geſinnung und entwickelte aus ihr die reinſte Gewiſſenhaftigkeit. Nie ging er in ſeiner Handlungsweiſe und in ſeinen Abſichten auf etwas anders als auf die Na⸗ tur, als auf das Individuum, das er vor ſich hatte, als auf das in ihm Gegebene und das durch ſeine Beſchraͤn— kung Moͤgliche: denn eben darin lag das Weſen ſeiner eignen ſittlichen Anſchauungsweiſe der Dinge, und in ihr die Macht der Humanität, die das zerſtoßene Rohr nicht zerbrach, ſondern ſtaͤrkte, den glimmenden Docht nicht auslöfchte, ſondern anfachte und naͤhrte. Eben das All gemeine, Urſpruͤngliche und Poſitive feiner Verfahrungsart

191 beftand darin, die ſittliche Individualitaͤt jedes Einzelnen und hinwiederum diefe für ihre Verhaͤltniſſe des Daſeyns, fuͤr ihren Stand und Beruf, erhaben zu vollenden. So war ſeine Anſicht und ſein Gang der ſittlichen Bildung im Geiſt und in der Wahrheit univerſell. So vernichtete er alle Widerſpruͤche der ſittlichen Exiſtenz, vereinigte alle Gegenſaͤtze derſelben in eine goͤttliche Harmonie, und ſtellte den Gang Gottes, die ewigen Geſetze, die der Schoͤpfer in die Menſchennatur unmittelbar gelegt hat, in ihrem | eben fo unmittelbaren Ausdruck dar. So werden alle Fort⸗ ſchritte, alle fittlihe Entwicklungen des Menſchengeſchlech— tes nur ſein Prinzip entwickeln, bis ans Ende der Tage. Die hohe Uebereinſtimmung zwiſchen dem ſittlichen Geiſte des Chriſtenthums und zwiſchen dem Gang und al— len dießfaͤlligen Wirkungen der menſchlichen Naturverhaͤlt— niſſe, insbeſondere aber zwiſchen der ſittlichen Handlungs— weiſe der Mutter gegen ihr Kind, faͤllt in die Augen. Die Mutter behandelt bewußtlos ihr Kind als Zoͤgling zur Sitts lichkeit, wie das Chriſtenthum mit Bewußtſeyn den Men⸗ ſchen als Zögling zur Sittlichkeit behandelt; und das Chriſtenthum ſelbſt iſt, von dieſer Seite in's Auge gefaßt, nichts anders als die Erhebung des Inſtinkts zur Ver nunft, der Natur zur Hoͤhe einer goͤttlichen Offenbarung. | Die Mutter anerkennt keine ſinnliche Frepheit des Kindes. Wie fie ſich ihm in Liebe hingibt und feine Bes duͤrfniſſe befriedigt, ſo fordert ſie von ihm Gehorſam. Aber wie fie es durch die Liebe, mit der fie fi) ihm hin⸗ gibt, zur Wahrheit erhebt, fo erhebt fie es durch den Ge— horſam, den fie von ihm fordert, zur Frepheit. Ihre

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ganze Liebe geht dahin, wie der ganze Gehorſam des Kin⸗ des dahin wirkt, daſſelbe einſichtsvoll und kraftvoll, d. h. von ihr unabhaͤngig, ſelbſtſtaͤndig, frey zu machen. Im Kinde hinwiederum iſt es denn die edle Frucht ſeiner Selbſtſtaͤndigkeit und ſittlichen Freyheit, daß es ihr in Liebe diene, und durch freywillige und freudige Unterwerfung ihr ſeine Dankbarkeit zeige. Sie lehrt es gehen, damit es ihrer Leitung nicht mehr beduͤrfe; koͤnnen, damit es ſich ſelbſt helfe; kennen, damit es ſelbſt wiſſe, was ihm Noth thut. Sie freut ſich, wenn es mehr als ſie ſelber vermag, mehr erkennt als fie ſelbſt weiß, mehr wird als ſie ſelbſt iſt. Der Gehorſam, den ſie fordert, iſt kein and⸗ rer als der gegen ſeine eigne Natur und Beduͤrfniſſe; ihr Wille kein andrer als das Geſetz, welches ihm ſeine Ver⸗ nunft, waͤre es muͤndig, d. h. frey, ſelbſt auflegte, und wozu es ſich aus eignem Trieb beſtimmen wurde. Aber fie ſetzt dieſen Willen, fie ſetzt die ganze Fülle ſittlicher Anlagen der Menſchennatnr im Kinde voraus. Sie vers traut der Vernunft, die in ihm ſich erſt noch entwickeln ſoll, unbedingt, wie ihrer eignen Vernunft. Mitten in dem fie Gehorſam von ihm fordert, ja eben, daß fie dieß und durch die Art, wie ſie es thut, muthet ſie ihm die⸗ ſelbe als etwas Gegebenes, als eine Thatſache an. Sie zuͤchtigt ihr Kind, ſie fordert Rechenſchaft von ihm, ſie zieht es zur Verantwortung, und erklaͤrt es eben dadurch, ohne zu wiſſen was ſie thut, als ein freyes, vernuͤnftiges Geſchoͤpf. Seine Schwäche iſt ihre Stärke, fein Beduͤrf⸗ niß ihre Liebe und ihre begeiſternde Hoffnung daß, was es einſt ſeyn wird. Sie gibt der Uebung des Kindes im

ſitt⸗

fittlihen Fuͤhlen, Reden und Thun, durch welche fie es zur Selbſtſtaͤndigkeit erhebt, ein lebendiges Muſter in ih⸗ rem eignen ſittlichen Fuͤhlen, Reden und Thun. Ihre Gegenwart, der ganze Eindruck ihres Daſeyns erzeugt im Kinde das ſittliche Bewußtſeyn, die Keime und Ele⸗ mente der Idee des Guten.

Ihre Aufſicht, unter der es während ihrer Ab— weſenheit ſteht, die Forderung, die ſie an das Kind macht, auch waͤhrend derſelben zu handeln, als waͤre ſie zugegen, bringt in ihm die Gewohnheit und Fertigkeit her⸗ vor, überall vor ihren Augen zu wandeln. Sein G es wiſſen erwacht. Die Vorſtellung feiner Mutter erzeugt Gewiſſenhaftigkeit in ihm. Das Bild ſeiner Mutter, das es uͤberall begleitet, wird ſelbſt ſein Gewiſſen. Sie iſt eben ſo die erſte ihm bewußte Vorſehung. Wie ſie es richtet, lernt es ſich ſelbſt richten. Wie ſie es, dadurch daß ſie es richtet, ſich ſelbſt richten lehrt, ſo zeigt ſie ihm in Gon, da wo ihre Gegenwart nicht mehr hingelangt, und ihre Einſicht zu ſchwach iſt, den hoͤchſten, einen allge⸗ genwaͤrtigen und allwiſſenden, einen heiligen und gerech— ten Richter. Sie ſanktionirt, ſie heiligt die Vorſchriften und Geſetze, die fie als Stellvertreterinn der Natur und des Gewiſſens des Kindes ihm auflegt, als göttliche Ge⸗ bothe, und erweitert auf dieſem Wege, wie ſich die Ein⸗ ſichten, die Kraͤfte und die Beduͤrfniſſe ihres Kindes ſelbſt erweitern, feine ſütliche Stimmung zu einer durchgeführs ten fittlihen Lebens- und Weltanſicht. Dieſe Anſicht aber, indem fie einerſeits die unveraͤnderliche und ewige Natur der Sittlichkeit ſelbſt ausdruͤckt, ſchließt ſich in allen ihren

Peſtalozzi's Werke VIII. 15

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Theilen an die Individualitaͤt des Kindes, ſeiner Aeußerun⸗ gen und ſeiner Verhaͤltniſſe mit ſeinen Geſchwiſtern, Ver⸗ wandten, Kammeraden u. ſ. w. an. Es iſt dem kindli⸗ chen Vorſchritt ſeiner allſeitigen Entfaltung gemaͤß, und ſeinem Weſen nach ſelbſt nichts anders, als die Erweite⸗ rung der Thätigfeit und des Umfangs feiner urfprünglichen ſittlichen Natur ſelber. Wie die gute Mutter dießfalls handelt, ſo handelt der gute Vater, ſo bringt es das haͤus⸗ liche Naturverhaͤltniß in jeder Beziehung von ſelbſt mit ſich.

Alles, was die ſittliche Elementar-Bildung dem Kinde ſeyn kann, das muß ſie ihm in dieſem Geiſte der Mutter und des Chriſtenthums ſeyn. Wo die Mutter dem Kinde mangelt, da muß fie ihm dieſelbe durch den reinen menſch⸗ lichen Geiſt, der im Lehrer lebt, erſetzen. Wo die Mutter die Grundlage gelegt hat, da muß ſie fortbauen, und ihre Eindruͤcke und Wirkungen aus dieſer Grundlage ſelbſt entwickeln. Sie darf es mit ſeinen fruͤhern Verhaͤltniſſen der Geſinnung und Stimmung nach auf keine Weiſe in- Widerſpruch ſetzen, ſondern ſoll ihr ganzes Thun damit in organiſchen Zuſammenhang bringen. Die Wichtigkeit iſt unbedingt groß, welche dieſer Geſichtspunkt in der Er⸗ ziehung auf Lehre und Anſtalten behauptet. |

Wenn aber irgendwo, fo wird es hier auffallend, daß umfaſſende, der menſchlichen Natur entſprechende, ſittliche Erziehungsgrundſaͤtze und Erziehungsmittel nur da in der That und Wahrheit Statt finden koͤnnen, wo die Menſchen und das Leben ſelbſt ſittlich ſind, und daß, ehe die Erziehungskunſt zu irgend einiger Vollkommenheit von

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diefer Seite erhoben werden kann, ihr eine vollendete ſitt⸗ liche Anſicht der Menſchennatur, wie ſich dieſe auf allen Stufen des menſchlichen Daſeyns und in allen Geſtalten ausbildet, vorausgehen muß. Fuͤr meinen Zweck genuͤgt es hier, den dießfaͤlligen Standpunkt und die Tendenz unſrer Unternehmung zu bezeichnen. Alles, was die menſchlichen Naturanlagen und ihren Stufengang, was Belohnungen und Strafen, was die haͤuslichen und buͤr— gerlichen Beruͤhrungspunkte, was Beruf, was Stand, was Amt betrifft, gehört mit in den Kreis dieſer Unter- ſuchung. \

Wenn, in fo fern die Anſicht von dem Weſen der Elementar Bildung mit dem Weſen des Chriſtenthums, in ſo weit dieſes als die Offenbarung unſrer ſittlichen Na⸗ tur und ihrer Entwicklung betrachtet wird, in vollendeter Uebereinſtimmung, folglich das Weſen der erſtern mit dem des letztern unmittelbar Eins iſt, wenn ich kuͤhn die Grundſaͤtze, die der erſten entgegen ſind, als unchriſtlich bezeichnen darf; wenn folglich die Elementar-Mittel der ſittlichen Bildung, und mit ihnen das allgemeine Funda— ment aller Elementar-Bildung, nicht die Sache einer menſchlichen Kunſt, einer menſchlichen Erfindung iſt, ſon— dern im Gegentheil im Weſen des Chriſtenthums ſchon da liegt; ſo fragt ſich's nun noch insbeſondere: ſind die dargeſtellten Mittel der intellektuellen Elementar-Bildung mit der anerkannten allgemeinen Baſis aller Elementar- Bildung, mit dem Chriſtenthum, in Uebereinſtimmung? Dieſe Uebereinſtimmung kann aber weder dem tiefern For» ſcher der Menſchennatur, noch dem unbefangenen Beob—

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achter der Reſultate der Methode entgehen. Gerade fie iſt indeß der weſentlichſte Geſichtspunkt, aus dem die Me⸗ thode betrachtet werden kann, und es iſt mir um ſo wich⸗ tiger, einige einzelne Zuͤge derſelben noch insbeſondere zu beleuchten.

Eben wie die hohe Vollendung der ſittlichen Bildung im Chriſtenthum, alſo greift auch die intellektuelle Elemen⸗ tar» Bildung tief in die Einheit unſers ganzen Seyns und Weſens, und ſpricht wie jenes den Menſchen in al⸗ len feinen Kräften und Anlagen zugleich an. Eben wie das Chriſtenthum, ſpricht die Elementar-Bildung die Ent⸗ faltung der hoͤchſten und heiligſten Anlagen im Menſchen, naͤmlich das Goͤttliche unſrer Natur ſelbſt an, als ein Ges meingut der Menſchheit, das hoch uͤber allen Stand und Beruf erhaben iſt, und lenkt in Uebereinſtimmung mit ihm dahin, die Mittel dieſer Entfaltung allgemein zu ma⸗ chen. Auch theilt ſie gerade hier mit ihm das gleiche Schickſal. Juden und Heiden fließen ſich bey der Erſchei⸗ nung des Chriſtenthums auf die auffallendſte Art an der Allgemeinheit der Anſpruͤche der Menſchennatur auf die innere Wahrheit in der Entfaltung ihrer ſittlichen Kraͤfte. In felbfifüchtiger Scheinbildung und oberflaͤchlicher Worte gelehrſamkeit zur kalten Unmenſchlichkeit herabgeſunken, wollten fie in ſittlicher und religioͤſer Hinſicht dieſe Allge⸗ meinheit nicht; ſie war ihnen ein Graͤuel; ſie wollten in ſektireriſch beſchraͤnkter, juͤdiſcher Sittlichkeit und in ſelbſt⸗ ſuͤchtig freyer, heidniſcher Gewaltthaͤtigkeit trennen, was Gott hoch über jeden ſinnlich beſchraͤnkten Sektengeiſt, fo wie über jede ſinnlich belebte Gewaltthaͤtigkeit erhaben

197 göttlich und menſchlich zuſammengefuͤgt hat. Und je tiefer ſie in das Verderben ihrer gegenſeitigen, gleichbeſchränkten Zeiterziehung verſunken waren, deſto anmaßlicher und frecher zeigten ſie ſich in der liebloſen unmenſchlichen Miß⸗ kennung, beides der Allgemeinheit und der Reinheit der Anſpruͤche der Natur in der fittlichen und religiöfen Bil⸗ dung. Eben fo ftoßen ſich heute Menſchen, von einem gleichen Zeitgeiſt ergriffen, an der Allgemeinheit der Uns ſpruͤche der Menſchennatur auf die Entfaltung ihrer intel» lektuellen und Kunſtkraͤfte. Mit roher Gewalt wollen ſie hierin eine Scheidewand feſt halten, die ihr ungoͤttlicher Sinn zwiſchen ihnen und dem Volke aufgeſtellt hat. Aber nein! ſo wie das Chriſtenthum auch in ſeinen erhabenſten Reſultaten allgemeiner Antheil der Menſchheit, und durch— aus nicht ein ausſchließlicher Beſitz, und vorzuͤglich nicht ein Vorrecht des Gluͤcklichen iſt, das dem Ungluͤcklichen und Elenden unerreichbar waͤre, ſo wenig iſt dieß die ine tellektuelle Elementar» Bildung. Nein! fo wenig als die Lehre Jeſu, wo fie immer im Geiſt und in der Wahr: heit gepredigt wird, ihrem Geiſt und Weſen nach dem Niedrigen und Armen im Lande entzogen werden kann, und ſo wenig dieſer im Glauben an Jeſum Chriſtum ſtill geſtellt und gehindert werden kann, durch ihn zu der hoͤch— ſten Reinheit des Herzens, zu welcher das Chriſtenthum unſer Geſchlecht zu erheben vermag, zu gelangen; fo we— nig iſt es moͤglich, das Weſen der intellektuellen Elemen⸗ tar⸗Bildung, wenn fie einmal in ihrem Geiſte und in ih— rem Weſen feſtſteht, dem Gluͤcklichen zum ausſchließlichen Erbtheil zu machen, und ſie dem armen und niedern

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Mann im Lande zu entziehen, und dieſen im Glauben an ſie ſtill zu ſtellen und ihn zu hindern, durch ſie nicht zum hoͤchſten Gipfel der Verſtandes- und Kunſtkraͤfte zu gelangen, zu denen ihm ſein Vater im Himmel Anlagen gegeben. Er iſt es, Gott iſt es ſelber, der die Ungleich⸗ heit der Menſchen durch die Ungleichheit der Gaben, die er einem jeden von uns von innen verliehen, gegruͤndet; aber er hat ſie mit vaͤterlicher Liebe und Weisheit unter ſeine Kinder vertheilt, und wir ſollen darin mit menſchli⸗ cher Liebe und Weisheit benützen und leiſten, was er mit goͤttlicher Liebe und Weisheit alſo gegründet. Der reine Sinn der unſchuldigen Natur thut dieſes in jedem Falle gern. Er ſteht in jedem Falle mit Ehrfurcht vor der hei- ligen Quelle dieſes Unterſchiedes, und ſieht ſie mit Dank und Liebe aus der Segenshand feines Vaters fließen, wo- hin ſie will. Wie ihn keine menſchliche, keine irdiſche Groͤße erhebt, ſo erhebt ihn der Gedanke, daß alle Kinder der Menſchen vor dem Angeſichte des Vaters der Men- ſchen gleich find, und daß er, in dem er feine Gaben un. ter ſie austheilt, nicht darauf achtet, ob eines derſelben eine Handvoll Erdenkoth mehr als das andere in ſeiner Hand habe. b

Auch der gute Menſch achtet die hoͤhern Gaben des Geiſtes und des Herzens mehr als alle irdiſche Gaben des Glucks, und hält fie feiner heiligſten, feiner treuſten Pflege mehr werth, als die andern. Oder waͤre er ein guter Menſch, wenn er das nicht thaͤte? Iſt es denkbar, iſt es moͤglich, daß ein Menſch, der die Ordnung Gottes liebt, und das Wort: was Gott thut, das Hi wohl gethan

199 ein einziges Mahl mit reinem Herzen ausgeſprochen, um des Orts willen, an den Gott dieſe guten Gaben hinlegt, ſie verſchmaͤhen, und ſie nicht mehr fuͤr eine gute Gabe, ſie nicht mehr ſeiner Pflege wuͤrdig achten koͤnnte? Nein, faͤnde er ſie auch im elendeſten, verachtetſten Winkel des Landes; der gute Menſch fuͤhlt, wo ſie immer iſt, daß ſie Gottes gute Gabe und feiner Achtung und Wartung wuͤr⸗— dig iſt. Er erkennt ſie, wo er ſie immer findet, als eine Art hoͤhern goͤttlichen Eigenthums. Der niedere, der der Selbſtſucht hingegebene Menſch, wenn er den Namen Ei- genthum hört, erhebt ſich in aller Lebendigkeit ſeines bes ſchränkten Sinnes. Ja! das Eigenthum muß man ach— ten, ſchuͤtzen und bauen, in weſſen Hand es ſich auch im— mer befindet: ſonſt geht die Erde zu Grunde. Armer Menſch, du haſt freylich Recht; aber Gottes höhere Ga» ben ſind der Menſchen hoͤheres Eigenthum, und man muß ſie achten, ſchuͤtzen und bauen, in weſſen Hand ſie ſich immer befinden: ſonſt geht die Menſchheit zu Grunde. Und doch, daͤchte ich, das Eigenthum iſt um des Men— ſchen, und der Menſch nicht um des Eigenthums willen da. Und wenn Erziehung und Staatskunſt Hand in Hand ſchlagen, daß dieſes letzte nicht zu Grunde gehe, ſondern Zins trage, in weſſen Hand es ſich immer befin— det; ſo ſoll doch, ob Gott will, auch das Herz der Beſ— ſern beym Gefuͤhl der Verwahrloſung unſers Geſchlechtes in Ruͤckſicht auf das erſte, auf das hoͤhere Eigenthum unſrer Natur, ſich in ſeinem Innerſten zum hohen menſch— lichen Beſtreben erheben, daß auch Gottes hoͤhere Gaben des Geiſtes, des Herzens und der Kunſt in ihrer Mitte

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allgemein die Pflege und Achtung finden, die der Erden. koth ſo weſentlich bedarf und ſo allgemein findet. In Uebereinſtimmung mit dieſem Geſichtspunkt lenkt die Ele⸗ mentar⸗Bildung zu dieſem Ziel, und erkennt es für ihre heiligſte Pflicht, die Menſchheit in ihren erſten goͤttlichen Gaben nicht unbeholfen und ungepflegt zu Grunde ge⸗ hen zu laſſen, ſondern die Anlagen und Kraͤfte der Men⸗ ſchennatur, in weſſen Hand ſie ſich immer befinden, in dem Grade wirkſam und lebendig zu entfalten, in dem fie ihr wirklich gegeben find. Sie erhebt den feltnen Mann, in dem ſie die erforderlichen hohen Anlagen dazu antrifft, zur Heldengroͤße des Geiſtes und der Kunſt. Eben ſo wie das Chriſtenthum den, der deſſen faͤhig iſt, zur Hel⸗ denhoͤhe des Herzens erhebt. Und wie das letzte dieſes durch eben die Mittel bewirkt, durch die es auch die ſchwache, weinende Mutter, den Unbeholfnen und den Leidenden, ja ſelbſt den Jammernden, den verſunkenen Un— gluͤcklichen, wenn auch keine Ader von ſeltner Heldenkraft in ihm ſchlaͤgt, dennoch zu hoͤherer innerer Beruhigung emporhebt; alſo entfaltet die intellektuelle Elementar-Bil⸗ dung die Heldenkraͤfte des Geiſtes, wo ihre Anlagen im⸗ mer da ſind, durch eben die Mittel, durch die ſie auch ſchwaͤchere Kraͤfte von Menſchen, in denen eben ſo wenig eine Ader von geiſtiger Heldenkraft ſchlaͤgt, dennoch zu einer befriedigenden Beruhigung emporhebt, indem ſie al: les in ihnen belebt, was nicht außer dem Erreichungsver⸗ mögen ihrer ſelbſt liegt.

Es iſt indeſſen eben ſo wahr, wenn die intellektuelle Elementar- Bildung es für ihre hoͤchſte Pflicht erkennt,

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die Menſchheit in ihren erſten goͤttlichen Gaben nicht un⸗ beholfen zu Grund gehen zu laſſen, wenn ſie ihren hoͤch— ſten Vorzug darin erkennt, dem Volk und der Kindheit hierzu die Hand zu bieten, ſo iſt ſie eben ſo wenig als Treiberinn mit ihrem paͤdagogiſchen Stecken hinter ihnen her, ſondern ſie ſetzt einen eben ſo großen Vorzug darin, dasjenige anzuerkennen, was das Volk ſchon vor ihr in Ab— ſicht auf die Entfaltung ſeiner Kraͤfte iſt, und was es durch die Natur, durch Noth und Beduͤrfniß, die es wecken, darin zum voraus hat. Sie findet unabhaͤngig von ihr ſelbſt, in der urſpruͤnglichen Volksweisheit wahre menſch— liche Weisheit, in der urſpruͤnglichen Volkskraft wahre menſchliche Kraft, und ſchaͤtzt neben dem gelehrten Witz den Mutterwitz, neben dem gelehrten Verſtand den ge— ſunden Verſtand, und neben dem vornehmen Lebensge— nuß den perſoͤnlichen und haͤuslichen Freudengenuß des Volks. Seine Verhaͤltniſſe geben den letztern nicht ſelten unmittelbar, was der Gluͤckliche nach langem Umtrieb erſt noch kuͤnſtlich ſich zu verſchaffen bedarf. Wahrlich, wenn der Gedanke: Die intellektuelle Elementar-Bildung gehoͤre nicht fuͤr das Kind des Armen im Lande, irgend einen vernünftigen Sinn haͤtte, ſo muͤßte er darin liegen, daß der einfache Naturmenſch durch die ſtarken Eindruͤcke ſei— ner eben ſo einfachen, aber kraftvollen Lage, diejenige menſchliche Bildung lebendig und urfräftig findet, die durch feine unnatuͤrlich verſchrobene Exiſtenz dem fo ges nannten Gebildeten und Glücklichen entzogen iſt, und ihm auf anderm Wege erſetzt werden muß.

Die hoͤhere Wahrheit trifft auf jedem Standpunkk

202 zuſammen. Die ſittliche Bildung iſt Menſchenbildung, die intellektuelle iſt es auch; darum koͤnnen ſie ſich auf keinem Punkt, auf den ſie ſelbſt in Wahrheit gebracht ſind, entgegen ſtehen. Zwar iſt es des Chriſtenthums heiliger Standpunkt und hoͤchſtes Ideal, daß das Kind ſchon in der Unſchuld ſeiner unmuͤndigen Tage von ſeiner heiligen Kraft ergriffen, und durch eine ununterbrochene Reihenfolge chriſtlicher Uebungen ſeine ganzen Jugendjahre hindurch zu der Hoͤhe des reinen chriſtlichen Lebens erhoben werde. Dennoch iſt es auch gleich wahr: dieſes

naͤmliche Chriſtenthum kann, wenn ein guter Menſch auch

ohne eine ſo vorzuͤgliche ſittliche Fuͤhrung aufgewachſen,

auch dann, wenn er ſchon von tauſend irrigen und ſelbſt

niederen Anſichten des Lebens verwirrt, von allen Mitteln einer gluͤcklichern Führung entblößt, gelebt, und kaum die Sprache des einfachſten Religionsunterrichts zu begreifen im Stande iſt, dieſen Menſchen mit ſeiner heiligen Kraft dennoch ergreifen, und ihn zur hoͤchſten Erhabenheit der ſittlichen Bildung emporheben.

Auf gleiche Weiſe iſt es freylich auch der hoͤchſte Standpunkt der intellektuellen Elementar-Bildung und ihr hoͤchſtes Ideal, daß das Kind von ihr in der Unſchuld feiner unmuͤndigen Tage ergriffen, und von dem einfach⸗ ſten Anfangspunkte ihrer Mittel und ihrer luͤckenloſen Reihenfolgen zu der hoͤchſten dießfaͤlligen Kraft erhoben werde. Bey allem dieſem iſt auch hinwieder nicht weni⸗ ger wahr, daß auch das Kind, das bey weitem nicht von

feinen unmuͤndigen Jahren an die Vortheile der Elemen—

tar⸗Bildung genoß, ſondern lange ohne ihre Kunſt und

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Kraft aufgewachſen es ift ganz wahr, daß auch der Menſch, dem in ſeiner Jugend alles gemangelt, was zur fruͤhern Entfaltung ſeiner dießfaͤlligen Kraft nothwendig geweſen waͤre, und ſo gar der, deſſen Anlagen nicht nur durch Vorurtheile und Irrthuͤmer eine falſche Richtung erhalten, ſondern ſelber bis auf einen gewiſſen Grad ver— kruͤppelt worden, noch in ſeinen Juͤnglingsjahren dennoch von den Mitteln der intellektuellen Elementar Bildung Huͤlfe, nicht nur zu einer ihm genugthuenden, ſondern ſo gar zu einer ihn auszeichnenden Ausbildung, erhalten kann. Es iſt Thatſache, daß zwanzig und mehrjährige Juͤnglinge, ohne Vorkenntniſſe und ohne fruͤhr e Bildung, noch in dieſen Jahren es dahin gebracht haben, alles, was von der Methode in den Volksſchulen anwendbar iſt, d. h. die Methode, in fo fern fie bloß elementariſch im Ges genſatze gegen hoͤhere Entwicklungs- und Bildungsſtufen iſt, nicht nur begreifen, ſondern wircklich auch andere Ich» ren zu koͤnnen. Die Mittel der Methode ſind alle ein— fach; fie vermannigfaltigen ſich, und werden zuſammenge— ſetzter und verwickelter, einzig nach Maßgabe der Kraft, die ſich im Zoͤglinge entwickelt, das Mannigfaltigere, Zu— ſammengeſetztere, Verwickeltere zu faſſen, und es mit der gleichen Klarheit zu uͤberſchauen, wie er vorher das Ein— fache faßte und uͤberſchaute. Ihr weſentlicher Vorzug be— ſteht darin, daß jeder Punkt, auf dem das Kind ſteht, in ihm ſo vollendet werden muß, daß die Faͤhigkeit, das, was er kann, ſeinem Nebenkinde mitzutheilen, allgemein und nothwendig erzielt werden kann. Daher auch ganz richtig: wenn ein einziger Menſch in einem Dorfe der

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Methode ganz maͤchtig iſt, ſo kann er, wenn er Liebe zur Jugend hat, und ſeine Vervollkommnung, ſeine innere Er⸗ habenheit im Dienſte ſeiner Mitmenſchen ſucht, den See⸗ gen derſelben durch ſich ſelbſt, ohne Beyhuͤlfe irgend eines andern Menſchen, allgemein machen.

Ich fahre in meiner Vergleichung fort. So wie in ſittlicher Hinſicht die Bildungs-Fundamente unſers Ge⸗ ſchlechtes, die Gefühle und Kräfte, von denen feine ſittliche Ver⸗ edlung ausgeht, nicht durch irgend eine aͤußere Kunſt und Geſchicklichkeit in die menſchliche Seele hineingebracht wer⸗ den koͤnnen, und wie hinwieder das ſittliche Streben nach unendlicher Vollkommenheit in dieſen Gefühlen und Kraͤf⸗ ten, eine nothwendige, von der Natur ſelbſt eingelenkte und hervorgebrachte Folge der Wahrheit und des Lebens in dieſen Gefühlen und Kräften ſelbſt, und des Organis⸗ mus ihres Wachsthumes ſelber iſt; alſo iſt auch die menſch— liche Kraft, die Gegenſtaͤnde unſrer Anſchauung geiſtig zu⸗ ſammen zu ſetzen, zu trennen und zu vergleichen, nicht durch irgend eine aͤußere Kunſt in die Seelen der Men⸗ ſchen hineingebracht, fie iſt ihrem Weſen eigen und von ihm untrennbar; und hinwieder iſt das Streben nach ei⸗— nem unendlichen Wachsthum dieſer Kraft nichts anders als eine Folge der Wahrheit und des Lebens in dieſer Kraft ſelber, und des Organismus ihrer eignen Entfal— tung. In Verbindung mit dem Streben nach Unendlich— keit in der ſittlichen Kraft, wird dann das Streben nach der Unendlichkeit, oder nach unendlicher Vervollkomm⸗ nung der intellektuellen Kunſtkraͤfte feiner ſelbſt, ein Stre⸗

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ben nach göttlihen Kräften, oder vielmehr nach goͤttlicher Vollendung unſrer menſchlichen Kraͤfte.

Hinwieder, wie jede elementariſche Uebung der ſitt⸗ lichen Kraft in ihrem Weſen nichts anders iſt, und nichts anders ſeyn kann, als eine ſittliche Handlung ſelber, und zwar eine ſolche, die dem Standpunkte der ſittlichen Ent⸗ faltung, auf dem das Kind ſteht, angemeſſen, von ſeiner ganzen ſittlichen Kraft als Folge ſeines ſittlichen Lebens zur Stärkung dieſes Lebens angeſprochen wird; fo iſt auch jede Clementar⸗Uebung der geiſtigen Kraͤfte nichts anders, als eine Handlung unfter geiſtigen Kraft ſelber, und zwar eine ſolche, die dem beſtimmten Entfaltungspunkt der dießfaͤlligen Kraft, auf dem das Kind ſteht, angemef ſen, und darum auch von dieſer als Folge ſeines geiſtigen Lebens und als nothwendige, ihm zur Stärkung dieſes Le⸗ bens beduͤrftige, Handlung angeſprochen wird. i

Dieſer Grundſatz ſpricht das praktiſche Urprinzip, deſſen Befolgung das Chriſtenthum vom Erzieher for⸗ dert, erſt das Innere zu reinigen, damit das Aeußere rein werde, als im Weſen der intellektuellen Bildung liegend, unbedingt aus. Seine Folgen ſind groß und über das Eigenthuͤm liche des ſittlichen Gehalts der letztern ent⸗ ſcheidend. Es ergibt ſich aus ihm, daß keine aͤußern Bes weggruͤnde, die nicht rein aus der Natur der menſchlichen Kraͤfte hervorgehen, auf die wahrhaft elementariſche Ent⸗ faltung dieſer Kraͤfte einigen realen Einfluß haben koͤnnen. Wie in der ſittlichen Bildung jede Einmiſchung von aͤuſ— ſern zufaͤlligen Folgen einer ſittlichen Handlung, jede Ein⸗ miſchung der Neigung zur Ehre und der Furcht vor der

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Schande, der Reinhe't und Heiligkeit der Entfaltung der dieß⸗ faͤlligen Kräfte mehr nachtheilig iſt; wie fo gar nicht einmal das idealiſche traͤumende Bewußtſeyn feiner ſittlichen Kraft ſelber, ſondern nur der immediate, die menſchliche Natur rein und innig beſeligende Eindruck der ſittlichen Kraft ſelber das einige wahr belohnende und die ſittliche Kraft rein ſtaͤrkende Gefuͤhl iſt, das von der Unſchuld der wahr⸗ haft ſittlich erhabenen Natur des Kindes angeſprochen wird.; ſo iſt auch in der geiſtigen Elementar-Bildung jede Einmiſchung von Ehre und Schande, jeder Antrieb der geiſtigen Kraͤfte durch Nacheiferung, ihrer weſentlichen richtigen und unſchuldigen Entfaltung mehr nachtheilig als foͤrderlich. Selber das idealiſche traͤumende Bewußtſeyn ſeiner geiſtigen Kraft, und ſeiner Vergleichung mit dem Grade dieſer Kraft in irgend einem andern, iſt kein rein bildendes Mittel dieſer Kraft. Im Gegentheil, auch die⸗ ſes hemmt das goͤttliche Wachsthum derſelben in ihrer Unſchuld. Nur das reine, nur das die menſchliche Natur in Unſchuld erhebende Gefühl der Augenblicks-Handlung, in dem das Kind ein ihm gegebenes geiſtiges Problem in ſich ſelber aufgelöst hat, und ſich dieſer Auflöfung bewußt iſt, nur dieſes Gefuͤhl iſt als rein geiſtige Kraftbildung, und als rein menſchlicher Reiz zum Fortſchritte, und als ein der Menſchheit wahrhaft wuͤrdiger Lohn ſeiner Kraft, anzuſehen.

Aber der große Haufe unſrer Zeitmenſchen iſt weit entfernt, dieſe Wahrheit zu erkennen. Es ſchwebt ein Geiſt einer gewaltſamen Einlenkung zur unbedingten An» nahme entgegengeſetzter Grundſaͤtze uͤber unſrer Zeit, der

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ſo weit geht, daß man ſo gar die Hoffnung der Huͤlfe, der Rettung aus den Schwaͤchen, die man ſich nicht mehr verbergen kann, auf die Anerkennung ſolcher, den unfrigen entgegen ſtehender Grundſaͤtze baut, und ſich dazu gend- thigt glaubt, um die ſchwache, ſegensloſe und unbefriedi⸗ gende Gemuͤthsſtimmung, welche durch den zaumloſen Lauf unſrer Leidenſchaften, durch falſche Ehrliebe, durch falſche Scham, und durch ein ſchrankenlos nacheiferndes Haſchen nach Gluͤck und Schein in uns erzeugt worden, wieder durch eben die falſche Ehrliebe, durch falſche Scham, und durch die ſinnliche Erhitzung der Kinder zur Nacheis ferung in uns auslöfhen zu koͤnnen. Unſre Schwaͤche hat uns dahin gebracht, daß wir die reinen Kräfte unfrer Natur zur Erhebung unſer ſelbſt uͤber die Leidenſchaften, ohne fie mehr zu kennen, als untauglich und ungenugthus end wegwerfen. Der Elementar-Bildung hingegen ſind dieſe hoͤhern Kraͤfte in ihrem ganzen Umfang heilig. Sie macht ſie, uͤberall wo ſie wirkt und wirken kann, allge⸗ mein wieder erkennen und ſchaͤtzen, ſie entſpringt ſelber aus ihrer reinen Ergreifung. Das Kind, in ihrem Geiſt erzogen, iſt in jeder ſittlicher, intellektueller und Kunſt⸗Hinſicht geuͤbt, den Reiz zur Anſtrengung feis ner Kraͤfte im Gebrauch dieſer Kraͤfte ſelber zu ſuchen. Dieſe Kraft, von allen Seiten auf ſich ſelbſt zu ſtehen, iſt ihm durch den Umfang der Methode von allen Seiten habituell gemacht. Es vergleicht ſich von allen Seiten mit keinem Menſchen; es vergleicht ſich nur mit ſich ſelbſt. So wie es ſich in ſittlicher Hinſicht nur fragt: Bin ich durch die Verehrung Gottes, bin ich durch die Uebungen

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meiner ſittlichen Kräfte heilig? und nie bin ich dieſes mehr als irgend ein Anderer? ſo fragt es ſich auch in in⸗ tellektueller Hinſicht: Kann ich die Probleme der Uebun⸗ gen aufloͤſen, oder kann ich es nicht? und nie: Kann ich es beſſer als ein anderer? Es kennt keinen Maßſtab ſei⸗ ner Kraft außer ſich ſelber; und das Zeitalter oder we⸗ nigſtens der Zeitaugenblick unſrer Schwaͤche kennt keinen und ſucht keinen in uns ſelber. Wenigſtens zeigt es in ſeinen brillanteſten Erſcheinungen uͤber dieſen Geſichtspunkt keinen hohen, keinen reinen Takt. Allenthalben mangelt ſeinen Erziehungsmitteln eine reine innere Belebung der Liebe und ein ſtilles Steigen zur Wahrheit. Sein aͤuße⸗ res leidenſchaftliches Antreiben unfrer Kräfte für einzelne Wahrheiten iſt gewoͤhnlich nichts anders als ein Jagen nach einem Gewild, das ſchon ein anderer aufgehetzt hat. Es iſt wahr: wir ſuchen in tauſend Faͤllen weit weniger die Wahrheit zu erjagen, als ſie einander abzujagen. Aber es war nicht immer alſo; es waren beſſere Zeiten für die Erziehung und es werden wieder beſſere kommen. Wer das blitzende Auge des griechiſchen Juͤnglings, wann er fein heiliges Wort: Hevrska, ich habe es gefunden, ausſprach, ſich zu denken vermag, und wer das Auge meiner Zoͤglinge geſehen hat, wann ſie im Augenblicke der Aufloͤſung eines ihrer Probleme ihr unausſprechlich erhe⸗ bendes: „Ich hab's,“ aussprechen und ſich froh fühlen wie Engel wer ſie geſehen, wie ſie ſich in dieſem Au⸗ genblicke ihrer goͤttlichen Natur mit eben dem Herzen be⸗ wußt ſind, das dieſes Goͤttliche der Natur im Auge der Unſchuld ausſpricht, wann es im Gefühl der innern Er

hebung

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hebung einer ſittlichen That in Thränen zerfließt wer dieſes beides ſich vorzuſtellen vermag und geſehen; iſt ganz gewiß weit entfernt, zur Belebung der hoͤchſten, filtlicyen und geiſtigen Anſtrengung der ſchwachen traumeriſchen Mittel der Ehre und Schande und der Nacheiferung zu beduͤrfen. 10

Die Menſchennatur iſt Gottes, ſie iſt eine goͤttliche Natur. Die Einmiſchung der Welt und ihrer Leidenfchaf- ten bildet die Unſchuld des Menſchen nicht uͤbereinſtim— mend mit dem hohen heiligen Weſen ſeiner Natur; ſie bildet ihn nicht in feiner Einheit daſtehend als ein Gans» zes, anſprechend an die Entfaltung ſeiner ſelbſt, in ſeinem ganzen Umfang, und uͤbereinſtimmend mit ſich ſelbſt.

Sie bildet ihn nicht elementariſch fie bildet ihn nicht

einmal menſchlich. Das Menſchliche in unſrer Natur wird nur durch das Göttliche, das in ihr liegt, wahrhaft entfaltet. Alle unſre Anlagen bilden ſich nur in dieſer hohen reinen Entfaltung menſchlich. Von Leidenſchaften gereizt, und ihrer Unſchuld beraubt, in ſich ſelbſt ungoͤlt— lich, bilden fie uns nicht menſchlich. Der Zeilgeiſt ſieht. es nicht, wir glauben es nicht, wir verkennen das Reine im Menſchen, die Vorſtellung des Goͤttlichen ſelber iſt nicht rein, nicht erhaben in uns; darum ſind wir nicht menſchlich. Das ftarke lebendige Gefuͤhl des Beduͤrfniſſes und der Anſpruͤche unſrer Natur an eine harmoniſche Entfaltung unſrer Kräfte in uns it geſchwaͤcht. Dieſer Zuſtand bringt uns in jedem Fall dahin, daß wir die er— ſten Bildungsmittel unſers Geſchlechtes, die von der Feſt— haltung der Einheit unſter Natur ausgehen, als unan⸗ Peſtalozzi's Werke. VIII. 14

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wendbar anſehen, und erzeugt nothwendig die größten ſonderbarſten Widerſpruͤche und unbeſtimmteſten Anſichten in unſern Erziehungsbegriffen.

Auf alle Weiſe offenbart ſich dieſer unſittliche Geiſt der gewöhnlichen Pädagogik, mitten in dem er die Sitt⸗ lichkeit anſpricht; am aller auffallendſten aber in dem Widerſpruch, in den er den Unterricht und die Erziehung mit dem innern und aͤußern Leben des Kindes ſetzt, und dieſen Widerſpruch fo gar noch als Grundſatz aufſtellt: daß in den Schulſtunden bey Kindern ein ganz anderer Geiſt herrſchen muͤſſe, als in den Frey- und Spielſtun⸗ den, verbunden mit der prononcirteſten Neigung, noch allgemeiner die Schulſtunden in Spielſtunden als die Spielſtunden iu Schulſtunden verwandeln zu wollen. Beym Hinſinken in dieſen Zuſtand von unbeſtimmten Meinungen, die wir beſtimmt glauben, und von Wider: ſpruͤchen, bey denen wir mit uns ſelber einig zu ſeyn glauben, gehen Wahrheit und Irrthum uͤber unſre Lippen, ohne daß wir weder das Eine noch das Andere erken— nen, und weder in dem Einen noch in dem Andern leben. Die Wahrheit, wie ſie uns anſpricht, gibt uns keine Ruhe, und der Irrthum, wie er in uns liegt, keine Kraft. Man hatte indeſſen mit der Meinung, daß in den Schulſtunden ein ganz anderer Geiſt herrſchen ſoll, als in den Spiel— ſtunden, wohl Recht, wenn man ſie mit Feſthaltung der hoͤhern Anſicht der Einheit unſerer Natur in's Auge faßte.

In dieſer Anſicht muß das Kind durch die Freyheit zur Nothwendigleit erzogen, durch die Nothwendigkeit zur Freyheit gebildet, und ihrer faͤhig gemacht werden. Ha⸗

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ben die Unterrichtsſtunden einen andern Geiſt als die Frey⸗ ſtunden, ſo iſt es der, daß jene den Geiſt der Nothwen— digkeit und des Gehorſams, dieſe den Geiſt der Frepheit und Selbſtſtaͤndigkeit im Kinde ausſprechen, und dadurch beide den Geiſt des Seyns und Lebens. Die Nothwendig— keit, die ſtrenge Ordnung, die unwandelbare Geſetzmaͤßig⸗ keit ſoll im Unterrichtsgange der Lehrſtunde herrſchen. Der Geiſt des Lehrers und ſeine Behandlung des Kindes ſoll aber dennoch waͤhrend dieſer Stunde, wie immer, rein menſchlich, d. h. lebendig und frey ſehn. Nur daß er den Lehrgegenſtand ſelbſt in ſtrenger Begraͤuzung und Inſichgeſchloſſenheit erſcheinen laſſe, damit das Kind une verwirrt, die Sache ſelbſt und keinen Schatten ſehe, kein leeres Spiel treibe. Die Spielſtunde ſoll es losbinden von dieſer Beſchraͤnkung. In ihr ſoll das Einzelne zus ruͤcktreten, das Kind ſich ungehemmt im Ganzen bewe— gen, ſein Leben ſoll im Leben des All ſich erſpiegeln und keine ſteife Form, keine Hemmung den Erguß ſeines In— nern in demſelben ſiören. N

Das iſt der wahre Sinn des noͤthigen Unterſchieds zwiſchen dem Beduͤrfniß der Schulſtunden und der Frey— ſtunden. Aber tauſende, die den Satz ausſprechen, gehen nicht von der Einheit der Natur aus, ſondern denken ſich dieſe ungleichen Beduͤrfniſſe der Stellung und Lage des Kindes als Beduͤrfniſſe einer ungleichen Natur deſſelben; fie ſoͤndern den Unterricht von der Erziehung, und fors dern ſo gar fuͤr den Sprachunterricht einen andern Geiſt, als fuͤr den Unterricht in der Mathematik und fuͤr den in der Naturgeſchichte einen andern, als fuͤr den in der Ge—

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ſanglehre. Aber der Geiſt der Erziehung muß in jedem Augenblick der naͤmliche ſeyn; und da der Geiſt des Un⸗ terrichtes in jedem Falle mit dem Geiſt der Erziehung ein und eben derſelbe ſeyn ſoll, ſo muß auch der Geiſt des Unterrichts in jedem Fache des Unterrichts der näm— liche ſeyÿFn. So in der Spiel- und dann wieder in der Schulſtunde. Gibſt du dem Kinde in der Schulſtunde im ganzen Leben ſeines Seyns und Weſens Nahrung, wie du ihm in der Spielſtunde im ganzen Leben ſeines Seyns und Weſens Nahrung gibſt; fo ist dein Kind in deiner Schulſtunde belebt, wie in deiner Spielſtunde. Es braucht wahrlich in dieſer keine andern Geſetze und keine andern Grundſaͤtze als in jener.

Das Kind der guten Mutter lebt in jeder Stunde des Tages in Abe Geiſt; es lebt in der Arbeits⸗ ſtunde wie in der Spielſtunde fein ganzes befriedigtes Le— ben. Und Erzieher, menſchlicher Erzieher! ſoll es in deis ner Unterrichtsſtunde ſein Leben nur halb haben? Wirf, Erzieher, den Irrthum weg! er fuͤhrt dahin, das Kind zu toͤdten, das du lebendig machen ſollſt; und du kannſt es, du kannſt es in jedem Augenblicke deines Unterrichts. Du kanuſt, du ſollſt fein Herz und ſeinen Geiſt in je— dem deſſelben wahrhaft und hoͤher beleben, als ſelber in der Spielſtunde. Kannſt du es, thuſt du es, fo lebt es in deiner Schule vom Gefühl einer hoͤhern, einer edlern Kraft entzuͤckt, wie es in ſeiner Spielſtunde vom Gefuͤhl niederer Kräfte entzuͤckt lebt. Aber freylich iſt auch wahr: wenn du ſelber nicht in der einfachen, geraden Form des menſchlichen Erkennens lebſt, wenn du nicht im Stande

213 biſt, das Kind in feiner Schulfiunde mit deiner Lehre in ſeinem ganzen Weſen zu ergreifen und hoͤher zu beleben, als du es ſelber in ſeiner Spielſtunde belebteſt, wenn du

im Gegentheil fuͤr dieſe Stunde die ſchwache kindliche Seele mit dem Hoͤcker beladeſt, den du ſelber traͤgſt; ſo iſt denn freylich auch natürlich, daß in deiner Schulſtunde bey deinem Kind ein ganz andrer Geiſt herrſchen muß als in der Spielſtunde. Auf dieſem Wege kommſt du dann gewiß nicht dahin, daß bey deinen Kindern in deis nen Schulſtunden eben der Geiſt herrſche, den ſie ſich in ihren Freyſtunden von ſelbſt geben. Du mußt die nach ihrer Entfaltung hungernde Seele des Kindes ſpeiſen und naͤhren, wie es feine eigne Natur fordert, und nicht, wie die Launen boͤſer Eigenheiten oder Verirrungen dich geluͤ— ſten machen; wenn du aber das Letzte thuſt, ſo wundre dich dann auch nicht, wenn du nicht zu deinem Ziele kommſt.

Sieheſt du einen Unſinnigen, der fein Laſtthier an- ſtatt zu fuͤttern, hungernd belaſtet, ſo wunderſt du dich doch nicht, wenn in der Stunde des traurigen Laſtens und Treibens in ſeinem Thier eine ganz andere Stimmung herrſcht, als in der Stunde, in der es unbelaſtet auf freyer Heide fein Lieblingsfutter findet.

Verwundere dich alſo auch nicht, wenn in der trau— rigen Stunde unnatuͤrlicher Belaſtung in der Seele dei— nes Kindes ein ganz andrer Geiſt herrſcht, als in der frohen Stunde ſeiner Unabhaͤngigkeit von dir und deinem mühfeligen Laſten und Treiben; verwundre dich dann nicht, wenn du in deiner Schulſtunde fuͤr deine Kinder

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ganz andre Grundſaͤtze nöthig haft, als in der Spiel- ſtunde. Doch was will ich ſagen? Von zehn Schulmei⸗ ſtern, die in dieſe traurige Verirrung verſinken, find viel⸗ leicht neun, die mit ihrer Schule eben ſo hart und eben ſo unnatuͤrlich beladen ſind, als ihre Schulkinder mit ih⸗ nen. Wir ſchenken ihnen unſer Mitleid von Herzen und bedauern ſie, daß ſie mit uns in einem Zeitalter leben, das im Allgemeinen fuͤr ſeine Schulmeiſter eben ſo we— nig von reinen Anſichten der Menſchennatur ausgeht, als fuͤr ſeine Schulkinder.

Das anmaßliche Zeitalter, das in der Rafinirung und Vermehrung der Unterrichtsmittel, in der Kunſt ih— rer Ausdehnung und Vielſeitigkeit, in der Detail-Bear⸗ beitung und Scheinvollendung derſelben eine hochbelebte Thaͤtigkeit zeigt, iſt dennoch im Ganzen der rein pſycho— logiſch und allgemein in unſer Weſen tief eingreifenden Erziehungskraft gegen einfachere, kraftvollere Zeitalter uns enolich zuruͤck. Der Geiſt der Elementar-Bildung, der im Fache der Erziehung der Geiſt der Wahrheit iſt, iſt aus demſelben ſo viel als verſchwunden. Sie, die Schul— bildung unſrer Tage, wie fie im Großen und im Allgemei⸗ nen auf die Maſſe der Menſchen wirkt, modelt an uns ſerm Verſtand und an unſrer Kunſtkraft durch die Wiſ—⸗ ſenſchaften und die Kunſtwerke, wie wenn unſer Verſtand und unſre Verſtandesbildung aus der oberflächlichen Er⸗ kenntniß eines wiſſenſchaftlichen Wirrwarrs und unſere Kunſt und unſere Kunſtkraͤfte aus einem Wirrwarr obers flaͤchlicher Erkenntniſſe iſolirter, gerathener und mißrathener Kunſtwerke und Kunfimittel hervorgehn müßte, Sie

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flickt uns die Zierathen eines oberflächlichen und unnuͤtzen Vielwiſſens auf den Eitelkeitsanzug unſers nichtigen, in unſern weſentlichen Anlagen nicht entfalteten Sinns auf. Und es thut wahrlich noth, daß wir den Grad unſers diesfaͤlligen Zuruͤckſtehens in feinen Urſachen erkennen, und uns die Augen uͤber ſeine Reſultate einmal aufgehen. Rohe Voͤlker, mit denen wir uns gar nicht vergleichen, find doch wenigſtens einſeitig kraftvoll; wir find nicht eins mal das. Wir waͤhnten es, vielſeitig zu ſeyn, und eine höhere Cultur ſollte die Kräfte unſrer Natur von allen Seiten entfalten. Sie that es nicht, ſie war fuͤr das Menſchengeſchlecht keine hoͤhere Cultur, ſie war im Allge— meinen fuͤr daſſelbe ein bloßes Erſchlaffungs mittel.

Ohne ſittliche, innere Höhe, beſchraͤnkt und dahin ges geben in einen leichten, irdiſchen Sinn, war die Entfal— tung des ganzen Menſchen nicht einmal ihr Ziel; und die Entfaltung des Einzelnen in ihm mußte nothwendig mißrathen, weil ſie in der reinen allgemeinen Entfaltung des Ganzen keinen bindenden Zuſammenhang und kein bildendes Fundament fand. Beides, die Wahrheit und die Liebe, mangelte im Allgemeinen. Die Kraft von bei— den war nicht entfaltet. Man fand in der nothwendi⸗ gen, allgemeinen, zuſammenhangenden und uͤbereinſtim— menden Belebung der Kraͤfte und Anlagen des Kindes, man fand im wirklichen Leben deſſelben kein allgemeines, genugthuendes Fundament einer ſichern, die Anſpruͤche des wirklichen Lebens befriedigenden Entfaltung und Ues bung derſelben.

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Die Folge davon war eben diejenige, die es in phy⸗ ſiſcher Hinſicht hat, wenn ein Acker in der noͤthigen zu⸗ ſammenhangenden und übereinfiimmenden Bearbeitung kein allgemeines, alle feine Kräfte gleich reinigendes, naͤh⸗ rendes, beiebendes Fundament zur Entfaltung der Früchte, die er tragen ſoll, findet. Die Erde traͤgt ohne eine ſol⸗ che Beſorgung nur Unkraut, das den guten Samen er⸗ ſtickt. Wahrheit und Liebe, dieſe Früchte des Geiſtes und des Herzens, erſticken, beides, im ungenugſam entfalteten Geiſt, und im ungenugſam entfalteten Herzen, wie der gute Same des Feldes im Unkraut. Ohne genugthuen⸗ den Anbau verwildert die Menſchheit, wie die Erde. An⸗ ſtatt der Wahrheit iſt dann der Schein, anſtatt der Liebe die Selbſtſucht, anſtatt gereifter Kraͤfte unreife, anmaß⸗ liche Schwaͤche, anſtatt Ruhe im Bewußtſeyn feines ins nern Werths die Unruhe, die der Mangel dieſes Bewußt⸗ ſeyns in der menſchlichen Seele wee erzeugt, un⸗ ſer Theil.

Doch wir fuͤhlten das Unbehagliche unſers Zuſtan⸗ des laͤngſt, und wollten durch Anſtrengungen für Berufs— und Standesbildung verſuchen, uns dennoch wenigſtens behaglicher zu ſetzen, als wir uns ſelbſt fuͤhlten. Aber, wie ein Menſch der im Sumpf ſteht, durch gewaltſame Anfirengung ohne Handbietung und Stuͤtzpunkt ſich aus demſelben herauszuhelfen, ſich nur immer tiefer in den⸗ ſelben hineinarbeitet; ſo ging es auch uns mit der einſei⸗ tigen Einlenkung zur Entfaltung einſeitiger Kraͤfle. Je großer die Lebendigkeit war, mit der wir auf dieſem un⸗ ſrer Natur entgegenfiehenden Einſeitigkeits“ Pfad wandel⸗

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ten; deſto tiefer verſanken wir in dem Sumpf des Ver⸗ derbens, aus dem wir uns heraus helfen, wollten, und mußten auf dieſem bodenloſen Wege endlich dahin kom— men, daß die auch noch fo ſehr auf die Lieblingsirrthuͤ— mer und Lieblingsſchwaͤchen der Zeit gegruͤndete, bloß von Sinnlichkeit und Selbſtſucht ausgehende Standes- und Berufsbildung unſrer Schwaͤche und Sinnlichkeit dennoch zu laͤſtig war, und wir endlich zu einem abſolut traͤume— riſchen Daſeyn hinlenkten. Beides, der phyſiſchen Kraft bildung und der Verſtandesbildung gleich mangelnd, warf ſich unſer Geſchlecht in zahlloſen Schwaͤrmen in das unſ— rer Natur tödtliche Meer einer leeren oberflächlichen Auf klärung, und fiel, nur den Traͤumen eines leichten behag— lichen Lebens nachjagend, in den Schlund der wirklichen Welt, wie arme Haͤringe mitten im behaglichen Schwim⸗ men ihrer Schwarme zu ihrem Tod und Verderben in den Schlund der Wallfiſche hineinfallen. Es konnte nicht anders kommen. Standes- und Berufsbildung iſt ihrer Natur nach nur die Anpflanzung, Anſaͤung des Landes, das durch die Menſchenbildung gepfluͤgt und zur Saat vorbereitet wer⸗ den ſoll. Wo nun das erſte mangelt, da wird das an⸗ dere umſonſt gethan. Standes- und Berufsbildung, die nicht auf das Fundament der Menſchenbildung gegruͤndet iſt, verfehlt ſelber ihren eignen Zweck.

Sie muß es; ſie iſt mit ihr ſelbſt, fie iſt mit dem Weſen der Menfchennatur, fie iſt mit dem Weſen der Sitt⸗ lichkeit im Widerſpruch. Wo reine Menſchenkraft mangelt, da iſt keine reine Menſchentugend moͤglich. Auch geht dieChri— ſtuslehre, in der Bildung der Menſchen zu ihrem hoͤhern

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Sinn, nichts weniger als von ihrem Verſtand und Be⸗ ruf, ſondern vom Weſen ihrer innern Natur ſelber aus. Sie erkennt durchaus keine Berufs- und keine Standes⸗ tugenden, wo keine Menſchenkraft und keine Menſchentu⸗ gend Statt findet; dann freylich laͤßt fie es auch an kei⸗ ner Standes- und Berufs-Tugend mangeln, wo die Menſchenkraft durch ſie wahrhaft gegruͤndet iſt.

Das Ungluͤck der Zeit iſt nicht zu berechnen, daß zahlloſe Menſchen ſich durch den Schein einer aͤußerlichen oberflaͤchlichen Aufklaͤrung, die keine tiefe Verſtandesbil⸗ dung und keine hoͤhere Kraftbildung zu ihrem Fundamente hatte, ſich dennoch uͤber die uͤbrigen Menſchen, die Kraft hatten, und ohne Traͤume wirklich in der Welt lebten, erhaben und ſich faͤhig glaubten, dieſe in der Realitaͤt des Lebens weiter als ſie vorgeruͤckte Menſchenklaſſe als ihre Fuͤhrer zu leiten, und ſie zu ihrem zeitlichen und ewigen Wohl aufzuklaͤren.

Man wollte in der Schwaͤche dieſer tiefen Verirrung die Menſchen durch Kenntniſſe vernuͤnftig machen, und gab weder die Kenntniſſe den Menſchen vernuͤnftig, noch den Menſchen Vernunft fuͤr die Erkenntniß. Man bildete in ihnen die Kraft der Vernunft bey weitem nicht, die das richtige Erkennen der Real-Gegenſtaͤnde voraußsſetzt, und hinwieder bildet. Und doch maßte man ſich an, auf einem ſehr hohen Grad der Menſchenbildung zu ſtehen, und fo gar den Pfad der hohen griechiſchen Cultur betre- ten zu haben. N

Aber die Griechen hatten die Entfaltung der Men- ſchenkraͤfte durch freyes und ſelbſtſtaͤndiges Menſchenleben,

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und nicht die Ausdehnung ihres Willen? zum Fundament ihrer Bildung. Ihre Gymnaſien waren fo wenig etwa philologiſche Seminarien, als ſie die Humanitaͤtsbildung auf das Erlernen fremder, alter oder neuer Sprachen, auf die morgenlaͤndiſche oder die aͤgyptiſche Litteratur bau— ten, obgleich ihre Cultur fo wenig als die unſrige ur⸗ ſpruͤnglich war. Der ungeheure Irrthum war unfrer Zeit vorbehalten, das Leben im Todten zu ſuchen, ſtatt dieſes durch jenes zu beleben. Das mußte freylich das Reſultat einer Zeit ſeyn, in der das Leben aus der Gegenwart, dem Volk und dem Staat verſchwunden war.

Allein die Standes- und Berufsbildung der Gries chen ging aus ihrer Menſchenbildung, und nicht ihre Men— ſchenbildung aus ihrer Standesbildung hervor. Ihre Menſchenbildung hinwieder war das Werk ihrer buͤrgerli— chen Einrichtungen, ihrer Volkskraft, ihrer Geſetzgebung, ihrer Sitten. Auch wollte niemand weniger als ſie, die Wiſſenſchaften populariſiren. Es war uns, es war uns ſerm Zeitalter vorbehalten, die Unmuͤndigen mit den Wiſ— ſenſchaften zu ſpeiſen, damit ſie unmuͤndig bleiben und kraftvoll ſcheinen koͤnnen, ohne daß ihre Kraft irgend ei— nem Schwaͤchling auf Erden im Weg ſtehe. So mach— ten's, ſo wollte'ns die Griechen nicht. Sie machten ihre Unmuͤndigen durch die Erziehung wirklich muͤndig. Dann griffen die Kraftmenſchen unter ihren Muͤndigen natuͤrlich ſelbſt nach dem hoͤhern Standpunkte, den ihre wiſſenſchaft— liche Kultur ihnen ertheilte. Dahin glaube ich, muͤſſe man wieder zielen, und fo viel es in unſrer Hand liegt, be— ſtimmt durch eben die Mittel, durch welche die Griechen dahin gelangten.

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Ob wir uns durch die Elementar- Erziehung dieſem Zuſtand nähern? Wir glauben es. So wie wir im Gott⸗ lichen des Chriſtenthums das vollendetſte Mittel der Sitt⸗ lichkeit unſers Geſchlechts anerkennen, ſo erkennen wir in intellektueller Hinſicht Griechenlands Vorbild als das Vol⸗ lendetſte, das der Menſchheit hierin gegeben iſt; und ohne im geringſten vom Tode der griechiſchen Worte, und der noch fo herrlichen Ueberreſte ihrer für uns erloſchenen in⸗ neren Wahrheit, auszugehen, und uns gaͤnzlich nur am Weſen der Menſchennatur, von der auch ſie ausgingen, feſthaltend, glauben wir, daß es im Geiſt der Elementar⸗ Bildung liegt, unſer Geſchlecht, durch die nothwendigen Folgen der Wahrheit in der Entfaltung ſeiner Kraͤfte, zu eben den Reſultaten zu führen, zu denen Griechenlands Bildung einen großen Theil ihrer Volksmaſſe hinfuͤhrte.

Sie hatten fuͤr ihre Erziehung Gymnaſien, d. h. le⸗ bendige, koͤrperliche und geiſtige Uebungsplaͤtze. Unſer Zeitalter hat dafür erſchlaffende, ſinnliche Lehr- und Ab⸗ richtungsplaͤtze. Ganz gewiß iſt die größere Anzahl der gewohnlichen Schulen nichts anders als dieſes. Aber wir glauben, die Methode der Elementar-Bildung ſey geeig⸗ net, die Gymnaſien, dem Sinn und dem Weſen nach, wieder herzuſtellen, und auch die Volksſchulen, nach einem hoͤhern Begriff, als ihn ſelbſt die Griechen hatten, in fürs perliche und geiſtige Uebungsplaͤtze zum frehen Kampf in Wahrheit und Liebe umzuſchaffen, und dadurch den ge⸗ genwaͤrtigen vielſeitigen Verwirrungen, die in der Volks⸗ bildung Statt haben, mit Erfolg entgegen zu wirken.

Wenn von dieſer Seite die Harmonie der intellektu⸗

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ellen Elementar»- Bildung mit der Geſchichte und dem Les ben, und ihre ſütliche Uebereinſtimmung mit dem Chris ſtenthum ſchlechterdings nicht gelaͤugnet werden kann, ſo bleibt jedoch immer noch die Frage uͤbrig, ob ſie auch in Hinſicht auf religidſe Entwicklung und Bildung mit dem letztern übereinjlimme, und auf welchen Geſichtspunkten die Methode dießfalls ruhe? N

Wie die Elementar-Methode das Chriſtenthum in ſeinem Stifter als die abſolute und vollendete Offenba— rung der ſittlichen Menſchennatur anerkennt, ſo anerkennt fie hinwiederum eben dieſes Chriſtenthum in feinem Stif— ter als die abſolute und vollendete Offenbarung der reli— gioͤſen Menſchennatur, und eben darin die Erloͤſung und den Erloͤſer der Welt. Die Religion ſelbſt, wie ſie an ſich iſt, und wie ſie ſich im Menſchen ausbildet, iſt im Erloͤſer erſchienen, und mit ihm hat ſich die Religion zu der das ganze Menſchengeſchlecht umfaſſenden Aufgabe mit Bewußtſeyn erhoben: die Menſchen, jeden nach ſei— nen individuellen Anlagen, Bedünfniflen und Kräften mit Gott zu vereinigen, d. h. ſie allgemein religioͤs zu ma— chen, von der Religion aus, die als das Siegel! der Goͤttlichteit der Menſchennatur, ſchon urſpruͤnglich in ei— nem jeden ſelbſt liegt. Ihre Beſtimmung als univerſelles Erziehungsmitiel der Menſchheit, trat durch ihn mit der hoͤchſten Klarheit und Macht hervor. Dadurch erhebt ſich nicht nur das Chriſtenthum zum unwandelbaren und ewigen Pruͤfſtein jeder religioͤſen Erſcheinung, zum Pruͤf— ſtein jedes religiöfen Erziehungsverſucheb in ſeinem Weſen, ſondern auch die Elemente und der Gang aller religidſen

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Entwicklung und Bildung find in ihm gegeben, und als ſolche in der Geſchichte vollſtaͤndig entwickelt.

Forſchen wir nach dieſen Elementen und dieſem Gange der religidſen Entwicklung des Chriſtenthums, fo finden wir in ihm, in Hinſicht auf die Religion an ſich (objek⸗ tiv), als den abſoluten Anfangs- und Mittelpunkt: Gott, d. h. die Idee der Gottheit; in Hinſicht auf die Religion im Menſchen, (ſubjektivp) das Gott li⸗ ch e, den Geiſt Gottes, die dem Menſchen inwohnende göttliche Idee, durch die er Bild Gottes, und aller Re ligion einzig und allein empfaͤnglich wird; in Hinſicht auf die Vermittlung des Objektiven und Subjettiven, Jeſum Chriſtum, als den im Sichtbaren erſcheinenden Gott, und als den vollendeten goͤttlichen Menſchen. Das Chriſtenthum iſt darin mit dem Anfang aller Offenba⸗ rung, mit der Schoͤpfung der Welt und des Menſchen, wie fie die aͤlteſte Urkunde von Moſes, dieſes ewige Sym— bol univerſeller Erziehung, erzaͤhlt, in der vollkommenſten Uebereinſtimmung, und fuͤr die ideale, geiſtige Stufe der Menſchheit eben das, was jene Urkunde fuͤr die reelle, namlich der Lebenskeim einer organiſch-genetiſchen Ent⸗ wicklung der Religion in der Geſchichte. Es ſpricht den Glauben des Menſchen an, indem es ihn vorausſetzt, an den Menſchen ſelbſt glaubt, und das Reich Gottes als weſentlich in ihm, als das wahre poſitive Eigenthum der Kinder erklaͤrt. Es muthet dem Menſchen den Glau⸗ ben an Gott, urfprünglid als Faktum feiner religidfen Natur, geradezu an, es fordert ihn unbedingt, wie es den reinen ſittlichen Willen als Faktum ſeiner ſittlichen

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Natur fordert, und wie es das Daſeyn Gottes eben fo faltiſch, als den Grund und den Inbegriff alles Daſeyns, als das Seyn und Leben ſelbſt, kuͤhn, frey, unbedingt auf ſtellt. Hiſtoriſch, ſehen wir, warf es mit Einem Schlage die Leerheit der ſaduzaͤiſchen Wortbegriffe und Woribe⸗ weiſe, die Heucheley des phariſaͤiſchen Ceremoniendienſtes und ihrer Menſchenſatzung, und die Abgoͤtterey der gan— zen juͤdiſchen Symbolik, in der das Aeußere an die Stelle des Innern, das Gemeine an die des Heiligen, das Zeis chen an die der Idee, der Tempel an die der Religion, und der Altar an die der Gottheit getreten war, danie— der, indem es die Idee wieder herſtellte, und zwar in der Perſon des Stifters ſelbſt, in ihrer lebendigſten Wirklich⸗ keit und in ihrer hoͤchſten Verklaͤrung. So ging Er, der Stifter, in ſeinem Gange auf das Urſpruͤngliche, das Reingegebne der Religion zuruͤck. Sein Ziel war offen— bar, von dieſem aus in jedem Individuum eine geiſtige, d. h. goͤttliche Anſicht, und durch dieſe in ihm einen goͤtt— lichen, d. h. religioͤs ſelbſtſtͤndigen Menſchen zu erzeu— gen, um dadurch den religioͤſen Worten eine Grundlage, den Begriffen Anſchauung, den Beweiſen Wahrheit und Ueberzeugung, den Gebraͤuchen Geiſt, den Uebungen Kraft, den Symbolen Bedeutung und Heiligkeit zu vers ſchaffen; mit einem Wort: im Leben der Religion das ganze Leben der Menſchheit verherrlicht darzuſtellen, und alle Beduͤrfniſſe der menſchlichen Natur zu befriedigen. Das bey verfuhr er auf die einfachſte und poſitivſte, auf eine harmoniſche und luͤckenloſe Weiſe. Weder einſeitig vom Gefühl, noch einſeitig vom Begriff, und noch viel weni⸗

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ger von einem einzelnen Gefühl oder einem einzelnen Be- griff, geht er aus. Vielmehr gruͤndet er ſein Werk auf die ganze vollſtaͤndige Entwicklung des menſchlichen Gei⸗ ſtes, und auf die ganze vollſtaͤndige Entwicklung des menſchlichen Herzens, und erweitert den Umfang feines. Unterrichts und ſeiner Uebungen genau in dem Maße, wie ſich Geiſt und Herz ſeiner Schuͤler erweitere. Die Grundlage, auf die er alle eigentliche Lehre von Gott als Erkenntniß baut, iſt: uͤberall, wo ein wahrer Gedanke im Schuͤler erwacht, Gott zum Gegenſtand dieſes Gedankens; wo ein reines Gefuͤhl in ihnen rege wird, Gott zum Ge— genſtand dieſes Gefuͤhls; wo eine gute Gefinnung in ih- nen herrſchend geworden, Gott zum Bilde dieſer Geſin⸗ nung zu machen; und eben ſo beym Falſchen, Unreinen und Boͤſen, es durch den Gedanken an Gott aus ihnen zu entfernen. Sein Gang der Geiſtes- und Gefuͤhlsbil⸗ dung fiel durch dieſe Uebertragung der Gedanken und der Gefühle auf Gott mit der religiöfen Bildung uͤberall in Eins zuſammen, und er firirte eben durch dieſelbe die Idee von Gott im Menſchen und gab ihr Wahrheit, Bedeu» tung und Fuͤlle. Mit dem Wachsthume ſeiner innern geiſtigen Kraft erweiterte er dieſe Idee, und erhob Gott in ihm zum hoͤchſten Gegenfiande des Geiſtes, indem er ihm Gott als ſelbſt den vollkommenſten Geiſt, zum hoͤch⸗ ſten Gegenſtand des Herzens, indem er ihn als ſelbſt die Liebe; zum hoͤchſten Gegenſtand der Nachahmung und des Gehorſams, indem er ihn als feibft das Ideal unfrer Na— tur aufſtellte. Er vermittelte dieſe Vorſtellung, und ver⸗ wandelte ſie dadurch in Anſchauung, daß er, wie die Sitt⸗

\ lich⸗

| 225 | lichkeit durch fein Beyſpiel, eben fo die Gottheit durch das Leben der Idee in ihm, und durch die ganze ſymboliſche Bedeutung ſeines Thuns und ſeiner Schickſale ſichtbar machte. Auf dieſem Wege bethaͤtigte er eines jeden reli— gioͤſen Sinn, und führte jeden feiner Juͤnger dahin, das göttliche Leben ſelbſtſtaͤndig in ſich aufzunehmen und aus ſich individuell wieder darzuſtellen. Durch die Gottheit in ihm erkannte er die Individualitaͤt eines jeden, und war wiederum fähig, der Mittelpunkt der religioͤſen Anſchau⸗— ung eines jeden zu werden, der zu der geiſtigen Au ſicht der Dinge und des Lebens erhoben, die Religion geiſtig aufnimmt. Ueber alle Schranken aͤußerlicher Verhaͤltniſſe hinaus, reinigte und heiligte er die menſchliche Natur ſelbſt in jedem Individuum. So vereinigte er alle Gegenſaͤtze der religioͤſen Bildung, vernichtete alle Widerſpruͤche des religiöfen Daſeyns, und fo wird auch aller religioͤſe Fort ſchritt des Menſchengeſchlechtes, bewußt oder unbewußt, nur ſein Prinzip entwickeln bis ans Ende der Tage. Auch in dieſem Punkt findet ſich in allem Thun der Menſchennatur eine hohe goͤttliche Harmonie: denn auch der Inſtinkt der frommen Mutter thut, wenn gleich in einem unendlich beſchränktern Umfange an ihrem Kinde, was das Chriſtenthum auch thut; und wie die Mutter bewußtlos und unwillkuͤrlich aus reiner Liebe gegen ihr Kind, wie Gott gegen den Menſchen handelt, eben ſo iſt das Chriſtenthum von dieſer Seite weſentlich nichts anvers, als die vollendete Entwicklung und Darſtellung des müt- terlichen Seyns und Verhaͤltuiſſes. Wie daher das erſte Thun der einfachen verſtaͤudigen Mutter, Typus der Vers Peſtalozzi's Werke. VIII. 15

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ftandesbildung, und das der reinen unſchuldvollen und ſittlichen Mutter, Typus der ſittlichen Bildung iſt; fo- iſt auch das erſte Thun der religioͤſen Mutter Typus der religiöfen Bildung. Ihr Kind iſt ihr ein heiliges, ein goͤttliches Geſchenk. Sie geht, um es zu Gott zu führen, von keinem Begriff aus, von keinem Beweis und von kei⸗ ner Erklaͤrung. Sie traͤgt vielmehr ihren Sinn und ihr Gefuͤhl, ihren heiligen Glauben an Gott, als ihr hoͤchſtes, und als ein unmittelbar gewiſſes Gut, gleichſam durch ei⸗ nen goͤttlichen Anhauch, unmittelbar in die Seele des Kin- des über. Sie ſelbſt, das haͤusliche Leben unter den Ele tern und Geſchwiſtern, die Natur ꝛc. ꝛc. ſprechen alle Ge⸗ fuͤhle des Kindes an, und bringen fie zur Thaͤtigkeit. Die Mutter gibt allem religiöfe Bedeutung; fie lei⸗ tet ſie alle auf Gott. Angeregt von der Groͤße und Macht der Natur, nennt ſie ihm Gott, und es faͤngt an, ihn als den allmaͤchtigen und unſichtbaren Schoͤpfer und Erhalter aller Dinge zu erkennen und zu bewundern. Ans geregt von ihrer Wohlthaͤtigkeit, nennt ſie ihm Gott, und es faͤngt an ihn als den freundlichen und milden Geber, als Güte zu empfinden und zu lieben. Angeregt von ih— rer Schoͤnheit und Ordnung, nennt ſie ihm Gott, und es faͤngt an, ihn als den Herrlichen und Weiſen zu verehren. Angeregt von den Wundern der Natur, die ſie ihm nicht erklaͤren kann, nennt ſie ihm Gott, und es ahnet den Uner⸗ forſchlichen und Geheimnißvollen u. ſ. w. Wie ihm am Him⸗ mel und auf Erde, in der Natur und im Menſchen, in ihm und außer ihm der Sinn fuͤr einen neuen Gegenſtand aufgeht, ſo geht ihm an ihrer Hand eine neue göttliche

227 Erſcheinung auf. Immer aber bleibt die Mutter Vermitt⸗ lerinn, und in ihr ſelbſt erſcheint ihm der unſichtbare Ba- ter in der erfreulichſten und erquickendſten Geſtalt.

In gleichem Geiſte handelt der Vater, wo er ſein Kind religids behandelt. Und wie dieſes feine Eltern liebt, ihnen dankt, vertraut; ſo umfaßt, verehrt es den himmliſchen Vater, und gibt ſich ſeiner Fuͤhrung hin. Welchen Begriff oder welches Bild ſich das Kind von Gott mache, daruͤber iſt die Mutter nicht aͤngſtlich verlegen; und ſie bedarf es nicht: denn ihr Kind ſchreitet, durch ſie geleitet, fort in der Einheit ſeiner Natur. Ihre Fuͤh⸗ rung bewahrt es vor dem Widerſpruch mit ſich ſelbſt, und dadurch vor der einzelnen Klippe, durch die irreligioͤſer Sinn in ihm aufteimen koͤnnte. Eben weil ſie ihm Gott in allem zeigt, iſt es auch Eins, d. h. zufrieden mit al⸗ lem, und beruhigt uͤber alles. Gott iſt ihm in allem ge— genwaͤrtig. Es wandelt vor ihm und iſt fromm. Es per— ſonifizirt ſich Gott inſtinktartig, unvermeidlich, nothwen⸗ dig. Und in dem Maße, wie ſich ſein Geiſt uͤber die ſichtbare Natur erhebt, fo erhebt ſich auch feine perſonifi— zirte Idee von Gott über alles Sichtbare und Vergaͤng— liche zur Vorſtellung eines unſichtbaren und ewigen Schoͤ— pfers und Herrn der Natur, eines in einem unzugaͤngli— chen Lichte wohnenden Fuͤhrers und Vaters der Menſch— heit, vor deſſen Auge alles aufgedekt iſt, dem ſich nur das Heilige nahen kann. Eben weil es ſich ſeine Begriffe von Gott ſelbſtthaͤtig bildet, weil fie aus dem Weſen feiner gan— zen Fuͤhrung heraus fallen, und dieſe Fuͤhrung hinwieder eine, ihrer innerſten Natur nach, religidſe, es befriedigende

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Fuͤhrung iſt, kann es nie dahin kommen, wohin es bey allem bisherigen Katechismas-Unterricht unvermeidlich kommen muß, weil dieſer ihm feine Erkenntniß von Gott in einſeitigen Begriffen, getrennt von innerer Anſchauung, vom Gefuͤhl, von der Natur, vom Leben, vom Gang feiner Entwicklung, vom Grad feiner Kraͤfte und vom Bes duͤrfniß ſeiner Lage gibt, daß es ſich unter Gott etwas denkt, von ihm etwas hofft, fordert, erwartet, das der Wirklichkeit, oder der Moͤglichkeit, wie ſie vor ihm ſteht und auf es wirkt, widerſpricht, und wodurch es ſich in Zweifel oder praktiſchen Unglauben ſtuͤrzen muß. In eben der Einheit ſeiner Natur, in der die Mutter das Kind zu Gott fuͤhrt, fuͤhrt ſie es zu Chriſtus, und auf die naͤmliche Weiſe poſitiv, hiſtoriſch, faktiſch, und bt es die lieblichen Phantaſien feiner Kindheit, ſeine Ge⸗ danken und Gefuͤhle auf ihn uͤberzutragen, und ſie zu rei⸗ nigen, zu erheben, zu heiligen, indem es ſie ihm weiht und heiligt. * eee Die Elementar-Bildung gründet den Religionsunter⸗ richt auf das heilige Fundament des Chriſtenthums; und eben fo baut fie ihn auf das unerſchuͤtterliche Fundament der

muͤtterlichen Handlungsweiſe. Wie fie die ſittliche und intel

lektuelle Entwiklung des Kindes, nach dem Geſichtspunkte des Buchs der Muͤtter, dann uͤbernimmt, wann es zum Bewußtſeyn ſeiner ſelbſt durch die Mutter nach allen Rich⸗ tungen ſeines Weſens angeregt und erwacht iſt, und von ſich ſagen kann: Ich bin, ſo uͤbernimmt ſie ſeine religi⸗ oͤſe Entwicklung nach dem Geſichtspunkt eben dieſes Buchs, wann es der Vorſtellung von Gott ſelbſtſtaͤndig bewußt,

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das erhabene Wort zu denken vermag: Gott iſt. Mit dieſem Gedanken fuͤhrt ſie es in die Natur, und zeigt ihm in ihr den in ihren Erſcheinungen und Geſtalten ſich of— fenbarenden, alle Tiefen ſeiner Gedanken und Gefuͤhle an⸗ ſprechenden Schöpfer und Herrn, und fein Verhaͤltniß zu ihm, wie ſein religioͤſes Verhaͤltniß zur Natur, wozu ſie an der Entwicklungs⸗Geſchichte der zeligiöfen Naturanſchau⸗ ung, wie ſie das alte Teſtament aufweist, ein unvergleich⸗ liches Muſter hat. Mit ihm fuͤhrt ſie es in ſich ſelbſt, und zeigt ihm den in ſeinen koͤrperlichen, geiſtigen und ſittlichen Anlagen, in den Kräften und Geſetzen feiner Nas tur, in ſeiner Vernunft und in ſeinem Gewiſſen ſich of⸗ fenbarenden Geſetzgeber und Richter, ſein Verhaͤltniß zu ihm, und ſein religioͤſes Verhaͤltniß zu ſich ſelbſt, wozu ihm das Beyſpiel Jeſu Chriſti ein vollendetes Urbild auf— ſtellt. Mit ihm fuͤhrt ſie es in die Geſchichte, und zeigt ihm die im Gang des Menſchengeſchlechts erſcheinende Vor— ſehung, den in ihm ſich darſtellenden göttlichen Erzieher und Vater, ſein Verhaͤltniß zu ihm, und ſein religioͤſes Verhaͤltniß zur Menſchheit, wozu ſie nur die Offenba— f rung des Chriſtenthums darzuſtellen braucht. Doch, was ſage ich: Die Elementar-Bildung thut dieſes? Nein! ſie thut es nicht. Sie will, ſie verſucht, ſie fordert es nur. Sie ſtellt ihre Grundſaͤtze auf, um jeden, der zu ihrer Aus— führung Kraft fühlt, dazu aufzufordern, um fie dankbar von ihm anzunehmen.

Es iſt unwiderſprechlich gewiß, daß ein ganz einfa— cher, aus dem Geiſt der Religion, des Chriſtenthums und der Menſchennatur geſchoͤpfter, ſie wiederum in ſich we—

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ſentlich vereinigender, religioͤſer Unterrichtsgang nur das endliche Reſultat eines univerſellen Sinns für die Reli- gion in allen Geſtalten, und fuͤr die Menſchheit auf allen Entwicklungsſtufen ſeyn kann. Es iſt aber eben ſo un⸗ widerſprechlich gewiß, daß dieſer Sinn nur durch die intel⸗ lektuelle Elementar-Bildung geweckt wird, und daß auch das Chriſtenthum die dadurch entwickelte Geiſteskraft nicht nur nicht verwirft, ſondern ſie vorausſetzt, ſie fordert. Denn wie ſoll der Menſch ohne geiſtige Entfaltung, Gott als Geiſt erkennen, ihn im Geiſt und in der Wahrheit an- beten? Und eben fo gewiß iſt wieder, daß der religiöfe Unterricht des Kindes nur dann ſein Ziel erreichen kann, wann er aus dem ganzen Sehn und Thun des Kindes herausfaͤllt, d. h. wenn es im umfaſſendſten Sinne, der Geſinnung nach religiös behandelt wird und das Leben ſelbſt religiös organiſirt iſt. Die Folgen dieſes Grundſa⸗ tzes ſind hoͤchſt umfaſſend und greifen, wie die Idee der Elementar-Bildung, als Fundament der National- Bil⸗ dung, in alle Verhaͤltniſſe des Lebens ein.

Man hal der intellektuellen Elementar-Vildung lt den Vorwurf gemacht, daß ſie ihren Zoͤgling zu fruͤh aus dem heiligen Dunkel der Ahnung der Wahrheit, und des frommen, vorgreifenden Glaubens herausreiße. Aber eine Methode, die nach ihrem Weſen die Menſchennatur als eine Einheit, als ein Ganzes, im Umfang aller ihrer Kraͤfte und Anlagen anſpricht; eine Methode, welche die Sittlich⸗ keit und Religidſikaͤt nicht bloß als ſchweſterliche Gehuͤlfen der intellel tuellen Bildung, ſondern als ihr abſolutes und nothwendiges Fundament anerkennt; eine Methode, die

251 unſre Natur, ehe fie felbige zur Einſicht und Erkenntniß fuͤhrt, durch hoͤhere Gefuͤhle erhebt, und die zarten Bande der kindlichen und elterlichen Verhaͤltniſſe, die ſich in Dank— barkeit, Liebe und Vertrauen ausſprechen, ſchon in der Un— muͤndigkeit ihres Zoͤglings vom Vater und Mutter des zeit lichen Lebens auf feinen Vater im Himmel hinuͤbertraͤgt, und die Einheit der menſchlichen Bildung und die Moͤg— lichkeit der harmoniſchen Vereinigung der Mittel ſeiner ſitt— lichen, intellektuellen und phyſiſchen Entfaltung nur durch die Uebertragung der kindlichen Gefuͤhle gegen die Mutter auf den Glauben und die Anbethung Gottes erreichbar glaubt; eine Methode, die in jedem erſten Wort, das fie lehrt, in jeder Kraft, die ſie uͤbt, in jeder Wahrheit, die ſie mittheilt, nur Thatſachen und keine Begriffe gibt, und die jeden Begriff, den das Kind ſich bildet, auf die Ans ſchauungen von Thatſachen gründet eine ſolche Methode kann wahrlich das Kind nicht mit muthwilligem Leichtſinn zu früh aus dem heiligen Dunkel der Ahnung, der Wahrs heit, und des frommen, vorgreifenden Glaubens an fie, hers ausreißen. Nein! es iſt im Weſen derſelben gegruͤndet, daß ſie dieſes Dunkel als die Wiege der Froͤmmigkeit und Weisheit, mit heiliger Sorgfalt pflege und das Kind, eben wie die Natur auch thut, nur durch eine langſam zerflieſ— ſende Daͤmmerung zur Tageshelle der Wahrheit erhebe. Sie iſt weit entfernt, an den Flickwerken der Finſterniß der Zeit Theil zu nehmen, die ſich ſo vielſeitig bemuͤhen, im Dunkel ihrer Mitternacht durch ſchimmernde Irrlichter den Schein des Tages da hervorzurufen, wo die dunkle Nacht noch vollkommen da iſt, und die armen Nachtlam—

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pen der Zeit dem Schlummernden, Unmuͤndigen, als waͤ⸗ ren ſie Sonnenſtrahlen des Tages, vor die Augen zu brin— gen. Nein! ſie fuͤhrt ihren Zoͤgling nicht auf den Wegen der Nacht, als waͤren ſie Wege des Tages; ſie fuͤhrt ihn nicht in den Wegen des Scheins, als waͤren ſie Wege der Wahrheit; ſie laͤßt ihren Zoͤgling die Erquickung der Nacht genießen, wie das Leben des Tages, aber ſie laͤßt ihn auch das Leben des Tages nicht verſchlafen. Sie ſtellt den Na- turlauf der den hellen Tag hervorbringenden Sonne nicht mit boͤſer Gewalt ſtill, und verlaͤngert die nach Geſetzen des Ewigen feſt beſtimmte Zeit der Daͤmmerung nicht mit unnatuͤrlicher Kunſt. Nein, kein wahrer und treuer Schuͤ— ler der Methode reißt das Kind ſeiner Fuͤhrung mit un⸗ pſychologiſcher Eile aus dem heiligen Dunkel feiner Ah— nung. Das Wachsthum des Lichts, das die Uebungen der Methode uͤber die Gegenſtaͤnde des Unterrichts der Kinder verbreiten, erweitert, wenn es haͤuslich, heimathlich, elter⸗ lich und herzlich, d. h. pſychologiſch wie es ſoll, gegeben wird, ganz gewiß zugleich das Dunkel dieſer Ahnungen und das Gefuͤhl geheimnißvoller Abgruͤnde, ſogar im Ge⸗ biete der Erkenntniß und des Lebens ſelber, im Kinde, in dem es, je mehr es lernt, deſto mehr fuͤhlt, wie wenig es in die innere Tiefe des Weſens der Dinge, die es lernend zu erkennen ſucht, einzudringen vermag, und wie vielſei— tig, im Gegentheil, dieſes innere Weſen der Dinge, die es zu erkennen ſucht, noch wie ein verſchloſſenes Buch vor ihm daſteht.

Die Methode thut uͤberall nichts gegen die Natur, ſondern alles in Uebereinſtimmung mit ihr. Sie laͤßt

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Nacht ſeyn, wo Nacht hingehört, und ruft dem Tag, wo es ſich gebuͤhrt, daß es Tag ſey. Ihre Mittel ſind fuͤr das Beduͤrfniß der Nacht, in ſo weit es gut iſt, nur zu— träglich, nicht verfaͤnglich. Das Kind ihrer Führung tritt gar nicht durch die Blendwerke der Oberflaͤchlichkeit, der Vielwiſſerey und ihrer Anmaßung irre geführt, zum Ver⸗ derben ſeiner Natur, aus dem ſeligen Dunkel, dem die muͤtterliche Natur ihre erſte Entfaltung unterwirft, heraus. Nein! es tritt nur nach dem Genuß und durch den Ge nuß dieſer Sorgfalt, es tritt nur durch das Wachsthum und die Reifung des Lichts ſeiner intellektuellen Kraft aus demſelben heraus, und in jedem Fall nur fuͤr den Gegen— ſtand, fuͤr den das Licht ſeiner intellektuellen Bildung ihm genugſam leuchtet, und bleibt mitten in dem Heraustreten fuͤr dieſen Gegenſtand im Allgemeinen dennoch in ſeiner Beſchraͤnkung ruhig, in ſeiner Unwiſſenheit forſchend, in ſeiner Liebe glaubend, eben wie in ſeiner Wahrheit feſt.

Allein waͤre der Vorwurf, daß der Zoͤgling der Me— thode durch fie zu fruͤh aus dem heiligen Dunkel der Wahr— heit und des frommen Glaubens an ſie herausgeriſſen wer⸗ de, nicht ſchon durch ihre Natur ſelbſt widerlegt, ſo wuͤrde er es durch die in ihrem Weſen gegruͤndete Thatſache, daß ſie ſich nicht nur in ihren Mitteln, ſondern auch in dem Gange ihres Gebrauchs auf die Realitaͤt des menſchlichen Daſeyns im ganzen Umfange deſſelben gruͤndet. Nichts iſt daher ungerechter als jener zweyte Vorwurf, den man ihr gewohnlich, in Verbindung mit dem erſten und faſt eben fo, gemacht, daß fie nämlich ihre Bildungsmittel nicht genug an die Wahrheit der Verhaͤltniſſe des perfon-

h

254 lichen und häuslichen Lebens und des wirklichen Sehns der Menſchen anketten wolle. Es iſt wahr: die Formen der intellektuellen Bildung, als einzelne Elementarmittel, erſcheinen in dieſer Einzelnheit einſeitig, und getrennt vom Zuſammenhang des ganzen kindlichen Daſeyns; aber ſie ſind es nur, in ſo fern ſie als einzeln in's Auge und vom Verſtand aufgefaßt werden. Sie ſind es nicht in der Un⸗ terrichtsſtunde, fie find es nicht im Verhaͤltniſſe des Leh⸗ rers zum Kinde; fie find es nicht während der ſelbſtthaͤ⸗ tigen Anſtrengung des letztern H fie find es nicht, weder in dem Zuſammenhange, aus dem ſie hervorgehen, noch in dem Zuſammenhange, mit dem fie im Ganzen der Füh- rung des Kindes verbunden ſind.

Wahrlich man hat, indem man der Methode dieſen Vorwurf gemacht, vergeſſen, daß die Idee der Elementar⸗ Bildung eine allgemeine Idee iſt, die in ihrer Darſtellung und Ausführung zwar in die fitiliche, intellektuelle, phyſi⸗ ſche u. ſ. w. eingetheilt werden muß; die aber im Men— ſchen und Leben ſelbſt nie getrennt find, ſondern fi) viel» mehr in der Einheit der menſchlichen Natur in jedem Aus genblick durchdringen. Man hat vergeſſen, daß dieſe Idee jeder weſentlich eigenthuͤmlichen Stufe und Richtung der menſchlichen Entfaltung unbedingt Rechnung traͤgt; daß ſie, wie fie die Erkenntniß rein und frey gibt, auch das Le⸗ ben frey und rein wirken laͤßt; noch mehr, daß das We⸗ fen der Elementar-Bildung nicht nur im feſten Verein als ler dießfaͤlligen Anſichten, ſondern beſtimmt in der Unter ordnung der intellektuellen und phyſiſchen unter die hoͤhern Anfpräche der ſittlichen Elementar-Bildung durch den haus»

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lichen und gefelligen, menſchlichen Zuſammenhang beſtehtz man hat vergeſſen, daß folglich die ſittliche Elementar-Bil⸗ dung als Ausdruck des haͤuslichen Lebens eigentlich allein die ſelbſtſtaͤndige Elementar- Bildung iſt; daß die intellek⸗ tuelle und Kunſt-Elementar-Bildung nur untergeordnete Theile des großen Ganzen der ſittlichen Elementar- Bil⸗ dung und beſtimmt nur Mittel find, die Geiſtes- und die Kunſtkraft des Menſchen in ihren aͤußerlichen Erſcheinun⸗ gen und Wirkungen mit dem hohen goͤttlichen Sinn unſ— rer innern Veredlung in Uebereinſtimmung zu bringen. Daraus erhellet dann aber auch ganz klar, daß, wenn der Zuſammenhang der Elementar-Bildung mit dem haͤusli⸗ chen Leben und aller Wahrheit ſeiner wirklichen Lage und Verhältniſſe von ſittlicher Seite geſichert iſt, es auch mes ſentlich unmöglich feyn muß, daß die Elementar-Bildung in intellektueller und Kunſthinſicht, wenn ſie wahrhaft iſt, dieſem allgemeinen weſentlichen Fundament der Menſchen— bildung mangeln koͤnne.

Wenn man daher auch den Vorwurf zugeſtehen wolle te, daß etwan eine intellektuelle und phyſiſche Anwendung der Methode moͤglich waͤre, die auf das ſittliche Funda— ment der Elementar-Bildung nicht genugſam Ruͤckſicht nahme, fo ergibt ſich dennoch ſchon aus der nähern An— ſchauung der intellektuellen und phyſiſchen Elementar-Bil— dungsmittel offenbar ſelber, daß dieſelbe, unabhaͤngig von ihrer weſentlichen Unterordnung unter die Elementarmit⸗ tel der ſittlichen Bildung in's Auge gefaßt, ſich ihrer Na— tur nach an ſich ſelbſt und nothwendig, feſt an den Kreis

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des häuslichen Lebens und der wahren Verhäftniffe des Kin⸗ des anketten und anketten muͤſſen.

Alle wahrhaft elementariſche Uebungen des Erkennt⸗ nißvermoͤgens ſetzen nothwendig vollendete und gereifte An⸗ ſchauungen der Gegenſtaͤnde, um die ſich die Uebungen der Denkkraft herumtreiben, voraus. Dieſe den intellektu⸗ ellen Bildungsmitteln ſo weſentlichen Anſchauungsuͤbun⸗ gen aber muͤſſen im kindlichen Alter nothwendig, ſie koͤn⸗ nen nicht anders, aus dem Kreiſe des kindlichen Lebens hervorgehen. Es liegt auch weſentlich in der Natur der elementariſchen Anfangsuͤbungen in Zahl, Form, Sprache, daß ſie an das wirkliche Leben, an das wirkliche Fuͤhlen und Handeln des Kindes angekettet werden.

Es liegt weſentlich darin, daß die ganze Folge der dießfaͤlligen Thaͤtigkeit des Kindes ſich ganz in der Wahr⸗ heit feines wirklichen Seyns und feines lebendigen Wir- kens in dieſem Seyn und Thun herumtreibe und ſeine taͤg— lichen und ſtuͤndlichen Anſchauungen mit allem Reize ſeines häuslichen Lebens, feiner haͤuslichen Liebe und feines haus» lichen Glucks verwoben werden. Der ganze Umfang der Fortbildung feiner Denkkraft muß, wenn er wahrhaft ele- mentariſch ſeyn ſoll, nothwendig fortdauernd in einem luͤ⸗ ckenloſen Zuſammenhang mit dieſen erſten einfachen Ent— faltungsmitteln unſrer Denkkraft in Uebereinſtimmung blei⸗ ben, und folglich, wenn er ſeine Natur nicht verleugnet und ſeinem Weſen nicht ungetreu werden will, in allen ſeinen Uebungen ununterbrochen an die Wahrheit des wirklichen Seyns und Lebens des Kindes angeknuͤpft werden.

So wenig iſt es wahr, daß der Geiſt der Methode da—

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hin lenkt, feinen Zoͤgling aus dem frommen Sinn des haͤus— lichen Lebens und feiner wahren wirklichen Verhaͤltniſſe ges waltſam oder traͤumend herauszureißen. Nein! im Gegen— theil liegt eben in ihrer Anwendung der Reiz und die We— ckung des Gefuͤhls, des Beduͤrfniſſes, ihn mehr als dieſes bisher wenigſtens in unſern Tagen geſchehen, in dieſen Verhaͤltniſſen feſt zu halten. In allen ihren Schritten mit Ausharrung der Vollendung entgegen ſtrebend, muß und kann ſie dieſe innere Vollendung ihrer ſelbſt im ganzen Umfang ihres Thuns nirgends mehr ſuchen, als in dem Anfangspunkt, von dem ihr Streben nach Entfaltung al— ler ihrer Kraͤfte ausgeht; im Anſchließen ihrer ſelbſt an haͤusliches Leben. Die Methode muͤßte ſich ſelbſt verlie⸗ ren, ſie mußte aus ihrem Weſen heraus treten, wenn fie jemals dahin kommen ſollte, die reine Quelle ihres Seyns zu verlaſſen, und traͤumeriſch, wie die Ungezogenheit und Oberflaͤchlichkeit des Zeitgeiſtes, außer dem Gleiſe dieſes Le⸗ bens und ſeines bildenden Seyns eine Befriedigung und ein Gluͤck zu ſuchen, das ſie in dieſem Kreiſe ſich fo leicht und ſo ſicher ſelbſt gibt. Ernſt, langſam, und in tiefem Zuſammenhang unter ſich ſelbſt, durch ihr Weſen allen ei⸗ teln Träumen entgegenwirkend, und fuͤr jede Lage, für jes des Beduͤrfniß kraftbildend iſt fie von einer ſolchen Verir— rung ferne.

Es iſt dieß ſchon ein nothwendiges Reſultat der Gruͤnd— lichkeit der Methode und ihres Ganges. Auch zeichnet ſich das Kind der Methode beſtimmt hierdurch aus. Es ſchaut lang, feſt, lebendig, ehe es ſchließt. Es uͤbt ſich weit weniger in der Ausdehnung des Schließens und Ur-

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theilens, als in der Bildung der Kraft, richtig urtheilen und ſchließen zu koͤnnen, und entfaltet ſeine Kraft dafuͤr weit mehr durch geordnete Thaͤtigkeit, durch Fleiß und Ar⸗ beit, als durch eitles Haſchen nach der Ausdehnung feines Wiſſens. Auf dieſer Bahn wird ſein Urtheil in allen Stuͤ⸗ cken in ihm ſelber gereift, ehe es daſſelbe auch nur in ſich ſelber ausſpricht. Dieſes Urtheil iſt darum auch ſo wenig Willkuͤr in ihm, als das Weſen der Methode ſelbſt Will⸗ kuͤr in ihm iſt, ſondern Ausſpruch der Natur, der in ihm gereiften Wahrheit und Nothwendigkeit. Es iſt unbedingt, weil es nicht weiter geht als die Anſchauung ſelber, Der ruhige, freye, und einfache Natureindruck der Gegenſtaͤnde wird alſo durch die Methode nicht gemindert, wohl aber vielſeitiger und beſtimmter gemacht. Dieſe eingreifende umfaſſende Gruͤndlichkeit der Methode fuͤhrt ihren Zögling nothwendig vermoͤge ihres Weſens zur Befriedigung feiner ſelbſt in ſeiner Lage, und zu der innern Feſtigkeit und Ru⸗ he, die vor aller Ueberſpannung ſichert; fo wie zu der Zus verlaͤſſigkeit und Treue, womit der befriedigte Menſch ſei⸗ nen Zuſtand, und die Vortheile deſſelben immer richtig zu würdigen und zu benutzen weiß. Sie ſteht alſo vorzüglich dem Geiſt der Zeitbildung entgegen, der ſich in nichts bes ſtimmter ausgeſprochen, als in der allgemeinen Veraͤnde⸗ rungsſucht und Projektmacherey, und der dieſem Geiſt ſo weſentlich und fo nothwendig beywohnenden Entfernung von aller Reinheit der innern Menſchennatur und von der durch ſie entſpringenden Kraftloſigkeit fuͤr die wahre Ueber⸗ einſtimmung unſers Seyns und Thuns mit der Wirklich⸗ keit unſrer Verhaͤltniſſe und Lage.

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Und doch waͤhnt der Zeitgeift, indem er in diefe Uns natur verſunken, er bilde feinen Zoͤgling gut für das wirk⸗ liche Leben, ſeine Erziehungs- und Unterrichtsmittel ketten ihn an die Wahrheit ſeines perſoͤnlichen Seyns und ſeiner wirklichen Verhaͤltniſſe; und iſt weit entfernt einzuſehen, daß es ein ganz ſeinem Geiſte entgegengeſetztes Benehmen fordert, um den Menſchen nicht nur für den Schein, ſon⸗ dern in der That und Wahrheit, und auf die Probezeit feiner gluͤcklichen und ungluͤcklichen Tage, an die Wirkliche keit feines Seyns und feiner Verhaͤltniſſe zu knuͤpfen, und ihn mit denſelben in jedem Falle in Uebereinſtimmung zu bringen. Noch mehr iſt es ſeinen Anſichten fremde, und ſo gar ihnen widerſprechend, daß in der Methode und in ihrem Fundamente, der reinen Naturgemaͤßheit der Erzies hung, die Moͤglichkeit, wahrhaft zu dieſem Ziel zu gelan⸗ gen, vorzüglich liege. Er erkennt als Thatſache die pofie tive Unfaͤhigkeit der meiſten Menſchen, ihren Verhaͤltniſſen ein Genuͤge zu thun, und ſchicklich und befriedigend in dens ſelben zu leben; aber unfaͤhig, die eigne Schuld, die er an der Unpaſſenheit unſers Geſchlechts fuͤr ſein wirkliches Seyn und Leben ſelbſt hat, zu erkennen, ſchiebt er, wie ein Arzt, dem gar viele von feinen Lanken ſterben, die Schuld ihres Todes eher auf alles andere, als auf ſich ſelber und auf feine Arzney.

Es iſt freylich ganz wahr, wenn die intellektuellen Elementar-Mittel, außer genugſamer Verbindung, oder gar in Entgegenſtellung der haͤuslichen und ſittlichen Ele»

mentar⸗Bildungsmittel, betrieben würden; und hinwieder, wenn dieſe Uebungen in ihren Reihenfolgen, wie fie ge⸗

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druckt find, ohne Ruͤckſicht auf den Zögling ihnen unpſy⸗ chologiſch und taktlos eingeuͤbt wurden, fo konnte die Me⸗ thode dem Vorwurf, daß fie für die Ausbildung der Zoͤg⸗ linge, für das wirkliche Leben nicht paſſe, und uͤberhaupt dem Vorwurf der Unnatur, nicht entgehen. Aber der Vor⸗ wurf traͤfe dann freplich nicht die reine Idee der Metho⸗ de, ſondern die Taktloſigkeit und Unfaͤhigkeit in ihrer Aus⸗ uͤbung, und fie koͤnnte im Auge des Mannes, der fie durch⸗ forſcht und in ihrem Weſen erkennt, nichts verlieren. Nicht nur fordert die Billigkeit, daß man die Guͤte oder Boͤſe ei⸗ ner Maßregel genau von der Art, fie auszuuͤben, ſoͤnderez und man darf fuͤr den Fall, von dem beſtimmt die Rede iſt, hinzuſetzen: Auch der Weiſe und Erfahrene wird es ſich bey der Unmuͤndigkeit unſers großen aber neuen Ver⸗ ſuchs nicht verwundern laſſen, ſondern es uns herzlich gern verzeihen, wenn wir uns ſelber in der erſten Aufſuchung unſrer Mittel, und in ihrer Ausuͤbung in etwas verirrt oder verwirrt haͤtten. 5 In jedem Falle iſt die Idee der Elementar-Bildung von ihrer Ausuͤbung, und alſo auch von jedem Ausfuͤh⸗ rungs⸗Verſuch derſelben, unabhaͤngig; und nach der ſpezi⸗ ellen Anſicht, die obſchwebt, iſt es eben ſo gewiß: Die in⸗ tellektuelle Fuͤhrung des Kindes iſt in keinem Falle elemen⸗ tariſch richtig, wenn fie nicht mit dem ganzen Gang des innern und aͤußern Lebens des Kindes in Uebereinftim> mung ſteht. Es iſt unbedingt richtig: Das Kind muß glaubend, liebend und handelnd in ſeinen Umgebungen le⸗ ben, und in thaͤtiger Liebe und durch ſie, phyſiſch und in⸗ tellektuell kraftvoll werden, wenn es elementariſch, wenn es

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es nach der Methode phyſiſch und intellektuell kraftvoll ge⸗ bildet werden ſoll. Je großer, je wahrer, je thaͤtiger die Licbe in den Umgebungen des Kindes und in ihm ſelbſt wirklich herrſcht, deſto ſicherer ift die Erzielung der menſch⸗ lichen Entfaltung der phofif hen und intellektuellen Kraft des Kindes. ß

Man kann hingegen nicht ſagen: Je ſtaͤker in den Umgebungen des Kindes die Kräfte der Fauſt ſich auszeich⸗ nen, und je mehr bloßer Verſtand, bloße Beſonnenheit in dieſen Umgebungen und im Kinde ſelber herrſcht, deſto ſicherer iſt auch die Erziehung feiner ſittlichen Kraft. Ohne Liebe bildet ſich weder die, phyſiſche noch. die intellektuelle Kraft des Kindes naturgemäß, das iſt menſchlich; aber in der Liebe lenken Verſtand und Fauſt ganz gewiß zur na⸗ turgemaͤßen, zur menschlichen Anwendung ihrer Kraͤfte hin. Die Elementar⸗ Bildung erkennt nur die ſchonende, die er⸗ freuende, die erhebende, gemüthliche Liebe als das heilige Fundament von der fie ausgeht und auf der ‚fie ruht; ſie erkennt kein Mittel der Verſt andesbildung, keine Ue⸗ bung in Zahl, Form und Sprache, eben ſo kein Mittel der phyſiſchen Entfaltung, keine gymnaſtiſche Uebung für a das Kind, naturgemäß elementariſch und menſchlich bildend, als in ſo fern ſie es mit dem unbedingten allgemeinen Fun⸗ dament der Menſchenbildung, mit den ſitilichen Elemen⸗ tar⸗Bildungsmitteln, mit Liebe und Glauben, in Ueber⸗ einſtimmung ſetzt. Aber, in ſo fern dieſes Fundament geſichert iſt und feſt ſteht, in fo fern iſt dann auch unbe⸗ dingt gewiß,! daß alle ihre Uebungen, und damit der ganze Umfang der ph yſiſchen und intellektuellen Elementar- Mi

Peſtalozzb's Werke VIII. 16

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tel gemeinſam, mit fiherm Erfolg gegen die Unnatur unſ⸗ rer Zeit- Erziehung, und dahin wirken werden, ihren Zög- ling an die Wahrheit ſeines perſoͤnlichen Seyns, an die Realitaͤt feines wirklichen Lebens und feiner wirklichen Ver⸗ haͤltniſſe zu ketten, und ihn durch fie und für ſie naturge⸗ maͤß und menſchlich zu bilden. Die alfo beſtimmten Mit⸗ tel der Elementar-Bildung gehen alle von der Realitaͤt des Lebens ſelber aus, und fuͤhren wieder zu derſelben hin.

Sollen wir alſo die Reſultate der Methode, ſollen wir die Wahrheit und Kraft unſers Menſchengeſchlechtes fürchten? Sollen wir die Unbehülflichkeit und Trug und Schwaͤche als Huͤlfsmittel der Ruhe, des Gluͤcks und der Befriedigung deſſelben anſehen? Man entſchuldigt dieſe uns gluͤckliche Anſi cht der Dinge freylich mit der Revolution, und heißt fie eine eee nothwendige Folge die⸗ ſes Weltereigniſſes. Aber nein! ſie iſt nicht die Folge der Revolution; ſie iſt durchaus nicht die Folge einer Revo⸗ lution, die uns an Leib und Seele in einem geſunden Zus ſtand gefunden haͤtte; nein! ſie iſt eine Folge der Revo⸗ lution, die uns in einem an Leib und Seele geſchwaͤchten Zuſtand ergriffen. Dieſe elende Anſicht und Gemüths⸗ ſtimmung, daraus ſie entſprungen, iſt eine Folge des all⸗ gemeinen Verderbens, das vorausging; ſie iſt die Folge einer Sittlichkeits-Bildung, die uns menſchlich und buͤr⸗ gerlich, ſchon bevor die Revolution da war, zernichtete, ins dem ſie unſer Geſchlecht zum kraftloſeſten, anmaßlichſten Düntel ihrer elenden Meinungen hinfuͤhrte. Ri Aber wollen wir nun auch das Bleiben in dieſem Zu⸗ ſtande mit der Revolution entſchuldigen, deren Verderben

245 nicht alfo eingeriffen hätte, wenn wir nicht an Leib und Seele kraftloſe Menſchen geweſen wären? Die Elementar⸗ Bildung kaͤmpft nicht nur gegen dieſe Uebel, ſondern ge— gen ihre Quelle ſelbſt. Das Kind der Methode iſt kein Kind des Traums, des Schwindels und der Schwaͤche; ſeine Wahrheit iſt in ihm ausdehnungshalber zwar klein, aber ihrem Weſen nach feſt und gegruͤndet; ſie entkeimt aus ſeiner Unſchuld und iſt ein Kind ſeiner Kraft. Sie iſt beſchraͤnkt, aber fie liebt ihre Schranken und iſt darin gluͤcklich; ich moͤchte von ihr ſagen: Klein und arm iſt meine Hütte, Doch ein Sitz der Froͤhlichkeit. Das Kind der Methode fliehet und fürchtet jede un— bereitete, und ungegruͤndete Ausdehnung feiner Kraft; es gehet in ſeiner Bildung zur Wahrheit taͤglich einen ſichern Gang, abgemeſſenen und nicht ermuͤdenden Schrittes. Es fürchtet der Meinungen vielkoͤpfige Heere. Was ſich nicht einfach und leicht an das anſchließt, was ihm ſchon wahr, gewiß und lieb iſt, das haftet nicht leicht in ſeiner Seele; es geht in ihr als eine Erſcheinung, die nicht fuͤr ſein ganzes Seyn paßt, voruͤber. Sein Leben in der Wahrheit iſt kraftvoll, und wenn bey dieſem Leben irgend einmal ſeine Wahrheit mit einer leeren Meinung verwo— ben in ihm erſcheint; ſo macht die Eitelkeit und Leerheit dieſer Meinung auf daſſeibe durchaus nicht die naͤmliche Wirkung, die fie auf Kinder machen muß, deren Führung im Ganzen eitel und leer it. Gewiß! es wird in keinem Falle den Meinungs-Menſchen gleich, die in ſich ſelbſt wahrheilslos die wahrheitsloſen Meinungen andrer, wie 16 *

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hungerige Schwalben kleine Muͤcken in der Luft gierig auf greifen und einſchnappen! Nein! ſolche Meinungs-Men⸗ ſchen koͤnnen die Kinder der Methode nicht werden. Ihre Meinungen alle entfeimen auf ſittlichem Boden, und woh⸗ nen im wahrheitsgeuͤbten Kopf; ſie wachſen im Leben frommer, heiliger Gefuͤhle auf, und indem ſie durch Ent⸗ faltung wahrer lebendiger Geiſteskraft ein inneres Gegen⸗ gewicht gegen ihr Verderben finden, ſo verliert ſich in ih⸗ nen der eigentliche Stachel der Thorheit. Dieſe Meinun⸗ gen koͤnnen in ihnen nur in der Leerheit ihres wirklichen Seyns erſcheinen, und dieſes wird durch das Uebergewicht der Wahrheit, Liebe und Kraft, mit der es in ihnen ver⸗ woben erſcheint, unſchaͤdlich. Es ſtoßt in jedem Falle an die Zartheit reiner unſchuldiger Gefühle, und an die Feb ſenwand unbeweglicher und unbeſtechlicher, in ihnen haf⸗ tender Wahrheit.

Dieſe Vereinigung der Zartheit und Feſtigkeit iſt der Methode in allen ihren Theilen eigen. Im ganzen Um⸗ fang der Elementar-Bildung iſt jeder Schritt ihrer Uebun⸗ gen, wie alle Schritte der heiligen Natur, unendlich zart und leicht, aber dabey nichts deſto weniger unerſchuͤtterlich feſt, und bey dem hoͤchſten Vollgefuͤhl feiner Kraft, dem noch nie die Zartheit mangelte, die dieſe heiligt, ſeiner Re⸗ ſultate ſicher.

Gehen wir an die reine Quelle der Elementar- Bils dung, ſteigen wir zum Thun der Mutter hinauf, ſo fin— den wir: Schon ihre Hand, an der das Kind gehen lernt, ob ſie gleich ſanft iſt und ohne allen Drang handelt, iſt dennoch fuͤr ihre Beſtimmung und 5 ihr Kind eine feſte

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Hand. Das Bildende, das Erhebende der Menſchlichkeit ihres dießfaͤlligen Einfluſſes ruht freylich weſentlich auf der Leichtigkeit ihres Thuns; auf ihrem reinen ſanften Weſen, und auf der Entfernung alles das ganze Seyn und das ganze Weſen des Kindes ſtoͤrenden Dranges. Aber was waͤre auf der andern Seite dennoch ihr ſanftes leichtes We— ſen, was waͤre die Entfernung alles Eifers und alles Drangs aus ihrem Thun, ohne ihre innere Kraft, ohne das Bes wußtſeyn derſelben, und ohne die in dieſem Bewußtſen ruhende innere Sicherheit ihrer Refuliate? In dieſem Ges ſichtspunkt erſcheint die Feſtigkeit und die Hamanitaͤt des Zoͤglings der Methode in ihrem wahren Licht, und es er hellt, daß fie durchaus nichts mit der Fefligleit ſcheinenden, aber Zartheit und Wahrheit gleich mangelnden Anmaßung, der in oberflaͤchlichem Viel wiſſen aufgeſchwollenen und nicht zur Realkraft emporgewachſenen Scheinmenſchen zu ver— gleichen iſt. Nein! die Scheinfeſtigkeit der letzten verhält ſich gegen die wahre Feſtigteit der erſten, wie die Feſtigkeit in's Unendliche ausdehnbaren Goldes gegen die Scheinfe— ſtigkeit des harten, ſproͤden und unreinen Eiſens.

Auch von diefer Seite zeigt es ſich: Der Geiſt der Methode zielt allenthalben in ſeinen erſten ſchwachen An— fangsſchritten, wie in feinen fpäteften Reſultaten, nach Rei⸗ fung, nach Vollendung, nach Vollkommenheit. Alle Mit- tel der Methode ſind für diefen Zweck berechnet, das Re⸗ ſultat derſelben muß demnach nothwendig hohe, reine, vol— lendete Kraft der Menſchennatur ſeyn. |

Denn auch hierin bewahrt die Eleinentar : Lehre ihre Uebereinſtimmung mit dem Gpriftenthum, deſſen oberſter

246 Grundſatz ſich in dem Wort: „Werdet vollkommen, wie unſer Vater im Himmel vollkommen ifb!” ausſpricht. Den Einwurf: Die Erreichung dieſes Ziels ſey nicht moͤglich, beantwortet Paulus mit den Worten: Nicht, daß ich's ſchon ergriffen habe; ich jage ihm aber nach, daß ich's er⸗ greifen moge. Aber der Sinn der Welt mag in jedem Zeitpunkt die Dinge nicht faſſen, die des Geiſtes Gottes ſind. Sie ſind ihm eine Thorheit; er kann ſie nicht begrei⸗ fen. Das iſt in unſern Zeiten ſo wahr als in den Zeiten des Heilands und ſeiner Apoſtel. Wir ſind auch in un⸗ fern Zeiten fuͤr die diesfaͤlige Erhebung in unferm In⸗ nern zu ermattet. Unſer Auge iſt fuͤr jede Anſicht, die uns dahin fuͤhren koͤnnte, trübe, unſere Gefuͤhle ſind geſtoſ— ſen, unſre Gleichmuͤthigkeit ift zerruͤttet; wir haben die Zus verſicht fuͤr die Wahrheit verloren, und unſere Liebe hat id gemindert. Das Ungluͤck der Zeit (wir machten fie ſelbſt) hat uns verwirrt, man hat uns die Reſultate unſrer Schein⸗ bildung als Reſultate der wahren Menſchenbildung; man hat uns die Reſultate unſerer verwirrten Kräfte als Reſul⸗ tate wahrhaft erhöhter und gebildeter Kräfte unferer Natur anſehn gemacht; man hat uns den Wirbel der Thorheit, der Anmaßungen und der hoͤchſten Abſchwaͤchung unſers Ge— ſchlechts, man hat uns die kuͤnſtliche Belebung eines Zu⸗ ſtands, deſſen Erlahmung nur in feiner Verwilderung, und deſſen Verwildernng nur in ſeiner Erlahmung ihr Gegen, gewicht fund, als den wahren Zuſtand der Menſchenbildung und als die Folge eines wirklichen und groſſen Fortſchrit⸗ tes der Menſchheit durch die Erziehung in die Augen fallen gemacht; man faͤhrt auch jezt noch fort, den Quellen beydes,

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247 der Erlahmung und der, Verwilderung unſers Geſchlechts, ſogar durch neue Künfte und neue Organiſationen der Scheinerziehung, und der die Kraͤfte unſerer Natur immer mehr verwirrenden Obeiſſichlichleitsmittel, Vorſchub zu thun. i Alles, was hierin Be alten Uebel ſtaͤrkt und erhält, iſt uns im Allgemeinen heute eben ſo lieb und werth, als wenn es uns keinen Schaden gebracht hätte. Man raffi⸗ nirt heute noch, das Volk im Allgemeinen ſchreiben, leſen

und rechnen zu machen, ohne Rüͤckſicht, ob es auch reden

und denken koͤnne. Man arbeitet heute noch, das irrge⸗ führte Geſchlecht den abſchwaͤchenden und verwirrenden Re⸗ fultaten aller Arten von eiteln Lebens-, Buͤcher- und Co⸗ moͤdiantentraͤumen zu unterwerfen, ohne daran zu geden⸗ ken, wie nothwendig es, beſonders in unſrer Zen, wäre, ernſte und befriedigende Maßregeln zu ergreifen, um das Volk in allen Staͤnden fuͤr die Wahrheit feines Lebens und fuͤr den Umfang und die Eigenheit der Kraͤfte, welche die Rothdurft feiner, Lage und feiner Umflände anſpricht, ge— nugſam zu bilden, um daſſelbe auch durch den Einfluß der bürgerlichen Verhaͤltniſſe, in welchen das Ganze zum Ein⸗ zelnen und das Einzelne zum Ganzen ſteht, dahin zu er⸗ heben, daß es ſich nicht blos mit leerer Worte eitelm Schalle

zu dieſen Pflichten bekenne und in der Kraftloſigkeit eines

matten Willens über feine Unfaͤhigleit, dieſelben zu erfüllen, ſeufze, ſondern fie mit einer, fuͤr dieſe Pflichten genugſam gebildeten Kraft und dadurch mit einem, menſchlicherweiſe davon zu reden, genugſam geſicherten Erfolge erfüllen koͤn— ne. Alles, alles, auch das Beſie in unſerm Thun jür das

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Volk, iſt dem Verderben unsrer Schulſchwaͤchen, und der Routinen-Anſicht ihrer Beſchraͤnkung unterworfen. Wir ſtehen vor dem Kreis dieſes Verderbens und ſeiner Be⸗ ſchraͤnkung, und wagen es nicht ſeinen Zauber zu durch⸗ brechen, und uns dem Mittelpunkt der Anſprͤͤche der Men⸗ ſchennatur ſelber zu naͤhern. Wir wagen es nicht, dieſe Anſpruͤche in ihrem Umfange und in ihrer reinen Anſicht unſerm Schulfarren und feinem Routinen: Gang gerade ge⸗ genuͤber in's Auge zu fall en. Wir wagen es nicht, die Menſchheit im Kinde im Ganzen, und das Kind als ein Ganzes in's Auge zu faſſen; wir wagen es nicht, uns zu der Idee der vielſeitigen Gyomnaſtik, die der Bildung des Menſchengeſchlechtes, welche zur Vollendung, zur Vollkom⸗ menheit feiner Kräfte hinführen fol, Vorſchub thun muß, zu erheben. Wir denken uns nicht einmal die Moglichkeit, unſre Volksſchulen alſo in aͤchte Gymnaſt en zu erheben. Wir erſchreken vor dem bloßen Gedanken einer Erneuerung der Erziehung, einer neuen Methode.

Wirklich hoͤrt man den Ausruf vielfach wiederholen, die Methode ſey neu, und koͤnne darum nichts taugen, weil nichts unter ber Sonne neu ſey. Der Einwurf iſt fonts derbar in einem Zeitpunkt, in dem man alles neu haben will, und ſich allgemein eingeſteht, daß man in der Kir⸗ che, im Staat, in Finanzen und ſelber in der Gerechtigkeit, ſo gern man es auch wollte, mit dem Alten nicht mehr aus zukommen vermoͤge. Es iſt ja im Privatleben ſelber nie⸗ mand mehr mit dem alten Seyn und Thun zufrieden, und doch ſchreit dann auch alles wieder gegen die Neuerungen, und die Neuerungsfucht, Dieſer Widerſpruch aber lo ſich

249 ganz einfach in der Eigenheit des Zeitgeiſtes auf. Jeder will das neu, was ſeiner Selbſtſucht als alt im Wege ſteht, oder ihr zu ſchlecht iſt. Aber er will dagegen dann hinwieder, daß alle andere Leute beym Alten bleiben, ohne Ruͤckſicht zu neh» men, ob auch ihnen dieſes Alte im Wege ſtehe und zu ſchlecht fen. Dieſe Erbaͤrmlichkeit des Zeitgeiſtes zeigt ſich in den nie— drigſten, häuslichen Angelegenheiten, wie in den erſten Ber- haͤltniſſen des Staats. Wenn ein unbedeutendes, buͤrger— liches Stadtweib zu einem neuen Putz zu gelangen vermag, fo iſt ihr gewiß ihr alter ſogleich zu ſchlecht; aber hin- gegen moͤchte ſie gewiß auch gern, daß die andern Nach⸗ barinnen und Stadtweiber bey ihrem alten blieben. So ſind gewöhnlich zehn Menſchen gegen einen wider die Neuerun⸗ gen, indeſſen iſt die Neuerungsſucht dennoch allgemein; ſo weit die Selbſtſucht des Zeitalters geht, ſo weit geht auch feine Reuerungsſucht. Welche Geſtalten fie auch annehme, durch welche Kruͤmmungen ſie ſich auch durchwinde, wie ſehr fie ihren Schein verlaͤugne und ihren Namen verfäl- ſche, ſo iſt ſie allenthalben da. Wo immer Selbſtſucht da iſt, da iſt Neuerungsſucht auch da. Die widernatuͤrliche Neigung, das Alte zu erhalten, wo es nicht mehr paßt und wo es ſogar darum, weil es nicht mehr paßt, verloren ge- gangen und felber verhaßt worden, ift in feinem Weſen eben fo ſehr eine Neuerungsſucht, als die Neigung, das Alte, wo es an die Wahrheit der Segensverhaͤltniſſe des Volks noch anpaßt und ihm darum noch lieb iſt, unnatuͤr— lich verdraͤngen zu wollen. Da die Selbſtſucht, beydes, aus Schwaͤche erzeugt iſt und immer wachſende Schwaͤche zur Folge hat, ſo iſt auch klar, warum die Menſchen ge⸗

250 wohnlich dann am neuerungsſuͤchtigſten erfcheinen, wenn fie am allerunfaͤhigſten find, etwas wirklich Neues zu erfin- den, zu geſtalten und zu beleben. Wer immer unter die Kraft, das Alte wohl zu benutzen, herabſinkt, der muß noth⸗ wendig etwas ſuchen in ſeine Gewalt zu bekommen, das er beſſer in feine Hände nehmen, und beſſer gebrauchen kann. Aber dann entſcheidet die Urſache, warum er das Alte nicht mehr zu benutzen vermag, gewoͤhnlich auch über feine. Un» fähigkeit, mit etwas Neuem zurecht zu kommen, und fo muͤſſen ſich denn auch nothwendig unter ſolchen Umſtaͤn⸗ den die neuerungsſuͤchtigen und die neuerungsfeindlichen Ge⸗ ſinnungen durchkreuzen und zu gleich unnatürlichen An⸗ ſtrengungen hinfuͤhren, wie wir ſie beyde in unſern Tagen fo oft zu unnatuͤrlichen Kunſtverſuchen hinlenken ſehn. Es erklaͤrt ſich dann aber auch, warum man ſich in ſolchen Ta⸗ gen, worinn jeder gerne für ſich etwas Neues hätte, allge⸗ mein fuͤrchtet, daß die Menſchen uͤberhaupt neu, und an⸗ ders werden moͤchten, als ſie wirklich ſind, und warum in ſolchen Tagen das ſchwache Wort: wenn's nur immer ſo bliebe! auf ſo vieler Lippen haftet, und man dennoch allenthalben vom Küfter an bis zum Rathsherrn mit trau⸗ riger Miene hinzuſetzt: es kann nicht immer fo blei⸗ ben, und unter Sorgen und Kummer der Entſchluß beym Kuͤſter und Rathsherrn reifet, alles Mögliche zu thun, daß der böfe Gedanke, die Menſchen anders werden zu Taf ſen, als ſie wirklich ſind, wenigſtens der Jugend nicht in den Kopf ſteige, und forgfältig verhuͤtet werde, daß die Sachen im Land nicht dahin kommen, daß ſelber gemeine Leute ſich endlich unterfangen moͤchten, zu denken, daß ſie

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im Stande waͤren und ſelber das Recht haͤtten, auch einem Küͤſter und einem Rathsherrn einen Wink zu geben, wie es gut und recht waͤre, daß der eine und der andere mit ihnen umgehn und ſich gegen ſie benehmen ſollte. Das Gefühl feiner Schwächen führt unter gewiſſen Umfiänden eitle Menſchen zu ganz unglaublichen Sorgen. Das Unnatörlichſte wird ihnen in dieſem Zuſtand natuͤrlich. Man weiß ja wohl, der Schwaͤchling, der ſich als Reiter zeigen will, ſetzt ſich dafür nicht auf ein Pferd, das ihm neu iſt. Da er nicht reiten, ſondern ſich nur als Reiter zeigen will, fo: findet er in aller Welt nichts natürlicher, als daß er für ſeinen Ritt ein Pferd ausſuche, das in kei⸗ nem Fall mit ihm durchgehe. Die Sache von dieſer Seite in's Auge gefaßt, iſt denn auch heiter: Die Schlechtheit der Zeit fürchtet das ſchlechte Neue nicht; ſie fuͤrchtet die Aenderung des ſchlechten Alten, das ihr nun einmal lieb und werth geworden; fie fürchtet das gute Neue, weil das ſchlechte Alte nicht neben ihm zu beſtehen vermag; indem fie ſelber Neuerungen zu fuͤrchten waͤhnt, fürchtet fie eigents lich nur die Ruͤcktehr zum alten Beſſern, da es ihr nun einmal ſo unbekannt geworden, daß es ihr wirklich neu ſcheint.

Indeſſen iſt ſo viel gewiß: Alles, was je Gutes in der Erziehung ſchon da war, das alles nimmt die Idee der Ele— mentar= Bildung mit Kraft in ihren Schooß auf. Die ein— fache und geradfinnige Erziehungsweiſe unfrer Väter ſtand den Grundſätzen der Elementar-Bildung weit naͤher, als das Fünftliche Erziehungs-Raffinement unſrer Zeitſchwaͤche und unſers Zeitverderbniſſes. Ja wohl, Vaterland, fian-

252 deſt du in deinen beſſern Tagen der Naturgemaͤßheit in der Erziehung naͤher, ja wohl war das Ziel, das du dir bey deinen Erziehungsmitteln vorſetzteſt mit dem, was wir durch die Elementarmittel zu bezwecken ſuchen, Eines und Ebendaſſelbe. Wie ſehr warſt du in jenen Tagen davon ferne, uͤber Neues und Altes in der Erziehung zu traͤumen, wie der Menſch nur im Marasmus ſeines ſittlichen und buͤrgerlichen Hinſchwindens zu traͤumen vermag. Nein, Vaterland, in deinen guten Tagen traͤumteſt du nicht uͤber das, was du thateſt und thun ſollteſt, wie wir daruͤber träumen, und litteſt nicht an den Folgen dieſes Traͤumens, wie wir daran leiden; du verſankeſt in demſelben nicht, wohin wir verſunken. Kein geachteter Mann ſprach inner⸗ halb deiner Sranzen das Wort aus: das Volk habe keine gu⸗ te, den Anſprͤchen unfrer Natur in ihrem ganzen Umfange genugthucnde Erziehung nöthig, und es beduͤrfe keine feine Veredlung mit Kraft bezweckende Schule; kein geachteter Mann im Lande ſprach innerhalb deiner Graͤnzen das Wort aus, man fep dem Volk keine gute Erziehung ſchuldig, weil es fie nicht brauchen koͤnnte; man duͤrfe ihm keine ſolche geben, weil es im Schweiß feines Angeſichts fein Brod ef fen muͤſſe. Der edle, der geachtete Mann im Lande glaub⸗ te, das erhabene Wort: Im Schweiß deines Angeſichts ſollſt du dein Brod eſſen, gehe alle Menſchen an. Und du Vaterland, kannteſt die elende Anſicht nicht, das Schwi⸗ | gen des Volks von feinem Brodeſſen zu ſoͤndern, und das erſte mit Kunſt zu organiſiren, das zweite aber mit aller Sorgloſigkeit dem Zufall zu uͤberlaſſen. Vaterland, du kannteſt in deinen beſſern Tagen dieſen ungoͤttlichen Sinn

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nicht, und wareſt groß in denſelben, weil du den ewigen Grundſaͤtzen der Menſchenbildung in ihnen nahe ſtandeſt. Weiche nicht von dem Sinn der Vaͤter, erneure wieder die⸗ ſen alten guten Sinn! Valerland, laß nicht glauben, du ſeheſt durch den Eindruck voruͤbergegangener widriger Zus fälle für die hohe erhabene Reinheit deſſelben unfähig ge⸗ | macht worden, und dahin verſunken, in einfachern Vor⸗ ſchlaͤgen zur Verbeſſerung des Unterrichts und der Erzie⸗ hung gefährliche Neuerungegeluͤſte zu wittern.

Vaterland, ein verſunkenes Zeitalter faͤllt fo gern in dieſe Anſicht der Dinge, und fie iſt auch mir eine Erſchei⸗ nung, die ſich bey jedem Verſuch, die Menſchen aus dem Schlummer des Zeitverderbens wieder zu erwecken, immer wieder erneuert. Selber bey der Erſcheinung Jeſu Chriſti

war die hohe, reine Herzens erhebung, die den Glauben

Abrahams bezeichnete und die der Erloͤſer in der Menſch⸗ heit wieder herzuſtellen beſtimmt war, eine ſeinen Zeitju⸗ den ganz neue Erſcheinung. Der alte Glaube Abrahams war ihnen jetzt ein ganz neuer Glaube.

Bey dem ewigen Trennen deſſen in unſerer Zeit, was Gott zufammengefügt hat, bey ihrem ewigen ifolirten Ans ſehen deſſen, was in der Natur nur im Zuſammenhang mit andern da iſt, kommen fie dann freplich auch auf an⸗ dere ſonderbare Grundſaͤtze, auf die man jetzt alle Augen⸗ blicke ftöft, z. E. man muͤſſe nur für das Herz des Volks ſorgen, es ſey nicht noͤthig, fuͤr ſeinen Verſtand etwas zu thun; das Volk koͤnne das weit beſſer, als irgend jemand, der ſich damit befaſſen wollte. Das Letzte iſt auch ganz wahr. Das Voll kann weit beſſer fuͤr ſich ſelber for

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gen, als irgend jemand, der es fuͤr daſſelbe thun wollte ; aber es kann freylich auch nur da und nur in fo weit, als die Menſchen, die in ſeinen Umgebungen aͤuſſern Einfluß auf ihns haben, ihm die Mittel, die ihm Gott dazu gege⸗ ben, mit gutem Willen laſſen und den guten Gebrauch der⸗ ſelben noch mit menſchlicher Weisheit dahin fordern, daß das Volk mit innerer Ueberzeugung, auch an die Hausthuͤre derer, die in ſeiner Mitte keine Beamtete und keine Notab⸗ len ſind, den Spruch hinſchreiben darf: Deus nobis hc otia dedit, wie ehemals in unſrer Mitte gluͤckliche Bauern ſelbſt an ihre Stallthuͤren hinſchrieben: mentem ı sanctam spontaneam etc. etc.

Das Innere der Menſchennatur erhält ſich ticht in der Liebe und bleibt nicht im Segen derſelben erhalten, wo das Aeußere deſſelben in ſchla vier Liebloſigkeit niedergedruͤckt iſt. Wo die Zeit dahin und verſchwunden iſt, in welcher ö das Volk ſolche Spruͤche in Uebereinſtimmung mit ſich ſelbſt und mit ſeiner Lage an feine Hausthüre und an ſeine Skall⸗ thuͤre ſchreiben kann, da faͤllt dann auch die Zumuthung, es ſolle für ſich ſelbſt ſorgen, in die Categorie von tauſend und tauſend Zumuthungen, die Menſchen machen, welche das Volk ſo wenig kennen als die Menſchennatur, in deren Benehmen aber auch die Kraft, das dem Volk wegzuneh— men und in ſeiner Mitte unbrauchbar zu machen, wodurch daſſelbe in den Stand geſetzt wuͤrde, das menſchlich und ſegensvoll zu erfüllen, was man ihm zumuthet, zu einer ſo groſſen Realitaͤt wird, als die Zumuthung, ſelber wie fie unter dieſen Umſtaͤnden da ſteht, als ein leeres Wort ange ſehn werden muß. Wenn mau iadeſſen gewiſſen Leuten

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verzeihen muß, daß fie nicht wiſſen, was fie thun, fo hat man noch viel mehr Anlaß Leuten zu verzeihen, weil ſie nicht wiſſen, was ſie reden. Ich kenne einen armen ver⸗ wirrten Menſchen, der alles, was er aß, auf der rechten Seite kaute und demnach glaubte, er verſchlucke es auch nur allein auf dieſer Seite; er hatte den Wahn, er ſey vom boͤſen Feind beſeſſen und dieſer ſitze ihm gerade unter dem Herzen an der linken Seite, und glaubte, er muͤſſe ihn hungern laſſen; wenn er ihn ſpeiſete und traͤnkte, wuͤrde er ihn noch doppelt plagen. Er war in ſeiner Verirrung ſo verhaͤrtet, daß er feſt glaubte, wenn er ſeine Speiſen nur auf der rechten Seite kaue und herunterſchlucke, fo werde dann nur ſeine rechte Seite davon genaͤhrt, ſeine linke aber nicht. Die Menſchen, die glauben, es ſey moͤg⸗ lich nur für das Herz des Volke zu forgen, ohne zugleich ſeinen Kopf vorwaͤrts zu bringen, ſind ganz gewiß in die⸗ ſen Anſichten dieſem verwirrten Menſchen gleich. Man kann den Kopf des Volks freylich nicht menſchlich bilden, ohne das Herz zu veredeln; aber es iſt umgekehrt eben ſo wahr, daß man, ohne ſeinen Kopf zu bilden, fein Herz unmöglich menſchlich befriedigend veredeln kann. |

Wenn ich aber an die Quelle denke, aus welcher diefe Soͤnderungsneigung bey einigen für fie laut ſich erklaͤren⸗ den Menſchen entfpringt, fo ſcheint fie mir oft aus Gefin nungen zu entſpringen, mit welchen die franzoͤſiſche Natio— nalverſammlung das Daſeyn eines hoͤchſten Weſens ans erkannte. Sie hätte in dieſem Augenblick auf keine Weiſe kraftvoller beſcheinigen konnen, daß fie des Weſens, deſſen Daſepn fie erkannte, nicht viel wolle. Doch fo bedeutungs⸗

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voll ſind die Worte, die dieſe ſorgenvolle Neigung ausſpre⸗ chen, nur in weniger Mund; ihrer viele ſprechen daſſelbe und viele andere dergleichen Worte nur darum aus, weil ſie gewohnt ſind, den Mantel nach dem Winde zu haͤn⸗ gen, und weil ſo ein Wort gerade auf dem Kuͤchenzeddel in den Haͤuſern, an deren offenen Tafel ſie gerne zu Tiſche ſitzen, an der Tagesordnung find. Viele, die dieſe Art bö> ſer Worte brauchen, wiſſen eigentlich gar felten, was die Worte, die ſie dazu brauchen, in ihrem ganzen Umfang ſa⸗ gen wollen. Sie kennen weder die Urſachen, warum die Souffleurs dieſes täglichen Spielwerks fie in Umlauf gebracht, noch die Folgen, die ihr Zirkuliren auf Große und Kleine im Volk hat. Dergleichen Menſchen finden ſo ein Wort im Strom, in dem fie ſelber ſchwimmen, ganz zufällig; und wenn Morgen ein anderes dieſem entgegengeſetztes Wort oben⸗ auf ſchwimmt, fo. halten fie ſich ebenfalls wieder an dem⸗ ſelben. Wer die Geſchichte der wechſelnden Meinungen ſol⸗ cher Menſchen, beſonders ſeit 20 und 50 Jahren bemerkt hat, der findet allenthalben die ſonderbarſten Widerſpruͤche derſelben. Ich will nur einen, der zu meiner Zeit in mei⸗ nen naͤchſten Umgebungen ſtatt fand, beruͤhren. Als La⸗ vater das Herz des Volks naͤhrte und dem Wort der Schrift glauben machte, wie es geſchrieben war und da ſtand, ſchrien dieſe Leute, ſo laut ſie konnten: Das Herz iſt nicht alles, der Glaube iſt nicht alles; das Volk braucht auch Kopf und Kopfsbildung für fein Leben. Und da jetzt, ſo viele Jahre ſpaͤter, die Elementar-Bildung von einer Seite auch den Kopf anſpricht, ſchreyen ſie wieder: Hin⸗ weg mit dieſem! das Herz allein taugt etwas fuͤr's Volk.

Wahr⸗

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Wahrlich ſie gleichen den Menſchen, von denen geſchrie⸗ ben ſteht: Wir haben euch gepfiffen, und ihr habet nicht getanzt; wir haben euch Klagelieder geſungen, und ihr has bet nicht getrauert. Dieſe Menſchen aber, die der Tages⸗ wind wie eine Wetterfahne treibt, find in Ruͤckſicht auf ſich · ſelbſt und perſoͤnlich ins Aug gefaßt keiner groſſen Auf⸗ merkſamkeit werth. Sie ſind meiſtens nur die Werkzeuge von Menſchen; die a. Mei: re in den ee der Zeit hineinwerfen. f

Dieſe ſind es, f. welche die aka mer 1 05 Geſchurdus beſonders in den Tagen gerichtet ſehn ſoll, wo öffentliche Verwirrungen die Leidenſchaften der Menſchen ge: reizt haben. In ſolchen Tagen erſcheinen ſolche zum Oben auf⸗ Schwimmen gebrachte Meinungen, gewoͤhnlich mit ei— nem Flitterglanze umgeben, in den Wellen des Zeitſtroms, und die Menge des nicht durch dieſe Meinungen, ſondern durch die Thatſache feiner wirklichen Umfrände aus dem Gleichgewicht gehobenen, neuerungsſüͤchtigen und oft in ſei— ner Neuerungsſucht nothduͤrftigen Volks ergreift dann den Trugglanz ſolcher zum oben auf ſchwimmen gebrachten Meinungen, oft wie ein Schiffbruͤchiger, der einen Stroh— halm für einen Maſtbaum anſieht. Wo die Menſchenhau— fen einmal, aus welchen Umſtaͤnden es iſt, aus dem Gleich— gewicht ihrer Ruhe und ihres innern Friedens gebracht ſind, da verlieren ſie ſo leicht ihren guten Sinn und Denk in ei— nem Grad, der ſie unter Umſtaͤnden, die ihre Veritrung nahe beruͤhren, beynahe handeln macht wie den Brandbe— ſchaͤdigten, der vor Schrecken uͤber die Feuersbrunſt, die er litt, den Kopf ſo ſehr verlor, daß er in dem Hauſe, in

Peſtalozzi's Werke. VIII. 17

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dem er nachher wohnte, weder auf dem Heerd noch in dem Ofen mehr ein Feuer anzuͤnden ließ.

Wenn indeſſen die Idee der Elementarbildung einigen, die das Licht ſcheuen und die Dunkelheit lieben, ein Licht ſcheint, das dem Volke zu hell zuͤndet, ſo ſcheint ſie hin⸗ gegen andern, die, weil ſie an Kunſtfeuer und Blendla⸗ ternen gewoͤhnt, das bloß natuͤrliche Tageslicht fuͤr ihre Augen zu ſchwach finden, nicht hell genug, und es ſind nicht etwa bloß Maͤnner, die fuͤr Licht und Wahrheit ei⸗ fern, und Feuer und Leben fuͤr beide in die innern Ver⸗ haͤltniſſe des Volkes bringen, ſondern auch ſolche, die in an⸗ dern Verhaͤltniſſen fuͤr Licht und Wahrheit eiskalt ſind, wel⸗ che die Methode nicht hell, nicht eingreifend, nicht bren⸗ nend genug finden. Es iſt merkwuͤrdig: Maͤnner, die nichts dagegen einwenden, wenn die Maſſe der Kinder ih» res Landes von Morgen bis an den Abend dem elendeſten

Schul: Mechanismus Preis gegeben werden, finden , thode zu mechaniſch, zu langweilig, zu zeitfreſſend, als daß man zugeben koͤnnte, daß die guten Landkinder ſich ein paar Jahre damit beſchaͤftigen; hingegen finden ſie in der Regel nur gar nichts dagegen einzuwenden, dafi eben dieſe guten Landkinder gezwungen werden, die ganze Reihe ihr rer Jugendjahre Schulen zu beſuchen, in denen ſie weder denken, noch reden, noch beobachten, noch arbeiten lernen, ſondern in allem dieſem noch verwirrt und gegen die Na« tur zuruͤckgeſetzt werben. Dieſe Menſchen, von denen ich zwar nicht glaube, daß fie in andern Dingen ſo unpſycho⸗ logiſch und inconſequent urtheilen, entſchuldigen alles un⸗ läugbare Verderben in dem unlaͤugbar unbefriedigenden Zu⸗

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ſtand der offentlichen Schulen damit, daß immer einige gute Subjekte, und achtungswuͤrdige Männer aus denfelben her aus kommen. Geſchieht denn doch auf Erden etwa eine Schlacht, aus der gar niemand mit heiler Haut ausgehe? Doch ſie moͤchten entſchuldigen, was ſie entſchuldigen; aber fie fordern, daß aus unſern Verſuchen lauter gute Sub» jekte herausgehen, und wollen uns auf 20 und 30 Jahre dafuͤr verantwortlich machen, was aus jedem Kind werde, das bey uns gelernt hat. Ob ein unwiſſender Tropf, ob ein elender Knabe, den Schild der Methode um des lieben Brods willen, oder um der Conſcription oder einem be— ſchwerlichen Handwerk zu entgehen, ausgehaͤngt, darnach fragen ſie nicht. Wenn ſeine Kinder mißrathen, ſo iſt nicht der arme Tropf, ſondern die arme Methode Schuld. Dieſe Leute, die einen jeden andern Schulmeiſter beloben, wenn ſeine Kinder am Examen wohl beſtehen, und nicht einmal fragen, durch welche Kuͤnſte er es dahin gebracht, daß ſie an dieſem Tage mehr ſcheinen, als ſie einen Tag vorher waren, und einen Tag ſpaͤter wieder ſind, fordern von unſern Zoͤglingen ſammt und ſonders, daß ſie durch ihr ganzes Leben beweiſen, daß die Methode gut ſey. Ob dieſe uns auch unreif aus den Haͤnden genommen werden, oder ob ſonſt ihre Bildung ſtoͤrende Umſtaͤnde obgewaltet, das achten ſie nicht; die Jahre, die ſie in unſern Haͤnden geweſen, entſcheiden ihnen nicht nur über den Werth des Inſtituts, ſondern ſelbſt uͤber denjenigen der Methode. Doch genug hievon.

Noch habe ich die Elementar-Bildung von einer am dern Seite nicht genug in's Auge gefaßt, naͤmlich von Sei⸗

: 17

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ten ihres Einfluſſes auf die Kunſtbildung unſers Geſchlech⸗ tes. Auch dieſe muß, wenn ſie wahrhaft elementariſch ſeyn ſoll, von der Anerkennung der Einheit unſrer Natur aus⸗ gehen. Wenn die Kunſt menſchlich ſeyn ſoll, das heißt, wenn fie den Menſchen wirklich zum Bewußtſeyn der Wuͤr⸗ de feiner Natur und zu den Fertigkeiten eines mit ihr uͤbet⸗ einſtimmenden Seyns und Lebens hinfuͤhren ſoll, ſo muß ſie nothwendig von der Erhebung des Geiſtes und des Her⸗ zens, als von ihrem innern weſentlichen Fundament, aus⸗ gehen, und ſich dann durch Ausbildung unſrer Sinne und unſrer phyſiſchen Kraͤfte aͤußerlich ausſprechen. Gott iſt die Urquelle der hoͤchſten, reinſten Erhebung des Herzens! In ſo weit die Anſichten und Gefuͤhle eines Menſchen vom Hoͤchſten, vom Erhabenſten, deſſen ſeine Natur fähig iſt, vom Goͤttlichen ausgehn, in fo weit iſt er auch für das Weſentliche, Innere, Heilige und der: Menſchennatur Se: genbringende wahrhaft empfänglich und dadurch auch für die Erlernung aller aͤußern Mittel der Wen in e weit vorbereitet. An 4

Der Menſch, dem die Welt, nur, he die Ae einer idealiſchen Schöpfung in den Wipfeln, der, ‚Bäume, bey dem Sprudeln der Quelle, auf den Gipfeln der Berge, in der Unermeßlichkeit der Meere veredelt u. ſ. w. in's Auge faͤllt, ſteht darum auch auf einer weit niedrigern Stufe der Kunſtempfaͤnglichkeit, als der, der in allen dieſen Erſchei⸗ nungen den Schöpfer feiner ſelbſt, und die Quelle jeder, Ver⸗ edlung, jeder Erhöhung, die in ihm ſelbſt und in ſeinen Umgebungen auffaͤllt, erkennt, und in Folge deſſen alle dieſe

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Erſcheinungen mit dem ganzen Feuer ſeines Genies in fi 5 N und in ſein ganzes Weſen aufnimmt.

Ebenſo ſteht auch der Menſch, deſſen en nur aus aͤußern Uebungen der Kunſtkraft, ſey es im allge: meinen oder in der Anwendung auf ein beſonderes Kunſt— fach, ſowohl als der, deſſen Entfaltung zur Kunſt nur aus der Einſicht in das Geiſtige der Kunfifrafte hervorgeht auf einer tiefern Stufe der Kunſt als der, deſſen Entfaltung zu ihr aus dem Weſen ſeiner geiſtigen Natur ſelber hervor— geht; und der Menſch, deſſen Kunfifraft aus den Uebungen in irgend einem Kunſtfach ſelber hervorgebracht worden, ſteht eben alſo auf einer weit niederern Stufe der Kunſt— bildung, als der, deſſen dießfaͤllige Kraft aus der reinen und allgemeinen Entfaltung feiner phyſiſchen Anlagen zur be ſelber hervorgeht.

Das ſittliche Element der Kunſtbildung iſt die ei kt⸗ liche Natur unſers Geſchlechtes ſelber, die mit der Macht ihres reinen goͤttlichen Weſens die phyſiſche Ausbildung un— ſers Geſchlechtes zur Kunſt, eben wie die intellektuelle, ſich unterordnet, und weder der einen noch der andern eine von ihr unabhangende Selbſtſtaͤndigkeit geſtattet.

Das intellektuelle Element der Kunſtbildung iſt hin⸗ wieder die geiſtige Natur des Menſchen ſelber. Ihr vor⸗ zuͤgliches aͤußeres Mittel iſt dem Kind durch das Alphabet der Anſchauung, durch die Maaß⸗ und Groͤßenlehre, ver⸗ bunden mit der Entfaltung der Denkkraft, durch die ele⸗ mentariſchen Uebungen der Sprache und der . e uiſſe, gegeben. nacht

Am Faden dieſer verbundenen Mittel a ſich die

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Kunſtkraft des Kindes ganz geiſtig. Es ſchafft aus Ver⸗ bindung von Linien Formen, und erſchoͤpft durch die Art, wie es das thut, die Graͤnzen des Moͤglichen in der Zu⸗ ſammenſetzung derſelben. Sein gewecktes Verhaͤltniß⸗Ge⸗ fuͤhl bildet ſich ein Skelet im Richtigen, eh es daran denkt, ihm Fleiſch, Farbe, Ruͤndung und Schoͤnheit zu geben. Es wird Schoͤpfer des Schoͤnen, nicht durch die Anſchau⸗ ung und Copierung einzelner ſchoͤner Geſtalten, die es ſieht, ſondern durch das innere, allgemeine Bewußtſeyn des Ge⸗ faͤlligen, Schicklichen, Schönen, das ſich durch die Uebun⸗ gen im Richtigen und Verhaͤltnißmaͤßigen in ihm ſelber ent⸗ faltet, und feinen Geiſt unmerklich auch zum Gefühl des einfach Erhabenen im Aeuſſerlichen emporgehoben und da⸗ durch diesfalls mit ſich ſelbſt in ſeinem Innerſten in Ue⸗ bereinſtimmung gebracht und faͤhig gemacht, dieſe Ueber⸗ einſtimmung ſeiner ſelbſt auch Fe durch die Kunſt bat» zuſtellen.

Die phyſiſchen Elemente der Kunſt id erſtlich: Die Sinne ſelber. Von dieſer Seite find ihre Mittel reine Sinnenuͤbungen, vorzüglich des Auges und des Ohres; zweytens die mechaniſchen Kräfte unſrer Hände und unſers Mundes, um die innerlich entfaltete Anſchauung der Kunſt auch aͤußerlich dem Auge und dem Ohr darzuſtellen. Dieſe fordern gedoppelte elementariſch-gymnaſtiſche Uebungen der Hand und der Finger, des Mundes und der Kehle. Die erſten umfaſſen alle Kunſtwerke der Zeichnung und der Pla? ſtik, die andern beſchraͤnken ſich auf die Kunſt des Geſangs.

Die Natur ift ſchoͤn; das Kind ſieht fie gern, die Mut⸗ ter zeigt fie ihm gern. Sein ganzes ſittliches und geiſti⸗

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ges und phyſiſches Daſehn belebt feine ihm natuͤrliche Aufs merkſamkeit auf alles, was ſchoͤn iſt. Von dieſer Seite hat man ſich nur an das Thun und die Erſcheinungen der Natur ſelbſt anzuſchließen. Himmel und Erde ſtehen in aller ihrer Schoͤnheit vor den Augen des Kindes; und je mehr dieſes in ſittlicher und intellektueller Bildung elemen— tariſch geweckt und genaͤhrt iſt, deſto größer iſt auch feine innere Empfaͤnglichkeit für alles Schöne. Das Kind der frommen Mutter ſteht anbetend vor der Schoͤnheit der Schoͤ— pfung; der Anfangspunkt der Entfaltung des innern Schoͤn⸗ heitsgefuͤhls iſt in ihm durch die heilige Ahnung des Er— habenen, des Hoͤchſten belebt. So ſteht auch die aͤußere mechaniſche Bildung zur Kunſt mit der intellektuellen im gleichen Zuſammenhang. Das mechaniſche Fundament al» ler Schoͤnheit, die Grundlinie des Skelets alles deſſen, was ſchoͤn iſt, geht aus dem Bewußtſeyn der Verhaͤlinißmaͤßig— keit aller Formen gegen einander hervor. Sie fordert eine gebildete Kraft, die Proportion eines jeden Gegenſtandes, mit dem Ohr ſo wohl als mit dem Auge, wahrhaft zu faſ— fen und mit der Hand und dem Munde richtig auszudruͤ— cken.

Alſo durch die elementariſchen Uebungen in der Zahl— und Form⸗ und in der Perſpectivlehre in Uebereinſtimmung⸗ mit der Erhabenheit der ſittlichen Belebungsmittel der Kunſt in den weſentlichen Anfangspunkten derſelben allgemein er— griffen, ſchreitet der Zoͤgling der Methode dann, gleichſam zum voraus dafuͤr vorbereitet und tuͤchtig gemacht, zu der Einuͤbung der mechaniſchen Fertigkeiten, die zur aͤußern Darſtellung der Kunſt in den verſchiedenen Arten ihrer

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Werkſtaͤtte weſentlich ſind. Die Aufangspunkte hierzu muͤſſen nothwendig in einer naturgemäßen Entfaltung der dem Kinde inwohnenden Kraft geſucht, und durch ein hoͤchſt einfaches Habituellmachen des Gebrauchs dieſer Kraft; ſel⸗ ber erzielt werden. Die Bemuͤhungen zu dieſem Zweck ge⸗ hen urſpruͤnglich von hoͤchſt einfachen kindlichen Bewegun⸗ „gen aus, ſchließen ſich an die täglichen Beduͤrfniſſe des Kin⸗ des und an die Beſorgung ſeiner ſelbſt, und erweitern ſich dann durch den Einfluß ſeiner aͤußern Umgebungen und ſeine erwachende Theilnahme und Sorgfalt fuͤr dieſe ſelber, wodurch ſie dann zugleich wenßhlich aue und geheiligt werden. ö AL ae 121 71.27 Was dießfalls in Ruͤckſicht auf die Kunſtwerke, die 100 Auge und Hand ausgehen, wahr iſt, das iſt es vollkom⸗ men auch von denen, die vom u und von der Rehlt aus⸗ gehen. nen TEE Innerlich 995 das e der bee ge⸗ ruͤhrt, muß das Kind mit dem aͤußern Organ ſeines Mun⸗ des, und zum Theil feiner Finger, das Weſen der Kunſt auf die naͤmliche Art darſtellen, wie es von den Harmo⸗ nien, deren es durch das Organ ſeines Auges bewußt wird, geruͤhrt, auch dieſe aͤußerlich darſtellte. Im innigſten Zu⸗ ſammenhange mit den geiſtigen Uebungen der Kunſtbildung, und nothwendig von der gebildeten Kraft des Auges und des Ohrs abhangend, find die mechauiſchen Mittel der Kunſt⸗ bildung oder die Gymnaſtik ihrer phyſiſchen Entfaltung den allgemeinen Geſetzen aller Elementar Bildung nothwendig unterworfen. Sie gehn alle von koͤrperlichen Uebungen aus, die das Kind die vorzuͤglichſten Bewegungen feiner

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Glieder kennen und die ſchicklichen davon ſich einuͤben lehrt. Dieſe Goymnaſtik iſt aber nur in ſo weit elementariſch, als ſo lange ſie allgemein iſt, und hoͤrt alſobald auf, dieſes zu ſeyn, ſo bald ſie anfaͤngt, Einuͤbungsmittel irgend eines ſpeziellen Kunſtfachs zu werden. Dieſer Geſichts punkt iſt darum wichtig, weil die ſpeziellen Anfangsmittel der Kunſt fruͤher mit den allgemeinen beynahe ganz zuſammenfallen. Deſto nöthiger iſt es, fie beide getrennt in's Auge zu faß ſen, und das reine, vollendete Einuͤben der erſten nicht durch die einſeitlige Beſchraͤnkung der zweiten zu ſchwaͤchen. Nur dadurch veredelt ſich der Uebergang des einen zu dem an. dern, und nur dadurch erhalten dieſe Mittel auch beym Ue⸗ bergang in die Anwendungsuͤbungen der Berufsfertigkeiten eine reine Baſis der Humanität. N

Die Folgen des Mangels einer ſolchen elementariſchen Kunſtgymnaſtik liegen druckend und zerſtörend auf Europa's, durch die Routineinduſtrie erniedrigten, Voͤlkern. Thieriſch an die bloſſen Handgriffe einer einzelnen iſolirten Kunſt und Berufsfertigkeit gewöhnt), ſtirbt in dem von ihr ver⸗ kruͤppelten Volk der Geiſt der Kunſt und die Kräfte felber, aus der ſie weſentlich hervorgehen, und mit ihr der Geiſt der Erfindung und ihr erhebendes Selbſtgefuͤhl; der Nach⸗ ahmung ſchwache Nachtlampe erſcheint dem geblendeten engherzigen Zeitſtuͤmper wie ein ewiges Himmielsgeſtirn; Gottes hoͤhere Natur iſt in ihm nicht mehr lebendig; in ſeinen elenden Handwerktſumpf verſunken bleibt er innere lich unerhoben vom reinen menſchlichen Sinne. Und ſo iſt es, daß der große Haufen der Zeitmenſch en fuͤr die kraftvolle Ergreifung der wahren Fundamente für ihre Be—

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rufe täglich unfaͤhiger wird, und täglich mehr außer Stand kommt, dieſe weiter zu veredeln, tiefer zu nationaliſiren und ſogar auch nur ihrer Abtrags⸗Sicherheit eine größere Dauer zu verleihen.

So weit die Kunſtbildung geiſtig, ſelber e ſo weit fie rein ſinnlich (Sinnenuͤbung) iſt, fo weit iſt die Gefahr, durch ihre Reize die Aufmerkſamkeit auf die hoͤhern Anſpruͤche unfrer edlern Anlagen zu verlieren, und durch ihre niederen Reize zur Gedankenloſigkeit und Pflicht⸗ vergeſſenheit hingeriſſen zu werden, weit weniger groß, als in ſo weit dieſe Bildung bloß mechaniſch iſt. So wie al⸗ les wahrhaft naturgemaͤße Streben und Thun des Men⸗ ſchen, ſo geht auch die wahre und naturgemaͤße Bildung des Kindes zur Kunſt, und ihr aͤußeres Mittel, die Gym⸗ naſtik, vom Nothwendigen und Ewigen zum Zufaͤlligen und Willkuͤhrlichen, und nicht von dieſem zu jenem, und eben ſo nicht vom Schicklichen und Gefaͤlligen zum Richtigen und Sich ern, ſondern umgekehrt; und ſo iſt auch das, was dem Kinde taͤglich nothwendig, täglich nuͤtzlich, taͤglich uͤblich iſt, ohne alle Vergleichung der naturgemaͤßere Stoff ſeiner dies⸗ fälligen Uebungen, als das, was ihm ſelten nothwendig, ſelten nuͤtz lich und ſelten brauchbar iſt, und ebenſo als das, was nur zu beſondern und beſonders zu dem Leben des. Individuums, das gebildet werden muß, heterogenen Zwe⸗ cken anwen dbar iſt. Daher liegt es im Weſen der elemen⸗ tariſchen Fi rung, die Uebungen im Letztern den Uebungen im Erftern zunterzuordnen, und ohne genug thuende Einuͤbung des Erſtern nicht einmal an ein lebendiges Probiren des Letztern aueh nur zu gedenken. Nach dieſen Grundſaͤtzen

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muͤſſen alſd diejenigen der gymnaſtiſchen Uebungen, welche die Entfaltung der Kraft der Glieder des Kindes zum rei⸗ nen und ungemiſchten Zweck haben, denen vorhergehen, welche die Fertigkeit derſelben zu einem beſondern Zweck ausbilden ſollen, noch mehr aber denen, welche bloß das Raffinement im Auffallenden, fo gar im Auffallendgefaͤlli⸗ gen, Grazidſen im Auge haben.

Dießfalls aber wird in der gewohnten Weiſe, die koͤr⸗ perlichen Kraͤfte zu entfalten, mehr als gefehlt am we⸗ nigſten, wo die Natur noch uns durch die Nothdurft des Lebens zu Gunſten der Wahrheit im Zaum haͤlt; aber wo nur das Geld gegen die Natur, und noch mehr wo nur die Ehre auch ohne Geld Reize gibt, gegen die Natur Ges walt zu gebrauchen, da hat die Unnatur in den koͤrperli⸗ chen Uebungen, eben wie in den geiſtigen, freyen zuͤgelloſen Lauf, und der Zeitgeiſt hat ihn maͤchtig und ſo weit be⸗ nutzt, daß das den ſo geheiſſenen gebildeten Staͤnden noch faſt allein übrig gebliebene Uebungsmittel der koͤrperlichen Kraft und Gewandtheit, die Tanzkunſt, dahin verſunken, daß eis nige Lehrer dieſer Kunſt die weſentlichſten Kraftübungen der Glieder als ihrer Kunſt nachtheilig anſehen, und ihrem Zoͤgling ſo gar mißrathen, in der Zeit ihrer Tanzuͤbung lange Spatziergaͤnge zu machen, oder viel bergan und berg- ab zu ſteigen.

Aber die Idee der Elementar Bildung iſt in phyſi⸗ ſcher Hinſicht mit dieſen Anſprüchen zur Engfüßigkeit eben fo unvertraͤglich, als fie in ſittlicher Hinſicht mit den Anſprüchen der Engherzigkeit, und in intellektueller mit den Anſpruͤchen der Engkoͤpfigkeit unvertraͤglich iſt.

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Wago aber dießfalls in Ruͤckſicht der Gymnaſtik der Glie⸗ der auffäll, das iſt in Röckſicht auf die Gomnaſtik der Ge⸗ ſang⸗ und Tonlehre eben ſo wahr. Wenn dieſe ſchon von einer. Seite, mehr als reinere, und hoͤhere Sinnenbildung inꝰs Auge, gefaßt werden, bann, ſo iſt dieſes nur in ſo weit wahr, als ihre Mittel von, der Bildung des Auges und des Ohres, und nicht, in ſo fern fie von der Bildung! der Kehle, als dem Organ der Vocal, und derjenigen der Finger, als dem Organ der Inſtrumental⸗ Muſik, abhangen. In letz⸗ ter Hinſicht iſt auch die dießfällige Gymnaſtik bloß eine ſinn— lich mechaniſche Uebung, und in ſo weit, im allgemeinen Falle, der Gymnaſtit, in ſo f fern dieſe durch einfeitig über- wiegende finnliche Eindruͤcke den. Zoͤgling von der ſittlichen und geiſtigen Erhebung ſeines ganzen Weſens. auf dem We⸗ ge der Kunſt zum niedrigen, thieriſchen, in ihm ſelbſt iſo⸗ lirten Sinnengenuß derſelben, und damit zum Verſinken in Gedankenloſi⸗ gkeit und Pflichtpergeſſenheit, im Verthoͤren ſei⸗ ner ſelbſt an den ſinnlichen Reizen der Kunſt ſelber, hin⸗ lenkt und hinlenken muß. Der Geſanglehrer, der fuͤr die Bildung zur Mufil alles, verloren gibt, wenn. feine Zoͤg⸗ linge viel laut reden, oder auch nur viel laut reden hören, iſt in dieſer Ruͤckſicht dem berährten Tanzmeiſter nahe, der feine Zöglinge weder bergan noch bergab ſteigen laſſen woll⸗ te, damit ſie ihm ihre Fuͤße fuͤr ſeine Kunſt nicht verder⸗ ben. Beide opfern die Anſichten der Einheit und Kraft der Menſchenbildung dem Sinnlichkeits > Raffinement ihres Handwerks, oder wenn ihr lieber wollt, ihrer Liebhabereg auf, ſpreche ſich jetzt dieſes in der Grace eines, Taͤnzer⸗ Pas, im Kitzel eines Teiles, oder im Kehlenſpiel einer

Fr Drepvlertels⸗Rachtigalſtitnme alis. Dadich höht“ aber auch die Gymnaſtik auf, ein Alerteutbriſges Fültamene der Menschen bildung zu 1 fehn. Nel

Dieſer Geſie ichtspunkt hit noch eine andere Seite: Je mehr einer unſter Sinne ſelbſt ganz üngetheilt ſinnlich, ic möchte fagen, ganz rein und unvermiſcht chleriſch if, und je weniger er darum auf dir Weckung des Lebens im Get und Herzen des Menſchen Eihffuß hat;“ deſto mehr und deſto allgemeiner iſt das weilgetritbene Räffine— ment ſeiner iſolirten Ausbildung den Anſprͤchen unſrer veredelten Natur und der ꝙftichtftelurg ale" der ddt Be⸗ ſtimmte ihrer Anſpruͤche hervorgeht, entgegen. m au"

Ob wohl Auge und Ohr den edlern Ach unſ⸗ rer Natur naͤher zu ſtehen feinen, als die drey andern Sinne, ſo find fie um deßwillen doch von einer ſtarken Hinlenkung gegen die bloß thieriſchen Anſprüche unfrer Na tur nichts weniger als freh. Ihre ſinnliche Richtung iſt, als ſolche, wie die Richtung aller Sinne, an ſich thieriſch und niedrig. Sie wird nur durch das Uebergetbicht der Verſtandeß⸗ und Herzensbildung Höher, menſchlicher. Wo dieſe mangeln, da wirkt die ſinnliche Kraft des Auges und des Ohretz, eben wie die der Naſe, des Gaumens und der Fingerſpitze, nur thieriſch, d. h. nicht anders als fö- rend gegen die Einheit unſrer Natur, und gegen die Erbe bung unſer ſelbſt zu reiner menſchlicher Kraft, folglich zur Entmenſchlichung unſer ſelbſt in unſern weſentlichſten Kraͤf— ten und Anlagen. Die Folgen davon ſind fuͤr alle Staͤnde der Menſchen allgemein wichtig und verderblich. Vorzüg— lich druͤckend aber wirken fie auf die niedern Volksklaſſen.

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Wahrlich, es iſt von diefer Seite nicht abzuſehn, in wel chem Grade es dieſer Klaſſe Menſchen beſonders ſchaͤdlich iſt, wenn man fie an dem Kitzel der Theater⸗ Tänze, der Kehlen, des Koch- und Kleider; Raffinements der Men⸗ ſchenklaſſe Theil nehmen läßt, deren geiſtiges, ſittliches und ꝓhyſi ſches Leben ſich ganz in dem Kitzel des Raffinements dieſer Tänze, dieſer Schuͤſſel und dieſer Kleider herumtreibt. Es iſt gewiß: Man kann den Mann, der Erdaͤpfel baut, und das Weib, das Flachs ſpinnt und Schagfe haͤlt, nicht wohl ungluͤcklicher machen, als wenn man ſie dahin bringt, das nicht mehr gerne zu eſſen, was ſie pflanzen, und das nicht mehr gern am Leibe zu tragen, was ſie ſpinnen ꝛc. ꝛc.

Dieſe Umſtände, oder vielmehr dieſe großen Lebens⸗ wahrheiten, ſtehen mit der Naturgemaͤßheit der gymnaſti⸗ ſchen Elementaruͤbungen im innigſten Zuſammenhang. Dieſe aber hat auch in jedem Falle nur in ſo weit ſtatt, als ihre Uebungen mit der ſorgfaͤltigſten Aufmerkſamkeit auf die Ver⸗ haͤltniſſe, in denen der Zoͤgling lebt, und auf die Beduͤrf⸗ niſſe und Pflichten, die fuͤr ihn aus dieſen Verhaͤltniſſen entfpringen, betrieben werden. Würden die Kinder den Reiz dieſer Uebungen ohne den Einfluß der dießfalls noͤthi⸗ gen Ruͤckſichten genießen, ſo wuͤrde man ſie wohl durch die⸗ ſelben dahin bringen, daß ſie wie Wilde ſpringen und klet⸗ tern, aber der Mutter nicht gern helfen wuͤrden, einen Zwirnfaden aufwinden; ſie wuͤrden das Reiten, ja gar das Tanzen, Fechten und Spielen für einen beſſern Boden des menſchlichen Seyns und Treibens anſehen, als die ſtille Werkſtaͤtte des Vaters, und das muͤh ſelige Tenne am Pflug.

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Aber damit woͤrde die Gymnaſtik der Menſchheit kei⸗ nen großen Dienſt thun. Als Theil der Elementar- Bil⸗ dung hingegen, und in ihrem Geiſt wirkend, iſt ſie ſehr ferne von der Verirrung, ihren Zögling alſo mit feiner Las ge, ſeinen Umſtaͤnden, und mit ſich ſelbſt in Widerſpruch zu bringen, und ihn in ein, dieſen unpafl endes, der Wirklichkeit, der Weisheit, der Liebe, der Sittlichkeit und der Religioſitaͤt gleich entgegenſtehendes, anmaßliches Träu ; merleben hineinzufuͤhren. In vollkommner Einheit mit dem Geiſt der Elementar-Bildung im Ganzen iſt fie ges

eignet mitzuwirken, das in die Tiefen dieſes Traͤumerle⸗ bens verſunkene Geſchlecht aus demſelben wieder heraus» zuheben. Auch iſt der Weg, auf dem fie es in phyſt iſcher Hinſicht als Gymnaſtik thut, mit demjenigen, auf dem ſie durch ihre ſittlichen und intellektuellen Büdungemittel zum gleichen Ziel wirket, der naͤmliche. *

Sie lenkt ihren Zoͤgling auch dießfalls an der Hand der ihm von der Natur gegebnen Fuͤhrerinn, der Mutter, zu den erſten Fertigkeiten aller, in ſeiner Lage ihm noͤthi⸗ gen, nuͤtzlichen und für dieſelbe ſchicklichen Bewegungen; und es liegt weſentlich in ihrem Geiſt, daß dieſes von der Mutter nicht nur mit aller ihrer Liebe, ſondern auch mit aller ihrer Weisheit, d. i. mit ihrer feſten Aufmerkſamkeit auf die Lage, Umſtaͤnde, Verhaͤltniſſe, und alle daraus fliefe fende gegenwärtige und zufünftige Beduͤrfniſſe der Pfliche ten des wirklichen Lebens des Kindes geſchehe. Freplich iſt auch wahr: Dieſe Aufmerkſamleit auf die gegenwaͤr⸗ tigen und kuͤnftigen aͤußern Umſtaͤnde des Kindes muß der boͤhern Aufmerkſamkeit auf das Weſen feiner Natur ſel—

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ber ‚Nnbergegrnet, werden; aber dafuͤr hat die Natur ſelber geſorget. Das Weſen des Kindes, es ſelber, liegt der für, ihre Bestimmung, nicht verdorbenen Mutter näher, am Her⸗ zen, als alle feine Umſtände. Bey einer dafuͤr verdorbe⸗ nen Mutter if das fres bplich nicht ſo; aber dann ſteht auch in ſo weit alle Kunſt fur das Kind, ſtill, und ich weiß dem armen Kinde, das in dieſer Lage iſt, nichts zu ſagen, als helf bir Gott; er geb’ dir eine edle Seele, einen Chriſten, einen Seelſorger, der fuͤr deinen Vater und deine Mutter

ein Entfalter und Beleber des Heiligen, Hohen und Ewi⸗ gen ſeh, der in deiner Mutter fuͤr dich verloren gegangen, und verborben, worden iſt. N Zum Glock fur das Menſchen⸗ geſchlecht iſt das diesfaͤlige Vererben d der Mutter im er⸗ ſten Alter des Kindes felten ſichtbar und fühlbar. Die Möglicfeit ber diesfäligen Verirrung hat, ſpgar nicht, ein; mal ſtatt, | lange die Mutter noch, rein inſtinktartig ‚hans delt. Sie geht erſt bey der eintretenden Schwaͤchung ihres Instinktes an. Von dieſer Zeit. hat ſie die Huͤlfe der Kunſt um bie Weiſung feſter, 1 Hunde a Aa: und meinen Ucbereinfimmung, 15 alementariſc en Bildung mittel. So wie die, Harmonie der ſüttlichen, intellektuellen und phyſiſchen Bildung unter ſich ſelber und in ihrer ge⸗ genfeitigen Einwirkung allgemein und ſicher ſenn muß z ſo muß ſie auch, im ganzen Umfang ihrer gymnaſtiſchen Mit⸗ tel und in allen ihren Zweigen, von den allgemeinen, Mit⸗ teln der Elementar⸗ Bildung zugleich belebt , und, dadurch in ſich geſchloſſen und vollendet ſeyn: ſonſt würde ſie, wat ſie auch immer von gomnaſtiſcher Seite leiſten könnte, Lu cken

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cken in's Ganze der Menſchenbildung hineinwerfen, die de: nen gleich ſind, denen ſie entgegen zu wirken beſtimmt iſt; fie würde dann aber auch aufhören, elementariſch zu ſeyn, fie wuͤrde aufhören mit der Einheit unſers Weſens in Lies bereinſtimmung zu bleiben. Aber, indem fie dieſer Forderung des ewigen Funda- ments aller menſchlichen Erziehung auch von phyſiſcher Seite genug thut, bewaͤhrt ſie auch von dieſer Seite ihren hoͤchſten Werth, ihre hohe Uebereinſtimmung mit dem Chris ſtenthum. Sie macht die Anſpruͤche unfrer Natur zum Hoͤchſten, zum Erhabenſten in ihrem Fach, zum Gemeins gut unſrer Natur. Sie bietet auch in dieſer Hinſicht dem Mann in der niedrigſten Hütte zu feiner dießfalligen Ent- faltung eben fo allgemein, eben fo wahr und eben fo this tig die Hand, als das Chriſtenthum dieſes zu feiner ſitt— lichen Entfaltung thut; fie befriediget den Mann mit ſchwa⸗ chen Anlagen zur Kunſt in den Schranken, in denen er der Kunſt fähig iſt, und zwar hinwieder durch eben die Mit— tel, durch die ſie den Heldenſinn des Kunſtgenies zur hoͤch— ſten Kraftentfaltung ſeiner dießfaͤlligen Anlagen emporhebt.

Auf die naͤmliche Weiſe koͤnnen die Anlagen und Kraͤf— te, von denen die menſchliche Veredlung durch die Kunſt ausgeht, nicht durch irgend eine aͤußere Geſchicklichkeit und Fertigkeit in die menſchliche Seele hineingebracht werden; und eben fo iſt bey dem Kunſtgenie fein angebornes Stre— ben nach Vollendung, nach Vollkommenheit in ſeinem Thun, eine von der Natur ſelbſt hervorgebrachte Folge der Wahrheit und des Lebens in der Kunſt, und des Organis— mus ihres Wachsthums ſelber.

Peſtalozzi's Werke. VIII. 18

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Hinwieder iſt auch jede elementariſche Uebung der Kunſtkraft in ihrem Weſen eine Handlung der Kunſt ſel⸗ ber, und zwar eine ſolche, die von dem Standpunkt der Kunſt, auf dem das Kind ſteht, als Folge feines Kunſt⸗ lebens zur Staͤrkung dieſes Lebens und zur Vollendung ſei⸗ ner ſelbſt durch daſſelbe ausgeht.

Eben ſo iſt auch in Ruͤckſicht auf die phyſi ſche Bil⸗ dung zur Kunſt wahr, daß die Reize und Beweggruͤnde zur Anſtrengung in derſelben, in ſo fern ſie nicht aus dem Weſen der Kunſt und ihrem reinen Einfluß auf die Men⸗ ſchennatur ſelber hervorgehen, auf die Entfaltung der Kraͤfte, aus denen die Kunſt hervorgeht und hervorgehen muß, nicht naturgemäß hin wirken, folglich auch zur reinen, in die ganze Menſchennatur zu ihrer Veredlung harmoniſch eingreifenden, Ausbildung derſelben nichts taugen, und daß jede Einmiſchung der Eindruͤcke der Ehre und Schande, ſel⸗ ber das idealiſche traͤumende Bewußtſeyn der dießfaͤlligen Kraͤfte, und die Vergleichung derſelben mit dem Grade die⸗ fer Kraͤfe in einem andern, für den Zögling der Kunft kein rein bildendes Mittel ihrer Entfaltung iſt. Nur das die Menſchennatur in Unſchuld erhebende Gefühl der gerathe— nen Kunſtarbeit, die Schoͤpfung des Kunſtwerks ſelber, nur dieſes iſt allein als rein kunſtbildend, dem Fortſchritte des Zoͤglings im ganzen Umfang der Anſpruͤche ſeiner Natur wahrhaft dienend, anzuſehen.

Von Leidenſchaften gereizt, ihrer Unſchuld Berauht) in ſich ſelbſt uagoͤttlich, bildet auch die Kunſt, und ihr ele⸗ mentarıfches Mittel der phyſiſchen Gymnaſtik, den Men⸗ ſchen nicht naturgemäß, nicht goͤttlich, nicht menſchlich.

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Das Menſchliche in unferer Natur entkeimt nur aus dem Goͤttlichen, das in ihr geſchont und gepflegt wird; aber der Zeitgeiſt ſieht und glaubt das nicht. Die Vorſtellung des Goͤttlichen, das lebhaft fuͤhlende Bewußtſeyn des Be— duͤrfniſſes, und mit ihm das Beduͤrfniß irgend einer wirk—

lichen Harmonie in der Bildung unſer ſelbſt, iſt in ihm ges ſchwaͤcht. Ohne ſittliche, innere Höhe, befchränft auf eis nen irdiſchen Sinn, hat die Zeitbildung zur Kunſt die Ent— faltung des Menſchen in ſeiner Einheit zum hohen vollen— deten Ausdruck derſelben, zum goͤtilichen Sinn nicht einmal zu ihrem Ziel, und ſo muͤſſen ihre Bemuͤhungen zur Ent— faltung einzelner Kunſtkraͤfte des Geſchlechts nach jeder hoͤ— hern Anſicht nothwendig mißlingen. Die Zeitkunſt iſt kleinlich, ich moͤchte beynahe ſagen, kleinſtaͤdtiſch; ſelber die Helden der Zeitkunſt erſcheinen ſehr oft, im ſchlechten Sinn des Worts, buͤrgerlich unedel, und die gemeinen Haufen der Zeitkunſt zeigen ſich, wie Schnecken nach dem Regen, hinter allen Hecken und ſuchen Brod, und wenn ſie's haben, fo kriechen fie wieder in das Schneckenhaus ihrer Selbſtſucht. Der Zeitgeiſt der Kunſt iſt nicht edel er kann es nicht ſeyn: der Zeitgeiſt der Menſchheit iſt es nicht; er iſt kein Grundgeiſt der Kunſt er kann es nicht werden: ihm mangelt reine Einfachheit, edle Hoͤhe. Wer dieſe hat, uͤber den zukt das Gluͤcksvolk der Kuͤnſt— ler die Achſel, und ſagt von ihm: Der Menſch weiß nicht ſeinen Weg zu machen; und die, ſo ihn zu machen wiſ— fen, gehen auf ihm meiſtens für das Hohe und Heilige der Kunſt verloren; ſie tragen es von Grund aus ſelten in ſich, und wenn ſie es auch in ſich trugen, ſo duͤnſtet

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es in ihnen auf dem Gluͤcksweg nicht felten aus. Wer aber als Kuͤnſtler dieſes Hohe, Heilige in ſich ſelbſt traͤgt und höher als alles Aeußere ſchaͤtzt, der bringt es in der Welt ſelten ſo weit, daß die gemeinen Zeitkͤͤnſtler, wenn fie über ihn urtheilen, nicht die Achſeln zucken.

Man entſchuldigt zwar dieſe böfen Umſtaͤnde, wo fie ſich unlaͤugbar zeigen, oft mit dem Spruͤchwort: eine Schwalbe macht keinen Sommer und Handlungen von Individuen beweiſen nichts gegen irgend einen Stand. Aber es gibt in den boͤſen Tagen eines jeden Stands ein beſte— hendes Verderben des Standesgeiſts, deſſen allanſteckende und ſich allgemein in allen Standesgliedern ausſprechende | Kraft man ſich durchaus nicht verläugnen kann, indem fie ſich allgemein grell in allen Standesgliedern und oft am allergrellſten, bey denen man es wenigſtens erwarten ſollte, ausſpricht. Das begegnete mir erſt kuͤrzlich. In einem Hauptſitze der Kunſt ward an einen, im Gluͤck ſchwimmen⸗ den, Kuͤnſtler ein Juͤngting, den eine Engelsſeele und die hoͤchſten Anlagen zur Kunſt aus zeichneten, empfohlen. Er ſtand menſchlich vertrauend und von Hoffnungen ſtill er⸗ hoben, aber etwas armmuͤthig gekleidet vor dem Mann. Dieſer faßt ihn vom Kopf bis zu den Füßen in's Auge, und das erſte Wort, als er das Empfehlungsſchreiben in der Hand hatte, das er ſagte, war: Hat er Geld? Der Juͤngling erblaßte und ſchwieg, und der Gluͤckbritter der Kunſt kehrte ſich ſogleich von ihm weg zu einem andern von ſeinem Orden, und ſagte zu dieſem: Wenn ein jeder Bettler, der Kunſitalente hat, fie auch ausüben koͤnnte, was wuͤrde dann aus uns werden? Er hatte Recht. Die Gluͤcks⸗

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ritter der Kunſt würden dabey verlieren, aber die Kunſt wuͤrde dabey gewinnen.

Der Vorfall ging mir ſehr zu Herzen. Ich faßte ihn mit dem Einfluß, den dieſer ſelbſtſuͤchtige Geiſt auf alles Seyn und Leben der Menſchen hat, das mit der Kunſt und dem Kunſtfleiß zuſammenhaͤngt, in's Auge, und konnte mich nicht enthalten zu denken: Wenn das am gruͤnen Holz geſchieht, wenn ausgezeichnete im Gluͤck ſchwimmende Kuͤnſt— ler, die zugleich fuͤr die Erhebungen der Kunſt in den vor— theilhafteſten Umgebungen leben, ſich gegen die Humanitaͤt in der Kunſt alſo verhaͤrten; was muß denn wohl dem duͤrren Holz der niederen Kunſt, um das ſich gemeine Hand— werks- und Fabriksſeelen herumtreiben, begegnen! wie grob— ſinnlich und armſelig muͤſſen ſich denn dieſe Leute wohl bey den Au ſpruͤchen der Selbſiſucht ihrer Gilden und Zunft— rechte gegen die Concurrenz derer benehmen, die in ihrer Stadt und ihrem Dorf mitſchneidern, mitſchuſtern und mit— fabriciren, und fie fo aus der wohl hergebrachten Komm— lichkeus⸗Lage ihrer Routinen-Genießungen gegen Fug und Recht herausſtoßen wollen, wenn fie mit den Undelikateſ— fen der Denk- und Handlungsweiſe ſolcher Kunſtigluͤcksrit— ter auch nur au niveau ſtehen ſollen!

Der Einfluß dieſes niedern Sinnes in den hoͤhern Re— gionen der Kunſt iſt beſonders in einem Zeitpunkt und in einem Land wichtig, wo die Eitelkeitsanſpruͤche vieler Men— ſchen und vieler Menſchenklaſſen durch die Umſtaͤnde ſchon außerordentlich gereizt, und der Brodneid vielſeitig noch durch die Gefühle ſtoßender Erniedrigung krampfhaft gewor⸗ den. So groß indeſſen die innere Verhaͤrtung iſt, zu der

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die gereizte Selbſtſucht der Zeitmenſchen unſers Geſchlechts dießfalls hinfuͤhrt, und fo ſehr fie nicht nur in ſittlicher und intellektueller, ſondern auch in Kunſthinſicht in vielen Ge⸗ genden dahin gekommen, die beſten Koͤpfe, die Gott im Lande ſchuf, zu hindern, mit dem Tugend-, Weisheit» und Kunſtperſonale deſſelben in freyer, edler, ungekraͤnkter Stellung zu concurriren; ſo vermochten dieſe harten Waͤchter der ihnen ungebuͤhrlich ſcheinenden Ausdehnung der Kraft-, Weisheit: und Kunſtconcurrenz es doch nicht, auch die Zahl der fuͤr die Wiſſenſchaft und Kunſt verbildeten Halb⸗ koͤpfe zu mindern, und die Menſchheit von der Ueberlaſt durch Hunger und Eitelkeit gleich etelhaft belebter Pfuſcher in beiden zu erloͤſen.

Die Zeitwelt, ſo ſehr ſie auch den leeren Schein liebt und hieruͤber ſchwach iſt, erkennt es jetzt doch ſelber auch nach ihren beſchraͤnkten Anſichten fuͤr ein Ungluͤck, daß zahl⸗ loſe Menſchen vom leeren Wiſſen verblendet, ohne Entfal- tung für innere Menſchenkraft und Menſchenwuͤrde, An— ſpruͤche an wiſſenſchaftliche Bildung machen, mit denen ſie am Ende zu ihrem Verderben in den offenen Schlund des gemeinen Weltſinns und aller feiner Niedrigteit, wie arme Wuͤrmer und Haͤringe in den offenen Schlund des Groß thiers im Meer, des Wallfiſches, hineinfallen. Ebenſo groß iſt das Ungluͤck, daß zahlloſe Menſchen ohne Kunſtanlagen und ohne Kunſtkraft Anſpruͤche auf Kunſtbildung machen, mit denen fie am Ende nur dahin kommen, als Menfchen für ſich felber und für ihr Geſchlecht eben ſo wie fuͤr die Kunſt verloren zu gehen.

Die Quellen dieſes Ungluͤcks liegen tief in unſrer Lage,

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und die Folgen ihres alten und tiefen Einwurzelns find groß. Wie es ſich von ſelbſt erklaͤrt, daß ein Bach, der ſich ſein krummes und landverderbliches Bett ſeit Jahr— hunderten gegraben, nun ſo lange in demſelben fortgelau— fen, endlich auf keiner Stelle mehr eine ſtarke, kraftvolle Neigung zeigt, gegen die Punkte hinzulenken, von denen aus er in gerader Linie fortlaufen und wohlthaͤtig auf feine beyden Ufer hinwirken koͤnnte; fo erklaͤrt es ſich auch von ſelbſt, warum der Zeitgeiſt durchaus keine kraftvolle Neigung zeigt, Kunſt- und Wiſſenſchaftshalber auf einfa— che, gerade und naturgemaͤße Grundſaͤtze und Mittel der Volksbildung hinzulenken; es erklaͤrt ſich vollkommen, wa— rum man in Ruͤckſicht auf dieſe Bildung von der einen Seite ſo lang mit ſo großer Lauheit gehandelt, und ſo we— nig gethan, ſie im Allgemeinen zu wecken und zu beleben; hingegen auf der andern Seite die Kunſt fuͤr Menſchen all— gemein machen wollte, die ohne Anlagen fuͤr die Kunſt das Lehrgeld für einige hundert iſolirte Kunſtſtunden zu zah— len geneigt und im Stande wären. Eben ſo ertlaͤrt ſichs, warum man auch die Wiſſenſchaft, und zwar wieder ohne Ruͤckſicht auf beides, auf den Grad der Aalagen des Zoͤg— lings und nicht ſelten auch des Lehres, populariſiren woll— te. Es war aber nicht immer alſo und wird nicht immer fo bleiben. Die Einheit unfrer Natur, dieſes einzige Fun— dament einer wahrhaft ergreifenden Bildung, das vom Zeits geiſt ſo ſehr und ſo allgemein mißkannt iſt, war es in der Vorwelt nicht alſo. Nein, es waren andere Zeiten und es werden wieder andere Zeiten kommen, und jeder durch Einfachheit und Religioſitaͤt innerlich erhobene Zeitpunkt

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ſteht den Anſpruͤchen der Natur an unfre Bildung und dem Fundament der Elementar- Bildung unendlich naͤher, als unſer ohne dieſes Fundament in einer einſeitigen, oberfläch- lichen Kultur auf einen hohen Grad des Raffinements fort- geſchrittenes Zeitalter.

Männer des Vaterlandes! noch find in unſern Umge⸗ bungen überall Spuren von dem beſſern Geiſt der Erzi⸗⸗ hung in der Vorzeit. Aber wir find in Ruͤckſicht dieſer Spuren einem Lande gleich, das, nachdem es feine Eifen- werke, feine Hammerſchmieden und feine Schmelzhuͤtten ver: loren, nun um den Ueberreſt feines alten Eiſen-Reich⸗ thums doch nicht ganz verroſten zu laſſen, zum Klemper⸗ handwerk ſeine Zuflucht nimmt. f

Wenn es aber auch nicht in der Sache ſelbſt laͤge, wenn auch das Weſen der Menſchennatur das Herabſinken der Kraͤfte unſers Geſchlechtes auf dieſer Bahn nicht an ſich ſelbſt erkennen und als nothwendig voraus ſehen laſſen wuͤr⸗ de, und wenn wir auch blind genug waͤren, unſer Uebel von dieſer Seite nicht erkennen zu koͤnnen, ſo ſollte uns doch die Macht der Erfahrung, die uns den Gang dieſer alſo verſuchten Standes- und Berufsbildung offen vor Au⸗ gen gelegt, hierüber aufklaͤren. Die Folgen ihres Verder⸗ bens ſind auf ihre oberſte Hoͤhe geſtiegen. Sie konnten nicht anders. Sie iſt mit einem prononcirten Unglauben an das Hohe und Heilige der Menſchennatur und durch Mittel betrieben worden, welche die hoͤhern Anſpruͤche der Menſchennatur dem irregeführten Geſchlechte faſt wie dem Bock, zu dem geſagt war; rühr nicht, es brennt! den heiſ⸗ fen Aſchenhaufen in die Augen fallen machen mäßten..

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Aber auf der andern Seite konnte eben fo wenig feh— len, das alſo eingelenkte Klemperhandwerk der Berufs- und Standesbildung mußte ſein Verderben in ſich ſelbſt finden, es mußte den natürlichen Folgen feiner eignen Beſchraͤnkung unterliegen.

Die Realitaͤt alles deſſen, was zu jeder, auch noch ſo beſchraͤnkten, Standes- und Berufsbildung weſentlich noth— wendig iſt, war der Schraͤche des Zeitgeiſtes bald zu be— ſchwerlich. Er lenkte nun vollends 10 einem idealiſchen Traͤumerleben.

Das Ungluͤck davon iſt doppelt groß, weil die Men⸗ ſchen, die in die Verirrungen eines ſolchen Träumerlebens hineinfallen, wenn ſie ſich auch geſtehen muͤſſen, daß ſie ihr Leben fuͤr den bildenden Einfluß auf ihre Bruͤder, die Men— ſchen, verloren, es gemeiniglich noch gar nicht gern ſehen, wenn andere Leute ihr Leben dafuͤr gewinnen wollen.

Am laͤndesverderblichſten iſt dieſer Umſtand, wenn dieſe idealiſchen Traͤumermenſchen, in andern Ruͤckſichten, noch die aͤuſſerlich Gebildeteſten im Lande find, und in beſtimmten Ruͤckſichten nicht nur mehr glaͤnzen, ſondern wirklich mehr ſind, als die, welche bey aller ihrer Schwaͤche und bey al— lem ihrem anderweitigen Zuruͤckſtehen mehr Naturkraft an ſich ſelber erhalten und mit dieſer fuͤr das Volk verſuchen, was den andern nicht moͤglich iſt. In dieſem Fall zeigt das menſchliche Herz dann oft ſeine Tuͤcke grell.

Die Elementar-Bildung reinigt durch ihr Weſen das Herz von dieſen Tuͤcken; ſie macht den Menſchen die Groͤße der Menſchennatur mehr im Geſchlecht, als in ſich ſelbſt und in feiner Individual⸗Kraft ſuchen, erkennen und ſchaͤ⸗

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gen, Der wahre Sohn der Elementar - Bildung iſt in je⸗ dem Fall fern davon, irgend einen Lichtſtrahl, den er nicht in den Focus ſeines Auges zu bringen vermag, fuͤr einen Glanz zu erklaͤren, fuͤr den kein menſchliches Auge einen Focus habe. Im Gegentheil, er achtet die Kraft des einzel— nen Menſchen in jedem Fall gering gegen die Kraft unſers Ge⸗ ſchlechtes, und ſchaͤtzt die Wirkung der Methode nicht in ſo weit ihre Kraft in einzelnen Menſchen lebt und in einzelnen Menſchen wirkt, jondern in fo weit fie im ganzen Geſchlecht liegt und durch unſer ganzes Geſchlecht wirkt, wichtig und hoch. Aber fo von dieſem ausgehend, glaubt er denn auch ihre Kraft ſo weit gehend, als die Kraͤfte unſrer Natur ſelbſt hinfuͤhren. 5

In der beſondern Anſicht, die obwaltet, vertrauen wir ihr; ſie ſcheidet das gute Korn von der Spreu: der Schein der Zeit beſteht nicht neben ihrer Wahrheit; der Traum der Zeit nicht neben ihrer Kraft. Wir haben in ſittlicher und intellektueller Hiuficht die Gründe in's Auge gefaßt, die uns zu dieſen Aeußerungen zu berechtigen ſcheinen; aber wir glauben es auch in Ruͤckſicht auf die Kunſtbildung ſagen zu duͤrfen: Ihre Mittel beleben das Innerſte unſrer Natur; ſie geben dem Zoͤgling ihren Geiſt; ſie machen den Kuͤnſtler feine Kraft und den Nichtlünfiler feine Ohnmacht in ſich feibft fuͤhlen; fie ſchrecken den Untauglichen von ihr rer Laufbahn ab, noch ehe er fie betreten, und ziehen den Tauglichen mit einer Kraft zu ihr hin, der er nicht zu wiverftehen, vermag.

Aber wenn man auch nun alles dieſes zugibt, iſt denn um deßwillen in unſrer wirklichen Welt der Sieg fuͤr die

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Methode gewonnen? O, nein! die Zeitſprache ſieht ſich

durch dieſe Anſichten nicht einen Augenblick in Verlegenheit

geſetzt; fie ruͤmpft über die Unkunde derer, die nicht ſehen,

was ſie ſieht, und nicht erkennen, was ſie erkennt, maͤch— tig die Stirn, und ruft uns mit der Miene der Welt- und Menſchenkenntniß die Worte zu: Aber wozu die Erhöhung der Menſchenkraft? Man mache die Menſchen zuerſt hoͤ—

her, und dann, aber auch erſt dann gebe man ihnen bö- here Kraft. Und um diefem weiſen Rath das allerhoͤchſte Gewicht zu geben, ſetzen gar viele von den Leuten, die

ihn zu ertheilen gewohnt ſind, noch hinzu: wir ſind ja

auch groß geworden und wußten doch kein Wort von ei— ner Elementarmethode.

So ſchoͤn das toͤnt, iſt doch auch wahr: groſſe Leute ſagen nie, daß ſie gros ſind; hingegen ligt es in der Eng— herzigkeit aller Kleinen, daß ſie gros ſeyn moͤchten. Es iſt natuͤrlich, der ſchwache Menſch wittert in der Naͤhe eines jeden Menſchen, der mehr Kraft hat, als er, Gefahr fuͤr ſeine Schwaͤche, und kommt in dieſem Fall ſehr leicht da— hin, dieſe Gefahr, die ihm drohet, feinen lieben Mitbuͤr— gern gern als eine Gefahr fuͤr ſie alle, fuͤr ihre Stadt, fuͤr ihr Land, für ihre Herrſchaft und für ihren Glauben, für ihre Kinder und Kindskinder in die Augen fallen zu mas chen. Es iſt gewiß der Gedanke: Nuͤtzt denn die Erhoͤ— hung der Volkskraft auch etwas? kommt auf dieſem Weg in vieler Menſchen Herzen, ſo wie die dieſer Meinung zur Beſtaͤtigung dienende Anſicht, der Drang höher zu ſtreben ſey in jedem Fall der menſchlichen Ruhe gefaͤhrlich, und es

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fen immer beffer, man laſſe ſchlafen, was ſchlaͤft, und blind ſeyn, was blind iſt.

Gewiß wurmte es in der Seele eines ganz gewand— ten Geſchaͤftsmannes in dieſem Sinne, da er neulich in gu— ter Geſellſchaft als Beleg des Machtſpruchs: es nuͤtze nichts, das Volt gar zu gut zu ſchulen, anbrachte, es muͤſſe ja auch Maumwuͤrfe haben; fonft hätte ja der liebe Gott keine geſchaffen, und wie ungluͤcklich waren dieſe Thiere unter dem Boden, wenn fie gute Augen hätten.

Was ſollen wir zu allem dieſem ſagen? Wir glauben an die allgemeine Guͤte aller Gaben Gottes, und denken es nicht moͤglich, daß die richtige naturgemaͤße Ausbildung dieſer Gaben dem Menſchengeſchlecht jemals zum Nachtheil gereichen koͤnne; wir glauben im Gegentheil: die Ausbil: dung dieſer Gaben ſey durchaus nicht der Willkür der Menſchen uͤberlaſſen, ſondern fie gehöre beſtimmt in den Mittelpunkt des Pflichtgebietes unſers Geſchlechts, oder viel⸗ mehr, fie ſey dieſer Mittelpunkt ſelbſt; und unſre dießfaͤlli⸗ gen Anſichten ſind auch durch die erſten, unabaͤnderlichen Anſichten der Religion und des Chriſtenthums gerechtfer— tigt und beſtaͤtiget.

Aber man entfernt die Anſicht der Pflicht und der Re— ligion von dieſem Geſichtspunkt, und zeigt vielſeitig die Neigung, unſer Urtheil von der Nothwendigkeit, dem Volk durch höhere Entfaltung feiner Kräfte und Anlagen in feis nen weſentlichſten Beduͤrfniſſen behuͤlflich zu ſeyn und zu dienen, unſerm Zeitgeiſt nicht blos eine Sache der menſch— lichen Selbſtſucht und ihrer boͤſen Eitelkeit in die Augen fallen machen, und wirft ſelber, in Ruͤckſicht auf uns, der

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reinen Anſicht der Frage den boͤſen Mantel der Aufmerk ſamkeit auf die Perſoͤnlichkeit unſers Seyns und Thuns um; man rückt uns Stolz vor und behauptet: wir gaͤben der Idee der Elementar⸗Bildung einen groͤßern Werth, als fie wirklich habe. Es iſt wahr: wir geben dieſer Idee einen ſehr großen Werth, und viele edle Männer in vielen Lan⸗ den bauen mit uns wichtige Hoffnungen fuͤr das Wohl des Menſchengeſchlechts auf ſie; und auch das iſt wahr: viele von dieſen haben ſich mit Waͤrme und Lebendigkeit uͤber dieſe Hoffnungen ausgedruckt, und einige von ihnen haben wirklich ausgeſprochen, es fen von der Idee der Elemen— tar⸗Bildung eine fittliche und intellektuelle Veredlung ihrer Zoͤglinge, und durch ſie ein wichtiger Schritt zur intellek— tuellen und ſittlichen Veredlung einer großen Anzahl von Menſchen, und wenn du willſt, wirklich eine Palingeneſie des Menſchengeſchlechtes zu erwarten. Wir ſelbſt halten dieſe Idee fuͤr allerdings geeignet, die Erziehung zu einer Wiſſenſchaft zu erheben, deren Reſultate unzweydeutig das hin führen muͤſſen, ihrem Zögling die ſittlichen, geifligen und Kunſtkraͤfte, die in ihm liegen, in Uebereinſtimmung unter ſich ſelbſt und auf eine ſeiner Natur genuͤgende Weiſe zu entfalten, und in fo weit die fittliche, intellektuelle und Kunſtveredlung unſers Geſchlechts allgemein zu befoͤrdern und zu ſchern.

Damit ſagen wir aber gar nicht, daß das Schpfungs⸗ werk der aufzuſtellenden Elementar Bildung durchaus we- der theoretiſch noch praltiſch wirtlich aufgeſtellt ſey; wir behaupten nicht einmal, daß wir es in unſerm Leben je auch nur feiner Vollendung annaͤhernd aufflelen werben.

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Wir freuen uns nur, daß uns ein Schritt gelungen, der einiges Licht gibt über dieſes Ziel, und viele edle Menſchen bewogen hat, nach ihm zu ſtreben. Sonſt traͤumen wir nicht zern, und lieben es noch weniger, Traͤume bey an⸗ dern, inſonderheit bey unſerm ſchlummernden Zeitgeſchlechte zu erwecken; wir beſcheiden uns im Gegentheil gern, um einige Menſchen, die aus hoher Sorgfalt vor dem boͤſen Enthuſiasmus und den ſchrecklichen Gefahren der elenden Begeiſterung das nihil admitari der alten Weiſen in den Mund der neuen Schwaͤchlinge und Thoren zu legen fuͤr gut gefunden, vollkommen zu beruhigen, ſehr gern dahin, daß uns fuͤr unſer Seyn und fuͤr unfre Lage die Hoffnung genügt, unfre Bemühungen, welche Schranken fie auch im⸗ mer in uns felber und in unſern Umſtaͤnden gefunden ha— ben, ermangeln doch nicht, wohlthaͤtig und allgemein auf das außerordentlich tiefe Verderben der gemeinen und gewöhnlichen Zeit- und Volkserziehung zu wirken

So beſcheiden wir aber hieruͤber denken, ſo muͤſſen wir doch noch aͤußern: Wenn es auch waͤre, wenn auch einige unſrer Hoffnungen uͤberſpannt waͤren, und es ſchliche ſich auch hier und dort etwa ein Irrthum, oder vielmehr, es ſchlichen ſich wirklich allſeitig auch Irrthuͤmer in unſer menſch⸗ liches Thun, koͤnnte es wohl anders? ich denke nein, und haͤtte im Bewußtſeyn des Ernſtes unſers Strebens nach dem Beſſern nicht viel darüber zu ſagen, als: man mache beſſer was wir ſchlecht machen! Man beſchaͤme uns durch hoͤhere Anſichten, durch edlere Thaten, durch feſtere Kraft im Eingreifen in die wirkliche Welt; man ſtoſſe jede unſ— rer Anmaßungen zuruck; man lente die oͤffentliche Aufmerk⸗

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ſamkeit der Regierungen und der Voͤlker durch evidentere Darſtellung der Wahrheit, durch beſſer gelungene Verſuche, und durch gluͤcklicher erzielte Reſultate von uns ab! Der Beſſere lenke es auf das Beſſere, der Hoͤhere auf das Hoͤ— here; der Beſſere und der Höhere lenke es auf ſich in ſei— ner hoͤhern Wahrheit und feiner hoͤhern Liebe! Wir begehe ren nichts mehr: es iſt Seligktit zu verſchwinden; ſtill le⸗ ben und unbemerkt ſterben iſt Seligkeit.

Ich habe das Erſte nicht genoſſen; moͤgen mir nur das Zweyte zu Theil werden! Nur moͤge mein Hinſchwin⸗ den ſtill ſeyn und ſanft und liebend auf meine Auflöfung wirken! Nur möge kein hoͤhnender Spott, keine niedere Haͤrte, die Ruhe des lieblichen Hinſchwindens ſtoͤren, die mir La vater wuͤnſchte.

Freunde der Menſchheit und des Vaterlands! wenn je ein Unternehmen geeignet iſt, den Menſchen zum Ge— fuͤhl einer hoͤhern Beſtimmung und des Beduͤrfniſſes hoͤhe— rer Kräfte zu erheben, und zugleich die Kenntniß feiner Ohnmacht und ſeiner Schwaͤche in ihm zu beleben, ſo iſt es gewiß die Idee der Elementar Bildung, und der Vers ſuch, Hand an ihre Ausfuͤhrung zu legen. Und, wenn je Beweggruͤnde zur Demuth und zur Anmaßungsloſigkeit bey einem Menſchen durch eiſerne Umgebungen geſtaͤrlt wor⸗ den ſind, ſo ſind ſie es gewiß durch meine geworden. Ohne Geduld und ohne Demuth ſtaͤnde mein Werk ſchon laͤngſt nicht mehr; ohne Geduld und ohne Demuth wuͤrde es ſich auch heute noch keine Stunde erhalten. Muth und Demuth war auch vom Augenblick an, als ich Hand an daſſelbe legte, mein Wahlſpruch. Worauf ſollte ich ſtolz

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ſeyn? Ich habe mein Werk nicht unternommen; es fiel in meine Hand, ehe ich es erkannte; und da ich es erkannte, konnte ich meine Hand nicht mehr zuruͤckziehen; es war, ſo weit es mich jetzt auch fuͤhrte, meine Pflicht. Und ich muß jetzt thun, was ich thue, und wenn auch vieles

davon in spem futuræ oblivionis geſchieht. Vieles von dem, was im forſchenden Leben von Stanz aus bis hieher fuͤr die Methode geſchah, liegt ſchon alſo in der Vergeſſenheit Schatten begraben; deßwegen aber mußte es doch verſucht werden. Das Vollkommene geſtal⸗ tet ſich in den Menſchenhaͤnden nur durch das Unvollkom⸗ mene. Wer ſich nicht in den Tiefen duldet, verſtaͤrkt ſich nicht in den Hoͤhen; wer ſich in den erſten nicht ſaͤumte, der kommt in den zwepten nicht weit. Noch ſind wir un⸗ ſers Zwecks halber in den Tiefen feiner Anfänge, und es iſt nicht gut, daß wir uns viel in den Hoͤhen ſeiner Vol⸗ lendung vertraͤumen. Vieles von dem, was jetzt noch ver— ſucht wird, wird, wie viel Fruͤheres, als unweſentlich oder unrichtig verſchwinden, und als leeres Geruͤſt wegfallen, ſo bald unſer Gebaͤude ſeiner Vollendung ſich naͤhert. Aber dieſes iſt noch ferne davon, jetzt unter das Dach zu kom⸗ men; es ragt kaum ein wenig Über den Boden des An: fangs ſeiner Fundamente hervor, und es wohnt ſich ſo uͤbel in einem Haus, das nicht weiter vorgeruͤckt iſt; und we⸗ nige urtheilen richtig uͤber einen Bau, wenn er in ſeiner Kunſtanſicht vollends probhaltig, aber in Holz und Stein

noch nicht aufgefuͤhrt iſt. N Der Puntt der Laufbahn, auf dem mein muͤder Fuß ſteht, iſt nichts weniger als glaͤnzend; feine Muhſeligreit ſchreibt

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ſchreibt ſich von langem her, und ihr Ende ift nicht abzu⸗ ſehen. Tauſendmal haͤtte ich, menſchlicher Weiſe davon zu reden, in meiner Lage zu Grunde gehen ſollen; ich ging doch nicht darin zu Grunde. Mich umwehen fuͤr mein Werk Segensluͤfte, und es gedeiht faſt ohne meine Kraft und ohne mein Zuthun. Siehe die Pflanze wachſen, und in der Fuͤlle ihres Seyns da ſtehen, du weißt nicht, wie ſie gedeiht; aber du ſiehſt ihr volles Aufbluͤhen, und glaubſt feſt, ſie wird reifen, ohne daß du der Sonnenwaͤrme und des Thaus und des Regens, die du fuͤr noͤthig haſt, auch nur fuͤr den morgenden Tag ſicher biſt. Alſo ſehe ich mein Werk im Segen naher und ferner Umgebungen bluͤ— hen, die eben ſo wenig in meiner Hand ſind; aber ich glaube dennoch feſt an ſein Reifen. Dieſer Glaube, und ſelber das Vertrauen, das ich in Ruͤckſicht auf daſſelbe auf mein Gluͤck hege, iſt indeſſen mit tiefem Bewußtſeyn des Mangels genugfamer Kräfte für alles, was die wirklich vol— lendete Ausführung dieſer Idee erfordert, verbunden. Die Mittel dazu ſind mir in verſchiedenen Ruͤckſichten noch ſehr dunkel; ich ſehe den Boden meiner Schöpfung um mich her oͤde und wuͤſt, aber ein ſegnender Geiſt weht uͤber ſeine Gewaͤſſer, ſeine Sonne wird ihm aufgeh'n; ich weiß es: der Tag meines Werks wird kommen. 5 Moͤge dieſer Glaube mir bleiben! Moͤge er alle, die mit mir an meinem Werke Theil nehmen, unter allen Um— ſtaͤnden beruhigen und ſtaͤrten; aber möge er auch keinen von uns ſchwindeln machen, daß er das Zufällige unſers voruͤbergehenden Gluͤcks für den hellen Tag unſers Werks ſelber anſehe! Mögen wir uns beym Anblick einzelner ge Peſtalozzu's Werke VIII. 19

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lungener Theile unſers Verſuchs nicht hinreißen laſſen, uns uͤber das Zuruͤckſtehen dieſes Verſuchs im Ganzen einen Augenblick zu taͤuſchen! Wahrlich, das waͤre das groͤßte Uagluͤck, das wir unſern Zwecken und unſern Hoffnungen ſelber in Weg legen koͤnnten. Moͤgen wir, indem wir un⸗ ſers dießfaͤlligen Gluͤckes froh find, uns über den Grad defs ſen, was zur gaͤnzlichen Vollendung unſers Zweckes Noth thut, nicht taͤuſchen!

Wenn in den erſten Tagen des Fruͤhlings einige ſcöne Bluͤthen an ſonnigen Geländern ſich zeigen, und ſelber, wenn im vollen Fruͤhling der Fruchtbaͤume Menge in al⸗ ler Pracht ihrer ganz entfalteten Schoͤnheit da ſteht; ſo iſt man um deßwillen noch nicht ſicher, daß eine einzige die⸗ fer Bluͤthen ihre Vollendung in ihrer gereiften Frucht fin⸗ den wird. Ein toͤdtender Nebel, ein ſchaͤdlicher Wind we⸗ het über die Baͤume, ihre Bluͤthen erſticken, und die Hoffe nung des Wachſens und Reifens ihrer Fruͤchte iſt dahin.

Ach, ich bin ſchon fo. oft von ſchoͤnen Träumen er wacht, und oft iſt mir, ich werde noch ein Mal von einem ſolchen erwachen; oft iſt mir, die Schwierigkeiten meines Merld wachſen mir über mein Haupt. Es iſt in der An⸗ maßung einer Manusgeſtalt erſchienen, eh es ſeine Kinder⸗ jahre vollendet. Es tannıe die Juͤnglingsjahre nicht, in denen es hätte reifen ſollen, ehe es ſich in Mannesgeſtalt zeigte. Das alles iſt auf Gefahr ſeines Lebens geſchehen. Der Gang, den es genommen, erhoͤht ſeine Schwierigkeiten ohne Maß. Oft iſt mir, dieſe vergrößern ſich wie ein Schneeklumpen, der von des Berges Spitze gegen das Thal herunterrollt. Daun ahnet mir, fo ein Schneegeſtoͤber in

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der Höhe koͤnnte als Lauwine auf das arme Senn meines Thuns herabfallen. Das hätte ſchon fo oft geſchehen koͤn⸗ nen; daß es nicht geſchehen, dazu trug, nebſt vielem an⸗ dern Großen und Wichtigen, vielleicht auch das etwas bey, daß mein ungluͤck- und leidenvolles Leben mir es gar nicht ſchwer, ſondern gleichſam nothwendig und natuͤrlich mach— te, im großen Kreis meiner Umgebungen anſpruchlos zu leben, das Widrige des chaotiſchen Wirbels, durch den ſich die Anſtalt in allen einzelnen Theilen nur langſam zum organiſchen Leben emporhob, mit ſchonender Geduld zu ertragen, und dem Verdienſt eines jeden mitwirkenden Mens ſchen, wenn er auch ſchon einſeitig und beſchraͤnkt war, und hie und da anſtoßend in den Wirbel des Ganzen wirk— te, dennoch mit perſoͤnlicher Hingebung als Huͤlfe der Vor⸗ ſehung, die ich fuͤr meine Schwaͤche nothwendig beduͤrfte, zu erkennen und zu ehren. Ich ſage es frey: daß ich den bisherigen Erfolg meiner Anſtalt in vieler Hinſicht dem Umſtand zuſchreibe, daß ich ihr in dieſem Geiſte vorſtand; ich liebte ſie mehr, als ich ſie leitete; ich erhob ſie mehr, als ich ſie bildete. So kann ich mit Wahrheit ſagen: ſie war nicht mein; ich ſtehe noch heute in ihr dienend da, in der Schwaͤche meiner Tage; ich achte noch heute mei⸗ ner nichts, als um ihretwillen; ich will noch heute nichts ſeyn, als fuͤr ſie, und fuͤr die, mit denen und durch wel⸗ che ſie beſteht.

So bin ich mit der Anſtalt vereinigt. Sie beſteht durch ſich ſelbſt; fie befieht durch die Wahrheit und die Kraft, die fuͤr ihr inneres Weſen in einem jeden von uns ſelbſt liegt, und nicht durch mich. Meine Perſoͤnlichkeit

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und ihr Einfluß kommt fuͤr das Weſen meines Thuns nicht mehr in Anſchlag. Ob die Huͤlle dieſer Perſoͤnlichkeit heute zu Grunde gehe, ob ſich das Band unſers außern Zuſam⸗ menlebens noch heute aufloͤſe; uns vereiniget ein inneres Band. Nur daß ſich dieſes immer enger knuͤpfe in De⸗ muth, Liebe und Wahrheit nur das thut Noth; nur, daß wir in dieſem Geiſt immer vorwaͤrts kommen. Dann wird auch das Aeußere unſrer Vereinigung in jedem Fall die Richtung nehmen, die für ihr inneres Weſen die vor⸗ theilhafteſte ſeyn wird; und auch der Vorwurf des Stol— zes und der Anmaßung wird mit vielem Andern wegfal len.

Er muß wegfallen; der Irrthum, aus dem er ent⸗ ſprungen, iſt heiter. Man hat das beſchraͤnkte Thun mei⸗ ner Individualitaͤt nicht von dem Ideal meines Zweckes man hat den wirklichen poſitiven Zuſtand meiner Anſtalt nicht genug von dem, was durch die vollendete Elemen⸗ tar« Methode geſchehen koͤnnte, geſondert; das muß aber jetzt geſchehen, und ich will mich daruͤber erklaͤren.

In Ruͤckſicht auf die ſittliche Elementar Bildung iſt das große Natur-Fundament dieſer Bildung: das muͤt⸗ erliche Habituell- Machen der Gefühle der Liebe, des Danks und des Vertrauens von der Wiege an, nebſt den Lagen und Umſtaͤnden, die im haͤuslichen Leben Reihenfolgen zu dieſem Zweck ſo natuͤrlich hervorbringen, ihre Anwevdung ſo leicht machen, und mit ſo vielen Reizen verweben außer dem Zeitkreis unſrer Anſtalt. Wir empfangen unſre Kinder erſt dann, wann der vorzuͤgliche Zeitpunkt der er⸗ ſten Begrundung ihrer ſütlichen Entfaltung ſchon voruͤber

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iſt. Sie kommen auch gewoͤhnlich nichts weniger, als nach vollendetem reinen Genuß dieſer haͤuslichen Vorzüge, zu uns; ſondern gar oft verwildert, und mit Gewohnheiten, die gar oft ſchon aus wirklicher Abſtumpfung der lieblichen Gefuͤhle und reinen Kraͤfte der kindlichen Unſchuld entſprun⸗ gen ſind. Der poſitive Anfangspunkt des uns moͤglichen Einfluſſes auf die ſittliche Entfaltung unfrer Zoͤglinge muß deßwegen mehr als bloß nothbehuͤlfliches Entgegenwirken gegen ſchon mehr oder minder eingewurzeltes Verderben; und weniger als ein luͤckenlos geordnetes Anknuͤpfen an reine elementariſche Anfangspunkte der ſittlichen Bi dung der Kinder angeſehen werden. Die Concentration des vol— len Lebens im haͤuslichen Geiſte, der unter den Kindern edler, rein haͤuslich lebender Eltern ſo vielſeitig herrſcht, die Tiefe und Stille, die Ruhe und Innigkeit, die Weis⸗ heit und Kraft dieſes Lebens, das Heiligſte und Erhaben⸗ fie deſſelben fehlt mehr oder minder jeder Erziehungsan⸗ ſtalt. Auch die hoͤchſte Kunſt ſtrebt, bis fie ſelbſt wieder ganz Natur, volles Leben, geiſtig vollendete Liebe gewor- den, umſonſt dahin, das ganz zu thun, und das ganz zu ſeyn, was die Natur von ſich ſelbſt iſt, und darum auch mit der groͤßten Leichtigkeit thut. |

Aber auch in intellektueller Hinſicht iſt es das Naͤm— liche. Die unbefangene, kindliche, ruhige, ungeſtoͤrt freye, und dadurch tief und vollendet eingreifende Anſchauung, durch welche die Natur ihrem Zĩgling ſeine erſten Urtheile fo einfach leicht, aber dabey fo traftvoll und lebendig be— gruͤndet, ſollte ihm eben ſo lange vor der Zeit gegeben und habituell gemacht werden, ehe er in unſere Anſtalt tritt.

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Das aber geſchieht nicht, und wir koͤnnen unſern Zögling, in Ruͤckſicht auf die Entfaltung der erſten Anfangspunkte ſeines Denkens und Urtheilens, ſo wenig in reiner Natur⸗ gemaͤßheit behandeln, als wir dieſes in ſittlicher Hinſicht gekonnt. Unſre Zoͤglinge kommen meiſtens, ſchon in ih⸗ rer Unmuͤndigkeit durch die A BC-Elendigkeiten, und ſpaͤ⸗ ter durch den Miſchmaſch allerley unverdauter Buͤcherkennt⸗ niſſe von der Aufmerkſamkeit auf ihre Umgebungen in der Wirklichkeit des bildenden Lebens ganz abgezogen, und ſo fuͤr die erſten und reinſten Eindruͤcke der Natur verdorben, oder wenigſtens von ihnen unergriffen und unbelebt zu uns; und es iſt ganz gewiß: je weiter ſie auf der Bahn einer geiſt- und herzveroͤdenden falſchen Kunſtbildung vor⸗ geſchriiten, deſto unempfaͤnglicher find fie auch für jedes na⸗ turgemaͤße Mittel der reinen Entfaltung irgend einer menſch⸗ lichen Kraft. Sie lebten im Schein und Blendwerk un⸗ natürlicher Kuͤnſte; und wie ihr Verderben darin groß ger worden, ſo iſt auch ihre wahre Naturkraft in ihrem Wachs⸗ thum und Leben ſtill geſtellt worden.

Das iſt in phyſiſcher Hinſicht noch am auffallendſten. Viele, ſehr viele unſrer Kinder kommen von dieſer Seite ſchon verzaͤrtelt, oder doch wenigſtens phyſiſch unentfaltet und ungewandt in unſre Anſtalt. Wir müͤſſen aber noch fre geſtehen: wenn auch dieſes nicht wäre, wenn fie lauch, eh fie zu uns gekommen, im väterlichen Haufe alles ges noſſen haͤtten, was ihnen dießfalls zu geben moͤglich war, ſo waͤren wir doch nicht im Stande, auf die haͤusliche Entfaltung zu bauen, was im hiefuͤr beſſer gelegnen haͤus⸗ lichen Leben darauf gebaut werden kann. Der Erfolg aller

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phyſiſchen Kraftbildung haͤngt nothwendig von vielſeitiger ausharrender Anſtrengung der phyſiſchen Kraͤfte ab, welche vorzüglich durch die Real-Beduͤrfniſſe der Umgebungen, in denen das Kind lebt, ihm angewöhnt und leicht gemacht werden. Dieſe Beduͤrfaiſſe wirken in dieſer Lage theils durch die Gewalt ihrer unabaͤnderlichen und ſich immer wie⸗ der erneuernden Wahrheit, theils durch den Reiz, der dieſe Umgebungen und dieſe Beduͤrfniſſe eben ſo unabaͤnderlich begleitenden und belebenden Liebe, ſo wie der ihnen eben fo nothwendig beywohnenden und fie belohnenden haͤusli⸗ chen Freuden. Die Auſtrengungen, die das unablaͤßliche Bedingniß der Angewoͤhnungen zur phyſiſchen Gewandtheit und Kraft ſind, werden dem Zoͤgling im haͤuslichen Leben naturgemaͤß, d. h. in Uebereinſtimmung ſeiner Übrigen Kraͤfte und Anlagen, folglich nicht im Widerſpruche mit feiner ſültlichen und geiſtigen Entfaltung, oder auf Koſten derſelben, gegeben. Sie werden ihm nicht einmal auf Ge⸗ fahr der Zartheit einiger dieſer Kraͤfte eingeuͤbt. Der Zwang des reinen haͤuslichen Lebens iſt ein lieblicher zwang; wahr⸗ lich ſein Joch iſt kommlich, und ſeine Laſt leicht. Der Sohn des armen Vaters, die Tochter der armen Mutter, waͤchst in der Ausharrung der phyſiſchen Anfirengung gleich— ſam als in dem ihnen angeboren Element auf; ihre Kraft wird ihnen freylich durch den Drang der taͤglichen haͤus— lichen Bedürfaiſſe eingeuͤbt; aber dann auch hingegen in jedem Fall durch die Neize der haͤuslichen Verhaͤltniſſe, welche dir Quellen dieſer Beduͤrfniſſe find, wieder gewürzt. Daher macht auch der Zwang, der ſie zu ihrer Kraft bil— det, fie nicht leiden. Die Kinder der Armuth muͤſſen zwar,

296 ſo wie ſich ihre Kräfte entfalten, ihren Verhaͤltniſſen noth⸗ wendig dienen; aber fie muͤſſen damit nur die Liebe und die Dienſte erwiedern, die ſie von dieſen Verhaͤltniſſen zum voraus empfangen. f ö

Dieſes heilige Fundament der Zi ſchen Aua hat keine Erziehungsanſtalt, und doch iſt die Elementar⸗ Bildung, in Ruͤckſicht auf ihren ganzen Volkseinfluß, ein Traum, wenn ihre Wirkung ſich nicht in der phyſiſchen Entfaltung des Zoͤglings fuͤr ſeine Kunſt- und a Bil⸗ dung bewaͤhrt.

Es war auch von Jugend auf der Zweck meines Le⸗ bens, vorzüglich von dieſer Seite auf die Bildung des Volks zur Induſtrie zu wirken. Ich wollte meine dießfaͤlligen Endzwecke immer durch die Gruͤndung einer Armen-An⸗ ſtalt zu erzielen ſuchen, und glaubte mich in Stanz mei, nem Ziele nahe. Auch in Burgdorf ſuchte ich durch meine Aaſtalt anfangs nur Mittel, den Faden meiner Zwecke da wieder anzuknuͤpfen, wo ich ihn in Stanz gelaſſen; aber der allgemeinere und umfaſſendere Gang meiner Unterneh⸗ mung, und ihre Schickſale bis auf dieſe Stunde, haben mich je länger je mehr von dieſem urſpruͤnglich beſchraͤnk⸗ ten Ziele weggelenkt. Ich mußte mich bis auf heute an den Banden einer Penſions Anſtalt für den beſondern Zweck meines Lebens immer mehr beſchraͤnken, ich moͤchte faſt ſagen, zernichten, und mich wenigſtens bis jetzt immer in einem Thaͤtigkeits-Kreis herumtreiben, der mich ewig nicht befriedigen kann, weil er in meinem Seyn und Thun beſtimmt diejenigen Luͤcken offen laͤßt, die ich durch mein

297 Leben für das Volk und die Armen vorzuͤglich auszufuͤl⸗ len geſucht hahe.

So wahr und richtig alles dieſes iſt, ſo beweist es doch nur, daß die haͤusliche Erziehung an ſich ſelbſt beſ— ſere und reinere Mittel zur Anwendung der Grundſaͤtze der Elementar Bildung anbietet, als irgend eine Öffentliche oder Privat Erziehungs⸗Anſtalt anbieten. Aber wenn man dann fragt: Bietet die häusliche Erziehung, wie ſie iſt, dieſe Mittel der Maſſe der Menſchen in der That an, wird

die Maſſe der Menſchheit dieſer theilhaft? fo faͤllt un⸗

widerſprechlich auf: In der Tiefe des Volks ſteht rohe Verwilderung; im Mittelſtand verwirren de Anmaßung und Schwäche, in den hoͤhern Staͤnden beynahe gaͤnzlicher Mangel an Kraft und Wahrheit aller Fundamente des reinen

haͤuslichen Lebens, der wirklichen Benutzung

dieſer Mittel, wie unerſchuͤtterliche Felſen den Meeres, wellen, die daran anprallen, entgegen. Oder iſt es nicht im Allgemeinen, wie wenn dieſe Mittel fuͤr die Maſſe des Volks nicht da waren? Sind nicht immer zehntauſend Kin« der, welche die häusliche Erziehung ohne fremdartige Eine miſchung genießen, gegen eines, das durch ein Inſtitut er- zogen wird? Wenn man dann fragt: Wie ſteht's um dieſe zehntaufende, und wie ſteht's um dieſes einzige? was kommt denn heraus? Kann man ſich's verhehlen, daß die Hinder— niſſe der reinen haͤuslichen Bildung beynahe allgemein find? Kann man ſich's verhehlen, daß es Beduͤrfniß der Zeit iſt, eben dieſen reinen haͤuslichen Sinn wieder zu beleben, und den Eltern beides, neuen Willen und neue Kraͤfte und Mit⸗

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tel, der Gewait der allenthalben herrſchenden Unnatur und der durch ſie entſprungenen Zerſtoͤrung des rein bildenden Sinnes des haͤuslichen Lebens entgegen zu wirken, wieder zu geben?

Die Unnatur iſt in unſrer Mitte allmaͤchtig; fie wird durch den Zeitgeift aller Stände unterſtuͤtzt und belebt, und es bedarf allenthalben vorbereitende Anſtalten, um die Menſchen den Werth des haͤuslichen Lebens wieder fühlen und ſie ſeiner reinen Kraͤfte wieder theilhaftig zu machen. Das Ziel unfrer Vereinigung geht weſentlich dahin. Wir fuͤhlen ſeine Schwierigkejten, und haben ge⸗ zeigt, daß wir den Punkt unſers diesfaͤlligen Zuruͤckſtehens kennen. Aber wir find uns auch des redlichen Eifers be— wußt, die Mittel, unſer diesfälliges Zuruͤckſtehen zu beſie⸗ gen, in ihrem ganzen Umfang zu erforſchen, ſo wie auch die Wege, in unſern ſo laut ee SUCHEN mit geſichertem Erfolg vorzuſchreiten. 5

Es iſt unfireitig, die freye Vereinigung vieler Men: ſchen zu dieſem Ziel gewährt ihnen Vortheile, die durch ifolirte und gebundene Exiſtenz weniger Moses e nie erreichbar ſind.

So wie das haͤusliche Leben einzelner Kin— der, vorzuͤglich für Gemuͤthlichkeit und Unſchuld, die ausgezeichneteſten Vorzuͤge hat, ſo hat dann hin wieder das gemeinſame Leben vieler Kinder bey einander, fuͤr die Kraftentfaltung und Wahrheit des wirklichen Lebens, Vorzüge, die im kleinen, haͤuslichen Verhaͤltniß felten erreicht worden find. Sind etwa dieſe letzten mit

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den erften nicht zu vereinen? Ich weiß, daß dieſes ſchwer iſt; aber ich fühle auch, daß dieſe Vereinigung das Ziel einer guten Erziehungsanſtalt ſeyn muß. Es iſt auch uns ſer Ziel. Daß wir noch ferne davon ſtehen, das weiß ich wohl; aber auch, daß wir darnach ſtreben, und die Moͤg⸗ lichkeit ſeiner Erreichung ſelbſt mitten im ſchwerſten Druck ſeiner großen Schwierigkeiten fuͤhlen. Die Macht der groſ— ſen Idee, die uns vereinigte, leitete uns auch darin; aber ihre Leitung war lange mit Unkunde des Umfangs der Idee, und noch mehr mit Unkunde der Mittel, dieſer Idee in dieſem Umfange Genüge zu leiſten, begleitet. Unſere Sn» dividualitaͤten wirlten lange in vielfacher Einſeitigkeit der Harmonie dieſes Umfangs entgegen; doch ſie wirkten mit Kraft. Wir ſetzten einzelne Anſichten mit treuer Lebendige keit durch; aber eben dieſe Lebendigkeit einzelner Anſichten, und das Gluck ihres einfeitigen Erfolgs machte uns oft einzelne Unterrichtsgegenſtaͤnde zum Schaden der Anſicht des Lebens und ſeiner Beduͤrfniſſe im Ganzen betreiben. Die Vollendung der Wahrheit im Einzelnen rief indeſſen in jedem Fall der Bearbeitung der Wahrheit im Ganzen, und die Vollendung der Kräfte im Einzelnen der Vollendung der Kraͤfte im Ganzen. So war es nicht moͤglich, daß wir uns in jedem einzelnen Geſichtspunkt lange uͤber die Nothwendigkeit irren konnten: die Anſicht des Lebens im Ganzen zum unerſchuͤtterlichen Fundament nicht bloß des Geiſtes unſers Erziehungs⸗Einfluſſes im Allgemeinen, fon» dern auch der Lehr- und Unterrichts-Mittel jedes einzel- nen Fachs zu legen.

Gegenwaͤrtig iſt unſer Bemuͤhen lebendiger als je,

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dieſe Anſicht des Lebens im Ganzen und ihr allein reines Fundament: bie häusliche Lieblichkeit des vaͤterlichen und kindlichen Sinnes, in unſrer Mitte zu befoͤrdern, und der Kunſt unſers ganzen Thuns hierin einen feſten, mit unſ⸗ rer Natur uͤbereinſtimmenden Haltpunkt zu geben. Die Geſchichte der dießfaͤlligen Reifung unſrer Anſichten, fo wie die Urſachen, die uns in einzelnen Faͤchern von der feſten Aufmerkſamkeit auf das Leben im Ganzen abgelenkt haben, iſt merkwͤͤrdig; aber ihre Darſtellung fordert tiefen und ſelbſiſuchtloſen Hinblick auf das Ganze unſers Seyns, und ich werde vor meinem Tode mich daruͤber “OR E und allſeitig ausſprechen.

Das erſte Beduͤrfniß der feſten Anſicht des Lebens im Ganzen in jeder Anſtalt und in jedem groͤßern Ver⸗ hältniß iſt: reiner, milder Einklang der Haupt geſinnungen der Individuen, die dieſes Ver⸗ hältniß konſtituiren. Aber dieſer Einklang im Leben iſt auch bey Maͤnnern, die Wahrheit wollen und mit Kraft zu ihr ſtehn, nur ein Werk der Zeit und des Gluͤcks. Auch ſolche Menſchen haben oft Fehler, die einem ſolchen Einklang mit unwiderſtehlicher Gewalt widerſtehn. In je⸗ dem Fall iſt ein ſolcher Einklang nur ein Werk der Zeit und des Gluͤcks, und muß mit einer Weisheit, Liebe und ſelbſtſuchtloſen Geduld erkauft werden, die nicht jedermanns und auch nicht jedes guten Mannes Sache iſt, und die Verſchiedenheit der Meynungen und Anſichten muß in ei⸗ nem ſolchen Haufe dem Einklang derſelben vorhergehn. Ohne die vorhergehende Einwirkung des Streits iſt in einem ſolchen Verhaͤltniß keine Sicher—

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heit des Friedens, als nur mit Aufopferung der Freyheit und der Wahrheit denkbar. Aber wenn die Zeit des Reibens freper und eitler Meinungen voruͤber, und die Anſicht des Lebens im Ganzen und ihre Wahrheit und ihre Liebe nunmehr der großen Mehrheit le bendig und klar iſt; dann hat es auch in feiner Ausdeh— nung ein Fundament des menſchlichen Wirkens auf menſch— lichen Sinn, das in einem engern Verhaͤltniß nicht erreich— bar iſt. |

Ein Erziehungs; Haus, vom Vaterſinn aus- gehend und wirkend auf Kinderſinn, iſt eines der erſten Zeitmittel, das die Menſchheit be⸗ darf, die Zerfiörung, die im wirklichen haͤusli⸗ chen Leben ſelbſt Statt findet, zu mildern und den mangelnden haͤuslichen Sinn unter denMen— ſchen gleichſam wieder neu zu erſchaffen. Ein ſolches Haus bietet unendliche Mittel zur Ausuͤbung und Belebung haͤuslicher Tugenden dar, und gruͤndet zu glei⸗ cher Zeit enge Bau de freundſchaftlicher und liebender Der: haͤltniſſe, die dann hinwieder einen enticheidenden Einfluß auf die ſchoͤpferiſche Entfaltung der Gemuͤthlichkeit, die den haͤuslichen Tugenden als ihr reines Fundament zu Grunde liegt, haben und haben müjjen.

Man mag es anſehen wie man will, wer ſich im Geiſt und in der Wahrheit als Bruder von Hunderten fühlt, der iſt ein höherer Menſch als der zaͤrtlichſte Bruder von Einem.

Hebt ſich ein Erziehungs- Haus zur Kraft empor, dies fen Sinn zu entfallen, fo iſt fein Segen unermaßlich.

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Ich geſtehe gern, es iſt ſchwer dahin zu gelangen. Wir wiſſen auch, daß wir noch nicht da ſind; aber das weiß ich zugleich, daß meinem Streben Ernſt iſt, darnach zu gelangen. Ich habe mich von Jugend auf nach die⸗ ſem Ziel geſehnt, und viele der Meinigen ſehnen ſich mit reinem Herzen nach demſelben; und bey allem Gefuͤhl un⸗ ſerz zeitlichen Zuruͤckſtehens iſt mein Glaube an das Wort: Wer ſucht, der findet ewig feſt, ſo wie mein Vertrauen auf den mir von der Vorſehung ſo wunderbar verliehenen Kreis edler Menſchen, welche die Erreichung meines Ziels, als ihr Ziel anſehen, und mit Kraͤften darnach ſtreben, die mir mangeln, und von denen kein Menſch haͤtte ahnen Tonnen, daß ich fie faͤnde. Ach, ich hatte ihrer fo noͤthig, Gott! ich habe ihrer fo nöthig! Mein Unternehmen war nicht bloß uͤber meine Kraft, es war ſelbſt uͤber meine Ah⸗ nung; und ſo weit ich es ahnete, und kannte, fordette es offenbar Mittel, zu denen faſt niemand weniger gebildete Fertigkeiten hatte als ich, und uͤber deren eigentliche Beſchaf⸗ fenheit ich lange mehr traͤumte, als mich ihrer deutlich be⸗ wußt war. So weit brauchte ich Huͤlfe, und ſo wenig hatte ich vollendete Kraft für mein Befireben. Aber ich hatte einen unerſchuͤtterlichen Willen für dieſes in meinem Innerſten.

Es iſt in jedem Fall etwas Heiliges, etwas Gier dringendes in dieſem Willen. Auch liegt in der Eniſte⸗ hung meines Hauſes etwas Hohes, Erhabenes, das ohne das Segeubringende dieſes Willens nicht zu erklaͤren waͤre. Wir vereinigten uns beſtimmt aus Liebe zu einer großen Idee, und auf das Fundament der innern Ahnung der Moͤg⸗

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lichkeit einer Sache, die ich mit fo viel Vertrauen und mit einem ſo entſchiedenen Willen ſuchte.

So lag ſchon in der Entſtehung meines Hauſes und in der Art ſeiner Zuſammenſetzung eine Erhebung des Gemuͤths für die Erzie— hung. Wir vereinigten uns befiimmt aus Liebe zu ihr. Die Kraͤfte, die wir zuſammenbrachten, waren klein, aber einfach, vielſeitig und frey. Unſer Zuſammenhang gab je— der einzelnen Anſicht des Ganzen den unbedingteſten Spiel⸗ raum. Unſer Streben nach Erfahrung und Einſicht über unſern Gegenſtand war ernſt und allgemein. Auch war der Kreis unſrer Erfahrung bald groß und vielſeitig, und es herrſchte von Anfang an in unſrer Mitte eine Lebendig— keit in unſern Anſichten, und eine Aue harrung, die um fo nothwendiger war, weil wir auf einer ungebahnten Straße wandelten, und der Steine viel waren, die man uns in den Weg legte, die zum Theil auch von ſelbſt hinein fielen, zum Theil ſo gar uns von uns ſelber in den Weg gelegt wurden.

Aber dieſe Steine und der Drang des Widerſtandes, durch den wir uns durcharbeiien mußten, ſtaͤrlte uns und hob uns hoͤher. Wir fühlten uns als einzeln und als vereinigt, und wirkten auf einander als einzelne faſt unmerklich, als ein Ganzes kraftvoll. Aus dieſer Lage entfaltete ſich in unſrer Mitte ziemlich allgemein, was in jedem Einzelnen da lag, aber geweckt werden mußte, um ſich zu zeigen. Dieſe Reſul— tate unſrer Vereinigung in uns ſelber machten aus uns in der Verbindung etwas ganz anders als, was wir einzeln

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waren, und was möglich ſchien, das aus uns egen her vorgehen koͤnnte. \

Auch der befhranfte Endzweck: die gemei⸗ nen Lehr⸗ und Unterrichtsmittel dem Volk nur zu vereinfachen, und ſie ihm dadurch nur zu erleich⸗ tern und allgemein beyzubringen, erweiterte ſich jetzt bald eben fo nothwendig durch unſere praktiſchen Verſu— che in jedem einzelnen Fache deſſelben. Es entkeimten aus unſern Bemuͤhungen dafür bald neue Verſuche, jedes ein⸗ zelne dieſer Faͤcher mit den hoͤhern und allgemeinern An⸗ ſichten fuͤr die Erziehung in Uebereinſtimmung zu bringen. Wir erkannten das Beduͤrfniß, das Leſen, Schreiben, Rech⸗ nen, Singen u. ſ. w., wie ſie in den Schulen getrieben werden, auf den reinen, elementariſchen Anfangspunkten des Wollens, des Koͤnnes und des Wiſſens des Kindes, von deren naturgemaͤßer Belebung die Emfaltung aller weſent⸗ lichen Kraͤfte der menſchlichen Natur weſentlich ausgehen muß, zu entwickeln, und dadurch in weſentliche und rein elementariſche Mittel der Geiſtesbildung zu verwandeln. Empiriſch auf die Wahrheit dieſer Grundſaͤtze gefallen, ent» zuͤckte und entflammte ſie uns, eine Weile in einſeitiger, aber klarer und kraftvoller Bedeutung vor unſern Augen ſtehend, mit ihrer uns noch neuen Anſicht, daß wir uns mit Kuͤnſtler⸗Vorliebe ſelber für ihr noch unreifes Daſeyn enthuſiasmirten. Wir hatten nicht Unrecht. Das, was wir auch in dieſer Beſchraͤnkung von ihr erkannten, war tief in die Natur eingreifende und ſich kraftvoll bewaͤhrende Wahrheit. Aber das Verhaͤltniß dieſer Schulmittel zum Ganzen war uns noch verborgen. Ihr aͤußerer Erfolg ent⸗

ſprach

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ſprach unſerm Vertrauen auf ſie vielleicht nur allzuſehr, gewiß allzufruͤh. Der Unglaube, welcher der Pruͤfung un⸗ ſers Gegenſtands zum Theil mit Undelikateſſe vorherging, und der Zweifel, der zum Theil mit geſchloſſenen Augen ſie begleitete, wandelte ſich ſchnell in uͤbertriebene Lobreden um. Wir verdienten auch dießfalls etwas Aufmerkſam⸗ keit, aber nicht den Enthuſiasmus, der jetzt wie aus den Wolken auf unſer Thun herabſiel. Man ſah unſere Kin⸗ der in einzelnen Unterrichts» Fächern eine Aufmerkſamkeit und Geiſteskraft zeigen, die man bey andern nicht fand. Man ſah ſie durch dieſe Kraft Reſultate hervorbringen, die andere Kinder bey fernem nicht hervorbrachten. Von die⸗ ſer Seite gewannen wir mit Recht allmaͤhlig Vertrauen, und von dieſem geſtaͤrkt ruͤckten wir langſam, aber ruhig und taͤglich mehr im Umfang deſſen, was zur Vervollſtaͤn⸗ digung unſrer Idee noch mangelte, vorwaͤrts. Ueberall dehnten ſich unſre Erfahrungen aus, und reiften, zwar nicht ohne Verirrungen und Leiden; aber fie reiften. Meh⸗ rere Reſultate unſrer Verſuche, das duͤrfen wir ſagen, ſte— hen jetzt da, als ein immer mehr ſich reinigendes Funda— ment einer vielſeitigen hoͤhern Anſicht unſers Thuns und unſerer Zwecke.

Zwar iſt auch unlaͤugbar: je mehr ſich die Anſicht von unſerm Thun ausdehnte, je mehr mußte auch das Gefühl des Un vermoͤgens unſrer einzelnen Kräfte für unſern geſammten Zweck nicht nur in uns ſelber werden, ſondern ſich auch um uns her offenbaren. Aber ſo wie dieſes wahr iſt, ſo iſt auch wahr, daß das Ganze unſers Seyns in unſrer Ver—

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einigung mitten in der Unverhaͤltnißmaͤßigkeit unfrer Lage und Kraͤfte innerlich in uns ſabſt feſt ſteht, und immer feſt ſtehen wird.

Unſer Haus lebt in Ae RAR eins zelnen Erfahrungen, und wir duͤrfen es fagenz wir haben ganz gewiß von mehr als einer Seite fuͤr die Idee einer naturgemaͤßen Erziehung mit unſter Erfahrung prak⸗ tiſch das Eis gebrochen. Wir muͤſſen aber hinzuſetzen: was wir hierin gethan haben, ging bey fernem nicht von einem Einzelnen von uns aus. Es liegt eben ſo bey fernem nicht in einem jeden von uns gleich gemodelt, weder in ſeinem Geiſt noch in feinem Herzen, noch in feinen praktiſchen Fertigkeiten. Einige von uns ſehen nur einen Punkt da⸗ von heiter, und dienen dennoch dem Ganzen, indem ſie die⸗ ſem Punkt geiren find, und an feinem Faden fortſchreiten | zur Erkenniniß des Ganzen. Andre leben in der Ahnung des Ganzen mit einer Kraft, in der ſie der Thatſache, die wir ausführen, weit voraus fliegen. Andere wandeln dem Ziel mit einer durch Ausübungs-Fertigkeiten fruchtbaren Kraft entgegen. In allen, (will's Gott, darf ich ſagen: in allen), lebt eine reine Liebe zur Sache, hohe Ahnung von ihren Folgen, und feſtes Vertrauen zu beiden. Wir ſind aber auch alle durch alles, was dem Menſchen heilig ſeyn kann, intereſſirt, daß wir die Hoffnung nicht ſinken machen, die wir erregt haben; und wir loͤnnen es, und wir ſollen es. Die Fundamente, auf denen unſer Thun feiner Natur nach ruhen fol, find gelegt, und die ‚Kräfte, die es braucht, um auf das Fundament, das wir gelegt haben, fortzubanen, find zum Theil wirklich in unſern Haͤn⸗

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507 den, zum Theil fallen fie jetzt auch ohne unfer Zuthun in dieſelben. 1 Die Art, wie ich über unſer Zuräckſtehen in fo tie- lem, das fuͤr die Erzielung einer naturgemaͤßen Erziehung weſentlich iſt, geredet habe, koͤnnte indeſſen ſehr leicht miß⸗ verſtanden werden, wenn ich mich nicht uͤber den Punkt, auf dem wir in Ruͤckſicht auf die Anbahnung einer ſolchen Erziehungsweiſe in unſerer An⸗ ſtalt ſtehen, mit eben der Beſtimmtheit äußerte, Es gibt Gegenſtaͤnde in der Welt, in denen man, ohne in das in⸗ nere Weſen derſelben einzudringen, ihre gute oder ſchlechte Beſchaffenheit an bloßen aͤußern Merkmalen mit Sicherheit erkennen kann; das iſt auch hier der Fall. Der Punkt der Naturgemaͤßheit, auf dem wir in unſrer Anſtalt fiehen, druckt ſich ganz gewiß auffallend darin aus, daß unfere Kinder im Allgemeinen ſo froh und gluͤcklich find, wie fie ohne eine der Naturgemaͤßheit ſich naͤhernde Exiſtenz nicht ſeyn und leben konnten. Und wenn wir der Urſache dieſer unbeſtreitba— ren Thatſache nachforſchen; fo loͤnnen wir uns nicht bers hehlen, ſie liegt darin, daß der Grundſatz: das Kind muͤſſe bey jedem Schritt der Erziehung und des Unterrichtes als ein Ganzes in's Auge gefaßt, und als ein ſolches ergrif— fen werden, wenn er auch noch nicht in feiner hohen Vol⸗ lendung von uns ausgeführt wird, dennoch von uns er— kannt iſt, und wir uns feiner Anwendung vielſeitig nähern.

Wir haben es wenigſtens der Anerkennung und Feſt— haltung deſſelben zu danken, daß das mens sana in cor pore sano im Allgemeinen weit mehr der Zuſtand der Zoͤg—

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linge unſers Inſtituts iſt, als man dieſes bey hundert und mehr zuſammen erzogenen Kindern, wenigfiens in unſrer Zeit, hoffen durfte. Von phyſiſcher Seite iſt es auch auf⸗ fallend, daß nunmehr ſeit 9 Jahren noch kein Kind unter unſrer Pflege geftorben, und der Geſundheitszuſtand aller außerordentlich gut iſt. Oft vergehen Monathe, ohne daß ein einziges auch nur uͤber Beſchwerden klagt; ſie halten Anſtrengungen aus, die fuͤr ihr Alter und fuͤr ihre fruͤhern Fuͤhrungen außerordentlich ſind. Als letztes Jahr 120 bis 150 von ihnen, in verſchiedenen Abtheilungen uͤber zum Theil beſchwerliche Berge, und unter vielem Wechſel des Wetters, Fußreiſen von 2 bis 3 Wochen machten, kam auch kein einziger von allen auch nur mit einem Schnup⸗ pen behaftet zuruck. Auch das iſt eine unwiderſprechliche Thatſache, daß viele unfrer Kinder, die jetzt kraftvoll bluͤ⸗ hen, kraftlos in unſer Haus kamen. In der ganzen Zeit haben wir nur ein paar Beyſpiele, daß Kinder den Grad der Kraft, den ſie beym Eingehen in unſer Haus beſaßen, in etwas verloren. Der in dieſer Hinſicht bluͤhende Zu⸗ ſtand des Hauſes hat ſeinen Grund ganz gewiß im Ganzen ihrer, der Natur mehr gemaͤßen, Fuͤhrung, und zwar nicht bloß in der Einfachheit ihrer Nahrung, in täglicher Bewe— gung und Thaͤtigkeit, ſondern vorzüglich in dem größern Grade der innern Befriedigung und des Frohſinns, den ſie genießen. a Sie werden von keiner Seite durch den Unterricht abgemattet. Der Geiſt der Elementar- Uebungen iſt leicht; ſie ſtrengen die menſchlichen Kraͤfte 7 nicht fo an, wie irgend ein unelementariſch gegebenes Lehr⸗

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fach. Ein Punkt des Unterrichtes fließet in demſelben na⸗ tuͤrlich aus dem andern; daher belaſtet es den Geiſt nicht, es ſpricht ihn nur an, und macht ihre Reſultate einfach und natürlich aus ihnen hervorgehen. Jede neue Erkennt⸗ niß iſt dem Kind eine ſtaͤrkende und erfreuende Beſtaͤtigung feiner fruͤhern Erkenntniß. Die erſte Quelle der jugendli⸗ chen Verirrungen, die, durch die Unnatur des Unterrichtes erzeugte lange Weile, findet, fo weit als der Unterricht ele» mentariſch gegeben wird, nicht Platz. So weit er alſo ge⸗ geben, ſo weit wird das Kind durch ihn im frohen Leben in der Natur gefiärkt, und vor allen Folgen der Unnatur im Unterricht und in der, aus Eigenſucht, villkuͤrlichen An⸗ wendung der menſchlichen Kraͤfte bewahrt.

Der Punkt, in dem dieſes geſchieht, iſt indeſſen bee ſonders für jüngere Kinder, noch bey weitem nicht befries digend, und der Idee der Elementar- Bildung in fernem⸗ nicht genugthuend; die beſtehenden intellektuellen Elemen⸗ tar⸗Uebungen find noch nicht ganz genug mit den Bil dungsmitteln der Anſchauungs Epoche des kindlichen Alters in Uebereinſtimmung gebracht; noch zu abgeriſſen vom Ideal der elementariſchen Fuͤhrung der Unmuͤndigkeit und der vollendeten Sicherheit ihrer heiligen Zartheit und Un» ſchuld, ſtehen ſie noch zu ſehr in ſich ſelbſt geſchloſſen, noch faſt iſolirt da. Aber das lebendige Gefuͤhl dieſes Zuruͤck— ſtehens iſt, ich darf es mit Zuverſicht ſagen, auch der erſte Schritt zu einem kraftvollen Einlenken auf den einfachen Pfad der Natur geworden. Es iſt unwiderſprechlich: das Uebergewicht einzelner Unterrichts- Fa— cher, und ihr Betreiben mit aller Macht der

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Einfeitigfeit war unentbehrlich, nicht nur um den ſelbſtſtaͤndigen Werth eines jeden, fon dern auch fein Verhaͤltniß zu den ubrigen Be duͤrfniſſen der Menſchennatur zu erproben, und uns, beides auf den eigentlichen Punkt, von dem aus die Luͤcken entſtehen, und auf die wahren Mittel ſie aus⸗ zufuͤllen, zu fuͤhren. f

Wer indeſſen in den Elementar : Mitteln nur r Bildung des Verſtandes, und nicht Bildung der Menſchheit in aller Fuͤlle ihres hohen goͤttlichen Sinnes ſucht, der wird dieſe Luͤcken nicht fühlen. Auch iſt es gewiß: die Welt, wie fie wirklich iſt, wird die durch dieſe Mittel bey unſern Zoͤg⸗ lingen hervorgebrachten Fertigkeiten und Begriffe, begieri⸗ ger auffaſſen, höher ſchaͤtzen, als den Sinn der ganzen Fülle der Menſchlichkeit, deren Entfaltung die Aufgabe der An⸗ ſtalt iſt.

Aber auch in der Beſchraͤnkung, in der wir noch durch ſie wirken, und im Sinne dieſer Weltanſicht, duͤrfen wir von ihnen ſo viel ſagen, daß fie geeignet find, pſychologiſch und allgemein, nicht nur das, was man auf dem Wege der bisherigen Grammatik uud der alten Sprachen fuͤr die Verſtandes-Bildung geſucht hat, ſondern weit mehr, und dieß weit Mehrere mit weit groͤßerer Sicherheit zu erzielen. Der Zuſammenhang der mathematiſchen Elementar = Les bungen mit den Anſpruͤchen der Verſtandes-Bildung un⸗ ſers Geſchlechtes im Allgemeinen, iſt offenbar heiterer und allgemeiner, als der Zuſammenhang der Grammatik und der todten Sprachen damit iſt. Die mathematiſchen Ele⸗ mentar⸗Uebungen erwecken die innere Lebendigkeit und

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ſelbſtthaͤtiges Intereſſe, das die Baſis aller wahren Entfal⸗ tung unſrer Kräfte iſt, damit ich wenig ſage, in zehn Kin⸗ dern, wo die grammatikaliſchen Uebungen, und diejenigen der todten Sprochen in Einem Kinde. Darum achte ich auch den Weg der Verſtandes-Bildung durch die todten Sprachen, in ſo fern er iſolirt und einzig gegeben wird, als einen eigentlichen Abweg, der freylich einen giüdlie chen, der darauf nicht verirrt, wohl zum Ziel fuͤhren kann. Den Weg der mathematiſchen Geiſtesentfaltung hingegen achte ich dießfalls für die eigealche Landſtraße, auf der ein jeder, der gute Beine hat, und viege nicht ſchont, zum Ziel gelangt.

Wir haben in unſern intellektuellen Elementar-Uebun— gen dieſe Landſtraße betreten; und es iſt unläugbar: die allgemeine Aufmerkſamkeit der Welt⸗ und Zeitmenſchen, die unſere Anſtalt nun fo lange erregt und erhalten, ruht vorzuͤglich auf dem Erfolg unſrer mathematiſchen Uebungen. Dieſe haben unſtreitig Erwartungen hervorgebracht und Kraͤfte erzeugt, die man in andern Erziehungsanſtalten nicht fand. Das Urtheil dieſer Zeit- und Welimenſchen iſt allgemein: Die Erhaltung und Fortdauer der ganzen Ans ſtalt ruhe auf dieſer Baſis; und mein Haus muͤſſe in ſich ſelbſt zerfallen, es werde ſich aufloͤſen, fo wie die Hauptſtuͤtze dieſes Fachs ihm zu fehlen anfange! Sie irren! Sie mißkennen das hoͤhere Band der Einheit und des Zuſammenhangs in der Menſchennatur. Man moͤchte auf ſie anwenden: ſie wiſſen den Grund der Dinge nicht, noch die Kraft Gottes.

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Weniger allgemein ſichtbar iſt die Wirkung unſrer Anſtalt, nach dieſer Weltanſicht, auf die Entfaltung der Zoͤglinge zur Kunſt. Allein ſie iſt eben ſo wahr und eben ſo entſchieden. Bis auf einen ziemlichen Punkt beſtaͤtigt die Erfahrung auch dieſe Behauptung. Wir Find in der Bearbeitung der elementariſchen Bildung der Kinder zur Kunſt mit dem ſichtbarſten Erfolg ſo weit vorwaͤrts geruͤckt, daß wir beſtimmt darüber ſagen konnen: Daß es nur der Theilnahme eines wahren und großen Kͤnſtlers, wie einen, ſolchen ſchon die Geſang⸗ lehre gefunden hat, und ſeines Anſchließens an unſere Grundfaͤtze und Elemente bedarf, um auch im Kunſt fache eben fo große, eben fo uns widerſprechliche Reſultate hervorzubringen. Dieſes alles aber auch zugeſtanden: der Mann, der die Menſchheit, als ſolche, durch ihre Bildung im Allgemeinen,

ihrer Veredlung näher bringen will, der wahrhafte Menſch wird dadurch nicht befriedigt. Dieſer will von der Me⸗ thode mehr; er will von ihr Sicherheit der ſittlichen und religidſen Entfaltung des Kindes, er will in dieſer Sicher⸗ heit das Fundament und die Baſis von allem, was wir uns fooft von der Anſtalt verſprechen. Findet er dieſes nicht in ihr, ſo iſt ſie ihm nichts; und er hat Recht.

Ob die Anſtalt ihn hier befriedigen koͤnne? Der Schein iſt dagegen, und es iſt durchaus nicht zu laͤugnen: Das iſolirte Daſtehen der intellektuellen Elementar-Mittel und ihrer Wirkung, ſelber der Enthuſiasmus fuͤr ſie, und die Art ihres Gebrauchs, die ſich in gewiſſen Zeitpunkten und unter gewiſſen Umſtaͤnden, der Einſeitigkeit und beynahe der Ge⸗

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waltthaͤtigkeit näherte, mußten faſt nothwendig die Vers muthung veranlaſſen: das Weſen der Methode be ſtehe in den Reihenfolgen der Elementar-Mit⸗ tel der intellektuellen Bildung, und die An⸗ ſtalt beruhe auf ihrer iſolirten Anwendung. Daher dann auch die ſtarken Urtheile: Sittlichkeit und Re. ligion werde bey uns ganz vernachlaͤſſigt, ſich ganz natuͤr⸗ lich erklaͤren und entſchuldigen laſſen.

Es war freylich ein Irrthum; aber der Schein der Sache war benutzt, und die Zahl zum Theil bedeutender Menſchen, die aus andern Gründen nicht Freunde der Ans ſtalt find, fanden hierin einen Stuͤtzpunkt, auf den ſie ſich mit Zuverſicht lehnten. Von dem, was im Haus wirklich gethan war: das reine Gefühl des Herzens und einen hoͤ— bern religioͤſen Sinn zu wecken und zu nähren, davon nahm man keine Nolitz. Wer von der Sache redete, der redete von Zahl und Form; und wer von Reſultaten ſprach, der ſprach vom Rechnen und Zeichnen; nur wenige ſprachen vom Menſchen. Kurz, man ſprach nur von untergeord— neten einzelnen Mitteln der Anſtalt. Man achtete ihre Fundamental-Mittel, man achtete das Centrum, worauf ſich alle ihre Mittel bezogen, wenig. Aber es iſt unbe greiflich, daß man nicht einſah: wenn man in dieſer Anſicht Recht gehabt haͤtte, wenn keine andern Bil⸗ dungsmittel in die Fuͤhrung des Hauſes Einfluß gehabt hätten, das Haus wäre ſchon lange aufgelöst. Wer kennt die Menſchen, und kann nur ahnen, daß ſich das Haus, wie es iſt, ohne andere als intellektuelle Bil⸗ dung durch Zahl und Form, ſo lange zuſammen zu halten

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vermocht hätte?! Es hat ſich durch Liebe, Geduld und Glau⸗ ben gegründet, und wird ſich auch durch Liebe, Geduld und Glauben erhalten. Zahl und Form ſlehen im wirkli⸗ chen Leben der Elementar Bildungsweiſe des Juſtituts als einzelne, im Ganzen ſeiner Mittel verwebte Theile da. Wie die Anſpruͤche des Herzens und der Rerigiöfität in der Idee der Elementar Bildung, ihrer Tendenz und ihrer Mittel anerkannt worden, werden fie auch in der Aasuͤbung vom Perſonal meines Hauſes anerkannt.

Die Idee der Methode ſpricht die firtiiche und religiöfe Erhebung unſrer Natur in ihrer Selbſeſaͤndig eit an. Sie fordert ihre Mittel, als unabhängig von den geiſtigen Bildungsmitteln. Sie erlaubt nicht, daß die hohen veredelnden Gefuͤhſe unfrer Natur, Glaube, Hoff⸗ nung und Liebe, als bloße Zugaben der intellektuellen Bil- dung duͤrfen angeſehen werden. Die Idee der Elementar⸗ Bildung ſieht ſie nicht dafür an, und kann ſie nicht dafuͤr anſehen, und in meiner Perſoͤnlichkeit lag es noch weniger, fie dafuͤr anzuſehen. Liebe und Glaube lagen, durch ſinnliche Neigungen unterjiäigt, in meiner Natur. Zahl und Form, und Geifiesfraft ſuͤr Zahl und Form, war beſtimmt das Gegenftüd von dem, wozu ich vermoͤge meis ner individuellen Organiſation vorzuͤglich hinlenkte. Sie ſiel wahrlich als das der Eigenheit meiner Individualitaͤt heterogenſte Erziehungs mittel, in meine Hand. Der ganze Einfluß meiner Individualität auf mein Haus war entwes der gar nichts, oder er war es nicht dadurch. Auch iſt es Thatſache, daß das freye Einwirken der Organiſation des Hauſes auf die Entfaltung der ſinilichen und religidſen

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Anlagen der Zoͤglinge in der That vielſeitig und groß war; auch find feine Reſultate für alles, was von einzelnen Kin⸗ dern nach dem Grad ihrer dießfäͤlligen Anlagen und fruͤ⸗ hern Fuͤhrung zu erwarten war, allgemein befriedigend, und im Einzelnen in einem hohen Grad erhebend. Eben ſo zeigen alle Eltern der Kinder meiner Anſtalt ihre dieß⸗ fällige Zufriedenheit in einem Grad, der mein Gemuͤth weit mehr erhebt, als alles audere, was man uͤber die An⸗ ſtalt Gutes ſagen koͤnnte.

Das Lehrerperſonal meines Hauſes theilt meine dieß⸗ faͤllige Ueberzeugung. Es ſtrebt mit der gleichen Kraft nach der Erzeugung einer guten Geſin⸗ nung in den Kindern, als es ihnen Kenntniſſe und Fertigkeiten eigen zu machen ſucht.

Die Elementar⸗Bildung iſt in ihrem Weſen geeignet, die Veredlung unfrer Natur im ganzen Umfang ihrer Mit⸗ tel zu bezwecken. Sie iſt in ihrem Weſen nichts anders, als die Kunſt, jedes Gute der Anlagen der Menſchennatur aus ihr felber, als aus ihrem natürlichen Boden, hervor— gehen zu machen. Sie iſt nichts anders, als die Menſchen⸗ natur ſelber, wie ſie mitten im Verderben ihrer Umgebun⸗ gen, zwiſchen harten Unkrautswurzeln, Felſen und Stei⸗ nen, ſich Luft und Platz macht. Thut die Elementar- Bil⸗ dung dieſes, greift ſie mit ihren Wurzeln wirklich ſo tief in das Weſen der Menſchennatur, findet ſie wirklich, mit⸗ ten durch alle Hinderniſſe hindurch, ihren der Entfaltung ihrer Kraft eignen naturlichen Boden, ſo ſind ihre Folgen auf die Bildung der menſchlichen Kräfte nicht nur im ALL gemeinen entſchieden; auch ihr guter Einfluß auf die Bil⸗

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dung der einzelnen Menſchen fuͤr das wirkliche Leben in ſei⸗ nen ſpeziellen Verhaͤltniſſen, auch ihr Einfluß auf dieſe Ver⸗ haͤltniſſe iſt dann durch ſie geſichert, und ſie iſt durch ihr Weſen geeignet, auch dem zufaͤlligen Verderben zu ſteuern, dem das neue Wachsthum aller menſchlichen Kräfte in die⸗ ſer Welt nothwendig und allgemein ausgeſetzt iſt.

Die Wahrheit dieſer Anſicht iſt in der phyſiſchen Na⸗ tur allgemein anerkannt. Das tiefe Eingreifen der Wur⸗ zel der Eiche in den Boden, darauf ſie waͤchst, ſichert nicht

nur das gedeihliche Wachsthum des Baumes im Allgemei⸗ nen, ſondern heilet auch das zufaͤllige Verderben an ihren Aeſten und ihrer Rinde, und zwar durch eben die Mittel, durch welche ſie den Baum ſelber wachſen und gedeihen macht. Die Winde wehen, die Wuͤrmer nagen, das Waſ⸗ ſer faͤulet, das Feuer brennt, der Menſch ſchneidet an ein⸗ zelnen Aeſten des Baumes. Was macht ihm das? Wenn der Bauer ſelber eine Wurzel nahe an ſeinem Stamme ab⸗ haut, das ihn angreifende Verderben iſt nicht in den Um⸗ fang und die Tiefe der Fundamente ſeines Lebens gedrun⸗ gen. So der Menſch, wenn ihn das Leben im Allgemeinen kraftvoll bildet. Er mag es dann leiden und tragen, wenn eben dieſes Leben ihn im Einzelnen plagt, draͤngt und ſchwaͤcht. 2 Die Elementar » Bildung, die nichts iſt als das Leben ſelbſt, aufgefaßt in Wahrheit und Liebe, beherrſcht in ihrer Totalwirkung den Einfluß vieler ihr entgegenwirkenden ele⸗ mentariſchen Verirrungen in ſich ſelbſt. So weit ſie in ihren Mittel vollendet und ſo weit ſie in ihrer Ausuͤbung conſequent iſt, ſo weit leiſtet ſie dieſes gewiß. Sie wirkt

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auf jeden Zoͤgling in dem Verhaͤltniß, worin er lebt, mit der ganzen Kraft ihrer Natur, und hat alfo in ihrem We fen auch die entſchiedenſten Vorzüge für die Bil⸗ dung zum wirklichen Leben in jedem Verhaͤlt⸗ niß. Und doch iſt es eben hier, wo man mit einem un⸗ pſychologiſchen Abſprung von der Sorgfalt auf das Innere der Schuͤſſel laute Klagen über den Mangel des e an ihrer aͤußern Geſtalt erhebt. Es iſt zwar wahr: Die Anſtalt iſt auf keinen aͤußern Firniß berechnet. Wir unterſcheiden die Beduͤrf⸗ niſſe des Menſchen nach ſeinen Verhaͤltniſſen, und glauben dabey, was der Welt allein ange⸗ hoͤre, koͤnne auch zweckmaͤßig die Welt allein geben; den Weltanſtand koͤnne man nur in der Welt ler⸗ nen, lerne ihn leicht, wenn man mit Sinn und Kraft aus⸗ geruͤſtet in die Welt trete, entbehre ihn aber mit Borthei in engern Verhaͤltniſſen.

Die Elementar⸗Lehre erkennt den Grundſatz: daß al⸗ ler Unterricht eigentlich nur untergeordnete Benutzung des wirklichen Lebens der Kinder ſeyn ſoll; ſie erkennt, vielleicht wie es noch nie erkannt worden iſt: daß das Leben bil— det. Sie erkennt: Das Leben in großen Umgebungen bil⸗ det kraftvoll; das Leben in haͤuslichen Umgebungen bil— det liebevoll. Das liebevolle Leben veredelt; das Lea ben im Glauben ſichert und erhöht die Veredlung durch die Ltebe; und die Elementar-Bildung iſt geeignet, dieſe Veredlung nach allen Beziehungen in der Kraft, in der Liebe und im Glauben zu erzielen. n

Das iſt Wahrheit. Die Anſtalt baut im ganzen Um⸗

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fang ihrer Einrichtungen und Uebungen auf ſie, und doch hoͤre ich den Vorwurf: daß die in ihr elementarifch un⸗ terrichteten Kinder in den Verhaͤltniſſen des wirklichen Le⸗ bens ſich ſchlechter benehmen werden, allgemein und auch von Leuten ausſprechen, von denen man es am wenigfien erwarten ſollte. Ich moͤchte dieſe Menſchen aber nur fra⸗ gen, ob das Frege und kraftvolle Leben unter hundert und mehr Kindern fuͤr die Menſchenkraft, die ſelber der Welt⸗ ton anſpricht, nicht eine Schule ſeh, wie wenige Kinder, die eigentlich fuͤr dieſen Ton erzogen werden, eine rs genießen?

Ich bin uͤberzeugt, diejenigen Menſchen, die das, maß eigentlich probhaͤltiger und allgemein guter Weltton ift, am tiefſten kennen, werden das Gewicht dieſer Frage fuͤhlen. Indeſſen wird das servum pocus der Nachbether dieſer Mepnungen, dem das innere Weſen des Welttons und die zartern Faͤden ſeiner alltaͤuſchenden Zauberkraft ewig fremd ſind und fremd bleiben, auch ewig weder ſehen noch fuͤh⸗ len, was ich mit dieſer, ihr unerklaͤrlichen Frage eigentlich wolle.

Gewohnt, auch ſelber die Scheinſtuͤtzen ihrer Schein kraft nicht in ſich ſelber, ſondern nur in andern zu ſuchen, baben dieſe Menſchen keinen Sinn und keine Augen für das, was ihren vorgefaßten Meinungen einmal entgegen it, Wäre es auch der Fall, der es bey weitem nicht iſt : daß unſere Kinder, in den Schulſtunden wie in den Spielſtunden, allgemein gleich beliebt vor ihnen da ſtaͤnden; wuͤrden fie auch täglicdy vor ihren Augen, in aller Gewandtheit ihres geiſtigen und phyſiſchen Lebens, der Entfaltung jeder ihrer

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Anlagen im .frenen Kampf einfacher und kraftvoller Ue⸗ bungen entgegen ſtreben; wuͤrden fie dieſelben auch taͤglich mit Hausgenoſſen, Kzmeraden, Lehrern, Fremden und Obern nicht gehemmt und nicht hemmend, und weder ſelbſt in Verlegenheit, noch andere in Verlegenheit ſetzend, um— gehen ſehen, ſie wuͤrden in alle dem kein Fundament von dem, was ſie guten Ton der Welt nennen, finden. Je weniger ſie ſelbſt im Geiſt und in der Kraft des wahren, guten Welttons leben, je mehr fie ſelbſt dazu unfahig find, deſto weniger koͤunen fie auch die Fundamente des guten Tons in irgend etwas erkennen, das nicht in ihnen ſelbſt ligt, und das, was die Elementar Bildung aus ihren Zoͤg— lingen, ſelbſt in Ruͤckſicht auf den guten Ton, machen ſoll und machen will, ligt nicht in ſolchen Menſchen. Der fra» hende Rabe verſtehl den guten Ton der Nachtigall nicht; man ſagt ſogar, wenn dieſe auf einem ihm nahen Aſt ab⸗ ſitze, ſo fliege der andere vom Baume weg. Hingegen weiß man auch, die Papageyen thun dieſes gar nicht. Sie hoͤ— ren im Gegentheil allen Arten von Voͤgel- und Menſchen⸗ toͤnen gerne zu, und machen ſo viele derſelben, als fie kloͤnnen, gerne nach. Und fo papageyenartig nähern ſich auch zu Zeiten die erbaͤrmlichen Schwaͤchlinge des Welt tons, ungeachtet ihrer entfchiedenen Unfaͤhigkeit, das Weſen davon und ſeine Kraft in ſich ſelber aufzunehmen, ſelber den erſten Tonen der Wahrheit und der Liebe, wenn naͤm— lich das Gluͤcksrad fie zu Modeworten des Welttons ge— macht hat. Aber die Kraftmaͤnner des Welttons, die dies ſen Armen in jedem Fall Zaum und Gebiß in's Maul le⸗ gen, laſſen es damit nie zu weit kommen. Wenn es auch

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nur von vielen der Fall waͤre, daß ein zu lauter Ton det Wahrheit und Liebe etwa eine ihrer Pfauenfedern in Un⸗ ordnung bringen konnte, fo finden fie. gleich Mittel, daß die Schonung des Welttons gegen die, ihre Pfauenfedern gefaͤhrdende, Wahrheit und Liebe plotzlich ihr Ziel und Ende finde, Dieſe Schonung iſt nur als ein taͤuſchendes Vorwerk der Selbſtſuchtsfeſtung, in der dieſe eigentlichen Kraftmaͤnner des Welttons, im Leben ihrer Gewalt und Heucheley, mit dieſem Wechſelbalg ‚haufen, ſchalten und walten, anzuſehn; und fo iſt es zu erklären, warum die ſer Ton ſo oft auf den Vorwerken ſeiner Feſtung auch ſei⸗ nen erklaͤrteſten Feinden ein Glas Wein einſchenket, und ſie darauf zu Spiel und Tanz einladet. Er weiß wohl, was er damit thut. Die große Mehrheit ſeiner Feinde iſt oft fo armſelig ſchwach, daß fie ſich noch einbildet, dieſe ſchöͤ⸗ nen Vorwerke ſtehen eigentlich um ihretwillen, zu ihrer Freude und ihrem Tanz aufgefuͤhrt, da. Aber dieſe Taͤu⸗ ſchung nimmt zu Zeiten ein Ende mit Schrecken. So bald der kluͤgere Weltton in ſeiner Feſtung auch nur von fern einigen Unrath wittert, ſo ſetzt er ſeine Feſtung augenblick⸗ lich in ihrem ganzen Umfang in Kriegesſtand. Die freund⸗ liche Schonung und nachſichtsvolle Geduld gegen die An⸗ ſpruͤche der Wahrheit und Liebe aͤndert in dieſem Falle fo geſchwind, wie ein Schauſpieler, der im Vorſpiel ſeiner Komoͤdie als ein Harlequin, und im Nachſpiel als ein Ge⸗ fangenſchafts⸗Waͤrter, mit ſeinem Anvertrauten am Strick,

auf der Buͤhne erſcheint. Dieſer Tonwechſel der Selbſtſucht, und dieſes Nichte bleiben in ihrer Scheinſchonung gegen ihre Feinde, iſt in jedem

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jedem Fall der Wahrheit und Liebe weit vortheilhafter, als die lange Dauer ihres Weinſchenkens und ihrer T Tranzpar⸗ thien auf den Vorwerken ihrer Feſtung.

Ich wiederhole es: Die Selbſtſucht, in ſo fern ö e mit offner Kraft gegen Wahrheit und Liebe wirkt, iſt auch in ihren haͤrteſten Verirrungen der Sache der Wahrheit und der Liebe weit vortheilhafter, als die Erſcheinungen von ihr, in denen man die Schwaͤche der Wahrheit nicht mehr von den Schwaͤchen des Irrthums, und die Schwaͤchen der Liebe nicht mehr von den Schwachen der Liebloſigkeit zu unter ſcheiden vermag. Das geiſtige und ſütliche Seyn des Men— ſchenlebens gleichet in dieſem Zuſtand nicht ſelten dem Le— ben in einem Irrenhaus, in dem ſich die Menſchen in der Fieberhitze und dem Hirnſchwindel ihres Zuſtandes gar oft durch die Anſpruͤche der Geſinnungen und Handlungen aus— zeichnen, die beides den Anſchein hoher Wuͤrde in ſich tra— gen, und mit feſter Conſequenz durchgeſetzt werden, ob ſie gleich in der Veroͤdung des Weſens menſchlicher Kraft bloße Handlungen der Sinnloſigkeit ſind.

Es iſt beſtimmt kein ſchlechterer Zuftand für den Wahr⸗ heitsſinn und das Nechtögefühl unſers Geſchlechts, als wenn feine Selbſtſucht ſelbſt fo ſchwach wird, daß es felber den Muth zu lieben und zu haſſen, zu loben und zu ſchelten, zu ſchmeicheln und zu toben, verliert. Gottlob! daß es in Hinſicht der Erziehung und des Schulweſens nicht ſo weit gekommen! Nein, die Welt beſitzt dießfalls jetzt noch Kraſt in ihrem Irrthum, und Muth in ihrer Liebloſigkeit; und ſo ſehr fie auch oft ſelbſt im Irrthum ſteckt, und ſo

ſehr ſie oft links geht, wo fie rechts hin ſollte, ſo behaup⸗ Peſtalozzi's Werke. VIII. 21

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tet ſie dennoch immer Schritt fuͤr Schritt ihr Terrain, und weicht in keiner Stellung mit angſtlicher Feigheit. Wahr⸗ lich es iſt immer noch eine Ehre, ihren Irrthum zu be⸗ kaͤmpfen, und ihrer Liebloſigkeit ſich entgegen zu ſtellen. Ihre Mittel ſind oft nur zu gut, und ihre Kraft nur zu ſtark fuͤr ihre Zwecke; und es iſt beynahe kein Extrem von Abweichungen von den guten Erziehungs-Grundſaͤtzen, das nicht noch immer feine kraftvollen und gewandten Beſchuͤ⸗ tzer faͤnde.

Dieß zeigt ſich beſonders auch in der Anſicht des Verhaͤltniſſes deſſen, was in der Anſtalt, ge— lehrt wird, zu den gewohnlichen Schul- und Unterrichts⸗Mitteln, in Ruͤckſicht auf das Leſen, Schreiben, Sprachlehre, Auswendiglernen u. f. w. und der Forderungen, die dießfalls an uns und une fere Zoͤglinge gemacht werden. Die letztern ſtimmen ganz mit den bisher berührten Irrihuͤmern uͤberein. Der Grund⸗

tz der Elementar-Bildung iſt ausgeſprochen: den befte- henden Widerſpruch zwiſchen der Verſtandes-Bildung und den mechaniſchen Schulfertigkeiten aufzuheben; fo will und fol die Anſtalt, als Erziehungsanflalt, das Fühlen und Denken, das Thun und das Reden des Kindes in Uebereinſtimmung erhalten. i

Run iſt offenbar: Da Leſen und Schreiben beides nur kuͤnſtliche Arten des Redens find, fo muͤſſen fie beide, wenn ihr Unterricht naturgemaͤß betrieben werden ſoll, den wirklichen, gemeinen Redenkoͤnnen nachgeſetzt werden; und doch iſt bie halbe Welt in Bewegung, daß das Leſen⸗ und Schreibenlernen immer mehr vor dem Redenlernen und

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Redenkoͤnnen betrieben werde. Eben ſo iſt offenbar, daß das Reden ſelbſt ein kuͤnſtlicher Ausdruck unſers Empfin⸗ dens und Denkens iſt, daß alſo das Kind, wenn es recht reden lernen ſoll, nothwendig auch recht empfinden und denken lernen muß; und dennoch iſt wieder die halbe Welt in Bewegung, das Redenlernen, geſoͤndert vom Empfin— den⸗ und Denkenlernen zu betreiben, und dieſen letzten vor— hergehend zu machen, wie die Bluͤthe der Frucht vorher geht. Aber es iſt weit entfernt, daß das Redenlernen die wahre Bluͤthe des Empfindens und Denkens ſey; es ſoll ihre Frucht ſeyn. Nicht auf ſie gegruͤndet, nicht aus ihrer Einheit hervorgehend, wird es der Wurm, der an der Bluͤ— the des Empfindens und Denkens nagt, und ſeinen Keim auffrißt, ſelber ehe er noch in feiner erſten Entfaltung ſicht⸗ bar iſt. Eben ſo iſt offenbar: wenn die Mittel, das Kind reden zu lehren, außer dem Kreis ſeines wirklichen Lebens geſucht und gebraucht werden, ſo kann dieſes nicht anders, als zum Nachtheil der Entfaltung ſeines Beobachtungsgei— ſtes, feiner Thatkraft und feines wahren, geiſtigen, ſittli— chen und haͤuslichen Lebens geſchehen. Es iſt ganz gewiß, daß, ohne die Entfaltung der Redekraft des Kindes mit feiner Beobachtungs- und Thatkraft im Leben in Ueberein—

ſtimmung zu bringen, oder, welches eben ſo viel iſt, ihm un—

terzuordnen, alle Bemuͤhungen, das Kind reden zu lehren, ſich in gefaͤhrliche Kuͤnſte, das Kind ſchwatzen zu machen,

umwandeln, und es dahin bringen, daß es die Wahrheit feis

ner ſelbſt, die Wahrheit ſeiner Gefuͤhle, die Kraft ſeines

Denkens und Handelns mit der Wahrheit ſeiner Kraft, uͤber

fein Fühlen, Denken und Thun reden zu koͤnnen, in ſich 21 *

524 felber verwechſeln wird. Und doch ift im Allgemeinen der jugendliche Volks- und Schulunterricht fo eingerichtet, wie wenn dieſes Verwechſeln der Kraft und der Wahrheit mit ihrem Schein und mit ihrem Laut der eigentliche Zweck der Erziehung und ihr endliches Ziel waͤre.

Die Eltern unſrer Zoͤglinge leben faft alle in der Taͤu⸗ ſchung, die dieſer Irrthum hervorbringt. Sie muͤſſen es: denn das Zeitalter lebt darin. Sie fordern in Ruͤckſicht auf Leſen, Schreiben und Sprachſtudium frühere Reſul⸗ tate, als die erſten Bedingniffe der Naturgemaͤßheit in der Erziehung geſtatten. Sie wiſſen nicht, wie ſehr ſie das Ziel, nach dem fie ſtreben, dem Kinde dadurch ſelber er ſchweren. Aber ſie fordern es. Wenn wir nicht allen Ein⸗ fluß auf die Erziehung aufgeben wollen, fo find wir gee zwungen, ihren Forderungen bis auf einen gewiſſen Punkt nachzugeben.

Wir ſuchen aber dieſes auf diejenige Weiſe zu thun, die geſchickt iſt, den Schaden dieſes Irrthums ſo klein zu machen, als immer moͤglich, und trachten deßwegen den Mechanismus des fruͤh Leſen und Schreiben-Lehrens den Kindern ſo ſehr zu vereinfachen, daß ſein Einfluß im Gan⸗ zen ihrer Bildung gleichſam verſchwinde, oder wenigſtens gewichtlos erſcheine; und wenn man die Sinnenentfaltung des Kindes, und das damit ſo eng verbundene Beobach⸗ ten, Denken und Thun, als das abſolute Fundament ſei⸗ ner ganzen Bildung anerkennt, ſo gibt ſich dieſes Gewicht⸗ losmachen des Leſens und Schreibens ꝛc. gleichſam von ſelbſt. Der Fall ſcheint mir ziemlich mit demjenigen aͤhn⸗ lich, in dem ein armer Mann, aus Noth gezwungen, ſein

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ſchwaͤchliches Kind wider fein Herz Stein tragen machen muß. Er kommt gewiß von ſelbſt auf den Gedanken, ihm ſeinen Tragkorb dafuͤr ſo leicht zu machen, als moͤglich. Das iſt leicht; aber zu machen, daß das Kind ſeinen gewicht— los gemachten Steinkorb, beym Unterricht, und ſein bloßes Steintragen nicht als etwas anders, und für, etwas mehr anſehe, als es wirklich iſt, daß es die bloße Muͤhſeligkeit des Zuſammentragens vom Material nicht fuͤr das Stu⸗ dium einer Wiſſenſchaft ſelber anſehe, das iſt dann ſchwe— ter. N Ne J f

Und wenn die Aufmerkſamkeit auf die Feſthaltung der weſentlichen Anſichten, der Elementar-Bildung in jedem Fall wichtig und nothwendig iſt, ſo iſt fie es in den Aus genblicken einer alſo durch die Umſtaͤnde noth⸗ wendig gemachten Abweichung von denſelben. Man kommt auf dem Pfade dieſer Abweichung ſo leicht dahin, wo Wahrheit und Irrthum ſich in unſerm Thun ſo ſehr vermiſcht, daß wir das Eine von dem Andern nicht mehr zu unterſcheiden vermoͤgen. Bey dieſem in einander greifenden Vermiſchen der Wahrheit und des Irrihams aber, fallen die Baͤche des Irrthums in unſere ſinnliche Na- tur, wie in einem Strom zuſammen; die Quellen der Wahre heit hingegen trocknen dabey in den Sandwuͤſten eben die ſer Natur, die der Strom des Irrthums und der Selbſt— ſucht in uns ſelber erſchafft, vollends auf. Es iſt darum dringend nothwendig, daß der in dieſem Fall nachgebende Lehrer ſich des Punkts des Nachgebens und der Gefahr, die dieſes Nachgeben auf das Ganze ſeines Thuns hat, beſtimmt und genau bewußt

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ſey; und eben ſo, daß er immer das Weſen der einzelnen Grundfraft, die jedes ſpezielle Mittel der Elementar-Bildung entfalten ſoll, fo wie dieſes Spezial⸗Mittel ſelber, und jeden einzelnen Lehrſtoff an ſich ſelbſt ins Auge faſ⸗ ſe: ſonſt kann ſein Abweichen ſeinen Zoͤgling leicht dahin bringen, daß ſich ſeine Kraft um etwas herumtreibt, von dem er glaubt, es ſey etwas ganz anders, als es wirklich iſt. f b 5 So iſt es z. B. weſentlich, daß man, was bloß als Gedaͤchtnißuͤbung etwas taugt, in keine Ber ſtandesuͤbung umwandle, und was bloß die Hand mechaniſch zu bilden geſchickt iſt, nicht, als waͤre es ein Mittel der Geiſtes⸗ und der Kunſtentfaltung, benuͤtze.

Eben ſo iſt es weſentlich, daß die ea des bloßen Wortgedaͤchtniſſes, von den Uebungen des durch Anſchauung begruͤndeten Bewußt⸗ ſeyns der Sacherinnerungen getrennt, in's Auge gefaßt und die Uebungen der erſten den Uebun⸗ gen der zweyten untergeordnet werden. Dieſe Soͤnderung der Anſichten der Lehrgegenſtaͤnde, und dieſes lebendige Feſt⸗ halten des verhaͤltnißmaͤßigen Realgewichtes und Realwer⸗ thes, den ein jedes Lehrfach auf das Ganze der menſchli⸗ chen Bildung hat, iſt für die Sicherſtellung der Naturges maͤßheit jeder Lehrart unumgaͤnglich, um die Verwirrung zu verhuͤten, welche in den Koͤpfen der Kinder entſtehen muß, wenn ihnen Elendigkeiten und Wichtigkeiten auf glei⸗ che Art beygebracht werden, und ihnen ſo gar, wie es oft

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geſchieht, das Hoͤchſte, das Erhabenſte einer Wiſſenſchaft in den Mund gelegt wird, wie man zum Scherze zuwei⸗ len Kindern z. E. Schalen von Fruͤchten in den Mund legt, deren Kern man ihnen, bis fie ob feiner faden Schale den Kopf genug geſchuͤltelt, vorenthaͤlt.

Aber, wer ſollte das wohl thun? Der z. E. thut es, der bey der Eriernung einer Sprache den Wortreichthum den Kindern durch Buͤcher beybringt, deren erhabener Te halt weit über die Faſſungs, und felber über die Ahnungs⸗ Kraft der Kinder hinausgeht; der thut es, der ganz uͤn⸗ gern Kindern die Materialien der todten Sprachen durch das Leſen des Homers, des Plato's, des Tacitus, und zwar gewohnlich durch ganz unhomeriſche und unplatoniſche Leh⸗ rer beyzubringen ſucht. Es iſt gewiß; daß die Ma ier, mit welcher gemeine Kinderwaͤrterinnen ganz unmuͤndige Kinder reden lehren, weit unpfychologiſcher iſt, als dieſe Art, bey der man fo taktlos verſaͤumt, das Schwerfaͤllige des Gegenſtandes dem Zoͤgling durch Reize der Anſchau— ung des ſinnlichen Intereſſe belebt zu machen. Dieſe Sorge falt iſt auch bey den hiſtoriſchen, geographiſchen, und allen Unterrichts: Fächern, die nicht rein elementarifch find, gleich weſentlich. Alle dieſe Lehrgegenſtaͤnde haben ihren aͤußern Stoff, deſſen Anſchauung und Nomenklatur dem Kind, das in der Lage iſt, ſie fruͤher, als es naturgemaͤß geſchehen ſollte, zu erlernen, lange vorhergegeben werden kann, ehe es zum ſittlichen und geiſtigen Leben in irgend einer Wiſ— ſenſchaft hingefuͤhrt, oder auch nur faͤhig gemacht werden kann, ihm naͤher gebracht zu werden. Wo aber ein Kind mit irgend einer Wiſſenſchaft, als ſolcher, beſchaͤftigt wird,

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ehe es zum wahren Leben in derſelben, das iſt: zu einer naturgemaͤßen Erlernung des Weſens derſelben, reif iſt, da iſt die Soͤnderung des eigentlichen Studiums der Wiſſen⸗ ſchaften von dem, durch Anſchauungen und Gedaͤchtnißuͤbun⸗ gen zu gebenden, Vorbereitungs⸗Unterricht weſentlich. Die Folgen des Mangels dieſer Soͤnderung ſind fuͤr das Ganze der menſchlichen Entwicklung, und auch fuͤr die Wahrheit der Erlernung des Weſens eee DR verderblich. |

Ich nehme nur das: Bepfpiel der Geschichte. Wenn der Zoͤgling ſchon im kindlichen Alter mit den Thatſachen derſelben, ſo wie ſie im Zuſammenhang ihrer Urſachen und Folgen und mit Beurtheilung ihres Werths und Unwerths hiſtoriſch dargelegt werden, bekannt gemacht wird, ſo wird er nicht nur auf der einen Seite unnatuͤrlich gereizt, ſchon | in dieſem Alter über tauſend Welsbegegniffe und Menſchen⸗ handlungen zu urtheilen und abzuſprechen, zu deren wirk⸗ licher Beurtheilung ſeine Kraͤfte nicht hinreichen; ſondern er wird, was noch das Wichtigere iſt, ſchon in ſeiner Un⸗ ſchuld zum Bewußtſeyn aller Verfaͤnglichkeit, aller Nieder⸗ traͤchtigkeit, aller Gewaltthaͤtigkeit der Welt hingefuͤhrt. Daß aber dadurch der einfache, naturgemaͤße Gang ſeiner ſittlichen und intellektuellen Ausbildung in einem hohen Grade verwirrt und gehemmt wird, das iſt W b Frage.

Bey dieſer Anſicht der Dinge, und uͤberhaupt ai der unbeſtreitbaren großen Gefahr, die Kinder fruͤh in das Ge⸗ bieth der Wiſſenſchaften, oder auch nur in ihre wirklichen Vorhoͤfe zu fuͤhren, kann der Lehrer, der im Fall iſt, ſeine

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Kinder wiſſeuſchaftlich erziehen zu muͤſſen, fehr leicht da⸗ hin kommen, das Bewußtſeyn der Abweichung von dem einfachen Gang der Natur in ſich ſelbſt zu verlieren, und mit dieſem waͤre dann auch alles verloren. Es iſt darum alles daran gelegen, daß er, wenn er in der Lage iſt, in irgend einem Fache ſeineß Unterrichtes von der Naturge⸗ maͤßheit feines Ganges abzuweichen, ſich dieſes Abweichens deutlich bewußt bleibe, um in jedem Fall den Folgen deſ— ſelben mit Kraft entgegen zu wirken, und mitten durch die Schwierigkeiten einzelner Abweichungen den Geiſt des Gan⸗ zen der Fuͤhrung lebendig zu erhalten, und ſeinem Zoͤgling in ſeinem Innern das Gleichgewicht ſeiner Bildung zu ſi⸗ chern, das auch bey Verirrungen im Einzelnen immer 0 hel⸗ fend und heilend auf das Ganze wirkt.

Bey dieſer Sorgfalt kann dann aber auch der Lehrer, des Weſens und der Mittel einer naturgemaͤßen Erziehung maͤchtig, und ſeiner allgemeinen Sorgfalt fuͤr die Feſthal⸗ tung dieſes Weſens ſicher, bey ſeiner ſpeziellen Abweichung davon in feiner gehemmten Bahn ruhig fortwandeln! Sie iſt für ihn dann eine freye Bahn. Die Natur ſelbſt macht ſie ihm frey; dieſe iſt groß, und ſteht neben allem Irr⸗ thum, neben allen Luͤcken, und neben allen Bloͤßen, welche die Menſchen in ſie hineinbringen, in ſich ſelbſt da. Das iſt allenthalben wahr, wo fie nicht im Ganzen getoͤdtet und in ſich ſelbſt aufgelost iſt. Es iſt allenthalben wahr: Wo ſie immer, auch nur von einer einzelnen Seite, kraftvoll geweckt, ihr eignes Leben, ſich ſelbſt treibend, noch durch ſich ſelber zu erhalten vermochte, da hilft ſie in einzelnen Verirrungen der Menſchen immer noch ſich ſelbſt, und fine

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det fich immer wieder leichter zurecht, als wir es ſelbſt glau⸗ ben und ahnen. Es iſt ohne Widerſpruch wahr: Da, wo das Uebergewicht der Führung des Kindes naturgemäß iſt, da ſtellt ſich das Gleichgewicht, bey der Stoͤrung deſſelben, immer leicht wieder her. Aber das iſt denn auch wahr und wichtig: Dieſes Uebergewicht muß dafuͤr wahrhaft da ſeyn: ſonſt darf man auf ſeine heilende und helfende Wir⸗ kung nicht zählen; und hier wäre denn freylich eine Taͤu⸗ ſchung aͤußerſt gefährlich. Nur wo das Herz des Zoͤglings fuͤr die Liebe warm, und nur, wo ſein Geiſt durch ſie in der Wahrheit kraftvoll, und ſeine Hand maͤchtig, treu und gewandt im Schaffen alles deſſen iſt, was ihm Liebe und Weisheit gebiethet, nur da iſt das Uebergewicht der Wahr⸗ heit über den Irrthum, oder vielmehr des reinen Wahrheits⸗ ſinnes uͤber den unreinen Schein des Irrthums geſichert.

Aber dann, wenn du mit deinem Kind da biſt, wenn das Uebergewicht deiner Führung deſſelben wirklich naturgemäß iſt, dann fürdte dich auch vor einzel⸗ nen Abweichungen in den äußern Formen von der ſtrengen Naturgemaͤßheit deines Thunt nicht mehr. Es mag dann etwas zu viel, oder etwas zu wenig auswendig lernen muͤſſen, es mag dann etwas zur Unzeit buchſtabiren, oder Latein, oder Franzoͤſiſch und auch den Catechismus und den Pfalter lernen muͤſſen, die Noth der Schulſtube mag ihm ſogar einige Lebentzſtunden ſo ſchwer machen, als die Noth des Spinnrads tauſend andern Kindern ihre Lebensſtunden in der Wohnſtube ſchwer macht; das macht dann nicht mehr alles. Das Fehlerhafte im Einzelnen ſeiner Fuͤhrung verſchwindet im kraftvoll ge⸗

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ſicherten und richtig geleiteten Ganzen. Einzelne Vorur⸗ theile liegen in dem Menſchen, deſſen Wahrheitsſinn leben⸗ dig und frey iſt, wie ein leichtes Woͤlkchen in der Abend» rothe des hellen Himmels. Sein goldner Rand ſcheint eis nige Augenblicke noch heller, als der helle Himmel ſelber. Luͤcken in der Ausbildung einzelner Fertigkeiten, bey wohl⸗ beſorgter und gelungener Ausbildung hoͤherer Kraͤfte in ihrer Mitte, ſind wie wenn ſie nicht da waͤren.

Guter, edler Lehrer! erhebe dich in jeder Hemmung deines im Allgemeinen geſicherten guten Thuns zum Glau⸗ ben an das Hohe und Heilige, das von Gotteswegen in der Menſchennatur, in der Natur deines Zoͤglings ſchon da iſt.

Mit dieſem bewährten Glauben an die Natur ber gründet ſich die Naturgemaͤßheit der Elemens tar- Bildung in jedem Fall durch reine Liebe; und ſo begruͤndet, wird ihre Idee ſich beym Menſchenge⸗ ſchlechte, unter allen Richtungen der aͤußern Formen ſeiner Geiſtes, und Herzens⸗Entfaltung, ihren Weg leicht bah— nen, und jedem Vorſchritte der durch Naturgemaͤßheit zu erneuernden Erziehungs: Mittel einen richtigen Pfad berei— ten.

Nur der Mangel eines feſten Hinblickes auf das Be⸗ duͤrfniß eines reinen Glaubens an die Natur, als das Fun⸗ dament der Elementar Bildung, iſt es, warum dieſe fo vielſeitig, als mit irgend einem Guten, das in der Erzie⸗ hung ſchon wirklich da iſt, unvertraͤglich und als gegen dafjelbe unduldſam, angeſehn wurde, und warum beſon— ders der allgemeine und entſcheidende Einfluß

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derſelben auf die Bildung der Einſichten, der Treue, der Selbſtſtaͤndigteit der Schullehrer noch nicht gefuͤhlt worden, wie er ſollte, wie ſie es verdient und wie ſie ſich dazu aun die Wann ſicher den Weg bahnen wird. Alu ein

Sie, die Methode, oder vielmehr die Idee der Elemen⸗ tar: Bildung, iſt nichts, gar nichts, wenn ihr allgemeiner und entſcheidender Cin fluß nicht ſicher und geeignet iſt: den Schulſtand zu einem Grad reiner, auf Liebe gegruͤndeter Treue, und einer auf vollendete Einſicht gegründeten Selbſtſtaͤndigkeit zu er heben, den er, in beiden Ruͤckſichten, in unſern Tagen fo ausgezeichnet man geit. Sie iſt aber durch ihr Wefen, offenbar geeignet, dieſes zu leiſten, und dem Schwanken des Schulſtandes zwiſchen einem ihm gleich verderblichen Exaltiren und Decouragiren ihrer Glieder ein Ziel zu ſetzen, und einerſeits den Hochflug einzelner Individuen, welche die Menſchheit nach ihrer Perſoͤnlichteit modeln, und den freyen Einfluß des Lebens in Wahrheit und Liebe durch, den Einfluß der Anmaßung ihrer Selbſtſucht beſchtänken wollen, mit feſter Kraft entgegen, anderſeits aber auch eben fo kraͤftig dahin zu wirlen, daß die Gemuͤthsſtimmung und die Handlungsweiſe gegen die erſten Anſichten des Erzie⸗ hungsweſens kalter, in ihrer Lage gedruckter, durch das Mißlingen eigner Verſuche und durch den widrigen Ein⸗ druck vieler andern Lebensetfahrungen nicht nur gegen alle Uebertreibungen, ſondern auch ſelber gegen alle Verſuche zu beſſetn, ſcheu gewordener Muͤdlinge und Starrföpfe, nicht zum Maßſtab der Geſinnungen und Handlungsweise

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derer gemacht werde, die das Schulfeld immer neu zu er⸗ friſchen und fortdauernd im guten Zuſtand zu erhalten, ſich zum Pflichtſtand ihres Lebens, zu ihrem Beruf, ge— macht haben. /

Man hat ſo viel Über uns und unſer Thun geredet und geſchrieben; aber der Geſichtspunkt: ob unſere Grundfäge und Mittel durch ihr Weſen vor— theilhaft auf den Schulſtand zu wirken vermoͤ⸗ gen, iſt noch nicht einmal mit Ernſt und Tiefblick in Un⸗ terſuchung genommen worden. Und doch glaube ich, wer— de eine tief dringende Pruͤfung deſſelben ihren dießfaͤlligen, entſcheidenden Einfluß außer Zweifel ſetzen, und zeigen, daß wir den Geiſt der Schulmeiſter-Bildung weſentlich in der Entfaltung des Geiſtes und des Lebens der Kinderſtube ſuchen, und daß wir die Gefahr der von dieſem Geiſt abweichen— den Seminarien und ihres widernatuͤrlichen Kunſtganges kennen. | Aber dennoch find wir eben fo weit entfernt, irgend ein Kunſtmittel, das der Lauf der Zeit für die Bildung un— ſers Geſchlechtes zur Reifung gebracht, aus dem Kreis der Bildungsmittel der Schulmeiſter zu verbannen, und ihre Bildung auf die mißlichen Spitzen des Urzuſtandes unſers Geſchlechtes, der nirgend mehr iſt, gruͤnden zu wollen, und ihre Mittel nur auf ſolche zu beſchraͤnken, die dem Men» ſchengeſchlecht in dieſem Zuſtande ſchon moͤglich geweſen waͤren.

Nein! Wir wollen von dieſem nichts thun, wohl aber trachten, dieſelben mit aller Wahrheit und

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aller Liebe der Naturgemäßheit und ihres frep- en lebendigen Seyns in Uebereinſtimmung zu bringen. Wir wollen den Schulſtand durch den Grund⸗ ſatz der Naturgemaͤßheit in keiner Ruͤckſicht beengen; wir wollen denſelben durch ihn in allen Ruͤckſichten veredeln; wir wollen freplich allerdings die Volksſchulen nicht dazu brauchen, die Wiſſenſchaften in dem Haufen der Menſchen⸗ Herden wie Pilze aufſchieſſen zu machen, die auf den ſie erzeugenden Miſthaufen in einer Regennacht zu tauſenden aufſchießen, und in der Sonnenhitze des kommenden Tas ges wieder eben ſo ploͤtzlich vergehen; wir wollen nichts weniger, als in dieſem Haufen der Menſchen-Herden die eitle Hoffnung naͤhren, daß aus dieſen Pilzen dann einſt mit der Zeit Eichen, Tannen, Roſenſtoͤcke und Ananas⸗ Fruchte hervorgehen und emporwachſen werden. Nein! Wir werden vielmehr ſuchen, dieſen Traͤumen mit Kraft entgegen zu wirken, und die Ueberzeugung allgemein feſt zu gruͤnden, daß alle Pilze, und auch die wiſſenſchaftlichen Pilze, nichts ſind und zu nichts fuͤhren; daß ſie vielmehr alle, ſo wie ſie aus nichts entkeimen, alſo auch als nichts wieder vergehen; aber, ſo wie wir das thun, ſo wie wir das Nichtige des oberflaͤchlichen Wiſſens in aller ſeiner Bloͤße darzuſtellen uns ernſtlich bemühen werden; alſo werden wir auch das wahre Wiſſen in aller feiner Würde erfcheis nen zu machen ſuchen, und alles thun, die Veredlung unſ— rer Natur durch daſſelbe zu befördern, und darum mit Kraft dem Irrthum entgegen wirken, als ob die hoͤhern Kraͤfte der menſchlichen Natur eine Folge poſitiver Wiſſenſchaften ſeyen, und aus ihnen, wie aus ihren Wurzeln, hervorge⸗

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hen. Die Methode wird unwiderſprechlich darthun, daß alle Wiſſenſchaften, als Früchte der Anlagen der Menſchen— natur, aus der tiefen Wurzel und dem kraftvollen Stamm dieſer ſelbſt hervorgehen, und folglich das Daſeyn hoͤherer Kräfte und Anlagen und ihre richtige Bildung vorausſetzen, wenn fie als Fruͤchte, die ſich in unſrer Mitte als wahr— haft vorzuͤglich bewaͤhren, und der Menſchennatur wuͤrdig und ihr dienſtlich find, erſcheinen ſollen. Ihre Mittel, ins dem ſie das Weſen des Wiſſens in unſerm Innern heben, werden dadurch auch den aͤußern Stoff derſelben beſſer be— gründen. Die Reihenfolgen unfrer Mittel bringen ihre Anſchauungs⸗ Fundamente und ihre Anfangsuͤbungen mit der Menſchennatur in einen einfachen, wahren und um— fafjenden Zuſammenhang; ſie koͤnnen darum in ihren Fol⸗ gen nicht anders, als dahin wirken, auch die wiſſenſchaft— liche Bildung unſers Geſchlechtes mit der Menſchennatur in einen reinern Zuſammenhang zu bringen, und dadurch ihre Erlernung, beides, in ihrem Weſen zu veredeln, und in ihren Formen zu erleichtern.

Der Zoͤgling der Methode wird ſich freplich nicht träus mend über fi ſelbſt, ungebildet in ſich ſelbſt, und ſchwaͤrmend außer ſich ſelbſt, in den weiten Meeren der Wiſſenſchaften verlieren. Im Gegentheil, er wird ſich im Hafen ſeiner, das heißt: derjenigen Wiß ſenſchaft, die er ſich fuͤr die Wiſſenſchaft ſeines Lebens ge— wählt, in fiiller Ruhe vor Anker halten, bis das Schiff feiner Wiſſenſchaft ausgeruͤſtet, und im Stand ſeyn wird,

auf dieſen Meeren den Weg einzuſchlagen, der für ihn und fuͤr ſeine Wiſſenſchaft der einzige iſt, in dem er in

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der Wahrheit allein wandeln kann und pflichthalber wandeln ſoll. | ur Dom

Das Weſen unſrer Mittel muß dahin wirken, daß kein nach ihnen gefuͤhrter Juͤngling ſich auf ei⸗ ne wiſſenſchaftliche Laufbahn hinwagen wird, wenn nicht entſchiedene höhere Anlagen und Verhältniſſe des Lebens ihn dazu beſtimmenz; aber, wenn er es dann gethan, wenn er ſich feine Lebens wiſſen⸗ ſchaft gewaͤhlt, ſo wird er ſich dann auch tief in das Fach derſelben hineinarbeiten, und alle andere Faͤcher der Wiſ⸗ ſenſchaften immer in Beziehung auf dieſes, und fuͤr m. nur untergeordnet, in's Auge faſſen.

Von je her haben alle ausgezeichneten Menſchen. fi ch in ihrem jugendlichen Alter vor der Verſplitterung ihrer Kräfte gehätet und find, nur durch die Vol— lendung ihrer ſelbſt in dem Fache ihres Lebens, dahin ges kommen, im Zuſammenhang mit den Beduͤrfniſſen und Anſpruͤchen ihres eignen, auch andere Faͤcher menſchlicher Kenntniſſe oder Thaͤtigkeiten, aber immer nur als dem ihrigen fuͤr ſie untergeordnet, zu beruͤhren. Zur Ueberein⸗ fiimmung mit dieſer Welt- Erfahrung ſoll die Elementar⸗ Bildung ihre Zoͤglinge mit Kraft in dieſe Schranken, die eigentlich die wirklichen Schranken der Menſchennatur in allen ihrer Verhaͤltniſſen ſind, hinlenken. Dadurch aber wird ſie dann freylich auch tauſend und tauſend Menſchen, die im Studien-Taumel der Zeit Doktoren und wiſſenſchaft⸗ liche Dilettanten geworden waͤren, dahin bringen, lieber buͤrgerliche Handthierungen zu ergreifen, als in der wif- ſenſchaftlichen Laufbahn auf der einen Seite die Kräfte des

gemei⸗

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557 gemeinen Menſchen zu verlieren, auf der andern Seite in ihrer hoͤhern Bildung nicht weiter zu kommen, als ſich mit dem Flitter der Wiſſenſchaften zu zieren, oder vielmehr mit ihrem Schaum zu beſudeln. Aber fie wird dieſe Tau⸗ ſende nicht bloß von der wiſſenſchaftlichen Laufbahn, die für fie eine Elendigkeits-Laufbahn geworden wäre, ent⸗ fernen; ſie wird dieſelben auch dahin erheben, auf der ge— wählten bürgerlichen Laufbahn der Vollendung und Ver⸗ edlung ihrer ſelbſt, mit einfacher, aber ungetheilter Kraft und mit uͤbereinſtimmenden Mitteln, entgegen zu ſtreben, ob fie ſchon jetzt dieſes bey den eiteln Anfprüchen von Ges lehrſamkeit und wiſſenſchaftlichen Kenntniſſen in allen Staͤn⸗ den noch durchaus nicht kann.

Die wiſſenſchaftlichen und die arbeitenden Stande werden dadurch beide gewinnen. Die Menſchen werden in beidem, in dem, was ſie ſind und ſeyn ſollen, vollendeter, und dadurch gluͤcklicher werden. Ganze Heere eitler Anmaßungen werden verſchwinden. Die Elementarbildung foll durch ihr Weſen beſtimmt da⸗ hin wirken, alle Arten von Anmaßungen in die Schran— ken zurückzudraͤngen, in die fie gehoren. An ihrer Hand und durch ihre Führung werden wiſſenſchaftliche Weiſe mit den Weiſen des Lebens Hand in Hand ſchlagen. Die Weiſen des Lebens werden durch die Naͤherung und den Einfluß wahrhaft wiſſenſchaftlich gebildeter Weiſer vermehrt, und ich moͤchte vielmehr ſagen, ſelbſt ihr Daſeyn und ihr Werden wird auf eine Weiſe moͤglich gemacht werden, wie dieſes bey der harten und unnatuͤrlichen Soͤnderung der wiſſenſchaftlich gebildeten Menſchen, von den, ohne

Peſtalozzi's Werke. VIII. 22

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wiſſenſchaftliche Cultur, durch's Leben gebildeten nicht moͤglich war. Die Gebildeten von beiden Claſſen gehoͤren, der Natur und der bürgerlichen Ordnung gemäß, zuſam⸗ men; wenn dieſes geſichert, ſo moͤgen die verbildeten von beiden ſich dann hinwieder ſo weit von einander trennen, als ſie nur koͤnnen und wollen. Das hat ſeinen Weg. Alle Thorheit faͤhrt fuͤr ſich ſelber beſſer, wenn ſie ſich von anderer Thorheit trennt; aber alle Weisheit und alle Wahr⸗ heit gewinnt durch Vereinigung, alles Gute iſt zur Ver⸗ einigung geſchaffen. Trennung des Guten iſt in jedem Fall Anbahnung zu ſeiner Zerſtoͤrung. Es iſt keine wahre Kraft, die durch Vereinigung mit irgend einer andern wah⸗ ren Kraft nicht gewinnt. Es iſt nur Schwaͤche, die Tren⸗ nung irgend einer wahren Kraft ſucht oder bedarf, und doppelt elende Schwaͤche, wenn ſie ſich durch Trennung von irgend einer Kraft geehrt und erhoben glaubt.

Die Idee der Elementar- Bildung taugt nichts, gar nichts, oder fie iſt beſtimmt geeignet, alles Wahre und alles Gute irgend einer Bildungsweiſe unſers Geſchlechtes, in welcher Huͤlle dieſes uns auch immer erſcheinen mag, in ſich aufzunehmen, und mit ihrer Wahrheit und mit ihrem Guten zu vereinigen.

Je mehr ſie in ihrer erſten Erſcheinung mit irgend etwas wirklich Gutem, das in der Erziehung und im Un⸗ terrichte ſchon da war, in Conflikt kam, je mehr bewies ſie dadurch, daß ſie in ihrem Weſen und in ihren Mit⸗ teln noch nicht vollendet, oder in beiden noch nicht verſtanden war. Auch zeigt die Erfahrung: fo wie

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fie fih in ihrem Weſen immer beſtimmter ausſpricht, und ihre Mittel ihrer Reifung immer mehr entgegen gehen, ſo fangen die Widerſpruͤche zwiſchen ihr und allem Gu— ten, das im Unterricht und der Erziehung wirklich ſchon da iſt, an, ſich allmaͤhlig zu verlieren; und wenn fie vol. lends gereifet ſeyn wird, fo werden dieſe Widerfprüche auch vollends verſchwinden. Iſt aber diefer Zeitpunkt jetzo wirk— lich ſchon vorhanden? O, nein! ich werde ihn wahrlich nicht einmal ſehen! Aber ſo viel iſt doch jetzt ſchon wahr: Je tiefer der Mann, der die Methode pruͤft, die Menſchen— natur kennt, je mehr er Pſycholog iſt; und je tiefer er ein Fach der Wiſſenſchaft und Kunſt, als Bildungsmittel der Menſchennatur, kennt, und je mehr er von der Wahrheit der ſittlichen und religidfen Fundamente, deren die wife ſenſchaftliche und Kunſtbildung unſers Geſchlechtes bedarf, überzeugt iſt; je mehr muß ihm auffallen, daß das Ver— ſchwindenmuͤſſen aller Widerſpruͤche der Elementar— Bildung mit irgend einer Wahrheit und irgend einem Gu— ten, das in der Erziehung und dem Unterricht wirklich da iſt, kein eitler, taͤuſchender Traum, ſondern in einzelnen Theilen der Methode als unwiderſprechliche Thatſache da, und in andern durch die beſtehenden Thatſachen angebahnt iſt. Gewiß iſt: der Tag der Vereinigung der Wider— ſpruͤche irgend eines Guten mit der Idee der Elementar— Bildung wird, er muß kommen. Die Idee der Elementar⸗ Bildung kann in ihrem Weſen nicht ergriſſen werden, oder ſie muß Kraͤfte geben, welche die Aufhebung dieſer Art Widerſpruͤche zu ihrer nothwendigen Folge haben.

Aber, je mehr dieſes wahr iſt; je mehr wir uns von

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den Folgen diefer Bildung verſprechen, und je zuverlaͤfſi⸗

ger wir, beſonders von ihrem Einfluß auf die Aufhebung der diesfaͤlligen Widerſpruͤche, uns ausdruͤcken; deſto noth⸗ wendiger iſt es, zu verhuͤten, daß man ſich über das, was wahre Elementar-Bildung iſt, nicht irre, und niemand den Schein dieſer Idee fuͤr ihr We⸗ ſen anſehe. Dieſes zu verhuͤten und die Naturgemaͤß⸗ heit in der Erziehung richtig zu beurtheilen, muß man die Thatſachen der Entfaltung der Menſchen⸗ natur im ganzen Umfang ihrer Anlagen und Kraͤfte, und zwar von ihrem Keim aus, in's Auge faſſen. Und hier, verehrte Herren tn del bin ich auf der Stuffe angelangt, das Ganze meiner bisherigen Dar⸗ ſtellung in ſeinem Brennpunkte zuſammenzufaſſen, und von der Reihenfolge meiner ſpeziellen Grundſaͤtze und Be⸗ muͤhungen hinweg, in die Werkſtaͤtte der Natur, zum Kinde ſelbſt, wie es in den Erſcheinungen ſeines Daſeyns nach Entwicklung haſcht, zu führen, als zumCentrum, von dem alle Grundſaͤtze und Mit⸗ tel der Elementar-Bildung als einzelne Strahlen ausgehen. Ich werfe alſo meinen Blick hierfuͤr auf dieſes, wie es aus der Hand der Natur, von jedem Keim ſeiner Kraͤfte aus, ſich als ein ganzes, unzertrennliches Weſen entfaltet. Nur dadurch bin ich im Stande, die Natur in ihrem Ele⸗ mente ſelbſt zu belauſchen, und ihre Mittel in der gan⸗ zen Einheit ihres göttlichen Thuns richtig zu erkennen. Dieſe aber ſind in jedem Fall von den Reihenfolgen

der beſondern Elementar⸗Mittel der intellektuellen und php⸗ \

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ſiſchen Ausbildung des Kindes ganz verſchieden. Dieſe Bildungsmittel find eigentlich nur Aeſte und Zweige des großen kraftvollen Stammes der Naturgemaͤßheit in der Erziehung. Die erſten, die allgemeinen Mittel der Ele— mentar⸗ Bildung, in denen ſich die Natur rein und ums» faſſend in ihrer göttlichen Einheit ausfpricht, find in jedem Fall als der Stamm dieſer Bildung, an deſſen inneres Leben ſich das Leben aller Aeſte und Zweige der Elemen— tar⸗Bildung anſchließen fol, anzuſehen; und fo, wie alle Sicherheit des Fruchttrageus der Zweige von der innern Kraft des Stammes und ſeinem ununterbrochenen Zuſam— menhang mit ſeinen Aeſten und Zweigen abhaͤngt, ſo haͤngt auch die Sicherheit des Erfolgs aller elementariſchen Spe— zial Bildungsmittel von dem innern Leben der allgemei— nen Elementar-Bildungsmittel unſers Geſchlechtes, und von ihrem ununterbrochenen Zuſammenhang mit dieſem innern Leben der letzten ab.

Die Kunſt muß die Natur vor allem aus in ihrem Selbſtwerk reifen machen, oder wenig— ftens reifen laſſen; ſie darf ihre Mittel niemals an die fuͤr fie noch ungereifete Naturkraft an⸗ knuͤpfen, fonft reifen auch ſie nicht, und koͤn⸗ nen nicht reifen. Die Kunſt muß in jedem Fall im reinen vollendeten Bewußtſeyn des verhaͤllnißmaͤßigen reife oder unreif⸗ Seyns der Naturkraͤfte des Kindes zu dem ſpeziellen Fall des Unterrichtsfaches, das mit ihm getrie⸗ ben werden ſoll, leben. Dieſes Bewußtſeyn aber entfal— tet ſich nur durch die theilnehmende Aufmerkſamkeit auf. die hoͤchſt einfachen Wirkungen der Natur ſel⸗

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ber in den inſtinktartigen Erſcheinungen des Haſchens des Kindes ſelbſt nach Entfaltung, und in der Handlungsweiſe der Mutter gegen ihr Kind in dieſem feinem Haſchen nach Ent⸗ faltung. Nur auf die ſer Bahn triffſt du die Natur in ſich ſelbſt noch ganz unverkuͤnſtelt und unumwunden an, und folglich iſt ſie auch nur allein auf dieſer die untruͤg⸗ liche Darſtellerinn und Lehrerinn ihrer ſelbſt und ihrer reis nen Wahrheit. Faſſe alſo dein Kind in dieſem Geſichts⸗ punkt in's Auge, und beobachte es, wo ſein eigner und ſeiner Mutter Inſtinkt, noch durch keine Kunſt, durch keine Noth und keinen Zwang der Welt verwirrt iſt, wo es ſich noch in dem Heiligthum ſeiner in Unſchuld wirken⸗ den Kraft rein und frey in der Wahrheit bewegt.

Es ſelbſt und ſeine Mutter ſind ihm dieſe Wahrheit; es kennt keine andere, und hat keinen an» dern Freund der Wahrheit und der Menſchheit, weder fuͤr ſich, noch fuͤr dich. Du kannſt alſo in ihnen allein die allgemeinen Elemente der Menſchen-Entfaltung, und mit ihnen das innere Weſen der Allgemeinheit in der Reihen⸗ folge der Entwicklungsmittel ihrer ſpeziellen Krafte auf das Kind mit Beſtimmtheit erkennen. Von ſeiner Geburt an geht ſeine erſte Entfaltung von ſeinem Beduͤrfniß aus. Und wie handelt die Natur in ihm? Wie behandelt ſie, in der Art, wie die Mutter in ihrem Thun das Kind auf⸗ nimmt, ſich ſelbſt?

Es bedarf; die Mutter hat, was es be darf; ſie gibt ihm, was es bedarf; fie iſt ihm feine Welt, es erkennt dieſe nur durch ſie, und dieſe befriedigt

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es nur durch fie. Es hungert, fie ftillt feinen Hunger; es iſt ihm jetzt wohl es duͤrſtet, ſie ſtillet ſeinen Durſt; es iſt ihm jetzt wohl. Die Stelle, auf der es liegt, iſt ihm nicht behaglich, ſie nimmt es auf ihre Arme; es iſt ihm wohl. Wohl ſeyn und bei der Mutter ſeyn, verwebt ſich in ihm in einem und eben demſelben Begriffe. Die Ausdrucke des Wohlſeyns, die Ausdruͤcke der Befriedigung entfalten ſich in ihm allmaͤlig; es laͤchelt, es iſt nicht blos befriedigt; es freut ſich, daß es befriedigt iſt. Es erkennt die Quelle ſeiner Befriedigung, es liebt ſie; es entfalten ſich Zeichen ſeiner Freude, ſeiner Liebe; es umſchlingt die Mutter, es herzet die Mutier. Dieſe Zeichen vermehren ſich, fie werden beſtimmter; ihr Weſen geht jetzt in ſei⸗ ner Seele in bleibendes Bewußtſeyn, in bleibende Erkennt⸗ niß uͤber. Es traut jetzt der Mutter, iſt ruhig, wenn ſie auch nicht da iſt, es weiß, daß ſie wieder kommt; es traut ihrer Ordnung, es gewoͤhnt ſich an ſie. In dieſer Ruhe, in dieſer Befriedigung erweitert ſich feine Liebe. Der Cha— rakter ſeiner Liebe aͤndert ſich, es will jetzt etwas mit ſei— ner Liebe, es will, daß die Mutter ſie ſehe; es will, ſie ſoll ſehen, daß es ſich freut, daß es ſich ob ihr freut; es will, daß ſie ſich auch freue, daß ſie ſich ob ihm freue; es will, daß ſie ſich ob ſeiner Liebe freue, und dieſe ſeine Liebe entfaltet dann allmaͤlig in ihm das hohe Gefuͤhl des Dankes.

Aber zu allem dieſem entfaltet ſich das Kind auf dieſer Stuffe nicht durch Einſicht, ſondern durch Genuß; es ſucht auf dieſer Stuffe durch» aus nicht Wahrheit, es ſucht auf derſelben Befr ie

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44 digung. Das erſte Reſultat feiner. Erfahrung, feiner Entfaltung, wie es ſich in der Lebendigkeit ſeines ganzen Seyns ausſpricht, iſt alſo keineswegs die Deutlichkeit ei⸗ nes Begriffes uͤber etwas, das es erkennt nicht ein» mal einfaches, reines Fundament, das dazu fuͤhrt; es iſt nur entfaltete Liebe, es iſt nur entfaltetes Vertrauen 5168 find nur Spuren des Dankes für das, was es genoſſen. Dahin in ſeiner erſten Epoche gereifet, naͤhert es ſich dann allmaͤhlig ſeiner zweyten, der Ausdehnung ſeiner Liebe und ſeines Vertrauens außer und neben feiner Mutter. Dieſe Ausdehnung aber bildet ſich auch in dieſer Epoche hinwieder nur durch die Mutter ſelber. So wie es jetzt Dinge außerihr zu genießen faͤhig, fo wie es jetzt Dinge außer ihr erfreuen, befriedigen und erquicken; ſo fuͤhrt es die Mutter zu aller Art Gegenſtaͤnde, von denen ſie ſieht, daß es ſelbſt darnach Neigung zeigt, daß es nach ihnen un verwandt hinſchaut, daß es darnach haſcht; und wenn ſie es jetzt alſo zu einem bunten Kleid oder zu einer ſchoͤnen Blume, zu der klingelnden Glocke, zu dem bellenden Händchen. u. ſ. w. hinfuͤhrt, wenn ſie ihm die Geruͤche der Roſe und des Veilchens an die Naſe hält, wenn fie es die Wärme des Ofens fühlen läßt, wenn fie es die füße Birne und den Honig ſchmecken macht, kurz, was ſie ihm immer thut, und mit ihm thut, ſo gibt fie ihm dafür Worte; fie nennt ihm die Ge⸗ genſtaͤnde feiner Beduͤrfniſſe und feiner Umgebungen, fo wie ſie vor ſeinem Sinn ſtehen, ‚fo wie fie es reizen, ſo wie ſie es erquicken und befriedigen. Was Natur und Be⸗ dörfpiß dem Kind immer zum vollendeten Bewußtſeyn ger

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bracht, dafuͤr gibt fie ihm Sprache, fo weit fie dieſe ſelbſt hat; aber nicht bloß eitle, leere Worte, ſie gibt ihm die Worte nach dem Maß, in dem die Sachen, die ſie ihm benennt, ihm Beduͤrfgiß find, Freude machen, Vergnügen oder Unannehmlichkeiten veranlaßen oder verhuͤten. Ihre Sprachlehre iſt durchaus mit einem lebendigen Handeln, das auf die Gegenſtaͤnde, deren Nah— men fie dem Kinde ausſpricht, Bezug hat, ver bunden; ſie haͤlt ihm ſein Haͤndchen von der Flamme weg, wenn fie ihm ſagt, das Feuer brennt; fie lenkt es mit Kraft vom Ufer ab, wenn ſie ihm ſagt: du koͤnnteſt da herabfallen und ertrinken. Alle ihre Reden mit dem Kinde ſind in ihrem Munde für ihr Kind Lehren der Wahr— heit. Sie entfaltet und befeſtigt das Bewußtſeyn der Worte von ihnen durch ihre liebende That.

An ihrer Hand lernt das Kind um der Sachen mil. len reden, und nicht Sachen erkennen, damit es davon reden koͤnne. Das Reden iſt ihm nur der Ausdruck der erkannten Sachen, und die Sache niemals das bloße Be— leg der Worte, die, fie es gelehrt. Daher folgt dann auch naturlich: je vollendeter das an der Hand der Mutter na turgemaͤß erzogene Kind etwas erkennt, je mehr redet es davon; und je weniger es davon kennt, je weniger redet es davon. So geſchiehet die Entfaltung ſeiner Anlagen und Kraͤfte allgemein durch die Wahrheit des wirklichen Lebens. Es übt die Kräfte feiner Hände nicht blos, da— mit es ſeine Hand uͤbe, ſondern vorzuͤglich damit es ſel— bige nach dem Beduͤrfniß der Umſtände dieſes Lebens ſel⸗ der brauche. Es bildet und ſtaͤrkt feine Hand, weil es

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etwas damit ſchafft; und ſchafft nicht mit der Hand, da⸗ mit es fie ſtaͤrke und bilde. So geht es auch nicht auf feinen Füßen, um dieſe zu ſtaͤrten, ſondern es ſtaͤrkt fie, weil es darauf geht, und geht darauf, weil es darauf ge⸗ hen will und gehen muß.

Wenn die erſte Epoche des mütterlichen Einfluſſes auf die Entfaltung der Anlagen des Kindes ſich im Kreiſe der bloßen einfachen Befriedigung ſeiner Kraͤfte herumtreibt, ſo erregt ihr Einfluß in der zweyten Epoche bey ihrem Kinde das Bewußtſeyn der Wahr⸗ heit feiner ſelbſt und feiner naͤchſten Umgebun⸗ gen, ſo wie des Verhaͤltniſſes der einen zu den andern. Seine ſich ſchaͤrfenden Sinne, ſeine ſich ſtaͤr⸗ kende Kraft werden ihm jetzt bewußt; es weiß, was es kann, es ahndei das Naͤchſte, das ſich an das, was es kann, leicht anſchließt; es will das auch koͤnnen, es ver⸗ ſucht das. Sein Beduͤrfniß, fein Geluͤſten, das Gefühl feiner Krafte drängt es; es muß vieles verſuchen, das es noch nicht kann. Es waͤchst am richtigen Urtheil über ſein Koͤnnen ſo wohl, als uͤber ſeine Umgebungen, weiß täglich mehr und kennt taͤglich mehr; es fuͤrchtet täglich weniger, und faͤngt an, taͤglich den Umgebungen mehr zu trauen; aber dieſe Vorſchritte alle entfalten ſich jeßo noch immer nur an der Hand und an der Seite der Mutter, und in der Sicherheit ihres umſchwebenden Schutzes. Was es immer auch weiß, was es immer auch erfahren, es traut ſich noch in keinem Falle in nichts, als an ihrer Seite; es gefaͤllt ſich noch nirgends beſſer, als in ihrer Stube; die Spiele in dieſer Stube befriedigen es noch

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ganz, wenn ſie auch in ihrer Beſchraͤnkung feinen Geiſt und Koͤrper nur ſchwach anſprechen. Es wagt ſich, doch nur bedaͤchtlich vor die Thuͤr derſelben, und ſchleicht nur langſam und umſchauend von ihr weg in das nahe Gaͤrt⸗ chen, fest ſich hin in's Grüne, athmet frey in der weiten Natur, pfluͤckt ſich die Bluͤmchen, ſammelt da Steinchen, Schnecken und Blumen. Aber, wann nur ein ſtarker Laut um es her tönt, wenn ſich nur eine fremde Geſtalt in ſei⸗ ner Nähe zeigt, ſchleicht es ſich wieder ſtill und ſorgſam in die ſichernde Stube zu der beſchuͤtzenden Mutter. Von ihr, von ihr allein geht ſein Vertrauen in dieſem Zeitpunkt noch aus.

Doch, ſo wie es oͤfters in das Gaͤrtchen hinaus kommt, mit ſeinen Umgebungen bekannter wird, faͤngt es nun auch an, in der Ferne von der Mutter etwas ruhiger zu ſeyn. Es erſchrickt allmaͤlig weniger ob einem Laub, das rauſcht, ob einer fremden Geſtalt, die vorbeygeht; es lockt jetzt das Händchen, das Schaͤfchen, das es oft geſehen, auch wenn die Mutter nicht da iſt, mit ſeinem Brot an die Seite, bald wagt es ſich bis an das Ende des Gartens, ſieht durch die Hecke nach der Straße, traut jetzt der Hecke, wie es der Hausthüͤr traute, freut ſich hinter ihr des An— blicks der Geſtalten, die vor ihm voruͤbergehen, wenn es ſie auch vorher noch nie ſah. Je weniger es ſie geſehen, je feſter ſchaut es ſie jetzt an; es iſt jetzt froh, wenn ſie vor ihm ſtill ſtehen; es ſieht innerhalb der Hecke dem gro— ßen Pferde ruhig zu, wenn es hart an ihm weidet; und wenn Menſchen nahe bey ihm, aber außer der Hecke, laut reden, ſo flieht es nicht mehr; es ſieht ſie mit einem fe⸗

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ſtern Blick an. Der Geluſt, mehr Leute, mehr Sachen zu ſehen, wird hey ihm immer ſtaͤrker; von ihm getrieben, wagt es ſich unter die Thuͤr des Gartens an der Straße, um naͤher zu ſehen, naͤher zu hoͤren, was außer ihm vorfaͤllt. une

Es geht allmälig in die dritte Epoche der kindlichen Entfaltung hinuͤber. Es fühlt jetzt die ſteigende Sicherheit, die ihmſeine wachſenden Kenntniſſe und ſeine wachſenden Kraͤfte, auch entfernt von der Hand der Mutter und von dem Schutz ihrer Liebe, gewaͤhren. Es traut ſich täglich mehr, es weiß täglich mehr, welchen Gegenſtaͤnden es trauen und

nicht trauen darf. Es fuͤhlt ſich taͤglich mehr im Heran⸗

wachſen d Kraͤfte, ſich ſelber zu helfen, ſich ſelber zu ſchaͤtzen. fig muß zu diefem Gefühl kommen; die Kräfte, die ſich in ihm entfalten, haben fuͤr daſſelbe alle in ihrem Weſen einen Reiz, ihre Anwendung ſelbſtſtaͤndig zu ver⸗ ſuchen. Ohne Anlaß, ohne Gelegenheit ſie anzuwenden, bleibt ſeine Kraft in ihm ſelbſt unbefriedigt. Es fuͤhlt das; es ſoll ſie anwenden und will ſie anwenden, wo es im⸗ mer kann. Es will mehr koͤnnen. Die Wohnſtube wird ihm fuͤr dieſen Willen zu enge. Selber die Mutter iſt ihm jetzt nicht mehr alles, ſie iſt ihm nicht mehr allein ſeine Welt. Es erkennt jetzt eine Welt außer ihr. Auch iſt ihm nicht mehr allein bey ihr wohl. Der Begriff: wohl ſeyn und bey der Mutter ſeyn, iſt ihm nicht mehr einer und eben derſelbe. Es iſt ihm auch entfernt von ihr wohl. Es ſpringt von ihr weg zu Knaben, die ſpie⸗ len; es achtet es nicht, ob welche darunter ſind, die es

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noch nie geſehen; es fpielt mit ihnen, als wenn es ſie kennete, es iſt ihm wohl unter ihnen; es kommt morgen wieder, es kommt uͤbermorgen wieder zu ihren Spielen; es ſchließt Verbindungen mit ihnen, es bringt ſie mit ſich in ſeine Wohnſtube; es ſagt: Vater und Mutter! ſieh, da habe ich Freunde. Auch ſie bringen es ihren Vaͤtern, ihren Muͤttern, und ſagen ihnen: es iſt unſer Freund. Der Kreis ſeines Lebens, der Kreis ſeiner N 0 iſt erweitert. b Seine; Kräfte ed Gh an 1920 Seite ſeiner Kameraden im Leben der Welt, wie ſie ſich an der Seite ſeiner Mutter im Leben des Hauſes entfalteten. Dieſe hat gehen gelehrt, die Knaben lehren es laufen, ſpringen und klettern. Die Mutter hat es reden gelehrt, die Knaben lehren etz ſin⸗ gen, pfeifen und rufen. Die Mutter macht es angreifen, herzutragen, wegtragen, herbringen und fortbringen, was ‚fie oder es beduͤrfen; die Knaben, machen es angreifen, tragen, anfaſſen und werfen, was ihm zu tragen, zu wer⸗ fen Freude macht, auch was ſchwer iſt und Kraft braucht. Dieſe nimmt jetzt auch immer mehr zu, und mit der des Körpers. auch die des Geiſtes. Es blickt jetzt freyer in die Welt um ſich her; auch ſein Herz erweitert ſich; der Kreis, den es liebt, der Kreis, dem es vertraut, wirkt jetzt binmwieder auf die Ausdehnung ſeiner Geiſtesthaͤligkeit und „feiner phy ſiſchen Kräfte. Dieſes wird ihm jetzt in allen

Beziehungen groͤßeres und allgemeineres Beduͤrfniß. 5 Es juͤhlt dieſes Beduͤrfniß, es wird von iym getrieben; es faͤngtallmaͤlig an, nach allem Wiſſen, Koͤn⸗

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nen und Haben der Welt zu haſchen. Jetzt iſt's, wie wenn der Geiſt ſeiner kindlichen Fuͤhrung, wie wenn alles Gefuͤhl ſeiner kindlichen Schwachheit und der daraus hervorgehenden Unſicherheit, Sorge und Zweifel feine Be- daͤchtlichkeit ſtill ſtehen wolle; es iſt, wie wenn das Band, das zwiſchen ihm und der Mutter, als ein heiliger An⸗ fang ſeiner ganzen Entfaltung da ſtand, ſich voͤllig auf— loͤſen wolle; wie wenn es frey in die Welt hinein treten wolle, ohne einen Schutz, und ohne einen Fuͤhrer. Aber kann es das? Darf der ſchuͤchterne, forgfältige Unmuͤn⸗ digkeits Gang feiner erſten Entfaltung jetzt fo ploͤtzlich auf- hören? Darf das ſchuͤtzende und bildende Band zwiſchen ihm und der Mutter, ohne daß ſich ein neues, ſchuͤtzendes und bildendes Bandzwi⸗ ſchen ihm und der Natur anknuͤpfe, zerriſſen werden? Soll das Kind jetzt alſo, im Mittelpunkt ſei⸗ nes reinen ſeelerhebenden Weſens und Seyns, ſtill ſte⸗ hen? Soll und darf ſeine Mutter es jetzt unbeſorgt von ſich weggehen laſſen? Braucht es ſie nicht mehr, braucht es jetzt keinen Leiter, keinen Fuͤhrer, der es in ihrem Geiſte leite? Muß ſie jetzt ſeinem erwachenden Hang zum freyen Haſchen nach allem Wiſſen, Koͤnnen und Wollen der Welt, ohne alle Ruͤckſicht auf den alten Geiſt ihres 05775 ganz ſeinen freyen Lauf laſſen?

Man muß ſich hier fragen: Iſt dieſer anſcheinende Widerſpruch des gegenwaͤrtigen Seyns und Thuns des Kindes gegen alles, was vorher in ſeinem Seyn und Thun lag, auf den Anſpruͤchen ſeiner Natur in ihrem ganzen Umgang gegruͤndet, und iſt er in dieſer Rüͤckſicht als na⸗

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turgemaͤß anzuſehen, und ein reiner Ausdruck ihrer gan zen Fülle und ihrer ganzen Wahrheit, oder iſt er nur ein einſeitiges Streben feines ſinnlichen, thieriſchen Weſens?

Gute Mutter des Kindes! kannſt du dich enthalten, dich ſelber zu fragen: Was wird aus meinem Kinde, das ſich fo lange, fo ſorgſam, fo geleitet von meiuer ſchuͤ⸗ genden Hand, entfaltet, nun jetzt in dieſem kuͤhnen Wechfel ſeiner Stimmung werden? Was wird, wenn ihm das Ge— fuͤhl ſeiner wachſenden phy ſiſchen Kraft eine Richtung gibt, in der das Zartgefuͤhl ſeiner unmuͤndigen Entfaltung voͤl— lig verſchwindet, und an ſeiner Statt ein Muth und ein Vertrauen auf vorher unbekannte und ungebrauchte Kraͤfte eintritt, das hoͤchſtens in phyſiſcher Hinſicht einiges Fun— dament haben kann, in ſütlicher und intellektueller hinge— gen voͤllig ohne Begrundung da ſteht was wird aus ihm werden? Es iſt offenbar zu den Anſpruͤchen des Wiſſens, Koͤnnens und Wollens, die es macht, nur thieriſch gereizt, und nicht menſch— lich erhoben.

Je mehr ich dieſen Zuſtand in's Auge faſſe, je mehr finde ich es in dieſem Augenblick in Gefahr, das weſent— liche Fundament ſeiner Unſchuld, feine Reinheit zu ver— lieren; alles Heilige und Reine in feinem menſchlichen Seyn hat jetzt die Reize nicht mehr, die es hatte, als es an der ſchuͤtzenden und leitenden Hand feiner Mutter glau— bend und liebend einher ging. Aber braucht es ſie etwa nicht mehr, kann es jetzt ſelbſtſtaͤndig einhergehen? Sind die Gefahren voruͤber, um derentwillen es fie vorher brauch⸗ te? Ach Gott! ſie gehen erſt jetzt an: ſeine Unſchuld

4

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iſt dahin, ſein Irrthum iſt jetzt fein Fehler, ſeine Luſt wird ihm Suͤnde; es kommt ganz mit ſich ſelbſt in Widerſpruch; ſeine Einſichten, ſeine Ueber⸗ zeugung ſtellen ſich feinen ſinnlichen Gelüſten entgegen; ſein Inſtinkt hat ſeine Unſchuld ver⸗ lorenz; er unterſtuͤtzt jetzt eine thieriſchen Geluͤſte, und iſt in ihm mächtig und alt. Ueberzeugung und Einſicht find nicht in ihm maͤchtig und alt; ſie ſind in ihm ſchwach und ihm neu, und wirken dem Iynſtinkt nur ſchwach entgegen. Es hat jetzt das Boͤſe, als ſolches, kennen gelernt; es weiß, daß es boͤſe iſt, und thut es doch. Die Gefahren, die ihm Unwiſſenheit und Unkunde in der Unmuͤndigkeit, brachten, verdoppeln ſich durch das Bewußtſehn des Boͤſen und des Untechts; und wie es ſich ehemals inſtinktartig vor dem Unbekannten und Fremden fuͤrchtete, und ſich durch dieſe Furcht vor den Gefahren bewahrte, denen das Unbekannte und Fremde es ausſetzen konnten, ſo ſollte es ſich jetzt vor dem Unrecht und Bofen fuͤrchten, und ſich durch dieſe Furcht vor den Uebeln bewahren, denen es dieſe ausſetzen könnten. Die ſinnliche Schüchternheit aus Scheu feiner Schwache vor dem Unbekannten und Fremden, ſollte jetzt in die Scham und Scheu ſeiner ſittlichen und intellektuellen Schwache vor dem Unrecht und vor dem Boͤſen übergehen; und wie es in den Gefahren feiner phyſiſchen Unmöͤndigkeit, zu feiner Rettung und zu feiner Bildung, des Glaubens an die ſchuͤtzende und liebende Hand feiner Mutter bedurfte, ſo bedarf es jetzt in den Gefahren feiner ſittlichen und intellektuellen Unmündigleit eines er⸗ ne u⸗

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29%

neuten Glaubens zu feiner Rettung vor dem Boͤſen, das es jetzt kennt, und zur Sicherheit feiner Bil⸗ dung für das Gute. Es bedarf jetzt mehr als je der ge— ſicherten Fortdauer der liebenden, glaubenden und erheben: den Gemuͤthsſtimmung, in der die erſten Keime feiner Aus⸗ bildung ſich fo hehr und heilig entfaltet. Und es iſt ge⸗ wiß: fein neues Eingreifen in die Welt durch Wiſſen, Wollen und Thun kann fuͤr daſſelbe nur durch die Fort⸗ ſetzung dieſer Gemuͤthsſtimmung bildend und naturgemäß wirken, und der Mangel der Fortdauer dieſer Gemuͤths⸗ ſtimmung beym lebendigen Erwachen des kindlichen Ein greifens dieſes Zeitpunkts in alles Wiſſen, Wollen und Thun der Welt iſt denn auch beſtimmt die Klippe, an der das Kind ohne eine ſchuͤtzende und leitende Obhand, auf der erſten dieſer Stufen feiner intellektuellen und phyſi⸗ ſchen Entfaltung, ſo gewiß feiern muß, als es ohne die ſchuͤtzende und leitende Hand der Mutter in der erſten Stufe ſeiner phyſiſchen Entfaltung geſcheitert hätte,

Das ſittliche Werden des Kinde iſt jest in feiner Geburt. Der Augenblid it für fein Leben ent⸗ ſcheidend, und die Gefahr groß; io, wenig als möglich, die intellektuelle Kraft des Kindes, ohne belebende Uebung derſelben, ohne ein Habituellmachen ihres Gebrauchs, na⸗

turge mäß wachſen zu machen, und das Kind vor den

nothwenßigen Folgen, der, intellektuellen Schwache zu be⸗

wahren, fo ‚wenig if en möglich, die ſittliche Kraft deſſel⸗ ben, ohne belebende Uebung ihrer ſelbſt, durch ein Habi⸗ ‚uelimacen ihres Gebrauchs, naturgemaͤß wachſen zu ma⸗

n Werke VIII. 23

4

.

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chen, und das Kind vor den nothwendigen Folgen der ſittlichen Schwäche zu bewahren. 1

Der Anfang der Bemuͤhungen fuͤr dieſen Zweck fällt in den Augenblick, von dem wir reden. Das erſte Be⸗ dingniß der Erfuͤllung dieſer Bemuͤhungen iſt, daß ſie na⸗ turgemaͤß ſeyen; und wie koͤnnen, wie werden ſie dieſes ſeyn? Die Natur fordert fuͤr dieſen Zeitpunkt von der menſchlichen Sorgfalt die Weiterfuͤhrung deſſen, was ſie bisher inſtinktartig gegruͤndet; ſie fordert die menſchlich verſtaͤndige Weiterführung der liebenden, glaubenden Gemuͤthsſtimmung, deren Wahr⸗

heit und deren Segen das Kind bis jetzt in der Unſchuld

bewußtlos genoſſen. Das Fundament dieſes Zuftandes,

der Glaube an die Mutter, ſchwachet und wanket. Die

Natur fordert erneuerte Mittel des Glaubens. Das Kind

darf, ohne Gefahr, die Naturfaͤden feiner ſittlichen Ent⸗ faltung ganz zu zerſchneiden, aus der Epoche feines ſinn⸗

lich und inſtinktartig in ihm lebenden Glaubens an die Mut⸗ ter nicht herausgehen, ohne daß ſchon in dieſen Epochen

die erſte Grundlage des Glaubens an Gott tief

in feine Seele gelegt fen.

Diefes aber ift in dieſet Epoche nur durch ſinnliche Mittel“ moglich. Aber es ift nothwendig. Die Natur fordert, daß ehe die ſinnlichen Reize des Glau⸗ bens an die Mutter im Kinde gesch sacht ſind, die fin inn⸗ lichen Reize des Glaubens an Golt ſchon in ihm leben⸗ dig entfaltet ſeyhen. In dieſem ji ſinnlichen Hineinfimelgen der Anfänge des Glaubens an Gott in die Wahrheit und die Kraft des gereiften Glaubens an die Mutter, liegt

AS ee

3 355

die einzige Möglichkeit der reinen, luͤckenloſen, naturge⸗ maͤßen Fortbildung der kindlich reinen Gemuͤthsſtimmung, aus der die Sittlichkeit des Menſchen geweiht, heilig und hehr entkeimt. In ihr liegt die einzige Möglichkeit: der Fortbildung unſrer Natur auf dem Wege des Glaubens und der Liebe. In ihr liegt die einzige Moͤglichkeit der Erhöhung der ſinnlichen Anhaͤnglichkeit in eine fittliche und geiſtige. Ohne ſie iſt das heilige Band, das die Natur zwiſchen der Unmuͤndigkeit und dem Wachsthum unſrer Menſchlichkeit geknuͤpft, zerriſſen; ohne fie iſt das große Naturwerk, das in der Liebe maͤchtig, dem Kinde durch den Glauben den Weg zur hoͤchſten Veredlung ſeiner ſelbſt bahnte, umſonſt da.

Die Erhaltung dieſes großen Naturwerks in ſeiner Reinheit und in ſeiner Kraft iſt das weſentliche Fundamentder Idee der Elementar— Bildung und ihrer Anſprüche zur Naturgemaͤßheit; und dieſe iſt hinwieder gaͤnzlich nichts anders, als das Feſt— bleiben der Kunſt auf dem Weg der Natur. Und auf dieſem Weg kann die Elementarbildung in der Epoche, von der wir reden, fuͤr die Fortbildung des Kindes zur Sittlichkeit nur ſinnlich wirken. Die Anfangsmittel der Sittlichkeit beym Kinde ſind in dieſem Zeitpunkt noch nicht geiſtig. Sie ſchließen ſich in demſelben bloß inſtinktartig an das Seyn und Leben des Kindes, und ihre dießfaͤllige Anſchließung muß ſelber in der reinen, lebendigen Unſchuld des Inſtinkts, und nicht erſt dann beginnen, wann dieſes im Kind ſelber ſchon anfaͤngt.

Es iſt deswegen fuͤr die ſiltliche Bildung des Kindes

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weſentlich, daß der finnliche Eindruck des Glaubens feiner Eltern an Gott ſich mit dem erſten Anſchauungs⸗ Eindruck des ganzen Seyns und Thuns ſeiner Eltern verwebe. Es iſt gut, daß es fie täglich zu ſei⸗ ner Zeit bethend ſehe, wie es ſie ſieht, ihm zur gleichen Zeit fein Mittag: und fein Abendeſſen bringen. Es iſt gut, daß es ihre Furcht vor Gott, ihre Scheu, nichts zu thun, das feinem Willen entgegen fey, früh erkenne; wie es ihre Scham und Scheu vor fremden und hoͤhern Men⸗ ſchen, etwas ihnen Mißbeliebiges zu thun, fruͤh erkennt. i Es iſt gut, daß es ſie von Jeſus Chriſtus, von ſeinem gu⸗ ten Leben, und von ſeinem erhabenen Sterben ſo fruͤh und fo viel erzählen höre, als es fie vom guten Leben und vom

ſeligen Sterben ihres Vaters erzaͤhlen gehoͤrt. Es iſt gut, | daß es das Bild des guten Jeſus oft ſehe; es ift gut, daß ſeine Mutter es ihm oft zeigt, wie ſie ihm das Bild ihres Vaters oft zeigt, und dadurch ſeine Liebe zu ihm weckt; es iſt gut, daß der Tag des Herrn (der Sonntag) ihm ſchon in feiner Unmuͤndigkeit als ein feyerlicher, als ein Gott geweihter Tag, erſcheine; es iſt gut, daß Kirchen⸗ geſang, Glockengelaͤut, Feyertags-Stille, ſchon in feiner Unmüͤndigkeit einen tiefen Eindruck auf das Kind machen, und eine hohe Ehrfurcht vor Gott gleichſam ſinnlich er⸗ zeugen; es iſt gut, daß es keinen Löffel in die Hand neh⸗ me, um zu eſſen, ehe es ſeine Haͤnde gefaltet, und ſein: Speiſ' Gott, Troͤſt' Gott u. ſ. w. ausgeſprochen; es ift gut, daß es ſich am Abend nicht zu Bette lege, ohne ſein: hät mir Gott u. ſ. w. zu bethen, und am Morgen nicht

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aufſtehe, ohne vorher auen Morgpufegen ausgeſprochen zu haben. | Die Elemente der Sittlichkeit gehn nicht von Begriffen, ſie gehn vom Glauben aus. Die hoͤchſte Erhebung des Glaubens als unmittelbar praktiſch, beruͤhrt das Gebiet der Verſtandesbildung auf keine Weiſe ſtoͤrend. Jede Bahn der Verſtandesbildung, welche die ſteigenden Kraͤfte des Glaubens hemmt und verwirrt, iſt nicht naturgemaͤß, ſondern fuͤhrt zur Unnatur. Freilich iſt hingegen aber auch wahr, alles Menſchliche in der Bahn der ſittlichen und religioͤſen Bildung, die die wach fenden Denk- und Kunſtkraͤfte unſers Geſchlechts hemmt und verwirrt, iſt nicht naturgemäß, ſondern führt zur Un- natur und entſpringt aus ihr. Und es iſt auch nur in feſter Anerkennung dieſes Gegenſatzes, wenn wir fortfah— ren zu ſagen, daß der Uebergang der zweyten kindlichen Epoche in die dritte nur durch den Uebergang der Liebe, des Vertrauens, und der Anhänglichkeit an die Mutter in die Liebe und das Vertrauen und in die Anhaͤnglich— keit an Gott, fuͤr das Kind naturgemaͤß und wahrhaft bildend iſt, und daß in dieſer Ruͤckſicht die Bilder, die dem Kind in dieſem Alter von Gott und allem Goͤttlichen beygebracht werden ſollen, mit dem Weſen feiner Unſchuld und Unkunde von allem Goͤtllichen und Menſchlichen in Uebereinſtimmung beygebracht werden muͤſſen. Der liebe Gott ſoll und darf ihm im Zeitpunkt dieſes Uebergangs nicht anders als ein Weſen voll muͤtterlicher Liebe und Sorgfalt vor die Sinne gebracht, und weſentlich verhuͤ— tet werden, daß kein ſchreckendes Bild von Gott und der

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Ewigkeit ſtoͤrend auf das Gleichgewicht feiner Krafte und auf den Frohſinn und die Unbefangenheit einwirke, die ihm zur ruhigen und naturgemaͤßen Entfaltung ſeiner ſelbſt in allen ſeinen Kraͤften unumgaͤnglich nothwendig iſt. Dieſe Sorgfalt iſt unumgaͤnglich noͤthig, wenn im Kind das, was in der erſten kindlichen Epoche inſtinktartig in ihm. entfaltet worden iſt, in der zweyten menſchlich, d. h. mit feinen wachſenden ſütlichen und geiſtigen Anlagen in Ueber⸗ einſtimmung erhalten werden ſoll. Durch dieſe, auf: diefe: Weiſe geſicherte Fortdauer der liebenden, glaubenden, kind⸗ lichen Gemuͤthsſtimmung wird dann das Streben des Kinds nach einer allgemeinen Ausdehnung des Gebrauchs feiner: Kraͤfte eigentlich nur ein Organ jedes Vorſchreitens zu ei⸗ nem wahrhaft naturgemaͤßen Wachsthum ſeiner Kraͤfte.

Das Kind dieſer Fuͤhrung ruhet ſchon in dieſem Al⸗ ler, glaubend und liebend, in den Armen ſeines Vaters im Himmel, wie es in den Armen feines Vaters auf Er⸗ den glaubend und liebend ruhet.

Der Gang, den ſeine weitere Entfaltung an Gottes Hand nimmt, iſt mit dem gaͤnzlich übereinffimmend, den feine erſte Entfaltung an der Hand feiner Mutter nahm. Wie die erſte Wirkung der Kenntniſſe der Mutterliebe dieſe war, daß ſich die Zeichen ſeiner Mutterliebe bald vermehren, ſo vermehren ſich jetzt auch die Zeichen und Aeuſ⸗ ſerungen ſeiner Gottesliebe. Die Vorſtellungen von Gott ſind ihm in dieſer Gemuͤthsſtimmung natuͤrliche, tiebliche und bleibende Vorſtellungen. Es unterhaltet, es deſchaͤftigt ſich gerne mit denſelben. Es will von Gott re

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559 den. Es will von feiner Liebe reden. Es will mit Gott reden. Aber ſo wenig es in ſeiner Unmuͤndig⸗ keit, aus Liebe zu feiner Mutter, allerley

Meynungen uͤber fie nachjagte, fo wenig jagt es jetzt, um feiner Gottesliebe willen, aller⸗ ley Mey nungen über Gott nach. Wie es in der Mut: terliebe nur Befriedigung ſuchte, ſo ſucht es jetzt auch in ſeiner Gottesliebe nur dieſe. Seine Gottesliebe führt es zuerſt nicht zu Verſtandesuͤbungen Aber das, was Gott ſeh. Das erſte Reſultat dieſer Liebe iſt: daß ſich ſein Herz zu Gott erhebt, um ihn zu lieben, um ihm dankend und glaubend zu leben. Das liebende, glaubende Leben vor dem Ans geſicht Gottes iſt ihm jetzt das, was ihm das liebende, glaubende Leben vor dem Angeſicht der Mutter war. Es iſt ihm nur Fortſetzung, Wachsthum und Veredlung des Lebens, das es fchon lebte.

Aber, wie ſteht das ſo gefuͤhrte Kind zu den Verhaͤltniſſen der Schule? Soll man es in die Schule ſchicken? Iſt es ſchulfaͤhig? Was iſt das? Was will die Frage ſagen: iſt das Kind ſchulfaͤhig? Gewiß ift ein ſolches Kind zur kraftvollen Ergreifung alles deſſen faͤhig, was Natur, Umgebungen, und ſelber die Kunſt, in ſo fern ſie von der Nalur ausgeht, und ſich an die Umgebungen des Kindes anſchließt, mit ſich bringt. Es kann nicht an. ders ſehn. Auch der Wille eines alſo geführten Kindes, alles zu lernen, was ſeine Natur anſpricht, und wozu ſeine Umgebungen Reiz und Mittel geben, muß groß und le— dendig ſeyn.

Aber, ſoll man es düfte in die Schule ſchik—

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ken? Im väterlichen Haus und an der Seite feiner Mut ter treibt ſich alle Bildung des Koͤnnens, Wollens und Wiſſens des Kindes um deſſen Bedarf. Die Schule ſoll den im vaͤterlichen Hauſe gegruͤndeten Geiſt dieſer Fuͤh⸗ rung forthin erhalten, und in der Bildung des Kindes zu allem Wiſſen und Koͤnnen das hinzuſetzen, wozu die Um⸗ ſtaͤnde des haͤuslichen Lebens, und das auf die Kenntniſſe des Kindes in dieſem Leben Einfluß habende Perſonal nicht hinreichen. Wird die Schule das thun? wird ſie das Kind in Unſchuld, Glauben und Liebe den Weg fortwandeln machen, den es an der Seite ſeiner Mutter begonnen? Wird ſie das Wiſſen und Koͤnnen, das ſie dem Kinde ge⸗ ben kann, mit feſtem Sinn an das anſchließen, was ihm die Mutter und ſein genoſſenes haͤusliches Leben im gan— zen Umfang ſchon gegeben hat; was es ſchon weiß, ſchon hat und ſchon kann? Werden ihre Mittel an alles das ſich anpaſſen, was das Kind ſchon iſt; und werden fie es in dem, was es lernen muß, auf dem Punkt ergreifen, auf dem es ſchon ſteht, und fein Weiterſchreiten auf allen Sei⸗ ten von dieſem Punkt ausgehen machen?

Dann muß man es, auch, wenn ſie das nur halb thut, fo muß man es in die Schuleſchicken. Aber, wenn ſie davon gar nichts thut, wenn ihre Mittel und ihre Uebungen der naturgemaͤßen Bildungsweiſe, die das Kind in der erſten und zweyten Epoche feines kind⸗ lichen Seyns und Lebens genoſſen, geradezu entgegen ſte⸗ hen; wenn ſie das verwirren, was dieſe in Ordnung ge⸗ bracht, wenn ſie das ſtill ſtellen, was dieſe in Bewegung geſetzt, wenn fie das einſchlaͤfern, was dieſe aufgeweckt

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wenn ſie das toͤdten, was dieſe lebendig gemacht; ſoll man es dann doch in die Schule ſchicken, weil es jetzt ſchul⸗ faͤhig? Ich daͤchte, man ſollte ſich doch zuerſt fragen: was die Schulfaͤhigkeit denn eigentlich ſey, zu der es jetzo gereift iſt. Gewiß iſt ſie nicht bloß eine An⸗ reifung zu der Empfaͤnglichkeit der A, 3, E: Kunft, und der Kuͤnſte des Schreibens, des Rechnens, des auswen⸗ dig Lernens. Nein! ſie iſt gewiß nicht eine beſchraͤnkte Dienerinn des Unnatuͤrlichen und Willkuͤrlichen im Ein⸗ uͤben bloßer mechaniſcher Fertigkeiten des Unterrichtes; nein! fie iſt ein reines Reſultat des inſtinktartig begon- nenen Einfluſſes unſrer Natur ſelber auf unſre Entfaltung; ſie iſt ein reines Reſultat dieſes goͤttlichen Naturwerks ſelber, dahin lenkend, die Anſpruͤche unſrer Natur auf die Ausdehnung ihrer Kraft nach dem ganzen Umfange, ſo wohl ihrer Anlagen, als ihrer Verhaͤltniſſe, zu befriedigen, und zu dieſem Endzweck die Anfangspunkte der gereiften menſchlichen Kunſt an die keimende menſchliche Kraft an⸗ zuknuͤpfen. i

Das iſt die einzige, wahre Anſicht der Schulfaͤhigkeit eines naturgemaͤß ſich entfaltenden Kindes. s

Nach dieſer iſt daſſelbe ſittlich ſchulfaͤhig, wenn es in der Unſchuld feines Lebens, und in der Kraft des Glau⸗ bens an ſeine Mutter, den Gott ſeiner Mutter kindlich liebend, dahin kommt, Erkenntniß und Sprache uͤber Gott und ſeinen Willen zu ſuchen, wenn es durch das fromme Leben ſeiner haͤuslichen Umgebungen dahin gereift iſt, durch religidſe Vorſtellungen, Gebethe und Geſaͤnge, in ſeiner Unſchuld geſtärlt, und in feinem unſtraͤflichen Wandel er:

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halten, oder vielmehr zu demſelben erhoben zu werden. Es iſt geiſtig ſchulfaͤhig, wenn es durch ein in Unſchuld kraftvolles Leben in der Natur, den Anfaͤngen des Unter⸗ richtes näher gebracht worden, das iſt, wenn die Eindrücke einfach gereifter kindlicher Beobachtungen vielſeitige Fun— damente der richtigen Urtheilskraft in daſſelbe gelegt, und die Faͤhigkeit, von gereiften, einzelnen Erfahrungen und Anſichten allgemeine Schluͤſſe zu ziehen, und eine verſtaͤn⸗ dige Anwendung davon zu machen, in ihm geweckt und belebt iſt. Es iſt phyſiſch und kunſthalber ſchulfaͤhig, wenn ſein Auge die Verhaͤltnißmaͤßigkeit der Gegenſtaͤnde richtig zu faſſen, und ſeine Hand auf irgend eine Art, ſie rich⸗ lig auszudruͤcken, reif wird, und es anfängt, von den Ele⸗ menten der Geiſtesbildung, aus denen der ganze Umfang der Schulkuͤnſte, wie die Werke einer Schoͤpfung aus dem Geiſt und der Kraft eines Schoͤpfers, hervorgehen, in ſich ſelbſt angeſprochen und innerlich belebt zu werden.

Die Schulfaͤhigkeit des Kinds alſo beſtimmt, muß dann die Schule, in die man das Kind ſchicken ſoll, in ſittlicher Hinſicht Fortſetzung des ſittlichen Lebens an der Hand der Mutter und Staͤrkung des religioͤſen Sins nes werden, der die Baſis der muͤtterlichen Fuͤhrung zu ſeiner Sittlichkeit war; ſie muß in intellektueller Hin⸗ ſicht Fortſetzung und Erweiterung des freyen, lebendigen Anſchauens der Natur, und von dieſer Seite geeignet ſeyn, das Leben in der Natur gleichſam in das Leben der Kunſt hinuͤbergehen zu machen. Ihre Kunſt und der ganze Um⸗ fang ihrer Kunſtmittel muͤſſen das Kind geiſtig anſprechen, befriedigen, hoͤher heben, und wachſen machen, wie es die

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Mutter und das haͤusliche Leben in den zwey fruͤhern Finds lichen Epochen ſinnlich anſprach, befriedigte, hoͤher hob, und wachſen machte.

Die Schulfaͤhigkeit des Kinds muß in phyſiſcher Hinſicht hinwieder von allem dem ausgehen, wodurch das Kind an muͤtterlicher Hand zur Anwendung ſeiner phy— ſiſchen Kraft und zum Bewußtſeyn dieſer Kraft ſelbſt ge bracht worden iſt. Sie muß in Kunſthinſicht geeignet ſeyn, das Kind die Elemente der Kunſt mit dem ganzen Umfang feines Lebens, d. h. mit der Kraft des in Bewe⸗ gung geſetzten Geiſtes, des theilnehmenden Herzens, und der Gewandtheit der Sinne und Glieder, ergreifen zu ma» chen. Bis ſie dieſes thut, iſt die Schulfaͤhigkeit, zu der ſich das an der Hand der Mutter bis fo weit naturge⸗ maͤß gefuͤhrte Kind zu erheben vermag, umſonſt fuͤr das Kind da. Die Schule iſt nicht faͤhig, ihm das zu geben, was ſeine Schulfaͤhigkeit anſpricht.

Aber follte dieſe Luͤcke, wenn es fo iſt, nicht auffal⸗ len? Sollten ſich nicht in allen Ecken Klagen erheben, daß die Schulen nicht leiſten, was ſie leiſten ſollen, und daß ſie mit der haͤuslichen Erziehung nicht in Ueberein— ſtimmung ſtehen, und ſich durchaus nicht rein und ein— fach an das naturgemaͤße Thun der Mutter anſchließen?

Die Antwort iſt leicht. Das naturgemaͤße Thun der Mutter mangelt eben, wie das naturge— maͤße Thun der Schule. Die Zeitverkuͤnſtlung un— ſers Geſchlechts iſt auf einen Punkt gelangt, daß man im allgemeinen beſtimmt ſagen kann: wenn die Mutter un— ſerer Zeit in Ruͤckſicht auf die naturgemaͤße Fuͤhrungs weiſe

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gegen das Kind nicht viel geleiſtet, iſt fie ſich deffen auch nicht bewußt. Darum fpürt fie auch das nicht, was an das, was fie geleiſtet, angeknüpft werden ſollte. Sie han’ delt ſelbſt im Ganzen nicht naturgemaͤß; darum fordertſie auch nicht, daß die Schule am Kinde naturgemaͤß handle. Im Gegentheil, ſie will vielſeitig, daß die Unnatur, zu der ſie durch ihre Schule und durch ihr Leben geführt worden, auch die Baſis der Schule und des Lebens ihres Kindes werde. Sie iſt alſo wider die Naturgemaͤßheit der Schule ſelber. Wenn in der Schulbildung Naturgemäßheit ſtatt haben ſoll, ſo muß ſie zuerſt in den Haushaltungen wieder hergeſtellt werden. Aber es mangelt jetzt an beiden Orten gleich, und muß an beiden gleich geholfen werden, wenn auf der einen oder auf der andern Seite von Naturgemaͤß⸗ heit, auch nur von ferne, die Rede ſeyn ſoll.

Und bis wir da ſind, bis beide, die Schule und die Mutter, den Geiſt der Erziehung im hohen Sinn athmen, iſt es unmöglich, weder die haͤusliche Erziehung zum Fundament einer naturgemaͤßen Schul⸗ führung zu machen, noch die Schulfuhru ng auf die Baſis eines naturgemaͤßſen haͤuslichen Einfluſſes zu bauen, und in beiden Verhaͤltniſſen unterrichtend zu bilden, und bildend zu unterrichten, oder lebendig zu lehren, und lehrend zu leben.

Dahin iſt es aber auch ganz, wo die Idee der Ele⸗ mentar- Bildung hinſtrebt. So lange ſi ſie 50 nicht mit Erfolg auf dieſen Standpunkt wirkt, ſo hat ihre Aus fuͤh⸗ ö rung noch bey fernem keinen, ſich der Vollendung naͤhern⸗ den, Umlang. Sie hat bis ſo lange keinen des Erfolgs

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der Mittel ſichern Boden. So lange ſie nicht da iſt, ſo füllt ſie eigentlich, noch in ſich ſelbſt kraftlos, bloß Lücken aus, die gegen die Anfpräche der Naturgemaͤßheit in der häuslichen Erziehung wirklich beſtehen; und arbeitet, in ihren eignen Mitteln unvollendet, nur einſeitig und ſchwach dem Verderben entgegen, das bey einer naturgemaͤßen haͤus— lichen Erziehung nicht da waͤre. So lange aber das iſt, ſo lange find alle Verſuche in einer naturgemaͤßen Erzie⸗ hungsanſtalt auch eigentlich noch keine Methode, ſondern nur anpaſſende Annaͤherungs-Mittel. a

Man hat das Wort Methode überall zu fruͤh, viel zu fruͤh gebraucht, und uͤbel gethan, die iſolirten Mittel und For⸗ men der intellektuellen Elementar⸗ Bildung, naturgemaͤße Er⸗ ziehungsmethode zu heiſſen. Was man mit Wahrheit allein alſo heißen kann und ſoll, iſt der ganze Umfang des We⸗ ſens der naturgemaͤßen Erziehung, und gar nicht die be⸗ ſchraͤnkte Anſicht einzelner Erziehungsfaͤcher und Unter⸗ richtsmittel.

Das aber aͤndert den Werth der Idee der Elemen— tar- Bildung und ihrer Mittel gar nicht; eben fo wenig aͤndert es das dringende Beduͤrfniß ihrer weitern Bearbei— tung und Ausführung, Es zeigt nur, daß eine hoͤhere, innere Kraft der Menſchennatur in jedem Fall von der Handbiethung aller aͤußern Formen der Kunſt unabhaͤn— gig ſey.

Ich muß hier, was ich oben geſagt, wiederholen: Groß iſt die Natur! Wo ſie nicht im Ganzen getödter iſt, erweckt und belebt ſie allenthalben das Gefuͤhl der Natur— gemaͤßheit in der Erziehung, und ſtellt ſich dadurch ſelbſt

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ken des menſchlichen Thuns, in fich ſelbſt feſt, heilend und helfend entgegen. Die erhabene Groͤße der Natur wird dem Menſchen aber vorzuͤglich durch die Anerkennung des großen Geſetzes der Naturgemaßheit bewußt. Es iſt im eigentlichen Sinne die Offenbarung der Natur fuͤr das menſch⸗ liche Geſchlecht. Wer in ihrem Licht wandelt, der geht auf ebner Bahn.

Freunde und Brüder! wir ölen ibn teen, den Geiſt dieſes großen Geſetzes; wir wollen ihn ehren, und zwar nicht bloß da, wo er im Glanze ſeiner gereiften maͤchtigen Kraft da ſteht. Wo werden wir ihn alſo fin⸗ den? Wo iſt er alſo? Wir wollen ihn auch in der Schwaͤche ſeiner Unſchuld ehren. Sollte er auch nur wie ein glim⸗ mender Docht, und ein zerknicktes Rohr vor uns erſchei⸗ nen; wir wollen verhuͤten, daß ſein glimmender Docht nicht auslöſche, und ſein zerknicktes Rohr nicht zerreiſſe.

Freunde! Bruͤder! In der Unſchuld des Landes, im fernen ſtillen Thal und auf hohen Bergen, deren ſchroffe Felſen das Zeitverderben unſrer Kunſt und ihre gierige Selbſtſucht noch nicht in ihren Schooß lockte, da iſt der Geiſt der Naturgemaͤßheit noch in ſeiner Unschuld zu fin⸗ den. Da wollen wir ihn ſuchen. Aber nicht da allein; er erſcheint dann auch wieder in der hohen Vollendung der Kunſt, und iſt in dieſer Vollendung der namliche Geift, der er in feiner Unſchuld im ſtillen Thal und auf hohen Bergen erscheint. Die Erhabenheit in der Kunſt iſt nichts anders, als die mit Bewußtſeyn verbundene Fortſetzuug der Erhabenhein der Natur in ihrer Unſchuls. In der Mitie von der ficht die undaus lüigbare Hohe der innern

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Menſchennatur, mitten in allem Verderben ihrer Umges bungen, in einzelnen Erſcheinungen und einſeitigen Rich- tungen, vielfach in hoher EU allenthalben vor un⸗ ſern Augen.

GSottes Natur wird auch vom böfeften Thun der Men⸗ ſchen in unſerm Geſchlechte niemals allgemein erſtickt. Auch im unbeſorgteſten, verwildertſten, ausgeſogenſten Acker waͤchst hie und da eine einzelne Pflanze, in aller Schoͤn⸗ heit und Wahrheit ihrer Natur, dennoch hervor. Aber ein Volk, das dem hohen Geſetz der Natur in der Erziehung freyen Spielraum gibt, und mit Ehrfurcht auf feinem Pfade wandelt, iſt einem Acker zu vergleichen, in deſſen bereite⸗ tem Boden die Saat allgemein gleich, in der Kraft ihrer ungehemmten Entfaltung, emporwaͤchst. Ein Volk hin⸗ gegen, das in der offnen Empoͤrung gegen dieß Geſetz, oder in der ſtillen, vergiftenden Umſchleichung deſſelden, einher⸗ wandelt, kann den Segen der Naturgemaͤßheit nicht all- gemein erwarten. Nur ſelten, und nur zufaͤllig, erheben ſich in ſeiner Mitte einzelne Menſchen zur Hoͤhe der in— nern Vollendung. In den großen Zwiſchenreihen zwiſchen der Erhabenheitder Unſchuld, und der Erhabenheit der Kunſt, herrſcht allgemein ein großes, ſtoͤrendes und entgegenwir⸗ kendes Verderben gegen die Naturgemaͤßheit. Aber es iſt nicht unbeſiegbar. Gott laͤßt ſich der Menſchheit auch in ihrem tiefſten Verderben nicht unbezeugt. Auch in dieſem finden Tugend und Liebe immer tiefe und ſtarke Eingrei⸗ fungsmittel zur Entfaltung des Edlern, Hoͤhern und Hei⸗ ligern der Menſchennatur. Aber freylich iſt nur die Un» ſchuld der ſtillen und frommen Hütten, und die Erhaben⸗

Peſtalozzi's Werke Kir 24

N | 568 heit der vollendeten Kunſt, der eigentliche Boden der rei⸗ nen Naturgemaͤßheit des Lebens. Ihr Leben iſt in dilſem Boden. g N Ich bin nicht darin aufgewachſen; ich lebe weder in der vollendeten Kraft der einfachen Natur, noch in der Vollendung der Kunſt. Im Gegentheil, ich bin von der kunſtloſen Erhabenheit ſo ferne, als von der Erhabenheit der Kunſt, und fuͤhle in dieſer Hinſicht das Ungenugthuen⸗ de meiner Individvalitaͤt in beiden Ruͤckſichten tief. Aber die Idee der Elementar-Bildung iſt von der Schwäche meiner Individualitaͤt unabhängig, und über fie erhaben, wie die Wahrheit über die Schwäche eines jeden, auch noch fo guten, wahrheitsliebenden Menſchen erhaben iſt. Sie, dieſe Idee, vereinigt die Erhabenheit der Na⸗ tur und der Kunſt in ihrem Weſen. Nicht ein Produkt der individuellen Beſchraͤnkung eines einzelnen Menſchen. ſondern Reſultat der Menſchennatur ſelber, vereinigt ſie das Erhabene von beiden Anſichten in ſich ſelbſt. Sie geht von der Unſchuld der erſten aus und endet mit der Vollendung ihrer ſelbſt durch die zweyte. In ihrem Gange ſelbſtſtaͤn⸗ dig, bahnt ſie ihren Weg frey, und findet ihre Mittel in ſich ſelbſt. Sie felber hat mein ſchwaches Streben gefeg- net, fie hat mich mit der Huͤlfe kraftvoller Umgebungen geſtaͤrkt und Kraͤfte an mein Thun gekettet, die ich nicht für mich ſelber anſpreche. Aber dieſe ſtaͤrken meinen Muth und befeſtigen meinen Glauben an den Selbſtgang alles Guten in der Hand Gottes. So wie es von ihm in die Hand des Menſchen gelegt iſt, iſt es nur untergeordnet in ihrer Hand. Sie verindgen im Grunde nichts gegen den

* 369 Selbſtgang der kraftvollen göttlichen Natur; fie vermögen nur etwas fuͤr ihn, wenn ſie ſich an ihn anſchließen.

Freunde und Bruͤder! der Glaube an dieſen Selbſt⸗ gang der Natur erhebe uns, daß wir in Unſchuld und Eins falt ſeinen Geiſt ſuchen, nach ſeiner Kraft ſtreben, und in Demuth darin wandeln, daß wir ihn in uns ſelbſt und in andern frey machen, wo wir ihn an die Ketten der Selbſiſucht gebunden und in den Stricken des Irrthums verwickelt finden.

Und nun, Freunde und ae habe ich geſagt, was ich eigentlich zu ſagen hatte; der Zweck meiner Rede war, vorzüglich einige Zweifel zu zerſtreuen, die noch immer ziemlich allgemein uͤber mein Thun und mein Streben obwalten. Verehrte Herren! es mußte mir daran liegen, Euch dahin zu bringen, daß Ihr einen Theil des Umfangs der Schwierigkeiten meines Thuns fuͤhltet. Es iſt nicht alles gerathen. Es iſt weniges vollendet. Es ſchlichen ſich viele Menſchlichkeiten ein. Aber es iſt vieles geleiſtet, es iſt vicles gerathen. Es iſt redlich, es iſt wit Hingebung und Aufopferung, es iſt mit ſeltner Hingebung, es iſt mit ſelt⸗ ner Aufopferung gearbeitet worden. Verehrte Herren! es muß⸗ te mir daran liegen, daß Ihr dieſes fuͤhltet, und Euch uͤber⸗ zeugtet, daß ich nicht vollends einer der ſchwachen, eiteln Menſchen ſey, die einige unreife und ungeprüfte Reuerun⸗ gen auf Koſten des erprobten Alten für einen Augenblick. zu verherrlichen ſuchen. Es mußte mir daran gelegen ſeyn, Euch zu überzeugen, daß mein Thun und mein Streben nicht bloß von traͤumeriſchen Hoffnungen ausgehe, oder gar auf ungebuͤhrlichen Erwartungen ruhe. Es lag mir am

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x 70 7 | Herzen, Euch zu Überzeugen, daß es auf dem Geiſt unſ⸗ rer Vaͤter, auf ihrer Liebe zur Wahrheit und zur Menſch⸗ heit ruhe; daß, wenn ich auf der einen Seite die Schlaff⸗ heit derer, die im Erziehungsweſen keinen Acker mehr tief pfluͤgen, und in keinem mehr das Unkraut auch nur fuͤr die Nothdurft ausrotten wollen, nicht fuͤr die wahre und Achte Erziehungstugend unſrer Vaͤter halte, ich auf der andern Seite eben fo entfernt ſeh, dem raſchen und unbändigen Neuerungstrieb unſrer Zeit raſch und unbaͤndig Nahrung zu geben. Es war mir daran gelegen, Euch zu uͤberzeugen, daß es fuͤr die Erziehung und fuͤr den Unterricht Elemente gebe, die im eigentlichen Sinn, ols die unſerm Geſchlechte von der Natur ſelbſt gegebne, unabaͤnderliche Grundlage jeder naturgemaͤßen Entfaltung unſrer Kraͤfte, angeſehen werden muͤſſen, und daß in dieſen, und zwar in ihnen allein, die Achten Mittel gegen den Marasmus unſers ver⸗ alteten Erziehungs- und Schulweſens geſucht werden muͤſſen.

Verehrte Herren! es mußte mir daran liegen, daß man ſich an einer Stelle nicht allzuſehr in meinem Thun irre, von der ich ſo viel Gutes fuͤr mein Vaterland zu er⸗ warten berechtigt bin.

Verehrte Herren! ich fühle mich glücklich in Eurer Mit⸗ te. Eure Gegenwart erhebt mein Herz, große Hoffnungen erheben mein Herz; Vaterland, Vaterland! du erhebſt noch einmal mein Herz. Von Euch, verehrte Herren, erwarte ich hierin einen großen Beitrag für mein Vaterland. Könnte ich Euch jetzt meine Gefuͤhle noch darlegen, und meine Hoffnungen und meinen Dank! aber meine Hate ſind zu maͤchtig in mir ich ſchweige.

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Ein einziger Gedanke draͤngt ſich noch in mir den kann ich nicht verſchweigen: Verehrte Herren! wenn ihr Euch wieder verſammelt, ſo bin ich dann vielleicht nicht mehr in Euerer Mitte; ich bin dann vielleicht ſchon in meine Ruhe eingegangen. Dieſer Augenblick, in dem ich vor Euch ſtehe, wird mein Todbett umſchweben. Ich den⸗ ke mir jetzt den Zuſammenhang deſſelben mit ihm. Ver⸗ ehrte Herren! ich kann Euch dann nicht fo um mich her verſammeln; ich kann dann nicht ſo meine Hand gegen Euch ausſtrecken, und Euch bitten: Pruͤfet, was ich ver⸗ ſucht; und vollendet, was ich begonnen; Ich muß das jetzt thun; ich habe es gethan, und thue es eben. Darum iſt noch der Augenblick, in dem ich jetzt vor Euch ſtehe, meinem Herzen heilig. Ich denke mir die Freude meines Todbettes, wenn es mir gelingen wird, Euer Herz fuͤr mein Unternehmen zu intereſſiren, und jetzo Euer Ja und Amen zu meiner Bitte in Euern Augen zu leſen.

Nach dem Stürmen meines Tages glaͤnzt an feinem Abend, an fernen Bergen, hinter ſeinem Dunkel, mein Himmel mir hell. Ich ſtaune nach ihm hin. Die unter: gehende Sonne entweicht dem grauen Gewoͤlk, das den Himmel ob mir bedeckt. Der Rand des weiten Gewoͤl⸗ kes roͤthet ſich an feinen Enden, und ſtrahlet im Golöglanz, wettkaͤmpfend in Schoͤnheit mit der untergehenden Sonne. Ich ſtaune nach ihm hin; ich wende mein Angeſicht von ſeinem lieblichen Glanze. Aber ob mir iſt der ganze Him— mel dunkel. Doch ich ſehe ihn nicht; ich ſehe den gerd⸗ theten Goldglanz feines endlichen Randes. Männer und Freunde! ich achte das Dunkel und den Schatten nichts,

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der noch heute, ſchreckend und drohend wie ein Gewitter, ob meinem Haupte ſtehr. Ich ſehe und achte jetzt nur die Freude, die Euer Ja und Amen uͤber mein Todbett verbreiten wird, und mein Blick weilet unverwandt er diefer Stelle *).

*) Anmerkung. Ich leſe die zwey letzten Seiten dieſer Rede mit inniger Wehmuth. Ste ſind in einer der letzten Ders ſammlungen dieſer Geſellſchaft geſprochen worden. Trau⸗ rige Verhaͤltniſſe und ſelber öͤkonomiſcher Draug erlaubten mir ſeither lange nicht mehr, ſie zuſammenzurufen. Ach! ich hatte mir von derſelben jo große Hoffnungen für meine Zwecke und fuͤr mein Vaterland gemacht, ſah aber dabey die Hinder niſſe, die der einſtweiligen Erfüllung dieſer Hoff⸗ nungen im Wege ſtanden, nichts weniger als in ihrer Ausdeh⸗ nung und in ihrem Gewicht. Sie lagen in dem unreifen

Zuſtand meiner Beſtrebungen ſelber und in der Unverhaͤlt⸗ nißmaͤßigkeit meiner Kraͤfte und der Krafte meines Hauſes zu den Anmaßungen, die uns im weſentlichen Mittelpunkt ‚unferer Hoffnungen und Beftrebungen irreführten, Der dunkle Himmel, der, wie ich mir damals, in diefer Ver⸗ ſammlung der Geſellſchaft, nicht verbergen konnte, ſchon ob meiner Unternehmung lag, ward von dieſer Stunde an mit jedem Tage dunkler, und das Gewitter, das ſich über meine Saat daherzog, ſchien geeignet, ſie unfehlbar und vollends zu zernichten. Ich lebte von dieſer Zeit an Tage der Vei⸗ wirrung und Unruhe, die den Untergang meines Hauſes faſt unausweichlich zu machen ſchienen. Es ſtand Jahre lang als eine arme Hütte mitten in den Wellen eines reiffenden und daſſelbe von allen Seiten untergrabenden Stroms. Aber Gott hat es in aller Dauer und in aller Groͤſſe feiner Gs⸗

1 5 fahren, wie durch ein Wunder, erhalten. Es Ift ſtehn ges blieben, und der liebliche Sonnenglanz, den ich am Tage die⸗ ſer Rede ſo hoffnungsvoll träumte, erſcheint mir jetzt wieder. Mein Haus iſt gerettet. Es ſchreitet in ſeinem Innern, im Segen der Liebe und Eintracht, auf eine Weiſe vorwaͤrts, daß die Gefühle, die mich in der Stunde dieſer Rede erhoben, mein Herz von neuem wieder beleben. Geliebte Mitglie⸗ der unſerer erloſchenen Geſellſchuft! Ich glaubte mich in dies ſem Zeitpunkt für Euch und fuͤr die Zwecke, die mich mit Euch verbanden, auf immer verloren. Gott Lob! Ich bin es nicht. Zwar iſt der Erfolg meiner Beſtrebungen, den ich in Eurer Mitte und durch meine Verbindung mit Euch noch bey meinem Leben für mein Vaterland erwartete, vor mei⸗ nen Augen verſchwunden; aber es iſt mir dennoch, mitten durch alle Leiden und durch alles Unglück meiner letzten Tas ge, möglich geworden, Vorbereitungen für die Erzielung we- nigſtens einiger meiner weſentlichen Zwecke, hinter meinem Grabe einzulenken und zu begruͤnden, die das liebliche An⸗ denken unſerer Vereinigung und der Endzwecke, die wir für unſer geliebtes Vaterland hatten, in Euch wieder erneuern werden, wenn ich lange nicht mehr bin. Theure Mitglieder meiner erloſchenen Geſellſchaft, und mit Euch, Ihr, edle Freunde der Menſchheit, der Jugend und der Armuth, die ihr ehemals an dem glücklichen und unglücklichen Erfolg der Beſtrebungen meiner Tage vielſeitigen und herzlichen An⸗ theil genommen, erneuert das Andenken an mich und mein Daſeyn noch einmal. Wuͤrdigt auch heute meine gegenwaͤr⸗ tigen Verhaͤltniſſe und meine gegenwaͤrtigen Beſtrebungen Eurer Aufmerkſamkeit und Eurer Prüfung. Sie ſcheinen mit wichtig und ahnungs voll, und der ernſten Sorgfalt edler Menſchen für ihre Reifung wuͤrdig. Aber ich habe mich in meinen Ahnungen und Hoffnungen fo oft getaͤuſcht; ich bin

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in ſolchen Taͤuſchungen ſo oft beinahe zudringlich geworden; ich moͤchte das nicht noch einmal werden. Meinem Urtheil über mein Thun ſelber mißtrauend, ſuche ich für daſſelbe, weder Euren Beifall, noch Euer Lob; ich bitte nur um die Erneuerung Eurer diesfälligen Aufmerkſamkeit und um eine unbefangene, ernſte Pruͤfung deſſelben, damit Ihr, wenn Ihr etwas darin findet, deſſen weitere Beſorgung der Menſch⸗ heit und dem Vaterland wichtig werden konnte, Euch in der Lage findet, die weitere Fuͤhrung deffelben zu feiner Rei- fung auch hinter meinem Grabe nach Eurem Herzen und nach Euren Kräften zu befördern, Der Erfolg meiner Beſtrebun⸗ gen hängt in meiner Lage vorzüglich von der pruͤfenden Auf; merkſamkeit, den ſie noch bey meinem Leben finden wird, ab. Mitglieder meiner erloſchenen Geſellſchaft! Freunde, der Menſchheit und der Erziehung! Von Euch allen iſt keiner, ganz gewiß iſt von Euch allen kein einziger, der mir die Er⸗ neuerung feiner prüfenden Aufmerkſamkeit für den Zweck, um deſſen willen ich ihn dafuͤr bitte, verſagen wird.

Ich bitte Euch, Freunde! mit eben dem geruͤhrten Herzen dafür, mit dem ich Euch vor ſo vielen Jahren in dieſer Re⸗ de für den damaligen Standtpunkt meiner Beſtrebungen gufmerkſam zu machen und zu intereſſiren ſuchte.

Bi m , , a er 1 2

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