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In Verbindung mit

Kurt Hildebrandt, Constantin Ritter und Gustav Schneider Lubersetzt]

herausgegeben

und mit Einleitungen, Literaturübersichten, Anmerkungen und Registern versehen von

OTTO AP EZZ

BANDI

VERLAG VON FELIX MEINER IN LEIPZIG

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SAMTLICHE DIALOGE

BANDI

Vorwort und Einleitung zur (Gesamtausgabe von Otto Apelt. Protagoras Laches und Euthyphron Apologie undKriton Gorgias

VERLAG VON FELIX MEINER IN LEIPZIG

Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechtes, vorbehalten

Druck von C, Grumbach in Leipzig.

# 7

Übersicht der Gesamtausgabe.

Band I: Vorwort und Einleitung zur Gesamtausgabe. Von Otto Apelt. Protagoras Laches und Euthyphron Apo- logie und Kriton Gorgias,

: Menon Kratylos Phaidon Phaidros.

ΠῚ: Euthydemos Hippias I/II und Ion, Alkibiades I/II

Gastmahl Charmides, Lysis, Menexenos.

IV: Theätet Parmenides Philebos,

ὙΥὉ: Der Staat.

VI: Timaios und Kritias Sophistes Politikos Briefe,

VII: Gesetze Register der Gesamtausgabe.

5 -- u)

Einleitung zu Platons Sämtlichen Dialogen. ΔΑ

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http://www.archive.org/details/smtlichedialogO1plat

Vorwort.

Es war im Jahre 1909, also vor nunmehr zehn Jahren, daß seitens des damals noch Dürrschen Ver- lags die Aufforderung an mich herantrat, die Besorgung einer neuen Auflage der Kirchmannschen Übersetzung und Bearbeitung des Platonischen Theätet zu über- nehmen. Von der Absicht einer Gesamtausgabe der Pla- tonischen Werke war bei diesen Verhandlungen nicht die Rede. Allein es blieb nicht bei dem Theätet. Viel- mehr tat mir Herr Felix Meiner, der nach Dürrs baldigem Tode den Verlag der Philosophischen Bibliothek über- nommen hatte, nach Erscheinen des Theätet den Wunsch einer Fortsetzung meiner Tätigkeit für den Verlag kund, ein Wunsch, der sich, wie mir erst allmählich durch be- stimmtere Mitteilungen klar wurde, immer fester zu dem Plan einer Gesamtausgabe Platons ausgestaltete.e Man würde also sehr irregehen, wenn man mich für den eigent- lichen Vater des nunmehr vollendeten Werkes ausgeben wollte. Dies ist so wenig der Fall, daß nicht einmal das Verdienst einige andere Kräfte zur Mitarbeit ge- wonnen zu haben auf meine Rechnung zu setzen ist. Ich meinerseits bin nur den immer erneut an mich gerichte- ten Aufforderungen des Verlegers zur Fortsetzung meiner Beteiligung an dem Unternehmen nachgekommen, dabei nur in der Auswahl der Dialoge mir die freie Hand wahrend. Was die Beteiligung anderer an der Arbeit betrifft, so blieb das ausschließlich Sache des Verlegers; ich habe dabei keinerlei Initiative ergriffen, nur etwaige

| ἀπ

IV Vorwort.

darauf bezügliche Anfragen und Anliegen des Verlegers beantwortet und ihm bei jeder Gelegenheit zu erkennen gegeben, daß mir die Mitarbeit anderer durchaus will- kommen sei. So sind denn die drei nicht aus meiner Feder stammenden Bändchen (Gastmahl, übersetzt von Kurt Hildebrandt, Phaidros, übersetzt von Constantin Ritter, Laches und Euthyphron, übersetzt von Gustav Schneider und herausgegeben von dessen Schüler Benno von Hagen), von deren Verfassern einer der verdiente G. Schneider in Gera leider inzwischen bereits aus dem Leben geschieden ist, ohne jeden Einfluß meiner- seits, sei es auf die Übersetzung selbst sei es auf Druck- legung oder Revision, entstanden. Es ist also keine bloße Redensart, wenn ich sage: Ich war bei dem Unternehmen nicht der Treibende sondern der Getriebene. Aber einmal von der Strömung erfaßt, ließ ich mich, das gestehe ich, immer williger von ihr tragen, wie es denn auch wenig für meine Herzensbeteiligung sprechen würde, wenn sich beim rüstigen Fortschreiten eines Unternehmens, dessen Hauptlast auf meinen Schultern ruhte, nicht auch mein Interesse dafür gesteigert hätte, und dies um so mehr als die Aufnahme, die das Werk bei der Lesewelt fand, keine unfreundliche war. Ich fühlte mich je länger je mehr mit dem Unternehmen verwachsen, so daß es mir nicht als Anmaßung erschien, entsprechend dem Wunsche des Verlegers, dem nunmehr vollendeten Ganzen eine kurze Einleitung voranzuschicken, von der ich nicht sagen kann, ob oder inwieweit die Mitarbeiter meinen darin sich kundgebenden Standpunkt teilen, wie ich denn auch für dieses Vorwort die alleinige Verantwortung trage. Daß die Beteiligung mehrerer an der Arbeit unter den bezeichneten Umständen einige Ungleichmäßigkeiten innerlich wie äußerlich zur Folge gehabt hat, wird man, denke ich, begreiflich und verzeihlich finden.

Vorwort. V

Mir selbst ist dabei bedauerlich nur das Fehlen der Literaturübersicht zum Gastmahl, zum Laches und Eu- thyphront!). Denn diese Übersichten, deren Zusammen- stellung, nebenbei bemerkt, keine ganz mühelose Sache ist, haben für den Zweck, dem diese Gesamtüber- setzung wie aus der Einleitung erhellt vorwiegend gewidmet ist, eine nicht nur ganz nebensächliche Bedeu- tung: sie sollen dem Leser, der das Bedürfnis nach wei- terer Forschung in sich spürt, einen wie ich glaube nicht unwillkommenen Wegweiser für eigenes Eindringen in die Sache bieten.

Was den von mir für die Übersetzung eingehaltenen Standpunkt anlangt, so seien mir folgende Bemerkungen gestattet. Ein Übersetzer ist nicht gerade auf Rosen ge- bettet: Traduttori tradıtori, sagt der Italiener mit einem launigen, nicht unzutreffenden Wortspiel. Zahlreich ge- nug sind in der Tat die Klippen, die der Übersetzer zu meiden hat. Das Ideal wäre meines Erachtens im all- gemeinen eine Übersetzung, die den Leser ganz vergessen ließe, daß er es nur mit einer Übersetzung zu tun habe. Allein das dürfte in voller Bedeutung nur für die freien Schöpfungen der Dichtkunst gelten, nächstdem vielleicht für historische Werke höheren Stils oder geistreicher Mitteilungsgabe wie bei den Biographien Plutarchs. So- bald es sich um Werke wissenschaftlicher Untersuchung handelt und sei es auch in der Kunstform des Dialogs wie es hier der Fall ist, wird man sich mit bescheideneren Leistungen begnügen müssen. Hier kommt es auf pünkt- liche Wiedergabe oft verwickelter Gedankengänge, nicht selten auch auf den unmittelbaren Wortlaut an, der strenge Beachtung erheischt. Im Widerstreit also ästhe-

ı) Diesem Übelstand ist inzwischen für Laches und Euthy- phron durch Herrn Dr. v. Hagen, für das Gastmahl (vgl. Anhang zum Platon-Index) durch mich abgeholfen worden.

VI Vorwort.

tischer und sachlicher Rücksichten wird stets den letzteren der Sieg zufallen müssen. Allein es sei ferne von mir, damit eine sklavische Unterwürfigkeit unter die sprach- liche Form des Originals zu befürworten. Jeder gute Schriftsteller und man hat es hier mit einem der besten zu tun verbindet mit seinen Worten auch einen ver- nünftigen und verständlichen Sinn. Auf die Wiedergabe dieses vernünftigen Sinnes kommt es an und zwar mit denjenigen Mitteln der Übertragungssprache, welche ge- eignet sind, diesen Sinn klar hervorleuchten zu lassen. Möglichst leichte Verständlichkeit, unbedingtes Entgegen- kommen gegenüber dem Auffassungsbedürfnis und der Auffassungsfähigkeit des Lesers verbunden mit gebüh- render Rücksicht auf die Forderungen guten Geschmackes, das seien die Richtlinien für die Übersetzung. Unsere Regel wird also lauten: ‚„Sinngetreu immer! Wort- getreu solange es sich mit dem Genius unserer hei- mischen Sprache und der Rücksicht auf Verständlichkeit verträgt!“ Wir dürfen der Form des Originals nicht größere Zugeständnisse machen als es sich mit dieser Rücksicht verträgt.

Schleiermacher dachte etwas anders darüber. ‚Der Leser“, sagt er in seiner Abhandlung über die verschie- denen Methoden des Übersetzens (Sämtl. Werke 3. Abt. 2. Bd. p. 227), „soll nicht rein Heimisches in der Über- setzung vor sich sehen, sondern sich erinnert fühlen, daß er Fremdes vor sich hat. Diese Methode läßt den Leser ahnden, daß sie nicht ganz frei gewachseh, viel- mehr zu einer fremden Ähnlichkeit hinübergebogen sei, und man muß verstehen, dieses mit Kunst und Maß zu tun, ohne eigenen Nachteil und ohne Nachteil der Sprache; dies ist vielleicht die größte Schwierigkeit, die unsere Übersetzung zu überwinden hat.“ Er betrachtet es als eine Art notwendiger Erniedrigung, als eine Entsagung,

Vorwort. vil

die der Übersetzer seiner richtig erfaßten Aufgabe schul- dig ist, als ein Opfer, das er der Sache bringt, wenn er sich so weit wie nur irgend möglich an die Form des Originals anschmiegt. „Denn wer“, so fragt er, „wird sich gerne gefallen lassen, daß er für unbeholfen gelte, indem er sich befleißigt der fremden Sprache so nahe zu bleiben als die eigene es nur erlaubt?“ Was den Geist unserer Sprache am schärfsten von der Platons scheidet, das ist neben der Partikelfülle vor allem der Periodenbau. Und hierin hat es Schleiermacher allerdings mit seiner Nachahmungskunst zu wahrer Virtuosität gebracht. Er weiß den verschlungenen Windungen Platonischer Pe- rioden mit ihren kühnen Abbiegungen von der Regel der Konstruktion, diesen interessanten Zeugen des Kampfes zwischen psychologischen und grammatischen Momenten, mit einer Folgsamkeit nachzugehen, die in ihrer Art volle Bewunderung verdient. Aber wäre das wirklich der Tri- umph der Übersetzungskunst? Doch wohl nur dann, wenn diese Kunst nicht störend und erschwerend auf die Auf- fassung des Inhalts wirkte. Denn wäre das wirklich eine berechtigte Forderung, daß der Leser auch schon durch die Form stets an das Original als an ein Fremdes er- innert werde? Sollte, wo es sich um wissenschaftliche Untersuchungen handelt, dieser rein formale Gesichts- punkt nicht völlig zurückstehen hinter dem des sachlichen Verständnisses? Schleiermacher hält sich in der genannten Beziehung allerdings noch gerade innerhalb der Grenze des sprachlich Möglichen, läßt aber den Leser oft genug so nahe unmittelbar an der Grenze hinwandeln, daß er der Leser befürchtet schon beim nächsten Schritt die Grenze zu überschreiten, also in eine Stimmung gerät, die der Auffassung des Inhaltes eher abträglich als zu- träglich ist. Ich habe hier den umgekehrten Weg ein- geschlagen wie Schleiermacher: ich habe mich bemüht die

VIII Vorwort.

großen Perioden sinngemäß zu zerlegen und aufzulösen und bedaure nur, dies nicht noch durchgreifender getan zu haben als es geschehen. Ebenso hätte ich mit der Partikelfülle hier und da noch etwas unbarmherziger ver- fahren sollen als es der Fall gewesen. Nicht mit Unrecht hat man mir einen zu häufigen Gebrauch des verbindenden „nun“ vorgeworfen. Ich bitte also den freundlichen Leser, diese Konterbande ab und zu in Gedanken zu konfiszieren.

Ein Gesamtregister wird dieser Gesamtausgabe folgen teils als hoffentlich nicht unwillkommenes sachliches ÖOrientierungsmittel für die Platonischen Schriften über- haupt teils als Ergänzung der Spezialregister, auf die ich erst im Verlaufe der Arbeit größere Sorgfalt ver- wendet habe. Auch eine Liste von Berichtigungen ist am Schlusse angefügt, auf die ich wegen einiger störenden Versehen nicht verfehle besonders aufmerksam zu machen.

Dresden, den 12. Juni 1919.

Otto Apelt.

Einleitung.

Einer neuen Übersetzung der gesamten Platonischen Schriftenmasse, wie sie mit vorliegendem Werke der deutschen Lesewelt geboten wird, dürfte es kaum erspart bleiben ein oder der anderen Stimme wenn nicht des Widerspruches so doch einer gewissen Verwunderung zu begegnen. Haben Schleiermacher, Müller, Susemihl mit ihren Gesamtübersetzungen, neben denen eine zahlreiche Reihe von Einzelübersetzungen einherging, dem Be- dürfnis nicht schon fast mehr als Genüge getan? Oder hat etwa der Platonismus neuerdings bei uns einen so mächtigen Aufschwung genommen, daß dem schwellenden Herzensdrang, daß der erhöhten Sehnsucht nach Platon auch durch neue Mittel gedient werden müßte? Weder die eine noch die andere Frage läßt sich so schlechthin mit einem Ja oder Nein beantworten. Beide Fragen hängen zusammen, sie stehen in einem gewissen Ver- hältnis der Wechselwirkung miteinander: gute Über- setzungen fördern das Interesse für die Sache, ein ge- steigertes Interesse anderseits wirkt belebend auf das Be- dürfnis nach Übersetzungen und damit zugleich auf die Bereitschaft ihm entgegenzukommen. Der eigentliche Schwerpunkt aber liegt dabei offenbar in dem sachlichen Interesse, in der Bedeutung, die der Platonismus in den geistigen Strömungen der Gegenwart für sich bean- spruchen darf. Über die Berechtigung und das Maß dieser seiner Ansprüche kann er sich aber nur ausweisen teils aus den Schriften seines Urhebers als der unmittel- baren und lebendigen Zeugen seiner Geisteskraft teils aus den Wirkungen, die er im Laufe der Geschichte auf

X Einleitung,

den geistigen Fortschritt der Menschheit ausgeübt hat. Wir werden gut tun, zunächst einige Augenblicke bei dem letzteren Punkte zu verweilen und, wenn auch nur in dem flüchtigsten Umriß, unter Hervorhebung der mar- kantesten Züge des Platonischen Philosophems, ein Bild der geschichtlichen Schicksale des Platonismus zu ent- werfen, um dann den Blick auf die Gegenwart zu wenden; denn die Vergangenheit gibt Aufschluß über die Wir- kungsfähigkeit der fraglichen Sache überhaupt, sie wirft mithin ein Licht auf ihre mögliche Bedeutung für alle Zeiten. Angenommen also auch, die Stimmung unserer Zeit für Platon wäre eine sehr kühle, ja eine völlig ab- lehnende, so läge doch eben in den Tatsachen der Ver- sangenheit eine Aufforderung den zerrissenen Faden wieder anzuknüpfen. Dazu bedürfte es nun allerdings keiner neuen Übersetzung. Aber vielleicht liegt die Sache anders und zwar so, daß nach einer gewissen Seite hin sich doch das Bedürfnis nach einer solchen geltend macht.

Von seiner Geburtsstunde ab hat der Platonismus nicht aufgehört ein bedeutsames Moment in der Geistes- geschichte der Menschheit zu bilden. Er hat Gedanken, Anschauungen und Empfindungsweisen in Umlauf gesetzt, die, einmal gefunden und kundgegeben, darauf angelegt scheinen sich immer wieder in dieser oder jener Gestalt geltend zu machen. Die ihm innewohnende erweckende und zündende Kraft hat sich im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende niemals ganz verleugnet. Sie hat ihre stärkeren, sie hat ihre schwächeren Perioden, aber auch die ihr ungünstigsten Zeiten, die Perioden ihres schein- baren völligen Verschwindens, lassen, näher zugesehen, erkennen, daß der Funke auch unter der Asche noch fortglimmt. Dabei ist es charakteristisch, daß sich die Einwirkungen der Platonischen Philosophie im Gegen- satz zu denen der peripatetischen nicht auf das streng veıstandesmäßige Geistesgebiet, auf das Wissen, beschrän- ken. Platon hat zum Aufbau nicht nur eines Systems der Folgezeit den erheblichsten Beitrag geliefert; aber

Einleitung. XI

diejenigen, welche ihm die Bausteine zu ihren Philoso- phemen entlehnten, fühlten sich dazu nicht bloß durch ihren Erkenntnistrieb angeregt und getrieben: es ist in der Regel der ganze Mensch, der durch ihn erfaßt und fortgerissen wird. Nicht bloß die Wissenskraft sondern auch die Willenskraft, nicht bloß der Verstand sondern auch Herz und Gemüt stehen unter dem Banne seiner Geistesmacht.

Die Entdeckungen, mit denen Platon die Philosophie ebensosehr vertieft wie bereichert hat, verteilen sich auf das Gebiet der Ethik, Logik, Psychologie, Physik und Metaphysik, bleiben aber nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern schließen sich zu einer großartigen Weltansicht zusammen, die nicht verfehlen konnte einer- seits lebhafte Bewunderung und Beifall zu erwecken, anderseits aber auch den Zweifel und Unglauben heraus- zufordern nicht bloß zu kräftigem Widerspruch sondern auch zu scharfem Hohn und beißendem Spott. In Sachen der Ethik war es der leuchtende Gedanke von dem selb- ständigen Werte der Tugend, der, gegründet auf die Wesenseinheit des Guten und Schönen, seiner Ethik das Gepräge nicht des starren Pflichtgebotes sondern einer Art ästhetischer Notwendigkeit verlieh, die, obschon dem Zuge griechischen Geisteslebens nichts weniger als fremd, doch eben erst in dem durch Sokrates zur Liebe für die Philosophie erweckten Platon ihren vollgültigen wissen- schaftlichen Vertreter fand. Die Griechen hatten für alles Schöne in Natur und Kunst ein scharfes Auge und feines Gefühl. Allein die Frage nach einem Zusammenhang ästhetischer Natur- und Kunstbetrachtung mit der eigenen Seelenschönheit lag ihnen im allgemeinen noch fern. Aber es ist, als ob Platon von diesem Zusammenhang schon eine Ahnung gehabt hätte. Auch Sokrates setzte bereits das Schöne dem sittlich Guten gleich, doch spielte dabei das ästhetische Moment kaum mit herein. Der entschei- dende Punkt für diese Gleichstellung blieb dem Sokrates doch immer ihre gemeinsame Beziehung auf das Nützliche,

ΧΙ Einleitung.

eine Auffassung, die auch bei Platon noch keineswegs völlig verwischt ist, aber doch ihre nähere Bestimmung weit entschiedener und durchgebildeter als bei Sokrates im Sinne einer den höchsten sittlichen Anforderungen ent- sprechenden Seelenverfassung erhielt. Er gab dem So- kratischen Satz τὸ ἀγαϑὸν καλόν ἔστιν „Das Gute ist schön“ erst seine volle Bedeutung. Er machte ihn zum eigentlichen Losungswort der strengeren griechischen Ethik, wie er denn für alle Zeiten den Grundzug wahrer Ethik bilden wird. Das Geistigschöne und das an sich Gute (die Tugend) ist eins und dasselbe. Ihre Wesensein- heit gibt sich unmittelbar kund in dem gleichmäßigen Anspruch beider auf unbedingtes Wohlgefallen. Was hat es aber damit für eine Bewandtnis? Wie es scheint, die folgende: Dem Guten liegt stets die Vorstellung eines Zweckes zugrunde, denn gut ist was einem Zwecke ent- spricht. Es ist also ein Reich der Zwecke, auf welches uns das Gute hinweist. DasGute an sich setzt demnach auch einen Zweck an sich voraus und das führt zunächst zwar auf die Idee der persönlichen Würde, weiterhin aber auch auf die Idee eines rein auf sich selbst ruhenden geistigen Weltzweckes, den wir ahnen, nicht aber auf deutliche Begriffe bringen können. Dies ist der Punkt, wo sich Tugendhaftigkeit (das Gute an sich) und Schön- heit begegnen. Denn das Schöne gibt sich als solches eben dadurch kund, daß es rein um seiner selbst willen gefällt, also seinen Zweck nur in sich selbst trägt: es ist Zweck nicht für mich, sondern für sich. Das Gute an sich aber bezieht sich eben auf nichts anderes als auf einen solchen rein objektiven nicht subjektiven Zweck, es ist also auch schön. Wir ahnen im Weltganzen ein Reich uns unbegreiflicher geistiger Zwecke, als dessen irdische Zeugen uns die schönen Gebilde der Natur und der Kunst entgegentreten. Unsere ganze ästhetische Welt- ansicht hat also, wissenschaftlich genommen, ihren Ur- sprung in dem Geistigschönen, also in dem an sich Guten als dem Quellpunkte jener Zweckvorstellung. Erfahrungs-

Einleitung, ΧΠ|Ι

mäßig aber und historisch bildet den Ausgangspunkt zu dem Bunde des Schönen und Guten nicht das an sich Gute, sondern das Schöne so wie es sich uns in der Sinnes- anschauung darstellt als der durchweg ersten Erweckerin unserer Aufmerksamkeit und unseres Nachdenkens. Und wenn nicht alles trügt, war dies auch der Weg, auf dem Platon zu seiner Gleichstellung des Schönen und Guten kam. Von richtigem Gefühle geleitet, übertrug er ohne eigentliche Deduktion das spezifische Merkmal des sinnlich Schönen, nämlich die ihm wohlbekannte und geläufige Eigenschaft desselben, durch sich selbst rein für sich genommen unbedingtes Wohlgefallen zu erwecken, mit vollem Rechte ohne weiteres auf das sittlich Gute, dessen Anspruch auf allgemeines Wohlgefallen keinem denkenden Menschen zweifelhaft sein kann. (Vgl. Phaedr. 250B. D.)

Die klare Erkenntnis von dem selbständigen inneren Werte und der Schönheit des sittlich Guten nun ver- bindet sich bei Platon alsbald mit metaplhysischen Er- wägungen. Die Tugend in ihrem Kampf mit den natür- lichen sinnlichen Trieben wies, wie er erkannte, auf etwas . hin, was jenseits aller Sinnlichkeit liegt: sie trug die deutlichen Kennzeichen höherer, himmlischer Abkunft in sich. So wurden ihm die im menschlichen Leben wir- kenden sittlichen Mächte zu untrüglichen Zeugen einer höheren, rein geistigen Welt, deren Dasein sich ihm auf Grund hinzutretender Erwägungen erkenntnistheoreti- scher und logischer Art!) als ein immer melır gesichertes und schließlich in seinen Augen unumstößliches Resultat seines Nachdenkens darstellte. Alles Sinnenfällige trägt in seiner Wandelbarkeit die Spuren des Vergänglichen, Hinfälligen, Nichtigen in sich: nur der Geist, nur das Geistige genügt den Anforderungen an ein wirkliches Sein. Kein Olymp, kein Elysium, kein Paradies, wenn auch mit aller Pracht sehnsuchtsvoller Phantasie aus- gemalt, hält den Anforderungen philosophisch aufgeklärter

») Vgl. meine Plat. Aufs, p. 1

xIV Einleitung.

Vernunft stand. Nur in der Anerkennung einer rein geistigen Welt kann die menschliche Vernunft wahre Be- friedigung finden. Die Ideenwelt, dieser „überhimmlische Ort“, durchwaltet und durchleuchtet von der Idee des

Guten der Gottheit —, ist die wahre Heimstätte. unseres Geistes wie alles rein geistigen Lebens über- haupt.

Die Gedankenarbeit, die den Platon zur Annahme dieser seiner Ideenwelt führte, stellt sich dem Betrachter zugleich als das folgerechte Ergebnis der ganzen voran- gegangenen Geistesbewegung auf philosophischem Gebiete dar. Die Ausbildung seiner Ideendialektik hielt ihn in beständiger Fühlung mit allen Standpunkten der bis- herigen Philosophie, in deren Kritik er die ganze Schärfe sowohl wie auch Fruchtbarkeit seines Geistes bekundet. Indem er jedem der bisherigen Systeme einerseits seine Fehler und Einseitigkeiten nachwies, anderseits aber auch das relativ Berechtigte darin anerkannte, bestimmte er einem jeden gleichsam die Stelle, die ihm im Ganzen des großen Gebäudes zukam. Sein Standpunkt war nicht der der reinen Abweisung, der völligen Negation der bis- herigen Errungenschaften auf diesem Gebiete, sondern der ihrer richtigen Abschätzung und teilweisen Verwer- tung für den eigenen Bau. Aber je sichtbarer die An- regungen sind, die er durch die philosophischen Vorgänger erhielt, um so mehr überrascht uns das Originelle der Lösung aller bisherigen Rätsel.e Und noch größer viel- leicht mochte diese Überraschung für seine Zeitgenossen und Landsleute sein als für uns, die wir durch die christ- liche Anschauungsweise an den Gedanken der Nichtigkeit alles Irdischen und einer höheren Heimat unseres Geistes gewöhnt sind. Wie mochten seine Landsleute erstaunen, wenn er als erster unter den Griechen, gestützt allein auf das gute Recht und die Macht seines Denkens, die Kühnheit hatte, die paradoxe Ansicht zu verfechten, daß der Boden, der uns trägt, daß die Luft, die wir atmen, daß das Wasser, das wir trinken, mitsamt unserem Leibe,

Einleitung. XV

dieser gehenden, atmenden, trinkenden Körpermasse nichts wirklich Seiendes, nichts Wesenhaftes sind. Eine völlige Umkehrung der natürlichen und den Menschen sich von selbst aufdrängenden Weltansicht: die Wirklichkeit wird zum Schattenbild, ein unsichtbares Etwas zur Wirk- lichkeit.

Die Erhabenheit dieser alles Irdische wie ım Fluge hinter sich lassenden Lehre verlieh in Verbindung mit der Hoheit der Platonischen Ethik dem Platonismus einen Glanz, der seinem Urheber schon bald den Beinamen des Göttlichen verschaffte. Aristoteles, sein großer Schü- ler, im Punkte der Ideenlehre aber sein zäher Gegner, begab sich mit Verwerfung dieser Lehre auch des An- spruches auf weithin in die Augen fallende Sichtbarkeit seiner eigenen unermüdlichen Forscherarbeit, denn was bot die peripatetische Philosophie, das die Aufmerksam- keit und Teilnahme der gebildeten Welt in dem Maße zu erwecken geeignet gewesen wäre wie die Platonische Ideenlehre? Aber im eigentlichen Sinne populär geworden ist auch die Platonische Lehre niemals. Es ist eine be- zeichnende und auf den ersten Blick vielleicht auffallende Tatsache, daß es den Philosophemen des Platon und Ari- stoteles, dem Höchsten und Größten, was der philoso- phische Geist der Griechen hervorgebracht hat, in der griechischen und römischen Welt nicht beschieden war auf den Volksgeist im großen zu wirken. Näher zu- gesehen liegen die Gründe nicht fern. Die Unterlagen, auf denen diese Forschungen ruhten, waren zu breit; die Gedanken zu tief und zu fein, als daß sie von großen Kreisen hätten aufgefaßt werden können. Dazu kam, daß hier die philosophische Forschung, wenn sie auch keines- wegs dem Bestreben auf Leben und Staat einzuwirken entsagte, doch streng methodisch ihren Weg selbstän- dig für sich ging, nur die Wahrheit im Auge. Platon verlangte, daß man zwanzig Jahre auf das Studium der Philosophie verwenden solle und dieser Forderung war Aristoteles getreulich nachgekommen. Ein so langes

xVI Einleitung.

und gründliches Studium wird aber immer nur die Sache einiger weniger sein. Eine solche Philosophie war nicht geeignet weder zur Verteidigung noch zur Bekämpfung der positiven Religion, die als Ausgangspunkt für philoso- phisches. Interesse zunächst den Gesichtskreis der Menge bestimmte. Das größere Publikum verlangte eine ein- fachere und faßbarere Lehre eine Popularphilosophie, die selbst mit Partei nahm für oder wider die positive Religion. Eine solche fand man in den Schulen des Epi- kur und der Stoa. Diese beiden Schulen teilen sich jetzt in die Herrschaft über die griechische Bildung. Sie re- präsentieren den Gegensatz zwischen Freigeistern und Orthodoxen in der griechischen Welt, zwischen sittlicher Indulgenz und sittlichem Heroismus. Ihre Formeln waren verständlich für den Staatsmann, für den Kriegshelden, für den Kaufherrn und Gutsherrn und je mehr die Be- friedigung am Öffentlichen Leben in der hellenischen Welt seit den Zeiten der Diadochenkriege schwand, um so größer mußte die Nachfrage nach einer dem Leben eine bestimmt gerichtete Haltung gebenden Philosophie werden. Aber bei den tieferen Geistern blieben doch Platon und Aristoteles die eigentlich klassischen Vertreter der grie- chischen Philosophie und hörten nicht auf als solche sich auch nicht nur durch die Jahrhunderte der römischen Kaiserzeit hindurch zu bewähren sondern auch weiterhin durch das Mittelalter hindurch bis in die Neuzeit herein einen herrschenden Einfluß auf die Geister auszuüben.

Dabei drängt sich die Bemerkung auf, daß sich die Platonische Philosophie mehr der hellenischen, die Aristo- telische Philosophie mehr der arabischen und westeuro- päischen Welt annehmbar machte. In der Tat war die Platonische Philosophie, in der sich Reichtum der Phan- tasie mit Schärfe des forschenden Verstandes in so glück- licher und bezeichnender Weise vermählte, von Haus aus eine berufenere und vollgültigere Vertreterin griechischer Geistesart als die Aristotelische, die, abgesehen von dem einen Punkt der substantiellen Formen, frei von jeder

Einleitung. XVII

Anwandlung nach der Seite geheimnisvoller Mystik hin unentwegt der Fahne des kühlen und nüchternen Ver- standes folgte und sich eben dadurch mehr der westeuro- päischen Welt, den Romanen, Germanen und spanischen Arabern empfahl, die, einer mehr verstandesmäßig prak- tischen Lebensauffassung zugetan, auch für die Wissen- schaft vor allem dem Verstandeselement huldigten. Platon selbst war sich zwar immer der Grenzen zwischen Wahr- heit und Dichtung, zwischen Dialektik und Mythos be- wußt geblieben, aber erregbaren und phantasiereichen Ver- ehrern bot er nur zu leicht die Handhabe zu mystischen Auslegungen und ausschweifender Schwärmerei. Alexan- dria und späterhin Byzanz waren die Hauptsitze der platonisch gerichteten führenden Geister. Philon, die Neupythagoreer, die Gnostiker entlehnten dem Platon in verschiedenem Umfang und verschiedener Tendenz nicht wenige Bausteine zur Errichtung ihrer Lehrge- bäude. Vor allem aber waren es die Neoplatoniker, die sich in mannigfachen Versuchen abmühten die Platonische Geisteswelt in ihrem Verhältnis zur Sinnenwelt in ein . Dämonen- und Geisterreich umzuwandeln, das, in sich systematisch abgestuft von der Gottheit herab bis zur Sinnenwelt, die Phasen des Hervorganges oder Aus- flusses des Sichtbaren aus dem Unsichtbaren, der Welt aus der Gottheit, darstellte. Die Beschaffenheit der gleichsam noch flüssigen, nach Inhalt und Form nicht systematisch festgelegten und mannigfacher Deutungen fähigen Platonischen Gedankenwelt kam diesem Beginnen, wie schon angedeutet, halbwegs entgegen. Vor allem war es der Dialog Timaios, der mit seinem großartigen Mythos von der Weltseelenschöpfung das willkommene, fügsame und biegsame Material zu diesen Phantas- men bot. |

Auch Aristoteles. hatte seinen Anteil an dem Lehr- betrieb der Neoplatoniker. Aber, bezeichnend genug, nimmt er neben Platon doch nur eine dienende Stellung ein. Die Schüler lernten beim Aristoteles, ihre höhere

Einleitung zu Platons Sämtlichen Dialogen. B

XVAII Einleitung.

Weisheit aber suchten und fanden sie bei Platon. Ari- stoteles war ihnen gut genug, das Handwerkszeug zur Aufführung ihres Baues zu liefern, das Baumaterial selbst entlieh man in der Hauptsache dem Platon. Auch den christlichen Kirchenvätern imponierte Platon mehr als Aristoteles. Wie hätten sie sich auch des Eindrucks erwehren können, daß die Platonische Philosophie die Brücke bilde von den Griechen herüber zum Christentum.

Anders gestaltete sich das Verhältnis des Einflusses dieser beiden größten philosophischen Geister des Alter- tums auf die Gedankenbewegung der fortschreitenden Menschheit in den Zeiten der Scholastik, wie sie in den Klöstern und auf den Universitäten des Abendlandes blühte. Platons Stern erbleicht und nur im Osten, vor allem in Byzanz, findet sein Studium noch eine Stätte. Um so heller strahlt des Aristoteles Stern. Es ist, als ob die höhere oder geringere Schätzung des einen und des anderen in den Augen der Welt auf einer Weclisel- seitigkeit beruhte ähnlich derjenigen, die sich zwischen den beiden Schalen der Wage vorfindet: wenn die eine sinkt, steigt die andere und umgekehrt. Gleichwohl war die Herrlichkeit des Aristoteles auch hier nicht frei von einem anhaftenden Schatten. War er doch nicht der Schöpfer der Dogmen, zu deren Stütze und Schutz man ihn machte. Er selbst hätte jede Gemeinschaft mit diesen Glaubensartikeln weit von sich gewiesen, die, erwachsen auf dem Boden der mehr oder weniger sagenhaften Über- lieferung des Urchristentums ihre Feststellung den Be- ratungen der Konzilien und der Weisheit der Kirchen- väter verdankten. Immerhin ist die Stellung, die er hier einnimmt, eine überaus hervorragende, weit erhaben über die Rolle, die er bei den Neoplatonikern gespielt hatte. Die Unfehlbarkeit seiner Logik sollte die gesamte Laienwelt vor Zweifel und Mißtrauen gegen die Dog- men der Kirche bewahren, sein Name war gleichsam das Siegel, das den verpflichtenden Artikeln des christlichen Glaubens aufgedrückt ward.

Einleitung. XIX

Für Platon scheint da neben Aristoteles kein Raum mehr zu bleiben. Zwar steht er zu Anfang des zwölften Jahrhunderts noch in hohen Ehren, gefeiert namentlich von Abälard als „größter der Philosophen und erster Führer“. Allein es gehört schon eingehenderes Studium dazu, um auch für die Blütezeit der Scholastik die Spuren noch fortlebender Verehrung für ihn aufzudecken.!) Aber sie finden sich. Selbst in der Zeit der Hochseholastik ist Platon nicht völlig vergessen, wenn auch im wesentlichen zurückgedrängt in die Heimstätten der mystischen Rich- tung. Da führt er ein stilles, aber keineswegs unwirk- sames Dasein. Um so glänzender gestaltet sich die Reha- bilitation, die ihm gleich zu Beginn der Renaissance durch das Auftreten des Gemistios Plethon und Bessarion im Abendland und vor allem durch Marsilius Ficinus be- schieden war. Durch des letzteren umfassende Über- setzerarbeit und sonstige gelehrte Tätigkeit ward er wie zu neuem Leben erweckt, und hier zeigt sich wie auch schon bei den Neoplatonikern der starke Unterschied in dem persönlichen Verhältnis, das zwischen den Jüngern und Meistern beiderseits herrscht: die Aristoteliker sehen in Aristoteles den unbedingten Herrscher im Reiche des Wissens; bei den Platonikern aber steigert sich die Be- geisterung für ihren Meister fast bis zur Anbetung und zum Gottesdienst. Platon hat eine geheime magnetische Kraft. Er zieht den ganzen Menschen zu sich empor; die Wirkung seines Geistes äußert sich als die einer Lebensmacht, die des Aristoteles als die einer Wissens- macht, die nach der Seite religiöser Innerlichkeit und der Gefühlswelt hin ohne stärkeren Einfluß bleibt. Aber der glänzenden Erneuerung des Platonismus gelang es doch nicht die Herrschaft des Aristoteles in den Kloster- schulen und auf den Universitäten zu brechen. Diese dauert noch lange, weit über das fünfzehnte Jahrhundert

1!) Vgl. Cl. Bäumker, Der Platonismus im Mittelalter. Festrede München 1916. B*

EX Einleitung.

hinaus, wenn auch nicht mehr in der alten Unbedingtheit. Denn die seit Kopernikus sich mächtig entwickelnde Naturforschung, die unabhängig von philosophischen Vor- urteilen es wagte den Blick frei auf die Natur selbst zu richten, rüttelte mehr und mehr an den Grundfesten der scholastisch-aristotelischen Philosophie. Wollte die aufstrebende induktive Naturwissenschaft sich bei den Zeitgenossen zur Geltung bringen, so konnte sie das nur im Kampfe gegen den die Schule beherrschenden Aristo- teles. Für Platon stand in dieser Beziehung die Sache ganz anders. Der große Schritt von der spekulativen zu der induktiven, empirischen Naturforschung geschah eher mit als gegen Platon, indem Keppler auf den Pythagoras und die im Timaios vertretene Sphärenharmonie zurück- griff. Mochten an den kühnen Ausführungen des Plato- nischen Timaios Spekulation und Phantasie auch einen ungleich größeren Anteil haben als Beobachtung und Er- fahrung, so hatte der mathematische Geist, der in ihm waltete, doch eine weit nähere Verwandtschaft mit dem Charakter der neuen Naturforschung als die substantiellen Formen des Aristoteles. Aber so bedeutend und über- wältigend die Entdeckungen von Männern wie Keppler und Galilei auch waren, die Aristoteliker ließen sich aus ihrem Besitz so leicht nicht verdrängen. War doch dieser Besitz in der Tat ein verjährt geheiligter; denn die Herr- schaft der Kirchenlehre stützte sich nicht zum wenigsten auf die Autorität des Aristoteles. Noch das siebenzehnte Jahrhundert mußte vergehen, ehe die Herrschaft des Ari- stoteles auf den Universitäten gebrochen war.

Seit den Zeiten des Ficinus gab es an manchen Lehrstätten wohl auch Platoniker, die wir zum Teil in heftige Kämpfe mit den Äristotelikern verwickelt sehen. Dabei macht sich nicht selten wie schon bei Ficinus selbst eine Auffassung des Platonismus geltend, die ihn in bedenkliche Gemeinschaft bringt mit den Träumereien und Schwärmereien des Mystizismus, sei es des neoplato- nischen oder theosophischen oder neueren naturphiloso-

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phischen, eine Richtung, deren Spuren sich noch in unseren Tagen nicht ganz verwischt haben. Mit der all- mählich größeren Verbreitung der Platonischen Schriften durch den Druck trat aber doch der echte Platon wieder bestimmt genug hervor, und er, der nicht neoplatonisch umgedeutete, feiert mit Aristoteles eine Art Versöhnung in dem Philosophem des großen Leibniz, das die grund- legenden Gedanken beider in neuer Wendung bis zu einem gewissen Grade vereinte. Die Monadenlehre zeigt ihre Verwandtschaft mit Platons Ideenlehre in der Forderung einfacher Substanzen; Platon findet diese in seinen Ideen, Leibniz in seinen einfachen vorstellenden Wesen (Mona- den); und wenn Leibniz aus diesen auch die Körper sich zusammengesetzt denkt, also das Geistige zum Be- stimmenden für die Körperwelt macht, so liegt darin eine eigenartige Erneuerung der substantiellen Formen des Aristoteles. In des letzteren Spuren aber bewegt sich auch die gesamte Dialektik der Monadenlehre. Denn sie stellt sich klar als die reife Frucht des logischen Dog- matismus dar, d. h. derjenigen Methode, zu der Aristoteles den ersten Anstoß gegeben hatte. Bei seinen vielfachen Bemühungen nämlich um Aufhellung und Feststellung der Prinzipien war es dem Aristoteles nicht gelungen über die Grundsätze der Logik hinauszukommen. Für die Erklärung der Naturerscheinungen bot seine Philo- sophie keine allgemeinen Gründe; seine Physik besteht so gut wie seine Metaphysik nur in Beweisführungen aus Begriffserklärungen, also nur in der Methode der logischen Entwickelung aus gegebenen Begriffen. Alle eigentliche, d. h. auf die Feststellung der notwendigen und allgemeinen Wahrheiten gerichtete Wissenschaft (ἐπιστήμη) besteht ihm in analytischen Sätzen; synthe- tische Regeln haben in seinem System keinen Platz; ganz ähnlich wie Platons Dialektik sich ausschließlich in De- finitionen und Einteilungen nach Gattung und Arten, also in Erörterung analytischer Begriffsverhältnisse bewegt, nur daß dem Aristoteles der systematische Überblick über

XXII Einleitung.

diese ganzen logischen Operationen zu Gebote stand, der dem Platon noch fehlte. Welches sind nun die nach Ari- stoteles aus der Vernunft (νοῦς) entspringenden Prin- zipien des apodiktischen Wissens? Aristoteles nennt als solche den Satz des Widerspruchs und den Satz des aus- geschlossenen Dritten, die bekannten Grundsätze der Logik.

Diese Lehre erhält durch Leibniz ihre vollendete Ausbildung: die notwendigen Wahrheiten beruhen ihm sämtlich auf Demonstration durch Schlüsse unter Zu- srundelegung von Begriffszergliederungen, die nach Ari- stotelischer Methode auf dem Prinzip lediglich logischer Widerspruchslosigkeit beruhen. Die ganze Ausführung bewegt sich also in analytischen Urteilen, denen nur dadurch der Schein eines eigenen Gehaltes gegeben wird, daß die leeren Formen der Vergleichung, die Reflexionsbegriffe, wie sie von Kant genannt wurden, hier mit den Gehaltsbestimmungen unserer Erkenntnis verwechselt werden. Die synthetischen Urteile a priori aus bloßen Begriffen als der eigentliche metaphysische Gehalt unserer Vernunft entzogen sich in ihrer Bedeutung dem Scharfblick der großen Denker bis auf Kant. Er war es, der durch Entdeckung derselben der Metaphysik erst ihre sichere Bahn anwies. Hier gilt es nur in der Kürze einen Blick auf sein Verhältnis zu Platon zu werfen.

In einer bemerkenswerten Stelle der Kritik d. r. V. äußert sich Kant in bestimmter Beziehung auf Platon dahin, „daß es gar nichts Ungewöhnliches sei sowohl im gemeinen Gespräche als in Schriften durch die Verglei- chung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn sogar besser zu verstehen als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genügsam bestimmte und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete oder auch dachte“. Da- mit ist das Verhältnis des Kantischen transzendentalen Idealismus zu der Platonischen Ideenlehre auf das tref- fendste angedeutet; die letztere verhält sich zu dem

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ersteren wie die Ankündigung zur Verwirklichung, wie der verheißende Traum zur Erfüllung. Schon frühzeitig kam Platon zu der Überzeugung, daß der denkende Mensch keine volle Befriedigung finden könne in der bloßen Auffassung der Sinnenwelt als dem einzig mög- lichen Gegenstand der Erkenntnis: in ihrem rastlosen Werden und Vergehen, so meinte er, sei sie geradezu das Widerspiel der Möglichkeit wissenschaftlicher Er- kenntnis. Im Namen der Vernunft also forderte er die Anerkennung einer höheren, geistigen Welt, einer Welt des wahren Seins, die in ihrem unabänderlichen Bestande allein imstande sei der Grundbedingung jeder denkenden Betrachtung Genüge zu tun. Die Träger dieser geistigen Welt waren ihm die Ideen, diese ewig sich gleichbleiben- den geistigen Wesen. In ihnen meinte er die allein mög- lichen Gegenstände einer wissenschaftlichen, d. h. untrüg- lichen und unumstößlichen Erkenntnis gefunden zu haben. Indem er nun die Rangstufen unserer Erkenntnisweisen der empirischen, der mathematischen und der noe- tischen (philosophischen) in genauen Parallelismus stellte zu den Gegenständen unserer Erkenntnis, verlor die empirische Erkenntnis für ihn jede wissenschaftliche Bedeutung. Hierin liegt, bei gleicher Grundtendenz, der große Unterschied in dem Unternehmen Kants und dem Platons. Platon konnte es nach dem damaligen Stande der Wissenschaft ohne Bedenken wagen die Materie, die Masse, für nichtig zu erklären, indem er an ihre Stelle den bloßen Raum setzte; darum kann er die Gegenstände der Sinnesanschauung ohne weiteres als wesenlose Schat- tenbilder betrachten. Kant dagegen hatte mit den nicht abzuweisenden großen Errungenschaften der neueren Na- turwissenschaft zu rechnen. Zwischen Platon und Kant liegen die epochemachenden Entdeckungen Newtons. Newtons Naturphilosophie gründete sich gerade auf die reale Existenz der Materie und auf die Beharrlichkeit (Anfangslosigkeit und Endlosigkeit) der Masse. Diesen in sich festgegründeten und von Kant innerhalb seiner

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Grenzen mit vollster Überzeugung anerkannten Natu- ralismus als eine bloß menschliche Vorstellungsweise nach- zuweisen war eine weit schwierigere Aufgabe als die Platons. Um so höher ist es ıhm anzurechnen, daß es ihm gelang Platon mit Newton zu versöhnen. Der tran- szendentale Idealismus ist nämlich nur die schulgerechte Rechtfertigung der Platonischen Lehre, daß der Mensch in seiner sinnlich angeregten Erkenntnis nur eine Erschei- nung der Dinge erblickt, über welche er kraft der For- derungen der Vernunft das Wesen der Dinge an sich selbst erheben müsse. Dabei erhält das Wissen einen ganz anderen Platz als bei Platon: es muß es sich ge- fallen lassen Arm in Arm zu gehen mit der Empirie, also platonisch genommen sich tief zu erniedrigen. Denn die von Kant vertretene Geisteswelt liegt nicht im Be- reiche des Wissens sondern im Bereiche des Glaubens. Alles Wissen bezieht sich auf die Sinnenwelt und nur auf sie. Das ist das wohlbekannte Kantische Gesetz der Immanenz aller menschlichen Erkenntnis. Die mensch- liche Erkenntnis empfängt alle ihre Gegenstände ver- mittelst der Sinnesanschauung und es gibt keine von der Anschauung unabhängige, d. i. selbständige gedachte Erkenntnis. Wir erkennen im reinen Denken keine neuen Gegenstände, keine intelligibelen Verstandeswesen, sondern nur die notwendigen Bedingungen (die Verbin- dungsformen) für das. Wirkliche oder für die Sinnes- wesen. Je stärker sich in dieser Hinsicht der Gegensatz zwischen Platon und Kant geltend macht, um so näher rücken sich beide durch die Stellung, welche den sitt- lichen Überzeugungen in den Lehren beider angewiesen ist. Nach Platon wird die Welt der Ideen von der Idee des Guten beherrscht; von ihr der Gottheit emp- fängt sie ihre eigentliche Weihe. Etwas Ähnliches will Kant mit seiner Lehre vom Primat der praktischen Ver- nunft: die Herrschaft der Idee des Guten. An sie knüpft sich seine Lehre von dem religiösen Glauben der prak- tischen Vernunft. Diese Lehre vom Primat der prak-

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tischen Vernunft als der Gewährleistung für die objektive Gültigkeit der Ideen ist zwar nicht das letzte Wort in dieser Angelegenheit denn soll es eine objektive Gül- tigkeit der Ideen geben, so muß sie auch spekulativ begründbar sein aber dieser Fehler Kants hat durch Fries seine Verbesserung gefunden, und so ist und bleibt der transzendentale Idealismus die wahre Lösung des Platonischen Problems.

Mit Kants Tode stehen wir an der Schwelle des- jenigen Zeitalters, das wir, wenn auch nur in weiterem Sinne, schon als das unsrige bezeichnen dürfen. Für den Platonismus kennzeichnet sich dieser Zeitpunkt durch eine Belebung, die in ihren Nachwirkungen fortdauert bis auf den heutigen Tag. Das Todesjahr Kants (1804) war das Geburtsjahr der Übersetzung der Platonischen Werke durch Schleiermacher. Sie wirkte, was das all- semeinere Interesse für Platon anlangt, wie ein erwecken- der Frühlingshauch auf weite Kreise der Gebildeten in Deutschland ein. Nicht als ob nicht schon manche An- sätze zu einer eingehenderen Beschäftigung mit den Pla- tonischen Schriften vorhanden gewesen wären. Im Ver- laufe des achtzehnten Jahrhunderts hatte sich die Be- kanntschaft mit Platon und das Bedürfnis danach zu- sehends gesteigert. Nicht bloß die Fachgelehrten, auch Männer von Geist überhaupt wie namentlich der Magus des Nordens, Hamann, waren in ein enges, inneres Ver- hältnis zu Platon getreten, und gegen Ende des Jahr- hunderts blieb sogar das gesellige Leben nicht unberührt davon. „Es entstanden“. so berichtet H. Steffenst), „ge- sellige Kreise, die es liebten ihren Gesprächen und Briefen einen platonischen Anstrich zu geben. Auch Frauen nah- men an dieser Beschäftigung teil; sie gehörten sämtlich zu den höheren Klassen der Gesellschaft.“ Noch zu Leb- zeiten Kants, in der ersten Hälfte der neunziger Jahre, erschien das vierbändige Werk Tennemanns „System

1) H. Steffens, Was ich erlebte. Breslau 1840 8. VIII, 380.

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der platonischen Philosophie“, das bei vertrauter Bekannt- schaft mit der bisherigen Literatur eine eingehende Dar- stellung und Beurteilung der gesamten Schriftstellerei Platons gibt, nicht ohne Berücksichtigung des Lebens- ganges Platons sowie der Frage nach der mutmaßlichen Reihenfolge seiner Schriften. Kommt hier die vielseitige und freie Gedankenbewegung Platons für die Leser auch nicht zu ihrem vollen Rechte, muß sie es vielmehr sich gefallen lassen nach rein systematischen Gesichtspunkten zergliedert und dadurch vielfach zerpflückt und zerrissen zu werden, wobei überdies der durchgeführte einseitig Kantische Standpunkt der Beurteilung mitunter zur Ver- kennung der eigentlichen Voraussetzungen und Absichten Platons verleitet, so sind das Ausstellungen, die dem hohen Werte dieses Buches für seine Zeit keinen Eintrag tun; Ja in gewissem Betracht hat das Werk auch für unsere Zeit noch seine Bedeutung oder könnte sie wenig- stens haben, als Warnung nämlich und Gegengewicht gegen die rein historische und genetische Betrachtungs- weise, die man jetzt gern als die allein berechtigte gelten lassen möchte. Ü

Auch eine Gesamtübersetzung der Platonischen Schriften ins Deutsche hat es gegen Schluß des acht- zehnten Jahrhunderts neben manchen Einzelübersetzungen schon gegeben.t) Aber eine wirklich befruchtende Wirkung hervorzurufen war erst der Arbeit Schleiermachers vor- behalten. In ihm vereinigte sich philologische Schulung und Schärfe mit philosophischem Blick und reger Kom- binationsgabe in einem Maße, das ihn wie kaum einen anderen berufen erscheinen ließ zu einer treuen und authentischen, dazu mit den nötigen Orientierungsmitteln als da sind Einleitungen und Anmerkungen ausgestat- teten Übertragung der Platonischen Schriftenmasse. Ist

1) Plato’s Werke. Übersetzt von Kleuker. Lemgo 1778—97. 6 Bde. Ich habe mich nach dieser Übersetzung umgetan, sie aber nicht zu Gesicht bekommen.

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das große Werk auch nicht völlig durchgeführt es fehlen die Gesetze und der Timaios so reichte doch das Gebotene hin, um den Platon eine Art Auferstehung feiern zu lassen. Die vielseitigen persönlichen Beziehun- gen Schleiermachers waren dabei nicht ohne Einfluß so- wohl nach seiten der Entstehung wie nach seiten der Verbreitung des Werkes. In philologischen Kreisen kein Fremdling, erfreute er sich namentlich der regen Beihilfe des neben Böckh weitaus hervorragendsten unter den philologischen Platonikern, des trefflichen L. Heindorf. Anderseits trugen seine Beziehungen zu: den Roman- tikern nicht wenig dazu bei seinem Werke das Interesse zahlreicher Gebildeter zuzuwenden. Böckh feierte in einer begeisterten Anzeige die nicht hoch genug zu schätzenden Verdienste des Übersetzers und Immanuel Bekker sah sich durch Schleiermacher zu seiner großen kritischen Ge- samtausgabe des Platon veranlaßt, die in der Anordnung der Schriftenmasse den Fingerzeigen des Übersetzers folgte. Der Geist der Platonischen Philosophie mit ihrem mächtigen Flügelschlag aufwärts vom Irdischen dem Him- mel zu fand lebhaften Widerhall in der Brust manches edeln Jünglings.

Von dem Staube nur entlehnt

Ist was hier auf Erden zieret.

Drum, vom Schimmer nicht verführt, Schau hinauf zum ew’gen Glanz, Der die reine Seele ganz

Dem Vergänglichen entführet.

So lautet der poetische Gruß, mit dem der junge, ganz in die Platonische Philosophie versunkene Neander von einem poetischen Freunde gefeiert. ward.!)

1) Vgl. Varnhagen v. Ense, Denkwürdigkeiten N. F. 4, 464. Daß übrigens gegenüber der enthusiastischen ersten Aufnahme der Schleiermacherschen Übersetzung sich doch auch bald schon manche Bedenken regten, dafür ist besonders charakteristisch eine Außerung Varnhagens in seinen Tagebüchern (13, 229f.). Sie verdient es als die eines namentlich nach der formellen Seite hin besonders zu-

XXVIII Einleitung.

Man bemühte sich fortan eifrig um Aufhellung der Platonischen Denk- und Darstellungsweise, in letzterer Beziehung namentlich um die Einsicht in das Wesen des Dialogs als derjenigen Kunstform, die dem Platon als einzig geeignetes Mittel zum Ausdruck seines philoso-

ständigen Beurteilers hier mitgeteilt zu werden: „Mitten im Ge- dränge von Büchern, die ich lesen will oder soll, wandelt mich die. Lust an wieder einmal den Schleiermacherschen Platon zu lesen. Vor fünfzig Jahren in Halle wollt’ ich mit Gewalt mir einbilden, hier sei das Höchste von Weisheit, das Anmutigste von Sprache, wiewohl natürlich mein Sinn widersprach; es wollte mir nie gelingen anhaltend diese Bände, sooft ich sie auch zur Hand nahm, durch- zuarbeiten, wie dies Harscher, Marwitz und andere taten, mit wahrem Vergnügen darin zu lesen; ich suchte bisweilen diese Schreibart natürlich die Schleiermachersche, denn die Platonische lag ver- steckt unter ihr nachzubilden, was mir besser gelang als gefiel. Später verlor sich diese Beschäftigung und selbst Fr. A. Wolfs Eifer für den Platon führte mich nicht auf diesen zurück, Heute nahm ich nun den Sophisten, das Symposion und den Staatsmann wieder vor, las die Einleitungen und hin und wieder den Text. Es kann mir nicht einfallen die große weltgeschichtliche Bedeutung des Platon zu verneinen, die Tiefe und Schönheit dieses außerordentlichen Geistes zu leugnen, aber das war mir vollkommen klar, daß seine Darstellung, seine dialogische Beweisführung und sein ganzer Vor- trag uns in keiner Weise mehr genügt, daß wir einer anderen Art und Führung bedürfen und in der Tat weiter sind, im Fordern nicht nur sondern auch im Leisten. Auch haben die Nachahmungen Pla- tonischer Dialoge bei uns nie Glück gemacht, die Schleiermacher- schen sind wie jetzt allgemein gefunden wird geziert und schwächlich, die Delbrückschen ermüdend, die Solgerschen todlang- weilig; auch Jacobi und Fichte haben sich in dieser Gattung ver- sucht, aber nur mäßig und darum mit geringem Schaden. Schleier- machers Verdienst bei seiner Übersetzung liegt im dialektischen Scharfsinn und in der philologischen Kenntnis und Sorgfalt; in betreff der Sprachbildung ist ihr Wert gering, der Ausdruck oft schwerfällig, ungeschickt gerade da, wo er geschickt sein wollte. Zu diesem vollen Bekenntnis bin ich nun gelangt; ich erinnere mich, daß schon Rahel weder die Dialoge Platons noch Schleier- machers Redeweise gelten ließ, zu meiner damaligen großen Em- pörung! Heute, während meine Augen auf den alten, so sehr einst verehrten Büchern ruhten, erwehrt’ ich mich eines Schauerns jener Zeit, aber mein Urteil wurde von diesem Gefühl nicht bestochen.“

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phischen Standpunktes erscheinen mußte. Hand in Hand damit ging das lebhafte Bestreben, zu einem immer ge- naueren Verständnis der einzelnen Schriften sowohl für sich wie nach seiten ihrer gegenseitigen Beziehungen zu gelangen. Das mußte unausbleiblich auf die Frage nach ihrer Zeitfolge führen. Diese Frage, schon von Tenne- mann berührt und mit einem Lösungsversuche bedacht, war durch Schleiermacher nach neuen, tieferen, auf Sinn und Wesen der ganzen Platonischen Schriftstellerei gerichteten Gesichtspunkten behandelt worden. Auf das eigentümliche dieser Gesichtspunkte und der darauf ge- gründeten Gesamtauffassung der Platonischen Schriftstel- lerei näher einzugehen ist hier nicht der Ort. Es konnte einem Meister der Dialektik, als welcher sich Schleier- macher einem jeden bald zu erkennen gibt, sehr wohl begegnen sich derart in die Maschen des eigenen Ge- dankennetzes, mit dem der Gegenstand umschlungen ward, zu verfangen, daß darüber das unmittelbare Recht der Sache selbst mehr oder weniger verdunkelt ward. Be- griffsverhältnisse und daran sich knüpfende Gedanken- . zusammenhänge mögen in sich noch so konsequent, noch so zwingend sein, es fragt sich immer, ob der Ausgangs- punkt d. h. der zur Grundlage gewählte Begriff auch wirklich der Sache selbst entspricht, aus welcher ent- nommen zu sein er den Anschein erweckt. In dieser Be- ziehung war Schleiermacher vor Selbsttäuschungen nicht‘ gesichert.

Je mehr diese Frage nach der Zeitfolge der Dialoge sich in den Vordergrund schob, um so mehr mußte sie zu einer Spezialität der Philologen werden. Denn die psychologischen Erwägungen über den möglichen Werde- gang des Philosophems erwiesen sich ebenso wie die rein philosophischen Kriterien als zu unsicher und schwankend, um zu einer Vereinigung der Ansichten zu führen. Es blieben also, wie man allmählich erkannte, neben den wenigen fest gegebenen historischen und literargeschicht- lichen Anhaltspunkten nur die sprachlichen Kriterien als

ΧΧΧ Einleitung.

mögliches objektives Entscheidungsmittel übrig, und da- mit wurde die „platonische Frage“, als welche man jetzt die Sache analog der sog. homerischen Frage bezeichnete, mehr und mehr eine besondere Provinz der Philologie, die sich der regsten Fürsorge von seiten der Philologen erfreute. Es diente dieser Methode zu besonderer Emp- fehlung, daß ihre Ergebnisse mit den historisch oder literargeschichtlich gesicherten Tatsachen nicht in Wider- spruch standen. So darf man denn als ziemlich gesichertes Ergebnis dieser Bemühungen die Annahme einer Dreizahl von Gruppen betrachten, in welche die gesamte Plato- nische Schriftmasse sich gliedert, eine Annahme, zu der übrigens schon gewisse Ansichten der früheren, vorsta- tistischen Zeit in ziemlich genauer Übereinstimmung mit den sprachstatistischen Feststellungen gelangt waren. Das Ziel, das den Philologen, soweit sie nicht bloße Arbeitsbienen für Einsammeln und Ordnen des sprach- statistischen Materials waren, dabei vorschwebte, war das, ein lebendiges Bild der inneren Entwickelung des großen Philosophen zu gewinnen. Ein Ziel von zweifelhaftem Wert. Das Problem der inneren Entwickelung eines reich angelegten Geistes, an dessen Lösung in den verschie- densten Fällen die gelehrte Forschung unserer Zeit mit Vorliebe ihre Kräfte setzt, birgt große Schwierigkeiten in sich, selbst bei vorhandener überströmender Fülle zu- verlässigen Materials, etwa wie bei Goethe. Darf man hoffen, jene geheimen treibenden Momente, die ihrem Träger selbst oft unbewußt in der Tiefe seines Gemütes wirken, zu enthüllen und der Betrachtung bloßzustellen? Das eigentliche Geheimnis der Entfaltung des Genius wird ewig bleiben was es eben ist ein Geheimnis. Das Motivieren hat sein Gutes und seine Berechtigung: es vertieft die Darstellung, macht sie unter Umständen fesselnder und eindringlicher; aber es hat seine Grenzen und darf nicht gar zu der Einbildung führen, als könnte man dem Genius sein innerstes Geheimnis ablauschen. Und im besten Falle der Gewinn? Die wenig beneidens-

Einleitung. IT

werte Freude an der unfruchtbaren Erkenntnis, daß es dem Genius doch niemand nachmachen kann! Gilt dies für die Beschäftigung mit den großen Geistern der neue- ren Zeit, wieviel mehr für die Erkenntnis der Genien des Altertums, das seinerseits diesem ich möchte sagen senti- mentalen Zuge unserer Zeit völlig fremd gegenübersteht. Denn nicht nur in der Poesie, auch in der literargeschicht- lichen Forschungsweise und auf noch anderen Gebieten tritt uns der Gegensatz des Naiven und Sentimentalen entgegen: man hielt sich im Altertum an das Tatsächliche und Augenfällige, das man zwar reichlich mit Anekdoten ver- setzte, aber nicht zum Ausgangspunkt verwickelter psy- chologischer Betrachtungen machte. Die Alten würden nur mit einigem Erstaunen die dicken Bücher durchblät- tern, die den Analysen der großen Geister der Neuzeit gewidmet sind. Man denke zuweilen an das kräftige Wort Erwin Rohdes: ‚Der Teufel hole das ‚historische Begreifen‘ großer Genien!“

Sicherer als über die innere Entwickelung des großen Philosophen läßt sich mit Hilfe jener Gruppeneinteilung . über den Werdegang seiner Philosophie urteilen; denn da kommt es auf das Vergleichen wissenschaftlicher Tat- sachen an, nicht auf das Erraten von Motiven. Aber auch dieser Gesichtspunkt tritt für unseren Zweck jetzt zurück. Denn hier haben wir es nicht zu tun mit der Genesis des Platonischen Philosophems, sondern mit dem. Philosophem selbst nach Wesen, Charakter und Wir- kungsweise. Uns gilt es vor allem das Bleibende in dieser Philosophie, das ewig Wirksame in ihr von dem Ver- gänglichen zu scheiden, denn es handelt sich für uns um den Platonismus überhaupt. Dieser Platonismus also so fragen wir und damit kommen wir auf unser eigent- liches Anliegen welche Rolle spielt er in den geistigen Strömungen der Gegenwart? Wie weit wirkt er über- haupt noch und wie weit kann er wirken? Soviel scheint mir klar: die wissenschaftliche Fortbildung der Philo- sophie als solcher hat von ihm nichts mehr zu erwarten.

SEAT Einleitung.

Was er in bezug auf Weltansicht, Erkenntnistheorie und Ethik Grundlegendes und Wertvolles bietet, ist längst Gemeingut der strengeren Philosophie geworden. Hat also die Philosophie dem Gehalte nach von dem Platonis- mus keine Bereicherung, keine Reform zu erwarten, so kann er doch auf den akademischen Lehrbetrieb, wie dieser sich in den philosophischen Seminarien nach dem Muster der philologischen mehr und mehr entwickelt, einen sehr wohltätigen Einfluß ausüben. Er kann durch die Vielseitigkeit und Krait der Gedankenbewe- gung, wie sie in seinen vornehmsten Urkunden, den Platonischen Dialogen, zum Ausdruck kommt, durch die Hoheit und Entschiedenheit seiner Ethik, durch die Er- habenheit und Pracht seiner Mythen verbunden mit der Fülle von Ironie, Witz und Geist, die aus allen Dialogen hervorleuchtet, belebend auf den philosophischen Unter- richt wirken, kann gleichsam die Temperatur desselben erhöhen. In dieser Beziehung ist es kein unerfreuliches Zeichen der Zeit und darin liegt zugleich die Ant- wort auf die gleich zu Anfang aufgeworfene Frage daß gerade für solchen Betrieb sich das Bedürfnis nach einer neuen Bearbeitung der Platonischen Schriften fühl- bar machte, ein Bedürfnis, dem unsere Arbeit an erster Stelle zu dienen bestimmt ist. Dies platonische Ingrediens der philosophischen Belehrung läßt nach Quantität und Qualität eine sehr mannigfache Behandlungsweise zu. Man kann markante Stellen einzelner Dialoge zum Gegen- stand unmittelbarer gemeinsamer Lektüre machen, man kann einen ganzen Dialog der häuslichen Durcharbeitung überweisen zu Referat und Gegenreferat, man kann mehrere Dialoge in bezug auf bestimmte Gesichtspunkte nach Übereinstimmung und Diskrepanz vergleichen lassen, kann einzelne Lehren, auch einzelne Sätze in Zusammen- stellung mit verwandten Anschauungen neuerer Philo- sophen kritisch prüfen lassen usw.

Gilt es also, den Wert, welchen die Fühlung mit Platon für die philosophische Bildung nach ihrer allge-

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meinsten Bedeutung hat, zu bestimmen, so kann man sagen, daß sie unserer wenn auch nicht altersgrauen, so doch mit einer Fülle schwieriger Abstraktionen beschwer- ten und dadurch bis zu einem gewissen Grade erstarrten Philosophie ein Element der Erfrischung und gleichsam Verjüngung beigibt, nicht in dem Sinne, daß die Philo- sophie selbst zurückgeschraubt werden sollte auf den Standpunkt vergangener Jahrtausende, wohl aber in dem Sinne, daß uns die Schwierigkeiten vergegenwärtigt werden, die der forschende Geist zu überwinden hatte, um sich, vorsichtig tastend, zu dem jetzigen Stand der philosophischen Angelegenheiten emporzuarbeiten. Eben in der Ausbildung und Gewinnung jener Abstraktionen besteht zum größten Teil die Jahrtausende umfassende Arbeit der Philosophie. Mit bestimmten Kunstausdrücken bezeichnet und meist schon durch die Schulsprache der Scholastik gewissermaßen geheiligt, beherrschen diese Ab- straktionen die philosophische Sprache und werden als bekannt vorausgesetzt, dem Kundigen zur größten Er- leichterung für weitere Forschung, dem Unkundigen und Anfänger aber eine nicht geringe Erschwerung; denn er muß sich erst mühsam losreißen von der natürlichen Auf- fassungs- und Ausdrucksweise, die das gewöhnliche Leben beherrschen. Bei Platon ist das alles noch im Werden begriffen. Er steht, kann man sagen, eben gerade auf der jugendlichen Übergangsstufe vom Konkreten zum All- . gemeinen. Nicht als ob er uns die Lektüre seiner Schriften besonders leicht machte: er will verstanden sein, er bietet uns oft Gedankengänge schwierigster Art, er fordert die volle Anspannung unserer geistigen Kraft, ja er macht uns mitunter mißmutig und widerspenstig und stellt unsere Geduld auf die härteste Probe. Aber wäre das etwa unjugendlich? Hören wir darüber Platons eigene Worte: „Gerade der Jugend gehören alle großen und gehäuften Anstrengungen.“ So heißt es in der Re- publik (536E). Worauf es ankommt ist doch vor allem dies, daß die Schwierigkeiten nicht in dem abstrakten Einleitung zu Platons Sämtlichen Dialogen. C

XXXIV Einleitung.

Charakter der Darstellung liegen. Platons philosophische Sprache hält, noch flüssig, beweglich und bildsam, eine frei schwebende Mittellinie ein zwischen volkstümlicher Anschaulichkeit und mehr abstrakter Färbung des Aus- drucks. Er kommt also dem Anfänger halbwegs entgegen auf der steilen Bahn, die von der naiven zur abstrakten Auffassungsweise führt. Dies zeigt sich wie im einzelnen an den Abstraktionen, so auch in seinen großen Gesamt- ansichten. Auch da erscheint bei ihm alles noch in der Unbefangenheit einer gewissen Jugendfrische: das Ziel wird erkannt, aber die Wege, die dahin führen, bleiben noch unsicher, werden aber gleichwohl mit dem uner- schrockenen Wagemut der Jugend zuversichtlich betreten. Dies läßt sich am besten erläutern an seiner Hauptlehre, an der Ideenlehre, auf die wir in dieser Beziehung noch einmal einen kurzen Blick werfen wollen.

Platon war durchdrungen von der Macht und Bedeu- tung der Begriffe; es war ıhm klar, daß sie uns un- entbehrlich seien für jede über die bloße Sinnesanschauung sich erhebende Erkenntnis; sie waren ihm die Wegweiser zu etwas Höherem als dem, was die sinnliche Wahr- nehmung bietet. Aber dabei fühlte er doch auch dunkel den Mangel an realem Gehalt, der ihnen, für sich ge- nommen, anhaftete. Tatsächlich schweben sie ja, wie uns die gesunde Logik sagt, als bloße Begriffe, d. h. los- gerissen von der Anschauung, der sie durch Abstraktion entstammen, gleichsam frei in der Luft, und erst ihre Wiederverbindung mit den Gegenständen der Anschauung wie sie sich im Urteil vollzieht, gibt ihnen ihre Bedeutung für unser Denken. Diesen logischen oder wenn man will zugleich auch psychologischen Sachverhalt verkannte Pla- ton. Dieser Sachverhalt nimmt bei ihm eine mehr oder weniger mystische Form an. Nur in sekundärem Sinne stammen für ihn nach dem Phaidon (T4Aff.) die Be- griffe aus der Anschauung. Die Anschauung der sinn- lichen Einzeldinge weckt in uns nur die Wiedererinne- rung an die göttlichen Urbilder. Der Begriff stammt ihm

Einleitung. XXXV

eigentlich nicht aus der Sinnesanschauung, sondern ist Reflex der einstmals von uns geschauten Idee. Denn das schöne Einzelding kann auch wieder häßlich, das Warme auch wieder kalt werden, kurz die Einzelgegenstände geben in ihrer Wandelbarkeit keinen festen Anhalt zur Begriffsbildung. Auch Platon also suchte nach einem Gegenstand der Begriffe; aber er fand ihn nicht rück- wärts in den Gegenständen der empirischen Anschauung, sondern aufwärts in einer rein geistigen Anschauung, die gleichwohl an die Gegenstände der sinnlichen Anschauung gebunden blieb. Denn die Begriffe haben nach ihm zu ihrem Objekt die wesenhaften Urbilder der sinnlichen Anschauung, die ihnen gegenüber zur Wesenlosigkeit her- absinkt. Platons Ideenwelt ist also nicht die von den Schranken der Sinnlichkeit schlechtweg befreite Welt son- dern die idealisierte Sinnenwelt selbst eine eigenartige Wiederholung der Sinnenwelt, wie Aristoteles die Sache ganz richtig bezeichnete idealisiert nach Maßgabe der Gattungen und Arten, wie sie in den Begriffen vorge- stellt werden.

Platon hatte also mit der großartigen Konzeption seiner Ideenwelt den Grundgedanken des transzendentalen Idealismus richtig erfaßt: er schied das wahre Wesen der Dinge von ihrer Erscheinung. Aber nach dem Stande der philosophischen Angelegenheiten überhaupt und vor allem nach dem Grade der Ausbildung der Abstraktionen, an den die damalige Zeit noch gebunden war, vermochte er die Bedeutung dieses Unterschiedes in seiner vollen Schärfe noch nicht zu erkennen und geriet demnach mit der dialektischen Ausführung und Begründung der Lehre ın unüberwindliche Schwierigkeiten. Es bedurfte noch einer jahrtausendelangen Entwickelung der philosophi- schen Vorstellungsweisen, ehe diese Unterscheidung in ihrer wahren wissenschaftlichen Gestalt hervortreten konnte; es bedurfte erst der Unterscheidung der empi- rischen Begriffe von den bloßen Reflexionsbegriffen so- wie von den metaphysischen Grundbegriffen, vor allem

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XXXVI Einleitung.

aber der großen Entdeckungen des transzendentalen Leit- fadens und der Kategorientafel, ehe es zu einer wissen- schaftlich befriedigenden Ideenlehre kommen konnte. Je mehr aber Platon selbst schon sich der Unzulänglichkeit seiner Dialektik bewußt war gegenüber den das Wesen der Ideen und ihr Verhältnis zur Sinnenwelt betreffenden Fragen, die wie sie ihm selbst sich aufdrängten so von seinen Gegnern ihm entgegengehalten wurden, desto mehr müssen wir den Mut bewundern, mit dem er den Grund- gedanken ergriff und ungeachtet aller Bedenken und Ein- wände zu vertreten nicht müde ward. Eben in der mit rascher Zuversicht ergriffenen Idealisierung der sinn- lichen Anschauungen, in dieser vergeistigenden Wieder- holung der Sinnenwelt, mit deren zu geistigen Wesen erhobenen Formen er sein mit scharfem Seherblick er- schautes überirdisches Reich zu füllen und zu beleben wußte, gibt sich jener Zug kühner Jugendfrische kund, auf den oben hingewiesen ward. Der transzendentale Idealismus ist die Frucht einer schon weit entwickelten Philosophie; er steht in der vollen Tageshelle der Wissen- schaft: Platons Ideenlehre kündigt, dem Morgenrot glei- chend, den kommenden Tag erst an. Platon focht voll edler Zuversicht für eine gute Sache, aber mit noch un- zureichenden Waffen. Es wird immer lehrreich und för- derlich sein vom erreichten Ziel den Blick rückwärts zu wenden auf die ersten Versuche des Aufstiegs zur Höhe.

Man hat der Platonischen Ideenlehre in neuerer denn schon Tennemann vertrat in seiner Weise diesen Standpunkt und neuester Zeit eine Auslegung gegeben, mit der die hier vertretene Ansicht nicht in Einklang steht. Indem man in der ganzen Auffassung der soge- nannten Platonischen Ideen als selbständiger Substanzen nichts weiter sah als die verhängnisvolle Folge des tiefen Mißverständnisses, das angeblich dem Kampfe des Ari- stoteles gegen die Ideenlehre zugrunde lag, vindizierte man den Platonischen Ideen eine rein logische Bedeutung: sie sind nicht von den Begriffen als deren Gegenstände

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abzulösen, sind keine eigenen Wesenheiten, sondern die Normen der Denknotwendigkeit, die Formen der Gesetzlich- keit für das Sein der Dinge nach Maßgabe des Verstandes, der allein das wahre Sein bestimmt. Der Idealismus Platons bestünde demnach in nichts anderem als in der Verlegung des wahren Seins aus der Sinnesanschauung in das Reich des reinen Verstandes, keineswegs aber in der Hypostasierung der Begriffe, d. h. der Anerkennung der Ideen als selbständiger Wesen.

Um sich zu entschließen, dem Aristoteles ein so fun- damentales Mißverständnis des Platon zuzutrauen wie es dieser Ansicht als Voraussetzung zugrunde liegt, würde man wenigstens den Nachweis verlangen, daß man in der nachplatonischen Zeit in der Akademie selbst und auch in den übrigen Philosophenschulen einer ganz ande- ren Ansicht über die Platonische Ideenlehre huldigte als in der peripatetischen Schule. Sieht man sich aber danach um, so findet man, daß nicht nur ein so namhafter Ver- treter der Akademie selbst wie Xenokrates Zeugnis ab- legt für die Richtigkeit der Aristotelischen Auffassung, sondern daß auch die Stoiker keine andere Auffassung von den Platonischen Ideen hatten. Man kann mit einiger Zuversicht behaupten, daß das ganze Altertum in Platon den Vertreter der Ansicht von den Ideen als geistigen Substanzen sah, indem die Neoplatoniker, wenn sie hier und da die Ideen als Gedanken der Gottheit betrachteten, dies auf ihre eigene Rechnung taten. Und die Plato- nischen Schriften selbst sind nicht danach angetan von dem Leser diesen Eindruck abzuwehren. Sooft es auch scheinen mag, daß Platon das wahrhafte Sein einfach den Begriffen (dem Allgemeinen) zugesprochen habe, so ist dies doch nie seine eigentliche Meinung. Das Seiende, das ὄν, ist durchaus nicht mit der Erkenntnis (ἐπιστήμη) des Seienden identisch; das zeigt auf das klarste der Phaidon (47 Bf.): wir erkennen das Seiende durch die Begriffe (d. ἢ. in der Form der ἐπιστήμη), das ὄν aber besteht nicht in den Begriffen. Immer schwebt dem

XXxXVIl Einleitung.

Platon als eigentliches Objekt der Erkenntnis die selb- ständige Geisteswelt vor, welche allein unwandelbar ewig besteht und in vollem Sinne nur von der göttlichen schauenden Vernunft erkannt werden kann (vgl. Parm. 1340). Die Gegenstände dieser göttlichen Erkenntnis sind die Ideen, deren Erfassung unserem menschlichen Verstande hienieden zwar nicht verschlossen, aber nur in beschränktem Maße vergönnt ist (Phaid. 79C). Wären die Begriffe schon das wahrhaft Seiende selbst, so wäre uns dies letztere auch vollständig begreiflich. Tatsächlich verhelfen sie uns nur zu einer beschränkten Erkenntnis, indem sie durch ihre Beziehung auf das anschaulich Er- kannte die Auffassung des wahrhaft Seienden vermitteln. Wer kann den Phaidros, wer den Phaidon (79C), wer den ersten Teil des Parmenides lesen, ohne die Unter- scheidung zwischen Begriff und Idee, zwischen Erkennt- nismittel und Gegenstand der Erkenntnis anzuerkennen? Wird nicht im Parmenides (132BÜ) auf das bestimmteste die Vorstellung abgewiesen, als wären die Ideen etwa nur Gedanken in uns und nicht vielmehr selbständige Wesen? Doch wir laufen Gefahr in eine Polemik einzutreten, die uns an sich ganz fern liegt. Es kam uns nur darauf an, unseren Standpunkt kurz zu kennzeichnen in einer Frage, die bei Erörterung der aktuellen Bedeutung des Platonismus nicht umgangen werden konnte. Im übrigen prüfe jeder selbst und entscheide sich demgemäß. Indem wir, den unterbrochenen Faden wieder auf- nehmend, zur Besprechung der aktuellen Bedeutung des Platonismus zurückkehren, glauben wir zu der Behaup- tung berechtigt zu sein, daß seine innere Verwandtschaft mit dem Wesen edler Jugendlichkeit auch den einzigen Berührungspunkt desselben mit der Gegenwart bildet, von dem eine unmittelbare Einwirkung auf diese aus- gehen kann. War Platons unmittelbarer Einfluß im we- sentlichen auf die Jünglinge seiner Akademie beschränkt, so ist der Platonismus für seine lebendige Fortwirkung auf unsere akademische Jugend angewiesen. Sie ist es,

Einleitung. XXXIX

die, wenn anders ihr die ihr so oft nachgerühmte Be- geisterungsfähigkeit nicht abhanden kommt, die Flamme auf dem Altar des Platonismus immer wieder von neuem erstehen lassen kann; von da aus kann ein Widerschein davon wohl auch in weitere Kreise dringen, von einer unmittelbaren Wirkung aber auf die Seele unseres Volkes im Großen kann keine Rede sein, selbst dann nicht, wenn man den Platonismus nicht im wissenschaftlichen Sinne sondern nur als dauernde Stimmung der Seele, als Dis- position des Geistes in der Richtung auf ein höheres als das sinnliche, in materiellen Interessen befangene Leben deutet. Denn diese Stimmung in den weitesten Kreisen des Volkes zu erwecken ist ja die vornehmste Aufgabe der Kanzel, der zudem eine dem Volke weit verständ- lichere Sprache zu Gebote steht. Es bedarf dazu keines Platonismus, wohlverstanden keines ausdrücklichen. Faßt man aber den Platonismus zugleich im Sinne bestimmter Einzellehren, so könnte er allerdings als schärfster War- ner auftreten gegen so manche Verirrungen und Vorur- teile unserer Zeit, wenn nicht der Radikalismus der von Platon selbst gewählten Gegenmittel seine Stimme wir- kungslos verhallen ließe. Handelt es sich also hier nicht einmal um Möglichkeiten sondern um bloße Wünsche, so lohnt es sich doch die Aufmerksamkeit auf die Sache hin- zulenken und wenigstens die zwei wesentlichsten Mah- nungen, die er in dieser Beziehung an uns richtet, zur Sprache zu bringen, wäre es auch nur, um die Kluft zu kennzeichnen, die zwischen unserem Volksgeist und dem Platonismus liegt. |

Platon hat mit seinem großen Werk über den Staat bei den Historikern und Politikern. praktischen sowohl wie theoretischen unserer und der neueren Zeit über- haupt wenig Eindruck gemacht. Grotius, Pufendorf, Montesquieu, Treitschke und wie sie heißen mögen, haben wenig Veranlassung gefunden sich auf ihn zu berufen. Sehr begreiflich. Denn wenn Platon selbst am Ende des neunten Buches sagt: „Auf Erden findet er (der Ideal-

XI; Einleitung.

staat) sich nirgends. Aber im Himmel ist er vielleicht als Muster hingestellt für den, der ihn anschauen und gemäß dem Erschauten sein Inneres gestalten will,‘ so dürfte dies den meisten mehr als eine Vertröstung auf das tausendjährige Reich und das unaufhörliche Hal- leluja der Apokalypse erscheinen denn als eine An- weisung auf Rettung der lebenden und leidenden Mensch- heit. Gleichwohl ist es keine müßige Sache, die Er- innerung an seine schärfsten Mahnungen aufzufrischen und sie im Lichte der Gegenwart kurz zu betrachten.

Jeder Leser der Platonischen Republik weiß, daß das Herz des ganzen Werkes der Gedanke bildet, zu einer wirklichen Gesundung des staatlichen Lebens könne es nur dann kommen, wenn entweder die Könige Philo- sophen oder die Philosophen Könige würden. Überträgt man dies hohe Wort in die Sphäre und Sprache des ge- wöhnlichen Lebens, so enthält es die Mahnung, daß die Herrschaft keinem anderen gebühre als dem wahrhaft Ein- sichtigen. Der Beachtung dieser Mahnung ist keine Zeit in höherem Maße bedürftig als die unsere. Denn welche Zeit hätte sich mehr der Achtung vor dem Worte ent- schlagen: ‚Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen‘? Wann hätte man größeren Wert gelegt auf das bloße Ab- zählen der Stimmen? Des Majoritätsprinzips Kann aller- dings keine entwickelte menschliche Gesellschaft ent- behren. Aber schon bei kollegialischen Entscheidungen, wo dies Prinzip vor allem hingehört und unentbehrlich ist, ist es nicht frei von Bedenken. „In publico consilio“, sagt der jüngere Plinius (epist. II, 12) „mihil est tam in- aequale quam aequalitas ipsa,; nam cum sit impar prudentia, par ommnium jus est“. Heutzutage ist der Haupttrumpf, den man für alle großen Entscheidungen des öffentlichen Lebens ausspielt, die Massenabstimmung. Nos numerus sumus. Gewiß soll jeder Erwachsene an der Wahl der Volks- und Gemeindevertreter Anteil ob den gleichen, bleibe dahingestellt haben: das ist nicht mehr als recht und billig. Daß aber die Exekutive in ihren Spitzen

Einleitung. ΧΙ

auf die Wahl aus dem Kreise der Volksvertreter be- schränkt sein soll, widerstreitet ebenso den Forderungen des einfachen Menschenverstandes wie die als fast selbst- verständlich geltende Annahme, daß das Mandat als Volksvertreter auch schon der genügende Ausweis sei zur Leitung wichtiger Teile der Staatsverwaltung. Wir müssen uns darein finden, daß für Besetzung der höchsten Posten die unverfälschte Parteigesinnung und Programm- treue an erster Stelle, das Maß der Sachkenntnis und Erfahrung erst an zweiter in Frage kommt. Man meint wohl, in der allgemeinen Schulbildung liege eine aus- reichende Gewähr für die Fähigkeit zu politischer Be- tätigung. Für die zu Wählenden ist dies gewiß nicht der Fall, für die Wähler vielleicht. Aber ist ihre der letzteren Seele auch unbefangen genug, um sich bei Wahl der Volksvertreter, die man bei dem jetzigen Stande der Dinge in gewissem Sinne doch schon fast als Regenten bezeichnen kann, lediglich von der Rücksicht auf das Wohl des Ganzen leiten zu lassen? Sprechen nicht Selbstsucht, Standes-, Berufs- und Parteiinteressen . dabei oft genug das erste Wort? Wie wenige können, wie wenige wollen unterscheiden zwischen politischem Egoismus und unbefangener staatsmännischer Einsicht der ihnen sich vorstellenden Kandidaten. Blindes Partei- interesse, Ehrgeiz, Liebedienerei gegen die Instinkte der Masse, umhüllt von dem Schein der Volksfreundlichkeit- siegen nur zu leicht über die unparteiische, wahre Sach- kenntnis und über den ehrlichen Willen, nur dem Wohl des Ganzen zu dienen. Diese Sachkenntnis aber, welche Vertrautheit mit der Mannigfaltigkeit der in unserem hochentwickelten und vielverzweigten Staatsleben zu- sammenwirkenden Kräfte setzt sie voraus! In Platons Idealstaat ist unerläßliche Vorbedingung für Ausübung der Regententätigkeit eine vieljährige, umfassende philo- sophische Schulung, die zugleich auch eine Zeit der sitt- lichen Prüfung ist, denn nach Platonischer Anschauung ıst höchste Einsicht undenkbar ohne wahren Adel der

ZI Einleitung.

Gesinnung. Die große Masse des Volkes, der dritte Stand, ist von jedem Anteil an der Regierung ausge- schlossen. Das mag ebenso herzlos scheinen wie bequem für Erledigung der schriftstellerischen Aufgabe, die sich Platon gestellt hatte. Allein bei Entwurf eines reinen Ideals ist es erlaubt alle möglicherweise störenden Ele- mente auszuscheiden. Ganz anders im „Gesetzesstaate‘“, in welchem sich Platon mehr zum Standpunkte der Wirk- lichkeit herabläßt. Hier zeigt Platon ein sehr lebhaftes. und tiefgreifendes Interesse dafür, alle Bürger zu reger Teilnahme an dem staatlichen Leben heranzuziehen. Aber diese Tendenz ist durchweg verbunden mit der pein- lichsten Sorge für angemessene Abstufung des Einflusses der Stimmen bei den vielen verschiedenen Wahlen, nach Maßgabe der intellektuellen und sittlichen Bildung der Abstimmenden. Da zeigt sich Platon geradezu als ein Virtuos in der Kunst des Durchsiebens. Wer eine Ge- schichte der Wahlmethoden, der wirklich geschichtlich erprobten sowie der nur theoretisch vorgeschlagenen, schreiben oder einen Entwurf zu einer Übersicht über alle überhaupt möglichen Arten von Wahlverfahren machen wollte, dem würden Platons ‚Gesetze‘ eine reiche Fundgrube bieten. Anfang und Ende aller seiner Wahl- weisheit ist immer dies, der Einsicht und sittlichen Ge- diegenheit zum Siege zu verhelfen.

Der zweite bedeutsame Mahnruf, der aus den poli- tischen Schriften Platons zu uns tönt, ist der, nichts zu verabsäumen, was dazu beitragen kann die innere Ein- heit des Volkes herzustellen, den Gemeinschaftssinn aller Bürger soviel wie möglich zu beleben und zu kräftigen. Platon kennt nichts Wichtigeres als dies und was wäre in der Tat auch wichtiger? Und welchem Volke täte die Beachtung dieses Mahnrufes mehr not als gerade dem unseren? An die Stelle der früheren politischen Zerrissen- heit ist seit Gründung des neuen Reiches die verhängnis- vollere soziale Spaltung getreten, die uns jetzt zur Ohn- macht verurteilt gegenüber einer Welt von äußeren Fein-

Einleitung, XLIII

den. Aber wie sehen wir uns enttäuscht, wenn wir uns in seinem Idealstaat nach den Mitteln umtun, mit denen er den Fluch der Uneinigkeit zu bannen sucht. Manches davon wird der heute herrschenden Partei nicht mib- fallen. Aber jedes feinere Gemüt wird sich verletzt fühlen durch die Gewaltmittel, mit denen Platon die natürlichen Grundlagen des geselligen Menschenlebens zu vernichten die Kühnheit hat, und die schon im Altertum den ent- schiedensten Widerspruch erfuhren. Nicht als ob es an sich völlige Unmöglichkeiten wären, mit denen er uns da entgegentritt man könnte sich unter gewissen Kau- telen, namentlich unter dem Schutze religiöser Weihen ein staatliches Gesamtfamilienleben wie er es aufbaut, immerhin irgendwo als durchführbar vorstellen —, aber es ist nicht Blut von unserem Blute, das in den Adern dieser Volksgenossen nach Platons Willen fließen soll, und es wird immer merkwürdig bleiben, daB Aristoteles, der Makedonier, einen klareren Blick und empfänglicheren Sinn hatte für Bedeutung und Wert des Familienlebens, dieser natürlichen Wurzel aller geselligen Tugend, als Platon, der Athener.

An sich wesentlich anders als im Idealstaat, aber was die Anwendbarkeit auf uns anlangt nicht viel besser steht es in diesem Punkte mit dem ‚„Gesetzesstaat“. Auch hier wird Platon nicht müde Mittel und Wege zu suchen zur Steigerung des Zusammengehörigkeits- und Verwandt-

schaftsgefühls. Und zwar sind es hier vor allem Religion

und Kultus, die als Spender und Schutzmächte aller volkstümlichen geselligen Festesfreude den Bund der Herzen begründen und festigen sollen. Gewiß ein herrlicher und schöner Zug, der, in vollem Einklang mit der tief- gewurzelten Anschauungsweise der Griechen überhaupt

und begünstigt durch den verhältnismäßig kleinen Um- ᾿

fang der Platonischen Volksgenossenschaft, sich an seinem Orte als äußerst wirksam darstellen muß und für Platons staatsmännischen Standpunkt um so bezeichnender ist als Platon in Sachen der. Religion den volkstümlichen

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XLIYV Einleitung.

Anschauungen nicht ohne ein gewisses Nachlassen in der Strenge seiner eigenen religionsphilosophischen Über- zeugung entgegenkommen konnte.

Wenden wir von da den Blick auf unsere eigenen religiösen Angelegenheiten, so bietet sich uns ein Bild von ganz entgegengesetzter Art. Wohnt der Religion im Platonischen Gesetzesstaat eine politisch einigende Kraft inne, bewährte sich diese Kraft durch die allgemeine Verehrung des nationalen Tempelheiligtums zu Delphi sogar für ganz Griechenland als ein Gegengewicht gegen die politische Eifersucht und Zerrissenheit der griechi- schen Stämme, so hat bei uns umgekehrt die Religion durch die Trennung der Kirchen und die Spaltung des Grlaubenssystems nicht wenig dazu beigetragen wie den Bau unserer gesamten Bildung so die Einheit der Nation zu zerreißen. Und was insbesondere das Verhältnis der Demokratie zu den religiösen und kirchlichen Fragen anlangt, so gewahren wir wiederum bei uns, wenigstens in den evangelischen Teilen Deutschlands, das volle Wi- derspiel zu den entsprechenden Erscheinungen in Grie- chenland. Bei den Griechen war die Demokratie in ihren guten Zeiten im eigensten Interesse des Staates die starke und eifersüchtige Hüterin des Kultus und der Religion. Bei uns geht die demokratische Strömung durchaus gegen jeden Zusammenhang zwischen Kirche und Staat. Im Namen der Freiheit, des Fortschrittes, der ungehemmten Aufklärung fordert die Demokratie mit aller Entschieden- heit die endgültige Trennung von Kirche und Staat. Gewiß sind Toleranz und Glaubensfreiheit nichts weniger als bloße leere Schlagwörter. Sie haben, wie die Sachen bei uns nun einmal liegen, ihre gute Berechtigung. Allein sie sind weit entfernt den denkbar glücklichsten Zu- stand in religiöser Beziehung überhaupt zu bezeichnen. Dieser wäre nur dann erreicht, wenn wir sagen könnten: „Wir glauben alle an einen Gott; was aber die Sym- bole, die Sinnbilder dieses Glaubens, die geweihten Ge- bräuche des Kultus anlangt, die ein Werk des Ge-

Einleitung. XV

schmacks und weder von göttlicher Anordnung noch eine Folge der Denknotwendigkeit sind wie die Idee der Gott- heit selbst, so hat der im Volke waltende Gemeingeist die Kraft, jeden guten Bürger dahin zu bringen, daß er sich diesen geweihten Gebräuchen seines Vaterlandes und seiner Gemeinde anschließt und nicht eigensinnig seine Hausgötter für sich haben will. Ist doch die religiöse Lehre selbst etwas anderes als die Sinnbilder dieser Lehre.“ Dies etwa ist die ideelle Entscheidung der Frage, wie sie ein hervorragender Denker des vergan- genen Jahrhunderts, J. Fr. Fries, in seiner Religions- philosophie gibt. Und wer weiß, ob nicht Platon gege- benen Falles dieser Entscheidung beigetreten wäre, mag auch der große Wellenschlag der Zeit noch so entschieden auf eine ganz andere Richtung hinführen.

Wir sehen also: was die großen Volksströmungen anlangt, so bewegen wir uns in einem dem Platonismus gerade entgegengesetzten Fahrwasser. Das darf uns aber nicht irremachen an dem guten Rechte der Philosophie. Sie verkündigt die Wahrheit um der Wahrheit willen, ‚froh, wenn sie willige Hörer findet, aber nicht gewillt um die Gunst der Menge zu buhlen. Sie läßt die Glocke, die zu ihrer Kirche ruft, ertönen, auch wenn sie sich sagt, daß sich niemand einfinden wird. Sie scheut nicht den Kampf gegen die Sünden und Verirrungen der Zeit, aber sie steht auf höherer Warte als auf der Zinne der - Partei; sie sorgt nicht für den Tagesbedarf, sie hat es nicht zu tun mit dem Gestern und Heute, überhaupt mit keinem Ziele, das nur einer bestimmten Zeit an- gehört. In dieser Beziehung fällt der Platonismus zu einem guten Teile mit der Philosophie selbst zusammen. Er wird so wenig untergehen wie diese, er wird seine stärkeren, er wird seine schwächeren Zeiten haben. Bei allem Wechsel aber seines Einflusses wird er doch immer, solange es noch Universitäten bei uns gibt, die unsere Jugend zu etwas Höherem heranzubilden sich zutrauen als zu gelehrtem Banausentum, sich wirksam erweisen

XLVI Einleitung.

durch jenen jugendlichen Zug, der ihm innewohnt, ver- bunden mit jener Triebkraft hinauf in die Höhe, die sein innerstes Wesen bildet. Sind es doch gleichsam die Naturlaute des Idealismus, die uns mit elementarer Kraft aus den Dialogen Platons entgegentönen, in ihrer Wir- kung vergleichbar dem Rauschen des Eichwaldes oder dem Brausen der Meeresbrandung: sie stimmen das emp- fängliche Gemüt unwillkürlich zur Ehrfurcht vor etwas das höher steht als diese unsere an die Schranken von Raum und Zeit gebundene Welt.

Platon war Dichter genug, um die bezeichnend- sten Züge seiner Philosophie in einer mythischen Göttergestalt zu versinnbildlichen, die geradezu zum Symbol seiner Philosophie selbst geworden ist und die nicht aufhören wird von den gebildeten Bekennern aller Religionen den Symbolen des eigenen Glaubens würdig an die Seite gestellt zu werden: es ist der Eros, der jugendliche Gott der Schönheit und der Liebe, durch Platon verklärt zum Mittler zwischen Himmel und Erde, zwischen irdischer und ewiger Schönheit. Solange er noch gilt, so lange wird auch der Platonismus nicht untergehen. Er, der Eros, ist es, der nicht nur den sinnlichen, sondern auch den geistigen Zeugungstrieb in uns einsenkt, der die in der Brust des edleren Menschen schlummernden Keime des Wahren, Guten und Schönen zum Leben er- weckt, der die Ahnung des Göttlichen und eines höheren geistigen Daseins, das als dunkle Erinnerung an ein frühe- res, himmlisches Leben unserem Geiste innewohnt, zur Liebe steigert und das Herz mit Sehnsucht nach dem Unendlichen erfüllt, dergestalt, daß der von ihr Ergrif- fene keine höhere Aufgabe kennt als die innerlich ge- schaute Schönheit auch schon in das endliche Dasein hineinzubilden. Und nicht genug damit: nicht nur dem menschlichen Herzen ist er der Förderer und Schutzgeist alles Schönen, er durchwaltet, wie Platon durch des Eryximachos Mund im Gastmahl andeutet, auch ordnend, schützend und erhaltend das Weltall. Ist doch das Welt-

Einleitung. XLVil

all für Platon nichts anderes als der schönheitstrahlende Abglanz des Ewigen. Wer wäre also mehr berufen zum Schutze dieser sichtbaren Schönheit, als der Mittler zwischen Himmel und Erde, die Gottheit der Schönheit und Liebe? So wird Eros folgerichtig zum welterhaltenden und weltengestaltenden Gott, der es zu keinem Weltunter- gang, zu keinem Chaos der Zertrümmerung und Vernich- tung kommen läßt, denn das wäre nichts anderes als eine Verwirklichung des Unschönen. In diesem Sinne hat ihn uns, den Platon gleichsam ergänzend, jener deutsche Philosoph, dessen wir kurz vorher schon gedachtent), ın Worten vor Augen gestellt, die den Beschluß dieser meiner anspruchslosen Bemerkungen über den Platonis- mus bilden mögen: „Dem Leben ist nur die Schönheit das Himmelsband, welches das Irdische an das Ewige an- knüpft; nur in den Gestalten dieser allgegenwärtigen Schönheit schauen wir den Endzweck der Dinge selbst an. Es ist der schönste und der lebendigste unter den Göttern, an den wir hier glauben, dem wir vertrauen, in dessen Hand wir das Schicksal der Menschen wissen, der . älteste unter den Göttern und ewig der jüngste, der weltenerschaffende, herrliche Eros. Eros, der in sanfterer Laune sorgsam der Blüten pflegt, ihnen die reiche zier- liche Form gestaltet und die glänzenden Farben malt, der aber auch in Purpur gekleidet Sturm und Wetter über die Erde führt, oder wie einst auf das Gebot korinthischer- Weiber sich in die Scharen der Kämpfer stürzt, sie mit kühnerem Siegesmuterfüllt. Uns hat er als das Vornehmste auf der Erde gehalten, den Menschen zu seinem Liebling erkoren. Sollte er wohl, was er mit so großer Sorge sich langsam heranbildete, so schnell wieder vergessen oder vorübergehen lassen? Wir glauben es nicht! Und wenn er es täte, so würde doch aus den Trümmern der ver-

1 J. F. Fries, Vorlesungen über Sternkunde p. 333f., bei Ge- legenheit der Erörterung über den möglichen Untergang unseres Sonnensystems,

XLVIII Einleitung.

gangenen Schöpfung sich nur um so herrlicher die neue Jugend der wiedergeborenen Schönheit entfalten. Es ist wie in jener indischen Dichtung, der Gott der Zerstörung auch der Schöpfer der Welt. Es erscheint die Geschichte der Welt. in immer wechselnden Umformungen, aber in jede Umwandlung tritt mit gleichem Glanze die heilige Schönheit, denn wie bei Phidias’ Meisterwerk, an dem Throne des ewigen Vaters tanzen die Horen den Tanz der ewigen Freude.“ |

PLATONS DIALOG PROTAGORAS

ÜBERSETZT UND ERLÄUTERT

VON

OTTO APELT

ZWEITE DURCHGESEHENE AUFLAGE

DER PHILOSOPHISCHEN:- BIBLIOTHEK BAND 175

FELIX MEINER IN LEIPZIG. 1922

Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechts, vorbehalten.

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Inhaltsverzeichnis.

Seite ie ὡς re ΟΠ ΟΣ . Übersicht über die Literatur . . . . . 80--81 . Inhalt und Gliederung des Dialogs . . . 32—36 u 5; οι τ νοῦν a

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Einleitung.

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Die Zeit, in welcher sich Platon das vorliegende Gespräch gehalten denkt, läßt sich aus den dafür mab- gebenden Andeutungen mit ziemlicher Sicherheit bestim- men. Es ist die Zeit kurz vor Ausbruch des Peloponne- sischen Krieges, also etwa das Jahr 432v.Chr. Wenn man dabei einen etwas gewagten Anachronismus mit in Kauf nehmen muß, so kann sich daran nur der trockene Rechner stoßen, nicht der auf Kunstgenuß bedachte Leser; denn dieser sagt sich, daß dergleichen Seitensprünge el- nem Dichter nicht nur erlaubt, sondern als Zeichen wahrer poetischer Kraft unter Umständen besonders hoch anzu- rechnen sind. Und daß Platon am wenigsten geneigt war, auf dies Recht zu verzichten, ist aus seinen übrigen Dia- logen zur Genüge bekannt. Was aber die Zeit der Ab- fassung anlangt, so dürfte der Protagoras wohl der erste größere Dialog sein, den Platon der Öffentlichkeit über- geben hat. Hatte Schleiermacher den Phaidros mit einer Bestimmtheit an den Anfang gestellt, die selbst Männern wie Böckh und Immanuel Bekker dermaßen im- - ponierte, daß sie sich jeden Zweifels an der Berechtigung dieser Feststellung entschlugen, so hat die Folgezeit gerade diesen Dialog mit ebenso großer Bestimmtheit und dabei mit weit besserem Rechte ein ganzes Stück abwärts gerückt. Auf die somit freigewordene Stalle des Anfangs der platonischen Schriftstellerei hatte nunmehr, unter den größeren Dialogen wenigstens, keiner einen näher liegenden Anspruch als der Protagoras. Für sein Erstgeburtsrecht zeugt denn zur Zeit auch manche gewichtige Stimme. Ob ihm dies Recht im strengsten Sinne, d. h. unter Ausschluß irgend welchen kleineren Dialogs, der ihm etwa als Plänk-

Apelt, Platon Protagoras. Phil. Bibl. Bd. 175. 1

2 Einleitung.

ler voranginge, zukommt, lasse ich dahingestellt!). So viel aber ist auch mir wahrscheinlich, daß der Protagoras der erste größere Dialog und derjenige ist, mit dem er sich in vollem Sinne vor dem Publikum als Vertreter und Fortbildner der sokratischen Philosophie gewisser- maben legitimieren wollte.

Wenn man. jetzt auf Grund der sprachstatistischen Untersuchungen die platonischen Schriftwerke mit einiger Sicherheit auf drei Perioden verteilt, so steht die Zuge- hörigkeit des Protagoras zur ersten Periode außer Zweifel. Lassen uns aber die sprachlichen Kriterien, diese objek- tivsten Zeugen für die hier in Frage stehende Chronologie, nur im allgemeinen den Zeitraum erkennen, dem der Dialog angehört, so fehlt es uns nicht an Mitteln, mit einiger Wahrscheinlichkeit auch den relativen Zeitpunkt zu bestimmen, in den wir ihn zu setzen haben. Es sind das teils sachliche Beziehungen zu anderen DUEeN, teils Beobachtungen logischer Art.

Was das erstere anlangt, so handelt es sich vor allem um die Tugendlehre. In ihrer entwickelten Gestalt, wie sie uns in der Republik entgegentritt, kennt diese Lehre nur die Vierzahl der Tugenden, die vier bekannten Kar- dinaltugenden, während sich im Protagoras diesen als fünfte noch bestimmt die Frömmigkeit (ὁσιότης) beigesellt. Diese Fünfzahl der Tugenden ist nun im Euthyphron bereits aufgegeben, indem da die Frömmigkeit als in’ der Gerech- tigkeit aufgehend dargestellt wird. Die vier übrigen 'Tu- genden aber werden in der Republik keineswegs schlecht- weg als Einheit hingestellt, werden vielmehr“ geschieden voneinander behandelt nach‘ Maßgabe: ihres Verhältnisses zu den Teilen der Seele: Wohl: liegt ihnen 'ein einheitliches Prinzip zugrunde, ‘das Prinzip nämlich der. verständigen Selbstbeherrschung:; die Einheit der ‚Tugenden, soweit man

!) Damit meine ich nicht Dialoge wie: ἀδὰ Inehen oder den Charmides (vgl, Arnim, Pl. Jugdiall. 18. ), wohl aber einen Dialog

wie den Ion, der vielleicht der Abschiedsgruß Platons an die Poesie

ist. Vgl. Einleitung zur Übers. des Ion, Bd. 1723, p. 101

Einleitung. 3

von einer solchen reden kann, besteht in der Herrschaft des Verstandes (λόγος) über alle Regungen des begehrlichen wie des eiferartigen Seelenteiles. Es gibt hier also zwar auch eine Einheit der Tugenden, aber sie besteht nicht in dem bloßen Vorhandensein der Einsicht, sondern in der Einwirkung derselben auf die Mannigfaltigkeit der Seelen- regungen. Im Protagoras wird die Verschiedenheit der Teile der Tugend dem Wortlaut nach geradezu geleugnet, während der höheren Idee der Tugend gemäß, die übrigens auch in diesem Dialog erkennbar genug durchschimmert, doch nur gesagt werden kann, daß in der Einheit des Tugendlebens kein Teil ohne Verbindung mit dem anderen sei. Im Protagoras scheint demgemäß ebenso wie im Laches und Charmides die Meinung, daß alle Tugend in der Erkenntnis des Guten bestehe, noch das letzte Wort zu sein, ein Standpunkt, der sich noch ganz sokratisch ausnimmt. Denn Xenophon sowohl (Memor. III, 9) wie Aristoteles (Eth. Nic. VI, 1144 26 ff.) schreiben dem So- krates die Lehre von der Einheit der Tugend zu, dergestalt, daß alle Tugend in der Erkenntnis des Guten bestehe. Wir haben es also mit einer Ansicht zu tun, die hinter der aus- gereiften Ansicht Platons ein ganz erhebliches Stück zu- rücksteht. Wenn er sich im Protagoras polemisch gegen die Teilungen der Tugend wendet, so bekämpft er damit einen Standpunkt, den er späterhin selbst vertritt, nur daß. ihm diese Teilungen allerdings einen ganz anderen Sinn haben, als den Sophisten. Für ihre Auffassung der Sache nämlich würde man besser von Vereinzelung der Tugenden, als von Teilungen der Tugend reden. Denn ein innerliches Band, welches die einzelnen Tugenden zur Einheit zusammenschließt,. kennen sie nicht; sie lassen sich ‘vielmehr nur von τοίη äußerlichen Gesichtspunkten ‚leiten:: was für sie Wert hat, ist allein der unmittelbare Nutzen für das praktische Leben.

Daneben kommt in Betracht das Verhältnis des Guten zum Angenehmen, das sich Sokrates 351 C ff. bemüht als ein Verhältnis der Identität darzustellen. Mit dieser Dar-

| 1*

4 Einleitung.

stellung hat es nun zwar seine eigene Bewandtnis. Näher zugesehen nämlich läuft das Ganze auf nichts anderes hinaus, als auf eine Sonderung der guten, sittlich lobwür- digen von der sittlich verwerflichen Lust, oder, wie man im platonischen Sinne auch sagen könnte, der wahren Lust von der falschen, ein Standpunkt, der im Grunde der nämliche ist, wie der späterhin im Philebos vertretene, nur daß in unserem Dialog Sokrates zum Zwecke der. an sich unmöglichen Argumentation durch eine Art Eska- motage den Begriff der Lust auf die löbliche Lust ein- zuschränken und die verwerfliche Lust als etwas über- haupt nicht Lustvolles hinzustellen weiß. So allein kann er das schwere Kunststück fertig bringen, Tapferkeit und Wissen zu einer Einheit zu verschmelzen. Daß die Schalk- haftigkeit dabei nicht unbeteiligt ist, zeigt sich schon darin, daß der Satz von der Gleichheit des Guten und Angenehmen ganz in der Geschmacksrichtung der Sophistik liegt. Für den Protagoras also ist der Satz ein Köder, auf den er unter anderen Umständen unbedenklich anbeißen würde, während er jetzt, angesichts der unangenehmen Überra- schungen, die ihm der bisherige Gang der Unterredung gebracht hat, nichts Gutes wittert und darum seine Zu- stimmung nur mit einiger Reserve gibt, die um so possier- licher wirkt, als sie sich in sittlicher Ziererei gefällt. Diese Ironie konnte Platon seinem Sokrates leihen,. ehe er sich in seinen Schriften auf seine wahre Meinung fest- gelegt hatte, wie es im Gorgias (495 A ff.) geschieht, nicht aber nachher!). Wir werden also auch damit auf eine verhältnismäßig frühe Zeit der Abfassung unseres. Dia- loges hingewiesen.

Was aber den anderen Punkt, nämlich: ‚die, logische Frage anlangt, so handelt es sich da um die: Lehre von der Opposition der Begriffe, ein Kapitel der Logik, mit dem sich Platon sein Lebtag viel beschäftigt hat, ohne

nn nn -.. .

1) Weiteres über diesen Punkt siehe in den Anmerkungen zu

551 ΟΥ̓.

Rinleitung. ΠῚ

damit je ganz ins Reine zu kommen. Ich verweise darüber auf meine Platonischen Aufsätze p. 260 ff. Immerhin zeigt sich Platon in späteren Schriften mehrfach besser orientiert, während er hier den Sokrates mit einer so schwachen Dialektik auftreten läßt, daß es fast scheinen könnte, als hielte er wider besseres eigenes Wissen an dieser sokra- tischen Dialektik fest, nur um den Sokrates in seiner Eigenart darzustellen.

Sind wir demnach berechtigt, den Protagoras an den Anfang der platonischen Schriftenreihe zu stellen, so ver- knüpft sich damit unwillkürlich die Vorstellung einer be- stimmten Bedeutung desselben hinsichtlich seines Verhält- nisses zum Publikum. Was wir nämlich von derjenigen Schrift, mit der sich Platon in großem Stile beim Publikum einführte, zu erwarten hätten, wäre doch etwa folgendes: Aufklärung des Publikums über den bisherigen Entwick- Jungsgang und dermaligen Stand der die Zeit bewegenden philosophischen Fragen unter scharfer Kennzeichnung des vom Publikum meist völlig verkannten Gegensatzes zwischen Sokrates und den Sophisten, anderseits Andeu- ᾿ tungen über die ihm selbst als Vertreter und Fortbildner der Sokratik gewordene Mission, also ein Blick rückwärts auf die Vergangenheit (Rechenschaftsbericht als Hauptthema) und ein Blick vorwärts (Programm). Es erhebt sich also die Frage, ob und wie diese Erwartungen mit dem Zwecke des Dialogs, so, wie er sich aus der Betrachtung des Gedankengehaltes und der Szenerie ergibt, in Einklang stehen. |

Von Anfang bis zu Ende ist zwar in der Hauptsache neben Sokrates nur Protagoras Träger des Gespräches so daß es begreiflich ist, wenn manchen das Absehen des ganzen Dialogs nur auf ihn gerichtet schien —, indes schon die Szenerie scheint darauf hinzuweisen, daß es sich keines- wegs bloß um die persönliche Niederlage des Protagoras handelt. Denn neben ihm stehen als hochangesehene, wenn auch nicht in gleichem Maße gefeierte Häupter der So- phistik Hippias und Prodikos auf der Bühne, und zwar

6 Einleitung.

nicht als reine Statisten, sondern auch als eingreifend in die Unterhaltung, zwar nur an wenigen, aber doch ent- scheidenden Stellen; und besonders am Schluß hat Platon sehr wirksam dafür gesorgt deutlich erkennen zu lassen, daß er ihre Sache nicht von der des Protagoras getrennt wissen will. Aber dies ganze Beisammensein der Sophisten überhaupt zeugt an sich schon für die Absicht Platons mit der Sophistik als solcher abzurechnen. Sokrates hat gewiß im Laufe seines Lebens sich oft genug mit jedem einzelnen dieser berühmten Vertreter der Sophistik berührt, aber er hat niemals diese erlauchte Versammlung der So- phistenhäupter so beisammen gesehen, wie sie uns hier im Hause des Kallias vorgeführt werden. Wer sie zusam- mengebracht und dem Sokrates Gelegenheit gegeben hat sich mit ihnen in der hier geschilderten Weise zu messen, das ist nicht Kallias: es ist niemand anders als Platon selbst. Schon die Unstimmigkeiten in Sachen der Chrono- logie weisen deutlich genug auf die dichterische Freiheit hin, mit der Platon sein Werk konzipiert hat. Wenn er also neben Protagoras auch die anderen Häupter derälteren Sophistik erscheinen läßt, so wird man nicht fehlgehen mit der Annahme, es handle sich hier nicht bloß um Protagoras, sondern um die Sophistik überhaupt. Protagoras ist nur der Wortführer einer ganzen Gruppe von Männern, die seit mehr als einem Jahrzehnt das geistige Leben Griechen- lands und nicht am wenigsten Athens beherrschten und ihm ihren Stempel aufdrückten. Daß dem so ist, dafür spricht besonders noch der Umstand, daß sich Protagoras in unserem Dialog nirgends auf Lehren beruft, die uns als ihm spezifisch zukommende bekannt sind. Was in Son- derheit seine wohlbekannte, alle Objektivität der Erkenntnis leugnende Erkenntnistheorie anlangt, so könnten wir in dem von ihm hier eingenommenen Standpunkt eher einen Ab- fall von dieser seiner Lehre als eine Vertretung derselben erkennen; denn in unserem Dialog glaubt er doch an eine objektive Erkennbarkeit der Tugend; sonst könnte er sie nicht für lehrbar erklären. Er stellt sich hier also ganz

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unbefangen auf den Standpunkt der anderen Sophisten, die, unbekümmert um Einheitlichkeit ihres Lehrzieles und strenge Konsequenz der Gedanken, das Hauptgewicht dar- auf legten, durch angenehmen und gefälligen Wechsel viel- seitiger Leistungen die Jugend und das Publikum über- haupt zu ergötzen und anzuregen: Schaustellungen ihrer Redegewandtheit verbunden mit Anweisungen zur Erlan- gung rhetorischer Fertigkeit wechselten bei ihnen mit Pro- ben sinnreicher Erzählungskunst; als Würze des Mahles durften aber auch Dichterstellen nicht fehlen; denn auf ihre Kunst der Erklärung von Dichterwerken taten sie sich um so mehr zugute, ein je ergiebigeres Feld dies für allerhand Spiele des Witzes und der Spitzfindigkeit war. Dies waren die drei Hauptseiten ihrer Lehr- und Vortrags- tätigkeit, und eben diese sind es, die sich auch bei Prota- goras hier einander ablösen, wenn auch in bezug auf die erste und dritte nicht mit dem gewohnten Glück. Kein Zweifel also: Platon will uns ein Bild der Sophistik über- haupt geben.

Weiter aber ergibt sich für den Leser alsbald die - Erkenntnis des scharfen Gegensatzes, in welchem Sokrates zu dieser Sophistik steht sowohl hinsichtlich der Methode wie des Gehalts seiner Lehre. Durchweg stellt der Dialog die streng wissenschaftliche Methode der Prüfung, wie sie die Sokratische Art der Gesprächsführung zeigt, in wirk- samen Kontrast zu den oberflächlichen und mehr blenden- den als überzeugenden Unterredungs- oder besser Über- redungskünsten der Sophisten. Alle Darbietungen des Pro- tagoras erweisen sich als ebenso viele Abweichungen von der Methode wirklich wissenschaftlicher Diskussion. Immer wieder muß er, wie ein eigensinniges Kind, es sich gefallen lassen, von Sokrates auf den nach dessen Ansicht einzig richtigen Weg der Erörterung zurückgewiesen zu werden, und so bescheiden und entgegenkommend Sokrates auch sonst durchweg dem Protagoras gegenüber auftritt, in diesem Punkte ist er unerbittlich: die Untersuchung muß sich strengstens an das Thema halten und darf keinen

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Schritt vorwärts tun ohne sich der Berechtigung desselben bewußt zu sein. Sie muß sich also in der Form knapper Fragen und Antworten vollziehen, denn diese arbeiten einer durchgängigen scharfen Kontrolle am ehesten in die Hand. Davon läßt er sich kein Jota abhandeln. Nur das durch die innere Notwendigkeit der Gedankenfolge Be- stimmte findet Gnade vor seinen Augen; alles Abspringen vom Thema, alle Willkür, aller bloße Unterhaltungskitzel, alle Schönrednerei, alles Beifallshaschen fällt bei ihm der Verdammnis anheim, sei es der ausdrücklichen, wie die Spielerei der Dichterauslegung, sei es der stillschweigenden, durch bloßes Ignorieren des Vorgebrachten markierten, wie die Wortmacherei, mit der Protagoras 334A ff. den Hörern Sand in die Augen streuen will.

Worin aber besteht, so fragen wir, diese Notwendig- keit der Gedankenfolge, diese unerschütterliche Objektivi- tät der Untersuchung (Aöyos), auf die sich Sokrates in den platonischen Dialogen so oft und so gern beruft? Das wird sich am einfachsten in Verbindnug mit dem Gehalte seiner Lehre erläutern lassen.

Werfen wir zu dem Ende einen Blick auf die Ge- schichte der früheren griechischen Philosophie, so be- merken wir, daß von allen teils einander ablösenden teils nebeneinander hergehenden Philosophemen es nur eines ist, welches Ansätze zeigt zu einer reinen Begriffsphilo- sophie. Es ist das der Eleaten. Alle Philosophen vor So- krates sahen ihre Aufgabe darin, sich nach Maßgabe ihrer Einsicht das Weltbild verstandesmäßig zurechtzulegen, d.h. die verwirrende Mannigfaltigkeit der Erscheinungen auf eine erklärende Einheitsformel zurückzuführen. Dabei zeigt sich eine Stetigkeit und, wenn man so sagen darf, Regel- rechtigkeit des Fortschrittes, die von der besonderen An- lage oder auch Prädestination des griechischen Volksgeistes für Philosophie beredtes Zeugnis ablegt. Denn sie ent- spricht durchaus den natürlichen Bedingungen des mensch- lichen Geisteslebens. Der menschliche Geist besitzt drei verschiedene Errkenntnisweisen: die empirische, die mathe-

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matische und die philosophische. Die erste trägt den Cha- rakter der Zufälligkeit, die zweito den der Notwendigkeit, aber dies nur mit Hilfe der reinen Anschauung, die dritte gleichfalls den der Notwendigkeit, aber aus blolem Denken ohne Zutun der Anschauung. Es liegt nun in der Natur dieser Erkenntnisweisen, daß wir uns zuerst der empirischen Erkenntnisweise bewußt werden; ihr folgt die mathema- tische, und dieser dann die philosophische. Und genau dies ist die Stufenfolge, in der sich die erste Entwicklung der griechischen Philosophie vollzieht. Die Ionier suchten die Erklärung des Weltganzen von der Seite der Empirie, die Pythagoreer von der Seite der Mathematik, die El:aten endlich von der Seite der philosophischen Erkenntnis. Fanden die ersten den Anfang oder einheitlichen Erklä- rungsgrund alles Werdens in irgend etwas Stofflichem, so war es für die Pythagoreer die Zahl, in der das Wesen der Dinge beschlossen lag; den Eleaten dagegen, die allen Wechsel des Werdens sowie alles Auseinanderfallen in Teile als trügerischen Schein verwarfen, galt nur das vom Geiste Erkennbare, nur das rein Gedachte (νοούμενον), und dies fanden sie in dem All der einen Weltkugel, das jedem Wechsel, jeder Mannigfaltigkeit der Teile unzu- gänglich, nicht geschaut, sondern nur mit dem Gedanken erfaßt wird. Sie ist nicht geworden, sie wird nicht, sondern sie ist. Sie ist das Seiende, und nur das Seiende ist; ein Nichtseiendes gibt es nicht, denn das Nichtseiende ist nicht. So treiben sie mit diesem abstraktesten aller Begriffe, den wir haben, ein dialektisches Spiel, das sich in lauter analytischen, d. h. zwar notwendigen, aber unsere Er- kenntnis nicht erweiternden, sondern sie nur aufklärenden Sätzen vollzieht. Jeder Entwicklungsfähigkeit mangels ei- nes gegliederten Stoffes für die Anwendung bar und ledig, dreht sich diese Dialektik nur im Kreise herum. So wird die Philosophie gleichsam auf ein totes Gleis geschoben. Nur nach der negativen, d. h. polemischen Seite hin, im Kampfe nämlich gegen die Gültigkeit der Erscheinungs- welt konnte die Eleatische Schule weiterhin ihre Kraft

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bewähren und das führte zunächst zu jenen scharfsinnigen Trugschlüssen, die, auf der Antinomie des Stetigen und des Einfachen beruhend, ein wirkliches Rätsel der mensch- lichen Vernunft berühren, weiterhin aber zu Spitzfindig- keiten, die als willkommenes Erbstück auf die Sophistik übergingen. Gleichwohl bleibt doch Parmenides derjenige, der für.die Philosophie die rein gedachte Erkenntnis als das ihr eigentümliche Gebiet sozusagen erobert hat. Wir sind imstande durch Denken die Begriffe miteinander in eine Verbindung zu bringen, deren Gültigkeit für jeder- mann einleuchtend und unwiderleglich ist; das ist die Lehre, die wir dem Philosophem des Parmenides entnehmen können. |

Nur soweit brauchen wir der vorsokratischen Philo- sophie nachzugehen, um nun wieder zu Sokrates zurück- kehren zu können. In einer bekannten Stelle des Phaidon läßt Platon den Sokrates erzählen, daß er in jungen Jahren nicht verabsäumt habe sich eingehend mit der Naturphilo- sophie der Physiologen zu beschäftigen. Aber je tiefer er in ihre Geheimnisse einzudringen gesucht habe, um so mißtrauischer sei er gegen die Möglichkeit geworden auf diesem Wege zu einer wirklichen Befriedigung des Wissens- dranges zu gelangen. Und in der Tat: von zwingender Sicherheit der Erkenntnis konnte hier nicht die Rede sein. Unbefriedigt und voller Mißmut kehrte also Sokrates ‘allen Versuchen der Welterklärung und der äußeren Natur den Rücken, überzeugt, die Götter hätten es den Menschen versagt darüber ins Klare zu kommen. Aber erfüllt von philosophischem Drang, wie er war, gab er die Sache der Philosophie nicht etwa verloren, sondern wandte den philosophischen Erkenntnistrieb einem Gebiete zu, das die frühere Philosophie nur nebenbei zum Gegenstand der Forschung gemacht und soweit dies bei den Pythago- reern und Demokrit nämlich geschehen war, ohne wissenschaftliche Grundlage gelassen hatte. Sokrates war der erste, der die praktische . Philosophie nicht nur in den Kreis der wissenschaftlichen Forschung mit hinein-

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zog, sondern sie zum alleinigen Zweck der philosophischen Forschung machte. Dabei aber war sein Hauptabsehen auf eine Art der Behandlung gerichtet, die dasjenige bieten sollte, was die von ihm zur Seite geschobene Naturphilo- sophie in so empfindlicher Weise vermissen ließ, nämlich volle Evidenz, mithin unwidersprechliche Sicherheit der Behauptungen. Kraft seiner wahrhaft philosophischen Be- gabung war er frühzeitig aufmerksam geworden auf die ewig gültigen, weil im Wesen der Vernunft selbst begrün- deten Anforderungen an die sittliche Ausbildung der Men- schen. Das gute Recht dieser Anforderungen wissenschaft- lich zu unumstößlicher Geltung zu bringen war ihm eine um so dringendere Herzensangelegenheit, je mehr die laxe Moral der herrschenden Sophistik die alte, unbefangene Sitteneinfalt zu untergraben drohte. Dem Leichtsinn der sophistischen Welt- und Lebensansicht den Ernst der Ideen des Schönen und Guten entgegenzusetzen, das ward ihm mehr und mehr zur Lebensaufgabe. Wie aber war es möglich, diesen Ideen wenn nicht zur Herrschaft, so doch wenigstens zu unentrinnbarer Anerkennung zu verhelfen ? ᾿ς Nur dadurch, daß er ihr gutes Recht zum Ergebnis zwin- gender Beweisführung machte. Das führte ihn auf den Begriff des Wissens, des Wissens in seiner schärfsten Bedeutung; denn was ist Wissen anderes als Überzeugung mit völliger Gewißheit? Und was ist imstande uns diese Gewißheit zu gewähren? Als Antwort ergab sich ihm: „Nichts anderes als eine Behandlung und Verbindung der Begriffe, deren Zwang sich kein vernünftig denkender Geist entziehen kann.“ Die Sophisten sahen im Urteil nur den Ausdruck menschlicher Willkür; dagegen macht Sokrates geltend, daß es neben aller Willkür auch eine feste Gesetzmäßigkeit des Denkens gibt, kraft deren wir befugt und ermächtigt sind auch notwendige allgemeine Urteile zu fällen. Es sind das die Definitionen und die Folgerungen durch analytische Begriffsoperationen. Daß das Güte auch schön sei, daß Unrecht leiden besser sei als Unrecht tun u. dgl. ließ sich auf diesem Wege unwider-

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leglich erweisen!). Damit werden wir, so scheint es, in gewisser Weise wieder an die Eleaten zurückgewiesen. Ihre analytischen Sätze und ihr hypothetisches Folgerungs- verfahren, wie es von Zenon geübt ward, könnte dem Sokrates bis zu einem gewissen Grade als Vorbild für seine Methode gedient haben. Ganz undenkbar wäre das nicht. Die Schriften des Parmenides und Zenon waren dem Sokrates sicher nicht unbekannt. Versichert uns doch Xenophon (Mem. I, 6, 14) ausdrücklich, daß Sokrates mit seinen Freunden ‚die Schätze der alten Weisheitslehrer“ eifrig durchforscht habe; und noch mehr will es besagen, daß Platon selbst uns eine Andeutung solchen Zusammen- hanges gegeben hat in seinem Dialog Parmenides, in welchem er, wenn auch gegen alle Chronologie, den noch sehr jungen (σφόδρα γέον 127c) Sokrates sich nicht nur mit Zenon, sondern auch mit Parmenides unterreden läßt. Gilt dieser ganze Dialog auch in der Hauptsache dem Verhältnis des Platon selbst zur eleatischen Schule und deren Fortsetzung, der megarischen Schule, so macht doch dies wenn auch nur erdichtete Beisammensein des Sokra- tes mit den Eleaten, wobei Platon den Sokrates bei den Eleaten gewissermaßen in die Schule gehen läßt, es wahr- scheinlich, daß er damit eine gewisse Beeinflussung des Sokrates durch die Eleaten habe andeuten wollen. Doch dem mas sein wie ihm wolle Hat sich Sokrates mit der Lehre der Eleaten vertraut gemacht, so hat er doch nur

1 Dagegen erhebt sich ein berechtigter Einwand. Mit analy- tischen Urteilen ganz allein nämlich kommt man nicht von der Stelle. Der Anfang aller wirklich gehaltvollen Erkenntnis liegt in der An- schauung und Erfahrung. Die Schlüsse und Schlußketten also wer- den, wenn sie einen fruchtbaren Gehalt haben sollen, von allge- meinen Erfahrungsurteilen ausgehen, die aber der Art sein müssen, daß sie für jedermann ohne weiteres einleuchtend sind. So finden wir es denn auch bei Sokrates und Platon, die z. B. mehrfach von Sätzen ausgehen wie diesem: „Alle Menschen meiden von Natur den Schmerz und suchen die Lust.“ Oder: „Die Feigen freuen sich beim Abzug der Feinde mehr als die Tapferen.“ (Gorg 498)’ Daneben analytische Urteile wie „Die Tugend ist lobwürdig“ u. ἃ.

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so viel aus ihr entnehmen können, daß es notwendige Be- sgriffsverbindungen (nämlich analytische Urteile) gibt. Zu- dem kommt Parmenides über die identischen Urteile, also die, sachlich genommen, unfruchtbarste Art von analy- tischen Sätzen, nicht hinaus. Jeder weiteren Entfaltung einer Begriffsphilosophie hatte er durch seine starre Ein- seitigkeit den Boden entzogen. Dagegen fand Sokrates in den ethischen Begriffen, diesem wichtigen Teile der philosophischen Begriffswelt, ein weites Feld zur Ent- wicklung der Begriffsphilosophie. Zugleich war damit der Sache der Philosophie überhaupt am besten gedient. Denn sollte die Begriffsphilosophie als allgemeine Methode der Philosophie sich Eingang und Geltung verschaffen, so mußte sie zunächst an den gemeinverständlichsten Bstrach- tungen der praktischen Philosophie eingeübt werden. Erst galt es auf dem Boden der praktischen Philosophie be- sonnener wissenschaftlich denken zu lernen; dann konnte man mit besseren dialektischen Waffen sich wieder der philosophischen Betrachtung des Weltganzen zuwenden. So ward Sokrates, indem er der Begründer der Begriffs- philosophie auf ethischem Gebiete ward, in gewissem Sinne der Begründer der Philosophie als selbständiger Wissen- schaft überhaupt.

Betrachten wir nun im Lichte dieser Ausführungen den Inhalt unseres Dialoges, so ist ersichtlich, daß es sich in demselben nach Inhalt und Methode um nichts Geringe- res handelt, als um das eigentliche Lebenswerk des Sokra- tes. Daß Tugend Wissen sei und zwar ein Wissen des Schönen und Guten im Unterschied von bloßem. Fach- wissen, das ist die Lehre, die: hier mit einer der Inten- tion nach zwingenden, wenn auch tatsächlich noch nicht fehlerfreien Dialektik zu entwickeln: ach ‘Sokrates be- müht zeigt.

Daß diese Lehre sh tatsächlichen Verhältnissen un- seres Seelenlebens nicht genügend Rechnung trägt, liegt klar zutage. Dem eigenartigen wissenschaftlichen Interesse, das dem letzten Teile des die Einheit von Tapferkeit

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und Wissen erhärtenden Nachweises zukommt, wird man es zugute halten, wenn wir einen Hauptpunkt dieser schwie- rigsten Partie des ganzen Werkes in etwas eingehenderer Weise aufzuklären suchen: In der darauf bezüglichen Be- weiskette bildet ein wichtiges Glied die Bekämpfung der landläufigen Ansicht, der gemäß zwischen Handeln und Wissen sehr häufig ein großer Widerstreit besteht. Πολλοὶ γιγνώσκοντες τὸ βέλτιστον heißt es in dem Sinne der Menge 352D οὐκ ἐϑέλουσι πράττειν, ἐξὸν αὐτοῖς, ἀλλὰ ἄλλα πράττουσιν „viele besitzen zwar die Erkenntnis dessen, was für sie das Beste ist, wollen es aber trotzdem nicht tun, obschon sie es könnten, sondern entscheiden sich für ihr Tun anders.“ Warum? „Weil oft die Lustbegier auch über den das Bessere wissenden Menschen herrscht“ (ou ἡδονὴ πολλάκις κρατεῖ καὶ τοῦ εἰδότος ἀνϑρώπου). Von dem historischen Sokrates ist es nun bekannt genug; daß er die unbedingte Herrschaft des Verstandes über das Handeln nicht nur als Forderung aufstellt; sondern daß ihm diese Herrschaft auch überall da schon gewährleistet erscheint, wo der Verstand zu einem sicheren und wirk- lichen Wissen gelangt ist. Einen Zwiespalt, einen Kampf zwischen den verführerischen Antrieben sinnlicher Lust und dem Gebote des im Besitze wirklichen Wissens be- findlichen Verstandes kennt er. überhaupt nicht, erkennt ihn wenigstens nicht an. „Es drängt sich“, sagt. Aristo- teles (Eth. Nic. 1145®21 ff.) in bezug darauf sehr treffend, „die Frage auf, wie jemand die richtige Ansicht haben und doch ..der Selbstbeherrschung ermangeln kann. Bei richtiger Erkenntnis, behaupten manche, sei es unmöglich. : Denu daß trotz. des. Besitzes .des Wissens etwas anderes im Menschen... die. Herrschaft. haben und solche Erkenntnis nur wie einen Sklaven hinter sich herschleppen sollte, das hielt Sokrates für etwas Ungeheuerliches. Sokrates bestritt demgemäß diese Ansicht durchaus. Solchen Mangel an Willensstärke gebe es nicht. Denn wenn jemand im Handeln wider das, was ihm am meisten fromme, verstoße, so geschehe es niemals wissentlich, sondern immer nur

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aus Mißverstandt).“ In unserem Dialoge nun wird jene landläufige Ansicht von dem häufigen Zwiespalt zwischen Wissen und Handeln durch eine äußerst künstliche Ar- gumentation zurückgewiesen mit dem Ergebnis, daß ein Überwundenwerden durch die Macht der Lust (τῆς ἡδονῆς ἡττᾶσϑαι) unter solchen Umständen (d. ἢ. bei vorhandenem Wissen) nichts anderes sei als Unwissenheit (duadia). Ein sonderbares und schwerbegreifliches Verhältnis! Trotz Wissens des Besseren und Besten, soll es Unwissenheit sein, was unsere Niederlage gegenüber den Lüsten veran- laßt. So sokratisch sich hierbei auch der Satz ausnimmt, daß Unwissenheit die Schuld daran trägt, so wenig verträgt sich doch hier dieser Satz mit der Voraussetzung, die mit ihm verbunden ist. Denn sie führt zu der absurden Behauptung, daß Wissen nichts anderes ist als Unwissen- heit. Wenn nämlich Überwundenwerden durch die Lust- begier in Verbindung mit dem Wissen des Besseren Unwissenheit ist, dann ist eben auch Wissen nichts anderes als Unwissenheit.

Anders steht die Sache für Platon: Bei ihm gibt es und auf diese Unterscheidung ist er sehr bald ge- kommen, wenn sie auch im Protagoras noch nicht aus- drücklich zur Geltung kommt neben der ἐπιστήμη, dem Wissen, noch die ἀληϑὴς δόξα, die wahre Meinung, oder wie wir im Gegensatz zu Platon, der sie eben von der ἐπιστήμη sehr bestimmt trennen muß, sie bezeichnen könnten, ein Wissen niederen Grades, das sich in unserem Falle nicht durch die Materie des Urteils, d. h. nicht durch den Inhalt des Wissens unterscheidet, sondern nur durch den minderen Grad. der Beständigkeit des Wissens. Damit ist die Möglichkeit eines Gegensatzes innerhalb des Verstandesgebietes. gegeben, : nämlich eines ‚Gegensatzes zwischen einem unerschütterlichen (ἐπιστήμη) und einem mehr oder weniger unbeständigen Wissen (δόξα). Gehen

1) Hier bezieht sich Aristoteles zwar auf unseren Dialog

(852 BC), doch läßt er deutlich genug erkennen, daß er damit ZU- gleich den historischen Sokrates meint.

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wir also auf jene Formel zurück, so wird ihr zufolge nun nicht mehr die Unwissenheit über das eigentliche Wissen siegen, sondern nur über die δόξα, so daß das eigentliche Wissen gar nicht mit in Konkurrenz kommt. Tatsächlich steht nun die Annahme, daß Platon an unserer Stelle stillschweigend von dieser Unterscheidung Gebrauch ge- macht und so den Schluß von seinem Standpunkt aus einigermaßen annehmbar gemacht habe, in bestem Einklang mit einer bemerkenswerten Stelle der Gesetze, die (689 A) folgendermaßen lautet: „Wenn einer, was ihm als schön und gut erscheint, nicht liebt sondern haßt, dagegen, was er für verwerflich und ungerecht hält, liebt und gern hat, so nenne ich dies die größte Unwissenheit. Diese Un- stimmigkeit zwischen verstandesmäßiger Meinung (τὴν κατὰ λόγον δόξαν) einerseits und Schmerz und Lust an- derseits erkläre ich für die größte Unwissenheit deshalb, weil sie dem angehört, was die Hauptmasse der Seele ausmacht. Denn Schmerz und Freude nehmen in ihr einen Platz ein, so groß wie der, den das Volk und die große Menge im Staate einnimmt.“ Hier bedient sich also Platon ausdrücklich des Ausdrucks δόξα, während er, und zwar gewiß absichtlich um ihm nicht eine ihm nieht geläufige Unterscheidung zu leihen den Sokrates an unserer Stelle (352 D£ff.357C) nur von Leuten reden: läßt, die εἰδότες oder γιγνώσκοντες τὰ βέλτιστα ‚der Lust unterliegen. Die Stelle der Gesetze ist ein unzweideutiges Zeugnis dafür, daß Platon bis an sein Ende an jener im Protagoras ver- tretenen Ansicht festgehalten und sich späterhin nur deut- licher ausgedrückt hat: Und irre ich: nicht, so bezieht sich auch auf Platon dasjenige, was Aristoteles, im Anschluß an die oben mitgeieilten Worte über Sokrates, von solchen berichtet, die ‚behaupten, der -Genußsüehtige werde von seinen Gelüsten eben deshalb beherrscht, weil er kein wirk- liches Wissen besitze, sondern eine bloße δόξα (Meinung). „Ist es aber eine bloße Meinung und kein Wissen“, so fährt Aristoteles fort, „und ist es keine gesicherte, sondern nur eine unbefestigte Meinung, die den Gelüsten sich

Finleitung 17

entgegenstellt, so ist da, wo starken Begierden gegenüber jemand seiner Denkweise nicht treu bleibt, ein nachsichtiges Urteil wohl am Platze“. Damit vergleiche man die zahl- reichen Stellen, an denen Platon vom Protagoras ab bis an sein Ende Lust und Schmerz als die mächtigsten Trieb- federn menschlichen Handelns anerkennt und ihre richtige Leitung als das wesentlichste Stück jeder Erziehung hin- stellt. Wenn also Moliere (Misanthr. I, 1) den Alceste zu Philinte sagen läßt

Wie sehr ich auch sie liebe, bin ich doch .

Der Erste, sie zu sehn, und zu verdammen.

Doch trotz dem Allen, was ich auch nur sage,

Fontzückt sie mich. Ich weiß es, ich bin schwach;

All ihre Fehler seh’ ich, tadle sie,

Und mag ich wollen oder nicht, ich kann

Nicht von ihr lassen: ihre Anmut ist

Stärker als ich. so würde Platon nicht abgeneigt gewesen sein, dem darin sich kundgebenden Standpunkt eine gewisse Berechtigung einzuräumen, würde aber dem Alceste etwa folgende Zu- rechtweisung gegeben haben: Hättest du bei Zeiten deine ‚Willenskraft durch gute Gewöhnung und Selbstzucht ge- steigert, so würdest du auch zu einer Wissenskraft gelangt sein, die dich vor diesem inneren Zwiespalt und dieser kompromittierenden Lage geschützt hätte. Sokrates dagegen würde für den Standpunkt des Alceste gar kein Verständnis gehabt und ihn etwa mit den Worten abgefertigt haben: Nein, mein Alceste, dein vorgebliches Wissen ist nichts als blauer Dunst, ist eitel Unwissenheit. Lerne richtig denken und erwirb dir auf diesem Wege ein richtiges ‚Wissen; dann bist du aller solcher nichtigen Entschuldi- gungsversuche überhoben; denn TIGHEIBYE Wissen bedeutet Ra richtiges Handeln.

Wir haben also alle Ursache, zwischen dem wahren Sokrates und seinem Konterfei, ἃ. ἢ. dem platonischen Sokrates, an dieser Stelle des Dialogs wohl zu unter- scheiden. Wie kommt es aber, daß uns ihn Platon hier als Urheber einer so fragwürdigen Schlußfolgerung vor-

Apelt, Platon Protagoras. Phil. Bibl. Bd. 175. ΄ 2

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führt? Kam es ihm nicht, dem früher Gesagten zufolge, gerade in diesem Dialog darauf an das Bild des Sokrates in seiner Reinheit erstrahlen!) zu lassen? Gewiß, das wollte er; aber daneben wollte er ihn doch auch gegen ganz bestimmte Vorwürfe verteidigen, die vielfach be- stimmend gewesen waren und es noch waren für die Stimme der öffentlichen Meinung. Viele hielten ihn nur für einen sophistischen Sonderling, der durch seine ba- rocken Behauptungen und Ansichten nicht nur zur Spott- sucht sondern auch zum Ärgernis Anlaß gab. Zu diesen Ansichten gehörte vor allem auch sein immer wiederholtes Hauptdogma von dem Wissen als der nicht nur unerläß- lichen, sondern auch einzigen Bedingung des richtigen Handelns. Das erschien der großen Menge als offensicht- liche Querköpfigkeit. Demgegenüber mußte Platon darauf bedacht sein, dem Sokrates wenigstens dadurch ein ver- ständigeres und verständlicheres Aussehen zu verleihen, daß er ihn in die Lage bringt, der Menge auf ihren sachlich ja durchaus berechtigten Einwurf eingehend zu antworten und ihr den womöglich evidenten Beweis für die Richtig- keit seiner paradoxen Ansicht zu liefern. Daraus eben erklärt sich die vielen Lesern so auffällige Tatsache, daß in dieser schwierigsten Partie gerade der großen Menge ein so weitgehender Anteil an der Diskussion eingeräumt wird. Auf die Berichtigung des Urteils der großen Menge über Sokrates kam es ihm eben an. Was aber die Art des Beweises anlangt, so durfte derselbe um sich als so- kratisch darzustellen, keine spezifisch platonischen Unter- scheidungen enthalten. Die Hervorhebung des Unterschiedes zwischen ἐπιστήμη und δόξα mußte also wegbleiben. Daher die Schiefheit desselben.

!) Natürlich nicht in rein realistischem Sinne das wäre dem Platon unmöglich gewesen wie auch unvereinbar mit den Forde- rungen dialogischer -Kunst. Immerhin fehlt es nicht an Spuren, die zeigen, daß er sich hier mehr als in anderen Dialogen bemüht hat dem historischen Sokrates Rechnung zu tragen. Was die apologe- tische Tendenz anlangt, so versteht sie sich eigentlich von selber.

Einleitung. 19

Mit alledem wird übrigens nichts geändert an dem, was zu Anfang über die Spuren früher Abfassungszeit des Dialoges bemerkt worden ist. Die eigenartige Doppel- stellung Platons einerseits zu dem historischen Sokrates, anderseits zu dem Sokrates als dem Hauptträger seiner Dialoge überhaupt, also als dem Sprachrohr für die spe- zifisch platonische Gedankenwelt läßt mannigfache Mi- schungsverhältnisse zu. Im allgemeinen läßt sich doch aber sagen: je deutlicher in einem Dialog die Rücksicht- nahme auf den historischen Sokrates noch hervortritt, um so frühzeitiger ist er anzusetzen.

Wenn nun der Erweis des Satzes von der Tugend als Wissen des Guten und Schönen, im engen und strengen Sinne des Sokrates, das eigentliche Ziel des Dialoges ist, so ist klar, welche Bedeutung das für die Charakte- ristik des Gegensatzes zwischen sokratischer und sophi- stischer Weisheit hat. Es ist recht eigentlich der Kern der sokratischen Lehre, der uns in diesem Satze darge- boten wird, nicht nur nach der theoretischen, sondern auch nach der praktischen Seite hin. Denn Wissen und ᾿ς Wollen, Wollen und Handeln fallen für Sokrates in Eins zusammen. ‚Welche Kluft zwischen ihm und den Sophisten tut sich da auf! Eine Kluft, so groß wie zwischen Schein und Wahrheit. Bei ihnen ein loses und lockeres Gedanken- spiel, bei Sokrates stets ein straffer, einheitlicher, in sich, geschlossener Gedankengang, bei ihnen Rhetorenkünste und schillernde Anweisungen zur Erlangung einer ver- dächtigen Lebensklugheit, bei Sokrates feste Maximen der Lebensweisheit, bei ihnen Kenntnisse äußerlicher Art, bei Sokrates Anregung zur Erkenntnis des eigenen Inneren, um aus ihm die Ideale zu schöpfen, deren Verwirklichung allein das wahre Lebensglück verbürgt. Dadurch ward die schärfste Scheidewand gezogen zwischen Sokrates und den Sophisten. Auf das Lebenswerk des Sokrates ward damit ein helles Licht geworfen. Und das eben war es, worauf es dem Platon in einer Schrift, mit der er sich selbst beim Publikum einführen wollte, vor allem an-

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kommen mußte. Es galt das Bild desjenigen Mannes, in dessen Geiste weiterzuwirken er sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, von dem Nebel abenteuerlicher Vorstel- lungen, mit dem es umgeben war, zu befreien und dem irre- geführten Publikum, das den Sokrates für einen Sophisten, ja für der größten einen hielt, die Augen gründlich zu öffnen.

Neben der Erörterung des Begriffes der Tugend spielt‘ die Frage nach ihrer Lehrbarkeit in unserem Dialoge nur eine bescheidene Rolle. Anfänglich im Vordergrund stehend wird sie bald völlig zurückgedrängt, um erst am Schluß wieder aufzutauchen, aber auch da nur, um zu einigen kurzen Bemerkungen Anlaß zu geben. Der Leser ist, auf den ersten Blick wenigstens, einigermaßen erstaunt, hier das Ergebnis der langen und anscheinend mit dem Anspruch auf endgültige Erledigung der Sache auftretenden Untersuchung wieder in Frage gestellt zu sehen: das Wesen der Tugend soll einer abermaligen eingehenden Prüfung unterworfen und erst auf Grund dieser neuen Prüfung auch die Frage ihrer Lehrbarkeit entschieden werden. Im sokratischen Sinne wenigstens, so sagen wir uns doch, ist der Tugendbegriff in er- schöpfender Weise dargestellt und damit auch die Frage der Lehrbarkeit in bejahendem Sinne beantwortet. Denn daß über die Lehrbarkeit der Tugend, falls sie Wissen ist, kein Zweifel obwalten kann, das wird, wie es an sich schon klar ist, so noch auf das Ausdrücklichste durch den Dialog Menon bestätigt. Man hat zwar ein- gewendet, in der Apologie (196 ff.) lehne Sokrates es ausdrücklich ab ein Tugendlehrer zu sein; allein das tut er da nur im Gegensatz zu den Sophisten, und zwar mit vollem Recht. Denn weder ist die Tugend, die er lehrt, die Tugend der Sophisten, noch seine Art zu lehren überhaupt ein Lehren im Sinne der Sophisten und der großen Menge. Seine Lehrweise besteht nicht darin, daß er, wie die Sophisten, empirische Kenntnisse gleichsam als fertige Waren den Hörern überliefert, sondern darin,

Einleitung. 21

daß er sie anleitet den Blick auf die in ihrem eigenen Innern verborgenen Wahrheits- und Wissensschätze zu richten, sie an das Licht des Bewußtseins emporzuheben und sich so zu Herren der in ihnen selbst schlummernden Gedankenwelt zu machen; denn es sind nicht vom Zufall abhängige (empirische), sondern notwendige, im Geiste eines jeden ursprünglich schlummernde Wahrheiten, mit denen es seine Lehre zu tun hat. Er ist nur so wie er sich selbst im Theätet schildert der Geburtshelfer, der seine Jünger von ihren eigenen Gedanken entbindet, nicht der Übermittler von außen an sie herangebrachter 'Wissensschätze. Mit einem Wort: es ist die Selbst- erkenntnis, die in ihnen zu wecken er als das ihm von der Gottheit anvertraute Amt ansieht. Erkenne dich selbst, γνῶϑι σεαυτόν, das ist ihm das Losungswort für seine Sendung. Kein platonischer Dialog, der nicht Zeugnis ablegte von dieser Kunst des Sokrates; das klassische Musterbeispiel dafür aber, von ihm selbst als solches hervorgehoben, findet sich im Menon: die Lösung des Problems der Quadratverdoppelung, die der dienende Bursche selbst finden muß, wenn auch geleitet von So- krates. Bonitz dürfte also in seiner Weise wohl recht haben, wenn er sich über den Schluß des Gespräches folgendermaßen äußert: „Diese Äußerung macht den Leser auf den Zusammenhang der verschlungenen Verhandlung aufmerksam, und wir deuten nach bekannter platonischer Weise die Forderung des Erneuerns der Untersuchung und des Sokrates unverhohlene Aufdeckung eines Widerspruchs mit sich selbst wohl nicht unrichtig, wenn wir das Gegen- teil darin lesen, nämlich daß zur Auffindung des Begriffs der Tugend Wesentliches durch den Dialog geleistet, und daß in Platons eigener Überzeugung jener aufgezeigte Widerspruch gelöst ist.“ Gewiß: wer den Dialog nicht mit etwas anderen Augen ansieht als die übrigen Dialoge, der kann kaum anders als dieser Deutung beistimmen. Wer ihn aber, wie es im Verlaufe unserer Erörterung geschehen ist, im Lichte einer besonderen Beziehung zu

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der persönlichen Lage des Verfassers betrachtet, und in ihm die Rechtfertigung seines schrittstellerischen Auf- tretens vor dem Publikum überhaupt zu finden glaubt, der wird geneigt sein in der Aufforderung zu einer neuen Untersuchung den Hinweis darauf zu erblicken, daß die sokratische Tugendlehre noch nicht das letzte Wort in dieser Sache 5611), Danach hätten wir es denn zu tun mit einer Ankündigung von seiten nicht des Sokrates, sondern Platons selbst zur weiteren Ergründung des Wesens der Tugend, die von Sokrates zwar in der Haupt- sache richtig erkannt, aber nach ihren sonstigen Merk- malen und Beziehungen noch nicht erschöpfend bestimmt worden sei. Das würde also, wie zu unserer ganzen Auf- fassung des Dialoges, so insbesondere zu unserer obigen Bemerkung?) über den Zwiespalt zwischen Handeln und besserem Wissen vortrefflich stimmen.

Was aber den Widerspruch anlangt, der zwischen der anfänglichen (319 Bff.) Ableugnung der Lehrbarkeit der Tugend durch Sokrates und seiner Stellung zur Sache hier am Schlusse des Dialogs obzuwalten scheint, so wird sich auch da vielleicht ein anderer Standpunkt der Be- trachtung und Beurteilung gewinnen lassen, wenn wir zuvor erst einen Blick werfen auf die künstlerische Kom- position des Werkes und zwar nicht bloß mit Rücksicht auf das fertige Ganze, sondern auch hinsichtlich der Motive und Stimmungen, die dabei im Spiele waren. Welchen Anteil hat das ist hier die zunächst sich aufdrängende Frage die Dichternatur des Verfassers an der Ent- stehung des Werkes und welchen Einfluß hat sie auf die Behandlung und Gestaltung des Stoffes gehabt?

Neben dem erschütternden Schicksal des Sokrates, dem schmerzlichsten äußeren Erlebnis Platons, steht als vielleicht schmerzlichstes inneres Erlebnis sein Verzicht auf die Poesie als Lebensberuf. Es war für ihn ein

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2) Vgl. auch 357B εἰσαῦϑις σκεψόμεϑα. 2) Vgl. 5. 14

Einleitung. τ᾽ 23

geradezu heroischer Entschluß, der Poesie, dieser seiner angebeteten Geliebten, zu entsagen zugunsten der im Grunde so trockenen, dabei aber doch so überwältigenden Weisheit des Sokrates. Lange noch zitterte die Erregung in seiner Seele nach und gewiß war ihm jede Möglichkeit willkommen, dem gewaltsam zurückgedrängten, aber doch keineswegs vernichteten Trieb wenigstens ein bescheidenes Maß der Betätigung zu gewähren. Unter den vielen Grün- den, die ihn bestimmten für seine wissenschaftliche Schrift- stellerei die Form des Dialoges zu wählen war dies, wenn vielleicht auch nicht der oberste, so doch’ gewiß einer. Sind wir nicht ganz in die Irre gegangen mit unserer Annahme, daß Platon bei dem ersten größeren Dialog, mit dem er vor die Öffentlichkeit trat, vor allem das Bedürfnis hatte, durch eine rückwärts gewendete Betrach- tung das Bild seines geliebten Lehrers hinsichtlich der Stellung, die er in der großen Geistesbewegung der ver- gangenen Jahrzehnte eingenommen hatte, von den Flecken zu reinigen, mit denen Unverstand, Spottsucht und böser ‚Wille es entstellt hatten, so konnte er für seine dialogische Kunst keine dankbarere Aufgabe finden als die, einen kulturgeschichtlich hochbedeutsamen Vorgang, die Ent- wicklung eines neuen Zeitgeistes in den Rahmen eines Gemäldes zusammenzudrängen; denn das Gesetz des Dia- loges ließ keine historische, sondern nur eine dramatische Darstellung zu, in diesem Falle eine besonders schwierige Aufgabe; aber je schwieriger sie war, um so mehr mußte sie ihn reizen. Wie aber konnte er hier das Kunststück ‚Tertig bringen, ein geschichtliches Nacheinander in ein anschauliches zeitliches und räumliches Nebeneinander um- zusetzen? Nur dadurch, daß er den Sokrates mit den führenden Häuptern der Sophistik ‚unmittelbar konfron- tierte und zum Thema der Diskussion diejenige Frage machte, die den eigentlichen Kern des Gegensatzes zwischen den beiden Hauptparteien dieser denkwürdigen Epoche bildet. Diese Aufgabe hat Platon mit unnachahmlicher Kunst gelöst. Mit echt dichterischer Intuition hat er uns

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94 Einleitung.

den Geist der Zeit in concreto nahe gebracht durch Hervor- zauberung eines Bildes der Zeit, so treffend, so lebendig, anschaulich und fesselnd, daß der Beschauer, wenigstens was das Szenische anlangt, nur schwer sich davon trennen kann. Schon die Wahl der für die Szenerie maßgebenden Personen verrät die Hand des Meisters und zwar hier bemerkenswerterweise ebenso nach der negativen wie nach der positiven Seite hin. Mancher wird nämlich fragen: Wenn wirklich die Sophistik als solche durch die Dar- stellung getroffen werden sollte, wo bleibt dann Gorgias, diese hochragende Gestalt der Sophistenwelt? Offenbar hat ihn Platon mit vollem Bedacht ausgeschlossen. Gor- gias, der radikalste unter den älteren Sophisten, vor dessen wenigstens theoretischem .Nihilismus weder das Sprechbare, noch das Erkennbare, noch endlich selbst das Seiende irgendwie Gnade fand, ist doch zugleich der ehrlichste und offenste unter ihnen, indem er sich ohne Scheu zu dem bloßen Schein bekennt im Gegensatz zu dem Sein. Ausdrücklich lehnt er es ab als Lehrer der

. Tugend zu gelten (Meno 95C. Phil.58 A) und will nichts

weiter sein als Lehrer der Beredsamkeit. In einer Ver- sammlung also, in der die Lehrbarkeit der Tugend als sophistische These den Gegenstand der Verhandlung bildet, wäre Gorgias ein Saul unter den Propheten gewesen. Zudem wußte jeder Gebildete, daß er, der Sizilianer, erst im Jahre 427v.Ch. zum erstenmal nach Athen ge- kommen war und zwar als Gesandter zu flüchigem Aufent- halt, also erst geraume Zeit nach der fiktiven Zeit unseres Dialogs. Das wäre also ein zu gröblicher Verstoß wider die Chronologie gewesen, als daß ihn selbst der in dieser Beziehung so kühne Platon hätte wagen können, wie denn auch das zufällige Zusammentreffen aller vier Häupter der Sophistik im Hause des Kallias eine zu starke Zu- mutung an die Gläubigkeit der Leser gewesen wäre. Aber auch abgesehen davon wäre das Hereinziehen des Gorgias kein Gewinn für das Gemälde gewesen. Zwei Haupthelden konnte das poetische Bild nicht wohl vertragen. Ein

Einleitung. 25

Hippias und Prodikos konnten immerhin hinter Protagoras zurücktreten, aber eine Erscheinung von dem Glanze und der Macht des Gorgias konnte, einmal eingeführt, nur in gleicher Linie neben Protagoras stehen. Kurz, das Ge- mälde wäre überladen und der inneren Einheit beraubt wor- den. Vielleicht schwebte dem Platon auch damals schon der Gedanke an einen besonderen Dialog vor, in dem er sich den Sokrates mit dem Gorgias messen zu lassen gedachte. Jedenfalls tat er wohl daran, sich auf die drei Gewählten zu beschränken und dies um so mehr, als sie ja die geborenen Vertreter des engeren Griechenlands, die Sophisten Alt- griechenlands waren.

In welchem Maße aber hat es Platon verstanden, seinen erkorenen Sophistenhelden, den Protagoras, vor uns aufleben zu lassen! Über welche Plastik der Dar- stellung, über welchen Farbenreichtum verfügt er in der Schilderung desselben: Wie ein geborener Fürst er- teilt Protagoras gnädig Bescheid, von allen hochverehrt und ehrfurchtsvoll bewundert. Auch Sokrates läßt es an Zeichen der Achtung und Anerkennung nicht fehlen. Und - wenn er ihm eine empfindliche Niederlage bereitet, so ge- schieht es doch mit so viel Reserve, daß Protagoras seine Haltung alsbald wiedergewinnt und mit vollendeter Schau- spielerkunst die Miene des Gönners annimmt.

Sein Meisterstück aber hat Platon in der Zeichnung des Sokrates geliefert. Wie treffend weiß er die un- beugsame Beharrlichkeit desselben in Verfolgung seines wissenschaftlichen Zieles zur Anschauung zu bringen, wie drastisch weiß er seinen Geist, seinen Witz, seine Ironie bei ausgesuchtester Ritterlichkeit seines Verhaltens vor uns spielen zu lassen. Wie versteht es Sokrates, die Pillen zu versüßen, die er dem Protagoras zu schlucken gibt, wie spielt er mit ihm, ohne daß jener es merkt. Man beachte besonders.den Kunstgriff, mit dem er gegen das Ende hin ihn scheinbar zu seinem Bundesgenossen gegen die große Menge macht, während er tatsächlich nichts anderes ist als der Gesinnungsgenosse eben dieser

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Menge. Auch seines mäeutischen Amtes waltet Sokrates in unserem Dialoge ebenso treu wie sonst. Aber da er es hier nicht wie sonst gewöhnlich mit Jünglingen zu tun hat, sondern mit einem Manne, der, wie Protagoras selbst von sich nicht ohne einige Übertreibung versichert (3170), „schon sein Vater sein könnte“, so ist es kein Wunder, daß seiner Kunst trotz mancher tatsächlichen Er- folge doch ein unzweideutiger und vom Gegner anerkannter Enderfolg nicht beschieden ist.

Was uns nun in der Schilderung des Sokrates auf- fällt, ist, daß er gleich zu Anfang (314B, vgl. 317C) und zwar aus seinem eigenen Mund als junger Mann!) be- zeichnet wird, obschon er nach der fiktiven Zeit des Gesprächs bereits etwa 37 Jahre zählt. Das geschieht gewiß nicht ohne Absicht, und damit stehen wir an dem Punkte, von dem aus wir wieder zurückgreifen können zum Ausgangspunkte dieser Bemerkungen über die Kunst der Komposition, zu dem Widerspruch nämlich, der zwischen der anfänglichen Stellung des Sokrates zu der Frage der Lehrbarkeit der Tugend (319B) besteht und dem, was sich am Schluß des Dialoges darüber ergibt. Wollte Platon wirklich sein Kunstwerk so aufgefaßt' wissen, daß Sokrates eben jetzt im Verlaufe dieses Dia- loges sich erst seine Ansicht über das Wesen der Tugend als Wissen bildet? Und doch! Diese Ansicht ist ja

1 Ich wüßte nicht, daß eine ähnliche Hervorhebung jüngeren Alters des Sokrates sonst noch in den Dialogen vorkäme, aus- genommen den Dialog Parmenides (i27C. 136E). Da liegt aber der ganz besondere Fall vor, daß es gilt, eine chronologische Unmög- lichkeit (nämlich eine Unterredung zwischen Parmenides und So- krates) soweit es sich irgendwie machen zu lassen schien, noch als möglich erscheinen zu lassen. Das Alter des Sokrates ist in den Dialogen’ selbstverständlich je nachdem sehr verschieden; in etwa dem gleichen Alter wie hier erscheint er im Ersten Alkibiades, sonst meist in mehr oder weniger höheren Jahren, so daß wir ihn uns im allgemeinen als älteren Mann denken. Vgl. Euthyd. 293 B.

2) Dies Wissen als Tugend zeigt, daß man es bei Sokrates mit der bekannten Beschränkung seines Wissens auf die Unwissenheit nicht allzu wörtlich nehmen darf; denn sonst würde die Kunst seiner

Kinleitung. 27

eben die notwendige Voraussetzung zu ihrer Lehrbarkeit. Wollte er also wirklich glauben machen, Sokrates habe so plötzlich, so im Handumdrehen, die Farbe gewechselt in einer Frage, die für ihn geradezu eine Lebensfrage war? Das doch wohl nicht. Man hat wohl gemeint, die anfängliche Stellungnahme des Sokrates sei nichts als Ironie. Weit gefehlt! Ironie und zwar ganz handgreif- liche Ironie ist vielmehr das bald darauf (328 E) abge- legte Bekenntnis, er sei durch des Protagoras Ausfüh- rungen nunmehr eines Besseren belehrt. Diese ganz offensichtliche Ironie läßt keinen Zweifel darüber, daß jene angebliche Ironie tatsächlich völliger Ernst ist. Denn sind beide als Ironie gemeint, so können sie als solche nicht nebeneinander bestehen: die eine macht die andere tot. Andere haben gemeint, bei seiner Ableugnung der Lehrbarkeit schwebe dem Sokrates nicht die eigent- liche Tugend vor, sondern die politische Tugend im Sinne des Dialoges Menon. Das läßt sich eher hören, kommt aber im Dialog selbst in keiner Weise zum Ausdruck, denn Sokrates redet zwar zu Anfang (319 A) auch von . πολιτικὴ τέχνη, markiert aber durchaus keinen Unterschied von der sittlichen Tugend, ebensowenig wie dies Prota- goras tut. Und was den Schluß anlangt, so verbietet uns dieser sogar, einen Unterschied anzunehmen, denn da spricht Sokrates einfach von der Lehrbarkeit der Tu- gend. Hätte er selbst jenen Unterschied im Sinne gehabt, -

Mäeutik, die ihm so gut wie anderen zum Wissen verhilft, in ein sehr zweifelhaftes Licht gestellt werden. Vielmehr liegt diesem Be- scheidenheitsbekenntnis nur folgender Sinn zugrunde: für ihn ist das Wissen nicht ein ruhender Besitz, sondern ein beständiges, sich immer wieder erneuerndes Suchen nach Wahrheit, ein beständiges Wiedererwerben auch des schon einmal Errungenen, Er gibt dies Errungene nie als fertige Münze in den Verkehr, sondern prägt die Münze immer wieder aufs neue ein beständiges inneres Werden, gleichsam ein vergeistigter Heraklitismus Nicht unmittelbar in der Sache selbst, wohl aber in der sie begleitenden Seelenstimmung trifft damit Lessings berühmter Ausspruch im Anti-Göze vom Be- s.tze der Wahrheit und vom Suchen nach ihr zusammen,

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so hätte er überhaupt nicht von einem. Widerspruch re- den können. Versuchen wir es also mit einer anderen Lösung der Aporie.

Ein ganz anderes Gesicht nämlich gewinnt die Sache, wenn man den Dialog in der oben beschriebenen Weise als poetisches Bild für diese ganze Kulturepoche ansieht. Der verdächtig rasche Übergang von einem Glaubens- bekenntnis zu dem entgegengesetzten ist dann nur der poetische Reflex eines geschichtlichen Nacheinander, das als solches zu schildern Platon durch die dramatische Form der Darstellung verhindert war. Er bedarf eines Hilfsmittels, um den wahren Hergang der Sache, der tatsächlich außerhalb des Dialoges liegt, während Sokra- tes in die Lage kommt, innerhalb des Dialoges Stellung zu der Sache zu nehmen, wenigstens anzudeuten. So hilft er sich denn mit dem Hinweis auf die Jugend des Sokrates; eben an der Wende der Jahre zum Mannes- alter angelangt, soll Sokrates den Eindruck erwecken, als stünde er sozusagen mit einem Fuße noch in der Jugend. Damit wendet sich Platon gewissermaßen an die Phantasie des Lesers mit der Aufforderung, an die Stelle des dramatisch allein möglichen Zeitpunktes, einen Zeitabschnitt zu setzen, welcher Raum läßt für eine gewisse Entwicklung. Über die von den Sophisten erst aufgebrachte und durch sie in bejahendem Sinne ent- schiedene Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend mag sich der damals eben dem Knabenalter entwachsene So- krates zunächst den Kopf überhaupt noch nicht zerbrochen haben. Sodann aber, durch die Berührung mit der So- phistik zum Nachdenken darüber angeregt, mag er an- fangs wohl der Ansicht gewesen sein (vgl.319B), die Tugend, nämlich das, was man eben Tugend nannte, d.h. die politische Tugend, 'sei einfach eine gute Gabe der Natur oder ein Geschenk Gottes (wie es der Schlußab- schnitt des Menon schildert); weitere Prüfung der Sache aber mag ihn dann zu einer ungleich tieferen und strenge- ren Auffassung des Tugendbegriffes geführt haben, zu

Einleitung. 29

der Überzeugung nämlich: alle Tugend hat zur unent- behrlichen Voraussetzung ein durchgebildetes Wissen; Tugend und Wissen des Schönen und Guten sind Wechsel- begriffe. Wie nun der denkende Bildhauer oder Maler für seine an den Augenblick gebundene Darstellung einer Handlung den, mit Lessing zu reden, fruchtbaren Mo- ment wählt, so wählt hier Platon für sein poetisches Gemälde in seiner Weise eben auch diesen fruchtbaren Moment, der uns nicht ganz ausschließlich an die un- mittelbare Gegenwart fesselt, sondern uns auch einen Blick auf die Vergangenheit frei läßt. Er kann nach den Gesetzen des dramatischen Dialogs das Vorausgegangene nicht als solches schildern denn im Drama kann zwar manches erzählt werden, was außerhalb des Dramas liest, aber vollziehen kann sich nur, was unmittelbar zu ihm gehört —, weist aber, indem er uns seinen Sokrates hier gerade an der Wende des Alters vorführt und darauf ausdrücklich aufmerksam macht, mit dieser andeutenden Abbreviatur deutlich genug auf eine längere Vergangen- heit zurück.

Der Protagoras ist in bezug auf Szenerie, Kompo- sition und Charakteristik ein Kunstwerk echtester Art. ‚Wiederholtes Lesen mindert nicht, sondern steigert nur das Interesse und erfüllt uns mit Bewunderung für die Genialität des Verfassers, die ihn als dramatischen Dich- ter befähigt hätte, die größten Triumphe zu feiern. Was er uns hier, im Protagoras, bietet, war in seinen Augen gewiß nur ein matter und schwacher Abglanz vollen dichterischen Schaffens, und doch ist es wie Empfindung vollen dichterischen Sonnenglanzes, was wir angesichts der mimischen Vollendung des Werkes an uns erfahren. Gleichwohl darf weder der poetische Glanz noch die dem Ganzen zugrunde liegende Hoheit der sittlichen Anschau- ung uns hinwegtäuschen über die logischen Schwächen und dialektischen Spitzfindigkeiten des Werkes, mögen diese nun auf des Sokrates oder auf des Platon Rechnung zu setzen sein. So bereitwillig ich also zugebe, daß für

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80 Einleitung.

Primaner der erste Teil des Werkes eine durchaus an- gemessene Lektüre ist, so wenig möchte ich dem Urteil Westermayers beitreten, der den Protagoras einem jeden Jüngling. als eine Art Vademecum mit auf den Lebens- weg geben möchte ἢ).

Übersicht über die Literatür.

Von Ausgaben nenne ich außer den Gesamtausgaben von Bekker, Ast, Schanz und Burnet die Ausgaben von Heindorf, Plat. Dialogi tres. Berlin 1810, .

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Inhalt und Gliederung des Dialogs.

Einleitung zu des Sokrates Erzählung. 309 A—310A (c. 1).

Von einem Bekannten befragt, woher er denn komme, berichtet Sokrates, er habe soeben ein längeres Gespräch mit Protagoras gehabt. Der Bitte des Freundes, darüber des Näheren Auskunft zu geben, ist er sofort bereit zu willfahren.

Erzählung des Sokrates. 310A—362A (c. 2—40).

I. Vorgespräch mit Hippokrates. 310A—314C (c. 2—5).

Noch bei tiefem Morgengrauen wird Sokrates von dem ihm herzlich zugetanen Hippokrates, einem tüchtigen, bildungseifrigen Jüngling aus guter Familie, aus dem Schlafe geweckt und mit. der Bitte bestürmt, ihn mit Protagoras bekannt zu machen, der seit kurzem in der Stadt und zwar im Hause des Kallias weile. Noch ist es aber, wie Sokrates erklärt, zu früh am Tage, um dort vorzu- sprechen. Er unterhält sich also, im Hofe auf und ab gehend, mit dem Jüngling über die Absichten und Wünsche, die ihn zum Prota- goras treiben und deren Erfüllung er so eifrig erstrebt. Hippokrates gibt darüber Auskunft. Auf die Frage aber, was denn ein Sophist eigentlich sei, bleibt er die Antwort schuldig. Sokrates warnt ihn vor den (Gefahren, denen die Bildungsuchenden von seiten der Sophisten ausgesetzt seien. Inzwischen ist die Zeit so weit vorgerückt, daß man in das Haus des Kallias eintreten kann.

II. Unterhaltungen mit den Sophisten. 3140—362A (c. 6—40).

1. Des Protagoras Auftreten und Reden. 3140—328D (c. 6-17), a) Schilderung der Szene und Beginn des Gespräches. 314 C—317E (c. 6-8). Beim Eintritt in die große Säulenhalle im Inneren des Hauses bietet sich dem Auge ein fesselndes und belebtes Bild: auf der einen Seite, der Eingangsseite, Protagoras mit einer ganzen Schar von

Inhalt und Gliederung. 33

Verehrern auf und ab wandelnd, auf der gegenüberliegenden Seite Hijpias auf bohem Sessel, in einem geöffneten Seitengenach der kränkliche Prudikos, noch zu Bette liegend. Nachdem die beiden Eintretenden unbemerkt die Szene eine Zeitlang übersclaut haben, treten sie an den Protagoras heran; Sokrates trägt ihm das Anliegen des Hippokrates vor und richtet die Bitte an ihn, ihm Auskunft zu geben über das, was die Jugend von den Sophisten Förderndes zu erwarten habe. Protagoras erklärt sich bereit vor der ganzen Ver- sammlung darüber Bescheid zu geben. Er ergelit sich zunächst in einem Preise seiner Kunst, die bis auf Homer und Hesiod zurück- gehe und nur deshalb nicht offen als sophistische Kunst hervorge- treten sei, weil man vor Verdächtigungen und Mißgunst von seiten der Machthaber nicht gesichert gewesen sei; er sei der erste, der es gewagt habe, sich oflen einen Sophisten zu nennen. Nunmehr wird auf den Wunsch des Kallias die gesamte anwesende Gesellschaft auch den Prodikos nicht ausgenommen zu gemeinsamer Sitzung auf der von Hippias eingenommenen Seite der Halle vereinigt,

b) Begründung der Frage. 317 E-320C (ec. 9—10).

Sokrates richtet nun an den Protagoras die Frage, worin der Nutzen bestehe, der dem Hippokrates aus seinem Umgang mit ihm erwachsen werde. Antwort: Besserung von Tag zu Tag, sowie wachsende Brauchbarkeit und Tüchtigkeit für Haus- und Staatsver- waltung (319 A). Das, meint Sokrates, seien Dinge, die seiner bis- herigen Ansicht nach nicht lehrbar seien. Seine Gründe: 1) bei Behandlung politischer Angelegenheiten lassen die Athener in den Volksversammlungen jedermann zu Worte kommen, während sie bei Beratungen technischer Art, wie z. B. bei Bauangelegenheiten, nur die Baumeister und sonstigen Sachverständigen sich als Ratgeber gefallen lassen. 2) Auch die besten Staatsmänner sind nicht imstande . ihren Söhnen diejenige Tüchtigkeit beizubringen, durch die sie selbst ihrem Staate sich nützlich erweisen. Protagoras möge ihn, so bittet er, von seinen Zweifeln befreien.

c) Mythos und Rede des Protagoras. 320 C—328D (e. 11—17).

Des Protagoras Ausführungen gliedern sich in folgender Weise: 1) Die Gründe, warum die Athener in politischen Angelegenheiten jeden Bürger mitsprechen lassen. 2) Die Feststellung, daß diese politische Tüchtigkeit lehrbar sei. 3) Die Gründe, warum ungeachtet aller staatlichen und elterlichen Bemühungen die Söhne trefflicher Väter doch aus der Art schlagen.

Mit dem ersten Punkt findet er sich durch einen Mythos ab, dem- zufolge durch Prometheus den Menschen zwar mit dem Feuer auch die technische Fertigkeit mitgeteilt worden sei, nicht aber die zur

Apelt, Platon Protagoras. Phil. Bibl, Bd. 175, 5

34 Platons Dialoge.

Erhaltung und Gesittung des Menschengeschlechts unentbehrliche staatliche Tugend (Bürgertugend). Dem drohenden Untergange des Menschengeschlechtes zu steuern, habe dann Zeus durch Hermes Recht und Scham an alle Menschen ohne Ausnahme austeilen lassen. Dies der Grund dafür, daß in staatlichen Dingen jedermann mit- sprechen kann (323 0).

Den zweiten Punkt erledigt er durch den Hinweis darauf, daß die Athener, so nachsichtig sie auch sind gegen angeborene Mängel sonstiger Art, in Sachen der Sittlichkeit und der Tugend doch nichts verabsäumen, um auf die Besserung derer hinzuarbeiten, die es in dieser Beziehung an sich fehlen lassen (324 D).

Der dritte Punkt aber wird aufgeklärt durch den Nachweis, daß man falsche Ansprüche an die Leistungstähigkeit der Menschen macht. Da nämlich alle Menschen von vornherein Anteil an der politischen Tugend haben, so scheint es, als ob die, welche in der weiteren Ausbildung dieser Tugend hinter anderen zurückbleiben, überhaupt der Tugend bar seien (328 D).

2. Erstes Gespräch zwischen Protagoras und Sokrates. 828 Ὁ---888) (c. 18—25).

Sokrates, anscheinend, wie alle übrigen auch, ganz entzückt von dem Vortrag des Protagoras, erlaubt sich über „eine Kleinigkeit“ um Aufklärung zu bitten, nämlich wie es sich mit den verschiedenen Namen für die Tugend verhalte. Sind das eben nur verschiedene Namen tür dieselbe Sache, oder sind es Bezeichnungen für ihrem Wesen nach (also qualitativ) verschiedene Teile der Tugend, ähnlich dem Verhältnis der verschiedenen Teile des Gesichtes zueinander? Protagoras zögert keinen Augenblick sich für das letztere zu erklären. Da weiß ihn Sokrates eines Besseren zu belehren, indem er ihm dartut, daß nicht nur die Frömmigkeit wesensgleich sei mit der Gerechtigkeit, sondern daß auch Besonnenheit (σωφροσύνη) und Weisheit (σοφία) auf eins hinauskommen. Und schon ist er auf dem besten Wege auch die Gerechtigkeit und Weisheit als Einheit zu erweisen, als er sich durch des Protagoras Verhalten genötigt sieht diesen Beweis abzubrechen (333 E).

Protagoras nämlich, schon längst merklich verstimmt durch die Wendung, die das Gespräch unmittelbar nach dem großen Triumph, den er gefeiert, genommen hat, sucht sich durch leeren, aber die Sache nicht ungeschickt verschleiernden Wortschwall aus der Schlinge zu ziehen, ein Manöver, das Sokrates mit der Erklärung beantwortet, er habe nicht Zeit noch länger hier zu verweilen. Nur den dringenden, mit vermittelnden Vorschlägen verbundenen Bitten der Anwesenden gelingt es endlich, ein Übereinkommen zustande zu bringen, dem- gemäß Protagoras sich bereit erklärt, zunächst die Rolle des Fragenden zu übernehmen und weiterhin wieder zu der des Antwortenden zurück-

Inhalt und Gliederung. 35

zukehren (838 E). Bei dieser Gelegenheit kommen auch dio anderen beiden Sophistenhäupter, und zwar in durchaus charakteristischer Weise nacheinander zu Wort.

8. Erklärung des Simonideischen Gedichten. 338E—348A (c. 26-32).

Protagoras, nunmehr als Fragender der Leiter des Gerpräches, gibt diesem eine überraschende Wendung: an die Stelle der begriff- lichen Erörterung setzt er die Dichtererklärung, ein Steckenpferd der Sophisten. Man glaubt zuerst, damit werde der Faden der Untersuchung ganz abgerissen; allein Protagoras versichert, daß es sich in dem von ihm zur Besprechung gewählten Gedicht einem an den thessalischen Fürsten Skopas gerichteten Liede des Simonides auch um die Tugend handle. Und zwar handelt es sich, wie weiterhin durch Sokrates festgestellt wird, nicht nur um Erwerb und Besitz der Tugend, sondern auch um ihr Verhältnis zum Wissen. Sokrates nämlich ist es, der, nachdem erst Protagoras einen Widerspruch des Dichters mit sich selbst festzustellen gesucht hat, seinerseits die Erklärung des ganzen, ihm wohlbekannten Gedichtes selbst in die Hand nimmt und in zusammenhängender ausführlicher Darstellung darzutun sucht, daß das ganze Gedicht, in dessen zweiter Strophe der Dichter auf einen bekannten Spruch des Pittakos Bezug nimmt, nichts anderes sei als eine Bekämpfung eben dieses Pittakos durch den Simonides, darauf berechnet ihm den Rang abzulaufen. Bei dieser Erklärung nun versteht es Sokrates, den Simonides zum Be- kenner der nämlichen Ansicht über das Verhältnis der Tugend zum Wissen zu machen, die er selbst vertritt. Nachdem Sokrates geendet, möchte nun Hippias gar zu gern auch seinerseits eine Erläuterung dieses Liedes vortragen, wogegen indes Alkibiades erfolgreichen Ein- spruch erhebt. Sokrates aber verfehlt nicht, dies ganze Geschäft der Dichtererklärune für eine müßige Spielerei zu erklären, die nichts‘ mit wissenschaftlicher Erkenntnis gemein habe.

4. Zweites Gespräch zwischen Protagoras und Sokrates. 348B—360E (ὁ. 32—39).

_ Indem sich nun Protagoras, wenn auch mit einigem Widerstreben, wieder zur Rolle des Antwortenden bequemt, lenkt Sokrates die Unter- suchung auf den Punkt zurück, wo sie durch die Gedichterklärung abgebrochen worden war, Nach kurzer Rekapitulation richtet er an den Protagoras die Frage, wie er sich nunmehr zu der Sache stelle. Protagoras erklärt, er wolle gegen die Einheit von Frömmigkeit, Be- sonnenheit und Gerechtigkeit mit der Weisheit nichts mehr einwenden, um so entschiedener müsse er sich aber gegen die Einheit der Tapfer- keit mit der Weisheit erklären. Denn Tapferkeit finde sich oft genug

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98 Platons Dialoge.

gerade bei solchen Leuten, die aller übrigen Tugenden bar seien. Dagegen zeigt Sokrates, daß Tapferkeit stets etwas Schönes sei. Voraus- setzung aber zur Tapferkeit sei Kühnheit. Kühnheit ohne Wissen aber sei Tollheit, also häßlich (schimpflich); also kann Tapferkeit nicht ohne Wissen sein. Gegen diese Schlußfolgerung macht Protagoras einen nicht unberechtigten Einwand, worauf Sokrates diesen Beweisgang fallen läßt (351 B), um einen anderen Weg einzuschlagen. Mit Hilfe des (in gewissem Sinne den Sophisten abgeborgten) Satzes von der Identität des Angenehmen und Guten zeigt er, daß da, wo man es. in der Hand hat zwischen Gutem und Schlechtem zu wählen, nur der Unwissende das Schlechte wählen wird (womit zugleich die Ent- scheidung gegeben ist über die landläufige Meinung, daß viele sich von der Lust als dem in gegebenem Falle Schlechteren überwältigen lassen, trotz aller Kenntnis des Besseren und trotz der Macht, dies Bessere auch zu tun). Der Wissende dagegen wird stets das Gute wählen, denn er ist im Besitze derjenigen Kunst, durch die wir das Gute gegen das Schlechte richtig abzuschätzen (also auch das Schöne und Gute, diese Quelle der höchsten Lust, richtig zu bewerten) ver- mögen, d.h, er ist im Besitze der Meßkunst. Die Tapferkeit nun bewegt sich auf dem Gebiete des Gefahrvollen (Furchtbaren) und dessen Gegenteils, Da sie aber Tugend ist, so muß sie sich not- wendig auf das Schöne und Gute beziehen, Das Schöne und Gute also im Gebiete des Furchtbaren und seines Gegenteiles richtig zu erkennen und darüber Bescheid zu wissen, ist unerläßliche Bedingung für den, der als tapfer gelten will. Und so wäre denn die Tapfer- keit nichts anderes als ein Wissen des wahrhaft Furchtbaren und Nichtfurchtbaren, d.h. desjenigen, welches mit dem Schönen und Guten in Einklang oder in Widerspruch steht.

5. Schluß. 361 A-8624 (e. 40).

Sokrates kann nicht umhin, seine Verwunderung auszusprechen über den Gang der Verhandlung, welche die Anfangsstellung beider- seits in ihr Gegenteil umgewandelt habe. Er, der zu Anfang die Lehrbarkeit der Tugend bestritten habe, sei jetzt zum Vertreter ihrer Lehrbarkeit geworden insofern als er den Nachweis geführt habe, daß sie ein Wissen sei; Protagoras dagegen, der sie zu Anfang. für lehrbar erklärt habe, scheine jetzt für das Gegenteil einzutreten, da er sie nicht als ein Wissen gelten lassen wolle. Es sei also dringend zu wünschen, das Wesen der Tugend zum Gegenstand weiterer gemein- samer Forschungen zu machen. Protagoras, rasch sich fassend, be- glückwünscht den Sokrates zu seinem Forschungseifer und stellt ihm eine ruhmvolle Zukunft in Aussicht.

Platons Protagoras.

Personen im einleitenden Gespräch Sokrates und ein Freund, in den erzählten Gesprächen Hippokrates, Sokrates, Protagoras, Alkibiades, Kallias, Kritias, Prodikos, Hippias,

1. Der Freund!). Woher des Weges, Sokrates? Gewiß nicht anderswoher als von der Jagd auf des Alki- biades Schönheit! In der Tat, ein schöner Mann so erschien er mir auch jüngsthin als ich seiner ansichtig ward —, aber eben doch ein Mann, Sokrates, unter uns gesagt, und bereits so herangereift, daß der Bart ihm kräftig hervorsproßt.

Sokrates. Mag sein, aber was verschlägt denn das? Du bist ja doch des Lobes voll für den Homer?°), und dieser erklärte doch die erste Zeit des Bartsprossens für die lieblichste Zeit der Jugend, die Zeit also, in der jetzt Alkibiades steht.

Der Freund. Wie steht es also jetzt? Kommst

du von ihm? Und wie hält es der junge Mann mit dir?

Sokrates. Ganz nach Wunsch, denk’ ich, und be- sonders auch am heutigen Tage°). Denn er trat lebhaft für mich ein und warf sich für mich ins Zeug®). Und so komme ich denn eben auch von ihm. Doch seltsam, . was ich zu berichten habe: war er nämlich auch zugegen, so schenkte ich ihm doch keine Aufmerksamkeit, ja ver- gab nicht selten ganz, daß er überhaupt da war.

Der Freund. Was wäre denn so Wichtiges mit dir und ihm vorgefallen? Denn du hast doch gewiß nicht eines anderen schöneren Mannes Bekanntschaft gemacht, wenigstens hier in Athen nicht.

Sokrates. Doch, und zwar eines weit schöneren.

Der Freund. Wie sagst du? Eines Atheners oder eines Fremden? |

Sokrates. Eines Fremden.

38 Platons Dialoge.

Der Freund. Woher denn?

Sokrates. Aus Abdera.

Der Freund. Und so schön kam dir der Fremde vor, daß er dir schöner. erschien als des Kleinias Sohn ?

Sokrates. Wie sollte, mein Trefflicher, dem Aus- bund aller Weisheit?) nicht auch der Vorzug der Schön- heit zukommen

Der Freund. War es denn, Sokrates, irgend ein Weiser, mit dem du zusammen gewesen bist und von dem du jetzt zu uns‘) kommst? | |

Sokrates. Ja, mit dem größten Weisen unserer Zeit wenigstens’), wenn anders Protagoras dir als solcher gilt. | Der Freund. Welche Überraschung! Protagoras also weilt hier ?

Sokrates. Ja, schon seit vorgestern.

Der Freund. Und du kommst eben von einer Zu- sammenkunft mit ihm? | |

Sokrates. Allerdings, und wieviel gab’s da zu sagen und zu hören!

διὺ 5

Der Freund. Und du erzählst uns nichts von diesem

Beisammensein? Das mußt du. Wenn dich nichts ab- hält, so heiße den Burschen hier aufstehen und laß dich unverzüglich an seinem Platze hier nieder.

Sokrates. Sehr gern, und ich werde es euch Dank wissen, wenn ihr mir zuhört.

Der Freund. Und wir dir erst recht, wenn du uns Bericht erstattest.

Sokrates. So wäre also der Dank ein gegenseitiger®). Nun, so höret denn.

Sokrates erzählt.

2. Vergangene Nacht beim ersten Morgengrauen klopfte Hippokrates, der Sohn des Apollodoros und Bruder des Phason, sehr heftig an meine Tür; sobald man ihm geöfinet hatte, stürmte er sofort zu mir herein und rief mit lauter Stimme: Sokrates, wachst du oder schläfst du?

Protagoras. 39

Ich aber erkannte ihn an der Stimme und versetzte: das ist Hippokrates®)! Du bringst doch nicht etwa schlimme Botschaft!) ?

Nein, erwiderte er, nur gute.

Das läßt sich hören, sagte ich. Worum handelt sich’s aber und weshalb erscheinst du so in aller Frühe?

Protagoras, sagte er, ist angekommen und dabei trat er dicht an mich heran.

Schon vorgestern, erwiderte ich; und du hast es eben erst erfahren ?

Ja, bei den Göttern, versetzte er, erst gestern Abend. Dabei tastete er an meinem Bettgestell herum, ließ sich zu meinen Füßen darauf nieder und berichtete wie folgt: Allerdings erst gestern Abend, denn ich kam erst sehr spät aus Oinoe!!) zurück. Mein Sklave Satyros nämlich war mir davongelaufen, und ich wollte dir von meiner Absicht ihn zu verfolgen auch Mitteilung machen, vergaß es aber über einer andern Angelegenheit. Als wir aber nach meiner Rückkehr die Abendmahlzeit eingenommen hatten und uns zur Ruhe begeben wollten, da teilte mir mein Bruder mit, Protagoras sei angekommen. Und erst wollte ich gleich noch zu dir eilen, besann mich indes eines Besseren, da die Nacht schon zu weit vorgerückt war. Sobald ich mich aber durch den Schlaf genügend gestärkt fühlte nach der vorangegangenen Anstrengung, erhob ich mich sofort und eilte hierher.

Da ich nun seinen starren Willen und sein aufge: regtes Wesen kenne, richtete ich an ihn die Worte: Was verschlägt dir denn das? Protagoras hat dir doch nicht etwa ein Leid angetan?

Da lachte er auf und sagte:. Ja, bei den Göttern, mein Sokrates, daß er seine Weisheit für sich behält und mich nicht weise macht.

Aber, beim Zeus, versetzte ich, wenn du ihm Geld zahlst und ihn dadurch günstig stimmst, dann wird er auch dich weise machen.

Wäre es doch, erwiderte er, o Zeus und ihr Götter,

40 Platons Dialoge.

damit getan! Weder mit meinem eigenen Vermögen noch mit dem meiner Freunde sollte dann gegeizt werden. Aber eben deshalb erscheine ich jetzt bei dir: du sollst für mich ein gutes Wort bei ihm einlegen. Denn ich bin einerseits noch zu jung, anderseits habe ich den Protagoras noch niemals weder gesehen noch gehört; denn ich war noch ein Knabe, als er das vorige Mal hier war. Aber alle, mein Sokrates, preisen den Mann und erklären ihn für den kundigsten Redner. Doch nun unverzüglich auf zu

ihm, damit wir ıhn noch zu Hause antreffen. Sein Quar-

tier hat er als Gast, wie ich höre, bei Kallias!”, dem Sohne des Hipponikos. Aber nun nicht länger gezögert!

Ich aber erwiderte: Noch ist es nicht Zeit für dort; es ist noch zu früh. Laß uns vielmehr, nachdem wir uns erhoben, hier im Hofe auf und ab wandelnd verweilen, bis es Tag geworden ist; dann wollen wir hingehen. Denn Protagoras bleibt meist zu Hause; also sei außer Norge: wir werden ihn aller W ahrscheinlichkeit nach zu Hause antrelfen. |

3. Darauf erhoben wir uns und wandelten im Hofe auf und ab. Mir aber kam es darauf an die Willenskraft des Hippokrates zu erproben'2); ich nahm ihn also scharf aufs Korn und fragte ihn: Sage mir, Hippokrates, wenn du jetzt drauf und dran bist dieh an den Protagoras zu wenden und ihm Geld zu zahlen für die dir zu leistenden Dienste, was für eine Vorstellung machst du dir da von ihm und was willst du durch ihn werden? Gesetzt z. B. du dächtest dich an deinen Namensvetter Hippokrates!#) aus Kos, den Asklepiaden, zu wenden und ihm Lehrgeld zu zahlen für deine Ausbildung, und es fragte dich einer: Sage mir, Hippokrates, was ist denn eigentlich an dem Hippokrates, dab du dich veranlaßt findest ihm Lehrgeld zu zahlen? Wie würde dann deine Antwort lauten ?

Ich würde sagen, erwiderte er, er ist ein Arzt.

Und was willst du durch ihn werden?)

Ein Arzt, erwiderie er. _

Und gesetzt, du dächtest dich an Polykleitos!) aus

811 St

12 St.

Protagoras. 41]

Argos oder δὴ Pheidias, den Athener, zu wenden und ihnen Geld zu geben für deine Ausbildung, und es [ragte dich jemand, was sind denn Polykleitos und Pheidias für Leute, daß du willens bist ihnen dies Geld zu geben ? Was würdest du da antworten

Ich würde sagen: Sie sind Bildhauer.

Und was willst du selbst werden ?

Oifenbar ein Bildhauer.

Gut denn, sagte ich. Nun aber wollen wir uns jetzt an den Protagoras wenden, ich und du, und ihm Lehrgeld anbieten für dich, fest entschlossen, wenn unser Vermö:zen ausreicht und wir ihn dadurch für uns gewinnen, es daran zu geben, wo nicht, auch noch das unserer Freunde mit zu verwenden. Gesetzt nun, es fragte jemand uns, die wir uns so eifrig um die Sache bemüht zeigen: Sagt mir doch, Sokrates und Hippokrates, was ist denn eigentlich Protagoras, daß ihr Willens seid, ihm Geld zu geben? Was würden wir ihm antworten? Welche Bezeichnung ist für den Protagoras neben seinem eigentlichen Namen noch üblich, wie man den Pheidias als Bildhauer bezeichnet und den Homer als Dichter?

Als Sophisten bezeichnet man den Mann, mein So- krates, erwiderte er.

Als einem Sophisten also wollen wir ihm unser Geld geben, indem wir uns an ihn wenden?

Jawohl.

Wenn nun jemand noch die weitere Frage an dich richtete: Du selbst aber, was willst du denn werden, wenn du dich dem Protagoras anvertraust ?

Da errötete er denn schon fing es an zu dämmern, so dab man seine Gresichtsiarbe erkennen konnte und sagte: hält man sich an das Bisherige, dann will ich offenbar ein Sophist werden.

Wie, sagte ich, bei den Göttern, schämst du dich nicht, vor ganz Griechenland als Sophist zu erscheinen 16)

Ja, beim Zeus, mein Sokrates, wenn ich sagen soll, wie mir's ums Herz ist.

49 Platous Dialoge.

Aber vielleicht, mein Hippokrates, bist du der Mei- nung, die Belehrung durch den Protagoras werde keine so fachmäßige sein, sondern mehr der allgemeinen Bil- dung dienen, wie die durch Schreiblehrer, Musiklehrer und Turnlehrer. Denn all diesen Unterricht erhieltest du nicht zum Zwecke kunstmäßiger Ausbildung, um selbst darin Meister zu werden, sondern zum Zwecke der höheren Bildung überhaupt, wie sie einem selbständigen und freien Manne wohl ansteht!?).

Ganz entschieden, erwiderte er, scheint mir der Tehr. gang beim Protagoras mehr von dieser Art zu sein.

4, Bist du dir auch nun bewußt, was zu tun du jetzt im Begriff stehst, oder merkst du es nicht? sagte ich.

Worauf zielt das hin?

Daß du im Begriff bist deine Seele einem Manne anzuvertrauen, der, wie du sagst, ein Sophist ist. Weißt du denn überhaupt, was ein Sophist ist? Das sollte mich doch wundern. Und doch, wenn du dies nicht weißt, so weißt du auch nicht, wem du deine Seele anvertraust, weißt nicht, ob es damit gut. oder schlecht bestellt ist.

Ich glaube wenigstens es zu wissen, erwiderte er.

So sage denn, was ist denn deiner Meinung nach ein Sophist δ

Ich denke, erwiderte er, er sei, entsprechend seinem Namen, der des Wissenswerten Kundige®).

Das kann man doch, versetzte ich, auch von den Malern und Baumeistern sagen, daß sie es sind, die des Wissenswerten kundig sind. Aber gesetzt, es fragte uns einer: „Worauf bezieht sich denn das Wissenswerte, dessen die Maler kundig sind?“ so würden wir ihm antworten: „Auf das, was zur Herstellung von Gemälden wissens- wert ist“ und so weiter auch in den übrigen Fällen. Wenn nun aber einer fragte: „Aber der Sophist worauf bezieht sich das Wissenswerte, dessen er kundig ist?“ was würden wir ihm dann antworten? „Welches Gebiet ‚beherrscht er?“ ‘Was wäre darauf zu sagen’?

813 St,

Protagorus, 43

Er sei, Sokrates, Meister der Kunst, andere zu ge- wandten Rednern zu machen.

Vielleicht, versetzte ich, würden wir damit nichts Unrichtiges sagen, aber die Sache doch nicht erschöpfen. Denn unsere Antwort macht noch die weitere Frage nötig nach dem Gegenstand, auf den sich die Beredsamkeit bezieht, für welche der Sophist die Leute geschickt macht. So macht z.B. der Zitherspieler die Leute geschickt dazu über den nämlichen Gegenstand auch zu reden, dessen er sie kundig macht, über das Zitherspiel nämlich. Nicht wahr ? |

Ja.

Gut. Aber der Sophist nun, worüber zu reden macht er die Leute geschickt? Doch offenbar über dasselbe, dessen er selbst kundig ist.

So scheint es.

Was ist es nun, worauf sich die Sachkunde des Sophisten selbst bezieht sowie seine Einwirkung auf den Schüler ?

Beim Zeus, versetzte er, darauf muß ich die Antwort schuldig bleiben.

5. Darauf sagte ich: Wie nun? Sagst du dir auch, welcher Gefahr du deine Seele preiszugeben im Begriff bist? Mübtest du deinen Leib irgend jemandem anver- trauen, von dessen Behandlung die künftige Tauglichkeit oder Untauglichkeit desselben überhaupt abhinge, so wür- dest du zweifellos reiflichst erwägen, ob du ihm dein Vertrauen schenken dürftest oder nicht, und würdest deine Freunde und Verwandten herauziehen und tagelang dich angelegentlich mit der Sache beschäftigen. Und hier, wo es sich um ein Gut handelt, das in deiner Schätzung höher steht als der Körper, und von dessen gelungener oder verfehlter Ausbildung dein ganzes Glück oder Leid abhängt hier hast du weder deinen Vater noch irgend einen von uns, deinen Freunden, zu Rate gezogen darüber, ob du deine Seele diesem Ankömmling aus der Fremde

44 Platons Dialoge.

anvertrauen sollst oder nicht. Nein! Gestern Abend hast. du, wie du sagst, davon gehört, und heute erscheinst du. in aller Frühe ohne eine Erwägung oder Beratschlagung darüber anzustellen, ob du dich ihm anvertrauen sollst oder nicht, sondern bist bereit dein und deiner Freunde Vermögen daran zu setzen, schon völlig fertig mit deinem Entschluß, dich unter allen Umständen an den Protagoras anzuschließen. Und doch kennst du ihn weder, deiner eigenen Versicherung zufolge, noch hast du jemals mit ihm gesprochen, und du nennst ihn einen Sophisten, was aber ein Sophist eigentlich ist, darüber bist du offenbar in Unkenntnis und doch willst du dich ihm anvertrauen. Als er dies vernommen, erwiderte er: Du scheinst mit deinen Darlegungen allerdings recht zu haben, Sokrates. Ist nun nicht, mein Hippokrates, der Sophist eine Art Großhändler oder auch Krämer mit Waren, die der Seele zur Nahrung dienen? Mir wenigstens will es so vorkommen, als wäre er so etwas!?). Worin aber, Sokrates, besteht denn die Nahrung der Seele | In Kenntnissen doch wohl, erwiderte ich. Und man hüte sich wohl, mein Freund, daß uns der Sophist nicht täusche mit der Anpreisung seiner Waren, wie es bei den Händlern mit leiblicher Nahrung üblich ist, beim Kauf- mann und Krämer. Denn was von ihren dargebotenen Waren wirklich tauglich oder untauglich ist für den Kör- per, das wissen weder sie selbst preisen aber alles an beim Verkauf noch ihre Käufer, es müßte denn einer gerade ein Turnmeister?°) oder Arzt sein. Ebenso treiben es nun auch die Händler mit Wissensvorräten: von Stadt zu Stadt umherziehend bieten sie im Groß- und Klein- verkauf jedem Kauflustigen ihre Waren dar und preisen alles an was sie verkaufen; und doch, mein Bester, dürften gar manche von ihnen nicht wissen, was davon der Seele zuträglich oder schädlich ist. Und das. gleiche gilt auch von den Käufern, es müßte denn einer gerade. ein Seelen- arzı sein. Gehörst du also etwa zu denen, die über Taug-

814 St,

Protagorns. 45

lichkeit und Untauglichkeit auf diesem Gebiete ein zu- ständiges Urteil haben, dann kannst du ohne Gefahr von Protagoras wie von jedem anderen Kenntnisse einhandeln. Wo nicht, so warne ich dich, mein Bester, nicht ein gewagtes Spiel zu treiben mit dem Kostbarsten, was du hast. Denn weit größer ist die Gefahr bei Einkauf von ‚Wissensvorräten als von Speisevorräten. Speisen und Getränke nämlich kann man, wenn man sie von einem Krämer oder Kaufmann eingehandelt hat, in besonderen Gefäßen forttragen und bevor man sie durch Trinken oder Essen in den Leib aufnimmt, im Hause stehen lassen und unter Zuziehung eines Sachverständigen sich Rats erholen, was davon sich zum Essen oder Trinken empfiehlt und was nicht, und wieviel und wann; mit dem Kauf hat es also hier keine weitere Gefahr. Kenntnisse aber kann man nicht in einem besonderen Gefäße weg- tragen, sondern hat man einmal den Kaufpreis erlegt, so muß man sie unmittelbar in die Seele aufnehmen und sich mit ihrem Besitze abfinden, gleichviel ob es einem zum Schaden oder zum Nutzen ausschlägt. Das laß uns denn auch mit Männern, die älter als wir sind, erwägen; denn wir sind noch zu jung?!), um über eine so Wichtige Frage ein entscheidendes Urteil zu haben. Zunächst indes wollen wir, unserem Vorhaben entsprechend, hingehen und den Mann anhören; haben wir ihn gehört, so wollen wir dann auch mit anderen zu Rate gehen. Denn Prota- goras ist nicht der einzige, den wir dort treffen: auch Hippias??) aus Elis ist dort, und irre ich nicht, auch Prodikos®®) von Keos, und noch viele andere weise Männer.

6. Darüber einverstanden machten wir uns nun auf den Weg. Als wir aber auf den Platz vor dem Haus gekommen waren, machten wir halt, weil begriffen in einer Unterhaltung über eine Frage, auf die wir unterwegs zu sprechen gekommen waren. Um nun die Erörterung nicht abzubrechen, sondern sie vor unserem Eintreten zu Ende zu führen, blieben wir auf dem Vorplatz stehen und

‚setzten die Unterredung fort, bis wir zum Einverständnis

40 Platons Dialoge.

gelangt waren. Der Türhüter, ein Verschnittener, hörte, wie es schien, unser Gespräch. Allem Anschein nach aber ist er wegen des Zudranges der vielen Sophisten auf die Besucher des Hauses übel zu sprechen. Kaum nämlich hatte er auf unser Klopfen die Tür geöffnet und uns erblickt, so rief er: „Aha, wieder Sophisten! Mein Herr hat keine Zeit.“ Dabei faßte er die Tür mit beiden Händen zugleich und warf sie mit voller Wucht wieder zu. Wir. wiederholten nun unser Klopfen. Er aber erwiderte hinter der zugesperrten Tür: Ihr Kerle, habt ihr denn nicht gehört, daß mein Herr keine Zeit hat? |

Aber, mein Bester, entgegnete ich, wir wollen ja gar nicht zum Kallias, sind auch keine Sopbisten. Also nur ruhig Blut! Unser Besuch gilt nur dem Protagoras, den wir zu sehen wünschen. Melde uns ihm also. Nur mit größtem Widerstreben öffnete uns der Mensch dann endlich die Tür. |

Wir traten nun ein. Unser Blick fiel zunächst auf den Protagoras, der in der Säulenhalle auf und ab wandelte; neben ihm aber schritten auf der einen Seite Kallias, des Hipponikos Sohn, und sein Bruder von mütterlicher Seite Paralos:*), der Sohn des Perikles, und Charmides>), 815 st, der Sohn des Glaukon, auf der anderen Seite der andere Sohn des Perikles, Xanthippos, und Philippides, des Philo- melos Sohn, und Antimoiros aus Mende®), der namhafteste Schüler des Protagoras, der sich fachmäßig von ihm aus- bilden läßt, da er Sophist werden will. Die sich hinten anschließende Schar derer, die der Unterhaltung lauschten, bestand, wie es schien, zum größten Teile aus Fremden, wie sie Protagoras aus allen von ihm berührten Städten mit sich führt denn er lockt sie mit seiner Stimme wie Orpheus, und sie folgen dem Zauber seines Gesanges —, doch fanden sich auch einige Einheimische in dem Chor. Bei den Bewegungen dieses Chores machte es mir besondere Freude zu beobachten, wie geschickt und behutsam sie es vermieden, dem Protagoras vorn in den Weg zu treten; sooft nämlich er und seine Begleiter kehrtmachten,

Protagoror. 47

traten die stummen Zuhörer mit allem Anstand und in bester Ordnung auf beide Seiten auseinander, schwenkten im Kreise herum und reiheten sich dann immer wieder hinten mit unfehlbarer Sicherheit δὴ 37).

7. „Jenem zunächst erblickt’ ich“, mit Homer zu reden®®), den Hippias aus Elis. Er saß in dem gegenüber- liegenden Säulengange auf einem hohen Lehnsessel. Rings um ihn aber saßen auf Bänken Eryximachos®), des Aku- menos Sohn, Phaidros®°) von Myrrhinus, Andron®!), des Androtion Sohn, und von Fremden einige Landsleute des Hippias sowie noch einige andere. Wie es schien, legten sie dem Hippias allerlei astronomische Fragen über die Natur und die himmlischen Erscheinungen vor, er aber erteilte von seinem erhabenen Sitze aus einem jeden Aus- kunft und erörterte ihm den fraglichen Gegenstand.

„Auch den Tantalos schaut’ ich“). Denn wirklich war auch Prodikos von Keos da, und zwar befand er sich in einem Gemach, das vordem dem Hipponikos als Vor- ratskammer diente, jetzt aber wegen der Menge der unter- zubringenden Gäste von Kallias ausgeräumt und zur Unter- kunft für Fremde eingerichtet worden war. Prodikos lag noch zu Bett, eingehüllt in Pelze und Decken in großer Fülle, wie ein Blick darauf zeigte. Neben ihm aber saßen auf den nahestehenden Ruhebetten Pausanias?®) aus Kerameis und neben dem Pausanias ein angehender Jüngling von trefflichen und guten Anlagen, wie mir schien, von Ansehen jedenfalls sehr schön. Habe ich recht gehört, so war sein Name Agathon, und es würde mich nicht wundern, wenn er der Geliebte des Pausanias wäre. So viel also von dem Jüngling®). Außerdem sah man noch die beiden Adeimantos, den Sohn des Kepis und den Sohn des Leukolophides3) und einige andere. Den Gegenstand ihrer Unterhaltung aber vermochte ich von draußen nicht zu erkunden, so dringend ich auch wünschte den Prodikos zu hören denn der Mann scheint mir ein

316 st. wahrer Ausbund von Weisheit zu sein und gottähnlich —, doch wegen seiner tiefen Stimmlage war es mir bei dem

48 Platons Dialoge.

in dem Gemache herrschenden Geräusch nicht möglich, seine Worte deutlich zu verstehen.

Wir waren kaum erst eingetreten, da fanden sich hinter uns noch Alkibiades ein, der Schöne wie du ihn nennst und das mit Recht, wie ich meine und Kritias3®), des Kallaischros Sohn.

8 Wir blieben denn nach unserem Eintreten noch eine kleine Weile stehen, betrachteten uns den Schauplatz und traten dann an den Protagoras heran, den ich mit den Worten begrüßte: Du bist es, Protagoras?”), den aufzu- suchen wir hierher gekommen sind.

Wollt ihr mich, erwiderte er, allein sprechen oder im Beisein der anderen ?

Uns, versetzte ich, soll das gleich sein. Vernimm denn den Zweck unseres Kommens und prüfe selbst.

Was ist es also, was euch veranlaßt hat hierher zu kommen |

Mein Begleiter Hippokrates hier ist geborener Athener, Sohn des Apollodoros, Glied einer großen und begüterten Familie; er selbst aber steht seiner Begabung nach meines Erachtens hinter keinem seiner Altersgenossen zurück. So ist er denn, wie mir scheint, von dem Verlangen beseelt, im Staate eine hervorragende Rolle zu spielen. Dies glaubt er am besten erreichen zu können, wenn er bei dir in die Lehre geht. Nun also prüfe, ob du glaubst darüber mit uns allein oder im Beisein der anderen verhandeln zu sollen.

Dank dir, mein Sokrates, erwiderte er, für deine wohl- angebrachte Rücksicht auf mich. Denn wer als Fremdling grobe Städte besucht und in ihnen die tüchtigsten Jünglinge zu bestimmen sucht, ihren Umgang mit den anderen, seien es Verwandte oder Fernerstehende, Ältere oder Jüngere, aufzugeben und sich ihm anzuschließen in der Hoffnung durch seinen belehrenden Umgang sittlich gefördert zu werden, der hat alle Ursache vorsichtig zu sein bei seinem Auftreten. Denn nicht geringer Neid und sonstige Feind- schaft und Anschläge aller Art erwachsen ihm daraus. Darum behaupte ich denn auch, die Sophistik sei eine

eo. .

Protagoras. 49

schon von alters her geübte Kunst, nur dal ihre Vertreter unter den Männern der Vorzeit aus Furcht vor dem An- stößigen derselben einen schützenden Vorwand suchten. Demgemäß steckten sich denn die einen hinter den Deck- mantel der Poesie, wie Homer, Hesiod, Simonides, andere hielten es mit weihevollen Bräuchen und Sehersprüchen wie Orpheus und Musaios®®) und ihre Anhänger, einige sogar, wenn ich recht beobachtet habe, mit der Gymnastik, wie Ikkos®) aus Tarent und Herodikos*) aus Selymbria, ur- sprünglich aber aus Megara, der noch heute hinter keinem anderen Sophisten zurücksteht. Die Musik aber nahm euer Mitbürger Agathokles“) zum Vorwand, ein hervorragender Sophist, und Pythokleides“) aus Keos und noch viele andere. Alle diese bedienten sich, wie gesagt, aus Furcht vor Mißgunst dieser Künste als Deckmantel. Ich aber befinde mich, was diesen Punkt anlangt, mit ihnen nicht im Einvernehmen. Denn ich glaube, sie haben ihren Zweck ganz und gar nicht erreicht. Sehe ich nämlich recht, so entzieht sich ihre Absicht doch nicht der Wahrnehmung der Machthaber in den Staaten, um deren willen sie sich

ja doch dieser Vorwände bedienen; denn die große Menge®°)

merkt so gut wie gar nichts, sondern tanzt einfach nach der Pfeife der Machthaber. Sich also aufzumachen, um davonzulaufen und es doch nicht durchführen zu können,

sondern sich dabei ertappen zu lassen, ist eine große .

Torheit, auch wenn es sich um einen bloßen Versuch han- delt, und führt nur dazu, daß man sich die Menschen noch

mehr zu Feinden macht; denn sie halten einen solchen

Menschen abgesehen von allem anderen auch noch für einen Bösewicht. Ich habe also einen Weg eingeschlagen, der gerade das Gegenteil davon ist: ich räume offen ein ein Sophist zu sein und die Menschen durch Bildung zu fördern und ich ‚denke, es ist dies eine bessere Art von Vorsicht als jene, nämlich es offen einzugestehen anstatt es zu leugnen. Und auch sonst bin ich noch auf mancherlei Vorsichtsmaßregeln bedacht gewesen, so daß mir, Gott sei

Dank, mein freies Eingeständnis ein Sophist zu sein nicht

Apelt, Platon Protagoras. Phil, Bibl. Bd. 175, 4

δ0 Piatons Dialoge.

zum Schaden gereicht. Und doch übe ich meine Kunst schon eine lange Reihe von Jahren; denn die Summe der- selben ist groß genug, um dem Alter nach Vater eines jeden von euch sein zu können“). Demnach ist es mir weitaus das Erwünschteste im Beisein aller hier Anwesen- den über euer etwaiges Anliegen mit euch zu verhandeln.

Ich merkte wohl, es liege ihm daran, sich vor dem Prodikos und Hippias ins rechte Licht zu setzen und da- mit groß zu tun, daß wir uns als Verehrer von ihm ein- gefunden hätten. So erwiderte ich denn: Also nicht ge- säumt! Laßt uns sofort den Prodikos und Hippias und ihre Genossen herbeirufen, auf daß sie uns zuhören.

Recht so, versetzte Protagoras.

Wünscht ihr also, ließ sich da Kallias vernehmen, daß wir einen Sitzungsraum herrichten, damit ihr euch sitzend unterhalten könnt?

Das fand allgemeine Zustimmung. Wir warteten gar

nicht erst auf die Diener, sondern legten gleich selbst alle voll freudigen Eifers, in Erwartung der Reden weiser Männer, Hand an die Bänke und Sessel und richteten . uns neben dem Hippias ein; denn dort fanden sich ja schon Bänke vor. Inzwischen waren auch Kallias und Alki- biades mit dem Prodikos, den sie führten, nachdem sie ihm von seinem Lager aufgeholfen hatten, nebst den Ge- nossen desselben zur Stelle gekommen. ‘9. Als wir uns alle niedergelassen, hub Protagoras an: Jetzt sind wir nun alle beisammen, und so kannst du, mein Sokrates, dich nunmehr des Näheren auslassen über die Sache deines jungen Freundes, deren du kurz zuvor Erwähnung tatest.

Ich erwiderte: Weshalb ich hierher komme, darüber 318 S habe ich mich schon vorhin erklärt und es bedarf nur einer kurzen Wiederholung. Hippokrates hier ist von dem Verlangen beseelt dein Schüler zu werden; er möchte also, wie er sagt, gern wissen, was er von dem Zusammensein mit dir zu erwarten hat. Das ist es, was ich für ihn ' zu sagen habe.

Protagorns. 51

Darauf versetzte Protagoras: Mein junger Freund, was du durch den Umgang mit mir gewinnen wirst, ist dies, daß du gleich am ersten Tage, wo du mit mir zusammen bist, als ein besserer Mensch zu den Deinigen heimkommst, und am nächsten Tage desgleichen und dab du so an jedem Tage an Tüchtigkeit zunimmst.

Diese Auskunft gab mir Anlaß zu folgender Erwide- rung: Mein Protagoras, was du da sagst, ist durchaus nichts Außergewöhnliches, sondern ziemlich selbstverständ- lich; denn auch du würdest ungeachtet deines stattlichen Alters und deiner hohen Weisheit an Tüchtigkeit zu- nehmen, wenn jemand dich unterwiese auf einem Gebiete, das dir noch unbekannt ist. Aber bleibe nicht bei dieser Art des Antwortens, sondern stelle dir z. B. vor, unser Hippokrates hier sähe sich auf einmal von einem ganz anderen Verlangen befallen, nämlich von dem, bei dem jungen, seit kurzem hier weilenden Maler Zeuxippos aus Heraklea®*) sich in die Lehre zu geben. Käme er nun zu diesem so wie jetzt zu dir, und vernähme er von ihm dasselbe wie jetzt von dir, nämlich daß er mit jedem Tage ‘des Zusammenseins an Tüchtigkeit zunehmen und Fort- schritte machen werde, so würde er weiter fragen: Worin meinst du, werde ich tüchtiger werden und Fortschritte machen ? und darauf vom Zeuxippos die Antwort erhalten:

„In der Malerei“. Und wenn er beim Thebaner Ortha-

goras“) Unterricht nehmen wollte und von ihm die gleiche Antwort bekäme wie von dir und darauf die weitere Frage an ihn richtete: Worin werde ich denn täglich tüchtiger werden durch den belehrenden Umgang mit dir? so würde jener antworten: „im Flötenspiel“. So also antworte auch du dem Jüngling und mir, der ich in seinem Namen folgende Frage an dich richte: Wenn Hippokrates durch seinen Umgang mit dem Protagoras gleich am ersten Tage, wo er mit ihm zusammen ist, als besserer Mensch von dannen gehen und an jedem weiteren Tage in gleicher ‘Weisse Fortschritte machen wird, worin wird er denn besser und in welcher Hinsicht? ΔῈ

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Platons Dialoge.

wi IV

Als Protagoras diese meine Worte vernommen, er- widerte er: Du bist ein geschickter Frager, Sokrates, und mir macht es Freude einem geschickten Frager zu antworten‘). Schließt sich Hippokrates an mich an, so wird es ihm nicht so ergehen, wie es der Fall sein würde, wenn er den Umgang mit irgend einem anderen Sophisten aufsuchte. Die anderen nämlich treiben ein schädliches Spiel mit den jungen Leuten. Denn eben erst den Künsten des Schulwissens“) glücklich entronnen, werden die Jüng- linge durch sie wider ihren Willen wieder in diese Fach- künste zurückgeworfien und müssen es sich gefallen lassen in Rechenkunst, Astronomie, Geometrie und Musik unter- richtet zu werden“) dabei warf er einen Seitenblick auf den Hippias5)) —, wenn aber Hippokrates zu mir kommt, so wird er nichts anderes lernen als worauf es ihm ankommt. Was aber bei mir erlernt wird, ist Wohl- beratenheit einerseits in den persönlichen Angelegenheiten, also Kunde dessen, wie das Haus am besten verwaltet wird, anderseits in den öffentlichen Angelegenheiten, also die möglichst große Befähigung die Staatsangelegenheiten durch Wort und Tat zu leiten.

Fasse ich deine Worte, erwiderte ich, auch richtig auf? Irre ich nämlich nicht, so meinst du damit die Staats- kunst und machst dich anheischig deine Schüler zu guten Staatsbürgern zu machen.

Damit triffst du, mein Sokrates, genau das, wozu ich mich anheischig mache.

10. Da hast du ja, entgegnete ich, einen wahren Zau- berstab in der Hand, wenn du ihn wirklich in der Hand hast. Denn ich will völlig offen gegen dich sein und nur sagen, was ich wirklich denke. Ich nämlich, mein Protagoras, war des Glaubens, dies sei nicht erlernbar°%); aber wie könnte ich deinen Worten den Glauben versagen ? Die Gründe aber, die mich bestimmen dies nicht für eine Sache zu halten, die erlernt werden und den Menschen durch Menschen beigebracht werden kann, bin ich schuldig

dir darzulegen. Ich halte nämlich in Übereinstimmung

319 5

Protsgoras. 53

mit den übrigen Hellenen die Athener für gescheite Leute. Nun sehe ich, daß diese, wenn wir zur Volksversammlung zusammentreten und der Staat in Bausachen etwas unter- nehmen will, die Baumeister als Ratgeber über die zu errichtenden Gebäude auftreten lassen, in Schiffsbauange- legenheiten dagegen die Schiffsbaumeister, und so auf allen anderen Gebieten, wo es sich um Dinge handelt, die ihrer Meinung nach erlernbar und lehrbar sind. Nimmt sich aber ein anderer heraus ihnen Rat zu erteilen, der ihrer Ansicht nach kein sachverständiger Werkmeister ist, so lassen sie sich das nicht gefallen, mag er auch noch so schön und reich und hochwohlgeboren sein, sondern lachen ihn aus und machen Spektakel, bis er entweder selbst, niedergedonnert durch den Lärm, von seinem Ver- suche zu reden absteht oder die Polizisten ihn von der Rednerbühne herunterziehen oder gar hinausbefördern auf Geheiß der Prytanen:). Bei allem also, wo es ihrer Meinung nach auf kunstmäßige Fachbildung ankommt, schlagen sie dies Verfahren ein; wenn es sich dagegen um eine Maßregel allgemeiner Staatsverwaltung handelt, 80 tritt jedermann bei ihnen als Ratgeber zur Sache auf, gleichviel ob Zimmermann, ob Schmied oder Schuster, ob Kaufmann oder Schifisherr, ob reich oder arm, ob von hoher oder niederer Geburt, und niemand ergeht sich gegen ihn wie gegenüber den Vorgenannten in Lästerungen darüber, daß er ohne jede Sachkenntnis und ohne jede Schulung durch einen berufenen Lehrer sich anmaßt als Ratgeber aufzutreten; denn sie halten das offenbar nicht für lehrbar. Und das bezieht sich nicht etwa bloß auf die allgemeinen Staatsangelegenheiten: auch in den per- sönlichen Angelegenheiten sind die einsichtsvollsten und tüchtigsten Bürger nicht imstande diese ihre Tüchtigkeit auf andere zu übertragen. Denn Perikles, der Vater dieser Jünglinge hier,: hat sie in allem, wobei es auf Unterweisung durch Lehrer ankommt, gut und trefflich heranbilden lassen, was aber das Gebiet seiner besonderen st. eigenen Einsicht anlangt, so bildet weder er selbst sie

54 Platons Dialoge.

heran, noch vertraut er sie einem anderen an, sondern wie frei weidendes Herdengetier streifen sie, sich selbst über- lassen, umher, um auf gut Glück der Tüchtigkeit teil- haftig zu werden). Oder nimm den Kleinias®), den jüngeren Bruder unseres Alkibiades hier: ihn trennte der nämliche Perikles als Vormund, aus Furcht, er könnte _ vom Alkibiades auf schlechte Wege gebracht werden, von diesem und gab ihn zur Erziehung in das Haus des Ariphron5); doch ehe noch sechs Monate abgelaufen, gab er ihn dem Alkibiades zurück, da er nichts mit ihm anzufangen wußte. Und so könnte ich dir noch viele andere nennen5°), die, selbst hervorragend durch Tüchtigkeit, nie- mandem zur Besserung verhelfen konnten weder von ihren Angehörigen noch von Fremden. Ich also, mein Protagoras, kann im Hinblick auf diese Tatsachen nicht glauben, daß die Tugend lehrbar sei. Da ich dich aber dies behaupten höre, werde ich unsicher und glaube, daß doch etwas daran ist; denn ich bin überzeugt, daß du eine reiche Erfahrung besitzest, viel gelernt und manches selbst erfunden hast. Kannst du uns also in einleuchtender Weise nachweisen, daß die Tüchtigkeit (Tugend) lehrbar ist, so enthalte uns diesen Nachweis nicht vor, sondern gib ihn uns.

Gut, mein Sokrates, versetzte er, er soll euch nicht vorenthalten werden. Aber soll ich euch, als älterer den jüngeren, den Nachweis geben durch Mitteilung eines Mythos, oder durch eine begriffsmäßige Erörterung ?

Darauf riefen ihm viele der ringsumher Sitzenden zu, er möge es damit halten wie er wolle.

So scheint es mir denn, erwiderte er, verlockender euch einen Mythos vorzutragen.

11. Es war einmal eine Zeit”), wo es zwar Götter gab, aber noch keinerlei Art von sterblichen Wesen. Als aber für diese die vom Schicksal bestimmte Zeit ihrer Erzeugung gekommen war, da formen die Götter im Inneren der Erde sie aus einer Mischung von Erde und Feuer und allem, was sich dem Feuer und der: Erde durch Mischung bei- gesellt. Als es nun so weit war, daß diese Geschöpfe au

21 St.

Protagoras, δὶ

das Tageslicht emporkommen sollten, gaben sie dem Prome- theus und dem KEpimetheus den Auftrag sie auszustatten und einem jeden die ihm nötigen Kräfte zuzuteilen 58), Epimetheus aber weiß durch Bitten den Prometheus zu bewegen ihm die Austeilung allein zu überlassen. Habe ich sie vollzogen, fügte er hinzu, so magst du sie nach- prüfen. Seine Bitte findet Erhörung und er nimmt die Verteilung vor. Dabei verfuhr er so: einigen verlieh er Stärke ohne Schnelligkeit, die Schwächeren hinwiederum versah er mit Schnelligkeit, den einen gewährte er Waffen, für die anderen, denen er eine wehrlose Natur gab, ersann er irgend ein anderes Schutzmittel. Denjenigen nämlich von ihnen, die er mit kleiner Gestalt bekleidete, schenkte er Flügel zur Flucht oder unterirdische Wohnstätte; den- jenigen dagegen, die er durch Größe auszeichnete, gewährte er eben durch diese ihre Größe auch Sicherheit. Und so vollzog er die Austeilung aller übrigen Gaben mit aus-

gleichender Gerechtigkeit. Bei diesem Verfahren war er

aber mit aller Vorsicht darauf bedacht, daß keine Gattung etwa dem Untergange geweiht wäre. Nachdem er ihnen nämlich ausreichenden Schutz gegen die Vernichtung im Kampfe miteinander gewährt, sann er darauf ihnen den Wechsel der Witterung erträglich zu machen. Zu dem Ende umkleidete er die einen mit dichten Haaren und starken Fellen, hinreichend zum Schutze gegen die Winter- kälte und geeignet auch zur Abwehr der Hitze; und wenn sie sich ihrer Lagerstätte zuwandten, so sollten eben diese Schutzmittel ihnen zugleich als eigene und von der Natur selbst mitgegebene Decke dienen; ihr Fußwerk aber sicherte er teils durch Hufe, teils durch starke und blutlose Häute. Des weiteren sodann verschaffte er ihnen Nahrung, den einen diese den anderen jene, den einen die Kräuter der Erde, anderen Früchte von Bäumen, wieder anderen Wur- zeln; und einigen sollten andere Tiere zur Nahrung dienen; die Zahl dieser reißenden Tiere schränkte er auf ein geringes Maß ein, wogegen die ihnen zur Beute dienenden mit großer Fruchtbarkeit bedacht wurden, um die Gattung

un

56 Platons Dialoge.

vor dem Untergang zu bewahren. Epimetheus nun, mit Blindheit geschlagen, bemerkte nicht, daß er seinen Vorrat an schutzkräftigen Gaben schon völlig aufgebraucht hatte, ehe noch das Menschengeschlecht ausgestattet war, das nun allein noch übrig war; so war er denn ratlos, was er mit ilınen aniangen sollte. Wie er so nicht ein und nicht aus wußte, nahet sich ihm Prometheus in der Ab-

sicht, die Verteilung nachzuprüfen. Alle anderen Geschöpfe

nun findet er wohl versehen mit allem Nötigen, den Menschen aber nackend, ohne Schutz für die Füße, ohne Decke und Wehr. Und schon war auch der vom Schicksal bestimmte Tag erschienen, an dem auch der Mensch aus der Erde ans Tageslicht hervortreten sollte. In seiner Bedrängnis und Ratlosigkeit über das Schutzmittel, das er für den Menschen ausfindig machen sollte. stiehlt nun Prometheus die kunstreiche Weisheit des Hephaistos und der Athene mitsamt dem Feuer denn ohne Feuer konnte sich niemand in den Besitz dieser Weisheit setzen und sie sich nutzbar machen und so beschenkt er den damit den Menschen. Dadurch gewann denn der Mensch zwar die zur Erhaltung des Lebens nötige Einsicht, auer ἀκ staatsbürgerliche hatte er noch nicht. Denn sie war hoch oben in der Hut des Zeus; und in die Burg, die hohe Behausung des Zeus einzudringen war auch dem Prome- theus nicht möglich, zumal sie auch außerdem noch durch furchtbare Wachen gesichert war’). Wohl aber gelingt es ihm, heimlich in die gemeinsame Behausung der Athene und des Hephaistos einzudringen®), diese Werkstätte für ihre Kunstliebe. Da stiehlt er die Feuerkunst des Hephai- stos und die anders geartete Kunst der Athene und macht sie dem Menschen zum Geschenk. Und damit wird der Grund gelegt zu der leiblichen Wohlfahrt des Menschen, den Prometheus aber traf später infolge der Torheit des Epimetheus, wie die Sage erzählt, die Strafe für den Diebstahl.

12. Da aber der Mensch nun göttlicher Güter teil- haftig geworden war, war er erstens unter allen Geschöpfen

332 St

Protagoras, 57

wegen dieser Verwandtschaft mit den Göttern das einzige, das an Götter glaubte, und machte sich daran den Göttern Altäre und Standbilder zu errichten. Ferner schied und gliederte er auch bald die Laute der Stimme und ges'altete sie zu Worten; auch Wohnstätten, Kleider, Schuhe und Nahrung aus der Erde wußte er sich zu schaffen. So ausgerüstet wohnten die Menschen anfangs noch zerstreut, und Städte gab es noch nicht. Sie wurden daher eine Beute der wilden Tiere, weil sie ihnen durchweg an Kraft unter- legen waren; denn ihre kunstmäßige Geschicklichkeit bot ihnen zwar für den Lebensunterhalt hinreichende Sicherung, für den Kampf aber gegen die wilden Tiere war sie un- zureichend. Denn noch fehlte ihnen die staatsbürgerliche Kunst“), von der die Kriegskunst einen Teil ausmacht. So waren sie denn von dem Wunsche beseelt sich zusammen- zutun und zu sichern durch Gründung von Städten. Jedesmal aber, wenn sie sich zusammentaten, kam es zu Vergehungen und Beleidigungen gegeneinander, denn noch waren sie nicht im Besitz der staatsbürgerlichen Kunst; sie zerstreuten sich also bald wieder und fielen so dem - Verderben anheim. Dem Zeus also ward bange un das Menschengeschlecht, dessen völliger Untergang sich vor- zubereiten schien; darum entsandte er den Hermes als Bringer der Scham und des Rechtes an die Menschen, auf daß durch diese den Staaten Ordnung und freundschaft-

licher Zusammenhalt zuteil werde. So fragt denn Hermes

den Zeus, auf welche Art er Recht und Scham an die Menschen verleihen solle. Soll ich mich hierbei, fragt er, nach dem Muster richten, das die Verteilung der Künste bietet? Diese Verteilung ist folgender Art: ein Einzelner, der im Besitz der ärztlichen Kunst ist, reicht aus für viele Laien, und so steht es auch mit den anderen Werkmeistern. Soll ich es nun mit der Gründung von Recht und Scham unter den Menschen ebenso halten, oder soll ich sie an alle austeilen? An alle, erwiderte Zeus, und jeder soll daran teil haben. Denn nie wird es zum Bestehen von Staaten kommen, wenn nur wenige

58 Platons Dialoge,

jener Güter teilhaitig sind wie bei den anderen Künsten. Ja, du sollst in meinem Namen das Gesetz geben, dab, wer nicht imstande sei sich Scham und Recht zu eigen zu machen, dem Tod verfallen sei; denn er ist ein Geschwür am Leibe des Staates.

So kommt es denn, mein Sokrates, und aus diesen Gründen leitet es sich her, daß wie alle anderen Menschen so auch die Athener, wenn es sich um bewährte Tüchtig- keit in der Baukunst oder einer anderen Fachkunst han- delt, meinen, nur einige wenige seien zu Ratgebern be- rufen; und wagt sich einer als Ratgeber hervor, der nicht zu diesen wenigen gehört, so lassen sie sich das nicht gefallen, wie du sagst, und zwar mit Recht nach meiner Meinung. Wenn sie ‘dagegen zu einer Beratung zusammentreten, zu der die Voraussetzung nur staats- bürgerliche Tüchtigkeit überhaupt bildet, wobei es also eben ganz auf Gerechtigkeit und Besonnenheit ankommt,

da lassen sie sich mit Recht das Auftreten eines jeden

gefallen, weil jedermann dieser Tüchtigkeit teilhaftig sein muß, wenn es überhaupt Staaten geben soll. Das, mein Sokrates, ist der Grund für die fragliche Sache.

Damit du aber nicht meinest, es sei nur darauf abgelegt dich zu täuschen, so vernimm auch noch den folgenden Beweis für die Behauptung, daß die Menschen durchweg g'aubcn, jedermann habe Anteil an der Gerechtigkeit und der sonstigen staatsbürgerlichen Tugend. Auf allen anderen Gebieten nämlich verhält es sich mit der Tüchtigkeit so wie du sagst: wenn einer sich für einen guten Flötenspieler ausgibt oder für einen Meister in sonst einer Kunst, ohne es zu sein, so lacht man ihn entweder aus oder ärgert sich über ihn, ja die eigenen Angehörigen kommen und setzen ihm den Kopf zurecht wie einem Wähnwitzigen; handelt es sich aber um Gerechtigkeit und um die sonstige bürger- liche Tugend, so mag einer noch so allgemein als unge- rechter Mann bekannt sein, man hält trotzdem, wenn er in Gegenwart vieler von ‚sich selbst die Wahrheit sagt, das, was man in jenem Falle für geboten und ver-

523 St,

824 St

Protugoras. ζ0

nunfigemäß hielt, in diesem Falle für Verrücktheit, denn man sagt, jeder müsse sich selbst für einen gerechten Mann ausgeben, gleichviel ob er es wirklich ist oder nicht, und wer sich nicht für gerecht erkläre, der sei nicht bei Sinnen, denn jeder ohne Ausnahme müsse irgend- wie an der Gerechtigkeit Anteil haben, wenn er über- haupt in Gemeinschaft mit anderen leben wolle“).

15. Dies mag genügen zum Nachweis, dab man mit Recht, wo es sich um diese Tugend handelt, sich jeden als Ratgeber gefallen läßt, da man einem jeden seinen An- teil daran zuschreibt. Daß man aber anderseits auch nicht glaubt, sie sei ein bloßes Geschenk der Natur oder stelle sich von selbst ein, sondern sie müsse durch Belehrung erworben werden, und wer ihrer teilhaftig werde, der habe dies nur seinem regen Bildungseifer zu verdanken, Was will ich dir nunmehr darzutun suchen. Wo es sich nämlich um menschliche Schwächen und Gebrechen handelt, Cie man auf Rechnung der Natur oder des Zufalls setzt, da fühlt sich niemand zum Zorne veranlaßt gegen die damit Behafteten, auch kommt man ihnen nicht mit Mah- nungen, Belehrungen und Strafe, um sie zu bessern, sondern man hat Mitleid mit ihnen. Wie wäre z.B. jemand so unvernünftig, gegen häßliche oder kleine oder schwächliche Menschen sich ein derartiges Verhalten zu erlauben? Denn man weiß, dächt’ ich, daß Eigenschaften dieser Art den Menschen von Natur oder durch Zufall zuteil werden, die Vorzüge sowohl wie die gegenteiligen Fehler. Ganz anders sieht es mit allen den menschlichen Vorzügen, die man für Früchte des Fleißes, der Übung und der Unterweisung ansieht: wenn einer diese nicht besitzt, sondern die gegenteiligen Fehler, dann führt das zu Zornesausbrüchen, Strafen und Mahnungen. Und zu diesen Fehlern gehört als einer auch die Ungerechtigkeit

‚und die Gottlosigkeit; wie überhaupt alles was der bür-

gerlichen Tugend entgegengesetzt ist; und hier zürnt denn auch jeder jedem und läßt seine Mahnungen über ihn ergeben, olienbar in.der Überzeugung, daß sie ein durch

60 Platons Dialoge

Strebsamkeit und Belehrung zu erwerbendes Gut ist. Du brauchst, mein Sokrates, dein Augenmerk nur auf die Bestrafung der Übeltäter zu richten und dich zu fragen, was es damit auf sich habe: da wirst du alsbald die Lehre daraus ziehen, daß die Menschen die Tugend für ein Gut halten, das man sich erwerben kann. Straft ja doch niemand den Missetäter im Hinblick darauf und um deswillen, weil er sich vergangen hat denn das Geschehene kann er nicht ungeschehen machen son- dern um des künftigen willen, auf daß weder der Täter selbst wieder Unrecht tue noch ein anderer, der Zeuge seiner Züchtigung wars). Und wenn er so. denkt, so hält er die Tugend für ein durch Erziehung erlangbares Gut; denn er straft der Abschreckung wegen. Dieser Ansicht sind nun alle, welche Strafen verhängen, sei es im eigenen Hause oder im Staate. Überall aber in der Welt straft und züchtigt man diejenigen, die man eines Frevels für schuldig hält und nicht am wenigsten geschieht dies in Athen von seiten deiner Mitbürger. Hat es damit seine Richtigkeit, so gehören demnach auch die Athener zu denjenigen, die da glauben, die Tugend lasse sich erwerben und durch Lehre gewinnen. Dab deine Mitbürger also mit Recht in staatsbürgerlichen An- gelegenheiten sich den Rat eines Schmiedes und Schusters geiallen lassen und daß sie die Tugend für etwas halten, das lehrbar und durch eigenes Bemühen erreichbar ist, das ist dir nun, mein Sokrates, zur Genüge dargetan, wie es mir wenigstens scheint.

14. Noch bleibt nun die heikele Frage zu lösen, die sich auf die durch Tüchtigkeit hervorragenden Männer bezieht. Wie kommt es, so frägst du‘), daß die tüchtigen Männer ihren eigenen Söhnen alles das beibringen, wo- bei es auf die Unterweisung durch Lehrer ankommt, und ihnen die Pforten der Weisheit öffnen, dagegen auf dem Felde, wo ihre eigentliche Stärke und Tüchtigkeit liegt, sie nicht über die Stufe zu .erheben wissen, auf der auch jeder beliebige andere steht? Was nun diesen Punkt

25 St.

Protagorns,. 61

anlangt, mein Sokrates, so will ich dir nicht wieder mit einer Märchenerzählung antworten, sondern mit einer sachlichen Erörterung. Sieh dir nämlich die Sache von folgender Seite an. Gibt es oder gibt es nicht ein Gut, dessen sämtliche Bürger teilhaftig sein müssen, wenn ein Staat Bestand haben soll? Hierin oder sonst nirgends liegt der Schlüssel zur Lösung deines Bedenkens. Ver- stehe dich einmal zu der Annahme: es gibt ein solches einzigartiges Gut, und dies ist weder die Baukunst noch die Schmiede- oder Töpferkunst, sondern die Gerechtigkeit, die Besonnenheit und Frömmigkeit, oder mit einem Wort die Mannestugend. Ist es nun diese, deren alle teilhaftig sein müssen, und mub jedermann, auch wenn er etwas anderes erlernen oder vollbringen will, es stets nur im Bunde mit dieser tun, nie aber ohne sie wo nicht, so muß man den Betreffenden, gleichviel ob Knabe, Mann oder Weib, so lange belehren und züchtigen, bis er sich infolge der Züchtigung bessert, ist ihm aber durch Züch- tigung und Belehrung nicht beizukommen, so muß man ihn als unheilbar aus der Stadt verbannen oder töten wenn es sich also dermaßen verhält, und wenn trotz dieses Sachverhaltes die durch Tüchtigkeit hervorragenden Männer ihre Söhne zwar auf allen anderen Gebieten un- terweisen lassen, auf diesem aber nicht, so betrachte dir die wunderliche Lage, in der sich die tüchtigen Männer befinden. Denn daß man die Sache allgemein sowohl im persönlichen wie im öffentlichen Leben für lehrbar hält, haben wir dargetan; doch trotz dieser ihrer Lehr- barkeit und der Möglichkeit sie durch sorgfältige Er- ziehung einem mitzuteilen, lassen sie nun ihre Söhne zwar in allem anderen, wo im Falle der Unwissenheit von Todesstrafe nicht die Rede ist, unterweisen; hin- gegen da, wo Unwissenheit und Mangel an sittlicher Bildung für ihre Söhne Todesstrafe und Verbannung und außerdem auch noch Vermögenseinziehung, kurz und gut den Ruin ganzer Familien zur Folge hat, darin sollen sie sıe nicht unterrichten lassen und nicht ihre ganze

-.-ο-.....

62 Platous Dialoge.

Sorge ihnen zuwenden? Das sollte man ihnen doch zu- trauen, mein Sokrates. |

15. Gleich nach der Geburt der Kinder beginnen sie doch mit deren Erziehung und stehen ihnen solange sie leben, mit ihren Lehren und Verwarnungen zur Seite. Sobald das Kind die gehörten Worte versteht, sind Amme, Mutter, :. Aufseher und der Vater selbst wetteifernd be-

müht, das Kind so wohlgesittet wie möglich zu machen,

indem sie alles, was.es tut und spricht, mit ihren Lehren begleiten und ihm Anweisung geben: das ist recht, das unrecht, das schön, das häßlich, dies gottgefällig, dies gottlos, das mußt du tun, das dagegen lassen. Und

folgt es willig, dann gut; wo nicht, so renkt man es

wie verbogenes und gekrümmtes Holz durch Drohungen und Schläge wieder gerade. Wenn sie sie dann in die Schule schicken, so verlangen sie von dem Lehrer weit dringender, daß er auf gute Führung ihrer Kinder bedacht sei als auf Lesen, Schreiben und Zitherspiel. Die Lehrer aber haben darauf acht, und sind die Kinder so weit, daß sie die Buchstaben erlernt haben und Geschriebenes demnächst so gut verstehen werden wie vordem die münd- liche Rede, so legen sie ihnen auf den Schulbänken die Werke guter Dichter zum Lesen und Auswendiglernen vor, in denen sich viele gute Lehren finden, auch viele eingehende Schilderungen und Verherrlichungen und Lob- preisungen trefilicher Männer‘) vergangener Zeiten; denn ihnen soll der Knabe nacheifern und ihnen ähnlich zu werden bestrebt sein. Und ein ähnliches Ziel verfolgen auch die Lehrer des Saitenspiels; denn ihr Absehen ist auf Maß und Sittsamkeit gerichtet, sowie darauf, daß die Knaben nicht auf falsche Wege geraten. Zudem legen sie ihnen, wenn sie das Zitherspielen erlernt haben, auch ihrerseits Werke von Dichtern vor, und zwar von anderen Dichtern, nämlich von Iyrischen, sie der Melodie an- passend, und sie verabsäumen nichts, um den Seelen der Knaben den Sinn für Takt und Harmonie fest einzu- prägen, auf daß sie sanfter, taktvoller und, harmonischer

326 St.

Protegoras. 65

werden und dadurch tauglicher zum Reden und Handeln; denn das ganze Leben der Menschen bedarf einer wohl abgemessenen und harmonischen Gestaltung‘). Außerdem schicken 'sie die Knaben auch noch zum Turnlehrer in die Schule, auf daß sie, körperlich gedeihend und ge- kräftigt, einer edlen Sinnesart huldigen und nicht in die Lage kommen wegen körperlicher Unzulänglichkeit im Kriege und bei ihren sonstigen Betätigungen zaghaft zu versagen. Und diejenigen, die am meisten vermögen, fol- gen auch am ausgiebigsten diesen Grundsätzen; am meisten aber vermögen die Reichsten, und deren Söhne sind es denn auch, die zuerst unter ihren Altersgenossen in die Schule eintreten und zuletzt aus ihr ausscheiden. Sind sie aber aus der Schule entlassen, so zwingt sie der Staat sich mit den Gesetzen genau bekannt zu machen und ihre Lebensführung nach ihnen zu regeln, auf daß sie in ihren Handlungen nicht blindlings ihrem eigenen Willen folgen. Vielmehr soll es dabei ganz ähnlich hergehen wie beim Elementarlehrer, der mit dem Griffel den noch nicht schreibfertigen Kindern Linien zieht und sie zwingt ' sich mit ihren Schreibversuchen nach diesen Linien zu richten: so hat auch der Staat als Richtschnur die Ge- setze aufgestellt, diese Geistesdenkmale trefflicher alter Gesetzgeber, und zwingt einen jeden nach ihnen sein Amt zu führen und sich führen zu lassen; und wer sich dem nicht fügt, den trifft Strafe. Für diese Strafe ist bei euch wie auch vielfach anderwärts der Name Zurecht- weisung (εὔϑυνα) üblich, weil das Recht den geraden Weg anweist. Angesichts nun dieser umfassenden per- sönlichen und staatlichen Fürsorge für die Tugend wun- . derst du dich, mein Sokrates, und kannst dich nicht darein finden, daß die Tugend lehrbar sei? Nein, nicht das ist Grund zur Verwunderung, sondern weit mehr müßte man sich wundern, wenn sie nicht lehrbar wäre. ‚16. Wie kommt es nun, daß so oft tüchtige Väter schlecht geratene Söhne haben? Auch darüber laß dich belehren. Es ist dies nämlich nichts Wunderbares, wenn

64 Platons Dialoge

anders ich in meiner früheren Ausführung”) die Wahr- heit sagte, mit der Behauptung nämlich, es dürfe, wenn ein Staat Bestand haben soll, sich niemand der Gemein- schaft mit dieser Sache, nämlich der Tugend, entziehen.

327 St.

Denn wenn es sich damit so verhält, wie ich sage das

aber ist über jeden Zweifel erhaben —, so überlege dir die Sache mit Hilfe eines Beispiels, das von irgend einer anderen Beschäftigung oder Wissenschaft hergenommen ist. Setze den Fall, es könnte kein Staat Bestand haben, wenn wir nicht alle Flötenbläser wären, soweit dies für einen jeden seiner Fähigkeit nach möglich wäre, und es unterwiese darin ein jeder den anderen sowohl da- heim wie auch von Staats wegen, sparte auch nicht mit Vorwürfen gegen den Stümper in dieser Kunst und wäre in bezug auf sie ebenso neidlos und mitteilsam, wie es derzeit jeder in Beziehung auf Rechtlichkeit und Ge- setzlichkeit ist, für die es kein Geheimhalten gibt wie bei den übrigen Künsten denn Gerechtigkeit und Tu- gend, dächt’ ich, bringt uns gegenseitigen Nutzen, wes- halb denn jeder gern dem anderen Auskunft und Be- lehrung erteilt über Recht und Gesetz gesetzt also, wir zeigten auch in der Flötenkunst diese neidlose Be- reitwilligkeit zu gegenseitiger Belehrung, glaubst du etwa, Sokrates, die Söhne der guten Flötenspieler würden dann wohl in höherem Grade gute Flötenspieler werden als die der schlechten? Ich glaube es nicht, sondern wessen Sohn von der Natur mit der besten Anlage für das Flötenspiel ausgestattet wäre, der würde sich auch durch seine Fortschritte einen Namen machen, der nicht Be- anlagte dagegen würde im Dunkel bleiben und oft genug würde es vorkommen, daß der Sohn eines guten Flöten- spielers ein schlechter, der Sohn eines schlechten dagegen ein guter Flötenspieler würde Aber so viel ist gewiß: sie alle würden doch immer noch ausreichend Flöten- spieler sein im Vergleich zu denen, die dem Flötenspiel als vollständ’ge Laien gegenüberstünden und gar nichts davon verstünden. So sei überzeugt, daß auch in unserer

σε

Protagoras, 65

jetzigen Welt der scheinbar ungerechteste Mensch inner- halb der gesetzmäßig erzogenen Menschheit immerhin noch gerecht und ein Mitarbeiter an der Gerechtigkeit sein dürfte, wenn man ihn mit Menschen vergleicht, die von Erziehung nichts wissen, keine Gerichte, keine Gesetze, keinen Zwang kennen, der sie nötigt sich unter allen Umständen der Tugend zu befleißigen, sondern die in völliger Wildheit leben, ähnlich denen, welche der Dichter Pherekrates#) vorm Jahre am Lenäenfest auf die Bühne brachte. Gerietest du unter Menschen dieser Art, wie jene Menschenfeinde, die mit jenem Chor zusammentrafen, dann würdest du geradezu beglückt sein, wenn du etwa auf einen Eurybatos und Phrynondas*°) stießest und wür- dest in Wehklagen ausbrechen vor Sehnsucht nach der Schlechtigkeit deiner Mitbürger. So aber bist du eben verwöhnt, Sokrates, weil jedermann ein Lehrer der Tu- gend ist, soweit er dazu fähig ist, und willst keinen dafür gelten lassen. Es ist etwa so, als suchtest du nach einem

. Lehrer im Griechischsprechen%): es würde sich keiner

finden, und ähnlich, glaube ich, würde es dir ergehen,

- wenn du einen Lehrer suchtest für Söhne von Handwerkern

in der nämlichen Kunst, die sie schon von ihrem - Vater erlernt haben, soweit die Fähigkeit dieses ihres Vaters. und der Kunstgenossen des Vaters dazu reichte: es würde, mein Sokrates, nicht leicht sein einen Lehrer für sie zu finden, während sich für die noch völlig Unkundigen mit größter Leichtigkeit ein solcher finden würde. So steht es denn auch mit der Tugend und mit allem anderen. Man muß schon zufrieden sein, wenn unter uns einer auftritt, der sich besser als andere auf fördernde Be- . lehrung in der Tugend versteht. Und von diesen glaube auch ich einer zu sein und halte mich vor anderen dazu berufen, den Menschen in ihrem Streben nach dem Schönen und Guten nützlich zu sein, und das Lehrgeld, das ich dafür fordere, ist eher zu niedrig als zu hoch, auch nach der Ansicht der Schüler selbst. Daher habe ich für die Einziehung des Lehrgeldes mir folgendes Verfahren zu- Apelt, Platon Protagoras. Phil, Bibl, Bd. 175. 5

N

f

66 Platons Dialoge.

recht gelegt: hat jemand meinen Unterricht genossen, so zahlt er, wenn er einverstanden ist, den von mir geforderten Betrag; wo nicht, so verfügt er sich in einen Tempel, erklärt eidlich,. wie hoch er den Wert meines Unterrichts schätzt und erlegt die entsprechende Summe’”*).

So habe ich dir denn, mein Sokrates, nicht nur durch eine erfundene Erzählung, sondern auch durch einen sach- lichen Nachweis dargetan, daß die Tugend etwas Erlern- bares ist und von den Athenern auch dafür gehalten wird, und ferner, daß es nicht zu verwundern ist, wenn trefi- liche Väter schlechte Söhne und schlechte Väter treffliche Söhne haben. Haben doch auch des Polykleitos Söhne, die Altersgenossen des Paralos und Xanthippos hier’?2), nichts von dem Talent ihres Vaters geerbt und so steht es auch mit den Söhnen von Meistern anderer Künste. Aber den Söhnen des Perikles hier darf man noch nicht einen derartigen Vorwurf machen. Denn sie geben der Hoffnung noch Raum, da sie noch jung sind.

17. Damit beschloß Protagoras seine nach Umfang und Inhalt so reichhaltige Rede. Und ich blickte noch lange Zeit ganz entzückt auf ihn hin in der Erwartung, er würde noch weiter reden, voller Begierde ihn zu hören. Als ich aber denn doch merkte, daß er wirklich geschlossen hatte, sammelte ich mich endlich wieder, so schwer es mir auch wurde, und sagte zum Hippokrates gewendet: ‚Wie dankbar bin ich dir, du Sohn des Apollodoros, daß du mich veranlaßt hast mit hierher zu kommen. Denn ich erachte es für einen großen Gewinn das gehört zu haben, was ich eben vom Protagoras vernommen habe. War ich doch bisher der Meinung, es sei nicht mensch-

liche Fürsorge, durch welche die Guten gut würden;

jetzt aber bin ich davon überzeugt. Nur eine Kleinig- keit?®) ist mir noch im Wege, über die mich Prota- goras leicht aufklären wird, da er mir ja über so vieles Aulfschluß gegeben hat. Wenn sich nämlich jemand über eben diese Fragen mit einem: unserer Volksredner unter-

halten wollte, so würde er vielleicht auch solche Reden 399 :

Protagoras. 67

zu hören bekommen, sei es von Perikles oder einem an- deren bedeutenden Redner. Wenn er aber daran noch weitere Fragen knüpfen wollte, so wissen sie, den Büchern gleich, weder zu antworten noch selbst zu fragen, sondern wenn einer auch nur die kleinste nachträgliche Frage über das Vorgetragene an sie richtet, dann gleichen diese Redner den Erzplatten, die, wenn man sie anschlägt, lange noch nachklingen und forttönen, so lange man-sie nicht mit kräftigem Griffe anfaßt’‘); denn auch sie machen, nach einer Kleinigkeit gefragt, ihre Antwort zu einer wahren Dauerrede. Unser Protagoras hier aber versteht sich nicht nur darauf lange, schöne Reden zu halten, wie das Gehörte sie zeigt, sondern auch auf Fragen kurz zu antworten, und wenn er selber fragt, mit Geduld die Antwort abzuwarten, ein Vorzug, der nur wenigen be- schieden ist. Jetzt nun, mein Protagoras, fehlt nur noch eine Kleinigkeit. Ich werde also vollständig befriedigt sein, wenn du. mir folgende Frage beantwortest. Du be- hauptest, die Tugend sei lehrbar und ich glaube dir das; denn wem sollte ich sonst glauben, wenn ich dir nicht ‚glaube? Worüber ich aber bei dieser Behauptung. nicht recht hinwegkomme, darüber mußt du meine Seele be- ruhigen. Du sagtest nämlich, Zeus habe den Menschen die Gerechtigkeit und Scham gesandt, und mehrfach wurde in deinen Ausführungen behauptet, die Gerechtigkeit, Besonnenheit und Frömmigkeit bildeten zusammen eine Einheit, nämlich die Tugend”). Darüber nun gib mir genauen Aufschluß, ob die Tugend zwar eine Einheit ist, aber doch nur so, daß die Gerechtigkeit, Besonnen- heit und Frömmigkeit Teile von ihr sind’), oder ob die eben genannten Tugenden alle nur verschiedene Namen sind für die eine und gleiche Sache. Das ist es, was ich noch vermisse. |

18. Nun, mein Sokrates, erwiderte er, darauf ist die Antwort leicht gegeben: die Seelenbeschaffenheiten, nach denen du fragst, sind Teile jenes Einen, nämlich der Tugend. "Ἢ [51

5*

08 Flatons Dialoge.

Verhält es sich nun, versetzte ich, mit diesen Teilen so wie mit den Teilen des Gesichtes, mit Mund, Nase, Augen und Ohren, oder unterscheiden sich diese Teile so wie die Teile des Goldes durch nichts weder voneinander noch von dem Ganzen als durch Größe und Kleinheit

Es ist, Sokrates, wie mir scheint, ein Verhältnis der ersteren Art, also wie das der Teile des Gesichts zum ganzen Gesicht.

Wie steht es nun? fuhr ich fort. Terlangen die Men- schen von diesen Teilen der Tugend die einen diesen, die anderen jenen Teil, oder kommt man, wenn man einen erlangt hat, notwendig zugleich in den Besitz aller

Durchaus nicht, erwiderte er, denn viele sind tapfer, aber dabei doch ungerecht, und anderseits gerecht, dabei aber doch nicht weise. |

Also auch das sind Teile der ΤΠ fuhr ich fort, Weisheit und Tapferkeit?

Eben diese erst recht, versetzte er. Und die ‚Weis- heit ist der allerwichtigste dieser Teile.

530 S

Jeder dieser Teile aber ist, fuhr ich fort, etwas

Besonderes, von dem anderen Verschiedenes?

Ja. Hat auch jeder seine eigene Bestimmung und Wir- kungsweise, wie die Teile des Gesichtes? Das Auge ist doch seiner Beschaffenheit nach etwas anderes als die Ohren und die Bestimmung beider ist nicht dieselbe; und auch von den übrigen Teilen ist keiner dem anderen gleich weder seiner Wirkungsweise nach noch in den sonstigen Beziehungen. Steht es nun auch so mit den Teilen der Tugend, daß sie einander nicht gleichen, weder an sich noch ihrer Bestimmung nach? Oder bedarf es da überhaupt erst noch einer Frage, wenn sie doch mit dem Musterbeispiel in Einklang bleiben sollen ?

Ja, in der Tat verhält es sich damit so, erwiderte er.

Und ich fuhr nun fort: keiner der Teile der Tugend gleicht also dem anderen; keiner gleicht also der Ein-

Protagoras. 69

sicht (Weisheit), keiner der Gerechtigkeit, keiner der Tapferkeit, keiner der Besonnenheit, keiner der Frömmig- keit.

Nein, sagte er.

Wohlan, sagte ich, laß uns gemeinsam die Eigenart eines jeden betrachten. Und der Anfang mag folgender sein: Ist die Gerechtigkeit ein bestimmtes Etwas oder kein solches? Mir scheint es so, wie aber dir?

Auch mir, erwiderte er.

Wie nun, wenn jemand an mich und dich die Frage richtete: Protagoras und Sokrates, sagt mir doch, ist mit diesem bestimmten Etwas, der Gerechtigkeit, wie ihr es eben nanntet, eben dieses Merkmal verbunden, gerecht zu sein’), oder ungerecht? Ich würde ihm antworten: gerecht. Und wie würdest du dich entscheiden ? Ebenso oder anders?

Ebenso, versetzte er.

Die Gerechtigkeit ist also ebensoviel wie Gerecht- sein, würde ich dem Frager zur Antwort. geben; und du nicht gleichfalls ?

Ja, sagte er.

Wenn er uns nun weiter fragte: Nicht wahr, auch eine Tugend der Frömmigkeit gibt es doch nach euerer Behauptung? so würden wir das zugeben, dächt’ ich.

Ja, versicherte er.

Ist auch diese euerer Meinung nach ein bestimmtes Etwas? Würden wir das zugeben oder nicht?

Auch das würden wir zugeben.

Ist nun dieses bestimmte Etwas an und für sich seiner Natur nach so beschaffen, daß es gottlos ist, oder so, daB es fromm ist? Wenn er so fortfahren wollte, dann würde ich, entrüstet über solche Frage, ihm zu- rufen: „Schweig still, du Elender; wenn die Frömmig- keit selbst nichts Frommes ist, was soll denn dann sonst noch fromm sein?“ Und du, würdest du nicht ebenso antworten ? | | |

Ganz entschieden, versicherte er.

70 Platons Dialoge.

19: Wenn. er nun darauf uns weiter fragte: "Wie hieß es denn kurz vorher? Habe ich etwa nicht richtig gehört? Irre ich nicht, so behauptetet ihr doch, die Teile der Tugend verhielten sich so zueinander, daß keiner dem anderen gleiche. Darauf würde ich ihm antworten: Im übrigen hast du richtig gehört, wenn du aber meinst, ich hätte dies behauptet, so hat dich dein Gehör darin betrogen. Denn Protagoras hier war es, der dies be- hauptete, ich war nur der Fragende. Wenn er also sagte: Ist es wahr, Protagoras, was dieser da sagt? Bist du es der da behauptet, die Teile der Tugend glichen ein- ander nicht? Ist das deine Ansicht? Was würdest du ihm antworten ? τ ᾿

Ich könnte nicht anders, Sokrates, als es ihm ein- räumen. |

Was also, mein Protagoras, werden wir ihm nach diesem Zugeständnis antworten, wenn er folgendermaßen zu fragen fortführe: So ist also die Frömmigkeit nicht von der Art, daß sie etwas Gerechtes ist, und die Ge- rechtigkeit nicht von der Art, daß sie etwas Frommes

ist, sondern etwas Nichtfrommes; und die Frömmigkeit

etwas was nicht gerecht, also ungerecht ist, und die Ge- rechtigkeit etwas Gottloses? Was sollen wir ihm darauf

antworten? Ich für mein Teil wenigstens würde erwidern,

sowohl die Gerechtigkeit sei etwas Frommes wie auch die Frömmigkeit etwas Gerechtes’s). Und auch in deinem Namen würde ich, deine Erlaubnis vorausgesetzt, die nämliche Antwort geben, daß die Gerechtigkeit entweder

dasselbe ist wie die Frömmigkeit oder ihr so ähnlich

wie nur möglich, und daß es nichts gibt, was der Frömmig- keit seinem Wesen nach so verwandt wäre wie die Ge- rechtigkeit und der Gerechtigkeit so verwandt wie die Frömmigkeit. Entscheide dich nun, ob du gegen diese Antwort etwas einzuwenden hast oder ob auch du so denkst.

Mir scheint, erwiderte er, mein Sokrates, die Sache denn doch nicht selbstverständlich genug zu sein, um

332 St.

Protagoras. 11

einzuräumen, daß die Gerechtigkeit etwas Frommes und die Frömmigkeit etwas Gerechtes sei, sondern es scheint mir dabei noch ein Unterschied vorzuliegen. Doch was kommt es darauf an? sagte er; denn wenn es dir beliebt, mag uns auch die Gerechtigkeit als fromm und die Frömmigkeit als gerecht gelten.

Mir nicht, versetzte ich; denn ich lege für die Un- tersuchung gar kein Gewicht auf dies „wenn es dir be- liebt“ oder „wenn es dir so scheint“, dagegen alles Ge- wicht darauf, daß das wirkliche Ich und Du der Prüfung unterworfen werde. Wenn ich aber sage Ich und Du, so meine ich damit die Sache selbst; diese nämlich wird am besten geprüft, wenn man dies ‚Wenn aus ihr aus- scheidet 9),

Nun, es gleicht, sagte er, die Gerechtigkeit in der Tat in gewisser Beziehung der Frömmigkeit; denn in irgend einer Beziehung gleicht jedes Ding dem anderen®®). Gleicht doch in gewisser Beziehung auch das Weiße dem Schwarzen und das Harte dem Weichen und so weiter bei allen auch noch so scharfen Gegensatzpaaren. Und auch die Teile des Gesichtes, von denen wir seiner Zeit behaupteten, sie hätten jeder seine besondere Bestimmung und seien einander nicht gleich auch sie sind in gewissem Sinne sich ähnlich und gleichen einander. Mit- hin könntest du auf diese Art, wenn es dir so beliebte, auch von allen diesen Gesichtsteilen beweisen, daß sie einander gleich seien. Allein es ist nicht statthaft, Dinge, die bloß eine gewisse Ähnlichkeit haben, darum schon ähnlich zu nennen ebensowenig wie unähnlich solche, die nur eine gewisse Unähnlichkeit haben auch wenn die Ähnlichkeit nur eine ganz entfernte ist.

Da sagte ich verwundert zu ihm: Verhält sich wirk- lich das Gerechte und Fromme so zueinander, daß sie nur eine entfernte Ähnlichkeit haben?

Das nicht, doch verhält es sich damit auch nicht so, wie du anzunehmen scheinst.

Nun gut, sagte ich, so laß uns denn diese Frage,

79 | Platons Dialoge.

da sie dir unbequem zu sein scheint, fallen und uns der Betrachtung einer anderen von deinen Behauptungen zu- wenden.

20. Dir ist doch das Wort „Unverstand“ (ἀφροσύνη) bekannt ?

Jawohl.

Das gerade Gegenteil davon ist doch die Weisheit (σοφία)

So scheint es mir, erwiderte 6181).

Wenn die Menschen nun richtig und in einer en nützlichen Weise handeln, a sie dir dann auf Grund solcher Händlunpsweise besonnen zu sein (σωφρο- veiv) oder das Gegenteil?

Besonnen, erwiderte er.

Besonnen sind sie doch wohl durch Besonnenheit ?

Notwendig.

‚Wer nun nicht recht handelt, handelt doch unver- ständig, und wer so handelt, ist doch nicht besonnen

Einverstanden, erwiderte er.

Dem -besonzem handeln“ (σωφρόνως πράττειν) at also doch als Gegenteil gegenüber das „unverständig han- deln“ (ἀφρόνως πράττει») 6

Er gab es zu.

Die unverständigen Handlungen werden nun doch aus Unverstand begangen, die besonnenen dagegen auf Grund der Besonnenheit

Er räumte es ein.

Wird nicht, wenn etwas mit Kraft vollbrachb wird, kräftig gehandelt, und wenn mit Schwäche, dann schwäch- lich®)?

Er war einverstanden.

Und wenn mit Schnelligkeit, dann schnell, und wenn mit Langsamkeit, dann langsam?

Er gab es zu.

Und bei gleicher Handlungsweise ist der Grund da- zu doch auch derselbe und bei entgegengesetzter der ent- gegengesetzte

Protagoras 73

Er stimmte zu.

Nun wohl also, sagte ich, gibt es denn ein Schönes ?

Er gab es zu.

Ist diesem etwas anderes entgegengesetzt als das Häßliche ?

Nein.

Und ferner ein Gutes?

Ja.

Ist diesem etwas anderes entgegengesetzt als das Schlechte) ?

Nein.

Und gibt es ferner einen hohen Ton?

Ja.

Und diesem ist doch nichts ‚anderes entgegengesetzt als der tiefe Ton?

Nichts anderes.

Bei Gegensätzen also, sagte ich, steht dem einen immer nur eines als Gegenteil gegenüber und nicht vieles?

Er erklärte sich einverstanden.

Wohlan denn, fuhr ich fort, lab uns unsere Zuge- . ständnisse zusammenfassen und im ganzen überblicken. Wir haben doch zugestanden, daß einem immer nur eines und nicht mehreres entgegengesetzt ist?)

Das haben wir.

Und daß entgegengesetzte Handlungsweisen auf ent- gegengesetzte Gründe zurückzuführen sind? |

Ja.

Auch haben wir doch zugestanden, daß die unver- ständige Handlung der besonnenen entgegengesetzt sei?

Ja.

Und daß die besonnene Handlung- das Werk der Besonnenheit sei, die unverständige das des Unverstandes?

Er gab es zu.

Wenn also die Handlungsweise οὐ νην Aıt

ist, wird sie doch das Werk des Gegenteils sein? Ja. |

74 Platons Dialoge.

Sie ist aber in dem einen Fall. das Werk der Be- sonnenheit, in dem anderen das Werk des Unverstandes ?

Ja.

Also liegt doch eine Entgegensetzung vor?

Gewißb. |

Und dies doch infolge der gegenteiligen Ursache?

N

Also ist der Unverstand das Gegenteil der Besonnen- heit ?

Allem Anschein nach.

Erinnerst du dich nun, daß wir im Vorigen darüber einverstanden waren, der Unverstand sei das Gegenteil der Weisheit®5)

Er gab es zu. |

Und daß Einem immer nur Eines entgegengesetzt sei?

Ja.

Welche dieser Behauptungen also, Protagoras, sollen wir aufgeben ? Den Satz, daß Eines nur Einem entgegen- gesetzt sei, oder die Behauptung, Besonnenheit und Weis- heit seien zwar beide Teile der Tugend, seien aber von-

=>

einander verschieden und nicht nur verschieden, sondern

auch unähnlich sowohl an sich wie ihrer Bestimmung und Wirkungsweise nach, wie die Teile des Gesichtes? Welchen von beiden sollen wir nun aufgeben? Denn diese beiden Sätze geben zusammen keine gute Musik; sie stimmen nicht und harmonieren nicht miteinander. Wie könnten sie auch miteinander stimmen, wenn Eines nur Einem entgegengesetzt sein darf, aber nicht Mehreres, und anderseits als Gegenteil des Unverstandes, dieses Ei- nen, sich nicht nur Weisheit, sondern auch Besonnenheit erweist? Ist es nicht so, Protagoras, sagte ich, oder ver- hält es sich anders?

Er räumte es ein, wenn auch mit sichtlichem Un- behagen.

Also wären die Weisheit und die Besonnenheit wohl Eines®)? Und schon vorher erwiesen sich uns die Ge- rechtigkeit und die Frömmigkeit als nahezu dasselbe. Auf

Protagoras, 75

denn, mein Protagoras, laß uns nicht müde werden, son- dern auch das Übrige noch in Erwägung ziehen. Scheint dir ein Mensch, der gesetzwidrig handelt, besonnen zu sein, insofern er so handelt®”)?

Ich würde mich doch schämen, erwiderte er, dies zuzugeben, mag es auch Leute genug geben, die dies behaupten.

Soll ich mich, fuhr ich fort, mit meiner Rede an diese wenden, oder an dich?

Wenn es dir recht ist, erwiderte er, so wende dich zunächst gegen diese weit verbreitete Behauptung.

Nun, mir soll es nichts ausmachen, wenn du nur antwortest, magst du nun jener Ansicht beistimmen oder nicht. Denn mir kommt es vor allem auf strenge Prüfung der Sache an; doch ist es vielleicht nicht ausgeschlossen, daß dabei meine, des Fragenden, und deine, des Ant- wortenden persönliche Meinung zutage gefördert wird.

Zunächst nun stellte sich Protagoras spröde; es handele sich da, gab er vor, um eine heikele Frage. Dann aber verstand er sich doch dazu zu antworten. | 21. Also zurück nun, sagte ich, zum Ausgangspunkt!

Glaubst du, daß es Leute gibt, die bei voller Besonnen- heit unrecht tun®®)

Meinetwegen, erwiderte er.

Besonnenheit heißt doch bei dir so viel wie gut bei Verstande sein? |

Ja.

Gut bei Verstande sein heißt aber hier doch nichts anderes als daß man mit seinem Unrechttun wohlberaten sei |

Meinetwegen, sagte er.

Ist das der Fall, fragte ich, wenn es ihnen gut geht auf Grund ihres Unrechttuns, oder wenn schlecht?

Wenn gut.

Damit erklärst du also, daß es gewisse Dinge gibt, die gut sind?

Allerdings.

70 Platons Dialoge.

Ist nun, fuhr ich fort, dasjenige Βαϊ, was den Menschen nützlich ist?

Nun, beim Zeus, erwiderte er, ich wenigstens nenne auch manches gut, was nicht für die Menschen nützlich istS9),

Da wollte es mir scheinen, als sei Protagoras übeler Laune und kämpfe mit sich und habe sich schon in Positur gesetzt zum Antworten. Da ich ihn also in solcher Verfassung sah, fragte ich vorsichtig mit ge- dämpfter Stimme:

Meinst du damit, was nur keinem Menschen nütz- lich ist, oder was überhaupt gar nicht nützlich ist? Und nennst du auch dergleichen gut?‘

Nein, durchaus nicht, versetzte er; aber ich kenne vieles Gute, was für die Menschen nutzlos ist, Speisen, Getränke, Heilmittel und sonst tausenderlei anderes, da- neben auch wieder solches, was ihnen nützlich ist, und noch anderes, was für sie keines von beiden ist, wohl aber nützlich für Pferde, anderes wieder nur für Rinder und wieder anderes für Hunde; einiges für keinen von

334 S

allen diesen, wohl aber für die Bäume. Noch anderes

ist zwar gut für die Wurzeln der Bäume, dagegen schäd- lich für ihre Triebe; so ist z. B. der Mist gut als Bei- gabe für die Wurzeln aller Pflanzen, läßt du es dir aber beikommen ihn auf die Sprossen und die jungen Schößlinge zu werfen, so richtet er alles zugrunde. So ist ja auch das Öl für alle Pflanzen grundverderblich und auch den Haaren der Tiere im höchsten Maße schäd- lich, nur den Haaren der Menschen nicht, denen es viel- mehr ebenso wie ihrem übrigen Körper wohl bekömm- lich ist. Ja, das Gute ist so vielseitig und mannigfaltig, daß es auch beim Menschen zwar für die äußeren Teile des Körpers zuweilen gut ist, für die inneren aber wieder höchst schädlich. Daher verbieten denn auch alle Ärzte den Kranken die Verwendung des Öles, abgesehen von einer winzigen Dosis bei dem, was sie genießen wollen, nämlich nur gerade genug, um dem Unbehagen bei den

35 St.

Protagoras. 17

durch die Nase vermittelten Empfindungen bei Speisen und Zukost vorzubeugen?!).

22. Als er damit geendet, lohnten ihm die Anwe.- senden mit reichem Beifall für seine schönen Worte. Ich aber erklärte: Mein Protagoras, ich gehöre zu den vergeßlichen Menschen 93) und wenn mir einer lange Reden hält, so vergesse ich, wovon eigentlich die Rede ist. Wie du nun, wenn ich etwa schwerhörig wäre, es für deine Schuldigkeit halten würdest, falls du dich mit mir unter- halten wolltest, lauter zu reden als zu den anderen, so mußt du jetzt, da du es mit einem Vergeßlichen zu tun hast, deine Antworten beschneiden und dich kürzer da- mit fassen, wenn ich dir folgen soll.

Was soll das heißen, diese Aufforderung kurz zu antworten? Soll ich, sagte er, etwa kürzer antworten als nötig ist?

Nein, behüte, erwiderte ich.

Sondern soviel als nötig ist? fragte er.

Ja, versetzte ich.

Soll ich nun so viel antworten wie mir nötig scheint oder wie dir?

Ich habe doch gehört, erwiderte ich, du seiest selbst imstande und könntest auch einem anderen die Kunst beibringen sowohl lange Reden zu halten, nach Belieben so lang, daß der Stoff nie ausgeht, wie auch anderseits wieder so kurz, daß niemand sich kürzer fassen kann als du. Willst du dich also mit mir unterreden, so mußt du dich mir zuliebe an die letztere Redeweise hal- ten, die kurze®®).

Mein Sokrates, versetzte er, ich habe mich schon vielen Menschen zum Redekampf gestellt; hätte ich es aber so gemacht wie du es von mir forderst, hätte ich die Unterredung also so geführt, wie sie der Gegner von mir geführt zu sehen wünschte, dann wäre ich so unbedeutend geblieben wie jeder beliebige andere und des Protagoras Name hätte keinen ge Klang unter den Hellenen.

78 Platons Dialoge.

Ich war mir schon längst klar darüber, daß er mit seinen Antworten selbst nicht zufrieden war und daß er sich nicht entschließen würde aus freien Stücken als Antwortender die Unterredung weiter zu führen. Über- zeugt also, daß es nicht meines Amtes sei der Zusammen- kunft länger beizuwohnen, sagte ich:

Glaube mir nur, Protagoras, auch mein Herz hängt nicht daran, der Unterredung einen deinen Wünschen. nicht entsprechenden Verlauf zu geben, sondern ich werde sie nur dann weiter führen, wenn du es für gut be- findest sie so zu führen, daß ich zu folgen imstande bin. Bist du ja doch, wie es von dir heißt und wie du auch selbst erklärst, imstande sowohl in langer wie in kurzer Rede die Unterhaltung zu führen, denn du bist ja ein weiser Mann. Aber ich kann diese langen Reden nicht fassen, so sehr ich auch wünsche, ich könnte es. Du aber, der du in beiden Sätteln gerecht bist, solltest uns nachgeben, um die Fortführung der Unter- redung zu ermöglichen. So aber, da du dich nicht dazu verstehen willst und ich eine Abhaltung habe und nicht in der Lage wäre längeren Reden von dir bis zu Ende zuzuhören denn Geschäfte rufen mich ab von hier verabschiede ich mich von hier, obschon ich nicht un- gern auch diese deine Redeleistungen mit anhören würde.

Mit diesen Worten erhob ich mich um fortzugehen. Noch aber hatte ich mich nicht völlig erhoben, da fabte mich Kallias mit seiner Rechten an der Hand, mit der Linken aber hielt er mich an diesem meinem Mantel hier®) fest und sagte:

‚Wir lassen dich nicht fort, mein Sokrates, denn wenn du dich entfernst, hat die Unterhaltung für uns nicht mehr das gleiche Interesse. Ich bitte dich also bei uns zu bleiben; denn es gibt niemanden, dem ich lieber zuhören möchte als dir und dem Protagoras, wenn es sich um dergleichen Unterredungen handelt. Also sei . 80. freundlich und erfülle unseren Wunsch.

Da sagte ich und zwar war ich bereits aufge:

cr

Protagoras, 79

standen um mich zu entfernen —: Immer, lieber Sohn des Hipponikos, bewundere ich deine Liebe zur Weis- heit und auch jetzt lobe ich sie und weiß sie zu schätzen. Gern würde ich dir also willfahren, wenn es mir nur möglich wäre deine Bitte zu erfüllen. Allein jetzt steht die Sache so, als bätest du mich, mit dem Krison”) aus Himera, dem vollkräftigen Läufer, gleichen Schritt

.zu halten, oder es mit irgend einem Dauerläufer oder

Schnelläufer im Laufen aufzunehmen und ihm zur Seite zu bleiben. Meine Antwort würde dann lauten: Noch viel mehr als du es für mich wünschst, wünschte ich wohl selbst für mich es mit diesen Läufern aufnehmen zu können, allein meine Kraft reicht nicht aus; willst du also mich und den Krison durchaus zusammen laufen sehen, so mußt du diesen bitten sich zu mir herabzu- lassen, denn ich kann nun einmal nicht schnell laufen, wohl aber kann er langsam laufen. Wünschst du also mich und den Protagoras zu hören, so mußt du diesen bitten mir jetzt in. der gleichen Weise zu antworten, wie er mir zu Anfang antwortete, nämlich nur kurz

und nicht mehr als das Gefragte unmittelbar erfordert.

Wird es anders gehalten, wo bleibt dann der Unterschied in den Arten der Unterredung? Denn meines Erachtens ist es ein anderes sich miteinander wissenschaftlich zu unterhalten und ein anderes, lange Reden zu halten.

Aber du sagst dir doch, erwiderte er, mein Sokrates, Protagoras hat wie es scheint ganz recht, wenn er sich für die Art der Unterredung ebenso volle Freiheit aus- bedingt wie er sie gewährt.

23. Da griff Alkibiades ein mit den Worten: das trifft nicht zu, Kallias, was du da sagst. Denn unser Sokrates hier räumt rückhaltlos ein, er verstehe nichts von der Kunst der Langrednerei, und er überläßt darin dem Protagoras willig den Vorrang; was aber die Unter- redungskunst und die Fertigkeit anlangt, Rechenschaft zu geben und zu fordern, so müßte es meines Erachtens doch nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn er darin

80 Platons Dialoge.

irgend einem Menschen den Vorrang einräumt. Wenn nun auch Protagoras einräumt es in der Unterhaltungs- kunst mit Sokrates nicht aufnehmen zu können, so ist Sokrates befriedigt. Macht er aber auf diese Kunst auch seinerseits Anspruch, so soll er die Unterhaltung in der Form von Frage und Antwort führen und nicht auf jede Frage hier eine langausgesponnene Rede halten, womit er es ja doch nur auf das Beiseiteschieben der Gründe abgesehen hat; denn er will nicht Rechenschaft geben, sondern zieht die Sache nur in die Länge, bis die meisten Zuhörer vergessen haben, wovon eigentlich die Rede war. Denn Sokrates dafür stehe ich ein wird nie den springenden Punkt vergessen, mag er auch immerhin scherzen und sagen, er sei vergeßlich. Mir also scheint des Sokrates Verlangen das billigere zu sein, denn es soll hier jeder offen seine Meinung kund- geben ®). |

Nach dem Alkibiades ließ sich, wenn ich nicht irre, Kritias vernehmen mit folgenden Worten: Mein Pro- dikos und Hippias, mir will es scheinen als neige sich Kallias auf die Seite des Protagoras, Alkibiades aber ist zu leidenschaftlich in allen seinen Regungen. ‚Wir

aber wollen uns nicht mit in den Streit mischen weder

zugunsten des Sokrates noch des Protagoras, sondern wollen gemeinsam beide bitten die Unterhaltung nicht vorzeitig abzubrechen.

Auf diese Worte erwiderte Prodikos°”): Du scheinst

mir recht zu haben, Kritias; denn die Anwesenden müssen zwar für beide Unterredner unparteiische (κοινούς) Hörer sein, aber nicht gleiche (ἴσους). Denn das bedeutet nicht dasselbe; unparteiisch nämlich hören muß man beide, aber nicht beiden denselben Wert beilegen, sondern dem Einsichtigeren den größeren, dem Unwissenderen den geringeren. Ich nun meinerseits, mein Protagoras und Sokrates, erwarte von euch so viel gegenseitige Nach- giebigkeit, daß ihr über die fraglichen Punkte zwar dis-

putiert (ἀμφισβητεῖν), euch aber nicht verzankt (£oilew);

337 St.

Protagoras. 81

denn disputieren können auch Freunde mit Freunden in voller Eintracht, aber sich miteinander verzanken, das ist Sache von Gegnern und Feinden. Und von solchem Geiste getragen, wird auch unsere Unterhaltung den besten Verlauf nehmen. Denn auf diese Weise werdet einerseits ihr, die Redenden, vor uns, den Hörern als Richtern eueren Wert erkannt sehen (εὐδοκιμεῖν) und nicht mit bloßem Lobe abgespeist werden (dnaweiodaı) das erstere nämlich vollzieht sich in den Seelen der Hörer ohne trügerisches Spiel, das letztere aber oft nur im Munde solcher, die wider besseres Wissen die Unwahrheit sagen anderseits werden so auch wir, die Hörer, die reinste Freude empfinden (εὐφραίνεσϑαι), nicht aber bloß den Genuß einer angenehmen Empfindung haben (Höeodaı). Denn reine Freude empfindet, wer lediglich durch den Geist etwas lernt und sich einer Einsicht teilhaftig macht, im Genusse des Angenehmen aber schwelgt, wer lediglich vermittelst des Körpers sei es seiner Eßlust frönt oder sich sonst einer angenehmen Empfindung hingibt. |

Diese Worte des Prodikos nahmen viele der An- ‚wesenden mit lebhaftem Beifall auf.

24. Nach dem Prodikos aber ergriff der weise Hippias das Wort und sagte: Ihr Männer, die ihr hier beisammen seid, ich halte uns alle für verwandt und zueinander gehörig und für Mitbürger, und zwar von Natur (φύσει), nicht durch Gesetz?) (νόμῳ); denn das Ähnliche ist mit . dem Ähnlichen von Natur verwandt, das Gesetz dagegen, dieser Tyrann der Menschen, erzwingt vieles auch wider die Natur. Es wäre doch nun eine Schande, wenn wir, innig vertraut mit dem Wesen der Dinge, wir, die weisesten Männer ganz Griechenlands und als eben solche jetzt hier zusammengekommen in der S'adt, die recht eigentlich der geistige Mittelpunkt Griechenlands ist, und innerhalb dieser Stadt selbst wieder in ihrem glänzendsten und ge- segnetstem Hause wenn wir nichts dieser Erhabenheit Würdiges vorführen, sondern uns wie die kleinlichsten Menschen nur miteinander herumstreiten wollten. ‚So bitte

Apelt, Platon Protagoras. Phil. Bibl, Bd, 175. 6

-,---....-- --

82 Platons Dialoge.

ich denn und rate euch, mein Protagoras und Sokrates, euch auf einer mittleren Linie zusammenzufinden, indem wir

als Schiedsrichter euch dazu behilflich sind; also einer- 888

seits darfst du nicht zu großes Gewicht legen auf jene strenge und kurz gegliederte Form der Unterredung, soweit es dem Protagoras nicht erwünscht ist, sondern mußt etwas nachgiebig sein und der Rede die Zügel schießen lassen, auf daß sie einen um so großartigeren und präch- tigeren Eindruck auf uns mache, anderseits darfst aber auch du, Protagoras, nicht alle Segel beisetzen und die Gunst des Fahrwindes rücksichtslos ausnutzen, um ins offene Meer der Reden zu enteilen, und darfst das Land nicht ganz aus den Augen verlieren, sondern beide müßt ihr einen Mittelweg einschlagen. So also macht es und folget meinem Rat: wählet euch einen Kampfrichter, Ordner und Vorsitzenden, der darüber wachen soll,

daß jeder von euch beiden das rechte Maß der Rede einhalte.

25. Das gefiel den Anwesenden und alle gaben ihren Beifall kund; Kallias aber erklärte, er werde mich nicht gehen lassen, und sie baten einen Obmann zu wählen. Da erklärte ich denn, es sei ein unwürdiges Beginnen einen Kampfrichter für die Verhandlung zu wählen. Denn entweder ist der Gewählte uns nicht gewachsen: dann wäre es doch ein Mißverhältnis, daß der Schlechtere über die Besseren die Aufsicht führt; oder er ist uns gleich: auch dann hat es damit nicht seine Richtigkeit; denn wer uns gleich ist, der wird auch in seinen Leistungen uns gleichen, so daß also seine Wahl sich als überflüssig erweisen würde. Aber das ist auch wohl nicht euere Absicht; vielmehr werdet ihr einen erwählen, der uns überlegen ist. Aber in Wirklichkeit, glaube ich, ist es euch. ganz unmöglich, irgend einen zu wählen, der an Weisheit unserem Protagoras hier überlegen wäre; wählt ihr aber einen, der um nichts besser ist als er, den ihr aber für besser ausgebt, so ist auch das ein Makel, den ihr ihm (dem Protagoras) damit aufdrückt, daß ihr ihm wie

Protagorns. 83

einem Taugenichts einen Aufseher gebt; denn was mich anlangt, so macht mir das nichts aus. Doch erkläre ich mich, um unserer Unterhaltung und Verhandlung den gewünschten Fortgang zu sichern, zu folgendem Verfahren bereit: Wenn es Protagoras ablehnt zu antworten, so mag er fragen und ich werde antworten, wobei ich zugleich versuchen werde ihm klar zu machen, daß der Antwortende auf die von mir bezeichnete Art antworten muß); und wenn ich ihm dann alles beantwortet habe, was ihm zu fragen beliebt, dann soll er mir wieder in gleicher Weise Rede stehen; und sollte er dann nicht geneigt scheinen, sich in seinen Antworten streng an die Fragen zu halten, dann wollen wir, ich und ihr, gemeinsam an ihn die Bitte richten, die ihr an mich richtet, unsere Unterhaltung nicht zu vereiteln. Und dazu ist es nicht nötig einen Einzelnen zum Aufseher zu ernennen, sondern ihr werdet alle gemeinsam dieses Amtes walten.

Damit waren alle einverstanden. Protagoras nun sträubte sich allerdings zuerst, gleichwohl ließ er sich aber doch dazu nötigen sich bereit zu erklären zu fragen

und, wenn dies in ausreichendem Maße geschehen sei,

wieder seinerseits mit kurzen Antworten Rede zu stehen. Er begann nun also etwa auf folgende Art zu fragen. 26. Meines Erachtens, sagte er, ist für die Bildung des Menschen nichts wichtiger als dies, daß er in den Werken der Dichter gründlich bewandert sei. Darunter. verstehe ich aber, daß er imstande sei das von den Dichtern Vorgetragene daraufhin zu beurteilen, ob es wohlgelungen ist oder nicht, und daß er sich auf die Einzelerklärung

. verstehe wie auch darauf, etwaige Fragen zu beantwor-

ten100), Und so wird denn auch jetzt meine Frage zwar den nämlichen Gegenstand betreffen, der das Thema unserer jetzigen Untersuchung bildet, nämlich die Tugend, aber doch so, daß die Sache jetzt in das Gebiet der Poesie hinübergespielt wird. Das ist der einzige Unterschied. Es sagt nämlich bei irgend einer Gelegenheit Simonides!0) zu Skopas, dem Söhne des Thessaliers Kreon!)

| .

I;

84 Platons Dialoge,

Zwar ist es schwer, ein braver Mann zu werden, wahrhaft brav, An Hand und Fuß und Geist ein ganzer Mann, ein Mann, der keinem Tadel Zulaß beut. Kennst du dies Lied, oder soll ich es dir ganz hersagen ? Ich 'erwiderte: Das ist nicht nötig, denn ich kenne es und habe mich eingehend mit dem Liede beschäftigt!®). Das lob’ ich mir, erwiderte er. Hältst du es nun für wohlgelungen und richtig, oder nicht? | Für durchaus wohlgelungen, versetzte ich, und richtig. Hältst du es für wohlgelungen, wenn der Dichter sich selbst widerspricht ? Das nicht, erwiderte ich. So sieh dir denn das Lied genauer an. Aber, mein Bester, ich habe es ja zur Genüge durch- dacht. Weißt du also auch, daß der Dichter im weiteren Verlaufe des Liedes etwa folgendes sagt: Auch Pittakos!%), so dünkt mich, hat nicht recht mit seinem Wort,

So weisheitsvoll der Mann auch war: schwer ist's, so sagt’ er, ehrenhaft und brav zu sein.

Merkst du, daß der Dichter hier in einer Person sowohl |

diese Aussage macht wie auch jene frühere’?

Das weiß ich, sagte ich. |

Scheint dir nun dies beides sich miteinander zu ver- tragen ?

Mir wenigstens scheint es so. Dabei konnt’ ich mich allerdings der Befürchtung nicht entschlagen, daß er doch

vielleicht recht hätte. Ich fuhr also fort: Aber dir scheint

es nicht so?

Wie könnte ich denn auch glauben, daß, wer dies beides behauptet, mit sich selbst in Übereinstimmung sei? Ging er doch zunächst von der Ansicht aus, es sei schwer in Wahrheit ein braver Mann zu werden und wenige Verse weiter hat er das schon wieder vergessen und tadelt den Pittakos, der ganz das Nämliche behauptet, wie er, nämlich daß es schwer ist, brav zu sein, erklärt also den für unglaubwürdig, der das Nämliche * behauptet wie er,

0 St.

+

Protagoras. 85

Und doch ist ja klar: wenn er den tadelt, der das Gleiche behauptet wie er, so tadelt er auch sich selbst; mithin hat er entweder mit seiner früheren oder mit seiner späteren Behauptung unrecht.

Durch diese Ausführung rief er bei einer großen Zahl der Hörer stürmischen Beifall hervor. Und mir ward es zuerst, als er diese Worte geäußert und die an- deren ihm lebhaften Beifall gespendet hatten, ganz schwarz vor den Augen und schwindelig, als hätt’ ich von einem guten Faustkämpfer einen betäubenden Schlag erhalten; dann aber wende ich mich dir die Wahrheit zu gestehen, um Zeit zu gewinnen zum Nachdenken über die eigentliche Meinung des Dichters!®) an den Prodikos, rief ihn bei Namen und sagte:

Mein Prodikos, Simonides ist ja doch dein Mitbürger; du bist es ihm also schuldig ihm Beistand zu leisten. Ich möchte dich also zu Hilfe rufen, wie bei Homer:%) der vom Achilles bedrängte Skamander den Simoeis zu Hilfe ruft mit den Worten

Bruder, wohlan! Die Gewalt des Mannes da müssen wir beid’ izt Bändigen. So rufe denn auch ich dich zu Hilfe, auf daß uns Pro-

tagoras nicht den Simonides zu Boden werfe. Denn zur Ehrenrettung des Simonides bedarf es deiner feinen Kunst,

durch die du „wollen“ (βούλεσϑαι) und „begehren* (ἐπι-

ϑυμεῖν) unterscheidest als nicht zu: verwechselnde Be- griffe, wie du denn eben erst vieles Schöne dergleichen uns vorgeführt hast. So erwäge denn auch jetzt, ob du meine Ansicht teilst. Simonides befindet sich, wenn ich recht sehe, keineswegs in Widerspruch mit sich selbst. Doch du, mein Prodikos, mußt zunächst deine Meinung darüber äußern. Scheint dir Werden und Sein das Näm- liche zu bedeuten oder etwas Verschiedenes?

Etwas Verschiedenes, beim Zeus, erwiderte Prodikos.

Hat nun nicht, fuhr ich fort, Simonides in den ersten Versen seiner eigenen Meinung Ausdruck gegeben, näm-

88 Platons Dialoge.

lich der, es sei schwer in Wahrheit ein wackerer Mann zu werden!)? |

Du hast recht, Sr Proaikel

Den Pittakos aber, fuhr ich fort, tadelt er nicht, wie Protägoras meint, insofern als er dasselbe sagt wie er, sondern etwas anderes. Denn Pittakos bezeichnete es nicht wie Simonides als schwer wacker zu werden, son- dern wacker zu sein. Nun ist aber doch, mein Protagoras, nach dem Zeugnis unseres Prodikos hier, Sein und Werden nicht dasselbe. Ist aber Sein und Werden nicht dasselbe, dann widerspricht sich Simonides auch nicht. Und viel- leicht billigt unser Prodikos hier mit vielen anderen die Ansicht des Hesiod1%), es sei schwer ein wackerer Mann zu werden, denn vor die Tugend hätten die Götter den Schweiß gesetzt; hätte man aber den Gipfel derselben erklommen, dann sei es leicht sie zu besitzen, so schwer es auch war sie zu erwerben.

27. Prodikos nun hielt nicht zurück mit seinem Lobe dessen, was ich gesagt hatte. Protagoras aber bemerkte: deine Rechtfertigung, mein Sokrates, ist noch fehlerhafter als das, was du damit rechtfertigen willst!0), |

Ich erwiderte: Da habe ich mir übel mitgespielt wie es scheint, mein Protagoras. Ich mache mich lächerlich wie etwa ein Arzt: ich suche zu heilen und mache die Krankheit nur schlimmer !!°).

Ja, so verhält es sich in der Tat, sagte er.

Inwiefern denn also? versetzte ich.

Es wäre doch, fuhr er fort, ein starkes Stück von Unwissenheit bei einem Dichter, wenn er es für solch ein Kinderspiel erklären wollte im Besitze der Tugend zu bleiben, was doch, wie jedermann glaubt, schwieriger ist als sonst irgend etwas.

Beim Zeus, entgegnete ich, ein wahres Glück ist es, daß unser Prodikos hier den Verhandlungen beiwohnt. Denn in der Tat, mein Protagoras, darf man wohl sagen, die Weisheit des Prodikos!!!) habe schon von alters her etwas Göttliches an sich, indem sie entweder mit Simo-

Protagoras,. 87

nides beginnt oder noch älteren Ursprungs ist. Du aber, so wohlbewandert auf vielen anderen Gebieten, bist auf diesem Gebiete offenbar ein Laie, anders als ich, der ich als Schüler dieses unseres Prodikos ein Eingeweiheter bin. So scheinst du denn auch jetzt nicht zu erkennen, daß Simonides diesen Ausdruck „schwer“ vielleicht gar nicht so verstand, wie du ihn verstehst, sondern es mag damit bei dir eine ähnliche Bewandtnis haben wie bei mir mit dem Ausdruck „gewaltig“ (δεινός), wegen dessen unser Prodikos hier mir so oft den Kopf zurechtsetzt. Jedesmal nämlich, wenn ich zu deinem oder irgend eines anderen Lobe sage: Protagoras ist ein weiser und gewaltiger Mann, fragt mich unser Prodikos hier, ob ich es nicht unerlaubt finde das Gute „gewaltig“ zu nennen. Denn das Gewaltige, sagt er, ist etwas Schlimmes; wenigstens sagt gegebenen Falles niemand ,„o des gewaltigen Reich- tums“, „o des gewaltigen Friedens“, „o der gewaltigen Gesundheit“, wohl aber „o der gewaltigen Krankheit“, „o des gewaltigen Krieges“, „o der gewaltigen Armut‘, zum Beweis, daß das Gewaltige etwas Schlimmes ist. . Vielleicht also verstehen nun auch die Keer und Simonides unter „schwer“ (χαλεπόν) entweder etwas Schlimmes oder sonst etwas anderes was dir unbekannt ist. Fragen wir also den Prodikos, denn er ist der rechte Mann uns über den ‚Wortschatz des Simonides Auskunft zu geben.

Was verstand, mein Prodikos, Simonides unter dem.

Ausdruck „schwer“

Etwas Schlimmes, entgegnete er.

Deshalb eben tadelt er auch, sagte ich, mein Prodi- kos, den Pittakos, der da sagt, es sei schwer brav zu sein, nämlich als hätte er ihn so verstanden als wollte er sagen: es ist schlimm brav zu seint!2).

Was sollte denn auch, erwiderte Prodikos, Simonides anderes meinen als dies, mein Sokrates? Er wirft dem Pittakos vor, er verstehe nichts von der Kunst die Worte richtig zu unterscheiden, denn er sei ein Lesbier und in fremder Mundart erzogen.

Platons Dialoge.

OD ee)

Da hörst du nun, sagte ich, mein Protagoras, den Prodikos hier. Hast: du etwas dagegen zu sagen?

Protagoras erwiderte: Daran ist gar nicht zu denken, daß es sich so verhalte, mein Prodikos; vielmehr weiß ich, daß auch Simonides unter „schwer“ das verstand, was wir anderen darunter verstehen, nämlich nicht das Schlimme, sondern das was nicht leicht, sondern mit großen Anstrengungen verbunden ist.

Nun, auch ich glaube, versetzte ich, mein Protagoras,

daß es Simonides so meint, und daß unser Prodikos das

auch weiß; er scherzt nur und will dich wie scheint nur auf die Probe stellen, ob du deine Behauptung auch aufrecht zu erhalten imstande bist; denn daß Simonides das „Schwere“ nicht in dem Sinne von „schlimm“ nimmt, dafür bietet den schlagenden Beweis der gleich folgende Ausspruch. Er sagt nämlich

Dem Gott allein kommt diese Ehre zu.

Er will also offenbar nicht sagen, es sei schlimm brav zu sein denn dann könnte er nicht unmittelbar darauf

sagen, der Gottheit allein komme dies zu, auch könnte

er nicht von einem Ehrenpreis sprechen, der dem Gotte allein zuzuerteilen sei. Denn sonst würde Prodikos den Simonides als einen frechen Gesellen kennzeichnen und nicht als einen Keer!!?). Aber was meiner Meinung nach Simonides mit diesem Liede eigentlich beabsichtigte, das will ich dir darlegen, und das kann dir als Probe dienen dafür, wie es mit meiner „Dichterkenntnis“, wie du es nennst!!#), steht; ist es dir aber lieber, so werde ich dir zuhören. | |

Kaum hatte Protagoras diese meine Worte vernommen, so sagte er: Wenn es dir recht ist, übernimm du das Wort, mein Sokrates. Prodikos aber und Hippias r Bun mir lebhaft zu und ebenso die anderen.

28. Ich werde also, hub ich an!%), versuchen ch darzulegen, was ich über dies Lied denke. Der Trieb nach Weisheit hat unter den Hellenen seine älteste und

342 St,

Protagoras. 89

fruchtbarste Stätte in Kreta und Lakedaimon, und dort zulande finden sich auch die meisten Sophisten. Aber sie halten damit hinter dem Berge und stellen sich un- wissend, um es nicht offenbar werden zu lassen, daß sie an Weisheit allen Hellenen überlegen sind, ganz ähnlich, wie jene alten Sophisten, von denen Protagoras sprach 18), Sie wollen vielmehr den Schein wahren als läge ihre Überlegenheit nur in Kampfestüchtigkeit und Tapferkeit, denn sie sagen sich, wenn ihre Stärke auf jenem Grebiete bekannt würde, dann würde alle Welt sich eben darauf, auf die Weisheit nämlich, werfen. So aber halten sie ihre wahre Liebhaberei geheim, wodurch sie denn die Lakonen- tümler (Spartanerfreunde) in den Städten gründlich hinters Licht geführt haben; denn diese gefallen sich darin den Spartanern nachzuäffen, indem sie sich im Faustkampf die Ohren zerschlagen!!?), ihre Arme mit Boxriemen um- wickeln, in Leibesübungen sich nicht genug tun können und kurze Mäntel tragen, als ob darin das Geheimnis der Überlegenheit der Lakedaimonier über die anderen Hellenen liege. Und wie halten es die Lakedaimonier tatsächlich? Wenn sie einmal recht ungezwunger und offen mit ihren heimischen Sophisten verkehren wollen und die Heimlichkeit des Verkehres ihnen lästig wird, greifen sie zu der Maßregel der Fremdenvertreibung: sie weisen sowohl die Lakonentümler wie auch sonst in der Stadt weilende Fremde aus und verkehren nun unbemerkt . von den Fremden mit ihren Sophisten; sie selbst aber erlauben, ebenso wie die Kreter, keinem ihrer jungen Leute fremde Städte aufzusuchen; denn sie dürfen der heimischen Lehrweise nicht entfremdet werden. Und es finden sich in diesen Staaten nicht nur Männer, die stolz sind auf ihre geistige Bildung, sondern auch Frauen. Daß ich aber die Wahrheit sage und daß die Lakedaimonier trefflich geschult sind für philosophische Auffassung der Dinge sowie für treffenden Ausdruck, das könnt ihr aus folgendem entnehmen. Läßt man sich mit einem Lake- daimonier in ein Gespräch ein, sei es auch der Geringsten

90 Platons Dialoge.

einer, so wird man finden, daß seine Äußerungen zwar überwiegend einen unbedeutenden Eindruck machen, daß er aber dann auf einmal, wo die Gelegenheit sich gerade bietet, einen eindrucksvollen, kurzen und kraftvollen Aus- spruch wie ein geschickter Speerschütze entsendet, so daß der Mitunterredner ihm gegenüber geradezu zum Kinde herabsinkt. Es fehlt nun weder unter unseren Zeitge- nossen noch unter den Altvorderen an solchen, die zu eben dieser Erkenntnis gekommen sind, daß die eigentliche lakonische Sinnesart weit mehr auf Weisheit gerichtet ist als auf Leibesübungen. Denn sie sagten sich, daß die Fähigkeit solche Aussprüche zu tun, nur Männern zu- kommt, die auf der Höhe geistiger Bildung stehen. Zu ihnen gehörten Thales von Milet, Pittakos von Mytilene, Bias von Priene, unser Landsmann Solon, Kleobulos von Lindos, Myson aus Chen und als siebenter galt neben ihnen der Lakedaimonier Chilont18). Sie alle waren Nach- eiferer und Verehrer und Schüler lakedaimonischer Bil- dung, und die einem jeden von ihnen zugeschriebenen denkwürdigen Sprüche lassen erkennen, daß ihre Weisheit

343 St

von dieser Art war. Diese ihre Sprüche ließen diese

Männer auf gemeinsam gefaßten Beschluß als Erstlings- gabe ihrer Weisheit zu Ehren des Apollon im Tempel zu Delphi anbringen, wodurch sie denn allbekannt wurden wie das „Erkenne dich selbst“ und das „Nimmer zu viel“.

Was will ich nun also damit sagen? Daß dies das Charakteristische war für die Philosophie dieser Männer der alten Zeit, eine gewisse lakonische Kürze. Und so war denn auch vom Pittakos noch besonders dieser von den Weisen hoch gepriesene Spruch in aller Munde „Ein braver Mann zu sein ist schwer“. Simonides nun, ehr- geizig auf Weisheitsruhm bedacht, sagte sich, daß, wenn er diesen Spruch gleichsam wie einen hervorragenden Gegner im Ringkampf zu Fall brächte und den Sieg davontrüge, er selbst in der damaligen Welt zu hohem Ruhm gelangen würdet). Gegen diesen Spruch also ist sein ganzes Gedicht gerichtet: in der bezeichneten Ab-

+

Protagoras. 91

sicht wollte er mit diesem Liede auf hinterlistige Weise jenen Spruch zunichte machen. Das steht mir ganz fest!?0),

29. Laßt uns also alle gemeinsam das Gedicht be- trachten und sehen, ob ich recht habe. Gleich der An- fang des Liedes würde sich als sinnlos erweisen, wenn der Dichter weiter nichts sagen wollte als es sei schwer ein guter Mann zu werden und dem ungeachtet doch noch das „Zwar“ hinzugefügt hätte. Denn dies Wort ist doch völlig zwecklos eingefügt, wenn man nicht an- nimmt, Simonides wende sich damit gleichsam Streit suchend gegen den Spruch des Pittakos. Während nämlich Pittakos behauptet „Schwer ist's brav zu sein“, sagt er, dem widersprechend: Nein! sondern ein guter Mann zu werden, das ist schwer, Pittakos, „wahrhaft schwer“ nicht „wahrhaft gut“, denn der Dichter denkt nicht an eine solche Wortverbindung, die ja doch voraussetzen würde, es gebe gewisse Menschen, die in Wahrheit gut wären und wieder andere, die zwar gut, aber nicht wahr- haft gut wären, denn das wäre albern und eines Simonides nicht würdig; vielmehr muß man eine Wortversetzung

.des „wahrhaft“ in dem Gedichte annehmen!2t), indem man

sich die Sache folgendermaßen vorzustellen hat: Pitta- kos wird gleichsam selbstredend eingeführt, wie er seinen Ausspruch tut, und Simonides antwortet ihm darauf.

. Jener sagt: ‚„Höret, ihr Menschen, es ist schwer brav

zu sein“, und dieser antwortet „Du hast unrecht, Pitta- . kos; denn wahrhaft schwer ist nicht dies, gut zu sein, sondern ein guter Mann zu werden, an Hand und Fuß und Geist ein ganzer Mann, der keinem Tadel Zulaß beut“. So erweist es sich, daß das „Zwar“ ganz sach- gemäß eingefügt und das „wahrhaft“ richtig nachgestellt ist122), Und alles was folgt, zeugt für die Richtigkeit dieser Auffassung. Denn man könnte gar manche Er- läuterung geben zu jedem einzelnen Satze dieses Gedichtes zum Beweise seiner durchgehenden Trefflichkeit; zeugt es doch von bestem Geschmack und hervorragender Sorg- falt. Doch würde es zu weit führen es in dieser Weise

99 Platons Dialoge.

durchzusprechen. Nur den Grundgedanken des ganzen Gedichtes wollen wir uns klar machen und sein eigent- liches Absehen, das eben zweifellos durchweg darin be- steht, den Ausspruch des Pittakos zu widerlegen.

30. Denn nur wenige Zeilen weiter sagt er, was man in Prosa so ausdrücken würde: ein guter Mann zu werden ist in Wahrheit zwar schwer, aber doch immer- hin möglich, eine Zeitlang nämlich; aber, wenn man es geworden, in dieser Seelenverfassung auch dauernd zu beharren und ein guter Mann zu sein, wie du behauptest, Pittakos, das ist unmöglich und dem Menschen uner- reichbar, nur eine Gottheit hat auf diese Ehre Anspruch,

Doch der Mensch kann dem Schlechten sich nimmer entziehn

Wenn unbezwingliches Leid ihn beugt. Wen nun trifft unbezwingliches Leid bei der Leitung eines Schiffes? Offenbar nicht den Unkundigen; denn dieser liegt immer danieder. Wie man nun einen bereits Daniederliegenden nicht noch niederwerfen kann, wohl aber einen noch Stehenden, so daß man ihn zum Liegen bringt, was bei dem ersteren ausgeschlossen war, so kann den Kampfesfähigen wohl auch unbekämpfbares Leid daniederwerfen, den des Kampfes aber überhaupt Un- kundigen nicht. So kann den Steuermann?) ein herein- brechender gewaltiger Sturm kampfunfähig machen, wie auch den Landwirt die Ungunst der Witterung ratlos machen kann und ähnlich den Arzt. Denn der brave Mann kann auch schlecht werden, wie auch von einem Dichter bezeugt wird mit den Worten

Aber ein wackerer Mann wird schlecht und wieder auch 686] 139). Der Schlechte dagegen kann nicht schlecht werden, sondern er muß es jederzeit sein. Wenn also den Wohl- beratenen, Einsichtsvollen und Guten ein unabwendbares Unheil niederwirft!2), dann kann er nicht anders als schlecht sein; du aber, Pittakos, behauptest, es sei schwer wacker zu sein; in der Tat aber ist es schwer, es zu werden, aber doch möglich,. es (immer) zu sein aber unmöglich.

St,

Protagoras. 93

Denn wer recht handelt, der ist ein guter Mann, Wer schlecht, ein schlechter 136),

Welche Tätigkeit verhilft uns nun zu den Elementar- kenntnissen (Lesen und Schreiben) und macht einen Men- schen tüchtig darin? Doch offenbar das Erlernen der- selben. Und welche Tätigkeit macht einen zu einem guten Arzt? Offenbar das Erlernen der Krankenbehandlung. „Und schlecht, wer es schlecht macht“. Wer wird nun wohl ein schlechter Arzt? Offenbar nur ein solcher, der überhaupt ein Arzt ist, sodann auch nur ein guter Arzt. Denn nur ein solcher kann auch schlecht werden, wir aber, wir Laien in der Heilkunst, können niemals durch unrichtiges Handeln weder Ärzte noch Baumeister noch sonst etwas dergleichen werden; wer aber überhaupt nicht Arzt werden kann durch unrichtiges Handeln, der kann offenbar auch kein schlechter Arzt dadurch werden. So kann denn auch der gute Mensch wohl einmal schlecht werden, sei es infolge zunehmenden Alters oder einer Krankheit oder sonst welchen Zufalls (der den Geist trübt), denn des Verstandes beraubt zu werden, darauf

. allein geht jede schlechte Handlungsweise zurück

der schlechte Mensch aber kann niemals schlecht werden, denn er ist es ja jederzeit, sondern wenn er schlecht werden soll, so muß er zuvor erst gut geworden sein. Also auch dieses Stück des Liedes läuft darauf hinaus, daß es nicht möglich ist ein guter Mensch zu sein, näm- lich dauernd gut, wohl aber möglich, gut zu werden und ebenso auch schlecht zu werden. Am längsten aber die Besten, sie, der Götter Lieblinge.

31. Alles dies ist also zur Bekämpfung des Pittakos gesagt, wie die weiter folgenden Verse ‚noch deutlicher zeigen. Denn da heißt 65:31):

Drum sei ferne von mir dem Unmöglichen nachzugehen,

Nie werd’ ich meines Lebens Teil vergebens vergeuden an eitele Hoffuung,

Nie spähen nach dem Mann, der fleckenlos ist unter allen, die wir

der weiten Erde Frucht genießen, Erst müßt’ ich ihn finden, dann ihn euch künden,

a4 Platons Dialoge.

So eindringlich und folgerecht kämpft er durch das ganze

Gedicht hindurch gegen den Spruch des Pittakos an

Alle lob’ ich und lieb ich, So einer nicht völlig!) Schimpfliches tut; mit dem Verhängnis kämpfen auch Götter nicht.

Auch dies ist gegen den nämlichen Spruch gerichtet.

Denn so ungebildet war Simonides nicht, sich als Lob-

redner eines jeden auszugeben, der freiwillig kein Un-

recht tut, als gäbe es überhaupt Leute, die freiwillig unrecht tun. Denn ich möchte wohl meinen, daß kein einsichtiger Mann glaubt, irgend ein Mensch tue frei- willig unrecht oder begehe Schimpfliches und Schlechtes aus freien Stücken; vielmehr wissen sie recht wohl, daß alle, die Schimpfliches und Schlechtes begehen, dies un- freiwillig tun!2). Und so erklärt sich denn auch Simo- nides nicht für einen Lobredner solcher, die freiwillig nichts Böses tun, sondern dieses ‚freiwillig‘ bezieht sich nur auf ihn selbst. Er glaubte nämlich, daß ein fein gebildeter Mann oft sich selbst mit Gewalt zwinge, je-

mandes Freund und Lobredner zu werden, wie nicht.

selten ein Mensch das Unglück hat eine Mutter, einen Vater, ein Vaterland oder sonst dergleichen zu haben, was nicht nach seinem Herzen ist. Sind es nun übel gesinnte Leute, denen so etwas begegnet, so lassen diese, meinte er, mit einer gewissen Freude ihr Auge auf der Schlechtigkeit ihrer Eltern oder ihres Vaterlandes ruhen, weisen recht geflissentlich tadelnd darauf hin und ergehen sich in Klagen darüber; denn dadurch, meinte er, wollen sie nur ihre Mitmenschen davon abbringen ihnen selbst ihre Herzlosigkeit gegen die Ihrigen vorzuwerfen und ihnen aus der Vernachlässigung derselben ein Verbrechen zu machen; darum steigern sie denn ihren Tadel gegen sie ins Maßlose und lassen es nicht genug sein mit den schon vorliegenden unvermeidlichen Feindseligkeiten, son- dern fügen ihnen auch noch selbstgeschaffene hinzu; dagegen fühlen sich, so meinte er, die gutgesinnten Men- schen gedrungen einen Schleier über dergleichen zu brei-

346 S

Protagoras, 95

ten und mit Lob nicht zu kargen, und wenn sie über ihre Eltern oder ihr Vaterland infolge erlittener Unbill in Zorn geraten sind, dann suchen sie ihre innere Ruhe wieder- zugewinnen und eine versöhnliche Stimmung zu erzeugen, indem sie sich selbst zur Liebe und zum Lobe der Ihrigen zwingen. Auch war sich, glaub’ ich, Simonides bewußt, auch selbst mehr als einmal einen Tyrannen oder sonst einen Mächtigen gelobt und gepriesen zu haben, nicht dem eigenen Trieb, sondern der Not gehorchend. Dies gibt er denn auch dem Pittakos zu verstehen, indem er sagt: Ich, o Pittakos, tadele dich nicht aus Tadel- sucht; denn

Mir ist's genug, wenn einer schlecht nicht ist,

Und nicht vermessen frevelt;

So er, ein wackerer!®) Mann, das Recht nur kennt, dies Heil der

Ihn werd’ ich nimmer tadeln. [Staaten:

Von Tadelsucht weiß ich mich frei.

Ist doch der Toren Schar unübersehlich so daß, wer am Tadel seine Freude hat, an ihnen seinem Drang vollauf Genüge tun kann.

Alles, wahrlich, ist schön, dem Schimpfliches fern bleibt.

Dies meint er nicht so, als wollte er etwa sagen: Alles wahrlich ist weiß, dem nichts Schwarzes beigemischt ist!3!), denn das wäre höchst lächerlich; vielmehr will er damit sagen, daß er auch das Mittelmäßige gelten läßt ohne es zu tadeln. Und ich, sagte 61.133), suche nicht „einen ganz fleckenlosen Menschen unter allen, die wir der weiten Erde Frucht genießen, erst finden müßte ich ihn, dann ihn euch künden“; denn dann würde ich überhaupt nicht dazu kommen jemanden zu loben. Nein, mir genügt’s,» wenn einer nur die Mitte hält und nichts Schlechtes begeht, denn ich „liebe und lobe alle‘ und hier bedient er sich auch der Mytilenäischen Mundart, denn Pittakos ist es ja, zu dem er die Worte spricht, „ich lobe und liebe jeden freiwillig hier, hinter „freiwillig“ ist mit der Stimme innezuhalten!3) —, der nichts Schimpfliches tut“, doch gibt es auch solche, die ich mit Widerstreben lobe und

&

96 Platons Dialoge.

liebe So würde ich dich, Pittakos, gewiß nicht tadeln,

wenn du auch nur etwas einigermaßen Vernünftiges und

Wahres vorbrächtest. Wie steht es aber in er Tat?

Über die wichtigsten Dinge trägst du die ärgsten Un- wahrheiten vor er bildest dir doch ein die Wahrheit zu sagen: darum tadele ich dich!%).

32. Dies scheint mir, mein Prodikos und Protagoras,

sagte ich, das Absehen des Simonides bei Abfassung

dieses Gedichtes gewesen zu sein.

Da sagte Hippias: Trefflich, mein Sokrates, scheinst du mir deinerseits das Lied erläutert zu haben; doch, fuhr er fort, habe auch ich darüber einen gar nicht üblen Vortrag in Bereitschaft, den ich euch nicht vorenthalten werde, wenn es euerem Wunsche entspricht.

Da erklärte Alkibiades: Ja, mein Hippias, aber ein andermal; jetzt ist es recht und billig, festzuhalten an dem Übereinkommen, das Protagoras und Sokrates mit- einander getroffen haben: nämlich, wenn Protagoras fort- fahren will mit dem Fragen, so soll Sokrates antworten,

‚847 St

oder wenn er dem Sokrie antworten will, so soll dieser _

fragen.

Darauf bemerkte ich: Ich meinerseits lasse dem Protagoras die Wahl, was ihm lieber ist; ist es ihm aber recht, so lassen wir jetzt die Erörterungen über Lieder und Gedichte fallen, dagegen möchte ich die Fragen, über die ich zuerst mit dir verhandelte, mein Protagoras, mit dir des Weiteren erörtern, um zu einem Abschluß darüber zu gelangen. Denn diese Erörterungen über Poesie scheinen mir eine starke Ähnlichkeit zu haben mit den Trinkgelagen unbedeutender Alltagsmenschen. Da diese nämlich ihre Unterhaltung beim Becher nicht durch sich selbst und ihre eigene Stimme und Rede bestreiten können infolge ihrer mangelhaften Bildung, so schrauben sie die Preise für die Flötenbläserinnen in die Höhe:#): um hohen Preis mieten sie sich die fremde Stimme der Flöten und deren Stimme ist es dann, durch die sie sich mit- einander unterhalten. Wo aber wohl erzogene und ge-

Protagoras. 97

bildete Trinkgenossen beisammen sind, da siehst du dich vergeblich um nach Flötenbläserinnen, Tänzerinnen oder Lautenschlägerinnen; vielmehr sind sie sich selbst genug zur Unterhaltung durch ihre eigene Stimme ohne diese Possen und Kindereien; mit vollem Anstand wechselt bei ihnen Rede und Gegenrede, mögen sie dem Becher auch noch so stark zusprechen. Daher bedürfen denn auch Zusammenkünfte!3) wie die unsern hier, wenn sie als Teilnehmer Männer haben, wie die meisten von uns zu sein sich rühmen#*), keinerlei fremder ‚Stimme und keiner Dichter, die man ja doch über das was sie sagen nicht fragen kann, wie denn auch von denen, welche sich auf sie als auf Zeugen berufen, meistens die einen diese, die anderen jene Deutung von Dichterstellen vor- bringen, ohne über die strittige Sache entscheidende Be-

weise geben zu können). Verständige Männer also

wollen von derartigen Unterhaltungen nichts wissen, son- dern den Stoff für ihre Gespräche aus sich selber schöpfen

.und auf eigenen Beinen stehen, indem sie in Rede und

Gegenrede ihre geistige Kraft gegenseitig erproben 139).

‘Ich sollte meinen, solchen Männern müßten wir beide

nacheifern: mit Beiseiteschiebung der Dichter müssen wir, auf uns selbst gestellt, unsere Sache gegeneinander führen und so die Wahrheit und uns selbst erproben. Und willst

du noch weiter der Fragende sein, so stelle ich mich

dir als Antwortender zur Verfügung; ist es dir aber lieber, so stelle du dich mir zur Verfügung, um unsere inzwischen abgebrochene Untersuchung zu Ende zu führen.

Auf diese und andere ähnliche Aufforderungen von mir blieb Protagoras eine klare Antwort schuldig, was von beiden er tun wolle. Da sagte Alkibiades, den Blick auf Kallias gerichtet: Mein Kallias, scheint dir auch jetzt noch Protagoras recht zu handeln, wenn er sich einer klaren Auskunft darüber entzieht, ob er Rede stchen will oder nicht? Ich halte das nicht für recht. Nein. Entweder muß er sich auf die Unterredung einlassen oder erklären, daß er nicht gewillt dazu ist, damit einerseits

Apelt, Platon Protagoras, Phil. Bibl. Bd. 175. 7

98 Platons Dialoge.

wir wissen, woran wir mit ihm sind, anderseits Sokrates sich mit einem anderen unterreden kann, oder ein an- derer, der Lust dazu hat, mit einem anderen. Durch diese Worte des Alkibiades sowie die Bitten des Kallias und so ziemlich aller Anwesenden fühlte sich Protagoras : doch, wie mir schien, in seiner Ehre getroffen und ent- schloß sich, wenn auch schweren Herzens, zur Fortsetzung der Unterredung mit der Aufforderung ihn zu fragen, da er zu antworten bereit sei. |

33. So hub ich denn an: Mein Protagoras, glaube nicht, daß, wenn ich mich mit dir unterrede, dies in anderer Absicht geschieht als der, dasjenige zu ergründen, worüber ich selbst gegebenen Falles in Unklarheit bin. Denn mir scheint Homer PN recht zu haben mit seinem Spruche #0)

Wo Zween wandeln zugleich, da bemerket der Ein’ und der Andre.

Denn so vereint sind wir Menschen alle schlagfertiger zu jeglichem Werk wie auch zu Rede und Entschluß.

Doch der Einzelne, wenn er bedacht hat,

sucht alsbald allenthalben nach einem, dem er die hs mitteilen!#) und mit dem er zu einem festen Ergebnis gelangen kann; und er ruht nicht eher, als bis er einen solchen trifft. Und so möchte denn auch ich mich lieber mit dir als mit irgend einem anderen unterreden, aus keinem anderen Grunde als weil ich überzeugt bin, daß du, wie über die anderen Fragen, über die ein tüchtiger Mann sich naturgemäß berufen fühlt Betracktungen an- zustellen, so besonders auch über die Tugend am besten nachforschen wirst. Denn wer sollte dieser Erwartung sonst entsprechen, wenn nicht du? Hältst du dich doch einerseits selber für einen auf der Höhe sittlicher Bildung stehenden Mann, so wie es auch manchen anderen gibt, der selber durchaus tüchtig ist, ohne aber doch andere dazu machen zu können“), Du aber bist sowohl selbst tüchtig wie auch imstande andere tüchtig zu machen, und bist darin deiner selbst so sicher, daß, während an-

Protagoras. 99

dere diese ihre Kunst geheim halten, du dich in ganz

St. Griechenland als Sophisten, wie du dich ganz offen nennst,

ausrufen ließt, dich also als einen Lehrer der Bildung und Tugend zu erkennen gabst. Auch bist du der erste, der Bezahlung dafür gefordert hat!#). Wie konnte ich also davon absehen, dich zu dieser Untersuchung über die Tugend heranzuziehen und dich zu fragen und mir von dir Rats zu erholen? Ganz unmöglich! Und so will ich denn jetzt die Punkte, über die ich dich zu Anfang befragte, aufs neue von Anfang an mir teils von dir wieder in Erinnerung bringen lassen, teils sie gemein- sam mit dir weiter erwägen. Die Frage drehte sich aber, wenn mir recht ist, um folgende Punkte: Sind Weisheit, Besonnenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Frömmigkeit, diese fünf Namen, nur Namen für eine einzige Sache oder liegt jedem einzelnen dieser Namen eine besondere Wesenheit!4#) und Sache zugrunde, die ihre eigene Be- stimmung und Wirkungsweise hat, verschieden von der der anderen? Deine Meinung ging nun dahin, sie seien nicht bloße Namen für eine einzige Sache, sondern jeder ‘dieser Namen habe seine Beziehung auf eine besondere Sache, alle aber seien sie Teile der Tugend, aber nicht so wie beim Golde, wo die Teile sowohl untereinander wie auch mit dem Ganzen gleichartig sind, sondern so

wie beim Gesicht, dessen Teile sowohl untereinander wie _

auch mit dem Ganzen ungleichartig sind, indem ein jeder seine besondere Bestimmung und Wirkungsweise hat. Nun erkläre dich darüber, ob du hierin noch der nämlichen Ansicht bist. Denkst du aber darüber jetzt irgendwie anders, so gib darüber genau Auskunft; denn ich nehme es dir nicht für ungut, wenn du dich jetzt irgendwie anders entscheidest, würde mich vielmehr gar nicht wun- dern, wenn deine damaligen Äußerungen nur den Zweck gehabt hätten mir auf den Zahn zu fühlen.

34. So erkläre ich dir denn, Sokrates, erwiderte er, daß dies alles allerdings Teile der Tugend sind und daß vier von ihnen einander ziemlich ähnlich sind, die Tapfer-

100 Platons Dialoge.

keit aber ganz wesentlich von ihnen allen verschieden ist. Folgende Betrachtung aber wird dir zeigen, daß ich recht habe. Du wirst viele Menschen finden, die in hervorragendem Maße ungerecht, gottlos, zügellos und unverständig, dabei aber doch ganz außerordentlich tapfer sind.

Halt, sagte ich, diese Bemerkung verdient näher ins Auge gefaßt zu werden. Hältst du die Tapferen für kühn oder für etwas anderes!)

Ja, erwiderte er, sogar für Draufgänger in Lagen, wo die meisten aus Angst sich nicht vorwagen.

Wohlan denn, erklärst du die Tugend für etwas Schönes und bietest du dich als Lehrer derselben an in dem Sinne, daß sie etwas Schönes sei?

Gewiß, etwas ganz unvergleichlich Schönes, sonst müßte ich ja von Sinnen sein.

Ist nun, fuhr ich fort, ein Teil von ihr häßlich

(verwerflich), ein anderer aber schön (löblich), oder ist

sie durchweg schön?

Durchweg schön im allerhöchsten Sinne.

Weißt du nun, was für Leute kühn in die ξωνούς hinabtauchen ?

Ja, die Taucher.

Doch wohl weil sie sich auf die Sache verstehen. Oder aus einem anderen Grunde?

Nein; weil sie sich darauf verstehen.

Und was für Leute sind kühn im Reiterkampf? Die geübten Reiter oder die des Reitens Unkundigen ?

Die geübten Reiter.

Und was für Leute sind kühn im Schildkampf? Die geübten Schildkämpfer oder die, welche es nicht sind?

Die geübten Schildkämpfer. Und so sind auch auf allen anderen Gebieten, fuhr er fort, wenn du einmal darauf aus bist, die Sachkundigen kühner als die Un- kundigen und, wenn sie gehörig in die Lehre gegangen sind, auch kühner als sie selbst, nämlich kühner als damals, wo dies noch nicht der Fall war.

Protagoros. 101

Hast du aber auch schon, erwiderte ich, Leute ge sehen, die all solcher Kenntnisse ledig waren und trotz- dem gegebenen Falles immer kühn losstürmten ?

Gewiß, sagte er, und wie kühn!

Also sind wohl diese kühnen Stürmer auch tapfer?

Dann, erwiderte er, wäre es in der Tat schlimm bestellt mit der Tapferkeit: sie wäre etwas Häßliches, denn diese Leute sind ja rein wahnwitzig.

Wie lautet nun, versetzte ich, deine Meinung über die Tapferen ? Sind sie in deinen Augen nicht die Kühnen ?

Ja, das sind sie auch jetzt noch‘), erwiderte er.

Und wie nun? fuhr ich fort. Wenn diese nun in solcher Weise kühn sind, dann sind sie doch offenbar nicht tapfer, sondern toll? Nach deiner vorigen Behaup- tung“) aber sind doch im Gegensatz zu der jetzigen Behauptung die Einsichtigsten diejenigen, die auch die Kühnsten sind, und wenn die Kühnsten, dann doch auch die Tapfersten, eine Ansicht, nach welcher also die Weis- heit Tapferkeit wäre?

Nicht richtig, mein Sokrates, gibst du wieder, was ich sagte und dir antwortete. Von dir gefragt, ob die Tapferen kühn sind, erklärte ich mich einverstanden 143). Ob aber auch die Kühnen tapfer sind, danach ward ich nicht gefragt; denn hättest du die Frage mir vorhin vorgelegt, so hätte ich geantwortet: „nicht alle“. Was aber mein Zugeständnis anlangt, nämlich daß die Tapferen kühn seien, so hast du dessen Richtigkeit in keiner Weise widerlegt. Weiter zeigst du, daß die Sachkundigen so- wohl sich selbst wie auch andere, Nichtkundige, an Kühnheit übertreffen und glaubst damit die Tapferkeit una die Weisheit als ein und dasselbe zu erweisen. Mit solchem Verfahren aber könntest du auch zu der Ansicht kommen, die (körperliche) Stärke sei Weisheit. Denn wenn du gemäß diesem Muster von Schlußverfahren mich fragen wolltest, ob die Starken auch leistungsfähig sind, so würde ich mit Ja antworten; sodann, ob die der Ringkunst Kundigen leistungsfähiger sind als die

102 Platons Dialoge.

darin Unkundigen, und auch leistungsfähiger nach be- standener Lehrzeit als sie selbst es vorher waren, so würde ich mit Ja! antworten. Auf dieses mein Zuge- ständnis hin wärest du, unter Einhaltung ganz der näm- lichen Schlußweise, zu der Behauptung berechtigt, nach meinem Zugeständnis sei die Weisheit Stärke. Ich aber gebe auch hier durchaus nicht zu, daß die Leistungsfähigen stark seien, wohl aber, daß die Starken leistungsfähig sind. Denn Leistungsfähigkeit und Stärke sind nicht ein und dasselbe, vielmehr kann die Leistungsfähigkeit ihren Ursprung auch in guter Einsicht haben, wie auch in Raserei oder in Zorneserregung, die Stärke dagegen nur in natürlicher Anlage und guter Ernährung. Und so ist denn auch in jenem Falle Kühnheit und Tapferkeit nicht dasselbe Es gilt also wohl der Satz, daß die Tapferen kühn sind, nicht aber der, daß die Kühnen auch alle tapfer sind. Denn Kühnheit kann den Menschen erwachsen sowohl aus kunstmäßiger Übung wie aus Zorneserregung und Raserei, wie die Leistungsfähigkeit;

Tapferkeit dagegen aus natürlicher Anlage und richtiger

Bildung der Seele.-

35. Bist du der Meinung, sagte ich, Protagoras, daß die Menschen teils ein gutes, teils ein trübseliges Leben führen!)

Er gab es zu.

Hältst du es nun für ein gutes Leben, wenn der Mensch in Trübsal und Schmerz lebt?

Er verneinte es.

Wie aber, wenn er nach einem angenehmen Leben aus demselben abscheide? Hat er dann nicht deines Erachtens ein gutes Leben geführt?

Das sollt’ ich meinen, erwiderte er.

Ein angenehmes Leben also ist gut, ein unangenehmes vom Übel (schlecht).

Ja, sagte er, wenn man sein ἼΔΗΙ in der Freude am Schönen dahinbringt.

Wie nun, mein Protagoras? Du hältst doch nicht

351 8

Protagoras. 103

auch, wie die meisten, gewisse Annehmlichkeiten für schlecht und gewisse Widerwärtigkeiten für gut? Ich meine es mit meiner Frage nämlich so: Ist das An- genehme nicht auch gut eben insofern es angenehm ist, also ohne alle Rücksicht auf anderweitige Folgen? Und sind nicht ebenso die Widerwärtigkeiten vom Übel (schlecht) eben insofern als sie widerwärtig sind'!50) ?

‘Ich weiß nicht, Sokrates, erwiderte er, ob ich so schlankweg in dem Sinne wie du fragst auch antworten darf, daß alles Angenehme auch gut und alles Unan- genehme auch vom Übel (schlecht) sei; doch scheint es mir nicht nur für die jetzige Antwort sondern auch im Hinblick auf mein ganzes sonstiges Leben sicherer folgendermaßen zu antworten: Das Angenehme ist zum Teil nicht gut und das Unangenehme zum Teil nicht vom Übel, zum Teil aber auch das erstere gut, das letztere vom Übel und drittens beide zum Teil keines von beiden, weder schlecht noch gut.

Nennst du aber nicht, erwiderte ich, angenehm das, was Teil hat an der Lust oder Lust erzeugt?

Allerdings.

Wenn ich also frage, ob das Angenehme, insofern es angenehm ist, nicht auch gut ist, so heißt das so viel als: Ist die Lust selbst nicht ein Gut?

Laß uns, erwiderte er, mein Sokrates, den von dir immer empfohlenen Weg!) einschlagen, nämlich die- Sache genau prüfen und wenn deine so erörterte These mit der Vernunft zu stimmen scheint und Angenehm und Gut sich als ein und dasselbe erweisen, dann werden

wir uns darauf einigen; wo ah so werden wir sie

2 St,

nicht gelten lassen. Willst du nun, fragte ich, die Führung bei der Erörterung übernehmen, oder soll ich der Führende sein ? An dir ist es, erwiderte er, die Führung zu über- nehmen; denn du bist ja der Urheber der Untersuchung. Wohlan denn, sagte ich, werden wir nicht auf folgende Weise zur Klarheit über die Sache gelangen ?

104 Platons Dialoge.

Angenommen, es sollte einer einen Menschen aus seinem Äußeren auf seine Gesundheit hin prüfen oder für irgend welche sonstige körperliche Leistungsfähigkeit, ohne doch zunächst von ihm mehr zu sehen als das Gesicht und was von den Händen aus dem Gewande hervorragt, so wird er doch wohl sagen: Mach keine Umstände, ent- blöße mir auch deine Brust und den Rücken und lab sie mich sehen, damit ich genauere Einsicht erlange. So etwa vermisse auch ich etwas für unsere Untersuchung. Nachdem ich (im allgemeinen) aus deiner Antwort deine Ansicht über das Gute und Angenehme kennen gelernt habe, möchte ich etwa folgende Aufforderung an dich richten: Laß dich nun dazu herbei, Protagoras, mir auch in bezug auf folgenden Punkt deine Gedanken zu enthüllen: Wie denkst du über die Erkenntnis (ἐπιστήμη) Teilst du auch hier:52) die Ansicht der meisten Menschen oder etwa nicht? Die meisten nämlich halten von der Erkenntnis nicht viel; sie meinen, sie sei nichts Starkes, Leitendes, Gebietendes und sie wollen sie nicht als etwas von dieser Art anerkennen, behaupten vielmehr, es komme oft genug vor, daß der Mensch die Erkenntnis zwar besitze, daß aber nicht sie über ihn die Herrschaft habe, sondern irgend etwas anderes, bald Zorn, bald Lust, bald Unlust, zuweilen auch leidenschaftliche Liebe und oft- mals Furcht!5), kurz sie denken von der Erkenntnis nicht besser als wie von einem Sklaven!5): in solchem Maße lassen sie sich von allen übrigen Seelenzuständen herumzerren. Denkst du nun auch ähnlich über sie, oder ist die Erkenntnis in deinen Augen etwas Schönes und berufen zur Herrschaft über den Menschen dergestalt, daß wer das Gute und Böse richtig erkennt, schlechter- dings durch keine Gewalt dazu gebracht werden kann etwas anderes zu tun als was die Erkenntnis gebietet, da es eben keine bessere Gehilfin für den Menschen gibt als die Einsicht?

Ich teile, erwiderte er, mein Sokrates, deine Ansicht, ja es würde, wenn für irgend jemanden so für mich

er

Protagoras. 105

geradezu schmählich sein, wollte ich nicht Weisheit und Erkenntnis für das Mächtigste erklären von allem, was dem Menschen zuteil werden kann 155).

Das heißt, versetzte ich, recht und wahr gesprochen. Nun weißt du aber doch, daß die meisten Menschen von dieser unserer Ansicht nichts wissen wollen sondern be- haupten, daß viele, die das Bessere recht wohl kennen, es doch nicht tun wollen, obschon sie es könnten, son- dern sich für ihr Tun anders entscheiden; und alle, die ich nach dem Grund dafür fragte, behaupten, es sei entweder Lust oder Unlust oder was ich sonst vor- hin in dieser Beziehung anführte!5), unter deren ob- siegender Gewalt die Betreffenden so handelten.

Nun, von den Menschen, versetzte er, mein Sokrates, bekommt man auch sonst genug zu hören was nicht richtig ist.

Wohlan denn, so versuche, im Bunde mit mir die Menschen eines Besseren zu belehren und ihnen klar zu machen, was es eigentlich auf sich hat mit dem was ihnen da widerfährt und was sie als ein Überwunden-

.werden durch die Lüste bezeichnen, infolgedessen sie

nicht das Bessere tun trotz richtiger Erkenntnis desselben. Denn wenn wir zu ihnen sagten: „Ihr habt nicht recht, ihr Leute, sondern seid im Irrtum“, so würden sie uns vermutlich fragen: Nun, Protagoras und Sokrates, wenn das, was uns da widerfährt, nicht ein Überwundenwerden - durch die Lust ist, was ist es denn dann und wie nennt ihr es? Das müßt ihr uns sagen.

Was brauchen wir uns, mein Sokrates, an die Mei- nung der Leute zu kehren, die a was ihnen gerade in den Mund kommt!5?)

Irre ich nicht, erwiderte ich, so kann’ uns das förder- lich sein für Bestimmung des Verhältnisses, in dem die Tapferkeit zu den übrigen Teilen der Tugend steht. Bist du also gewillt an unserem eben getroffenen Abkommen festzuhalten, dem zufolge ich die Führung haben soll, so mußt du mir folgen auf dem Weg, der meiner Meinung

106 Platons Dialoge.

nach am besten zur Klärung der Sache führt; willst du das aber nicht, so lasse ich die Sache fallen, wenn es dir recht ist. |

Nein, sagte er, du hast recht; fahre nur fort wie du begonnen.

36. Wenn also, sagte ich, die Leute uns abermals fragten: Wofür erklärt ihr das, was wir ein Überwunden- werden durch die Lüste nannten? so würde ich ihnen folgende Antwort geben!5): So merket denn auf; denn ich und Protagoras, wir werden versuchen es euch klar ‚zu machen. Ihr meint doch, liebe Leute, solche Nieder- lage erleide man auch in Lagen wie der, wo ihr, wie häufig, durch den verführerischen Reiz von Speisen, Ge- tränken und Liebeslust bewältigt, ungeachtet der Erkennt- nis ihrer Verwerflichkeit, euch gleichwohl dem Genusse derselben hingebt? Ja, würden sie da sagen. Wir würden sie dann doch wohl weiter fragen: Inwiefern aber meint ihr, daß sie verwerflich seien ? Etwa weil ein jeder dieser Genüsse für den Augenblick diese Lust gewährt und

angenehm ist, oder weil er für die Folgezeit Krankheiten

erzeugt oder Armut und manche andere derartige Übel mit sich führt? Oder gesetzt auch, er hätte für die Folgezeit keine derartige Wirkung, sondern gewähre nur Lust, wäre er dann auch vom Übel, welcher Art auch immer er sei? ‚Würden sie dann wohl, Protagoras, eine andere Antwort geben als die, sie seien nicht wegen der Lust, die sie im Augenblick gewähren, verwerflich, sondern wegen der späteren Folgen, nämlich der Krank- heiten und sonstiger Übel?

Ich glaube wohl, antwortete Protagoras, daß die Leute so antworten werden.

Was nun Krankheiten erzeugt, erzeugt doch auch

Unlust, und was Armut hervorruft, ruft ‚doch gleich- falls Unlust hervor?

Protagoras stimmte zu.

Offenbar also, liebe Leute, sind doch in eueren Augen, wie ich und Protagoras behaupten, diese Genüsse

Protagoras. 107

'54 St. nur deshalb vom Übel, weil sie in Unlust enden und uns anderer Genüsse berauben ? Das würden sie zugeben.

‚Wir waren beide darüber einverstanden.

Wenn sie nun wieder nach dem Entgegengesetzten fragten: Ihr Leute, wenn ihr anderseits wieder behauptet, das Gute sei (unter Umständen) unangenehm, habt ihr dann dabei nicht Dinge im Auge wie turnerische An- strengungen und ärztliche Behandlung mit Brennen, Schneiden, Arzeneien und Fasten, Dinge also, von denen ihr euch sagt, daß sie zwar einerseits gut, anderseits aber doch auch übel sind? Das würden sie doch zugeben ?

Er stimmte bei.

Nennt ihr sie nun um deswillen gut, weil sie für den Augenblick die stärksten Schmerzen und Qualen ver- ursachen, oder weil in der Folgezeit aus ihnen Gesund- heit erwächst und körperliches Wohlbefinden und Rettung der Staaten aus Gefahren und Erweiterung ihrer Herr- schaft (über andere) und Reichtum? Sie würden das letztere für richtig erklären, sollte ich meinen. |

Er stimmte bei.

Aus keinem anderen Grunde also nennt ihr diese

. Dinge doch gut als weil sie schließlich lustvolle Zustände und Abwendung und Vertreibung der Unlust zur Folge haben? Oder könnt ihr als Ausschlag gebend für die Bezeichnung dieser Dinge als guter irgend etwas anderes anführen als Lust und Unlust? Nein! würde ihre Ant- wort lauten, glaube ich.

Das glaube auch ich, sagte Protagoras.

Also jaget ihr doch der Lust nach als etwas Guten und die Unlust meidet ihr als ein RR.

Er stimmte bei. |

Was ihr also für ein Übel haltet das ist eben nichts anderes als die Unlust, und für ein Gutes nichts anderes als die Lust; denn ihr erklärt ja doch sogar den vor- handenen Lustzustand selbst für ein Übel, wenn er uns größerer Annehmlichkeiten beraubt als die sind, welche

108 Platons Dialoge.

er selbst bietet, oder wenn er Unlust zur Folge hat, deren Maß das Maß der in ihm enthaltenen Lust übertrifft. Denn wäre es wirklich ein anderer Grund, aus dem ihr den Lustzustand als ein Übel bezeichnet und hättet ihr dabei irgend ein anderes Ziel im Auge, dann wäret ihr auch imstande es uns anzugeben; aber das wird euch nicht möglich sein.

Auch meiner Meinung nach nicht, sagte Protagoras.

Steht es nun anderseits nicht ebenso mit dem eigent- lichen Schmerz- und Unlustgefühl? Ihr nennt doch dann den Unlustzustand selbst gut, wenn er uns entweder von größerer Unlust befreit als die ist, welche er selbst mit sich führt, oder wenn er uns Annehmlichkeiten verschafft, die mehr besagen als die augenblickliche Unlust? Denn wenn euch für euere Bezeichnung der vorhandenen Un- lust als einer guten etwas anderes als Ausschlag gebend gilt als das was ich dafür ausgebe, dann müßt ihr auch imstande sein es anzugeben; aber das wird euch nicht möglich sein. |

Da hast du recht, sagte Protagoras.

Wenn ihr mich nun, fuhr ich fort, weiter fragtet,

ihr Leute!5%): Weshalb überhaupt machst du in dieser Sache soviel Worte und Umstände? so würde ich ant- worten: Habet Nachsicht mit mir. Denn erstens ist es nicht leicht das eigentliche Wesen dessen darzulegen, was ihr ein Überwundenwerden durch die Reize der Lust nennt, sodann aber ist gerade dies der Angelpunkt, um den sich die ganze Beweisführung dreht. Aber auch jetzt steht es euch noch frei, euere Behauptung zurückzunehmen, wenn ihr das Gute als etwas erklären könnt, das irgend- wie verschieden ist von der Lust oder das Schlechte (Übel) als etwas, das verschieden ist von der Unlust!#0). Oder genügt es euch euer Leben in angenehmer Art hinzubringen ohne Unlust? Ist dies aber der Fall und könnt ihr nichts anderes als gut oder übel bezeichnen als was in Lust oder Unlust endet, so laßt euch nun folgendes gesagt sein. Ich versichere euch nämlich:

355 St.

N SR DE ein ua ei

Protagoras. 109

Wenn sich dies so verhält, dann macht ihr euch lächerlich mit euerer Behauptung, der Mensch entscheide sich, ver- führt und geblendet durch die Reize der Lust, in seinem Tun nicht selten für das Schlechte trotz der Erkenntnis, daß es schlecht sei, während es doch in seiner Macht stünde es zu unterlassen; und ebenso mit der anderen Behauptung, der Mensch wolle das Gute nicht tun trotz Erkenntnis desselben, weil er sich der Lust des Augen- blicks gefangen gebe1#t),

37. Daß dies aber lächerlich ist, wird sich mit voller Klarheit ergeben, wenn wir auf den Gebrauch der vielerlei Namen als da sind „angenehm“ und „unangenehm“, „gut und schlecht (übel)“ verzichten und uns vielmehr, da es, wie erwiesen, sich nur um zweierlei handelt, auch nur zweier Namen dafür bedienen, und zwar zuerst der Namen gut und schlecht (übel), weiterhin sodann wieder der Namen angenehm und unangenehm, Dieses fest- gestellt, wollen wir also sagen: Der Mensch, ob er gleich das Schlechte als Schlechtes erkennt, tut es dennoch. Wenn uns nun jemand fragt: Warum denn? so wer-

den wir antworten: Weil er sich überwinden lädt.

‘Wovon denn? wird jener uns fragen. Wir aber dürfen nun nicht mehr antworten ‚von der Lust“, denn sie führt ja nunmehr einen anderen Namen, nämlich den des Guten. Also müssen wir jenem antworten und sagen: Weil er überwunden ist. Nun, wovon denn? wird er fragen. Vom Guten, ja beim Zeus. Sollte nun unser Frager etwa ein Spötter sein, so wird er in Lachen ausbrechen und sagen: Was ihr da sagt, ist wahrlich zum Lachen, daß ein Mensch, der das Schlechte als solches erkennt, obschon er es nicht tun sollte, es dennoch tut, weil er überwunden wird vom Guten. Etwa, wird er fragen, weil dem Guten in eueren Augen der Sieg über das Schlechte nicht gebührt? Oder gebührt ihm doch dieser Sieg? Darauf werden wir offenbar antworten müssen: Weil er ihm nicht gebührt; denn sonst würde der, von dem wir sagen, er lasse sich von den Reizen der

110 Platons Dialoge.

Lust überwinden, keinen Fehltritt begehen. Unter welcher Voraussetzung aber, wird er vielleicht {ragen, steht denn das Gute hinter dem Schlechten oder das Schlechte hinter dem Guten zurück? Doch wohl nur dann, wenn das Schlechte größer (mächtiger) ist, das Gute dagegen kleiner (machtloser) oder wenn des Ersteren mehr, des Letzteren weniger ist? Wir werden uns

damit einverstanden erklären müssen. Offenbar also,

wird er nun sagen, bedeutet dies euer „Überwunden- werden“ nichts anderes als dies: gegen geringeres Gute mehr Schlechtes in Kauf nehmen. Damit also hat es diese Bewandtnis. Nunmehr wollen wir uns hinwie- derum der anderen Ausdrücke bedienen, nämlich der Namen „angenehm“ und „unangenehm“ für die nämlichen Dinge. Der Mensch also, sagen wir nun, tut vorhin sagten wir das Schlechte, jetzt aber müssen wir sagen das Unangenehme, obschon er es als solches erkennt, überwunden von dem Angenehmen, das offenbar nicht wert war zu siegen. Und welche andere gegenseitige Wertabschätzung von Lust und Unlust gibt es denn als die nach dem Mehr- oder Minderbetrag der einen gegen die andere, das heißt danach, auf welcher Seite das Größere und Kleinere, das Mehr oder Weniger, das dem Grade nach Höhere oder Niedere liest. Denn wollte einer einwerfen: Aber es ist doch, Sokrates, ein erheb- licher Unterschied zwischen dem augenblicklich Ange- nehmen und demjenigen Angenehmen oder Unangenehmen, das erst in der Folgezeit liegt, so würde ich antworten: Aber was ist es anderes als Lust und Unlust, worin er liegt? Denn worin sollte er sonst liegen? Nein, wie ein des Wägens kundiger Mann mußt du das Angenehme und das Unangenehme, sowohl das nahe wie das ferne, übersichtlich zusammenordnen und auf die Wage legen und mir dann sagen, welche von beiden Seiten im Über- gewicht ist. Denn wenn du Angenehmes gegen Ange- nehmes wägst, dann mußt du das Größere und Mehrere wählen, wenn aber Unangenehmes gegen Unangenehmes,

356 St.

Protazroras. 111

dann das Kleinere und Geringere; und wenn Angenehmes gegen Unangenehmes, so kommt es darauf an, ob das Unangenehme überwogen wird von dem Angenehmen oder das Angenehme von dem Unangenehmen; in ersterem Falle muß man tun, was diesem Verhältnis entspricht), gleichviel ob es sich um ein Näheres oder um ein Ferneres handelt, im letzteren Falle nicht. So und nicht anders verhält es sich doch damit, ihr Leute? würde ich sagen. Ich bin meiner Sache ganz sicher, sie würden nichts anderes zu sagen wissen.

Damit erklärte sich auch Protagoras einverstanden.

Da sich dies nun so verhält, so beantwortet mir folgendes, werde ich sagen. Erscheinen euerem Gesicht die nämlichen Größen in der Nähe größer, in der Ferne kleiner, oder nicht? Ja, werden sie sagen. Und ‚das Dicke und die Menge ebenso? Und die gleichen Töne aus der Nähe stärker, aus der Ferne schwächer? Auch das werden sie bejahen. Hinge nun euer Wohlergehen davon ab, daß ihr die großen Entfernungen für euer Handeln wähltet, die kleinen aber miedet und unbeachtet ließet, worin müßtet ihr dann das Heil eueres Lebens finden? In der Meßkunst!s) oder in der Macht des Schei- nes? Oder würde uns die letztere nicht irre führen und zur Folge haben, daß wir oftmals die wahren Verhältnisse völlig verdrehen und dann Reue empfinden über unser Tun sowie über unsere Wahl des Großen und Kleinen, während die Meßkunst dies Trugbild seiner Macht ent- kleiden und durch klare Feststellung des wahren Tat- bestandes unserer an dieser Wahrheit festhaltenden Seele zur Ruhe verhelien und so zur Heilbringerin für unser Leben werden würde? Würden die Leute zugeben, daß uns bei dieser Annahme die Meßkunst zum Glücke ver- helfen würde oder etwa irgend eine andere Kunst?

Nein, die Meßkunst, räumte er ein.

Und wie, wenn von der Wahl des Geraden und Ungeraden (der Zahlen) das Heil unseres Lebens abhinge, so dab es auf die richtige Wahl der höheren oder tieferen

119 Platons Dialoge.

Zahl ankäme sowohl im Verhältnis einer jeden von beiden Arten zu sich selbst!#) wie der einen Art zur anderen, mag es sich nun um Nahes oder Fernes handeln, worin würde dann das Heil unseres Lebens liegen? Nicht in

irgend einer Art von Erkenntnis? Und wäre sie nicht:

auch eine messende Kunst, da es sich dabei um Mehr- betrag oder Minderbetrag handelt? Und da es hier Ge- rades und Ungerades ist, worauf sie sich bezieht, kann es dann wohl eine andere sein als die Rechenkunst? Das würden uns die Leute doch wohl zugeben; oder nicht?

Auch Protagoras war der Ansicht, sie würden es zugeben.

Gut denn, ihr Leute. Da sich aber das Heil des Lebens uns als abhängig erwies von der richtigen Wahl der Lust und Unlust nach Maßgabe des Mehr oder Weniger und des Größeren und Kleineren, mag es nun ferner sein oder näher, erscheint da nicht auch sie (die Wahl) erstens als eine Meßkunst, da Überschuß, Mangel und gegenseitige

Gleichheit den Gegenstand ihrer Erwägungen bildet? .

Ganz unbedingt. Ist sie aber eine Meßkunst, dann doch notwendig auch eine Kunst und ein Wissen? Dem werden sie beistimmen. Welcher Art nun diese Kunst und dies Wissen sind, das wollen wir ein andermal untersuchen. Die Tatsache aber, daß sie ein Wissensfach ist, reicht hin zu dem Beweise, den ich und Protagoras führen müssen zur Beantwortung der Frage, die ihr an uns richtet.. Eure Frage aber ward, wenn ihr euch er- innern wollt, damals aufgeworfen, als wir zwei miteinander überein kamen1#), daß nichts mächtiger sei als das Wissen, und daß, wo dies ist, es auch stets die Herrschaft hat sowohl über die Lust wie über alles andere. Ihr dagegen behauptetet, gar oft bemächtige sich die Lust der Herr- schaft über den Menschen, auch wenn er das Bessere wisse; da wir euch das nun nicht zugaben, so richtetet ihr an uns die Frage: „Nun Protagoras und Sokrates, wenn dieser Vorgang nicht ein Überwundenwerden durch

Protagoras. 113

‚die Lust ist, was soll er denn sonst sein und wofür erklärt

ihr ihn denn? Das saget uns.“ Hätten wir nun damals euch gleich erwidert, er wäre Unwissenheit, dann hättet ihr uns ausgelacht; wenn ihr uns aber jetzt auslacht, dann lacht ihr damit auch euch selber aus; denn auch ihr. habt eingeräumt, daß, wer in der Wahl von Lust und Unlust, das heißt von Gutem und Schlechtem, fehl- geht, dies aus Mangel an Erkenntnis tut, und nicht bloß im allgemeinen an Erkenntnis, sondern, wie ihr des Näheren euch belehren ließet, auch an Meßkunde. Eine ohne Erkenntnis vollzogene fehlerhafte Handlung aber, das wißt ihr auch wohl selbst, hat ihren Grund in der Unwissenheit. Mithin ist das Überwundenwerden durch die Lust eben nichts anderes als die größte Unwissenheit '!%), Als Arzt für sie kündigt sich Protagoras an, sowie auch Prodikos und Hippias. Ihr aber haltet die Sache für etwas anderes als Unwissenheit und nehmt deshalb weder selbst Unterricht bei den Lehrern alles dessen, d. h. bei diesen unseren Sophisten, noch schickt ihr euere Söhne zu ihnen, als ob es sich um Dinge handelte, die nicht

lehrbar wären, sondern sitzt auf eueren Geldsäcken und

gebt: nichts heraus für sie, womit ihr denn euch Ἄραρ Ἀπ wie auch dem Staate übel: mitspielt.

38. So also würden wir den Leuten geantwortet haben. Nun aber frage ich nächst dem Protagoras auch euch, Hippias und Prodikos denn an der Untersuchung sollt auch ihr teilnehmen ob ihr meine Ausführungen für wahr oder für unwahr haltet”),

Allen schien das Gesagte ganz unwidersprechlich wahr. Ihr räumet also ein, sagte ich, daß das Angenehme gut ist und das Unangenehme vom- Übel. Von seinen Wort- unterscheidungen aber bitte ich den Prodikos jetzt ab- zusehen; denn magst du es nun angenehm (A6%) nennen, oder ergötzlich (τερπρόν) oder erfreulich (zaoıöv) oder wonach und wie immer du es zu benennen Lust hast, mein bester Prodikos, die Wahl des Ausdrucks steht dir frei für deine Antwort auf meine Frage.

Apelt, Platon Protagoras. Phil. Bibl. Bd. 175, 8

114 Platons Dialoge.

Da lachte Prodikos auf und gab seine Zustimmung, ebenso auch die anderen.

| Wie aber, meine Freunde, sagte ich, steht es nun

mit dem Folgenden? .Sind nicht alle Handlungen, die

diesem Ziele, nämlich einem schmerzlosen und angenehmen

Leben zustreben, auch schön (löblich), und ist nicht jede

schöne Handlung auch gut und nützlich?

Sie stimmten bei. |

Wenn also das Angenehme gut ist, so tut niemand, der weiß oder glaubt, daß anderes besser ist als das, was er zunächst vorhat und was er auch tun kann, das Schlechtere, wenn es doch in seiner Macht steht das Bessere zu tun!#); und das Unterliegen im Kampf mit sich selbst ist nichts anderes als Unwissenheit, wie die Herrschaft über sich selbst nichts anderes ist als Weis- heit!6®),

Damit waren alle einverstanden.

Wie nun? Was versteht ihr unter Unwissenheit? Doch wohl dies, daß man über wichtige Dinge Talscher Ansicht und im Irrtum ist?

Auch damit erklärten sich alle einverstanden.

Nicht wahr, fuhr ich fort, dem Schlechten wendet sich doch niemand freiwillig zu noch auch dem was er für schlecht hält, wie es denn allem Anschein nach über- haupt nicht in der menschlichen Natur liegt sich dem zuwenden zu wollen, was man für schlecht hält, und nicht vielmehr dem Guten. Sieht man sich aber genötigt von zwei Übeln das eine zu wählen, so wird niemand das größere wählen, wenn es ihm frei steht das geringere zu wählen. |

Mit alledem waren sie sämtlich einverstanden,

‘Wie nun? fuhr ich fort. Ihr kennt doch die Aus- drücke Bangigkeit und Furcht und ihr versteht doch wohl darunter dasselbe wie ich? Dich habe ich dabei im Auge, mein Prodikos. Ich verstehe darunter die Erwartung eines Übels, ihr mögt das. nun Furcht nennen oder ᾿ς Bangigkeit.

Protagoras. 115

Protagoras und Hippias nun hielten das für die rich- tige Erklärung von Bangigkeit und Furcht, Prodikos wollte sie aber nur für die Bangigkeit (δέος) gelten lassen, nicht für die Furcht (φόβος).

Aber darauf, sagte ich, mein Prodikos, kommt es nicht an, wohl aber auf das Folgende: wenn das Vorige wahr ist, wird da irgend ein Mensch sich dem zuwenden wollen, wovor er Furcht hat, wenn es ihm doch freisteht, sich auch anderswohin zu wenden? Oder ist das nach dem Zugestandenen unmöglich? Denn wovor er Furcht hat, das hält er zugestandenermaßen für schlecht, und was er für schlecht hält, dem wendet sich aus freien Stücken niemand zu und wählt es nicht.

Auch dem stimmten alle bei.

39. Dies also vorausgesetzt, fuhr ich fort, mein Pro- dikos und Hippias, mag nun unser Protagoras die Richtig- keit seiner früheren Antwort verteidigen ich meine damit nicht die allererste!7%), die er gab; denn da erklärte er von den fünf vorhandenen Teilen der Tugend sei keiner von der gleichen Beschaffenheit wie der andere, sondern

: jeder habe seine eigene Bestimmung und Wirkungsweise —,

nicht dieses also meine ich, sondern was er später!’t) sagte. Denn später gab er zu, die vier anderen ständen einander ziemlich nahe, der eine aber, die Tapferkeit näm- lich, stände den anderen ganz fern. Als Beweis dafür gab er mir folgendes an: „Du wirst, Sokrates, Menschen finden, die höchst gottlos, ungerecht, zügsllos und un- wissend, dabei aber doch sehr tapfer sind; daran kannst du erkennen, daß die Tapferkeit sich von den anderen Teilen der Tugend scharf unterscheidet.“ Gleich damals wunderte ich mich nicht wenig über diese Antwort, noch mehr aber im Verlaufe meiner Verhandlung mit euch. Ich fragte ihn also, ob er die Tapferen für kühn erkläre; er aber antwortete: Ja, und noch für mehr, für Drauf- gänger. Erinnerst du dich, Protagoras, daß du diese Ant- wort gabst? (349 e).

Er gab es zu.

8*

116 Platons Dialoge.

Auf denn, versetzte ich, sage uns, was ist es denn, worauf die Tapferen so scharf losgehen? etwa auf das, worauf die Feigen?

Nein, sagte er.

Also auf anderes.

Ja, sagte er.

Gehen die Feigen auf das Ungefährliche los, die Tapferen aber auf das Furchtbare?

So lautet Bniheinkin die Rede der Leute, mein So- krates.

Du hast recht, erwiderte ich, aber nicht danach frage ich, sondern worauf nach deiner Meinung die Tapferen losgehen. Etwa auf das Furchtbare, in der Überzeugung, daß es furchtbar sei, oder auf das Nichtfurchtbare

Davon, versetzte er, hat sich aber das erstere in deinem Nachweis soeben als unmöglich erwiesen 173).

Auch damit hast du recht. Hatte es also mit diesem Beweis seine Richtigkeit, so geht niemand auf das los, was er für furchtbar hält; denn das Unterliegen im Kampf mit sich selbst ist, wie sich herausgestellt hat!?5), nichts anderes als Unwissenheit.

Er räumte es ein.

Aber worauf sie Mut haben, darauf gehen hinwiederum alle los, Feige wie Tapfere und, die Sache so genommen, gehen beide, Feige und Tapiere, auf dasselbe los.

Aber, versetzte er, Sokrates, das Draufgehen von Feigen und Tapferen sieht doch im bezug auf das Ziel im vollsten Gegensatz zueinander. Nimm z. B. gleich den Krieg: da sind die einen doch bereit loszugehen, die anderen richt.

Und wie steht es dabei mit dem Losgehen? Ist es schön (löblich) oder häßlich (verwerflich)?

Schön, erwiderte er.

Und wenn schön, dann doch auch gut, wie wir im Verlaufe unserer Untersuchung gemeinsam feststellten 114) ; denn wir kamen überein, daß alle schönen Handlungen

auch gut seien.

}0 St.

Protagoras, 117

Du hast recht, und das ist meine von jeher fest- stehende Meinung.

Recht so, erwiderte ich. Aber welche von beiden wollen deiner Meinung nach nicht in den Krieg ziehen, ob es gleich schön ist und gut?

Die Feigen, antwortete er.

Und ist es, versetzte ich, wenn anders es schön und gut ist, nicht auch angenehm

Wenigstens haben wir uns darüber geeinigt, erwi- derte er.

Erkennen nun etwa die Feigen das Schönere, Bessere und Angenehmere als solches und wollen sie trotzdem nicht an dasselbe herangehen ?

Aber auch das dürfen wir nicht zugeben, wenn wir nicht unsere früheren Zugeständnisse zunichte machen wollen.

Wie aber steht es mit dem Tapferen? Geht er etwa nicht auf das Schönere, Bessere und Angenehmere aus!?5)

Dagegen, versetzte er, wäre jeder ‘Widerspruch ver-

. geblich.

Überhaupt also geben sich die Tapferen, wenn sie sich fürchten, nie einer schimpflichen (häßlichen) Furcht hin, und es ist kein schimpflicher Mut, wenn sie mutig sind 110)

Allerdings, sagte er.

Wenn aber nicht schimpflich (häßlich), dann doch löblich (schön)? Und wenn schön, dann auch gut?

Ja.

Mithin trifft für die Feigen sowie für die Tollkühnen und Rasenden das Gegenteil zu: ihre Furcht sowie ihre Tollkühnheit ist doch wohl häßlich und schimpflich ?

Er gab es zu.

Worin sonst aber: wäre ὅδε Grund für diesen Mut zum Häßlichen und Schlechten zu suchen als in Un- verstand und Unwissenheit ?

So ist es, sagte. er.

118 Platons Dialoge.

Und wie nun? Was die Feiglinge zu Feiglingen macht, nennst du das Feigheit oder Tapferkeit

Ich kann es nicht anders als Feigheit nennen, sagte er.

Hai es sich aber nicht gezeigt, daß ihre Feigheit ihren Grund in der Unkenntnis des Furchtbaren hat?

Allerdings, sagte er.

Diese Unwissenheit also ist es doch, die sie zu Feig- lingen macht?

Er gab es zu.

Was sie aber zu Feiglingen macht, das ist doch deinem Zugeständnis zufolge die Feigheit?

Er ne zu.

Also muß doch die Unkenntnis des Furchtbaren und Nichtfurchtbaren Feigheit sein?

Er nickte zu. |

Tapferkeit ist doch das Gegenteil von Feigheit

Ja, sagte er.

Nun ist doch die Kenntnis des Furchtbaren und Nichtfurchtbaren das Gegenteil von der Unkenntnis dieser Dinge.

Auch jetzt nickte er noch.

Und die Unkenntnis hiervon ist doch Feigheit?

Da nickts er nur mit sichtlichem Widerstreben.

Die Kenntnis also des Furchtbaren und Nichtfurcht- baren ist Tapferkeit und demnach das Gegenteil von der - Unkenntnis dieser Dinge?

Hier konnte er sich auch zum Zunicken nicht mehr entschließen und schwieg.

Da sagte ich: Wie, Protagoras, weder ein Ja noch ein Nein hast du auf meine Frage?

Führe die Sache selber zu Ende, erwiderte er.

Nur eines möchte ich erst noch von dir hören, er- widerte ich, ob du nämlich immer noch wie zu Anfang der Ansicht bist, daß es höchst unwissende, dabei aber doch höchst tapfere Leute gibt”),

Du scheinst, sagte er, es dir nun einmal in den Kopf gesetzt zu haben, daß ich dir antworten soll. So

13

er

Protagoras. 119

will ich dir denn den Willen tun und sage also, dab es mir nach dem Gange der Untersuchung unmöglich erscheint.

40. Alle diese meine Fragen, erwiderte ich, sind lediglich darauf zurückzuführen, daß ich ergründen möchte, was es eigentlich mit der Tugend auf sich hat und was die Tugend selbst ihrem ‘Wesen nach ist. Denn soviel weiß ich: ist dies nur erst vollständig aufgeklärt, dann wird auch ein helles Licht fallen auf das, worüber wir beide, ich und du, uns in so langer Verhandlung er- gangen haben, ich als Vertreter der Ansicht, die Tugend sei nicht lehrbar, du als Verfechter ihrer Lehrbarkeit. Und es will mir vorkommen als träte der Ausgang unserer Verhandlungen gleichsam als Ankläger und Spötter gegen uns auf!?8); wäre er der Sprache mächtig wie ein Mensch, so würde er sagen: „Ihr seid doch wunderliche Leute, du Sokrates und Protagoras! Du, Sokrates, der du zuvor behauptetest, die Tugend sei nicht lehrbar, trittst jetzt mit vollem Eifer für das Gegenteil ein und suchst zu zeigen, daß all die bewußten Dinge, also Gerechtigkeit,

. Besonnenheit und Tapferkeit, ein Wissen seien, ein Stand-

punkt, der die Tugend aufs Entschiedenste zu etwas Lehrbarem machen würde. Denn wäre die Tugend etwas anderes als ein Wissen, ein Standpunkt, den Protagoras zu vertreten bemüht war, dann wäre sie offenbar nicht lehrbar. So aber, wenn sie sich durchweg als Erkenntnis. darstellen sollte, worauf du hinaus willst, Sokrates, ‘wäre es doch wunderbar, wenn sie nicht lehrbar sein sollte. Protagoras dagegen, früher der Verfechter ihrer Lehr- barkeit, scheint jetzt im Gegenteil dafür einzutreten, sie sei so ziemlich alles andere eher als. Erkenntnis und dann würde sie eben nimmermehr lehrbar. 561} 119)... Ich nun, mein VProtagoras, bin angesichts dieses völligen Durch- einanders aller dieser Dinge von dem lebhaftesten Drang nach Aufklärung darüber erfüllt. Ginge es also nach meinem Wunsch, so würden wir nach dem Abschluß

‚dieser Erörterung uns auch der Untersuchung über das

190 Platons Dialoge.

Wesen der Tugend selbst zuwenden und von neuem zu ergründen suchen, ob sie lehrbar ist oder nicht lehrbar, auf daß uns nicht etwa jener Epimetheus (der Hinter- herdenker), der uns nach deiner Darstellung®) schon bei der Verteilung schlecht wegkommen ließ, auch in un- serer Untersuchung uns durch täuschenden Trug übel mitspiele. Eben auch in deiner Erzählung hat mir Prometheus (der Vorausdenker) besser gefallen als Epi- metheus. Ihn nehme ich mir denn zum Vorbild's!) und eben weil ich im voraus auf das Glück meines ganzen Lebens bedacht bin, beschäftige ich mich mit all diesen Dingen und möchte, wenn du nur wolltest, wie ich gleich zu Anfang sagte!®), am liebsten sie mit dir gemeinschaft- lich durchforschen.

| Da sagte Protagoras: Ich lobe deinen Eifer, mein Sokrates, und die Art, in der du das Gespräch durch- geführt hast. Denn ich glaube auch sonst kein übeler Mensch zu sein, aber Neid liegt mir ferner als irgend jemandem. Habe ich mich doch über dich schon gegen

gar manchen dahin geäußert, dab ich dich von allen,

mit denen ich in Berührung komme, am meisten schätze, und besonders noch von allen in deinem Alter 1585): und ich stehe nicht an zu sagen, daß es mich nicht wundern würde, wenn du einer von den namhaften Weisen werden

würdest. Über die genannten Fragen aber wollen wir

ein andermal, wenn es dir recht ist, verhandeln; jetzt aber ist es hohe Zeit uns anderem zuzuwenden.

Ja, versetzte ich, so soll’s gehalten werden, wenn du so meinst. Auch für mich ist es längst schon Zeit dem bewußten Geschäft nachzugehen; bin ich doch nur dem schönen Kallias zu Gefallen hier geblieben.

Nach diesem Austausch von Rede und Gegenrede gingen wir von dannen.

Anmerkungen

zum Protagoras.

1) 5. 87. Der Freund, dem Sokrates das Gespräch erzählt, und mit ihm dies kurze \Vor- oder Rahmengespräch, hätten, so meinen manche (wie Hirzel, Der Dialog 1, 214, 1, vel. auch Pohlenz, Aus Pl.'s Werdezeit, p. If), auch ebensogut wegbleiben können; wie beim Lysis und beim Staate (den Charmides darf man nicht mit anführen wegen 154B ἑταῖρε, 1550 φίλε, 1551 yervada) hätte Platon sich die Erzählung des Sokrates entsprechend der im allge- meinen üblichen literarischen zählung-form an das Publikum über- haupt gerichtet denken können. Das mag im großen und ganzen zutreffen; denn irgend etwas für die Sache Wesentliches würde uns dadurch nicht entzogen worden sein. Allein bei Platon, gwi nil molitur inepte, hat man sich in solchem Falle immer zu fragen, ob er sich dadurch nicht irgendwelchen, wenn auch an sich unbeden- tenden Vorteil für die Darstellung hat sichern wollen. Achtet man nun etwas genauer auf das einzelne, so zeigt sich deutlich, daß Pl. dieses Vorgespräch durchaus nicht als ein ohne weiteres ablösbares Glied des ganzen betrachtet hat; vielmehr weiß er daraus gewisse wirksame Züge dramatischer Art für die Darstellung zu g-winnen. Man lese z. B. 335 καί μου ἀνισταμένου ἐπιλαμβάνεται [Καλλίας τῆς χειρὸς τῇ δεξιᾷ, τῇ δ᾽ ἀριστερᾷ ἀντελάβετο τοῦ τρίβωνος τουτουί, 80 setzt dies τουτουΐ nicht den Leser, sondern den unmittelbaren Hörer, ἃ. ἢ. den Freund, den ἕταῖρος als anwesend voraus und jeder fühlt die dramatische Lebendirkeit, die darin liegt. Und wenn Sokrates sich 889 ΕἸ mit den Worten ἔπειτα, ὥς γε πρὸς σὲ (nämlich den £raioos) eiojodaı τἀληϑῆ direkt an ihn wendet, so liegt darin, wie man angesichts der Wichtigkeit dieser Ste'le zugeben wird, ein ganz be- sonders wirksamer Zug mimischer Kunst. Auch schon ganz un- scheinbare kleine Einstreuungen, wie ὡς Ey@uaı 336D, deuten darauf hin, daß Sokrates seinen £raioos immer im Sinne behält, daß also Platon auch selbst einiges Gewicht darauf legt. Es wird sich weiter- hin (315E) Gelegenheit bieten, auf die Sache zurückzukommen. (Vgl. Anm. 34.) Hier genügt es zu .betonen, daß Pl. eben noch den stärksten Drang nach dramatischer An-chaulichkeit hat, dem die gewählte Form mehr entsprach als diejenige, für die er sich später, bei schon größerer Entfernung von dem ihm so tief in die Seele schneidenden Verzicht auf den Dichterberuf entschied. Man geht also vielleicht nicht irre, wenn man auch darin ein Anz-ichen be- sonders früher Entstehung des Protagoras sieht. Vgl. Anm. 94 und 105.

3) S. 87. „Dem erst keimet der Bart, im holdesten Reize der Jugend.“ Od. 10, 279. Il. 24, 348.

8) S. 37. Man vergegenwärtige sich, was Sokrates an diesem ‘einen Tage leistet: noch vor Tagesanbruch aus dem Schlafe ge-

122 Protagoras. rüttelt, führt er ein eingehendes Gespräch mit dem jugendlich un- gestümen Hıppokrates, tritt dann mit diesem in das Haus des Kallias ein und bestreitet dort stundenlang fast allein mit Protagoras die Kosten einer für jeden anderen wenigstens nicht leichten Uhnter- haltung, woranf er sich entfernt, aber nur, um alsbald dem £raioos den ganzen Hergang wieder zu erzählen, also doch wieder eine mehr- stündige und nach gewöhnlichem Maßstabe anstrengende Leistung. Für jeden anderen wäre das, οἷοι νῦν βοοτοί εἶσιν, eine kaum zu be- stehende Kraftprobe gewesen, seinem Sokrates aber durfte Platon so etwas immerhin zumuten,

4. S. 37. Vgl. 336B und 348B, an welchen Stellen Alkibiades bedeutsam in das Gespräch eingreift. |

δὴ) S.38. Die Handschriften haben σοφώτατον, wofür die Heraus- geber σοφώτερον eingesetzt haben. Doch macht Kroschel neben anderen Gründen mit Recht darauf aufmerksam, daß der Superlativ wohl eine Anspielung darauf ist, daß Protagoras geradezu αὐτὴ σοφία „die Weisheit selbst“ genannt ward nach Diog. Laert. IX 50.

6) 8. 38. Mit dem ἡμῖν wird wohl angedeutet, daß der ἕταῖρος noch einige Bkannte um sich hat; denn schwerlich wird es sich bloß um die Gemeinschaft mit dem Sklaven handeln.

8. 38. Diesen Ruhm, mag er auch im Munde des Sokrates mit einiger Ironie gewürzt sein, konnte dem Protagoras niemand streitig machen. Er war in der Tat, als Begründer der Soplistik, in gewissem Sinne der geistige Führer des damaligen Griechenland, Geboren in Abdera um 480 v. Chr. machte er sich bald durch viel- seitige Bildung und glückliche Verwertung derselben im Liehrberuf einen großen Namen als Sophist, wie er sich selbst als erster nannte. Er kam 451 v. Chr. nach Athen, wo er bald auch dem Perikles nahe trat. Er hat dann noch öfter, auch zu längerem Aufenthalt, Athen aufgesucht. Wegen seiner Schrift über die Götter angeklagt, ward er aus Athen vertrieben und fand auf der Überfahrt nach Sizilien im Jahre 411 v. Chr. seinen Tod. Die Vielseitigkeit seiner Bildung spiegelt sich in dem Umfang und der Mannigfaltigkeit seiner Schrift- stellerei wieder, von der uns aber nur geringe Reste geblieben sind. S. Diels, Frg. ἃ. Vorsokr. II, 536—543. Was ihm in der Geschichte der eigentlichen Philosophie einen Platz anweist, ist seine an die heraklitische Lehre sich anlehnende Erkenntnistheorie (Relativität

aller Erkenntnis), die Pl. im Theaitet eingehend kritisiert. Für

unseren Dialog kommt sein spezifischer wissenschaftlicher Standpunkt nicht in Betracht.

8) S. 88. Eine sprichwörtliche Wendung.

9) S. 39. Von Hippokrates wissen wir nichts weiter, als was uns Sokrates hier von ihm erzählt.

10). S, 39. Dies Vorspiel des Dialogs hat als solches seine volle

Berechtigung. Es soll uns ein anschauliches Bild geben einerseits von der Macht der Sophistik über die Gemüter, namentlich der Jugend, anderseits von dem schillernden, schwer faßbaren und be- stimmbaren Wesen dieser Kunst. Was das erstere anlangt, so ist Hippokrates nur instar omnium: ein wahrer Heißhunger nach Bil- dung und Aufklärung hatte sich der griechischen Welt bemächtigt,

'wie er kaum seines gleichen hat und in der Folgezeit vielleicht nur

|

a απ. ψν σου

Anmerkungen. 123

überboten wird durch Erscheinungen, wie sie sich im Mittelalter an den Namen des Abälard knüpfen. Als dieser berühmte Meister der Dialektik vor den Bischöfen in die Einsamkeit entweichen mußte, strömten, wie es heißt, von allen Seiten lernbegierige Schüler herbei. „Sie verließen Städte und Schlösser, um in der Einöde zu wohnen, erbauten sich statt prächtiger Häuser kleine Zelte, ernährten sich statt mit köstlichen Speisen von den Kräutern des Feldes und trockenem Brote, rüsteten sich statt weicher Lager Heu und Stroh zu und errichteten statt der Tische Erdhaufen.*“ Ahnliche Opfer zu bringen ist auch unser junger Hippokrates bereit. Sein und seiner Freunde Vermögen gilt ihm nichts gegen die Befriedigung seines Geistesdranges.

11) 5, 89. Es gab ein Oinoe in der Nähe von Marathon; ein zweites an der böotischen Grenze. Welches gemeint sei, läßt Pl. dahingestellt.

12) S. 40, Kallias, Sohn des reichen Hipponikos, durch seine Mutter verwandt mit Perikles, gehörte zu einer der angesehensten und glänzendsten Familien Athens. Damals erst etwa zwanzig Jahre alt, spielte er in Athen doch schon eine große Rolle als Haupt- förderer der neuen geistigen Strömung, sowie als gastfreier, ja ver- schwenderischer und leichtsinniger Hausherr, Auch zu staatlichen Diensten ließ er sich späterhin mehrfach verwenden. Als Platon seinen Dialog veröffentlichte, war er noch am Leben, hat a!so die Freude gehabt, sich durch ihn verewigt zu sehen. In seinen äußeren Verhältnissen ging er aber mehr und mehr zurück, und starb nach 8370 v. Chr. in dürftiger Lebenslage. Denn dem maßlosen und un- sinnigen Aufwand, den er fortgesetzt trieb, war selbst ein so ge- . waltiges Vermögen wie das seinige auf die Dauer nicht gewachsen.

1) ἃ. 40. Nämlich, ob es ihm auch wirklich ernst mit der Sache sei. ᾿

14). S. 40. Der berühmte Arzt und Begründer der wissenschaft- lichen Medizin. Er hielt sich damals: vielleicht in Athen auf.

15) S. 40. Polykleitos aus Sikyon war wie sein Rivale Phei- dias Schüler des Ageladas in Argos. Meist in Argos lebend, ver- fertigte er für den dortigen Heratempel ein berühmtes Kolossalbild _ der Göttin. Er war nicht nur Meister der Bildhauerkunst, sondern auch Baumeister und Ciseleur. Auch als Schriftsteller machte er sich einen Namen durch Veröffentlichung des ersten Lehrbuches der. Bildhauerkunst unter dem Titel „Kanon“.

16) 5. 41, Das deutet auf eine sehr entschiedene Entwertung des an sich durchaus ehrenwerten Namens „Sophist“ (νοὶ. 312C σοφιστής = τῶν σοφῶν ἐπιστήμων) schon für die Zeit vor dem pelo- ponnesischen Kriege hin. Bei allem Ansehen der älteren Sophisten konnte es doch nicht ausbleiben, daß die Ausnutzung ihrer Kunst zu schnödem Gelderwerb ihrem Beruf einen untilgbaren Makel an- heftete. Die höhere, jenseits der Eliementarschule zu erwerbende Geistesbildaung sollte nach 'der auch durch die Sophisten nicht aus- gerotteten Anschauung der Griechen eine Frucht freien Gedanken- austausches sein, beruhend auf einem aus rein menschlichem und sachlichem Interesse hervorgegangenen gegenseitigen Geben und Nehmen.

124 Protagoras,

ı) S. 42. Das stimmt nicht ganz mit 318E; doch handelt es sich nur um eine Verschiebung des Gesichtspunktes, aus dem die Sache betrachtet wird.

18) 5. 42. Damit ist allerdings diejenige Seite der Sophistik hervorgehoben, die sich als ihr nächstliegendes und klarstes Ziel darstellt. . |

19) S. 44, Hierzu vgl. Soph. 223 ἢ.

2) S. 44. Von dem Lehrmeister der Gymnastik forderte Platon, wie viele Stellen zeigen, weit mehr als die Kenntnis der rein mecha- nischen Seite der Körperübung; er sollte bis zu einem gewissen Grade vertraut sein mit der Natur des Leibes und der für ihn er- sprießlichen Diät.

21) 8,45. Da sich Sokrates im weiteren Verlauf des Dialogs ganz auf der Höhe seiner Kunst zeigt, so bedarf es da immer einigen Besinnens, um sich gegenwärtig zu halten, daß er uns hier in ver- hältnismäßiger. Jugend vorgeführt wird. Vol. 81:10 und Einleitung p. 26ff. Vgl. auch Anm. 183.

22) S. 45. Hippias von Elis war jünger als Protagoras. Er gehörte zu den namhaftesten Sophisten; an Eitelkeit übertraf er sie alle. Mit einer Fülle von Kenntnissen auf allen möglichen Wissens- und Kunstgebieten, besonders auch auf dem der Astronomie, verband er große Gewandtheit im Vortrag sowie ein sicheres und selbst- bewußtes Auftreten. Mehrfach war er auch politisch tätig für seine een namentlich als Gesandter in Sparta. Vgl. Bee Beitr. z. Gesch. ἃ. er. Phil. 367—393.

"ἢ τ 45. Prodikos aus Keos war etwa gleichaltrig Gi Hip- pias. Sein Hauptgebiet war die Synonymik. Von dieser seiner Spezialität gibt uns der Dialog mehrfache Proben. Seinen Fünfzig- drachmenvortrag über Synonymik hat Sokrates, wie er uns Krat. 884 B sagt, selbst mit angehört. Von seinen schriftstellerischen Ar- beiten war am bekanntesten der Herakles am Scheideweg (vgl. Xen. Mem. II, 1, 21).

34) S. 46. Paralos und Kallias waren Söhne derselben Mutter, die nach Trennung ihrer Ehe mit Hipponikos den Perikles geheiratet hatte, aus welcher Ehe Paralos stammte,

25) S. 46. Charmides, bekannt aus dem nach ihm benannten Dialog, war der Oheim Platons, nämlich der Bruder seiner Mutter Perıktione.

26) S.46. Mende war eine Kolonie der Eretrier am thermäischen Meerbusen in Thrakien.

"ἢ 8. 47. Die den Protagoras umgebende Schar bewegt sich in ähnlich strenger Ordnung wie der Chor auf der Bühne, daher auch die Bezeichnung Chor (χορός).

38) 5, 47. Vgl. Hom. Od. XI, 600f. Wenn sich Platon hier, wo es sich um Aufzählung und kurze Kennzeichnung einiger bedeu- tender Männer handelt, einer Form der Aufzählung bedie nt, die sich an das elfte Buch der "Ollyssee, an die Schilderung des Eintritts des Odysseus in die Unterwelt anlehnt, so ist das weiter nichts als eine die Darstellung belebende launige Citierweise, etwa wie wir bei ge- geb:nem Anlaß, wenn wir z. Β. einen Lehrer die Schüler seiner Klasse durchzählen sehen, sagen würden „er zählt die Häupter seiner

Anmerkungen. 125

Lieben“, ohne dabei im geringsten an eine ins einzelne gehende Analogie mit der betreffenden Situation des Dichtwerkes zu denken. Allein man hat aus dieser harmlos scherzenden Aufzählungsweise wer weiß was für tiefsinnige Anspielungen herausgelesen. Schon Aristides, der bekannte Rhetor der Kaiserzeit, hat den Anfıng zu solch beziehungsreicher Ausdeutung gemacht. In neuerer Zeit aber war es der treffliche Welcker, der, ein Freund sinniger Gedanken- spiele und von einem gewissen schöpferischen Trieb nach Ergänzung und Zusammenschluß des abgerissen Überlieferten beseelt, in unsere Stelle alles Mögliche hineingeheimniste, eine Tendenz, deren phantasiereichster Vertreter dann weiter F. Dümmler wurde (Aka- demika, p. 40). Die richtige Auffassung der Stelle verdanken wir der nüchternen Interpretationskunst Vahlens (Opusc. ac, I, 476ff.).

22) S. 47. Eryximachos ist der aus dem Symposion als „Schlucksenbekämpfer“ bekannte Arzt.

80 δ᾽ 47. Von ihm hat der Dialog Phaidros seinen Namen,

81) 5, 47. Dieser Andron wird auch Gorg. 4870 erwähnt und zwar als ein Genosse des Kallikles.

»2) S. 47. Od. XI, 581f.

33) S. 47. Bekannt aus dem Symposion als einer der Redner über den Ἔρως. Bezeichnend für ihn ist in seiner Rede namentlich die Stelle 181 ἢ.

s) S. 47. Es handelt sich um den aus dem Symposion be- kannten Dichter Agathon, Hier erscheint er noch als angehender, dem Sokrates noch unbekannter Jüngling. Das weiterhin so wohl- bekannte Verhältnis des Pausanias zu Agathon wird hier von Platon zum Gegenstand einer scherzhaft geheimnisvollen Vermutung ge- . macht, Die Sache war pikant genug, um bei ihr einen Augenblick zu verweilen, was sonst bei keiner der hier aufgeführten Personen geschieht. Es ist ein kleines neckisches Spiel, das Pl. hier mit dem Leser treibt, oder, besser gesagt, ein Spiel, das er den Sokrates mit seinem Hörer, dem äzaioos, treiben läßt. Daraus erklären sich auch die auf den ersten Blick. etwas auffälligen, den Herausgebern sehr unbequemen und von Kroschel voreilig aus dem Text ganz aus- geschiedenen Worte, mit denen er die kleine Episode ab-chließt: . τοῦτ᾽ ἦν τὸ μειράκιον „damit genug von dem Jüngling“. So spricht Sokrates zu dem £raioos, etwa im Stile jener Tragödien des Euri- pides, die mit den an das Publikum gerichteten Worten endigen: τοιόνδ᾽ ἀπέβη τόδε πρᾶγμα. Vgl. Anm.1. Die Herausgeber und Er- klärer haben eben vergessen, daß Sokrates bei seiner Erzählung auch sein ganz bestimmtes Publikum hat, nämlich den ἑταῖρος mit seinen Genos-en. .

35) S. 47. Nur von dem Sohne dieses Leukolophides wissen wir etwas näheres durch Xen. Hell. I, 4, 21, nämlich daß er im Jahre 407 v. Chr. mit Alkibiades Feldherr der Athener war.

36) S. 48. Der als Politiker und Dichter wohlbekannte Ver- wandte des Platon, |

37) 3. 48. Gegensatz: „und nicht Kallias, der Wirt.“ Damit wird man an die drastische Szene mit dem groben Türhüter er- innert, der ihnen den Eintritt zum Kallias verwehrt, zum Prutagoras aber gestattet hatte.

u ὦ. ὦ.»

“ὦ |

128 Protagoras.

88) Κ, 49, Alle diese Dichter konnten, wie auch die gleich- folgenden Vertreter anderer Künste, als Sophisten dies Wort in seiner alten, makellosen Bedeutung genommen bezeichnet werden, denn sie alle sind in gewissem Sinne Aufklärer, Lehrer der Lebens- weisheit, und Protagoras macht sich selbst kein geringes Kompliment damit, daß er sich ihnen ohne weiteres als Kollege anreiht.

3) 5. 49. Ein berühmter, auch in den Gesetzen (VIII, 839 Ef.) erwähnter Athlet.

40) 5. 49. Herodikos, bekannt aus der Republik (406 Aff.) als Erfinder einer neuen Krankheitsbehandlung, ist‘ wohl zu unter- scheiden von einem andern Arzt dieses Namens, nämlich von dem Bruder des Gorgias, der im Dialog Gorgias erwähnt wird.

4) 5. 49. Agathokles war der Lehrer des berühmten Dämon in der Musik.

42) S. 49. Pythokleides wird als Musiklehrer auch erwähnt im ersten Alkibiades 118C.

#5) S. 49. Diese wegwerfende Art, von der großen Masse zu sprechen, wiederholt sich auch gegen den Schluß des Gespräches hin 352E und 353A, während er doch 322Ef. vor der demokratischen Weisheit der Athener einen ziemlichen Respekt kund gibt.

“) S. 50. Dies gilt wohl nur im Verhältnis zu allen denen, die hier unmittelbar um ihn versammelt sind. Hippias und Prodikos kommen nunmehr erst dazu. Man braucht also in den Worten, ab- gesehen von Sokrates (vgl. Anm. 21), keine Übertreibung zu sehen.

S. 51. Wahrscheinlich ist damit, wie man vermutet hat, der bekannte Maler Zeuxis gemeint, denn dieser stammt aus Heraklea, während von einem Maler Zeuxippos aus Heraklea sonst nichts be- kannt ist. Zeuxis ist wahrscheinlich nur Nebenform zu dem volleren Zeuxippos.

46) 8. 51. Wahrscheinlich Flötenspieler und Lehrer des Epa- minondas, |

42) S. 52. Das erste unter höflicher Anerkennung sich ver- steckende Zeichen einer gewissen Bangigkeit vor der dialektischen Gewandtheit des Sokrates.

#) S. 52. Vgl. Anm. 17.

4) S. 52, Protagoras hatte ein eigenes Buch „über die Ring- kunst* περὶ πάλης geschrieben (vgl. Soph. 232D), indem er diese Künste als minderwertig hinzustellen suchte. Vgl. Arist, Met. 9982 3f. und Diels Frg. ἃ. Vorsokr. 113, 538.

5) S. 52. Hippias bildete sich ein, ein Meister dieser Künste, namentlich der Astronomie zu sein. Es hätte ihm gewiß einige Überwindung gekostet, die hier ihm gereichte Pille ruhig zu ver-

‚schlucken.

Ἷ S. 52. Vgl. die Einleitung, p. 22 und 268.

δ) 8. 53. Die den Vorsitz führende Abteilung des Rates.

δ) S. 54. Diese Κἰασθ wiederholt sich in verstärkter Form im Menon 94Bf. An unserer Stelle mußte sich Sokrates vorsichtiger ausdrücken, denn die Söhne des Perikles sind ja anwesend. Daß der eine von ihnen :mißraten war, erzählt Plutarch, Perikl. c. 36.

54) S, 54. Kleinias, der Bruder des Alkibiades, wird im ersten

Alkibiades 118E von diesem selbst als ein Narr bezeichnet.

Anmerkungen. 127

δ) 8. 54. War der Bruder des Perikles.

56) 8. δά, Wio er es Menon 93D. tut,

ὅ) 8. 54. Dieser Mythus ist eine sinnreiche Nachahmung pro- tagoreischer Erzählungskunst. Was seine Beziehung zu der angeblich protagoreischen Schrilt Περὶ τῆς ἐν ἀοχῇ καταστάσεως „über die An- fünge der menschlichen Gesellschaft“ betrifit, so vgl. Diels Frg. d. Vors.®? II, 539,

88) S. δῦ. Etwas abweichend hiervon heißt es im Politikos 2740: „So wurden uns denn die sagenberühmten Geschenke von den Göttern gespendet zugleich mit der notwendigen Belehrung und Unterweisung, das Feuer von Prometheus, die Künste von Hephaistos und seiner Kunstgenossin Athene, Samen und Pflanzen von anderen.“

5) S, 56. Diese furchtbaren Wächter sind Bia (Gewalt) und Koaros (Kraft).

60) S. 56. Ist Wiederaufnahme des schon Gesagten.

61) S. 57. Der Feuertechnik verdankt der Mensch die Haupt- fortschritte der materiellen Kultur, aber Gesittung und Zivilisation stehen auf einem anderen Blatt.

62) ὦ, 59. Dieser Standpunkt ist der empirisch allerdings ge- gebene; hier aber erscheint er beinahe im Lichte moralischer Not- wendigkeit.

63) S. 60. Diese nur auf Besserung und Abschreckung ab- zielende Straftheorie scheint ganz in Einklang zu stehen mit dem damals herrschenden Zeitgeist, während für die früheren Rechts- anschauungen die Ideen der Vergeltung und Sühne maßzebend ge- wesen waren. Wenn Platon diese Theorie hier dem Protagoras in den Mund legt, so gibt er doch damit zugleich seiner eigenen Mei- ‚nung Ausdruck. Genau in Übereinstimmung mit unserer Stelle heißt es z. B. in den Gesetzen 934 AB: „Man straft nicht um der be- gangenen Übel willen, denn das Geschehene läßt sich nun doch ein- mal nicht ungeschehen machen.“ Gleichwohl drängt sich gelegent- lich auch ihm wieder unwillkürlich der Gedanke von Vergeltung und Sühne auf. So beherrscht dieser Gedanke z. B. die Ausführung Gorg. 476 ΑΕ Dazu vgl. Stellen wie Rpl. 613 A. Lepg. 864 E. 872 Df. Vor allem spiegelt sich auch in den Unterweltsmythen der Gedanke der Notwendigkeit der Vergeltung ab, man müßte denn diese Hadesstrafen manchen ausdrücklichen Versicherungen des Pl. zum Trotz lediglich als Besserungsmittel auffassen, nämlich vom Standpunkt der Seelenwanderung aus, Vgl. meine Plat. Aufs. 189 [ἢ

6) S, 60. Vel. 819 Et. ἘΠῚ

65) 5, 62. Was bei uns für den Unterricht die Bibel, das war für die Griechen der Homer,

66) S. 63. Das ist ganz platonisch, nur ohne den Hintergrund platonischer Gedankentieie.

6) 5, 64. Vgl. 323 A:

68) S. 65. Pherekrates war einer der Meister der alten Ko- mödie. Wir wissen aus Athen. V, 218D, daß seine „Wilden“, ἄγριοι an den Lenäen (Kelterfe-t zu Ehren des Dionysos) im Jahr 421 v. Chr. aufgeführt wurden. Das paßt zwar nicht zu der fiktiven Zeit (432 v. Chr.) unseres-Dialogs, bildet aber auch durchaus kein Hin- dernis für diese Annahme; denn Pl. macht damit nur von seinem

198 Protagoras.

guten Dichterrechte Gebrauch. Das Zusammentreffen in die Wildnis entwichener Kulturmenschen mit einer Rotte von Kalıbanen, das dem Stück als Motiv zugrunde lag, mag einen sehr dankbaren und ereötzlichen Komödienstoff abgegeben haben. Kulturüberdruß kuriert durch Kalıban! | |

69) S. 65. Eurybatos. und Phrynondas waren berüchtigte Schur- ken und als solche in der ganzen Griechenwelt sprichwörtlich ge- worden. Verglichen mit jenen Unholden (den Kalıbanen) nehmen sie sich aber immerhin noch wie gesittete Menschen aus.

70) S. 65. In diesem Sinne beruft sich der junge Alkihiades im Ersten Alkibiades I11A auf das griechische Volk als seinen Lehrer im Griechischsprechen mit folgenden Worten: „So hab ich unter anderem auch das Griechischsprechen von der großen Menge gelernt und ich wüßte dafür keinen anderen Lehrer von mir zu nennen, sondern bekenne mich als Schuldner eben derer, die du als nicht ernsthafte Lehrer bezeichnest.“

71) S. 66. Was hier Protagoras nur als Auskunftsmittel für strittige Fälle bezeichnet, wird von Aristoteles (Eth. Nic. IX, 11642 24 ff.) zur Regel gemacht, wenn er sagt: „Wenn Protagoras jemand in irgendeinem Fach unterrichtet hatte, so hieß er, wie man sagt, den Schüler abschätzen, wieviel ihm das Gelernte wert erscheine, und soviel ließ er sich dann bezahlen.“ Man denke auch an das be- kannte Dilemma des Euathlos in seinem angeblichen Streit mit Protagoras über die Bezahlung bei Gellius N. A. V, 10.

12) S. 66. Vgl. 319 Ef. und Anm. 53,

23) S, 66. Dieses schalkhafte σμεκρόν τι, diese „Kleinigkeit“ gehört in das Register der beliebten ironischen Spielereien des So- krates. Vgl. Apol. 21 D ἔοικα γ᾽ οὖν τούτου γε σμικρῷ τινε αὐτῷ τούτῳ σοφώτερος εἶναι, ὅτι μὴ οἷδα οὐδὲ οἴομαι εἰδέναι. Symp. 2010 ἀλλὰ σμικρὸν ἔτι εἶπέ. Gorg. ὅμως ὑπόμνησόν με σμικρόν. Phil. 200 σμικρὰ ἄττα τοίνυν ἔμπροσϑεν ἔτι διομολογησώμεϑα.

14) S. 67. Durch diese scharfe Absonderung von den Volks- rednern macht Sokrates dem Protagoras ein Kompliment, das seine Wirkung nicht verfehlt. Denn Protagoras, dieser vortreffliche Lang- redner, bequemt sich nun, vor der Hand wenigstens, zu kurzen Antworten. |

25) S. 67. Vgl. 323A und E und 325A.

26) 8, 67. Dieses von Protagoras adoptierte Glied des Dilemmas wird dann seinerseits wieder zerlegt in qualitative und quantitative Verschiedenheit,

7) 8. 69. Das αὐτὸ τοῦτο gehört, wie Stallbaum richtig er- kannt hat, zu dem unmittelbar folgenden δώκαιον. Es ist damit noch nicht etwa die Absonderung der Idee gemeint, sondern nur die des bestimmenden begrifflichen Merkmals. Übrigens ist wohl zu be- achten, daß Pl. nirgends sagt, δικαιοσύνη δικαία ἔστιν, so wenig wie öouörns 6ola ἐστίν, sondern nur δικαιοσύνη δίκαιόν ἔστιν und ἡἣ öoioıns ὅσιόν ἔστιν 880 DE. Er fühlt offenbar durch, daß mit der er-teren Fassung der Satz den Anschein eines rein kategorisclen Urteils bekäme, welches doch nicht seine Meinung ist. Vielmehr handelt es sich der Intention nach um einen .Ansatz zur Beeritfs- erklärung, also zu einem konjunktiven Urteil. Von dem Begriff

Anmerkungen. 129

der Gerechtigkeit kann man nicht sagen, daß or gerecht sei, 80 wenig wie von dem Begriff der Bewegung, dab er sich bewege. In einem kategorischen Urteil kann man sich als Subjekt des Prädıkuts ger echt nur entweder einen gerechten Menschen oder eine gerechte Hand- lung denken. Bei Platon schweben die Urteile (Sätze) hier wie auch in den späteren Schriften olt in einer unbestimmten Mitte zwischen bloßen Vergleichungsformeln und Urteilen.

18) S. 70. Dieser Schluß beraht auf der Verwechselung von Entgegensetzung und Verschiedenheit. Weil δώκαιον nicht ἀνόσιον sei, darum so wird angenommen —, sei δώεαιον auch nicht ver- schieden von ὅσιον, Dann könnten auch, da das Runde nicht Nicht- krumm ist, Rund und Krumm nicht verschieden sein und ebenso könnten, um ein später (346 D) angeführtes Gegensatzpaar hier zu erwähnen, Weiß und Schwarz, weil sie sich nicht kontradiktorisch entgegengesetzt sind, auch nicht voneinander verschieden sein. Be- grifie können verschieden sein und bald verbunden, bald getrennt vorkommen, ohne entgegengesetzt zu sein.

19). S, 71. Dies schöne Bekenntnis zur reinen Wahrheit findet sich in mancherlei Variationen in den platonischen Schriften. Vgl. 888 C.

80) S. 71. Vgl. Parm. 148A. Im Parmenides 148 A wird dieser Satz in der jenem Dialog eigenen Weise aus dem vorausgesetzten Satze gefolgert, daß das ἕν von allem anderen verschieden sei.

81) S. 72. Mit diesem Zugeständnis ist, wie das folgende zeigt, Protagoras bereits gefangen. Hätte er sich die Sache besser über- legt, so hätte er seine Zustimmung nicht gegeben. Denn tatsächlich handelt es sich hier gar nicht um das reine Gegenteil, sondern nur um eine gontradictio in adjecto. Tatsächlich nämlich steht dem 'Unverstand, der ἀφροσύνη, als reines Gegenteil nicht die σοφία (Weisheit) gegenüber, sondern die Verständigkeit, also τὸ εὖ φρονεῖν oder 7 φρόνησις; und erst das εὖ φρονεῖν teilt sich seinerseits in . σοφία und σωφροσύνη (vgl. 330 D τὸ σωφρονεῖν = εὖ φρονεῖν) als seine Unterarten. Es steht also σοφία nicht in direktem Gegensatz zu ἀφροσύνη, sondern nur in mittelbarem. Es handelt sich also um contradictio in adjecto. .

88, S. 72. Zu dieser Induktion, die das Entsprechungsverhältnis von Ursache und Wirkung zum Gegenstand hat, vergleiche man die ähnliche Induktion Gorg. 476 Bft.

85) S. 73. Hier zeigt sich, daß Pl. noch keine genügende Vor- stellung hat von dem Unterschied zwischen konträrem und kontra- diktorischem Gegensatz, Mit den Gesetzen der Begriffsopposition ist Pl. niemals zu vollständiger Klarheit gekommen. Das war erst dem Aristoteles beschieden, Vgl. meine Plat. Aufs. 260f.

8) S. 73. Es wird hier vom Endpunkt rückwärts zum Aus- gangspunkt hin rekapituliert.

55) S. 74. Vgl. 332A.

8) S. 74. Der Beweis hat also, um seine Gliederung von 333 A ab scharf und übersichtlich zu kennzeichnen, folgenden Verlauf genommen:

1. Es wird als selbstverständlich zugestanden, daß der ἀφροούνη die σοφία entgegengesetzt sei. Apelt, Platon Protagoras. Phil. Bibl. Bd. 16. 9

-«- αν. ......

130 Protagoras.

2. Es wird der Gegensatz 332 B als kontradiktorischer Gegensatz durch das σωφρονεῖν und οὗ σωφρονεῖν, σωφρόνως πράττειν und οὗ σωφρόνως πράττειν festgestellt.

8. Für οὐ σωφρόνως wird eingesetzt ἀφρόνως und weiter für σωφρόνως und ἀφρόνως σιράττειν eingesetzt ὑπὸ σωφροούνης und ὑπ᾽ ἀφροσύνης πράττειν. Dadurch werden σωφροσύνη (Be- sonnenheit) und ἀφροσύνη (Unmverstand) als Gegensatzpaar charakterisiert (während vorher nur von dem σωφρόνως und ἀφρόνως πράττειν die Rede war).

4. Es wird weiter induktorisch gezeigt, daß bei solcher Entgegen- setzung jeder einzelne Begriff immer nur ein Gegenteil hat.

5. Resultat: wenn also einerseits dem Beweis zufolge der ἀφροσύνη die σωφροσὕνη als Gegenteil gegenübersteht, ander- seits der Voraussetzung zufolge der ἀφροσύνη als Gegen- teil die σοφία gegenübersteht, so müssen σωφροσύγη und σοφία dasselbe sein, denn zu einem Begriff kann es nur ein Gegen- teil geben. |

5) S. 75. Das Ziel des damit beginnenden Beweises ist offenbar die Identität von Gerechtigkeit und Weisheit. Das weitere s. Anm. 89.

8) S. 75. Zur Illustration dessen verweist Kroschel sehr passend auf eine Stelle des Isokrates (15, 242). Da heißt es: „Die Syko- phanten tun gut daran und handeln (in ihrem Sinne) besonnen (σωφρονοῦσιν), wenn sie gegen alle diejenigen Lehrvereine scharf zu Felde ziehen, in denen ihrer Meinung nach die Teilnehmer sittlich gebessert werden; denn dadurch erwachsen ihnen (den Sykophanten) nur um so grimmigere und schwierigere Gegner ihrer eigenen ruch- losen Anschläge.“ |

89) S. 76. Protagoras wittert seine Niederlage und Sokrates merkt, daß er unmutig wird. Er macht zwar noch einen Versuch den Beweis fortzuführen; da aber Protagoras durch eine lang aus- gesponnene, nur. scheinbar zur Sache gehörende Antwort aus- zuweichen sucht, bricht er kurzweg den Beweis ab. Wie würde sich, fragen wir nun, dieser Beweis weiter gestaltet haben? Man kann ihn, denk’ ich, sich selbst rekonstruieren und zwar ganz auf dem Boden des bisher im Dialog Zugestandenen, weshalb denn Pl. auch ruhig die Ergänzung dem aufmerksamen Leser überlassen konnte. Der Beweisgang ist folgender:

1. Feststellung des Gegensatzes zwischen ἀδικία and σωφροσύνη. Nämlich σωφρονεῖν εὖ φρονεῖν ὠφέλιμα (ἀγαϑά) ποιεῖν, während ἀδικεῖν —= βλαβερὰ ποιεῖν. (Hier bricht Pl. ab.)

2. Feststellung des (kontradiktorischen) Gegensatzes zwischen ἀδικία und δικαιοσύνη.

3. Es kann (nach dem Vorigen 888 48) je ein: Begriff nur je

„ein Gegenteil haben, . 4. Also ist auf Grund von Nr. 1-— σωφροσύνη = δικαιοσύνη. 5. Da aber σωφροσύνη (wie früher bewiesen) σοφία, 80 ist auch δικαιοσύνη = σοφία. Auf Zurückführung nämlich aller Tugend auf σοφία. geht ja das Ganze aus. 90) S. 76. Für Sokrates laufen ἀγαϑόν und Buhnir ganz parallel neben einander (Xen. Mem. IV, 6, 8 und andere Stellen); was aber Platon anlangt, so vgl. meine Plat. Aufs. p- 216.

Anmerkungen. 131

9) S, 77. Kroschel macht in seiner Ausgabe bei dieser Stelle darauf aufmerksam, daß der Zusatz von Öl nicht der Milderung des Geruches, wie es hier heißt, sondern des Geschmackes der Speisen dient, bei uns sowohl wie bei den Alten, wie für die letzteren durch viele Stellen bezeugt wird.

92) S. 77. Vergeßlichkeit ist das letzte, was Sokrates sich vor. werfen könnte, Vgl. Symp. 194A ἐπιλήσμων uevräv εἴην, el οἰηϑείην- Um so drolliger nimmt es sich aus, wenn er bier und im Menon 710 (οὐ πάνυ εἰμὲ μνήμων) und Phaedr. 235D sich als vergeßlich hinstellt.

9) S. 77. Ahnlich Hippias im Hipp. Min. 363 ἢ,

%) S, 78. Diese Worte setzen die Gegenwart des &zaipog un- mittelbar voraus, sonst hätte das zovzovi keinen Sinn. Vgl. Anm. 1.

9) S, 79. Krison aus Himera war ein berühmter Wettläufer, der dreimal hintereinander in Olympia siegte,

96) S, 80. Eine für den jugendlichen Alkibiades höchst be- zeichnende Auslassung. Man denke sich den Jüngling vor dieser erlauchten Versammlung: Freimut verbunden mit treffendem Urteil spricht aus jedem seiner Worte. Dabei übernimmt er gleichsam an Stelle des Sokrates, dessen Ritterlichkeit jede persönliche Schärfe meidet, die Kritik des Protagoras, der sich durch einen wobltönenden Wortschwall aus der Affäre zu ziehen versucht hat.

9) S. 80. Scharfe Unterscheidung sinnverwandter Wörter (Synonymik) war die Hauptstärke und besondere Liebhaberei des Prodikos, auf die Platon nicht nur in unserem Dialoge noch mehr- mals, sondern auch in andern Dialogen nicht ohne einen Stich ins Lächerliche zu reden kommt.

98) S. 81. Damit wird ein Gegensatz berührt, der zuerst in sophistischen Kreisen aufgestellt und lebhaft diskutiert, damals die

Geister stark beschäftigte, die Gegenüberstellung nämlich von φύσις

und »öuos, von Natur und Satzung, die sich auf mancherlei Gebiete erstreckt. Vgl. Gorg. 488 Bff. und die Anm. 90 in meiner Über- setzung des Gorgias.

99) S. 83. So sind diese Worte zu übersetzen und zu kon- struieren: χρῆναι hängt von δεῖξαι ab und nicht von φημί, denn sonst dürlte nicht ὡς sondern müßte πῶς stehen.

100) S. 83. Protagoras, durch den ersten dialektischen Waffen- gang mit heiliger Scheu vor der Schlagfertigkeit des Sokrates er- füllt, und dabei doch sich seiner Verpflichtung bewußt die Unter- haltung fortzuführen, spielt nun die Sache auf ein Gebiet hinüber, auf dem er sich dem Sokrates ganz entschieden überlegen glaubt, auf das Gebiet der Dichtererklärung. Das war ein beliebter Tummel- platz sopliistischer Weisheit und Eitelkeit... Die Vieldeutigkeit und Dunkelheit dichterischer Ausdrucksweise und Gedankenverbindung gaben den Verächtern ernster Wahrheit und strenger Logik die beste und willkommenste Handhabe zur Befriedigung ihres Dranges nach bloßer Rechthaberei sowie zur Schaustellung ihrer Vertrautheit mit der Dichterwelt. Es wird also mit dieser Wendung des Gesprächs zugleich eine sehr charakteristische Seite der Sophistik. vorgeführt und zwar in sehr geschickter Weise; denn wenn Protagoras aus- drücklich erklärt, daß damit der Gegenstand der Untersuchuug (die Tugend, ἀρετή) nicht etwa- aufgegeben werde, so wird dadurch für

9%

>

139 Protagoras.

den Dialog überhaupt diese Partie von dem leicht sich aufdrängenden Verdachte befreit, etwa ein hors d’oeuvre zu sein.

10) S, 83. Simonides von Keos, 556—468 v. Chr., war einer der gefeiertsten griechischen Dichter, dessen Stärke auf dem Gebiete des Epigramms und der chorischen Lyrik lag. Die dichterische Ver- herrlichung der Großtaten des Perserkrieges machte ihn geradezu zum Nationaldichter Griechenlands. Er war kein seltener Gast an Fürstenhöfen. So weilte er wiederholt bei Hipparch, bei den Aleuaden und Skopaden in Thessalien und zuletzt, seit 476 v. Chr., bei Hieron in Syrakus. |

102) 5, 83. Man kann sich die Sache im wesentlichen mit Wilamowitz so vorstellen: dem am Hofe des Skopas in Krannon weilenden Dichter ward es nahe gelegt, den Skopas, seinen Gast- herrn, als einen ἀνὴρ ayados (oder ἐσϑλός) in einem Liede zu feiern. Er kam dadurch in einige Verlegenheit; denn Skopas war nichts weniger als ein Tugendheld. Allein Simonides, weltklug und ge- witzigt wie er war, auch schon gewöhnt an ähnlichen Huldizungs- zwang (wie Sokrates 346 B zu verstehen gibt), wußte der Sache die Wendung zu geben, daß er, anknüpfend an ein Wort des Pittakos, des bekannten Herrschers von Mytilene, eines der sog. sieben Weisen, den dauernden Besitz der Tugend als etwas den Menschen überhaupt Versagtes und nur den Göttern Vorbehaltenes hinstellt und sich des weiteren über die an einen Menschen zu stellenden sittlichen An- forderungen in nachsichtigstem Sinne ausläßt. Das hieß bei Lichte besehen nichts anderes als: „Skopas ist ein ganz gewöhnlicher Dutzendmensch.* Aber durch die Blume gesprochen, wie es hier der Fall ist, nahm es sich doch etwas anders und feiner aus. Und wenn das Gedicht mit Blaß und Wilamowitz für ein Tischlied (Skolion) zu nehmen ist, so war schon durch die Situation dafür gesorgt, daß der Stachel als solcher nicht allzuschwer empfunden ward. Jedenfalls wußte Simonides ziemlich genau, wie weit er in dieser Beziehung gehen konnte, Was Sinn und äußere Gestaltung des Liedes anlangt, so hat sich seit Schleiermacher eine Reihe von Gelehrten nicht ohne Erfolg um beides bemüht; namentlich ist es gelungen, die Scheidung des dem Dichter selbst Gehörenden von den Erläuterungen des Sokrates scharf zu trennen. Zuletzt hat Wilamowitz das Gedicht einer scharfen Beleuchtung unterzogen (Sappho und Simonides, Berlin 1913, 8. 159ff.), die manche Auf- klärung gebracht hat, aber auch manchem Zweifel Raum läßt. Sehr richtig sieht er davon ab, überall den präzisen Wortlaut des Liedes wiederherstellen zu wollen, Daß das Lied, so wie es uns vorgeführt wird, ein in sich abgeschlossenes Ganze darstellt, hat Blaß richtig erkannt, Das ist deshalb wichtig, weil wir von des Simonides Lyrik im Gegensatz zu der ziemlichen Fülle der Überlieferung auf epi- srammatischem Gebiet sonst nichts Vollständiges besitzen. Ferner aber wird dadurch auch festgestellt, daß unser Lied nichts zu tun hat mit demjenigen Simonideslied auf einen Skopas, an das sich nach Cicero de or. 11, 86 und Quintilian XI, 2 die bekannte Fabel von den Dioskuren als Retter des Simonides aus Todesgefahr knüpft.

Von den Dioskuren ist in unserem Liede nicht die Rede.

108) Κα), 84. Protagoras wird in seinem Interesse das Gegenteil

Anmerkungen. 138

gewünscht haben, denn sein Triumphgefühl mußte dadurch eine Ab- schwächung erlahren, aber auch wir werden diesen Wunsch wenig- stens insoweit teilen, als, wenn er erfüllt gewesen wäre, uns auch die schmerzlich vermißten fehlenden Zeilen von Protagoras wären mitgeteilt worden. In dieser Lücke muß, wie Wilamowitz bemerkt, die Anrede an Skopas gestanden haben. Außerdem muß aber, denk ich, am Ende auch irgendeine negative Bestimmuug gestanden haben, an welche sich das folgende οὐδέ anschließt.

104) $, 84. Pittakos von Mytilene wurde in den Zeiten schwerer Parteikämpfe, unter denen seine Vaterstadt litt, zum Alleinherrscher ernannt, eine Stellung, die er nach zehnjäbriger Herrschaft (589 bis 679 v. Chr.) freiwillig niederlegte.

106) S. 85. Diese Worte sind an den Freund (ἑταῖρος) gerichtet, dem er das Ganze erzählt. Vgl. Anm. 1.

1086) S, 85. Il. 21, 308.

107) S, 86. Zwischen γέγνεσϑαι und sivar macht schon das ge- wöhnliche Sprachgefühl einen Unterschied, ob aber auch zwischen ysv&odaı und δἶναι, ist fraglich, und der Umstand, daß sich Sokrates dabei nicht auf die Anwesenden überhaupt, sondern auf den Spezia- listen Prodikos beruft, spricht eher dagegen als dafür. Gleichwohl könnte ja Simonides seinerseits auch wider das gewöhnliche Sprach- gefühl den Gegensatz im Sinne des Sokrates beabsichtigt haben. Das bleibt aber unsicher.

108) S. 86. Hes. W. u. T. 287.

109) S. 86. Mit anderen Worten: Du willst den Simonides recht- fertigen, der angeblich meine, es sei nicht schwer die Tugend zu besitzen. Aber diese deine Rechtfertigung taugt nichts, denn sie ‚verstößt gegen die allgemeine Meinung, mit der sich Simonides nicht in Widerspruch gesetzt haben wird. Hesiod ist hier also nicht zuständig.

110) S. 86. Das ist sprichwörtliche Wendung.

111) S, 86. Diese Weisheit des Prodikos ist die Kunst der Wort- unterscheidung (Synonymik); sie wird mit neckischer Anspielung auf des Protagoras frühere Auslassung (316 D) über das hohe Alter der Sophistık mindestens auf den Simonides zurückgeschoben, der ja nach Sokrates zwischen ἔμμεναι und γενέσϑαι unterscheidet.

112) S. 87. Bei den Attikern steht es mit χαλεπός wie mit δεινός : es ist zweideutig und bedeutet bald „schwer“, bald „schlimm*, Simo- .nides versteht es nach Prodikos in letzterem Sinn und deutet danach das Wort des Pittakos.

118) S, 88, Die Keer standen in dem Ruf besonderer Sitten- strenge. Ein Ausspruch also wie der: „es ist schlimm tugendhaft zu sein“ ist einem Keer (wie Simonides) nicht zuzutrauen.

114) 5, 88. Vgl. 338 E περὲ ἐπῶν δεινὸν εἶναι.

115) S. 883. Die nun folgende umfangreiche Ausführung ist eine Art Gegenstück zu der langen Rede des Protagoras p. 316 Df. Auch Sokrates kann lange Reden ‚halten; aber bei ihm ist das eine Aus- nahme, bedingt durch die besonderen Umstände; an sich perhorres- ziert er die Kunst der Langrednerei, die den Sophisten gerade der Gipfel aller Leistungen ist. Auch diese lange Rede trägt in jedem Satz das Gepräge sokratischen Geistes. Scherz und Ernst spielen wunderbar durcheinander.

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134 | Protagoras.

16) S. 89. Das ist das neckische Echo zu 316 Df., jener Stelle, in der Protagoras seine Ansicht über das hohe Alter der Sophistik entwickelt.

112) 8. 89. Vgl. Gorg. 515E. Über die Ohren ging es beim Boxen ganz besonders her. Gemeint sind die in Athen und anderen Städten sich findenden Lakonerfreunde.

118) 5, 90. Das sind die sog. sieben Weisen Griechenlands, deren Siebenzahl feststeht, während die Namen Schwankungen zeigen. So findet man an Stelle des hier genannten Myson aus Chen gewöhnlich Periander von Korinth. Ihre Kernspräche sollen sie in der Vorhalle des delphischen Tempels auf Säulen haben eingraben lassen.

119) S. 90. So hat er nach Diog. Laert. I, 90 auch ein Epigramm, des Kleobulos bekämpft.

120) $, 91. Ist die nun folgende Erklärung des Gedichtes auch weder in des Sokrates noch in des Platon Sinne durchweg ganz ernst zu nehmen, macht sie vielmehr auch ihrerseits wie die Sophisten von der Freiheit Gebrauch, dem Dichter gelegentlich fremde Ansichten und eigene Lieblingsgedanken unterzuschieben, so weht bier doch unverkennbar ein ganz anderer Wind als dort. Was die hier ein- gehaltene Erklärungsweise kennzeichnet, ist nicht wie bei Protagoras und den Sophisten überhaupt ein Aufgreifen von Einzelheiten ver- bunden mit einem Haschen nach Sensation, sondern ein straffer Zug in der Richtung auf einheitliche Erfassung des Ganzen: dem, ver- meintlich wenigstens, erkannten Grundgedanken muß sich alles ein- zelne unterordnen, wenn es dabei auch nicht ganz ohne Gewalt ab- geht. Entbehrt doch dies ganze Bemühen um Dichtererklärung nach des Sokrates eigener Versicherung 847 E des wissenschaftlichen Charakters, da man sich um Dinge streitet, bei denen ein entschei- dender Beweis überhaupt ausgeschlossen ist. _

151) S, 91. Das ist des Sokrates und nicht des Simonides Mei- nung, wie der Schluß des Gedichtes zeigt, wo für den guten Mann ein großer Spielraum nach der unteren Grenze zu gelassen wird.

122) S. 91. Nämlich nicht vor, sondern hinter ἀγαϑόν. |

123) S, 92, Vgl. Epist. VII, 851 DE. g

134) S. 92. Den Dichter dieses Verses, der auch bei Xenophon Mem. I, 2, 20 angeführt wird, können wir nicht angeben.

125) S, 92. Dabei denkt Simonides an tief erschütterndes Un-

‚glück überhaupt, dessen umstimmendem Einfluß, wie er meint, sich

auch der Bestgesinnte nicht entziehen kann; Sokrates dagegen denkt dabei seiner tief gewurzelten Überzeugung gemäß ausschließlich an geistige Umnachtung als an das einzige Unglück, das imstande ist die Tugendhaften von dem rechten Wege abzulenken. Denn Un- wissenheit ist im Grunde die einzige Quelle der Schlechtigkeit. Vgl. Legg. 689 Af. 984 ΑΓ, Polit. 223DE α. ὅ.

126) S, 98. Bei dem εὖ πράττειν und κακῶς πράττειν hat man bier nicht an die den Griechen allerdings dafür geläufige Bedeutung des Wohl- und Übelbefindens zu denken, sondern an das Gut- und Schlechthandeln im moralischen Sinn, in welcher Bedeutung es den Griechen natürlich auch nicht fremd war. Vgl. z. B. Gorg. 507 C. Menex, 236 E. Arist. Etb. Nic. 109923. Plut. Quomodo adul. 66 A. Daß es die moralische Bedeutung ist, auf die es hier wie im ganzen

Anmerkungen. 135

Gedicht ankommt, zeigt unter anderem auch die darauf bezügliche Bemerkung bei Polybios 29, 78: ὥστε καὶ λίαν ἀληϑὲς galveodar τὸ δηϑὲν ὑπὸ Σιμωνίδου ,χαλεπὸν ἐσϑλὸν ἔμμεναι“, ἔχειν μὲν γὰρ ὁρμὰς εἰς τὰ καλὰ καὶ μέχρι τινὸς ἀντιποιήσασϑαι τούτων εὐμαρές, ὁμαλίσαι δὲ καὶ κατὰ πᾶσαν περίστασιν ἐπίμονον γίγνεσθαι τῇ γνώμῃ, μηδὲν τοῦ καλοῦ καὶ τοῦ δικαίου προὐργιαίτερον τιϑέμενον, δυσχερές.

122) Κὶς, 98, Nicht persönlich auf Pittakos (wenn natürlich auch auf seinen Ausspruch) wird der unbefangene Leser das nun Folgende beziehen, sondern auf den Adressaten des Gedichtes, auf den Skopas, dem Simonides damit in leicht verschleiernder Form sein Siiten- zeugnis ausstellt.

138) S, 94. Hier habe ich in der Übersetzung von der gewalt- samen, gleich im folgenden begründeten Interpunktion des Sokrates abgesehen, weil sie sich im Deutschen noch viel unnatürlicher aus- nehmen würde als im Griechischen.

122) Κ᾽ 94. Hier schiebt Sokrates, offenbar nicht in vollem Ernst, seinen Grundsatz von der Unfreiwilligkeit des Unrechttuns dem Simonides unter oder will, genauer gesprochen, nicht zugeben, dab ein Mann wie Simonides darüber habe anders denken können als er, Sokrates.

150) S. 95. Ein „wackerer Mann“ entspricht dem griechischen ὑγιὴς ἀνήρ. Wenn Wilamowitz Ὁ. 177 behauptet, ὑγιής pflege nicht auf das moralische Gebiet übertragen zu werden, so ist er im Irrtum. Man vgl. Stellen wie Plat. Phaed. 89 D ἡγήσασϑαι παντάπασί τε ἀληϑῆ εἶναι καὶ ὑγιῆ καὶ πιστὸν τὸν ἄνϑρωπον, ἔπειτα ὀλίγον ὕστερον εὑρεῖν τοῦτον πονηρόν τε καὶ ἄπιστον καὶ αὖϑις ἕτερον.

181) S. 95. Wäre nämlich alles, was nicht schwarz ist, weiß, so . stünden Schwarz und Weiß in kontradiktorischem und nicht, wie es tatsächlich der Fall ist, in konträrem Gegensatz. Vgl. Anm. 78. Hier zeigt sich also Sokrates besser orientiert als 331 Af.

132) S. 95. Auf das Tempus (ἔφῃ Imperfektum, während sonst immer mit dem Präsens φησί zitiert wird,) ist hier genau zu achten. Denn Wilamowitz weist p. 163 mit Recht darauf hin, daß dies für die Anordnung der Gedichtteile von Wichtigkeit ist. Die hier an- geführten Worte, auf die nur zurückgewiesen wird, haben bereits 345 C ihre Stelle im Gedicht angewiesen erhalten.

185) S. 95. Sokrates will also ἑκών zu Zralvnu (= ἐπαινῶ ist „Mytilenäische Mundart“) gezogen wissen, nicht zu ὅστις ἔοδῃ. Vgl. Anm. 129. | |

184) 5. 96. Als Ganzes stellt sich uns demnach das Gedicht in folgender Gestalt dar:

An Skopas.

Zwar ist es schwer ein braver Mann zu werden, wahrhaft brav, An Hand und Fuß und Geist ein ganzer Mann, ein Mann, der keinem Tadel Zulaß beut (Es fehlen fünf Zeilen)

Auch Pittakos, so dünkt mich, hat nicht recht mit seinem Wort, So weisheitsvoll der Mann auch war. Es lautet: „Schwer ist es | ein ehrenhafter Mann zu sein.“

136 Protagoras.

Denn Gott allein kommt diese Ehre zu, doch der Mensch kann dem Schlechten sich nimmer entziehn,

Wenn unbekämpfbares Leid ilın beugt.

Denn wer recht handelt, der ist ein guter Mann,

Wer schlecht, ein schl»chter,

Am längsten aber die Besten, sie, der Götter Lieblinge.

Drum sei es ferne von mir, dem Unmöglichen nachzugehen. Nie werd’ ich meines Lebens Teil vergebens vergeuden an eitele | Hoffnung,

Nie späh’n nach dem Manne, der fleckenlos ist unter allen, die wir der weiten Erde Frucht genießen.

Erst ihn finden müßt ich, dann ihn euch künden,

Alle lob’ ich und lieb’ ich,

So einer nicht willig

Schimpfliches tut; mit dem Verhängnis kämpfen auch Götter richt.

Mir ist’s genug, wenn einer schlecht nicht ist

Und nicht vermessen frevelt,

So er, ein wackerer Ma:n, das Recht nur kennt, dies Heil der Staaten;

Ihn werd’ ich nimmer tadeln;

Von Tadelsucht weiß ich mich frei.

Ist doch unübersehbar die Schar der Toren.

Alles, wahrlich, ist schön, dem Schimpfliches fern bleibt.

185) S, 96. Ganz dem entsprechend wird im Symposion 176 E noch vor Beginn der eigentlichen Unterhaltung die eben eingetretene Flötenbläserin entfernt auf des Eryximachos Vorschlag, der folgender- maßen lautet: „Ich schlage vor die Flötenspielerin sich empfehlen zu lassen, mag sie sich selbst spielen oder, wenn sie will, den Weiberu nebenan, auf daß wir den heutigen Tag mit Wechselreden, beisammen sind.“

136) 8, 97. Eine Personifikation, wie sie Platon liebt (vgl. Symp. 218 A, wo die λόγοι personifiziert werden); noch drastischer läßt er am Schluß (361 A) die ἔξοδος τῶν λόγων selbst als Person auftreten.

187) 8, 97. Das ist wohl nicht ohne Beziehung auf die selbst- bewußten Worte des Hippias 337 D gesagt. üb

138) $, 97. Damit ist der Dichtererklärung das endgültige Urteil gesprochen, Sie hat mit wissenschaftlicher Untersuchung nichts

emein.

; 188) S, 97. Der Prüfstein der Wahrheit liegt nicht in äußeren Zeugnissen, sondern in unserem eigenen Inneren. Frage den eigenen aufrichtig suchenden Verstand, wenn du über Fragen der Ethik und der Philosophie ins Reine kommen willst. Eine andere Quelle der Erkenntnis gibt es dafür nicht. Alle philosophische Erkenntnis ist im letzten Grunde Selbsterkenntnis, wie Sokrates richtig behauptet. Ein echt philosophisches Glaubensbekenntnis! Das Selbstvertrauen der Vernuuft ist die Voraussetzung aller Wahrheitsforschung.

140) S. 98. Vgl. Il. 10, 2248. .

141) S, 98. Damit erhält die Sache eine etwas andere Wendung als bei Homer.

Anmerkungen, 137

143) S. 08, In den „Gesetzen“ 730 E wird es geradezu als eine Forderung hingestellt, daß der Mensch die tugendhuften Eigenscliaften nicht nur selbst habe, sondern sie auch auf andere übertrage.

143) S. 99. Vgl. 828BC, auf welche Stelle hier ironisch an- gespielt wird.

144) 3, 99. Griechisch ἴδιος οὐσία. Die Anwendung dieses Aus- drucks in einem so frühen Dialog zeigt, daß dem Platon das Wort οὐσία in seiner philosophischen Bedeutung schon vollkommen geläufig war. Vgl. z. B. auch Crat. 401] Ὁ. Wenn also im größeren Hippias dies Wort mehrfach in seiner philosophischen Bedeutung vorkommt, so sieht man darin sehr mit Unrecht ein Zeichen der Unechtleit des Dialogs. |

145) S, 100. Des Sokrates Fassung der Frage läßt es im Unklaren, wie sich hier Sıbjekt und Prädikat zueinander verhalten, ob es ein Verhältnis der Einordnung (Unterordnung) oder der Gleichheit ist. Wie das Folgende zeigt, scheint dem Sokrates dabei ein Gleiclıheits- verhältnis vorzuschweben, wie denn eigentliches Urteil und Gleich- heitsformel bei Platon vielfach durcheinander gehen. Vgl. Anm. 77. Jedenfalls hätte Protagoras gut getan, gleich hier das wahre Ver- höltnis der beiden Begriffe festzustellen, wie er es dann 350 D tut. Dann hätte er sich den Vorwurf des Widerspruchs mit sich selbst, den Sokrates nun in kaptiöser Logik ihm nachweist, er-part. Wenn nun Protagoras 350 Of. den Sokrates eines Besseren zu belehren sucht, so hat er an sich ganz recht (wie denn Sokrates 351 B den ein- geschlagenen Weg verläßt und einen ganz neuen einschlägt). Allein Platon verfehlt nicht, ihn auch hier in sehr zweifelhaftem Lichte er- scheinen zu lassen, indem er ihn seine ganz richtige These (die Unzulässigkeit einfacher Umkehrung eines allgemeinen bejahenden Urteils) durch ein Beispiel erläutern läßt, das, rein logisch genommen an sich gleichfalls einwandfrei, doch insofern ganz mal & propos ist, als die Stärke (ἐσχύς) mit der Weisheit (σοφία) gar nichts zu tun hat, während die Külinheit eben, soweit sie mit der Tapferkeit zusammen- gebt, auch mit der Weisheit verwandt ist. Auf diesen Zusammen- hang mit der Weisheit aber kam hier alles an. Es scheint also, Platon hat diesen Abschnitt überhaapt nur eingefügt, um den Mangel an Gedankenzucht auf seiten des Protagoras anschaulich zu machen, und zwar in einer Weise, die etwas an 334 Aff. erinnert. In beiden Fällen nämlich handelt es sich um eine Ablenkung von der Sache. War es aber dort eine absichtliche Ablenkung, darauf berechnet, sich aus der Verlegenheit zu ziehen, so ist es hier eine unabsicht- liche Ablenkung von der Sache, die nur dazu führt ihn bloßzustellen.

146) S. 101. Mit Bezug auf 349 E. ᾿

147) S, 101. Nämlich 350 A. Year

148) S. 101. Vgl. Arist. Eth. Nic. 1116b 25f#. Wenn Platon hier den Beweis fallen läßt, so scheint es fast, als markiere er damit die Grenze zwischen dem historischen und dem platonischen Sokrates, welcher letztere nunmehr zu Worte kommt.

149) S, 102. Die hiermit anhebende neue Argumentation zum Erwägen der Einheit von Tapferkeit und Weisheit (σοφία) ist so künstlich und verwickelt, daß es sich empfiehlt den Beweisgang zunächst im ganzen nach seinen entscheidenden Momenten kurz zu

138 Protagoras,

überblicken. Worauf Sokrates hinaus will, das ist die Bestimmung des Wesens der Tapferkeit in dem Sinne, daß sie Einsicht, Erkenntnis (ἐπιστήμη oder σοφία, denn beide Ausdrücke sind hier für Sokrates gleichbedeutend) sei. Das Hauptstück und zugleich Hauptkunststück dieser Schlußfolgerung ist der an sich schwache, dialektisch aber geradezu raffinierte Nachweis der Identität der Begriffe „Angenehm*

und „Gut“. Der Begriff des Angenehmen (und Unangenehmen), der „Lust“ (ἡδονή) und „Unlust“ (λύπῃ) ist ihm gleichsam der Mittel- begriff, durch welchen Einsicht und Tapferkeit zusammengebracht werden. Und zunächst kommt es darauf an, Lust und Einsicht nicht als Widersacher hinzustellen, wie es gemeinhin geschieht, sondern als einträchtig zusammengehend. Mit dem Maße der Lust und Un- Just nämlich mißt schließlich der Mensch alles, Es kommt aber bei diesem Messen alles darauf an, ob es kunstgerecht geschieht oder willkürlich. Nur wer sich auf die strenge Meßkunst versteht, hat den richtigen Maßstab für Abschätzung des wahren Wertes der Lust mit ihren mannigfachen Abstufungen und gegenseitigen Verhältnissen in der Hand; die Meßkunst bezeichnet hier die Erkenntnis der wahren Lust. Dabei stellt sich klar heraus, daß die wahre Lust eben nichts anderes ist als die Freude am Schönen und Guten. Angenehm und gut sind ein und dasselbe, ebenso gehen unangenehm und schlecht zusammen. Damit hat Sokrates gewonnenes Spiel. Bei der Tapferkeit nämlich handelt es sich um das Bestehen von Gefahren, also von etwas der gewöhnlichen Auffassung nach Unangenehmem. Denn Gefahr ist gemeinhin ein Gegenstand der Furcht, Furcht aber, als Erwartung eines Schlimmen, ist immer ein störendes und un- angenehmes Gefühl, für den Feigen sowohl wie auch für den Tapferen, wenn er überhaupt Furcht hat. Ist das letztere aber der Fail, so ist seine Furcht offenbar etwas ganz anderes als die des Feigen (und Nicht-Tapferen). Was für den letzieren furchtbar, ist es nicht auch für den ersteren. Der Tapfere zieht z.B. willig, ja freudigen Mutes in den Kampf für Rettung des Vaterlandes, der Feige sucht sich ihm am liebsten ganz zu entziehen. Was macht nun den Tapferen fähig und willig zu solcher Handlungsweise? Nichts anderes als die richtige Abschätzung des wahrhaft Angeneh- men und Unangenehmen, d. h. nach dem Vorigen, des Guten und Schlechten in bezug auf Gefahr und Drangsal. Er ist im Besitze der richtigen Meßkunst, d. h. der richtigen Einsicht in das Wesen des Schönen und Guten (vgl. 359D. 360 AB verglichen mit 358 E), er ist also der berufene Richter über das wahrhaft Furchtbare. Kennt er also seinerseits überhaupt keine Furcht? Gewiß, auch er kennt sie, aber es ist das diejenige Furcht, der allein etwas sittlich Erhebendes und Schönes innewohnt, die Furcht nämlich vor dem Schimpflichen, vor der Schande. Auch diese Furcht ist als Furcht eben etwas Unangenehmes. Aber der Tapfere überwindet diese Furcht, indem er dem Ehrenhaften unbedingt den Vorzug gibt, ein Verhalten, das ihm die Quelle innerster Befriedigung wird. Platon hat die Frage „Was fürchtet der Tapfere* nicht ausdrücklich selbst beantwortet, sondern ihre Beantwortung dem Leser überlassen, der nur genau hinzusehen braucht, um sie alsbald zu geben, wo nicht,

. sie sich ans Aristoteles holen kann, Eth. N. 1145b 7f. 1115a 12.

Anmerkungen. 139

Im vulgären Sinne könnte man also wohl auch sagen, der wahrhaft Tapfere konnt überhaupt keine Furcht. Vgl. Phard, 68 D.

160) S, 108. Protagoras unterscheidet also zwischen Angenehm und Gut, im Sinne der großen Menge, die das Gute zwar für löblich, aber durchaus nicht immer für angenehm erklärt. Das ist auch im Grunde Platons eigene Meinung, wie er sie im Gorgias (495 Off.) auf das Bestimmteste entwickelt. Aber hier im Protagoras nimmt er behufs Durchführung seiner These einen Standpunkt ein, der mit dem im Gorgias entwickelten und verfochtenen in Widerspruch zwar nicht steht, aber doch zu stehen scheint. Näher zugesehen nämlich steht die Sache so: um das Gute mit dem Angenehmen zu identi- fizieren, beschränkt Pl. den Begriff der Lust auf die von der Ver- nunft gebilligte, also gute Lust, indem er alle bloß dem flüchtigen Sinnengenuß dienende Lust mittelst Einführung der Meßkunst, d.h. der richtigen Erkenntnis, als unterwertige Lust, als bloße Scheinlust bei Seite schiebt, Damit nähert er sich in bemerkenswerter Weise, wenn auch ohne die umfangreichen psychologischen Vorbereitungen, über die er späterhin gebieten konnte, demjenigen Standpunkt, den er dann im Philebos zur Darstellung brachte. Wie hier im Prota- goras erkennt er auch dort nur die aufreiner Erkenntnis beruhende Lust als wahre Lust an, während er alle andere Lust, vor allem die Sinneslust, zur bloßen Scheinlust degradiert und sie dadurch, sozu- sagen annulliert. Die Unterscheidung von guter und schlechter Lust findet sich im Protagoras so gut wie im Gorgias; im Gorgias aber wird die Sinnenlust als etwas Positives stehen gelassen und nicht wie im Philebos und in unserem Dialog als etwas sozusagen Nega- tives behandelt. Es ist also im Grunde derselbe Wein, nur unter .einer anderen Etikette. Im allgemeinen spitzt sich die Ethik des Platon ganz darauf zu, nur das tugendhafte und in reiner Erkenntnis sich bewegende Leben auch als angenehm anzuerkennen, eine Lehre, der zuliebe er bekanntlich selbst die Staatslüge nicht scheut. Rpl. 414 Cff. Vgl. Legg. 668 Afi. 732 Ef, In diesem Sinne ist Platon sein Lebtag Hedoniker gewesen.

151) S. 103. z. B.349E. Crat. 384 BC. Gorg. 459 Ο. Es scheint,

als läge darin eine Andeutung, daß Protagoras sich nicht zum ersten -

Male mit Sokrates unterrede.

152) 5, 104. Nämlich wie 351 C die Ansicht über das Verhältnis des Angenehmen zum Guten.

153) δ, 104. Vgl. Eurip. Hippol. 874

154) S. 104. Auf diese Stelle bezieht sich offenbar, was Aristo- teles Eth. Nic. 1145b 22 sagt: „Das trotz des Besitzes richtiger Er- kenntnis etwas anderes im Menschen die Herrschaft haben und solche Erkenntnis wie einen Sklaven hinter sich her- schleppen sollte, das hielt Sokrates für etwas Ungeheuerliches.“

155) S. 105. Daß Protagoras nicht umhin konnte, vor der „Er- kenntnis“ und „Weisheit“ seine tiefe Verbeugung zu machen, war klar; Sokrates macht ihn also dadurch auf höchst schlaue Weise eine Zeitlang zu seinem guten Kameraden, der im Wortgefecht mit der großen Menge mit ihm an einem Strange zieht.

156) S, 105. Nämlich-oben 852 Β.

gen --.

eg er

140 | Protagoras.

151) S. 105. Auch schon 317 A natte sich Protagoras wegwerfend über die große Menge geäußert. Vgl. Anm. 48.

168) S. 106. Arnim macht (Platos Jugenddialoge p. 14ff.) ganz richtig aufmerksam auf die Verwandtschaft der nun folgenden plato- nischen Ausführungen mit Phaed. 68 Cff., eine Beziehung, auf die auch ich bereits hingewiesen hatte in den Anmerkungen zu meiner Phaidonübersetzung (p. 138, Anm. 26). Dabei ist aber zu beachten, daß hier im Protagoras dies Tauschgeschäft, diese „Bilancierung* der sinnlichen Lüste miteinander nur das Vorspiel bildet zu der ethischen Wendung, die dadurch vorbereitet wird. Der ἐπιστήμη nämlich als der sittlich entscheidenden Instanz wird im Phaidon zwar auch gedacht und zwar unter dem Namen der Münze (νόμισμα), für die man alle Tugenden eintauschen kann, aber sie bleibt im Hintergrunde stehen; im Protagoras dagegen wird sie unter dem Namen der Meßkunde in ihrer Wirksamkeit vorgeführt, wodurch an die Stelle des bloßen Tausches der Sinneslüste nach Maßgabe ihrer Größe untereinander der Gegensatz der wahren (von der Vernunft gebilligten) und der falschen, der guten und der verwerflichen Lust tritt. Vergleicht man die .beiden Stellen genauer, so sieht man, daß im Phaidon die ganze Rechnung angestellt ist mit dem Blick nach unten hin, im Protagoras mit dem Blick auf die Höhe. Im Phai«on denkt man vor allem an Beispiele wie das des raffinierten Wüst- lings, der sich in kluger Berechnung seiner sinnlichen Leistungs- fähigkeit seine Kraft aufspart für den stärkeren Sinnengenuß und darum den augenblicklich sich darbietenden leichteren Sinnenzenuß nicht Macht über sich gewinnen läßt. Anders hier. Vgl. 360.A.

150) S. 108. Bemerkenswert ist hier der Übergang in ein direktes . Gespräch mit den Leuten selbst offenbar eine Steigerung der dramatischen Lebendigkeit.

160) S. 108. Es ist schon früher (vgl. Anm. 77 und 145) bemerkt worden, daß die Dialektik des Sokrates eine unklare Mitte einhält zwischen Urteil und Gleichheitsformel. Hier zeigt es sich nun klar, daß, wenn man die Sache in die präzise Urteilsform bringt, dem Sokrates eigentlich als Ziel vorschwebt nicht das Urteil τὸ ἡδύ ἔστιν üyadöv, sondern τὸ ἀγαϑόν ἔστιν ἧδύ. Wäre dem nicht so, so würde ja τὸ ἡδονῆς ἥττω εἶναι eher ein Lob als ein Tadel sein. Im Grunde glaubt er nur daran, daß das Gute stets auch angenehm ist, ein Satz, an dem Platon selbst immer festgehalten hat; hier aber, wo er ge- nötigt war, das „Angenehme“ zum Hebel der ganzen Argumentation zu machen, weiß er mit schillernder Dialektik diesen Satz als ein Identitätsverhältnis hinzustellen.

161) S, 109. Das heißt hier soviel als: „weil er den augen- blicklich angenehmeren (nämlich schmerzlosen) Zustand einem, wenn auch bald vorübergehenden und dauerndes Wohlbefinden verbürgenden Schmerzgefühl vorzieht.* |

162) 5, 111. D.h, man muß das tun, was mehr Angenehmes als Unangenehmes bietet.

163) S, 111. Diese von Platon -oft und nachdrücklich hervor- gehobene Kunst ist nichts anderes als die in bestimmter Richtung

wirkende ἐπιστήμη. Die Erkenntnis des rechten Maßes ist die Haupt-

Anmerkungen. 141

bedingung jeder ethischen Vollkommenheit. Vgl. Pol. 284 Eff., wo das hier (857 B) gegebene Versprechen eingelöst wird.

164) κα, 112. Also des Geraden zum Geraden und des Ungeraden zum Ungeralden.

166) S, 112. Vgl. 852 Oft.

166) S, 113, Das verträgt sich zwar nicht mit dem Satze πολλοὺς φασι γιγνώσκοντας ra βέλτιστα οὐκ ἐθέλειν πράττειν ἐξὸν αὐτοῖς (852 E u. ὅ.), für Sokrates aber verschwindet der Widerspruch, weil ein Wissen, das nicht die Kraft hat das ihm entsprechende Handeln unmittelbar zu bewirken, nur ein Scheinwissen ist.

161) S. 113. Platon bewährt sich als voller Herrscher im Reiche dramatischer Kunst, wenn er hier die anderen anwesenden Sophisten unmittelbar mit zur Teilnahme an der Debatte heranzieht. Er gibt dadurch deutlich zu erkenren, daß die Niederlage des Protagoras zugleich der Sophistik überhaupt gelten soll. Die ritterliche Art, in der dies geschieht, entspricht ganz dem sonstigen Auftreten des Sokrates. |

168) S, 114. Die Hss. haben: οὐδεὶς εἰδὼς ἄλλα βελτίω εἶναι ἑποίει καὶ δύναται, ἔπειτα ποιεῖ ταῦτα, ἐξὸν τὰ βελτίω. Hier geben die meisten Herausgeber den verdorbenen Text in der von Schleier- macher verbesserten Gestalt ποιεῖ, καὶ δυνατά. Allein ποιεῖ für ἐποίει ist paläographisch unwahrscheinlich und δυνατά wird durch das folgende ἐξὸν τὰ βελτίω unnötig gemacht... Mir will es richtiger erscheinen zu schreiben Erıvoei (vgl. 811 Β) καὶ δύναται (vgl. 335 C), „was er (zunächst) beabsichtigt und was er auch in seiner Macht hat.“ Aus ἐπινοεῖ oder ἐπενόει, wie man auch schreiben kann, konnte bei folgendem ποιεῖ leicht Exoisı werden; eine weitere Anderung . erübriet sich dann. |

1609) 5. 114. Damit ist die entscheidende Wendung auf das sittlich Schöne und Gute hin vollzogen. Demnach handelt es sich nun nicht mehr um einen Kampf und Tausch der sinnlichen Lüste unter ein- ander, sondern um einen Kampf des Guten mit dem Schlechten, des Sittlichschönen mit dem Schimpflichen, des καλόν mit dem αἰσχρόν.

170) S. 116. Vel. 329 Dff.

21) 8. 115. Vgl. 349 Bff. _

122) S. 116. Vgl. 3590 ἐφ ἅπερ οἱ δειλοί; Οὐκ ἔφη, Οὐκοῦν ἐφ᾽ ἕτερα.

128) S. 116. Vgl. 858C.

124) S. 116. Vgl. 358B.

125) S. 117. Darin liegt, wenn auch nicht ausdrücklich hervor- gehoben, doch implieite die Sonderung alles bloßen Fachwissens von der Einsicht in das Wesen des Schönen und Guten. Die technische Kenntnis gewisser Gefahrengebiete, von der früher (349 Eff.) die Rede war, kann nun nicht mehr als das eigentlich Entscheidende gelten, sondern nur der Besitz jener königlichen Wissenschaft, die allen anderen Künsten erst ihren Wert und ihre Bedeutung zuweist, die Kenntnis des Schönen und Guten,

1160) 5, 117. Das stimmt im Resultat ganz mit dem, was wir aus der Nikomachischen Ethik als Lehre des Aristoteles kennen: der Tapfere kennt nur eine Furcht, die Furcht vor der Schande, und das ist eine edele Furcht. Das καλόν ist die einzige Triebfeder

149 Protagoras.

für die wahrhaft Tapferen. Οὗ Arist. Eth. Nie. 11158 12f. Aber während bei Begründung dieser schönen Lehre durch den plato- nischen Sokrates sowohl die Logik wie die Psychologie zu kurz kommt, weiß Aristoteles der richtigen Sache auch die richtige Be- gründung zu geben.

1) 8.118. Vgl. 359B.

118) S. 119. Eine Personifikation, nicht kühner, als sie auch sonst bei Platon vorkommt. Vgl. Anm. 136.

12) $8. 119. Protagoras also hat ursprünglich den richtigen Stand- punkt, ist sich aber der Gründe für denselben nicht bewußt gewesen. Das wird mit großer Kunst und Feinheit, d.h. mit richtiger Eekonung für den Protagoras zum Ausdruck gebracht.

180) S. 120. Vgl. 820 Dff., besonders 321 CD.

181) S, 120. Damit macht Platon den Menschen selbst zum Schöpfer seines Heils. Vgl. meine Plat. Aufs. p. 84ff.

182) S. 120. Vgl. 820 Β.

#8) S. 120. Vgl. Einleitung p. 26 Anm. 1.

Register.

A. Abdera 38 (Heimat des Prota-

goras).

Abschreckungstheorie 60. 127.

- Achilles 85.

Adeimantos, Sohn des Kepis 47.

Adeimantos, Sohn des Leukolo- phides 47, 125.

Acathokles aus Athen 49. 126.

Agathon 47. 125.

Ahnlichkeit der Dinge 71f.

Akumenos 47 (Vater des Eryxi- machos).

Alkibiades 37f. 48. 54. 79f. 96 97. 131.

Anachronismen 1.

Andron 47. 125.

Androtion 47 (Vater des Andron)

Angenehm (ἡδύ) 3f. 103f. (Ver- hältnis zum Guten).

Antimoiros 46 (Schüler des Prota- goras).

Apollodoros 88 (Vater des Hippo- krates).

Apollon 90.

Apologie 20.

ΤΕ 54 (Bruder des Perikles). 127

Aristoteles 14. 16. 128. 139.

Arzt und ärztliche Kunst 40. 44. 57. 93. 104. 113.

Astronomie 52.

Athen, Athener 37. 53 (gescheit).

58. 60, 66. 81 (geistiger Mittel- punkt Griechenlands).

Athene 56.

B.

Bangigkeit (δέος, dist. φόβος) 1148, Baumeister 42. ὅ8, 58. 93..

Begriffsphilosopbie 8,

B-lehrung 60ff.

Besonnenheit (σωφροσύνη) 58. 61. 72ff. 75. s. Tugend.

Bezahlung der Sophisten 65f. 99.

Bias von Priene 90.

©.

Charmides 46 (Sohn des Glaukon). 124.

Chilon der Lakedaimonier 90.

Chorgefolge des Protagoras 46f.

Chronologisches 1,

D.

Delphi, Tempel 90.

Demokrit 10.

Dialektik 884,

Dichter, Dichtererklärung 62, 88 126. 131f.

E.

Bleaten 8 ἢ,

Elis, Heimat des Hippias 45. 47.

Entgegensetzung von Begriffen 72ff. 129.

Epimetheus 5öff. 120.

Erkenntnis (ἐπιστήμη) 104 Ε΄. (Ver- hältnis zum Handeln).

Erkenntnisweisen 8f.

Eryximachos 47;

Erziehung 61f. |

Eurybatos 65 (Verbrecher). 128.

Euthyphron, Dialog 2.

Ἐς

Fachbildung 53. 58 (opp. Staats- kunst),

Fehler 59%f, (verzeihliche und straf- bare).

144

Feigheit (δειλία) 116 ff.

Feuerraub 56 (durch Prometheus)

Flötenspiel 51. 58. 64f. 96.

Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit des Handelns 114.

Freund des Sokrates 37f. (dem der ganze Hergang von Sokr. erzählt wird).

Frömmigkeit (ὁσιότης) 2. 61. 69 (Beweis ihrer Einheit mit der Gerechtigkeit).

Furcht (φόβος) 1148

&.

Gegensatzpaare 71.

Geometrie 52.

Gerade und ungerade 111.

Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) BEE. (jeder legt sie sich zu). 61. 64f. 69ff. (Verhältnis zur Frömmig- keit),

Geschehenes nicht ungeschehen zu machen 60.

Gesetz (νόμος) und Natur (φύσις) 81

(esetzgeber, alte 63.

Gesetzwidrigkeit 75.

Glaukon 46(Vater des Charmides).

Gleichheit der Dinge 71f.

Gorgias 24f.

Gott, Götter 54ff. 88.

Gotilosigkeit (ἀσέβεια) 59.

Griechen, Griechenland 41. 53. 77. 88 ἢ.

Griechisch sprechen 65.

Gut und angenehm in ihrem Ver- hältnis zueinander 3f. 73. δ. 103ff. Das Gute und Schöne 114. 1161,

Gymnastik 42. 44. 124.

H.

Handlungsweisen 72f. 93. 104, (und Erkenntnis).

Hausverwaltung 52.

Hellenen s. Griechen.

Hephaistos 56.

Hermes 57.

Register.

An von Selymbria 99 (Arzt).

Hesiod 49. 86.

Hippias 37. 45. 47. 50. 81f. 88. 96. 113. 115. 124.

Hippokrates Sohn - „Apollodoros 37. Ir ff. 48. δ0 ἢ. 6

Hippokrates der hie 40.

Fl po τ, Vater des Kallias 40. 41.

ἌΣ "zn, 41. 49. 85. 98. 124 (Homerzitate).

Ι.

Ikkos von Tarent 49, Ionier (Philosophen) 9.

RK.

Kallias 6. 37. 46ff. 78H. 123. Kampfrichteramt 82f. Kardınaltugenden 2f. s. Tugend. Kanfmann 44 f. 53.

Keos (Insel) und Keer 49. 47. 87. 88 (als ernst und ehrbar be- kannt). 133.

Kepis 47,

Kerameis 47 (attischer Demos).

Kinder und Lehrer 62f.

Kleinias 38 (Vater des Alkibiades)

| Kleinias 54 (Bruder des Alkibia-

des). 126.

Kleinigkeit (σμικρόν τὴ 66f. 128.

Kleobulos von Lindos 90.

Kos, Insel 40 (Heimat des Hippo- krates).

Krämer 44f.

Kreon, thessalischer en 83 (Vater des Bkopap)ı

Kreta 89.

Krieg 117ff.

Kriegskunst 57 (Teil der Staats- kunst).

Krison von Himera 79 (Wettläufer).

Kritias 37. 48.

Kühnheit (940005), Tollkühnheit

- 101£. 117 (Verhältnis zur Tapfer- keit).

Kürze, lakonische 90.

Register.

L.

Lakedaimonier 89 f.

Lakonisten, Lakonentümler 89, 134.

Leben, gutes und schlimmes 102, 108. 114.

Lehrbarkeit der Tugend 5iff.

Lehrer und Kinder 62 ἢ,

Lehrgeld an dieSophisten 65f. 99.

Leistungsfähigkeit (δύναμις) 102 (dist. Stärke ἰσχύς).

Lenärvnfest 65.

Lessing 29.

Leukolophides 47. 125.

Logik 4f.

Logos (Aöyos, zwingende Gedanken- folge) 8,

Lust (ἡδονή) 14ff. 1041. 188,

M.

Malerkunst 42. 51.

Mannestugend 61.

Megara 49.

Megariker (Philosophen) 12.

Meinung, wahre (ἀληϑὴς δόξα) 15 ff.

Mende 46(Heimat des Antimoiros).

. Menge, die große 49. 104ff. 126,

Menon, Dialog 20. 21.

Menschenschöpfung (Mythos) 54f.

Meßkunst (ueronuxn) 110ff. 112 (ἐπιστήμη). 113.

Mist 76 (Nutzen und Schaden).

Moliere 17.

Moment, der fruchtbare 29.

Musaios 49.

Musik 52. 62f.

Musiklehrer 42.

Myrrhinus 47 (Heimat des Phai- dros).

Myson aus Chen 90.

Mythos von Prometheus 54f.

Mytilenäische Mundart 95.

N. Nützlichkeit (ὠφέλιμον) 76£.:

®.

Oinoe 39. 123. Öl 76 (Schädlichkeit und Nützlich- keit). 131.

Apelt, Platon Protagoras. Phil, Bibl. Bd. 175.

145

Opposition der Begriffe 4f. 72. Orpheus 40, 49. Örthagoras von Theben δ],

P.

Paralos, Sohn des Perikles 46, 53. 66. 124,

Parmenides 10. 12f,

Parmenides, Dialog 12,

Pausanias 47.

Perikles 46. 53f, 66. 67.

Personifikation (der Rede) 119, 142.

Pferde 76.

Phaidros 47,

Phason 38 (Bruder des Hippo- krates),

Pheidias 41 (Bildhauer),

Pherekrates, Komödiendichter 65. 127£.

Philippides, Sohn des Philomelos 46

Philosophie 8ff., praktische 10f. Phrynondas 65 (Verbrecher). 128. Pittakos 84ff, 90, 133. Platon 22, Polykleitos, Bildhauer 40f. 66. 123. Prodikos 37. 45. 47. 80f. 85ff. 113. 114f. 124, 131. 188. Prometheus 55ff. 120, Protagoras 6. 38. 46ff. 49 (nennt sich zuerst einen Sophisten). 65f. (Lehrgeld). 99. 113. 115. 122. Prytanen 53. | Pythagoreer 9f. Pythokleides aus Keos 49. 126.

RR.

Ratgeber 53. 58. Rechenkunst (λογιστική) 52. Reden 77ff. (lange und kurze), Reiterkampf 100,

Republik, Dialog 2.

S.

Sache und Person 71. 129. Satyros, Sklave des Hippokrates 39.

10

146 Register.

Schein 111 (und Ermst). Schifisbaukunst 53. Schiffsherr 53. Schildkampf 100. Schmiedekunst 53. 60. 61.

Tugend, Tugendlehre 2f. 13ff. 20ff. 26ff. 5iff. (im Sinne des Protagoras). 67ff. (Einheit und Vielheit). 99. 119f.

Türhüter im Hause des Kallias 46.

Schöne, das (τὸ καλόν) 73f. 100. | Turnlehrer 42. 44. 63.

114 (Verhältnis zum Guten). Schreiblehrer 42. Schulwissen 52. Schusterhandwerk 53. 60. Re für die Geschöpfe δδ1. Seele (ψυχή) 44f. (ihre Nahrung). Sein und Werden 9. 86f. 91f. Selbstbeherrschung 114.

'Simoeis 85 (Fluß).

Simonides von Keos 49. 83ff. 132.

Skamander 85 (Fluß).

Skopas, thessalischer Dynast 83ff.

Söhne und Väter 60ff. (Erziehung).

Sokrates 7ff. 14. 18ff. 26ff. (sein Alter). 52 (geschickter Frager). 77 (Vergeßlichkeit). 80. 88ff. (als Dichtererklärer). 103 (sein stets empfohlenes Verfahren). 121f. (Tagesleistung).

Solon 90.

Sophisten, Sophistik 5ff. 19f. 41ff. 44f. 48ff. (Verhältnis zu den Machthabern). 89f.(spartanische Sophistik). 65. 99. 123. 134.

Sprichwörtliches 38. 90.

Staat, Staatskunst 52. 53. 57.

Steuermann 9.

Straftheorie 60. 127. |

Szenerie des Dialogs 5f. 22ff. 122f.

T. Tantalos 47. Tapferkeit (ἀνδρεία) 13H. (und Wissen). 68. 100ff. 115#. Taucher 100, Teilungen der Tugend 68ff. Textkritisches 122. 125. 147, Tbales von Milet 90. Todesstrafe 61. Tollkühnheit 117, Töpferkunst 61. Trinkgelage 96.

U.

Ubel (κακόν) 101 ἢ. UÜberwundenwerden durch die Lust 105£f. | Unangenehm, Unannehmlichkeit

101 |

Unfreiwilligkeit im Handeln 114f.

Ungerade und gerade 111f. (Zah- len).

Ungerechtigkeit 59. 100.

Unlust 107.

Unrechttun 94.

Unterhaltung 96 (anständige).

Unwissenheit 113 (die größte). 114 def. 116. 1118.

Urteile 9f. (analytische). 101£. (Umkehrung der U.). 128f. (U. und Vergleichungsformeln). 137. 140.

Υ.

Väter und Söhne 60f. 654}

Verbannung 61.

Vergleiche 46 (Orpheus). 47 (Tan- talos). 62 (verbogenes Holz). 63 (Linienziehen). 64f. (Flöten- bläser). 67 (Erzplatten). 68 (Ge- sicht). 90 (Speerschütze). 96 (Trinkgelage). 104 (Sklaven). 113 (Arzt),

Vergleichungsformeln s. Urteile.

Verschiedenheit und Entgegen- setzung 129,

Volksredner 66f.

Volksversammlung 53. 58.

WW. Weisen, die sieben 90, 134. Weisheit (σοφία) 68. 72f. (opp.

ἀφροσύνη). 114. Weisheitstrieb 88f.

Register. | 147

Werden und 2. he 2.

Wilde (Kannibalen) 65.

Wissen (ἐπιστήμη) 18, (und Tu- | Zanren 111 (gerade und ungerade), end). 14f. (und Handeln), 104 ff. Zeus B6f. 67. (Verhältnis zur Lust), 112 (als Zeuxippos aus Heraklea 51 (Ma-

eßkunst). 137f. ler). 126. x Zimmermannskunst 53. Ι Zitherspiel 43. 62.

Xanthippos 46 (Sohn des Perikles). | Züchtigung 60f. 53. 66. Zurechtweisung 63.

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PLAIONS DIALOGE

LACHES UND EUTHYPHRON

ÜBERSETZT UND ERLÄUTERT VON GUSTAV SCHNEIDER

HERAUSGEGEBEN VON BENNO VON HAGEN

ZWEITE DURCHGESEHENE AUFLAGE

DER PHILOSOPHISCHEN BIBLIOTHEK BAND 178 LEIPZIG 1922 / VERLAG VON FELIX MEINER

Alle Rechte, einschliesslich des Übersetzungsrechts, vorbehalten

Herrn

Schulrat Professor Dr. Sedlmayer

in Wien in Freundschaft und Verehrung

gewidmet

Vorwort.

_ --ὄ-ς-ς. --.ἕἔ.--- --

Am Abend des 10. Dezember 1917 ist Gustav Schneider, 77 Jahre alt, an einem Gehirnschlag, ohne vorangegangene Krankheit oder Ermüdung, in seiner Vater- stadt Gera (Reuß) gestorben. Wenige Minuten, bevor der noch sehr rüstige alte Herr in einen Vortrag gehen wollte, befiel ihn ein leichtes Unwohlsein. „Es wird gleich vor- über sein“, sagte er der besorgten Gattin, die ihm auch in seinen Arbeiten die treuste Gefährtin gewesen ist. Es waren seine letzten Worte. Auf seinem Schreibtische lag das Manuskript, an dem er die letzten Jahre die Kriegs- jahre fast Tag für Tag gearbeitet hatte, zum Drucke fertig. Er hat oft mit mir von diesem Manuskripte ge- . sprochen, nie so, als ob es seine letzte Arbeit sein würde. Auf einsamen Gängen im Forste von Klosterlausnitz hat er mir Stunden lang seine Auffassung des „Laches“ vor- getragen. Gerade der Krieg mit seinen ungeheuren Ver- änderungen und Forderungen belebte Schneiders Gedanken- arbeit, so daß man sich freuen darf, daß er den „Laches“ im Kriege übersetzte und erklärte. Der „Euthyphron“, eine Lieblingsschrift des Dahingegangenen, die ich einst als Primaner in einem besonderen Zirkel mit dem verehr- ten Lehrer zum ersten Male lesen durfte, hat das Beste von Schneider empfangen: die Weihe und Reife des Alters, das nötig ist, in die tiefsten Gänge religiösen Den- kens vorzudringen. Auch glaube ich, Schneiders Auffas- sung des Euthyphron wird dazu beitragen, daß man den logischen Abschnitten dieser wenig beachteten Schrift die Würdigung schenkt, die ihnen bisher oft versagt wurde. Er hat das Werk nicht mehr drucken dürfen, aber sein Name, hochgeachtet in Wissenschaft und Leben, wird in

VI Vorwort.

der Platoübersetzung der „Philosophischen Bibliothek“ mit Dank und Anerkennung genannt werden.

Professor Constantin Ritter in Tübingen hat die Güte gehabt, einige Richtlinien für die Drucklegung des Wer- kes zu geben. Das Manuskript war in der Tat zu um- fangreich, die Einleitungen mußten z. T. erheblich ge- kürzt werden. Ich hoffe, bei der nicht leichten Aufgabe richtig verfahren zu haben. Pietät gegen den Mann und sein Werk, Achtung vor seinem Fleiße und Scharfsinn, Rücksicht auf die Zeitumstände und nicht zuletzt auf den Rahmen der von Apelt gelieferten Platoübersetzungen der „Philosophischen Bibliothek“ all diese Gesichts- punkte mußten für meine Arbeit maßgebend sein. Streich- ungen in den Einleitungen waren ebenso unvermeidlich wie hier und da kleine Zusätze oder Änderungen. An der Übersetzung habe ich dagegen nur an wenigen Stellen verbessert.

In dankbarem Gedenken an den Entschlafenen, der mir ein väterlicher Freund war, lasse ich die beiden Ju- gendwerke Platos hinausgehen, in deutschem Gewande. Was Tapferkeit und Frömmigkeit ist, läßt sich nicht auf eine gelehrte Formel bringen, aber die Gedanken Platos er- weisen sich auch heute noch fähig zu befruchten und wert zu reifen. Mögen sie empfängliche Seelen finden und das Chaos des Weltbrandes überdauern! Dann war auch Gustav Schneiders Arbeit nicht vergeblich.

Jena, am 23. Oktober 1918.

Benno v. Hagen.

Vorwort zur 2. Auflage.

Gustav Schneider, der am heutigen Tage sein 81. Lebens- jahr vollendet haben würde, hatte in seinem Manuskripte keine Literaturübersicht zu den beiden Dialogen hinter- lassen. Dem Wunsche des Verlages, eine solche nachträg- lich anzufertigen, bin ich bereits 1920 gefolgt, in der Über- zeugung, damit eine Lücke auszufüllen, die dem letzten Werke des verdienten Platonforschers etwa Abbruch tun könnte In dem von Apelt besorgten Platon-Index (Bd. 182) wurde diese Literaturübersicht hinter dem Gesamtregister auf S. 159—164 abgedruckt. Nunmehr hat sie eine Verbesse- rung erfahren und ihren Platz in diesem Bande hinter ‚den Anmerkungen zum Euthyphron auf S. 109 bis 114 gefunden. Dadurch wurde eine Anderung der Seitenzahlen, die manche weitere Korrektur bedingt hätte, vermieden. Herrn Professor Dr. Rudolf Klussmann in München für wiederum bewiesene Hilfsbereitschaft herz- lichst zu danken, ist mir auch an dieser Stelle ein Bedürf- nis. Sonst habe ich nur da gebessert, wo es unbedingt er- forderlich war.

Jena, am 23. Oktober 1921.

Benno v. Hagen.

Inhaltsverzeichnis.

Seite

1. Allgemeine Einleitung zu beiden Dialogen . , . 1-3 2. Lachs , . ».. ste lt a Ξ ἃ, Zinleitung sy Le. 0a, Bra age ET Tal 6) ὃ, Übersetzung .: „4,08 ma u. a 0 νΝ

0. Anmerkungen. . . s\“.a.nme 0er Le a 3. Euthyphron . ᾿ς, u... se a) Bel Re AS ae ». anleitung u... 0 rna ie ba Dein ae

b. Übersetzung. . Sys wesen ae a 6. Anmerkungen . . ... u... Sa nr 4. Literaturübersicht . . N οο

5. Register zu beiden Dialogen. . . . . . 2.2... 115-118

Allgemeine Einleitung

zu baden Dialogen.

Die Bedeutung der Dialoge Laches und Euthyphron für ihre Zeit und für uns;

In beiden Dialogen, im Laches sowohl als im Euthy- phron, haben wir im wesentlichen die Sokratische Weise zu forschen und zu lehren vor uns, die sich ganz besonders im Gegensatze zur Sophistik herausgebildet hat. Nach der Grundanschauung der Sophistik ist der Mensch, der ein- zelne Mensch, das Maß der Dinge, und es gibt keine allge- mein gültige Wahrheit. Das gilt von dem Gebiete der Wissenschaft, der Ethik und der Religion. Demgegenüber ist der Grundgedanke, auf dem die Sokratisch-Platonische Philosophie beruht, der: Es gibt eine Wahrheit, und sie ist in einem jeden von uns ein und dieselbe; sie ist uns mit der Vernunft gegeben. Also ist der Mensch allerdings, wie Protagoras lehrte, das Maß der Dinge, aber nicht der ein- zelne Mensch, sondern der Mensch als vernünftiges Wesen. In und mit der Vernunft ist uns die Wahrheit gegeben, zunächst unbewußt, wir müssen uns ihrer erst bewußt werden. Dies geschieht durch ernstes Suchen und For- schen, und da sie in allen Menschen gegeben ist, besonders durch gemeinsames Suchen und Forschen im Verein mit anderen. Daß die Wahrheit a priori in dem Menschen ist, das gilt namentlich auch von den ethischen Wahrheiten. Darum kann der Mensch wissen, was sittlich gut ist, und kann es auch wollen. So ist die Tugend „kein leerer Schall“ und „der Mensch ist frei geschaffen, ist frei und würd’ er in Ketten geboren“. Da diese Freiheit auf dem Apriori der ethischen Begriffe beruht, so ist sie transzen-

Platon Laches und Euthyphron. Phil. Bibl. Bd. 178. 1

2 Allgemeine Einleitung.

dentaler Art. Das alles offenbart uns so recht der Dialog Laches, der nach alter Bezeichnung eine mäeutische Schrift ist. Der Euthyphron aber zeigt deutlich, dab ernstes Nachdenken über ethische Begriffe σὰ Gott hin- führt. Eine Feststellung des Begriffs der Frömmigkeit ist, wie uns dieser Dialog lehrt, nicht möglich ohne die Erkenntnis, daß das Wesen der Gottheit einheitlich und heilig ist, daß ein Gott ist und ein heiliger Wille let. So haben wir Schillers drei Worte des Glaubens auch bei Plato und zwar schon im Laches und Euthyphron. Zu diesen drei Worten kommt bei Plato noch ein viertes hinzu. Mit dem Glauben an die Wahrheit in uns verbindet sich die Gewibheit, daß Geist in uns ist, und da dieser nur göttlichen Ursprungs sein kann, der Glaube an seine Unsterblichkeit. Dieser Glaube wird weder im Laches noch im Euthyphron ausgesprochen, aber er folgt aus der beiden Dialogen zugrunde liegenden Überzeugung, dab die Wahrheit in uns ist, mit innerer Notwendigkeit.

Durch eine eingehende und gewissenhafte Betrachtung des Inhalts unserer beiden Dialoge gewinnen wir einen sicheren Boden für die Widerlegung der alten und neuen Sophistik und bahnen wir uns den Weg zu dem Ver- ständnis der Platonischen Ideenlehre und damit auch zu dem Verständnis der christlichen Weltanschauung. Nach (Goethe brauchen wir, um die Bibel zu verstehen, Plato und Aristoteles, Aristoteles aber ist und bleibt Platos Schüler. Platos Weltanschauung ist Idealismus. Hat doch dieser seinen Namen und seinen wesentlichen Inhalt von Plato. Idealismus aber und Christentum stehen zu einander nicht im Gegensatze.

Es ist eine weitverbreitete Meinung, Plato schwebe immer in höheren Sphären und bleibe der Wirklichkeit fern. Das ist ein großer Irrtum. Plato richtete seinen Blick fest auf die Wirklichkeit und hatte ein gutes Verständnis für sie. Das sehen wir auch hier. Im „Laches“ sind es zwei angesehene Feldherren, die uns sagen, was sie unter Tapferkeit versichen, und damit wesentlich zur Gewinnung

Allgemeine Einleitung. 3

des Begriffs dieser Tugend beitragen, und was sie sagen, das entspricht ihrem historischen Charakter. Um seine Auffassung von dem ‚Wesen der Frömmigkeit festzustellen, entwickelt Plato im ‚„Euthyphron“ ihren Begriff im Gegen- satze zu den Anschauungen der altgläubigen Partei in Athen. Vor allem aber müssen wir an Sokrates denken. In der Apologie hat Plato im wesentlichen ein Bild des historischen Sokrates geben wollen, und wir finden bei ihm die schönste Betätigung der Tugenden der Tapferkeit und der Frömmigkeit, so wie sie im Laches und im Euthyphron bestimmt werden, so daß die entsprechenden Abschnitte der Apologie unbedingt für die Erklärung dieser beiden Dialoge herangezogen werden müssen. Darum ist es auch notwendig, daß wir uns mit dem Leben und dem Wesen der in den Dialogen als Unterredner auftretenden Personen bekannt machen. Wenn Plato bei seinen ethischen Unter- suchungen und Forschungen sich an Leben und Wirklich- keit anschloß, so hat dies seinen letzten Grund darin, daß nach seiner Überzeugung die Wahrheit in allen Menschen ist, weil Geist vom Geiste Gottes in ihnen lebt. Diese un- erschütterliche Überzeugung aber, daß Göttliches in uns wohnt, ist die Grundlage aller Religion.

1%

Einleitung zum Laches.

1. Die Überschrift des Dialoges.

‘Wenn Plato unseren Dialog nach einem der an der Untersuchung Beteiligten benennen wollte, so hatte er nur die Wahl zwischen den beiden Feldherren Nikias und Laches. Obwohl von diesen Nikias als Denker der Be- deutendere ist und zur Lösung der gestellten Aufgabe mehr beiträgt als Laches, hat Plato unseren Dialog doch nicht „Nikias“ benannt, denn er wollte, daß seine Leser mit- denken und mitforschen und so zu einer selbständigen Überzeugung von dem vorliegenden Gegenstande kommen sollten. Und so wollte er ihnen auch nicht durch die Über- schrift des Dialogs eine Weisung geben, bei wem sie in erster Linie die Wahrheit zu suchen hätten, sondern er hob durch den Namen, den er seiner Schrift gab, gerade den Mann hervor, der zu Nikias’ und Sokrates’ Grundan- schauung vom Wesen der Tapferkeit, daß sie Erkenntnis und Wissen sei, im Gegensatze stand, und lenkte die Auf- merksamkeit des Lesers auf dessen Standpunkt hin. Gerade der Umstand, daß Laches’ Standpunkt der des philoso- phischen Laien ist, berechtigte Plato dazu, der Schrift seinen Namen zu geben. Laches sagt selbst (194a), er habe keine Ubung im Philosophieren (ἀήϑης γ᾽ εἰμὶ τῶν τοιού- τῶν λόγων). Sokrates aber erblickte seine Lebensaufgabe darin, Laien zu philosophischem Denken zu erziehen, auf dem unsicheren Boden ethischer Anschauungen ein festes Fundament zu bauen: gerade Männer ohne geschultes Denken, aber mit starken Lebenserfahrungen (wie L. sie hatte) zur Erkenntnis der ethischen Begriffe zu führen,

Einleitung. 5

war sein Ziel. Selbstverständlich gab auch das Wesen des Laches eine gewisse Berechtigung dazu, die Schrift nach seinem Namen zu nennen. Der Dialog handelt im wesent- lichen von der Tapferkeit. Dabei denken wir alle zunächst an kriegerische Tapferkeit, und ein Vertreter dieser Tugend war Laches in ganz hervorragender Weise. Er war aber nicht nur ein tapferer Soldat, sondern überhaupt ein Mann von tüchtigem Charakter, der den Mut der sittlichen Über- zeugung im vollsten Maße besaß und damit tapfer war im Sinne unseres Dialogs, wenn er auch den Begriff der Tapferkeit nicht definieren konnte. Dazu kommt sein fort- gesetztes Streben nach sittlicher Vervollkommnung. Dab Plato einem solchen Manne solche Anerkennung zollte, daß er mit seinem Namen einen Dialog benannte, beweist sein tiefes Verständnis für die Forderungen des Lebens.

2. Die Echtheitsfrage.

Das Mißverhältnis zwischen Einleitung und eigent- licher Abhandlung hat neben dem Mangel einer ausdrück- lichen Beglaubigung des Dialogs durch Aristoteles und der scheinbaren Ergebnislosigkeit der wissenschaftlichen Untersuchung dazu geführt, den Platonischen Ursprung der Schrift zu bestreiten. Das Haltlose der beiden letzten Argumente hat Bonitz mit voller Sicherheit nachgewiesen, dagegen läßt er „das Mißverhältnis der umfangreichen Ein- kleidung zu dem wissenschaftlichen Gehalte“ bestehen und bemüht sich darzutun, daß dies noch kein Beweis für die Unechtheit des Dialoges sei (Plat. Studd.? S. 226).

3. Die Personen des Gespriches.

Laches, aus dem Demos Αἰϊξωνή, befehligte mit Cha- roiades eine aus zwanzig Schiffen bestehende Expedition, die Athen gegen Ende des Sommers 427 unternahm, um den Leontinern gegen die Angriffe der Syrakusaner und änderer dorischer Städte auf Sizilien zu Hilfe zu kommen. Nach dem bald eingetretenen Tode des Charoiades führte

6 Einleitung.

er allein den Oberbefehl. Das der Stadt Messana (jetzt Messina) benachbarte Mylä zwang er nach einem ent- scheidenden Siege über die messenischen Hilfstruppen durch einen energischen Angriff zur Übergabe und zum Anschlusse an Athen, worauf sich auch Messana ergab und Geiseln stellte. Hierauf unternahm er eine Landung im Gebiete der Lokrer in Italien, besiegte sie und nahm ein befestigtes Lager oder Kastell derselben am Halex ein. Noch einige andere Landungen waren von gutem Erfolge begleitet. Im Jahre 425 wurde er abberufen. In der für die Athener so unglücklichen Schlacht bei Delion kämpfte er als Hoplit mit, nahm aber an der wilden Flucht seiner Landsleute nicht teil, sondern zog sich an der Seite des Sokrates tapfer kämpfend zurück. Im Jahre 421 gehörte er zu den Männern, die den sogenannten Frieden des Ni- klas und die darauf folgende Bundesgenossenschaft mit Sparta im Namen des athenischen Volkes beschworen. Im Jahre 418 befehligte er mit Nikostratos das von Athen den Argivern zu Hilfe gesandte Heer. Es kam zur Schlacht bei Mantinea, in der das verbündete Heer der Athener und Argiver eine schwere Niederlage erlitt und beide Feld- herren fielen.

Nikias, der Sohn des Nikeratos, war neben Perikles Strateg und wurde als solcher von ihm hochgeschätzt. Außer militärischer Tüchtigkeit besaß er eine gute attische Bildung und war als ein Mann von vortrefflichem Cha- rakter und maßvollem Sinne bekannt. Sein Reichtum gab ihm die Möglichkeit, Wohltätigkeit in großem Stile zu üben, Widersacher durch Geschenke zu beschwichtigen und durch glänzende Freigebigkeit bei seinen Leistungen für den Staat die Gunst des Volkes zu gewinnen. Nach dem Tode des Perikles wurde er der Führer der gemäßigten Partei und war fünf Jahre nach einander Feldherr. Im fünften Jahre des peloponnesischen Krieges, im Jahre 427, eroberte er die vor dem megarischen Hafen Nisäa gele- gene kleine Insel Minoa. Im Jahre 426 führte er eine Flotte von 60 Schiffen nach Melos, um diese Insel zum

Einleitung. 7

Anschlusse an die attische Bundesgenossenschalt zu zwin- gen. Da ihm dies nicht gelang, wandte er sich rasch nach dem Euböischen Meere, schiffte seine zweitausend Ho- pliten bei Oropos aus, rückte in Böotien ein, schlug im Verein mit einem attischen Landheere die Tanagräer nebst den thebanischen Hilfsvölkern und unternahm zuletzt noch einen Streifzug längs der lokrischen Küste. Im Jahre 425 zog er an der Spitze einer nicht unbedeutenden Flotte und Streitmacht zu Fuß und zu Roß gegen die korinthisch- argivische Küste und besetzte die Halbinsel Methone. Im Sommer des folgenden Jahres (424) besetzte er die Insel Kythera, plünderte unmittelbar darauf die Küstenstädte Lakoniens, nahm die argivische Grenzstadt Thyrea ein und kehrte mit reicher Beute heim. In dem darauf folgenden Jahre eroberte er auf der Pallenischen Halbinsel die Stadt Mende zurück und schloß Skione ein.

Trotz allem Glücke, das seine Unternehmungen be- gleitete, sah Nikias in dem Kriege ein Unglück. Er blieb ein Freund des Friedens und auf seine Herstellung bedacht. Er galt für das Haupt der Friedenspartei in Athen. Daher betrachtete man auch den im Jahre 421 zwischen Athen und Sparta geschlossenen Frieden als sein Werk und nannte ihn den Frieden ces Nikias. Dieser Friede kam aber nie zur vollen Ausführung. Der auf seine Wahrung gerichteten Politik des Nikias erstand ein gefährlicher Gegner in dem jungen, von Ehrgeiz beherrschten Alki- biades. Schon im nächsten Jahre (420), setzte dieser ein Bündnis Athens mit Argos, Mantinea und Elis durch, das die Aufhebung des Friedens mit Sparta zur Folge haben mußte.

Die Sizilische Expedition wurde gegen den Rat und Willen. des Nikias beschlossen und 'er selbst mit seinem Nebenbuhler Alkibiades und mit Lamachos an die Spitze gestellt (415). Der von Alkibiades entworfene Feldzugs- plan wurde angenommen, aber seine wirksame Durch- führung durch die bald eintretende Abberufung des Alki- biades gehemmt. Nikias führte den Krieg nicht in dessen

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kühnem Sinne, sondern mit zaudernder, nur Schritt für Schritt vorrückender Bedächtigkeit und ließ so dem Feinde Zeit, durch bessere Rüstung zu erstarken und spartanische Hilfe an sich zu ziehen. Doch besiegte er die Syrakusaner in mehreren Treffen, rückte im nächsten Jahre (414) wieder gegen Syrakus und machte in der Belagerung der Stadt wichtige Fortschritte Schon stand ihre Übergabe bevor, als durch die Ankunft des Spartaners Gylippos eine gänzliche Veränderung der Verhältnisse eintrat. Nikias selbst wurde von einer schmerzhaften Nierenkrankheit er- faßt, die ihm zeitweise die Führung des Oberbefehls un- möglich machte. Daher sandte er ein eigenhändiges Schrei- ben mit einem ausführlichen Berichte über die Lage nach Athen und gab der Bürgerschaft anheim, entweder Flotte und Heer zurückzurufen oder eine neue Macht zu senden, so groß wie die erste. Auf jeden Fall aber solle man ihn seines Feldherrnamtes entbinden. Dies taten die Athener nicht. Sie stellten ihm zwei Feldherren an die Seite und sandten unverzüglich Eurymedon mit zehn Schiffen und mit Truppen und Geld nach Syrakus, um das dort stehende Heer zu ermutigen. Im nächsten Jahre (413) erschien De- mosthenes mit dreiundsiebzig neuen Trieren, fünftausend Schwerbewaffneten und mit einer großen Anzahl leichter Truppen jeder Art. Trotzdem gestalteten sich die Verhält- nisse für die Athener immer ungünstiger, sodaß selbst ein so kühner und tüchtiger Feldherr wie Demosthenes drin- gend zum Abzuge riet. Aber Nikias widersetzte sich hart- näckig diesem Schritte, und als er sich schließlich von seiner Notwendigkeit überzeugte und die letzten Vorbe- reitungen dazu getroffen wurden, da trat plötzlich eine Mondfinsternis ein. Eine solche Naturerscheinung unter solchen Verhältnissen erschien ihm und dem Heere als ein Wahrzeichen der Götter, dessen Mißachtung ein Frevel wäre. Er hörte auf die Mahnung der Seher, die erklärten, die Abfahrt dürfe erst nach einem vollen Mondenumlaufe also nach siebenundzwanzig Tagen angetreten werden. Thukydides (VII, 50) hat ihn deshalb getadelt und Piate

Finleitung. 9

billigte diese Kritik. In unserem Dialoge (p. 198 of.) lißt er mit deutlicher Beziehung auf Nikias’ Zaghaftigkeit den So- krates von der Feldherrnkunst in wahrhaft klassischer Weise sagen: „sie glaubt nicht der Kunst des Wahr- sagers eine Magd sein zu sollen, sondern eıne Herrin, in dem Bewußtsein, daß sie besser Bescheid weiß um die Vor- kommnisse im Kriege, die gegenwärtigen sowohl als die zu- künftigen. Und das ist auch die gesetzliche Ordnung, dab nicht der Seher dem Feldherrn gebiete, sondern der Feld- herr dem Seher“. |

Infolge der von Nikias verschuldeten Verzögerung gestalteten sich die Verhältnisse so, daß der Abzug zu Lande angetreten werden mußte, obwohl ein solcher fast aussichtslos war. Die Feldherren ordneten den Zug und teilten ihn in zwei Heerhaufen. Den ersten führte Nikias, die Nachhut Demosthenes.

Das athenische Heer zog sich zurück, verfolgt von un- säglichen Widerwärtigkeiten, gepeinigt von Hunger und Durst. Von den Feinden umringt und ihren Geschossen wehrlos preisgegeben, muß sich der Heerhaufen des Demos- thenes, sechstausend an Zahl, dem Gylippos ergeben. Immer noch aufrecht, überall ordnend und mahnend, macht Ni- kias die größten Anstrengungen, um das nächste der pa- rallelen Küstentäler, das Tal des Asinaros, zu erreichen. Dort kommen sie in die schrecklichste Lage. Jede Ord- nung löst sich auf, und der Feind richtet unter den er- schöpften Mannschaften ein furchtbares Blutbad an. Jetzt mußte Nikias alle Hoffnungen aufgeben, noch einen Teil des Heeres zu retten. Er ergab sich Gylippos unter der Bedingung, daß er dem Morden Einhalt tue und das Leben der Übriggebliebenen schone. Mit ihm selbst möge er ver- fahren, wie er wolle. Die Masse der Gefangenen, etwa siebentausend, wurde in die Steinbrüche eingesperrt, wo sie zum großen Teile elend umkamen. Die beiden Feldherren wurden in der Volksversammlung zum Tode verurteilt, kamen aber ihrer Hinrichtung zuvor, indem sie selbst Hand an sich legten

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Dieses Ende des Nikias bezeichnet Thukydides (VII, 86) im Hinblick auf die Tüchtigkeit seines Charakters, um dessenwillen er ihn über alle seine Zeitgenossen stellt, als ein im höchsten Grade unverdientes. Und auch wir be- klagen das Los des trefflichen Mannes, der einem von ihm mißbilligten Unternehmen zum Opfer fiel und einen schmäh. lichen Tod erlitt.

Lysimachos war der Sohn des berühmten Aristeides und Melesias der Sohn des Thukydides, nicht des Ge- schichtschreibers, sondern jenes Thukydides, der lange Zeit dem Perikles als Parteiführer gegenüberstand, bis er durch den Ostrakismos aus Athen verbannt wurde. Außerdem sind bei dem Gespräche noch beider älteste Söhne gegen- wärtig, von denen jeder den Namen seines berühmten (sroßvaters trägt.

Der Sokrates des Gesprächs erscheint gegen fünfzig Jahre alt, die beiden Feldherren sind nach Kap. V, 181d etwas älter. Noch älter sind Lysimachos und Melesias. Sie halten sich von der Teilnahme an den Erörterungen fern, und Lysimachos, der von beiden immer noch der geistig regere ist, begründet dies mit seiner groben Vergeblichkeit, die er Kap. XV, 189c für eine Folge seines Alters erklärt. Eine chronologische Schwierigkeit liegt darin, daß Lysi- machos und Melesias, des Aristides und des Thukydides älteste Söhne, wie ungefähre Altersgenossen eingeführt werden (s. Bonitz, Plat. Studd.3, S. 222 Anm.). Aber wenn Plato es für angemessen hielt, in diesem Punkte gegen die Chronologie zu verstoßen, so müssen wir dem Dichter in ihm diese Freiheit gestatten und können es auch, denn der Sache wird damit kein Schade zugefügt und die Gestaltung der Szenerie wird auf diese Weise einfacher und harmo- nischer.

4. Die Übereinstimmung von Wissen und Wollen.

Die uns im Laches entgegentretende Auffassung von dem Wesen der Tapferkeit, nach der sie Wissen ist, ruht

Einleitung 11

auf dem Glauben an eine Übereinstimmung zwischen Wissen und Wollen, zwischen Denken und Handeln. In uns wohnt das Verlangen nach der Erkenntnis des Wahren und Guten. „Alle Menschen verlangen von Natur nach dem Wissen“, sagt Aristoteles am Anfange seiner Meta- physik. In uns wohnt aber auch das Verlangen, das als wahr und gut Erkannte zu tun. Nach Protagoras 358 0 liegt es offenbar nicht in der Natur des Menschen, dem nachzugeben, was er für böse hält, anstatt dem Guten. Wir denken auch an das schöne Wort des Aristoteles: „Wir beschäftigen uns mit Ethik nicht, um zu wissen, was 'Tu- gend ist, denn das brächte uns keinen großen Gewinn, son- dern um tugendhaft zu werden.“ Das Wissen auf seiner Höhe ist Weisheit. Wir nennen aber den nicht einen Wei- sen, der das als wahr und gut Erkannte nicht tut. Erinnern wir uns dabei auch des Platonischen Wortes, daß wir Rei- nes nur mit Reinem, also die Wahrheit nur mit reinem Sinne zu erfassen vermögen. „Selig sind, die reines Her- zens sind, denn sie werden Gott schauen.“ Ist aber die Reinheit des Herzens die Voraussetzung für die Erkenntnis der Wahrheit, so folgt ihr die Betätigung wie von selbst.

Dieses Verhältnis zwischen Wissen und Wollen zeigt sich in der Tugend der Tapferkeit am kraftvollsten. Sie ist Wissen vom Guten und Bösen, und fordert mit aller Entschiedenheit den Kampf für das Gute und gegen das Böse, vor allem gegen alle bösen Mächte in uns, gegen die bösen Triebe, Lüste und Begierden, die uns, tragen wir nicht den Sieg über sie davon, um das Heil der Seele bringen. Sie gebietet uns den Kampf für unsere sittlichen Überzeugungen und gibt uns die Καα zu solchem Kampfe. So beruht die Tapferkeit durchaus auf sittlicher Grund- lage. Das gilt auch von der Tapferkeit, die sich im Kriege bewährt. Wir gedenken des in unserem Dialoge angeführ- ten Beispieles von einem Feldherrn, der mit seinen Leuten in ungünstiger Stellung einem an Zahl und militärischer Tüchtigkeit weit überlegenen Feinde standhält und nicht weicht. Das ist nicht Tapferkeit, sondern Torheit, wenn

19 Einleitung.

dieses Ausharren keinem höheren Zwecke dient, wird aber zu ruhmvoller Tapferkeit, wenn Feldherr und Soldaten der Überzeugung sind, daß nur durch ihr Ausharren auf dem gefährdeten Posten und durch ihre Aufopferung das Vater- land gerettet werden kann. Die Übereinstimmung von Wissen und ‚Wollen, auf der die Tugend der Tapferkeit be- ruht, spiegelt sich so recht in der Gesinnung des So-

krates wieder. Rastlos sucht er nach der Erkenntnis der

ethischen Wahrheiten, aber nicht blos um der Erkenntnis willen, sondern um sein ganzes Leben nach ihnen zu gestalten. In ergreifender Weise kommt diese Tapferkeit im XVI. Kapitel der Apologie zur Darstellung.

>. Die Zeit der Abfassung des Laches.

Das in unserem Dialoge vorgeführte Gespräch müssen wir in der Zeit gehalten denken, die zwischen der in ihm wiederholt erwähnten Schlacht bei Delion (425) liegt und der Schlacht bei Mantinea, in der Laches fiel (418). Was nun die Zeit der Abfassung betrifft, so erscheint es als ge- wiß, daß der Laches bald nach dem Protagoras entstanden ist. Aber wann ist nun dieser geschrieben? Die Beant- wortung dieser Frage hängt mit der Beantwortung der Frage nach dem Ziele zusammen, das Plato mit der Ab- fassung dieses Dialogs verfolgte. Nach meiner Überzeu- gung kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Plato mit diesem Dialoge seine Stellung den Sophisten, namentlich ihrem glänzendsten Vertreter Protagoras gegenüber kenn- zeichnen und so seinem eigenen Wirken den Weg bereiten wollte. Er hat dies getan, ohne ungerecht zu werlen. Der Charakter des Dialogs Protagoras ist keineswegs durch- gehends polemisch; er durfte und konnte es auch nicht sein. Der ganz ungemeine Beifall, den die Sophisten, vor allen Protagoras in weiten Kreisen des Volkes fanden, war ja gar nicht zu begreifen, wenn an ihnen alles falsch und verkehrt war. Wenn Protagoras den ethischen Charakter der Erziehung und des Unterrichtes hervorhebt, wenn er

Kinleitung. | 13

die Bedeutung der Harmonie für die Gestaltung des ganzen Lebens stark betont, so waren das Anschauungen, die von den Pythagoreern stammten und denen Plato selbst, wie auch der Dialog Laches zeigt, vollkommen zustimmte. Es waren dies der Seele des griechischen Volkes gemäße An- schauungen. So hat Plato das an der Lehre des Protagoras Richtige klar herausgestellt, er wollte aber auch gegenüber der Begeisterung weiter Kreise für diese moderne Weisheit seine Mitbürger zu einer besonnenen Prüfung dieser ihm doch recht gefährlich scheinenden Richtung hinführen und wollte dartun, daß die Wahrheit in ihrem Grunde nicht bei Protagoras, sondern bei Sokrates zu suchen ist. An diesen schließt sich auch der lehrhafte Inhalt des Dialogs eng an. Alle Bildung beruht auf ethischer Grundlage. Da- her kommt es vor allem darauf an, daß das Wesen der Tugend erkannt und diese Erkenntnis zur Tat wird. Alle Tugend, auch die Tapferkeit, ist Wissen des Guten und Betätigung dieses Wissens. Und auch die Sokratische Methode der Belehrung ist die richtige. Ich glaube, dab durch diese Auffassung von der Aufgabe des Dialogs, den H. v. Arnim (Platos Jugenddialoge 1914, S. 1—37) ein äußerst kompliziertes Gebilde nennt, auch die Frage der Abfassungszeit ihre Erklärung findet. Zu dieser Auf- fassung stimmt es auch vollkommen, wenn derselbe Ge- lehrte a Dialoge einen „programmatischen Charakter“ beilegt und ihm der Zeit der Abfassung nach von allen platonischen Schriften nur die Apologie vorausgehen läßt. Hiermit gehört auch der Laches in die erste Zeit der schriftstellerischen Tätigkeit Platos.

Platons Laches.

Personen des Gespräches: Lysimachos, Melesias, Nikias, Laches, die Söhne des Lysimachos und Melesias, Sokrates.

Erstes Kapitel.

Lysimachos. Ihr habt den Mann in schwerer Rüstung!) kämpfen sehen, Nikias und Laches. Weshalb wir aber, ich und Melesias hier, euch aufgefordert haben, mit uns diesem Schauspiele beizuwohnen, das haben wir nicht gleich damals gesagt, wollen es euch aber jetzt sagen. Denn euch gegenüber halten wir eine ofiene Aussprache für geboten. Es gibt ja Menschen, die sich über solche?) lustig machen, und die, um ihre Meinung

gefragt, nicht sagen mögen, was sie denken, sondern um

den, der sie um Rat fragt, auszuhorchen, anders reden, gegen ihre Überzeugung. Von euch aber haben wir die Ansicht gewonnen, daß ihr imstande seid, das Richtige zu finden, und habt ihr es gefunden, unumwunden eure Meinung sagen werdet, und so haben wir euch zu einer Beratung zugezogen über Dinge, über die wir uns mit euch aussprechen wollen.

Der Gegenstand nun, dem ich eine so lange Einleitung vorausschicke, ist folgender. Das hier sind unsere Söhne. Der da ist der Sohn dieses Mannes und heißt nach seinem Großvater?) Thukydides, und der da ist meiner. Auch er trägt den Namen seines Großvaters, meines Vaters; wir nennen ihn nämlich Aristeides. Es ist nun unser fester Entschluß, für sie soviel als nur möglich zu sorgen, und es nicht zu machen, wie die Mehrzahl der Väter, die Söhne, nachdem sie zu Jünglingen herangewachsen sind, sich selbst zu überlassen, daß sie tun, was ihnen gefällt,

178 St.

173 St.

Laches. | 15

sondern wir wollen jetzt erst recht anfangen, für sie zu sorgen, soweit wir nur irgend können. Da wir nun wissen, daß ihr auch Söhne habt, haben wir euch zu einer Be- sprechung eingeladen. Denn wenn überhaupt jemand, so habt ganz gewiß ihr darüber nachgedacht, durch welche Erziehung sie recht tüchtige Männer werden können, Wenn ihr aber etwa eure Aufmerksamkeit doch nicht hierauf gelenkt haben solltet, so wollten wir euch darauf hinweisen, daß man so etwas nicht außer acht lassen darf, und euch auffordern, gemeinsam mit uns für die Söhne in der rechten Weise zu sorgen.

Zweites Kapitel.

Wie wir nun zu diesem Entschlusse gekommen sind, lieber Nikias und Laches, das sollt ihr vernehmen, muß ich auch dabei etwas weiter ausholen. Ihr wißt ja, ich und Melesias hier nehmen die Hauptmahlzeit zusammen ein*) und unsere Jungen essen bei uns mit. Wie ich nun gleich zu Anfang meiner Rede sagte, werden wir uns ganz offen gegen euch aussprechen. Jeder von uns beiden kann den jungen Leuten von seinem Vater viele rühm- liche Taten erzählen, was die alles im Kriege vollbracht haben und was alles im Frieden bei der Verwaltung der Bundesangelegenheiten?) und unseres städtischen Gemein- wesens, von eigenen Taten aber weiß keiner von uns zu berichten. Deshalb schämen wir uns einigermaßen vor diesen und klagen unsere Väter an, daß sie uns in den Tag hineinleben ließen, sobald wir zu Jünglingen heran- gewachsen waren, während sie für andere sich abmühten, und den jungen Leuten da führen wir ebendas zu Gemüte und sagen ihnen, wenn sie sich gehen ließen und nicht auf uns hörten, so würden sie keinen Ruhm ernten, hielten sie aber auf sich, so würden sie sich wohl der Namen würdig machen, die sie tragen. Sie erklären nun, sie wollten es so machen, und also denken wir darüber nach, durch welche Unterrichtsgegenstände oder Beschäftigungen

16 Platons Dialoge.

sie recht tüchtige Männer werden können. Es hat uns nun einer auch auf diese Kunst hingewiesen, mit dem Be- merken, es wäre eine schöne Sache für einen Jüngling, das Fechten in voller Rüstung zu erlernen. Und er rühmte diesen Mann, dessen Schaustellung ihr eben mit angesehen habt, und dann forderte er uns auf, einer solchen einmal beizuwohnen. Es erschien uns nun nötig, selbst hinzu- gehen, um den Mann zu sehen, und auch euch mitzunehmen als gemeinsame Zuschauer und zugleich als Ratgeber und Helfer bei der Fürsorge für die Söhne, wenn euch das so recht ist.

Das ist es, was wir mit euch besprechen wollten. Es liegt nunmehr an euch, uns Rat zu erteilen sowohl hin- sichtlich dieser Kunst, ob man sie nach eurer Ansicht erlernen muß oder nicht, als auch hinsichtlich anderer Unterrichtsgegenstände, im Falle ihr in der Lage seid, einem Jünglinge irgend einen Unterrichtsgegenstand oder eine Beschäftigung zu empfehlen. Und auch über die gemeinsame Fürsorge teilt uns eure Ansicht mit, wie ihr es damit halten wollt.

Drittes Kapitel.

Nikias. Lysimachos und Melesias, ich lobe eure Absicht und bin bereit mitzuhelfen; dasselbe nehme ich auch von Laches an.

Laches. Ganz recht, mein Nikias. Denn was Lysimachos soeben von seinem und des Melesias Vater sagte, das trifft meines Erachtens wie bei jenem so auch bei uns zu und bei allen, die ihre Tätigkeit dem Staate widmen. Im ganzen ergeht es ihnen so, wie unser Nikias sagt, sowohl hinsichtlich ihrer Söhne als alles anderen, was sie persönlich angeht: das wird gering ge- schätzt und vernachlässigt. Damit also hast du voll- kommen recht, mein Lysimachos. Daß du aber für die Erziehung der jungen Leute uns zu Rate ziehst, Sokrates dagegen, der doch hier ist, nicht, das nimmt mich wunder.

180 St

Laaches. 17

Denn erstens ist er dein Gaugenosse®), sodann weilt er

immer da, wo etwas von dem zu finden ist, was du für

1 St.

die jungen Leute suchst, ein Unterrichtsgegenstand oder eine löbliche Beschäftigung‘).

Lysimachos. Wie sagst du, mein Laches?’ Hat sich denn der Sokrates hier je um so etwas gekümmert?

Laches. Ganz gewiß, mein Lysimachos.

Nikias. Das könnte ich dir ebenso gut sagen wie Laches. Hat er mir doch selbst erst neulich für meinen Sohn als Lehrer in der Musik Agathokles’®) Schüler Damon”) empfohlen, einen ganz vortrefflichen Mann, der es wert ist, nicht nur auf dem Gebiete der Musik Lehrer solcher jungen Leute zu sein, sondern auch auf allen anderen Gebieten, wo du es nur wünschest.

Viertes Kapitel.

Lysimachos. Sokrates, Nikias und Laches, ihr könnt es mir schon glauben, wer so alt ist wie ich, der kennt die jüngeren Leute gar nicht mehr; infolge unserer Jahre verbringen wir ja die meiste Zeit daheim. Doch solltest auch du, Sohn des Sophroniskos, imstande sein, mir, deinem Gaugenossen, einen guten Rat zu geben, so mußt du es tun. Das ist nur recht und billig, denn schon vom Vater her bist du uns befreundet. Ich und dein Vater waren ja immer gute Freunde, und bis zur letzten Stunde seines Lebens ist zwischen uns auch nicht die leiseste Verstimmung eingetreten. Doch da fällt mir soeben bei der Rede dieser Männer etwas ein. Die Knaben hier gedenken in ihren Gesprächen daheim häufig eines Sokrates und rühmen ihn sehr, doch habe ich sie noch nie danach gefragt, ob sie damit den Sohn des Sophroniskos meinten. Hört mal, ihr Jungen, sagt mir: Ist das da der Sokrates, den ihr jedesmal dabei im Sinne hattet?

Die Söhne. Ganz gewiß, lieber Vater, der ist es.

Lysimachos. Brav, mein Sokrates, bei der Hera,

Platon Laches und Euthyphron. Phil. Bibl. Bd. 178. 2

18 Platons Dialoge.

daß du deinen Vater, den trefflichsten Mann von der Welt, in Ehren hältst, ganz besonders auch dadurch, daß du mit allem, was du bist und hast, uns zugehören willst, gleich wie wir, mit allem, was wir sind und haben, dir zugehören werden °P).

Laches. .Ja, ja, mein Lysimachos, laß nicht von dem Manne! Habe ich ihn doch auch sonst gesehen, wie er nicht nur seinem Vater Ehre machte, sondern auch seinem Vaterlande. Bei dem fluchtartigen Rückzuge von Delion ging er mit mir zurück, und ich kann dir sagen, hätten auch die anderen sich so wacker zeigen wollen, so stünde unsere Stadt groß da und hätte nicht damals eine solche Niederlage erlitten. !))

Lysimachos. Mein Sokrates, das ist fürwahr ein schönes Lob, das dir von Männern gespendet wird, denen man vertrauen kann, und zwar gerade auf dem Gebiete, auf dem sich ihr Lob bewegt. Wisse nun wohl, ich höre es gern, daß du in hohem Ansehen stehst; sei aber auch du überzeugt, daß ich zu deinen besten Freunden gehöre. Allerdings hättest du schon früher unaufgefordert bei uns aus- und eingehen und uns als deine guten Freunde betrachten sollen, sowie das recht ist; nun aber, von dem heutigen Tage an, nachdem wir miteinander persönlich bekannt geworden sind, unterlaß das ja nicht, sondern halte dich zu uns und pflege die Bekanntschaft mit uns und diesen jungen Leuten, damit auch ihr!?) unsere Freundschaft!?) aufrecht haltet. Gewiß wirst du das tun, und wir werden dich immer wieder daran gemahnen. \Was meint ihr!*) aber über den Gegenstand, von dem wir ausgingen? Wie denkt ihr darüber? Ist die Erlernung der Kunst, in schwerer Rüstung zu kämpfen, für Jüng- linge erfordert oder nicht?

Fünftes Kapitel.

Sokrates. Nun, mein Lysimachos, ich werde es versuchen, sowohl hierüber einen Rat zu geben, wenn ich

2 St.

Lacher, 19

irgend wie kann, als auch sonst alles zu tun, wozu du mich aufforderst. Als das Richtigste jedoch erscheint es mir, daß ich, als der Jüngere und Unerfahrenere, zu- nächst höre, was diese Männer sagen, und von ihnen lerne, wenn ich aber etwas anderes zu sagen habe, als sie sagen, erst dann dich und sie zu belehren und zu überzeugen suche Doch, mein Nikias, warum redet denn nicht einer von euch beiden?

Nikias. Daran hindert uns nichts, mein Sokrates. Nach meiner Ansicht ist es allerdings für die jungen Leute in mehr als einer Hinsicht von Vorteil, diese Kunst zu verstehen. Schon das ist gut, daß sie die Zeit nicht mit anderen Dingen hinbringen, mit denen die jungen Leute sich bekanntlich gern die Zeit vertreiben, wenn sie nichts zu tun haben, sondern mit etwas, wodurch sie auch eine bessere Lieeibesbeschaffenheit gewinnen müssen; denn diese Leibesübung steht hinter keiner anderen zu- rück und ist auch nicht mit geringerer Anstrengung ver- bunden, und zugleich ziemt sie neben der Übung im Reiten einem freien Manne ganz besonders. Denn für den Kampf, in welchem wir die rechten Kämpfer sind, und für die Art des Kampfes, die uns zur Aufgabe ge- stellt ist!®), üben allein die sich in der rechten Weise, die sich in diesen Kriegswerkzeugen!®) üben. Sodann wird diese Kunst auch in der Schlacht selbst manchen. Vorteil bringen, wenn es gilt in Reih und Glied zu kämpfen zusammen mit vielen anderen. Den größten Vorteil jedoch bietet sie, wenn sich die Reihen lösen, und es nun nötig ist, im Kampfe von Mann gegen Mann entweder verfolgend einen anzugreifen, der sich verteidigt, oder auch fliehend sich gegen den Angriff eines anderen zu wehren. Wer diese Kunst versteht, der erleidet durch einen einzelnen ganz gewiß keinen Schaden, vielleicht auch nicht durch eine Mehrzahl, sondern ist durch sie unter allen Umständen im Vorteile. Außerdem weckt auch ein solcher Besitz das Verlangen nach einer anderen schönen Kunst; denn in einem jeden,.der gelernt hat in

20 Platons Dialoge.

schwerer Rüstung zu kämpfen, regt sich wohl auch das Verlangen nach der sich hieran anschließenden Wissen- schaft der Taktik, und wenn er diese erfaßt und eifrig sich mit ihr beschäftigt hat, dann richtet sich wohl sein Streben auf das gesamte Gebiet der Kriegskunst. Und so ist es nunmehr offenbar, daß die hiermit zusammen- hängenden Wissenschaften und Tätigkeiten, zu denen

diese Kunst hinführt, insgesamt schön sind und ihre

Erlernung und Ausübung für einen Mann hohen Wert hat. Wir müssen aber noch einen nicht unwesentlichen Zusatz machen, daß nämlich diese Fertigkeit jeden Mann im Kampfe bedeutend mutiger und tapferer macht, als er es sonst wäre. Wir wollen es aber auch der Er- wähnung nicht für unwert erachten, wenn es auch in den Augen mancher etwas recht Geringfügiges ist, daß diese Kunst ihm auch eine schönere Haltung gibt, da, wo es gut ist, daß der Mann eine schönere Haltung zeigt, näm- lich da, wo eine solche zugleich geeignet ist, ihn den Feinden furchtbarer erscheinen zu lassen.

Mein Lysimachos, ich bin wie gesagt, tatsächlich der Überzeugung, daß man die jungen Leute in dieser Kunst unterrichten muß, und meine Gründe dafür habe ich dargelegt. Wenn aber Laches etwas dagegen zu sagen hat, so werde ich ihn meinerseits gern anhören.

Sechstes Kapitel.

Laches. Es ist gewiß mißlich, mein Nikias, von irgend welcher Kunst zu sagen, man brauche sie nicht zu lernen; denn es erscheint als ein Vorzug, sie alle zu verstehen. Und so muß man denn auch diese Führung schwerer Waffen erlernen, wenn sie wirklich eine Kunst ist, wofür sie ihre Lehrer ausgeben, und als welche sie Nikias darstellt. Wenn sie aber keine Kunst ist, sondern diejenigen, die sich für ihre Lehrer ausgeben, uns etwas vormachen, oder wenn sie zwar eine Kunst ist, jedoch nicht eine von besonderer Wichtigkeit, wozu braucht man

88 St.

Laches,. 9]

sie dann zu erlernen? Ich rede aber so von ihr, indem ich dabei folgendes im Auge habe. Wenn an der Sache etwas wäre, so wäre sie meines Erachtens den Lakedämo- niern nicht unbekannt geblieben, deren ganzes Dichten und Trachten im Leben darauf gerichtet ist, das zu erforschen und zu betätigen, durch dessen Kenntnis und Betätigung sie allen anderen im Kriege überlegen werden. Wäre nun an dieser Kunst etwas und wären die Spartaner trotzdem nicht auf sie aufmerksam geworden, so kann doch diesen ihren Lehrern nicht eben diese Tatsache un- bekannt sein, daß jene unter allen Hellenen am meisten Fleiß auf derartige Dinge verwenden, und daß wer bei ihnen auf diesem (febiete Ansehen gewonnen hat, auch bei anderen das meiste Geld einheimsen wird, gerade so wie ein Tragödiendichter, der bei uns Ruhm geerntet hat. Daher geht einer, der ein guter Dichter zu sein vermeint, nicht draußen im Bogen um Attika herum, um seine Kunst in anderen Städten vorzuführen, sondern eilt spornstreichs hierher und zeigt sie den Leuten hier. Ganz natürlich. Diesen Hoplomachen aber ist, wie ich sehe, Lakedämon ein unnahbares Heiligtum, in das sie auch nicht die Spitze des Fußes setzen, sondern sie um- gehen diese Stadt und führen ihre Kunst lieber allen möglichen anderen vor und am liebsten solchen, denen nach ihrem eigenen Zugeständnisse auf dem (zebiete des Krieges viele überlegen sind.

Siebentes Kapitel.

Sodann war ich, mein Lysimachos, bei gar nicht wenigen von ihnen im Ernstfalle zugegen, und ich sehe immer wieder, was das für Leute sind. Wir brauchen dabei gar nicht weit zu gehen. Denn gerade als hätten sie es darauf abgesehen, hat von allen, die das Fechten in schwerer Rüstung geübt haben, niemals auch nur ein einziger im Kriege sich ausgezeichnet. Und doch gehen auf allen anderen Gebieten die Berühmten aus denen

29 Platons Dialoge.

hervor, die sich auf dem entsprechenden Gebiete geübt haben. Diese aber sind, wie es scheint, im Gegensatz zu allen anderen mit ihrer Kunst vollständig verunglückt. So habe ich denn auch von Stesileos, dem ihr soeben mit mir zuschautet, wie er vor einer so großen Menge seine Künste zeigte und so viel Rühmens von sich machte, bei anderer Gelegenheit eine richtigere Anschauung ge-

wonnen, als er in Wirklichkeit eine wirkliche Probe

seiner Geschicklichkeit ablegte, allerdings gegen seinen Willen. Als nämlich das Schifi, auf dem er als Seesoldat diente, mit einem Lastschiff zusammenstieß, kämpfte er mit einer Sichellanze, selbstverständlich einer ganz be- sonderen Waffe, wie er ja auch selbst etwas ganz Be- sonderes war. Anderes nun von dem Manne zu erzählen, lohnt nicht, wohl aber, was bei dem feinen Gedanken mit der Sichel an der Lanze herauskam. Während er kämpfte, blieb sie irgendwo in dem Takelwerke des Last- schiffes hängen und verfing sich. Stesileos nun zerrte, um sie los zu bringen und vermochte es nicht. Es glitt aber das eine Schiff an dem. anderen hin. Eine Weile nun lief er auf seinem Schiffe neben her und hielt die Lanze fest. Als aber das eine Schiff über das andere hinaus kam und ihn mit fortzog, während er die Lanze festhielt, ließ er die Lanze durch die Hand gleiten, bis er nur noch das äußerste Ende des Schaftes in der Hand hatte. Es erhob sich aber wegen seiner Stellung Ge- lächter und Händeklatschen von den Leuten auf dem Lastschiffe, und als einer einen Stein auf das Deck ihm vor die Füße warf und er infolgedessen die Lanze los- ließ, da nun konnte auch die Mannschaft auf dem Kriegs- schiffe sich des Lachens nicht mehr enthalten, als sie sahen, wie seine Sichellanze an dem Lastschiff in den Wanten in der Luft schwebte.

Es mag jawohl etwas an der Sache sein, wie Nikias meint; was ich aber mit angesehen habe, damit steht es ganz RB: im wesentlichen so.

184 St.

Laaches. 3

Achtes Kapitel.

Wie ich nun gleich von vornherein sagte, mag diese Übung eine Kunst sein, die aber nur so geringe Vorteile bietet, oder mag sie keine Kunst sein, und die Menschen sagen nur so und geben sie für eine Kunst aus, in beiden Fällen lohnt der Versuch, sie zu erlernen, nicht. Denn es ist in der Tat meine Ansicht: meint ein Feiger, er verstehe sie, so wird er, dadurch dreister geworden, nur noch mehr seine wahre Natur offenbaren; ist es aber ein Tapferer, so passen die Menschen auf ihn auf, und er wird sich auch durch einen kleinen Mißgriff schlimmen Tadel zuziehen; denn der Anspruch auf den Besitz einer solchen Kunst erregt Neid. Wenn er daher durch seine Geschicklichkeit nicht wunder wie hoch über allen anderen steht, so kann er unmöglich dem Fluche der Lächerlich- keit entgehen, wenn er behauptet im Besitze dieser Kunst zu sein. So ungefähr, mein Lysimachos, steht es nach meiner Ansicht mit dem Eifer für diese Kunst. Wir dürfen aber, wie ich dir gleich anfangs sagte, auch unseren Sokrates nicht bei Seite lassen, sondern müssen ihn bitten, er wolle uns mit seinem Rate beistehen und uns sagen, wie er über den vorliegenden Gegenstand denkt.

Lysimachos. Nun, ich bitte dich darum, mein Sokrates. Es sieht mir ja auch so aus, als ob unsere Beratung eines Schiedsrichters bedürfe. Denn stimmten diese beiden Männer überein, so würden wir einen solchen nicht so nötig haben. Nun hat aber, wie du siehst, Laches seine Stimme gegen Nikias abgegeben. Es ist also gut, auch von dir zu hören, welchem von den beiden du zustimmst. ν

Neuntes Kapitel.

Sokrates. Wie, mein Lysimachos? Was die Mehr- zahl von uns gut heißt, an das willst du dich halten?

Lysimachos. Was soll man denn sonst auch tun, mein Sokrates?

24 Platons Dialoge.

Sokrates. Wirst du es auch so machen, mein Melesias? Wenn du dich wegen der Leibesübungen deines Sohnes zu beraten hättest, worin er sich üben soll, würdest du da auch auf die Mehrzahl von uns hören oder auf den, der unter einem guten Turnlehrer ausgebildet worden ist und geübt hat?

krates.

Sokrates. Ihm wirst du also lieber folgen als uns vieren?

Melesias. Doch wohl.

Sokrates. Was richtig entschieden werden soll, das muß ja, denk ich, auf Grund von Sachkenntnis ent- schieden werden und nicht durch Stimmenmehrheit.

Melesias. Ganz gewiß.

Sokrates. Also müssen wir auch jetzt zunächst eben dies ins Auge fassen, ob von dem Gegenstande unserer Beratung einer von uns ein fachmännisches Ver- ständnis besitzt, oder nicht; und wenn es einen solchen unter uns gibt, so müssen wir auf diesen hören und alle anderen beiseite lassen; wenn nicht, so müssen wir nach einem anderen suchen. Oder meint ihr, du und Lysi- machos, daß für euch jetzt etwas Geringes auf dem Spiele steht und nicht vielmehr ein Besitztum, das unter allen euern Besitztümern das höchste ist? Denn je nach- dem, mein’ ich, die Söhne tüchtig werden oder das Ge- genteil davon, wird es auch mit dem ganzen Hause des Vaters bestellt sein, je nachdem die Söhne geraten.

Melesias. Sehr richtig.

Sokrates. Also müssen wir mit großer Umsicht dabei zu Werke gehen.

Melesias. Ganz gewiß.

Sokrates. In welcher Weise würden wir in Hin- sicht auf das, wovon ich eben sprach, die Erwägung an- stellen, wenn wir ausfindig machen wollten, wer unter uns auf dem Gebiete der Leibesübungen die beste fach-

gemäße Ausbildung besitzt? Ist es nicht einer, der sie

Melesias. Selbstverständlich auf diesen, mein So-

185 St.

Laches, 25

erlernt und geübt hat und auch gute Lehrer eben darin hatte?

Melesias. Mir scheint das richtig.

Sokrates. Würden wir nicht vorher noch ins Auge fassen, was denn das ist, wofür wir die Lehrer suchen?

Melesias. Wie meinst du das?

Zehntes Kapitel.

Sokrates. Vielleicht wird dies auf-folgende Weise deutlicher. Meines Erachtens haben wir uns noch gar nicht darüber verständigt, was denn der eigentliche Ge- genstand unserer Beratung ist, und fragen schon, wer von uns darin Fachmann ist und um dieses Gegenstandes willen Lehrer gewonnen hat, und wer nicht.

Nikias. Erwogen wir denn nicht, ob unsere jungen Leute den Kampf in schwerer Rüstung erlernen sollen oder nicht?

Sokrates. Ganz gewiß, mein Nikiass. Doch wenn einer darüber nachdenkt, ob er eine Augensalbe ein- streichen soll oder nicht, was meinst du, hat da seine Erwägung die Salbe zum Gegenstande oder die Augen?

Nikıias. Die Augen.

Sokrates. Und auch wenn jemand darüber nach- denkt, ob er einem Rosse einen Zügel anlegen soll oder nicht, und wann er ihn anlegen soll, dann bildet doch wohl das Roß den Gegenstand seiner Überlegung und nicht der Zügel ?

Nikias. Richtig.

Sokrates. Mit einem Worte also, wenn jemand etwas um einer Sache willen in Erwägung zieht, so bildet den Gegenstand der Überlegung das, um des willen er die Betrachtung anstellte, und nicht das, was er um einer anderen Sache willen untersuchte.

Nikias. Unbedingt.

Sokrates. Er muß nun auch in Erwägung ziehen, ob sein Berater die rechte Ausbildung hat hinsichtlich

296 Platons Dialoge,

der Behandlung des Gegenstandes, um des willen wir die Erwägung anstellen, die wir anstellen.

Nikias. Gewiß.

Sokrates. Sagen wir nun nicht, daß wir jetzt über einen Unterrichtsgegenstand nachdenken um der Seele der jungen Leute willen?

Nikias. Jawohl.

Sokrates. Also müssen wir erwägen, ob einer von

uns die rechte Ausbildung hat hinsichtlich der Behandlung der Seele und imstande ist, sie richtig zu behandeln, und wer darin gute Lehrer gehabt hat.

Laches. Wie, mein Sokrates? Hast du noch nicht erlebt, daß Leute ohne Lehrer in manchen Dingen eine bessere Ausbildung erlangt haben als andere mit Lehrern?

Sokrates. Gewiß, mein Laches.. Du würdest aber nicht geneigt sein, ihrer Versicherung, sie seien gute Werkmeister, Glauben zu schenken, wenn sie nicht in der Lage wären, dir ein wohlgelungenes Werk aufzuweisen, eines oder mehrere. |

Laches. Hiermit allerdings hast du recht.

Elftes Kapitel.

Sokrates. Lieber Laches und Nikias! Erfüllt ven dem Wunsche, die Seelen ihrer Söhne möchten so gut als möglich werden, haben Lysimachos und Melesias uns zur Beratung zugezogen. Im Falle wir also hierzu in der Lage zu sein glauben, müssen wir ihnen auch nachweisen, wer unsere Lehrer gewesen sind, die zunächst selbst gute Männer waren und die Seelen vieler jungen Leute herangebildet haben, sodann aber auch uns wirklich unter- richtet haben. Sagt aber einer von uns, er habe keinen Lehrer gehabt, so muß er auf jeden Fall in der Lage sein, sich auf eigene Leistungen zu berufen und nach- zuweisen, welche Athener oder Fremde, Sklaven'”) oder Freie durch ihn nach übereinstimmendem Urteile gut ge- worden sind. Steht uns aber von alledem nichts zu Ge-

186 St,

Laches,. | 27

bote, so müssen wir euch ersuchen, euch nach anderen umzusehen, und dürfen da, wo es sich um die Söhne befreundeter Männer handelt, uns nicht in die Gefahr begeben, sie zu verderben, und damit uns dem schlimmsten Vorwurfe von seiten ihrer nächsten Angehörigen aussetzen. Was nun meine Person betrifft, Lysimachos und Melesias, so erkläre ich zunächst, daß ich hierin keinen Lehrer ge- habt habe. Und doch liegt mir die Sache von Jugend auf sehr am Herzen. Aber ich bin nicht in der Lage, den Sophisten Honorar zu bezahlen, die doch die einzigen waren, die öffentlich sich für fähig erklärten, mich zu einem edlen und guten Menschen zu machen; aus eigener Kraft aber diese Kunst aufzufinden, bin ich jetzt noch außerstande'°). Wenn aber Nikias oder Laches sie selbst gefunden oder von anderen erlernt hat, so soll mich das nicht wundern; denn sie sind vermögender als ich, so daß sie bei anderen Unterricht darin nehmen konnten, und zugleich älter und konnten sie daher bereits selbständig auffinden. Sie er- scheinen mir also fähig, einen Menschen zu erziehen. Sie würden sich ja auch niemals mit solcher Sicherheit darüber aussprechen, welche Beschäftigungen für einen jungen Menschen nützlich, welche schädlich sind, wenn sie sich hierüber nicht ein ausreichendes Wissen zutrauten.

In allem anderen habe ich volles Vertrauen zu diesen Männern; daß sie aber in ihren Ansichten aus- einandergehen, darüber muß ich mich wundern. Ich richte also meinerseits die folgende Bitte an dich, mein Lysimachos: Gleichwie soeben Laches dich aufforderte, mich nicht loszulassen, sondern zu fragen, so mahne auch ich jetzt dich, Laches und Nikias nicht loszulassen, sondern sie zu fragen, indem du also sprichst: Sokrates erklärt, er verstehe sich nicht auf die Sache und sei auch nicht imstande zu entscheiden, wer von euch beiden recht hat: denn in solchen Dingen sei er weder selbständiger Forscher noch Schüler irgend eines gewesen. Ihr aber, mein Laches und Nikias, ein jeder von euch beiden sage uns, wer der größte Meister hinsichtlich der Jugenderziehung

98 Platons Dialoge,

ist, zu dem ihr in Beziehung gekommen seid, und ob ihr euer Wissen von einem anderen erlernt oder durch eigenes Nachdenken gefunden habt, und wenn ihr es er- lernt habt, wen jeder von euch zum Lehrer gehabt hat, und wer ihre Berufsgenossen sind, auf daß wir, im Falle ihr durch eure Tätigkeit für den Staat!?) ganz in Anspruch genommen seid, zu ihnen gehen und sie durch Geschenke

137 St.

oder freundliche Worte oder durch beides bewegen, für

unsere und für eure Söhne zu sorgen, daß sie nicht mißb- raten und ihren Vorfahren Schande machen. Wenn ihr aber durch eigenes Nachdenken zu solcher Kenntnis gelangt seid, so nennt uns Beispiele von jungen Leuten, die ihr schon in eure Obhut genommen und aus unnützen zu edlen und guten Menschen gemacht habt. Denn wenn ihr jetzt euern ersten Anfang mit der Erziehung machen wollt, so bedenkt ja: nicht an einem Karier”®) macht ihr euern ersten Versuch, sondern an euern Söhnen und den Söhnen eurer Freunde, und seht zu, daß es euch nicht so ergeht, wie es im Sprichwort heißt, daß ihr die Töpferei mit der Tonne?!) beginnt. NSagt also, was ihr hiervon zu besitzen und beanspruchen zu können ver- meint, was nicht. Hiernach, mein Lysimachos, frage sie und laß die Männer nicht los.

Zwölftes Kapitel.

Lysimachos. Trefflich, ihr Männer, scheint mir Sokrates zu reden. Ob ihr aber willens seid, euch hier- über fragen zu lassen und Rede zu stehen, das müßt ihr natürlich selbst entscheiden, Nikias und Laches. Mir und Melesias würde es selbstverständlich eine Freude sein, wenn ihr alle Fragen des Sokrates eingehend erörtern wolltet. Habe ich doch auch gleich von vornherein meine Rede mit der Erklärung begonnen, daß wir euch deswegen zur Beratung gezogen haben, weil wir meinten, selbstver- ständlich lägen euch solche Dinge am Herzen, namentlich da ‘eure Söhne, ebenso wie die unseren, nachgerade in

Laches, 29

das Alter kommen, wo sie erst recht erzogen werden müssen. Wenn es euch also nichts ausmacht, so sprecht und betrachtet die Sache gemeinsam mit Sokrates, indem ihr euch gegenseitig Rede und Antwort steht. Auch das sagt ja dieser Mann ganz richtig, daß wir jetzt über das höchste aller Güter beraten, das wir besitzen. So seht nun zu, ob es euch nötig erscheint, so zu verfahren.

Nikias. Mein Lysimachos, du scheinst mir in der Tat Sokrates nur von seinem Vater her zu kennen, und mit ihm nur zusammengewesen zu sein, als. er noch Knabe war, wenn er etwa mit seinem Vater, inmitten der Gau- genossen in deine Nähe kam, bei einem Feste oder sonst bei irgendeiner Versammlung der Gaugenossen. Seitdem er aber älter geworden ist, bist du offenbar mit dem Manne nicht zusammengekommen.

Lysimachos. Wieso denn, mein Nikias?

Dreizehntes Kapitel.

Nikias. Du scheinst nicht zu wissen, daß, wer mit Sokrates in Berührung kommt und sich in ein Gespräch mit ihm einläßt, daß der, mag auch wirklich vorher die

. Unterredung mit etwas ganz anderem begonnen haben,

188 St,

unbedingt von ihm in einem fort im Gespräche so lange herumgeführt wird, bis er sich in die Notwendigkeit ver- setzt sieht, Rechenschaft von sich zu geben, wie er jetzt lebt, und wie er die verflossene Jiebenszeit hingebracht hat; wenn er aber einmal dahinein geraten ist, daß ihn dann Sokrates nicht eher losläßt, als bis er diese ganze Prüfung gut und schön vollendet hat. Ich bin an die Weise dieses Mannes gewöhnt und weiß, daß man sich dies einfach von ihm gefallen lassen muß; außerdem weiß ich auch recht gut, daß es mir ebenso ergehen wird, und lasse es mir gern gefallen. Es ist mir ja eine Freude, mein Lysi- machos, mit diesem Manne zu verkehren, und ich halte es für gar kein Unglück, wenn wir darauf aufmerksam ge- macht werden, inwiefern wir nicht recht gehandelt haben

390 Platons Dialoge,

oder nicht recht handeln, sondern unbedingt wird in Zu- kunft mit reiflicherer Überlegung verfahren, wer dem nicht aus dem Wege geht, sondern, entsprechend dem Worte Solons, willens ist und darauf bedacht zu lernen, solange er lebt, und nicht meint, das Alter bringe uns auch ohne unser Zutun Verstand. Mir ist es in der Tat gar nichts Ungewohntes und anderseits gar nichts Unerwünschtes, von Sokrates geprüft zu werden, auch wußte ich schon längst sehr wohl, wenn Sokrates dabei ist, werde das Gespräch nicht die jungen Leute zum Gegenstande haben, sondern uns selbst. Also wie gesagt, was mich betrifft, so steht dem gar nichts im Wege, daß wir mit Sokrates verkehren ganz so, wie er will; was aber Laches anlangt, so siehe zu, wie er sich zu der Sache stellt.

Vierzehntes Kapitel.

Laches. Lieber Nikias! Mein Verhältnis zu den Reden ist ein einfaches; wenn du aber willst, ist es nicht ein einfaches, sondern ein zweifaches. Ich könnte jawohl manchem als Freund der Reden erscheinen und anderseits als ihr Feind. Wenn ich nämlich einen Mann über Tu- gend oder über irgendeine Weisheit reden höre, der in Wahrheit ein Mann ist und das Recht hat so zu reden, wie er redet, dann freue ich mich über die Maßen, voll Bewunderung zugleich über den Redenden und über seine Reden, daß sie so zueinander passen und stimmen. Und ein solcher scheint mir durchaus der wahre Tonkünstler zu sein, der zum schönsten Einklange nicht etwa eine Lyra gestimmt hat, überhaupt nicht Instrumente der Kurz- weil, sondern in Wahrheit sein eigenes Leben harmonisch gestaltet hat übereinstimmend in Wort und Werk?”), ge- radezu in dorischer Tonart und nicht in ionischer, ich meine aber auch nicht in phrygischer noch Iydischer”®), sondern in der Tonart, welche die einzige hellenische ist. Ein solcher macht mir Freude, wenn er seine Stimme er- hebt, und läßt mich einem jeden als Freund der Reden

9 St.

ΙΔ θ8.,. 21

erscheinen. So begierig nehme ich ihm die Worte von dem Munde. Wenn sich aber einer in entgegengesetzter Weise verhält, über den ärgere ich mich, und zwar um so mehr, je besser er zu reden scheint, und ein solcher läßt mich als einen Feind der Reden erscheinen,

Sokrates’ Reden kenne ich nicht aus Erfahrung, son- dern zunächst habe ich, wie ich meine, seine Taten kennen gelernt, und da habe ich ihn als einen Mann erfunden, berechtigt zu schönen Worten und zu jeglichem Freimut in der Rede. Wenn er nun auch noch diese Gabe be- besitzt, so ist er mein Mann, und von einem solchen lasse ich mich mit Freuden prüfen, und es verdrießt mich gar nicht, noch in meinem Alter von ihm zu lernen, sondern ich stimme Solon bei, doch mit dem einen Zusatze: alternd wünsche ich noch vieles zu lernen, doch nur von tüchtigen Männern. Denn das muß mir Solon zugestehen, daß auch der Lehrer selbst gut sein muß, wenn ich nicht mit Wider- willen lernen und infolgedessen ungelehrig erscheinen soll. Ob aber der Lehrer jünger ist oder noch nicht berühmt oder sonst etwas an sich hat, das kümmert mich ganz und gar nicht.

Dir also, mein Sokrates, stelle ich mich zur Verfügung. Lehre mich und prüfe mich, was und wie du willst, und lerne von mir, was anderseits ich weiß. So stehst du bei mir seit jenem Tage, an dem du im Verein mit mir dich durchkämpftest und eine vollgültige Probe deiner Tapfer- keit ablegtest. Sag also, was dir lieb ist, ohne jede Rück- sicht auf unser Alter”®).

Fünfzehntes Kapitel.

Sokrates. Allem Anscheine nach werden wir euch nicht Mangel an Bereitwilligkeit vorwerfen können, uns zu raten und die Sache mit uns zu erwägen.

Lysimachos. So kommt es denn auf uns an?®), mein Sokrates. Ich rechne dich nämlich zu uns. Er- wäge also an meiner Stelle zum Wohle der jungen Leute, was wir von diesen Männern zu erfragen haben, und lege

32 Platons Dialoge.

deine Ansicht in gemeinsamer Eröterung mit ihnen dar. Denn infolge meines Alters vergesse ich schon das Meiste von dem, wonach zu fragen ich mir vorgenommen hatte, und anderseits auch das, was ich gehört habe; wird aber dazwischen von anderen Dingen geredet, dann ist mein (Gedächtnis ganz dahin. Sprecht ihr also und erörtert untereinander die Aufgabe, die wir euch gestellt haben; ich dagegen werde zuhören und werde sodann im Verein mit Melesias tun, was ihr für richtig haltet.

Sokrates. Nikias und Laches! wir müssen Lysi- machos und Melesias den Willen tun. Wenn wir nun so- eben daran gingen zu erwägen, wer unsere Lehrer für einen solchen Bildungsgang gewesen sind, oder welche anderen wir besser gemacht haben, so wäre es vielleicht nicht übel, auch solche Prüfungen mit uns anzustellen; doch glaube ich, auch die folgende Art der Betrachtung führt zu dem- selben Ziele und ist doch wohl noch gründlicher. Wenn wir nämlich von irgend etwas wissen, daß es ein anderes, dem es sich zugesellt, besser macht, und wir auch im- stande sind zu bewirken, daß es sich dem anderen zuge- sellt, so kennen wir doch offenbar diese Sache selbst, über die wir Rat geben sollen, wie man sie am leichtesten und besten erwerben könne. Vielleicht nun versteht ihr nicht, was ich meine; ihr werdet es aber auf folgende Weise leichter verstehen. Wenn wir wissen, daß Sehen, das den Augen sich zugesellt, die Augen besser macht, denen es sich zugesellt, und wir außerdem imstande sind zu bewirken, daß es sich den Augen zugesellt, so wissen wir doch offenbar, was das Sehen selbst ist, hinsichtlich dessen wir Ratgeber sein sollen, wie man es am leichtesten und besten erwerben könne. Denn wenn wir nicht ein- mal das wissen, was Sehen oder Hören. eigentlich ist, so können wir schwerlich als Ratgeber in Betracht kommen und als Ärzte für Augen oder Ohren, wenn es sich darum handelt, auf welche Weise jemand am besten Gehör und Gesicht erlangen könne. |

Laches. Das ist wahr, mein Sokrates.

190 St

Laches, 23

Sechzehntes Kapitel.

Sokrates. Laden nun nicht auch jetzt, mein Laches, uns diese beiden Männer zu gemeinsamer Beratung ein, auf welche Weise sich den Seelen ihrer Söhne "Tugend zugesellen und und sie besser machen könne?

Laches. Jawohl.

Sokrates. Muß uns nun nicht wenigstens das zu Gebote stehen, daß wir wissen, was denn Tugend ist? Denn wenn wir überhaupt nicht wüßten, was Tugend eigentlich ist, auf welche Weise könnten wir wohl jemand Rat darüber erteilen, wie er sie am besten erwirbt?

Laches. Meines Erachtens auf keine, mein Sokrates.

Sokrates. Also meinen wir, zu wissen, was sie ist.

Laches. Gewiß meinen wir das.

Sokrates. Nun vermögen wir von dem, was wir kennen, doch wohl auch zu sagen, was es ist.

Laches. Warum denn nicht?

Sokrates. Mein Bester, laß uns nun nicht die Tugend gleich in ihrem ganzen Umfange zum Gegenstande unserer Betrachtung machen; denn das wäre vielleicht eine zu umfassende Aufgabe; sondern zunächst wollen wir bei einer Art von ihr zusehen, ob wir fähig sind, sie zu verstehen. So wird uns aller Wahrscheinlichkeit nach die Untersuchung leichter werden. |

Laches. Mein Sokrates, wir wollen es so machen, wie du es willst.

Sokrates. Welche von den Arten der Tugenden könnten wir herausnehmen? Offenbar doch die, auf welche die Erlernung der Kunst in schwerer Rüstung zu kämpfen hinzuweisen scheint? Nach der herrschenden Anschauung ist das doch wohl die Tapferkeit. Nicht wahr?

Laches. Ganz gewiß ist das die herrschende Ansicht.

Sokrates. Gehen wir also zunächst daran, mein Laches, zu sagen, was denn Tapferkeit ist. Sodann wollen wir im Anschluß hieran auch betrachten, auf welche Weise sie den Jünglingen zu eigen werden kann, soweit dies

Platon Laches und Euthyphron. Thil..Bibl. Bd. 178. εἰ

34 Platons Dialoge.

durch Ubungen und Unterricht möglich ist. Also ver- suche, wie gesagt, zu erklären, was Tapferkeit ist.

Siebzehntes Kapitel.

Laches. Beim Zeus, mein Sokrates, das ist nicht schwer zu sagen. Wenn einer entschlossen ist, in Reih und Glied standhaltend 55) sich gegen die Feinde zu wehren und nicht flieht, der ist gewiß ein tapferer Mann.

Sokrates. Wohl gesprochen, mein Laches. Aber vielleicht habe ich mich nicht deutlich ausgedrückt, und

so bin ich schuld daran, daß du nicht die Antwort ge-

geben hast, die ich bei meiner Frage im Sinne hatte, sondern eine andere.

Laches. Wie meinst du das, mein Sokrates?

Sokrates. Ich will es deutlich machen, wenn ich kann. Tapfer ist wohl auch der, den du so nennst, näm- lich der, der in Reih und Glied standhaltend gegen die Feinde kämpft.

Laches. Gewiß ist das meine Ansicht.

Sokrates. Auch meine. Aber was wird nun der sein, der fliehend mit den Feinden kämpft und nicht stand- haltend?

Laches. Wie? flichend

Sokrates. Wie wohl auch von den Skythen??) ge- sagt wird, sie kämpften ebensowohl fliehend als verfolgend, und Homer irgendwo°°) zum Lobe der Rosse des Aeneas gesagt hat, sie verstünden es, gar rasch vorwärts und rückwärts zu verfolgen und zu fliehen. Und auch Aeneas selbst hat er in dieser Hinsicht gerühmt, daß er sich auf die Flucht verstehe, und hat ihn fluchtverständig genannt.

Laches. Ganz richtig, mein Sokrates. Er redete nämlich von Streitwagen. Und auch deine Bemerkung über die Skythen gilt von Reitern. Denn deren Reiterei kämpft so, das schwerbewaffnete Fußvolk der πὰ aber so, wie ich sage.

Sokrates. Vielleicht mit Ausnahme des Fußvolkes der Lakedämonier. Denn von den Lakedämoniern heißt

191 St,

lachen. 35

es, sie hätten bei Platää, als sie an die Schildträger heran- gekommen wären, nicht standhalten und gegen sie kämpfen wollen, sondern wären geflohen; als sich aber die Reihen der Perser gelöst hätten, hätten sie geradeso wie Reiter kehrtgemacht und gekämpft, und so hätten sie die Schlacht dort gewonnen”).

"Laches. So ist es.

Achtzehntes Kapitel.

Sokrates. Das also ist es, was ich eben sagte: [οἷ bin schuld daran, daß du nicht richtig geantwortet hast; ich hatte nämlich nicht richtig gefragt. Wollte ich dich doch nicht nur nach den Tapferen bei den Schwerbewaffneten fragen, sondern auch nach den Tapferen bei der Reiterei und auf dem gesamten Gebiete des Krieges, und nicht bloß nach den im Kriege Tapferen, sondern auch nach den in den Gefahren des Meeres Tapferen, und naclı allen, die in Krankheit und Armut und in dem politischen Leben tapfer sind, und außerdem anderseits nicht nur nach allen, die in Trübsal tapfer sind, oder in Ängsten, sondern auch gegen Begierden oder Lüste wacker ankämpfen, mögen sie nun standhalten oder fliehen und dann kehrt- machen. Es sind ja wohl manche, mein Laches, auch in solchen Lagen tapfer.

Laches. Durchaus, mein Sokrates.

Sokrates. Also tapfer sind diese alle, aber die einen bewähren ihre Tapferkeit in Freuden, die anderen in Leiden, andere gegenüber Begierden und wieder andere gegenüber Ängsten, die anderen Eger zeigen Feigheit in ebendiesen Lagen.

Laches. Ganz gewiß.

Sokrates. Und was bedeutet denn ein jedes der beiden Worte? Danach fragte ich. Versuche also noch einmal zunächst von der Tapferkeit anzugeben, wodurch sie in allen diesen Beziehungen ein und dasselbe ist. Oder verstehst du noch nicht, was ich meine?

Laches. Nicht so recht.

Γ᾽

δὲ

90 Platons Dialoge.

Neunzehntes Kapitel.

Sokrates. Nun ich meine das so, wie wenn ich 19 St, fragte, was denn Geschwindigkeit ist, die wir beim Laufen zeigen und beim Spiel auf der Kithara und beim Sprechen und beim Lernen und bei vielen anderen Handlungen, und die wir nahezu bei jeder Tätigkeit bekunden, die über- haupt der Rede wert ist, bei den Verrichtungen der Hände, der Schenkel, des Mundes und der Sprachorgane, des Denkens. Ist das nicht auch deine Meinung?

Laches. Ganz gewiß.

Sokrates. Wenn mich nun jemand fragte: „Sokrates, was verstehst du unter dem, was du bei allen möglichen Tätigkeiten Geschwindigkeit nennst?* so würde ich ihm antworten: „Das Vermögen, in kurzer Zeit viel auszu- richten, nenne ich Geschwindigkeit beim Sprechen und beim Laufen und bei allen anderen Tätigkeiten.

Laches. Und damit hättest du ganz recht.

Sokrates. Versuche also auch du, mein Laches, die Tapferkeit in dieser Weise zu bestimmen, was das sich gleichbleibende Vermögen ist, das in Lust und in Leid sich zeigt und in allen Verhältnissen, in denen wir es so- eben fanden, und das dann Tapferkeit heißt.

Laches. Nun, es scheint mir eine gewisse Beharr- lichkeit der Seele zu sein, wenn ich das DER Wesen der Tapferkeit angeben soll.

Sokrates. Gewiß ist das nötig, wenn wir uns auf die gestellte Frage Antwort geben wollen. Das aber ist mir klar: meines Erachtens erscheint dir auf keinen Fall jegliche Beharrlichkeit als Tapferkeit. Ich schließe das aus folgendem. Ich weiß ja recht gut, du rechnest die Tapferkeit zu den ganz schönen Dingen.

Laches. Vielmehr, glaube es nur, zu den schönsten.

Sokrates. Ist nun nicht die auf Einsicht beruhende Beharrlichkeit. schön und gut? |

Laches. Gewiß.

Sokrates. Wie steht es aber mit einer Beharrlich-

98 St.

Lachen. 37

keit, die der Einsicht bar ist? Ist diese nicht im Gegen- satze zu jener schädlich und unheilvoll?

Laches. Jawohl.

Sokrates. Wirst du nun so etwas schön nennen, was unheilvoll und schädlich ist?

Laches. Das wäre gewiß nicht recht, mein Sokrates.

Sokrates. Also wirst du auch nicht zugeben, daß ein solches Ausharren Tapferkeit ist, da es ja nicht schön ist, während die Tapferkeit etwas Schönes ist.

Laches. Das ist wahr. |

Sokrates. Nach dem, was du sagst, wäre also das vernünftige Ausharren Tapferkeit.

Laches. Offenbar.

Zwanzigstes Kapitel.

Sokrates. Laß uns nun zusehen, worauf sich das vernünftige Ausharren richten muß. Auf alles Mögliche, auf Großes wie auf Kleines? Zum Beispiel, es zeigt sich jemand ausharrend in der vernünftigen Verwendung von Geld, da er weiß, daß er durch die Verwendung mehr gewinnen wird. Möchtest du den tapfer nennen?

Laches. Ich denke gar nicht daran.

Sokrates. Also ein anderes Beispiel! Es ist einer Arzt und sein Sohn oder sonst wer, der von einer Lungen- entzündung befallen ist, bittet ihn, er möge ihm zu trinken oder zu essen geben, er aber läßt sich nicht bewegen, son- dern verharrt bei seiner Weigerung?

Laches. Auch das ist auf keinen Fall Tapferkeit.

Sokrates. Doch nehmen wir einen Mann an, der im Kriege ausharrt und zur Schlacht entschlossen ist, auf Grund vernünftiger Erwägung. Er weiß nämlich, daß noch andere ihm zu Hilfe kommen werden, und daß er gegen einen Feind zu kämpfen hat, der an Zahl und Tüchtig- keit hinter seinen Mannschaften zurücksteht; außerdem hat er auch eine stärkere Stellung. Wirst du nun diesen, der auf Grund solcher Einsicht und solcher Hilfsmittel

38 Platons Dialoge.

ausharrt, für tapferer erklären, oder den, der in dem gegen- überstehenden Lager entschlossen ist, der Gefahr zu trotzen und auszuharren?

Laches. Den in dem gegen her Lager, dünkt mich, mein Sokrates.

Sokrates. Aber doch ist gewiß sein Ausharren un- verständiger als das Ausharren des andern.

Laches. Damit hast du recht. |

Sokrates. Und so wirst du also auch weniger &e- neigt sein, den, der im Besitze der Reitkunst in der Reiter- schlacht ausharrt, für tapferer zu erklären als den, der ohne diese Kunst ausharrt.

Laches. Meine Ansicht ist das.

Sokrates. Ebenso wirst du auch von dem denken, der im Besitze der Schleuderkunst oder der Kunst des Bogenschießens oder sonst einer Kunst ausharrt.

Laches. Gewiß.

Sokrates. Und so wirst du auch alle, die entschlossen sind, in einen Brunnen hinabzusteigen und zu tauchen und bei diesem oder sonst einem Werke der Art auszu- harren, ohne daß sie darin geübt sind, tapferer nennen als die darin Geübten.

Laches. Was könnte denn einer dagegen sagen, mein Sokrates?

Sokrates. Nichts, wenn anders das seine Ansicht ist.

Laches. Meine Ansicht ist das allerdings.

Sokrates. Und doch ist es weniger vernünftig, wenn solche sich in Gefahr begeben und darin standhaft aus- harren, als wenn die es tun, die im Besitze der erforder-- lichen Geschicklichkeit sind.

Laches. Es scheint so.

Sokrates. Hat sich uns nun nicht in dem Vorher- BehEBGER die unvernünftige Kühnheit und Beharrlichkeit als häßlich und schädlich erwiesen?

Laches. Gewiß.

Sokrates. Die Tapferkeit aber erklärten wir über- einstimmend für etwas Schönes,

4 St.

Laches, 39

Laaches. So war es.

Sokrates. Jetzt aber erklären wir dagegen wieder, jenes Häßliche, das unvernünftige Ausharren, für Tapferkeit.

Laches. Es scheint so.

Sokrates. Meinst du nun, daß wir etwas Richtiges sagen?

Laches. Beim Zeus, mein Sokrates, das glaube ich nicht.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Sokrates. Wir sind also wohl beide, ich und du, nicht dorisch gestimmt, wie du dich ausdrücktest, mein Laches; denn unsere Taten stimmen nicht mit unseren Reden überein, und im Hinblick auf unser Tun kann wohl einer mit Fug und Recht sagen, daß Tapferkeit in uns wohnt, im Hinblick auf unsere Reden aber glaube ich, kann er das nicht, wenn er unser Gespräch jetzt mit an- gehört hat.

Laches. Damit hast du ganz recht.

Sokrates. Wie nun? Dünkt dich das eine Ehre, daß es so mit uns steht?

Laches. Ganz und gar nicht.

Sokrates. Willst du nun, daß wir dem aufgestellten Satze wenigstens insoweit folgen?

Laches. Was meinst du mit „insoweit“, und welches ist der Satz, dem wir folgen sollen’?

kestes; Der Satz, der uns ausharren heißt. Wenn es dir also recht Wr so wollen auch wir bei der Untersuchung verbleiben und ausharren, damit nicht gar die Tapferkeit selbst uns verlache, daß wir sie nicht tapfer suchen, wenn am Ende doch vielleicht. Beharrlichkeit au sich δερδοιϊοῖς: sein sollte.

Laches. Ich bin entschlossen, mein Sokrates, nicht vor der Zeit abzulassen; doch bin ich an solche Unter- suchungen nicht gewöhnt. Aber es hat mich im Hinblick auf deine Worte sogar ein gewisser Ehrgeiz erfaßt, und es ärgert mich wirklich, wenn ich so wenig imstande bin,

40 Platons Dialoge.

zu sagen, was ich denke. Ich glaube nämlich zu wissen, was die Tapferkeit ist; seltsamerweise aber ist sie mir soeben entschlüpft, so daß ich sie nicht mit Worten er- fassen kann und sagen, was sie ist.

Sokrates. Ein guter Weidmann, mein Lieber, muß doch dem Wilde nachlaufen und darf nicht ablassen?

Laches. Ganz gewiß.

Sokrates. Willst du nun, daß wir auch Nikias hier zur Jagd einladen? Vielleicht kommt er eher auf die rechte Spar als wir.

Laches. Jawohl. Wie sollte ich denn nicht?

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Sokrates. Wohlan denn, mein Nikias, hilf, wenn du irgendwie kannst, befreundeten Männern, die bei einer Untersuchung, gleich Schiffern auf stürmender See, um- hergetrieben werden und sich nicht zu helfen wissen. Du siehst ja, wie ratlos wir sind. Darum sage, was du unter Tapferkeit verstehst, und befreie uns damit aus unserer Not und begründe deine eigene Auffassung in eingehender Erörterung.

Nikias. .Nun gut! Schon seit geraumer Zeit habe ich den Eindruck, mein Sokrates, daß ihr nicht in der rechten Weise das Wesen der Tapferkeit zu bestimmen sucht; denn von einem richtigen Satze, den ich sonst schon von dir gehört habe, macht ihr keinen Gebrauch.

Sokrates. Von welchem Satze denn, mein Nikias?

Nikias. Oft habe ich dich sagen hören, auf dem (Gebiete sei ein jeder von uns gut, auf dem er das nötige Wissen besitze; auf welchem Gebiete er aber unwissend seiÄ, auf dem sei er untauglich.

Sokrates. Beim Gonsı mein Nikias, hiermit sagst du allerdings die Wahrheit.

Nikias. Also ist der Tapfere, wenn anders er gut ist, selbstverständlich ein Wissender.

Sokrates. Hast da’s gehört, mein Laches?

195 St.

Lachen, 41

Laches. ‚Jawohl, aber ich verstehe nicht recht, was er meint.

Sokrates. Ich aber glaube es zu verstehen, und der Mann scheint mir die Tapferkeit für eine Art von Wissen zu erklären.

Laches. Was für ein Wissen sollte denn das sein, mein Sokrates?

Sokrates. Du richtest diese Frage doch wohl an unseren Freund da?

Laches. Gewiß. |

Sokrates. Wohlan also, Nikias, sage ihm, welche Art von Wissen nach deiner Erklärung Tapferkeit ist. Denn das Wissen des Flötenbläsers ist doch wohl nicht Tapferkeit?

Nikias. Auf keinen Fall.

Sokrates. Gewiß auch nicht das Wissen des Zither- spielers.

Nikias. Nimmermehr.

Sokrates. Nun, was für ein Wissen ist denn die Tapferkeit, oder was ist ihr Gegenstand?

Laches. In der Tat, ganz richtig fragst du ihn, mein Sokrates, und er mag nur sagen, welche Art von Wissen er meint.

Nikias. Ich für meine Person meine das Wissen von dem, was zu fürchten ist und was nicht zu fürchten ist im Kriege sowohl als in allen anderen Verhältnissen.

Laches. Was für ungereimtes Zeug der redet, mein Sokrates!

Sokrates. WVorauf bezogst du diese Bemerkung, lieber Laaches? |

Laches. Du fragst, worauf? Wissen hat doch wohl mit Tapferkeit nichts zu tun.

Sokrates. So denkt Nikias allerdings nicht.

Laches. Ganz gewiß nicht, beim Zeus. Daher kommt ja auch sein törichtes Gerede.

Sokrates Wir wollen ihn also belehren nicht schelten,

49 Platons Dialoge.

Nikias. Nein, mein Sokrates. Das will Laches nicht, vielmehr ist er meines Erachtens darauf aus, auch ich soll als einer dastehen, der nichtiges Zeug redet, weil er soeben sich selbst in ähnlichem Lichte gezeigt hat.

Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Laches. Allerdings, mein lieber Nikias, und ich

werde versuchen, es zu beweisen. Nichtig ist deine Rede; denn gleich zum Beispiele, sind es bei Krankheiten nicht die Arzte, die wissen, was gefährlich ist? Oder glaubst du, die Tapferen verstehen sich darauf? Oder meinst du mit den Tapferen die Arzte?

Nikias. Ich denke gar nicht daran.

Laches. Und auch die Landwirte nicht, denke ich. Trotzdem kennen diese doch wohl die Gefahren bei dem Landbau, und so wissen auch alle anderen, die ein gemein- nütziges Geschäft betreiben, was bei ihrem Berufe gefähr- lich, was nicht gefährlich ist. Aber deswegen sind sie noch lange nicht tapfer. |

Sokrates. Wie denkst du über das, was Laches sagt, Nikias? In der Tat scheint es etwas für sich zu haben.

Nikias. Es hat ja auch etwas für sich, aber freilich wahr ist es nicht.

Sokrates. Wieso denn?

Nikias. Weil er meint, die Ärzte wüßten bei den Kranken noch etwas anderes, als was für sie gesund, was ungesund ist. Und doch reicht deren Wissen wohl nur so weite. Ob aber für einen die Gesundheit mehr zu fürchten sei als die Krankheit, glaubst du, mein Laches, daß das die Arzte wissen? Meinst du nicht, daß es für viele Kranke besser ist nicht wieder aufzukommen als auf- zukommen? Denn das sage mir: Behauptest du, es sei für alle besser zu leben, und nicht für viele der Tod ein Gewinn?

96 St.

Liaches, 43

Liaches. Das glaube ich allerdings.

Nikias. Meinst du nun, die, für die der Tod, und die, für die das Leben ein Gewinn ist, haben ein und das- selbe zu fürchten?

Laches. Das glaube ich nicht. μ

Nikias. Diese Kenntnis also gestehst du den Ärzten zu oder sonst einem, der ein (Gewerbe treibt, außer dem, der sich auf das, was zu fürchten, und das, was nicht zu fürchten ist, versteht, und den ich tapfer nenne?

Sokrates. Verstehst du, Laches, was er meint?

Laches. Jawohl. Die Seher meint er, mit den Tapferen. Denn wer sonst könnte wissen, für wen es besser ist zu leben oder tot zu sen? Nun aber, Nikias, wie steht es mit dir? Bekennst du, daß du ein Seher bist oder weder ein Seher noch tapfer?

Nikias. Wie? Meinst du nun wieder, dem Seher komme es zu, das Gefährliche zu kennen und das Unge- fährliche?

Laches. Freilich. Wem denn sonst?

Vierundzwanzigstes Kapitel.

Nikias. Weit mehr dem, den ich im Sinne habe, mein Bester; denn der Seher braucht nur die Anzeichen zu kennen von dem, was kommen wird, 561 es dab einem der Tod bevorsteht oder Krankheit oder Verlust des Ver- mögens, sei es Sieg oder Niederlage im Kriege oder in einem anderen Kampfe. Was aber hiervon zu erleiden oder nicht zu erleiden besser ist, wie könnte das Urteil hierüber einem Wahrsager mehr ED als jedem be- liebigen anderen’?

laaches. Mein Sokrates, ich verstehe nicht, was der eigentlich sagen will. Denn weder den Seher noch den Arzt noch sonst wen erklärt er für tapfer und geht mit der Sprache nicht heraus, wen er unter dem Tapferen ver- steht. Es wird wohl ein Gott sein, den er damit meint.

44 Platons Dialoge.

Ich habe tatsächlich den Eindruck, Nikias kann sich nicht entschließen, ehrlich zu bekennen, daß seine Rede nichtig ist, und windet sich nach rechts und links, um seine Ver- legenheit zu verdecken. Nun aber waren auch wir, ich und du, soeben wohl imstande, uns so zu winden, wenn wir es erreichen wollten, daß wir uns nicht zu wider- sprechen schienen. Wenn wir nun vor Gericht stünden, so hätte solches Verfahren einen Sinn; so aber, wozu soll. man sich bei einer solchen Unterredung ganz unnütz mit leeren Redensarten herausputzen

Sokrates. Auch ich wüßte nicht wozu, mein Laches. Doch laß uns zusehen, ob nicht Nikias meint, er sage etwas Stichhaltiges und rede nicht, nur um zu reden. Wir wollen ihn also eingehend fragen, was denn seine Ansicht ist, und wenn es sich herausstellt, daß er etwas Richtiges sagt, so wollen wir ihm beipflichten, wo nicht, ihn belehren.

Laches. Also frage du ihn, mein Sokrates, wenn du Lust hast zu fragen; ich habe, BR ich, schon genug gefragt.

Sokrates. Ich sehe für mich kein Hindernis; denn die Fragen werden gemeinsam in deinem und in meinem Namen gestellt werden.

Laches. Ganz gewiß.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Sokrates. Mein Nikias, gib also mir oder vielmehr uns Bescheid; ich und Laches führen ja die Untersuchung gemeinsam. Du sagst, Tapferkeit sei ein Wissen von dem, was zu fürchten hd was nicht zu fürchten ist?

Nikias. Gewiß.

Sokrates. Dieses Wissen aber ist nach deinen Er- klärungen sicherlich nicht Sache eines jeden Mannes, da ja weder der Arzt noch der Seher es hat, und darum auch nicht tapfer ist, wenn er nicht eben dieses Wissen zu seiner Kunst hinzugewonnen hat. Sagtest du nicht so?

Nikias. Ganz gewiß sagte ich so,

197 St.

Laches. 40

Sokrates. Also wird in Wirklichkeit nicht jede Sau, wie es im Sprichwort heißt®"), das wissen und wird dem- nach auch nicht jede Sau tapfer sein.

Nikias. Ich denke nicht.

Sokrates. Selbstverständlich, mein Nikias, glaubst du also auch von der Krommyonischen Sau®*) nicht, daß sie tapfer gewesen sei. Und das sage ich nicht zum Scherz, sondern meines Krachtens darf, wer diese Ansicht hat, durchaus keinem wilden Tiere Tapferkeit zuerkennen, oder er muß zugeben, daß manches wilde Tier so weise sei, daß das, was nur wenige Menschen wissen, weil es so schwer zu erkennen ist, ein Löwe oder Panther oder irgend- welches Wildschwein weiß. Also muß man ganz unbedingt sagen, daß der Löwe seiner Natur nach sich zur Tapfer- keit ebenso verhält wie der Hirsch, der Stier ebenso wie der Affe, wenn man den Begrift der Tapferkeit so be- stimmt, wie du es tust.

Laches. Bei den Göttern! das ist ganz richtig, mein Sokrates. Und so beantworte du, lieber Nikias, uns ganz aufrichtig die Frage: Meinst du, diese Tiere, denen wir alle übereinstimmend Tapferkeit zuerkennen, seien weiser als wir, oder hast du den Mut, im Gegensatze zu allen Menschen ihnen auch die Tapferkeit abzusprechen ?

Nikias. Lieber Laches, Tiere nenne ich überhaupt nicht tapfer, noch sonst ein Wesen, das aus Unverstand nicht fürchtet, was zu fürchten ist, sondern furchtlos und unvernünftig, Oder meinst du etwa, ich nenne auch alle Kinder tapfer, die aus Unverstand nichts fürchten? Viel- mehr glaube ich, furchtlos und tapfer ist nicht ein und dasselbe. Und ich meine, Tapferkeit und Umsicht finden sich nur bei ganz wenigen, Verwegenheit aber, Kühnheit und Furchtlosigkeit gepaart mit Unbesonnenheit bei einer ganz großen Zahl von Männern, Frauen, Kindern und Tieren. Die nun, die du mit der Mehrzahl der Menschen tapfer nennst, nenne ich verwegen, tapfer aber die vernünftigen, und von diesen eben rede ich.

46 Platons Dialoge.

Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Laches. Sieh nur, Sokrates, wie fein der sich sicht- lich mit diesen Worten, wie er vermeint, herausstreicht; die aber, die alle übereinstimmend für tapfer erklären, diese unterfängt er sich um diese Ehre zu bringen.

Nikias. Das liegt mir fern, guter Laches; sei unbe- sorgt! Ich erkläre ja, daß du weise bist und gewiß auch Lamachos®”), insofern als ihr tapfer seid, und noch andere Athener in großer Zahl.

Laches. Ich will nur gar nichts erwidern, obschon ich wohl etwas erwidern könnte, damit du nicht noch sagst, ich sei so ein rechter Aixoneer°?). |

Sokrates. Laß es nur gut sein, mein Laches. Du scheinst mir nämlich nicht gemerkt zu haben, daß er diese Weisheit von unserm Freunde Damon hat, Damon aber verkehrt viel mit Prodikos, der bekanntlich in dem Rufe steht, von allen Sophisten solche synonyme Unterschiede am besten festzustellen ἢ). |

Laches. Es ziemt ja auch eher einem Sophisten, mein Sokrates, sich mit solchen Feinheiten abzugeben, als einem Manne, den der Staat einer leitenden Stellung für würdig hält. |

Sokrates. Ganz gewiß steht es, mein Trefflicher, einem Manne in höchster Stellung wohl an, im Besitze der höchsten Erkenntnis zu sein. Nikias aber scheint mir es zu verdienen, daß wir zusehen, was er denn im Auge hat, wenn er den Begriff der Tapferkeit in dieser Weise bestimmt.

Laches. Sieh also selbst zu, mein Sokrates.

Sokrates. Das will ich tun, mein Bester. Glaube jedoch nicht, daß ich dich von der Teilnahme an dem Gespräche entbinden werde Drum merk auf und denke mit mir den Erörterungen nach.

Laches. Das wird gewiß. geschehen, wenn du es für nötig hältst.

Liaches, 47

Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Sokrates. Das tue ich allerdings. Du aber, mein Nikias, gib uns noch einmal von Anfang an Bescheid.

. Weißt du noch, daß wir die Tapferkeit bei Beginn

unserer Erörterung so betrachteten, daß wir in ihr eine Art der Tugend sahen ?

Nikias. Gewiß.

Sokrates. Hast du nun nicht auch bei deiner Ant- wort sie als Art gedacht, in der Annahme, 65 gäbe eben auch noch andere Arten, die alle zusammen Tugend heißen?

Nikias. Wieso denn nicht?

Sokrates. Verstehst du nun darunter dieselben Arten wie ich? Ich nenne nämlich Tugend außer der Tapferkeit die Mäßigung und die Gerechtigkeit und noch einige andere Eigenschaften dieser Art. Du nicht auch?

Nikias. Ganz gewiß.

Sokrates. Halt einmal! Hierüber sind wir ja einig; das zu Fürchtende aber, und das, was nicht zu fürchten ist, wollen wir genau ins Auge fassen, damit du nicht irgend welche anderen Dinge darunter verstehst und wir wieder andere. Was wir nun dafür halten, das wollen wir dir darlegen. Stimmst du uns nicht bei, so kannst du uns eines Besseren belehren. Wir glauben nämlich, das zu Fürchtende sei das, was eben Furcht. erregt, das nicht zu Fürchtende aber das, was keine Furcht erregt. Furcht aber erwecken, meinen wir, nicht vergangene und nicht gegenwärtige Übel, sondern er- wartete; denn Furcht ist die Erwartung eines zukünftigen Übels. Ist das nicht auch deine Auffassung, mein Laches?

Laches. Ganz gewiß, lieber Sokrates.

Sokrates. Unsere Ansicht hast du also gehört, mein Nikias, daß wir nämlich für das zu Fürchtende die bevorstehenden Übel erklären, für das nicht zu Fürchtende aber das, was nicht schlimm oder sogar gut sein wird. Denkst du hierüber so, oder bist du anderer Meinung?

Nikias. Ich denke so.

48 Platons Dialoge.

Sokrates. Und das Wissen hiervon nennst du Tapferkeit? Nikias. Ganz gewiß.

Achtundzwanzigstes Kapitel.

Sokrates. Laß uns nun noch erwägen, ob du und wir in Hinsicht auf ein Drittes übereinstimmen.

Nikias. Was wäre denn das? Ä

Sokrates. Ich will es eben sagen. Ich und Laches sind der Ansicht: Bei allem, wovon es eine Wissenschaft gibt, ist diese nicht eine andere von ihm als einem Ge- wordenen, d. h. ein Wissen, wie es geworden ist, und eine andere von ihm als einem Werdenden, d.h. ein Wissen, wie es wird, noch eine andere, wie das noch nicht Gewordene am besten werden kann und werden wird, sondern die Wissenschaft von ihm ist ein und die- selbe. Was zum Beispiel das der Gesundheit Zuträgliche anlangt, so betrachtet das für alle Zeitabschnitte keine andere Wissenschaft als die Wissenschaft des Arztes, die nur eine ist für Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Und in bezug auf die Erzeugnisse des Bodens verhält sich die Landwirtschaft ebenso. Was aber den Krieg betrifft, so legt ihr wohl selbst Zeugnis dafür ab, daß die Feld- herrnkunst am besten alles vorbedenkt, namentlich das was kommen wird, und sie glaubt nicht der Kunst des Wahrsagers eine Magd sein zu solien, sondern eine Herrin, in dem Bewußtsein, daß sie besser Bescheid weiß um die Vorkommnisse im Kriege, die gegenwärtigen sowohl als die zukünftigen. Und das ist auch die ge- setziiche Ordnung, daß nicht der Seher dem Feldherrn gebiete, sondern der Feldherr dem Seher. Wollen wir das so annehmen, mein Laches ?

Laches Jawohl.

Sokrates. Wie nun? Stimmst du uns bei, mein Nikias, daß auf dieselben Gegenstände sich ein und die- selbe Wissenschaft versteht, mögen sie nun der Zukuntt, der Gegenwart oder der Vergangenheit angehören?

199 St

Laches. 49

Nikias. Gewiß; das ist ja meine Ansicht, mein Sokrates.

Sokrates. Nun ist, mein Bester, auch die Tapfer- keit ein Wissen von dem, was zu fürchten und nicht zu fürchten ist, wie du sagst. Nicht wahr?

Nikias. Ja.

Sokrates. Von den Dingen aber, die zu fürchten und von denen, die nicht zu fürchten sind, haben wir die übereinstimmende Auffassung gewonnen, daß die einen zukünftige Güter, die anderen zukünftige Ubel sind.

Nikias. Gewiß.

Sokrates. Und ebenso darüber, daß das Wissen von denselben Dingen ein und dasselbe ist, sie mögen nun in der Zukunft liegen oder sich sonst verhalten, wie sie wollen.

Nikias. >So ist es.

Sokrates. Also ist die Tapferkeit nicht bloß eine Wissenschaft von Dingen, die zu fürchten und die nicht zu fürchten sind; denn sie versteht sich nicht bloß auf die Güter und Übel in der Zukunft, sondern auch in der Gegenwart und in der Vergangenheit und in jeglichem Verhältnisse, gerade so gut, wie alle anderen Wissenschaften.

Nikias. Offenbar.

Neunundzwanzigstes Kapitel.

Sokrates. Deine Antwort umfaßte also, mein Nikias, etwa ein Drittel der Tapferkeit, und doch fragten wir nach der ganzen Tapferkeit, was die wäre. Und jetzt nun ist, wie es scheint, nach deiner Erklärung die Tapferkeit nicht nur die Kenntnis des zu Fürchtenden und des nicht zu Fürchtenden, sondern wie jetzt wieder deine Erklärung lautet, dürfte die Kenntnis des Guten und des Bösen fast in seiner Gesamtheit und in allen seinen Beziehungen Tapferkeit sein. Willst du nun diese Anderung? Oder wie denkst du, mein Nikias?

Nikias. Ich bin für die Anderung.

Sokrates. Glaubst du nun, du Wunderbarer, ein

Platon Laches und Euthyphron. Phil. Bibl. Bd. 178. 4

50 Platons Dialoge.

solcher ermangele irgendwie der Tugend, der ja das Gute alles und in aller Hinsicht kennt, wie es entsteht, ent- stehen wird und entstanden ist, und das Böse in gleicher Weise? Und von ihm meinst du, es fehle ihm an der Mäßigung oder der Gerechtigkeit und Frömmigkeit, von ihm, dem einzigen, dem es gegeben ist, Göttern und Menschen gegenüber sich vor dem Bösen zu hüten und

das Gute zu erwerben, da er allein das rechte Verhalten

zu ihnen kennt?

Nikias. Du scheinst mir etwas zu sagen, mein Sokrates.

Sokrates. Also umfaßt das, was du jetzt sagst, mein Nikias, nicht einen Teil der Tugend, sondern die gesamte Tugend.

Nikias. Es ist wohl so.

Sokrates. Und doch sagten wir, die Tapferkeit sei nur eine von den Arten der Tugend.

Nikias. Allerdings sagten wir das.

Sokrates. Nach dem aber, was wir jetzt sagen, scheint es nicht so. |

Nikias. Es sieht nicht so aus.

Sokrates. Also haben wir den Begriff der Tlapfer- keit nicht gefunden.

Nikias. Wohl nicht.

Laches. Und doch, du lieber Nikias, glaubte ich, du werdest ihn finden, da du auf mich mit meinen So- krates gegebenen Antworten so verächtlich herabblicktest. Auf jeden Fall erfüllte mich große Hoffnung, du werdest mit Hilfe der von Damon stammenden Weisheit das Wesen der Tapferkeit auffinden.

Dreißigstes Kapitel. Nikias. Recht so, mein Laches! Du meinst, es sei

weiter nichts, daß du eben selbst als einer dastandest,

der von der Tapferkeit nichts weiß, sondern du richtest dein Augenmerk nur darauf, ob auch ich in solchem Lichte erscheinen werde, und allem Anscheine nach wird

200 St.

Laches, Sl

es dir gar nichts ausmachen, wenn du mit mir zusammen nichts weißt von Dingen, für die jeder Mann, der sich irgend welchen Wert beimißt, Verständnis haben sollte. Du scheinst mir nun in der Tat es so zu machen, wie es die Menschen gewöhnlich machen, und nicht auf dich zu blicken, sondern auf andere. Ich aber meine, über die (Gegenstände unserer Erörterung habe ich jetzt gar nicht übel gesprochen, und sollte etwas davon nicht vollkommen genügend dargelegt sein, so werde ich es später verbessern, sei es im Verein mit Damon, über den du wohl ver- meinst dich lustig machen zu dürfen, obgleich du den Damon noch nie zu Gesicht bekommen hast, oder auch mit anderen. Und wenn ich über diese Gegenstände zu voller Gewißheit gelangt bin, dann werde ich auch dich belehren und werde dir nichts vorenthalten; denn du scheinst es mit Recht sehr nötig zu haben, noch zu lernen.

Laches. Du freilich bist ein weiser Mann, du guter Nikias. Gleichwohl gebe ich unserem Lysimachos und Melesias den Rat, dich und mich bei der Erziehung der jungen Leute aus dem Spiele zu lassen, aber den Sokrates da, wie ich gleich anfangs sagte, nicht loszugeben. Und ich würde ganz ebenso handeln, wenn auch meine Söhne in dem entsprechenden Alter wären.

Nikias. Auch ich stimme dem zu, daß wir nach keinem anderen suchen, im Falle Sokrates bereit ist, sich. der jungen Leute anzunehmen. Ich würde ja auch meinen Nikeratos ihm am liebsten anvertrauen, wenn er das wollte. Indes er verweist mich jedesmal an andere, wenn ich meines Jungen bei ihm nur mit einem Worte Er- wähnung tue; er selbst aber will nicht. Doch sieh zu, mein Lysimachos, ob Sokrates vielleicht dich eher erhört.

Lysimachos. Das wäre gewiß nur recht und billig, mein Nikias: denn auch ich würde für ihn vieles mit Freuden tun, was ich für sehr viele andere nicht tun möchte. Wie meinst du nun, mein Sokrates? Wirst du unsere Bitte erhören und den jungen Leuten mit dazu helfen, möglichst gute Menschen zu werden?

59 Platons Dialoge.

Einunddreißigstes Kapitel.

Sokrates. Das wäre ja schrecklich, mein Lysi- machos, wollte man einem nicht mit dazu helfen, möglichst gut zu werden. Hätte es sich nun bei unseren eben ge- führten Unterredungen herausgestellt, daß ich im Besitze des erforderlichen Wissens wäre, diese beiden aber nicht,

so wäre es richtig, gerade mich zu dieser Aufgabe heran-

zuziehen; nun aber sind wir ja alle gleich ratlos gewesen. \Yje könnte man also einem von uns den Vorzug geben und wem? Nach meiner Überzeugung in der Tat keinem. Unter diesen Umständen seht zu, ob euch mein Rat etwa der Beachtung wert erscheint. Ich erkläre es für not- wendig, liebe Männer es bleibt ja ganz unter uns —, daß wir alle gemeinsam vor allem für uns selbst einen möglichst guten Lehrer suchen, denn den brauchen wir, sodann auch für die jungen Leute, ohne mit Geld zu sparen, noch mit sonst etwas, uns aber in unserm jetzigen Zustande zu belassen, dazu rate ich nicht. Lacht uns aber einer aus, daß wir in unserm Alter noch in die Schule gehen wollen, so müssen wir uns meines Erachtens auf Homer berufen, der sagte, Blödigkeit bei einem be- dürftigen Manne sei nicht gut?’). Und wenn einer seine Bemerkungen darüber macht, so wollen wir uns darum nicht weiter kümmern, und wollen gemeinsam für unser und der jungen Leute Wohl Sorge tragen.

Lysimachos. Mir gefällt deine Rede wohl, mein Sokrates, und wie ich der Alteste bin, so will ich am eifrigsten mit den jungen Leuten zusammen lernen. Doch tu mir den Gefallen und komm morgen früh in mein Haus; komm aber ja, damit wir hierüber beraten; für jetzt aber wollen wir unser Zusammensein aufheben.

Sokrates. Ja, das will ich tun, mein Lysimachos! ich werde morgen zu dir kommen, so Gott will.

«-----....-..... ne nennt

201 St.

Anmerkungen

zum Laches.

1) S.14. „in schwerer Rüstung“, in der vollen Ausrüstung des Schwerbewaffneten, des Hopliten, also augetan mit Harnisch, Helm, Beinschienen und Schild, mit Schwert und Lanze.

2) S.14. „solche“. Gemeint sind solche, die offen und ehrlich alles sagen, was sie in ihrem Innern bewegt (vulgär: „die dumm genug sind und den Leuten alles auf die Nase binden“).

8) 5, 14, Den ältesten Sohn nach dem Großvater zu nennen war üblich.

4) S.15. Das taten sie freiwillig, nicht zufolge staatlicher An- ordnung wie in Sparta, wo auch die Anwesenheit der jungen Söhne unzulässig gewesen wäre.

5) 8.15. Bei den Taten im Kriege ist vorzugsweise an Ari- stides zu denken, während sich Thukydides namentlich als Partei- führer und Sprecher in der Volksversammlung auszeichnete. Bei dem Hinweis auf Verwaltung der Bundesangelegenheiten tritt uns wiederum Aristides vor die Seele mit seinen Verdiensten, die er sich um die Gründung des delischen Bundes und die Verwaltung des Bundesschatzes erworben hat.

6) 8.17. „Gaugenosse“. Kleisthenes teilte, nach Abschaffung der vier ionischen Phylen, den Staat Athen in zehn neue Phylen und löste damit den alten Staatsorganismus vollständig und für alle Zeiten auf. Die Phylen teilte er in Demen, Bezirke, Gaue, nach der Ortlichkeit, dem demokratischen Prinzipe entsprechend. Die Zahl der Mitglieder der einzelnen Demen war daher verschieden. Es gab große und kleine Demen. Die Anzahl der Demen betrug 174. Jeder Bürger mußte zu einem Demos gehören. Im Alter von 17 bis 18 Jahren wurde ein jeder bei seinem Demos in das Anfıaozıröv γραμματεῖον, das Verzeichnis der athenischen Bürger, eingeschrieben, zwei Jahre später in den πέναξ ἐκκλησιαστικός, in die Liste der zur Teilnahme an den Volksversammlungen Berechtigten eingetragen, wo- durch er das Recht zu dieser Teilnahme erhielt. Verbunden waren die einzelnen Mitglieder des Demos (δημόται) durch gemeinschaftliche Sacra (ἱερὰ δη μοτικά). Sie hatten ferner gemeinschaftlichen Gemeinde- besitz, Gemeindegefälle, Gemeindeabgaben. Zur Besorgung der Gemeindeverwaltung hatten die Demen eigene Beamte, namentlich einen Vorsteher (δήμαρχος) und einen Verwalter (ταμίας), letzteren besonders für die Geldangelegenheiten.

54 Laches.

) 5. 17. Gemeint sind die Gymnasien und Palästren.

5 S.17. Agathokles aus Athen wird auch von Protagoras in dem gleichnamigen Dialog (316E) unter den Männern, die als Lehrer höherer Geistesbildung sich auszeichneten, neben Pythokleides aus Keos als berühmter Musiker genannt.

?) S. 17. Damon wird neben dem berühmten Philosophen Anaxagoras als Lehrer und Freund des Perikles angeführt.

10) Κ΄. 18, Sokrates hält das Andenken seines Vaters dadurch in Ehren, daß er die Freundschaft fortsetzt, die zwischen diesem und Lysimachos bestand.

11) S,18. Alkibiades machte die Schlacht bei Delion als Reiter mit und konnte so Sokrates, der als Hoplit kämpfte, gut beobachten. In seiner Lobrede auf Sokrates im Gastmahl 220Eff. widmet er dessen Verhalten Worte höchster Anerkennung. Bei der allgemeinen Auflösung und Flucht ging Sokrates ohne Hast zurück im Verein mit Laches, den er an Besonnenheit weit übertraf, Festen Blickes schaute er um sich auf Freunde und Feinde, so daß es schon aus weiter Ferne einem jeden klar war: wer sich an den macht, der findet sehr kräftigen Widerstand. Die Niederlage der Athener war schwer und von sehr nachteiligen Folgen.

12) S.18. „auch ihr“. Sokrates und die beiden jungen Leute.

15) 8.18. „unsere Freundschaft“, Die Freundschaft, die zwischen Lysimachos und Sophroniskos, dem Vater des Sokrates, bestand.

14) 5.18. „Was meint ihr.“ Angeredet sind Sokrates und die beiden Feldherren.

15) 8.19. Bei den griechischen Heeren fiel die Hauptaufgabe des Kampfes dem schwerbewafineten Fußvolke zu.

16) 5, 19. „in diesen Kriegswerkzeugen“. In den schweren Be in den Waffen der Hopliten.

1) 5, 26, Nach Plato hat sich unsere Fürsorge für das geistige Wohl unserer Mitmenschen auch auf Freunde und Sklaven zu er- strecken. |

13) δὶ τ, Sokrates erklärt sich also noch für zu jung hierzu. Bei vergleichender Betrachtung der chronologischen Verhältnisse in unserem Dialoge erscheint Sokrates als ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren. Unwillkürlich stellen wir uns ihn aber hier und da etwas Jünger vor. Möglich, daß dies von Plato gewollt ist. Auf jeden Fall müssen wir ihm eine solche dichterische Freiheit ein- räumen.

19) S.28. In Athen bildeten die Strategen die oberste Militär- behörde, der außer dem Kommando über Heer und Flotte alle Militärangelegenheiten oblagen, die bei uns unter das Oberkommando und das Kriegsministerium verteilt sind. Auch waren die Strategen Vorstände der Gerichte, vor denen bürgerliche Prozesse über Leistungen für Militärzwecke verhandelt wurden.

20, $.28. „an einem Karier“. Die Karier standen in dem Rufe der Treulosigkeit und Käuflichkeit und wurden mit den Kretern und Kappadokiern zu den „drei schlechtesten Kappa, zu den τρία κάππα κάκιστα gezählt, daher ist ἐν τῷ Kapl hier soviel als in vili corpore.

21) S.28. „mit der Tonne“. Der Sinn des Sprichwortes ist: ‚nit dem Größten und Schwersten den Anfang machen‘. Den

Anmerkungen. 55

Athenern lag ein Sprichwort von der Töpferkunst nahe, weil diese dort in großer Blüte stand.

3) 5, 80, Die Stelle ist etwas freier übersetzt, da der Text nicht feststeht. Überliefert ist: καὶ κομιδῇ μοι δοκεῖ μουσικὸς τοι- odros εἶναι, ἁρμονίαν καλλίστην ἡρμοσμένος οὐ λύραν οὐδὲ παιδιᾶς ὄργανα, ἀλλὰ τῷ ὄντι ζῆν ἡρμοσμένος οὗ αὐτὸς αὑτοῦ τὸν βίον σύμφωνον τοῖς λόγοις πρὸς τὰ ἔργα. Mit οὗ ist nichts anzufangen. Es scheint aus εὖ verderbt zu sein. Dieses wird man am besten mit ζῆν ver- binden. Dann ergibt sich folgender Gedanke: „Und ein solcher scheint mir durchaus der wahre Tonkünstler, der nicht etwa eine Lyra, überhaupt nicht Instrumente der Kurzweil zur schönsten Har- monie gestimmt hat, sondern er scheint mir in der Tat ein schönes Dasein zu führen, da er sein Leben harmonisch gestaltet hat, über- einstimmend in Wort und Werk.“

38) S.30, Die dorische T'onart war ruhig und männlich, die ionische weich und mild, die phrygische leidenschaftlich, die Iydische unmännlich und weichlich.

241) S.31. „ohne jede Rücksicht auf unser Alter“. Gesagt im Hinblick auf Sokrates’ Erklärung 181D: „Als das Wichtigste jedoch erscheint es mir, daß ich als der Jüngere und Unerfahrenere zunächst höre, was diese Männer sagen und von ihnen lerne“ usf. Vgl. auch Anm. 18.

25) 5.31. „So kommt es denn auf uns an“. Sokrates hat den beiden Feldherren ihre Bereitwilligkeit bezeugt, Rat zu geben und die Sache gemeinsam zu erwägen. So kommt es nun darauf an, daß auch Melesias, Lysimachos und Sokrates dieselbe Bereitwilligkeit zeigen.

36) 8,34. „In Reih und Glied standhaltend“. Laches hat die griechische Kampfweise im Auge, welche nur die Linientaktik der Phalanx kannte und ihre Stärke in dem schwerbewaffneten Fußvolk hatte. Vgl. auch Apol. 2810) u. Ὁ.

27) 5. 84. „Wie von den Skythen gesagt wurde“. Dasselbe be- richten spätere Schriftsteller von den Parthern. Vgl. Horaz Od. 1 19, 10: Scythas et versis animosum equis Parthum.

38) 8.54. „Homer irgendwo“. Ilias 22] ἢ, Vgl. © 106.

22) S.35. Nach den Worten unseres Dialogs muß es eine Über- lieferung gegeben haben, die ein solches Vorgehen der Spartaner in der Schlacht bei Plataeae berichtete, und hat Plato diese Über- lieferung für glaubwürdig gehalten. Herodot allerdings in seiner Erzählung vom Hergange der Schlacht (IX 59—63) berichtet von einer solchen Taktik der Spartaner nichts, Dagegen würde die Be- merkung des Sokrates, abgesehen von den Worten: ἐπειδὴ πρὸς τοῖς ysgpopüooıs ἐγένετο ZU Herodots Schilderung der Taktik der Spartaner in den Thermopylen (VII 210f) passen.

80) S.45. Das Sprichwort lautete: κἂν κύων κἂν Us γνοίη, „das weiß wohl auch ein Hund und ein Schwein“ von dem, was leicht zu erkennen und einzusehen ist.

81) S. 45. Plutarch, Theseus Kap. IX sagt: Die krommyonische Sau, die man Phaia benannte, war kein gewöhnliches Tier, sondern streitbar und schwer zu besiegen. Theseus nahm den Kampf mit ihr auf und tötete sie. - Koouuvovia ist sie benannt von der Ebene

5 6 Laches.

im südlichen Teile von Megaris, die ihren Namen von einer be- festigten Ortschaft Koouuvov hat.

82) S. 46. Lamachos war Feldherr der Athener zur Zeit des peloponnesischen Krieges und zeichnete sich durch seine ungestüme Tapferkeit aus, die keine Gefahr kannte. Dabei war er durchaus uneigennützig. Im Jahre 421 unterzeichnete er den Frieden des Nikias mit. 415 wurde ihm neben Nikias und Alkibiades der Ober- befehl bei der Expedition nach Sizilien anvertraut. Nach dem, was Plutarch Alkibiades Kap. 18 sagt, galt er trotz seines vorgerückten Alters für nicht weniger feurig und waghalsig als Alkibiades. Leider befolgte man seinen Krieesplan nicht, gerade auf Syrakus loszugehen und die erste Bestürzung zum Angriff zu benutzen. Er fiel vor Syrakus im J, 414,

83) αὶ 46. Die Bewohner des Bezirkes Aixone galten für be- sonders schmähsüchtig. Gereizt ist Laches durch die Worte des Nikias: „Ich sage ja, daß du weise bist und Lamachos, einep ἐστὲ ardoetoı. Dieser Zusatz konnte heißen: „da ihr ja tapfere Männer seid“ und „wenn anders ihr tapfere Männer seid“. In dem ersten Sinne hat die Konjunktion εἴπερ Nikias gebraucht, in dem zweiten hat sie Laches verstanden.

84) 5.46. Aus diesen Worten geht deutlich hervor, daß Piato die Kunst des Prodikos hochschätzte. Dasselbe geht aus der Ab- fertigung hervor, die Sokrates in dem unmittelbar Folgenden dem Laches wegen seiner Herabsetzung der Kunst des Prodikos zuteil werden läßt.

35) S.52. Odyssee P XVII 345. Als Telemach den als Bettler an der Tür des Männersaales erschienenen Odysseus erblickt, ruft er Eumaios heran, gibt ihm Brot und Fleisch, daß er es dem Bettler bringe und ihn auffordere, alle Freier insgesamt anzubetteln. „Denn es ist nicht gut“, so fügt er hinzu, „daß Blödigkeit einem bedürftigen Manne beiwohne“,

Einleitung zum Euthyphron.

1. Die Frage nach der Echtheit des Dialoges.

Schleiermacher hat vom Euthyphron durchaus keine hohe Meinung (Platons Werke I, 2; S.51ff.). Mit dem Laches und Charmides verglichen erscheint er ihm „als eine sehr untergeordnete Arbeit, weil nicht nur seine dürf- tige Bekleidung gegen den Reichtum und die Pracht jener beiden sehr nachteilig absticht, sondern auch sein innerer Gehalt mit jenen verglichen sich nicht viel besser aus- nimmt“. Er erklärt die vermeintlichen Mängel des Dialogs „aus der Verflechtung seines wissenschaftlichen Inhalts mit seiner apologetischen Tendenz und aus der Eilfertigkeit der Abfassung in der Zeit der Anklage des Sokrates“. Sehr skeptisch spricht sich auch Natorp aus (Platos Ideenlehre, S. 38 Anm.). Beide Urteile kommen einem Verdammungs- urteile recht nahe. Von den Gelehrten, die für die Echt- heit des „Euthyphron‘ eingetreten sind, ist besonders Her- mann Bonitz zu nennen, der in seinen „Platonischen Stu: dien“, 3. Aufl., 8. 277 ff. die Argumente Schleiermachers, soweit sie den Inhalt des Dialogs betreffen, überzeugend widerlegt hat. Was die Komposition anlangt, stimmt er ihm zu, daß sie hinter der anderer Dialoge zurückbleibe.

2%. Die Personen des Gesprächs.

Der Personen des Gesprächs sind nur zwei, Euthy- phron und Sokrates. Nach Andeutungen im „Kratylos“ hat sich Euthyphron auch mit sprachlichen Dingen be- schäftigt, namentlich mit etymologischen Untersuchungen.

58 Finleitung.

In unserem Dialoge erscheint er als Anhänger der streng- gläubigen Richtung in Athen. Er glaubte an die Mantik, vermeinte aber auch selbst ein großer Seher zu sein. Was er in den Volksversammlungen vorhergesagt hat, ist alles, wie er behauptet, eingetroffen. Er ist auch ein großer Theologe, der auf dem Gebiete der Religion Bescheid weiß, wie sonst keiner. So kennt er auch mehr Mythen als andere Menschen, ist also nach unserer Ausdrucksweise in der biblischen Geschichte außerordentlich bewandert, und was die Mythen von den Gröttern erzählen, das glaubt er auch, mögen es auch zum Teil sittlich noch so bedenkliche Dinge sein. Dem strenggläubigen Manne ist die Mythologie seines Volkes wie eine heilige Schrift. Was in ihr steht, muB ge- giaubt werden und wird von ihm geglaubt. Was die My- then von den Göttern und ihren Taten erzählen, ist ihm für sein eigenes Tun vorbildlich. Euthyphrons Handlungs- weise ist gerade da, wo er ganz besonders fromm zu han- deln glaubt, wo er im Hinblick auf das Tun des Zeus und aes Kronos gegen den eigenen Vater vorgeht, nicht fromm, sondern gegen alle Pietät und damit gottlos. Aber der Mythus ist ihm eine geheiligte Tradition, die von Men- schenwitz nicht angetastet werden darf. E. hält auch an dem Glauben fest, die durch Missetat entstandene Be- fleckung gehe von diesem auf alle über, die mit ihm in Berührung kommen, und in um so höherem Grade, je enger die Berührung sei, besonders innige Berührung aber finde bei denen statt, zwischen denen Herd- und Tischgenossen- schaft bestehe. Da nun der Sohn in solcher Gemeinschaft mit dem Vater lebt, so ist es gerade für ihn eine Pflicht, gegen den mordbefleckten Vater ein gerichtliches Ver- fahren zu veranlassen. E. tut dies mit gutem Gewissen. Nach seiner Überzeugung entsühnt er damit sich und auch den Vater, und erweist durch sein Vorgehen diesem in Wirklichkeit eine Wohltat. Sokrates behandelt den Eu- thyphron hier und da ironisch. Doch diese Ironie gilt im wesentlichen der maßlosen Einbildung des Mannes, nicht dem von ihm vertretenen Standpunkte. Die von E. geltend

Finleitung. 59

gemachten Anschauungen sind ja nicht sein persönliches Eigentum, sind auch nicht von Plato gemacht, sondern der Wirklichkeit entnommen, waren damals in Athen so- gar verbreitet.

Um das Vorgehen E.'s gegen seinen Vater richtig zu beurteilen, müssen wir nach der Schwere der Schuld des Vaters fragen. In seiner Eigenschaft als Kleruch (,Losin- haber‘‘) bewirtschaftete E.’s Vater ein Gut auf Naxos die Insel war 473 oder 472 in Abhängigkeit von Athen gekommen und bei diesem Aufenthalte ereignete sich der Vorfall, den E. p. 4c ff. berichtet. „Der Getötete war ein Tagelöhner!) von mir, und als wir auf Naxos ein Gut bewirtschafteten, stand er dort bei uns für Lohn in Dien- sten. In der Trunkenheit nun erschlug er einen unserer Sklaven, der ihn gereizt hatte. Deshalb ließ ihn mein Vater an Händen und Füßen fesseln und in eine Grube werfen. Darauf schickt er einen Mann nach Athen, um beim Ausleger des heiligen Rechtes?) anzufragen, was er zu tun habe. In der Zwischenzeit kümmerte er sich ganz und gar nicht um den Gefesselten, da er ja ein Mörder sei und es also nichts ausmache, wenn er auch stürbe. Und so kam es denn auch. Infolge von Hunger, Frost und den Qualen der Fesselung stirbt er, bevor der Bote von dem Ausleger des heiligen Rechtes zurückkam“. Gewöhnlich erblickt man iu dem Verfahren von E.'s Vater fahrlässige Tötung, und in der Tat hat nach griechischem Sprachge- brauch das Wort φόνος auch diese Bedeutung. Doch dieser Auffassung steht hier folgendes entgegen. E.’s Vater weiß recht wohl, dab diese Behandlung des Tagelöhners dessen Tod herbeiführen konnte, ja bei einiger Dauer seiner qual- vollen Lage herbeiführen mußte. Er weiß das und spricht es auch aus. Aber es kommt ihm nichts darauf an. Der Mann mag immer sterben, er ist ja ein Totschläger. Wir

Die Tagelöhner waren zwar frei, aber nicht viel höher ge- achtet als die Sklaven.

?) Das delphische Orakel hatte in Athen drei ständige Ver- treter, die das heilige Recht auslegten.

60 Einleitung.

sehen also, er stellt sich den tödlichen Ausgang als mög- liche Folge seiner Handiungsweise vor und ist mit diesem Ausgange im voraus einverstanden. Demnach liegt nicht Fahrlässigkeit, culpa, vor, sondern eine böse Absicht, do- lus, deren Verwirklichung allerdings nicht geradezu er- strebt, aber den von dem Täter herbeigeführten Umständen überlassen wird. So hat sich der Vater E.’s eines dolus eventualis und damit des Mordes schuldig gemacht. Dieser mußte durch richterliches Einschreiten gesühnt werden. Einen Staatsanwalt gab es in Athen nicht. Also mußte die Anklage durch einen Bürger erfolgen. Für einen Er- schlagenen einzutreten, war das Recht und die Pflicht eines näheren Angehörigen. Für den Sklaven trat sein Herr ein. Für einen erschlagenen Fremden einzutreten, bestand keine Pflicht. Aber in seinem Eifer, alles Unrecht zu verfolgen, und in dem Glauben, damit ein der Gottheit wohlgefälliges Werk zu tun, nimmt er ein näheres Ver- hältnis zwischen sich und dem Tagelöhner an, ähnlich dem Verhältnisse zwischen dem Herren und dem Sklaven. „Der (retötete war ein Tagelöhner von mir“, sagt er, und bringt die Klage auf Mord bei dem Gerichte ein. Nicht nur sein Vater, sondern auch alle seine Verwandten sind über sein Vorgehen aufs äuberste empört. Doch E. sieht hierin nur ein widerspruchsvolles Verhalten. Daß Zeus, so sagte er, seinen Vater wegen begangener Verbrechen in Fesseln ge- schlagen und Kronos aus gleichem Grunde den seinigen entmannt!) hat, glauben die Menschen und sehen darin kein Unrecht, ihm aber zürnen sie, dab er gegen seinen Vater, der doch eine große Sünde begangen hat, gerichtlich vor- geht. Sokrates hatte geäußert, der Gretötete sei gewiß einer von Euthyphrons Angehörigen gewesen, denn wegen eines Fremden würde er doch nicht gegen den eigenen Vater mit einer Klage wegen Mordes vorgehen, aber Euthyphron er- klärt es geradezu für lächerlich, wenn einer meine, es mache einen Unterschied, ob der Getötete ein Fremder

') Vgl. Hesiod, Theogonie 154ft.

Einleitung, 61

oder ein Angehöriger sei, und man müsse nicht lediglich darauf achten, ob der, der einen anderen getötet hat, ihn mit Recht getötet hat oder nicht. Und wenn er ihn mit Recht getötet hat, so muß man ihn in Ruhe lassen, wo nicht, gegen ihn gerichtlich vorgehen, besonders in dem Falle, daß man mit dem Missetäter unter demselben Dache wohnt und an demselben Tische ißt. Welche schrecklichen Taten diese falsche Auffassung von religiöser Pflicht ber- vorgerufen hat, namentlich wenn auch in dem Anders- gläubigen ein Missetäter erblickt wird, das lehrt die Ge- schichte, das zeigt auch das Schicksal des Sokrates, der nach jener Stelle unseres Dialoges hingerichtet wurde, weil ihn Mythen empörten, in denen den Göttern böse Taten nachgesagt wurden. Sehr zu beachten ist es, daß Plato diesen strenggläubigen Mann die Anklage des Sokrates un- bedingt verurteilen läßt mit den Worten: „Wer es unter- nimmt, dich, mein Sokrates, zu verderben, der rüttelt nach meiner Überzeugung geradezu an den Grundfesten des Staates“.

Euthyphrons zweite Definition, nach der das Fromme das Gott Wohlgefällige ist, enthält einen richtigen, auch uns vertrauten Gredanken, sagt aber nicht, was das Wesen der Frömmigkeit ausmacht. Was die vierte Definition an- langt, so ist es selbstverständlich, daß ein so gläubiger Mann wie E. auf die Wahrung der Kultusvorschriften hohen Wert legt. Diese Forderung stellte auch der athe- nische Staat, und Sokrates selbst beobachtete gewissenhaft die dahingehenden Vorschriften. So verlangt überhaupt jede Religionsgemeinschaft einen bestimmten Kultus. Bei den Griechen bestand solcher Kultus vor allem in Opfer und Gebet. | |

Wir sehen, ein geistig minderwertiger Mensch ist E. keineswegs. Einen solchen konnte ja auch Plato gar nicht zum Vertreter der strenggläubigen Richtung in Athen machen, wenn er sich mit dieser auseinandersetzen wollte.

Über Sokrates können wir uns kurz fassen. Die Frage, die uns der Euthyphron nahe legt, lautet: Wie stand

62 Einleitung.

Sokrates zur Volksreligion? Daß er nicht an Mythen glaubt, die mit der Heiligkeit des göttlichen Wesens in Widerspruch stehen, sondern solche Erzählungen zurück- weist, das läßt ihn Plato mit aller Bestimmtheit aus- sprechen. Dagegen ist von Göttern die Rede ohne eine Spur des Zweifels an ihrem Dasein, und in einer Weise, dab dabei nur an die Götter der athenischen Staatsreligion gedacht werden kann. Und in der Apologie, die wir mit Gewinn für das Verständnis zum Vergleich heranziehen, ist da, wo Sokrates von „dem Grotte“ spricht, an Apollo zu denken, der ihn für den weisesten aller Menschen erklärt hatte. Doch sind wir hierdurch keineswegs genötigt, So- krates eine polytheistische Weltanschauung beizulegen. Der einsichtsvolle und gottesfürchtige Mann, der mit Ernst darauf bedacht war, seine Mitmenschen, vor allem seine Mitbürger sittlich zu heben, wollte nicht gegen das Gebot des Staates handeln, der um seines Bestandes willen dar- über wachte, daß die von ihm anerkannte Religion unan- getastet blieb. Daher redete Sokrates von Göttern und schloß sich den Kultusbräuchen seines Volkes an. So spricht er auch in unserem Dialoge und in der Apologie von Göttern, und Plato mußte hier seinen Lehrer so sprechen lassen, der angeklagt war, daß er nicht an die Götter des Staates glaube; er hätte ja sonst diese Anklage bestätigt. Wir begegnen aber im Euthyphron einem Hin- weis darauf, daß das Wesen der Gottheit einheitlich gefaßt werden muß, wenn eine richtige Definition von dem, was Fromm ist, möglich sein soll. Die p. 7a von Euthyphron aufgestellte Definition: ‚Das Fromme ist das den Göttern Wohlgefällige“, wird p. 9e dahin verbessert, dab das Fromme das allen Göttern Wohlgefällige ist. Und ganz gewiß ist die Bestimmung, nach der Frömmigkeit ein Gottesdienst im vollen Sinne des Wortes ist, nur bei der Annahme eines einheitlichen heiligen Willens der Gottheit möglich, dagegen bei Anerkennung der bunten Götterwelt der Griechen, in der Zwiespalt und Feindschaft und vie] Unsittlichkeit herrscht, ein ganz unmöglicher Gedanke. Da

Einleitung. 63

E. an eine solche Welt von Göttern glaubt, so ist es ganz natürlich, daß er die letzte Frage, mit deren Beantwortung alles zum Abschlusse kommen soll, die Frage nach dem schönen Werke, bei dessen Ausführung der Mensch der Gottheit helfen soll, nicht beantworten kann. Die Apologie aber macht es für den aufmerksamen Leser deutlich genug, daß Sokrates in seinem Innern über der Volksreligion stand. Die Klageschrift des Meletos sagt deutlich, dab So- krates nicht an die Götter des Staates glaube, sondern an andere, neue göttliche Wesen. Wenn Plato seinen Lehrer gegen diese klar gefaßte Anklage nicht verteidigt, sondern Meletos diese Anklage verwandeln läßt in die Anklage des Atheismus, so wollte er ihn nicht dagegen verteidigen; er konnte das auch nicht, ohne unwahr zu werden und durch diese Unwahrheit zugleich seinen innigst verehrten Lehrer tief herabzusetzen. Anderseits konnte er den, im Grunde genommen, monotheistischen Standpunkt des Sokrates nicht bestimmt herauskehren, ohne damit seinen Anklägern in den Augen eines sehr großen Teiles der Athener recht zu geben.

3. Die Aufgabe des Dialoges.

Über das Ziel, das Plato mit der Abfassung der kleinen Schrift verfolgt hat, gehen die Ansichten der Ge- lehrten auseinander. Bei unbefangener Betrachtung er- scheint als Aufgabe des Dialoges die Feststellung des Be- griffes der Frömmigkeit. Aber hiervon abweichend hat man seinen Zweck in der Schilderung der sittlichen Zu- stände in dem damaligen Athen gefunden, ferner in seinen logischen Erörterungen, vielfach auch in einer Apologie des Sokrates. Auch hat man behauptet, der Dialog verfolge mehrere Zwecke nebeneinander. Zu der Annahme, der Dia- log habe es mit der Beantwortung der Frage nach dem Wesen der Frömmigkeit zu tun, stimmen Gang und Weise der Untersuchung. Auch entspricht die Wahl dieses The- mas durchaus der Aufgabe, die sich Plato unter dem Ein- flusse seines Lehrers Sokrates für seine früheste schrift-

θά Einleitung.

stellerische Tätigkeit gestellt hat. Sokrates hatte erkannt, daß unser sittliches Leben durch eine Anzahl von Be- griffen bestimmt wird, und daß für uns alles darauf an- kommt, zur Erkenntnis dieser Begriffe durchzudringen. An diesem Gedanken hat auch Plato festgehalten. Der wichtigste aber von allen solchen Begriffen ist der Begriff der Frömmigkeit insofern, als wir durch diese zugleich in ein unmittelbares Verhältnis zur Gottheit gesetzt werden. So war die Untersuchung dieses Begriffs für Plato schon an sich wertvoll und notwendig. Unsere Schrift begründet diese Notwendigkeit außerdem aus schlimmen Vorkomm- nissen im damaligen Athen, die mit irrigen Auffassungen vom Wesen der Frömmigkeit zusammenhingen. Diese falschen Auffassungen mußten untersucht und widerlegt. werden, damit ihre nachteiligen Wirkungen aufgehoben und der wahre Begriff der Frömmigkeit sichergestellt würde. Gerade durch die Untersuchung der bestehenden falschen Vorstellungen von dem Wesen der Frömmigkeit offenbart sich die Feststellung des Begriffs der Frömmig- keit immer wieder als die eigentliche Aufgabe des Dialogs.

Die logischen Erörterungen sind nur Mittel zum Zweck. Die verhältnismäßig sehr ausgedehnte Darlegung der für die wissenschaftiiche Untersuchung zu verwenden- den Mittel erklärt sich daraus, daß die Abfassung des Dialogs in eine Zeit fällt, in der die wissenschaftliche Methode erst noch aufgefunden und festgestellt werden mußte.

Wer den eigentlichen Zweck des Dialogs in einer Apologie des Sokrates findet, der kann sich darauf be- rufen, daß auf den Prozeß des Sokrates zu Anfang und zu Ende des Dialogs und auch sonst Bezug genommen wird. Aber bei der Anlage und Durchführung des ganzen Gesprächs nimmt dieses Moment nicht die erste Stelle ein; diese bleibt der Erörterung der Frage: Was ist Frömmig- keit? Sollte die Verteidigung des Sokrates die Hauptsache sein, so mußte sein Begriff der Frömmigkeit vollkommen klargestellt und sein frommes Tun vor Augen geführt

Einleitung, 65

werden, während das Methodologische zurücktreten mußte. Hätte Plato, wie Schleiermacher und andere glauben, den Dialog nach Einreichung der Klageschrift des Meletos geschrieben, um auf die Athener und namentlich auf die Richter zugunsten seines Lehrers einzuwirken, so hätte er ohne Frage seine Sache wenig geschickt angefangen. Die beiden eben angegebenen Forderungen mußten dann un- bedingt erfüllt werden, und gebieterisch erhebt sich die Frage: Was sollen dann die eingehenden und umfang- reichen logischen Erörterungen, die noch dazu anscheinend nicht einmal zum Ziele führen? Aber das bleibt bestehen: eine Bezugnahme auf die Anklage des Sokrates liegt klar vor, und indem Sokrates es ist, der den wahren Begriff der Frömmigkeit feststellt, ergibt es sich, daß der wegen Grottlosigkeit verklagte Mann im Besitze der wahren Fröm- migkeit ist. Diese Apologie ist zwar nicht die eigentliche Aufgabe des Dialogs, wohl aber etwas, was mit der Lösung dieser Aufgabe durch Sokrates von selbst eintritt, sie ist nach der Komposition des Dialogs nicht der Zweck des Ganzen, sondern eine Folge der Erreichung dieses Zweckes. Dieses Ergebnis ist von Plato sicherlich bei dem Entwurfe des Ganzen ins Auge gefaßt worden, und so kann es wohl als Nebenzweck bezeichnet werden. Aber ein Verständnis für solche Zusammenhänge kann nur von dem wissen- schaftlich gebildeten Leser erwartet werden, und so ist es eine unhaltbare Annahme, Plato habe die Schrift verfaßt, um durch Einwirkung auf das athenische Volk einen für Sokrates günstigen Ausgang des Prozesses herbeizuführen.

Demnach ist und bleibt die eigentliche Aufgabe des Dialogs die Lösung der Frage: Was ist Frömmigkeit? Die Schilderung von Vorgängen im damaligen Athen enthält die Begründung für die Aufstellung dieses Themas, die Untersuchung und Widerlegung irriger Auffassungen vom ‚Wesen der Frömmigkeit dient der Beseitigung des Falschen und Schädlichen und damit zugleich der Befestigung des Wahren und Heilsamen, die methodologischen Erörte- rungen sind Mittel .zum Zweck, und die Rechtfertigung

Piaton Laches und Euthyphron. Phil. Bibl. Bd. 178. 5

66 Einleitung.

des Sokrates ist die Folge der von ihm selbst herbeige- führten Lösung der Aufgabe.

4. Zeit der Abfassung.

Unser Dialog verlegt das von Sokrates und Euthy- phron über das Wesen der Frömmigkeit geführte Gespräch in das Jahr 399, und zwar in die Zeit zwischen der Ein- bringung der Anklage gegen Sokrates und seiner Verur- teilung. Daß dies auch die Zeit der Abfassung unserer Schrift sei, ist zwar auch behauptet worden, es sprechen aber die gewichtigsten Gründe dagegen. Der Dialog kann erst nach dem Tode des Sokrates geschrieben sein und auch nicht ganz kurze Zeit nach diesem. Martin Schanz sagt in seiner Ausgabe des Euthyphron mit deutschem Kommentar auf Seite 15: „Die Stimmung Platos über den Prozeß des Sokrates ist im Euthyphron eine so resignierte, daß sich dieselbe aus der Zeit unmittelbar nach dem Tode des Sokrates nicht erklären läßt.“ Obwohl sich in unserem Dialoge hier und da auch ein bitteres Gefühl bemerkbar macht, werden wir doch gern zugestehen, dab die Grund- stimmung des Dialogs es verwehrt, seine Abfassung in die Zeit unmittelbar nach dem Toode des Sokrates zu setzen. Der Inhalt des Dialogs scheint uns sogar zu nötigen, seine Entstehung einer ziemlich späten Zeit zuzuweisen. Es kann, keine schönere Bestimmung von dem Wesen der Frömmigkeit geben als die im Euthyphron, und was noch wichtiger ist, die Ideenlehre in diesem Dialoge stimmt in ihren Grundzügen mit der im Timaeus!) vollkommen überein. Doch ist folgendes zu bedenken. ‚Wir können nicht annehmen, Plato habe begonnen, über Gott und Menschen zu schreiben und mit solchen Schriften vor sein Volk hinzutreten, ehe er zu einer für ihn in ihren Grund-

1) Schneider hat den Nachweis dieser Behauptung in einem „Die Ideenlehre in Platons Euthyphron“ überschriebenen Abschnitte geliefert, dessen Umfang einen Abdruck an dieser Steile leider nicht erlaubte. | Der Herausgeber.

Einleitung. 67

zügen feststehenden Weltanschauung gekommen war. Bei seiner wunderbaren geistigen Kraft wird er dieses Ziel ziemlich früh, wohl noch vor seinem 30. Lebensjahr er- reicht haben. Wir können das um so eher annehmen, als sich seine Weltanschauung auf dem Grunde bereits voraus- 'gegangener Weltanschauungen erbaut hat. Vorhergegangen ist ihm Heraklit, der nicht nur mit seiner Annahme eines ewigen Wechsels von Entstehen und Vergehen im Bereiche der Sinnenwelt, sondern auch mit seiner Lehre vom Logos einen großen Einfluß auf ihn ausgeübt hat. Voorangegangen sind ihm auch die Pythagoreer mit ihren tiefen ethischen und religiösen Gedanken. Vor allem aber müssen wir an Sokrates denken, dessen Lehre er die Grundzüge seiner ethischen und religiösen Anschauungen zu verdanken hatte. Demnach zwingt uns der bedeutende Inhalt des Euthy- phron nicht, seine Abfassung in eine späters Zeit der schriftstellerischen Tätigkeit Platos zu verlegen. Seinem Inhalte nach reiht sich der Euthyphron den Dialogen ein, die die Untersuchung der ethischen Anschauungen und die begriffliche Feststellung des Wesens der Tugend zum Gegenstande haben und damit in naher Berührung mit dem Sokratischen Suchen und Forschen nach der Erkenntnis der sittlich-religiösen Natur des Menschen stehen. Der Zeit der Entstehung nach sind ihm eine Anzahl Plato- nischer Schriften vorausgegangen. Mit Bestimmtheit läßt sich dies von der Apologie und dem Kriton, von dem Protagoras und dem Laches behaupten.

δ᾽

Platons Euthyphron.

Personen des Gespräches: Euthyphron, Sokrates.

Erstes Kapitel.

Euthyphron. Wie kommt es denn, Sokrates, daß du » st. deinen gewohnten Aufenthalt im Lykeion!) aufgegeben hast und nun hier bei der Halle des Basileus?) weilst? Du hast ja doch wohl nicht gleich mir einen Rechtsstreit vor dem Basileus?

Sokrates. Die Athener nennen es allerdings, mein Euthyphron, nicht einen Rechtsstreit, sondern eine Krimi- nalklage3).

Euthyphron. Was sagst du? Eine Kriminalklage hat einer gegen dich eingereicht? Denn das werde ich wohl nicht erleben, daß du gegen einen anderen mit einer Klage vorgehst.

Sokrates. Gewiß nicht.

Euthyphron. Aber ein anderer gegen dich?

Sokrates. Freilich. |

Euthyphron. Wer ist denn das?

Sokrates. Ich kenne selbst den Mann fast gar nicht, Euthyphron. Wie mir scheint, ist es ein ganz junger und unbekannter Mensch. Sein Name ist meines Wissens Meletos®), und er gehört dem Bezirke Pitthos an. Viel- leicht kannst du dich auf einen Meletos aus diesem Be- zirke besinnen, auf so einen Menschen mit langem Haar, mit spärlichem Bart und einer Habichtsnase.

Euthyphron. Ich erinnere mich nicht, mein So- krates. Doch was für eine Klage hat er denn gegen dich angestrengt ?

Sokrates. ‘Was für eine, fragst du? Eine nicht ge- wöhnliche, wie mich dünkt; denn daß ein so junger

Euthyphron. 69

Mensch eine so bedeutende Sache versteht, das ist nichts Gewöhnliches. Er weiß nämlich, wie er behauptet, auf welche Weise die Jugend verderbt wird, und wer ihre Verderber sind. Auch scheint er recht weltklug zu sein, und da er meine Unerfahrenheit erkannt hat, geht er, gleich einem Kinde, das zur Mutter geht, zur Stadt, um mich als Verderber seiner Altersgenossen zu verklagen. Auch ist er meines Erachtens der einzige, der seine politische Tätigkeit in der rechten Weise beginnt; denn das ist das Richtige, zunächst dafür zu sorgen, daß die jungen Leute möglichst gut werden, gleichwie ein guter Landwirt natürlich zuerst für die jungen Pflanzen sorgt, danach auch für die übrigen. Und so jätet denn wohl auch

3 St. Meletos zunächst uns aus, weil wir die keimende Jugend, wie er sich ausdrückt, verderben’). Hernach wird er offenbar für die älteren Leute sorgen, und so wird er für den Staat der Bringer sehr vieler und sehr großer Güter werden, ein Ausgang, wie er bei einem solchen Anfange selbstverständlich ist.

Zweites Kapitel.

Euthyphron. Das wünschte ich wohl, mein Sokra- tes! Ich fürchte aber, daß das Gegenteil davon eintritt; denn wie mich dünkt, beginnt er seine Verwüstung des Staates geradezu mit dem Heiligtume des Herdes, wenn er sich unterfängt, dir unrecht zu tun. Doch sage mir: Was tust du denn, dab er behauptet, du verderbest die jungen Leute? |

Sokrates. Gar seltsam klingt es, mein Verehrter, wenn man es so hört. Er sagt nämlich, ich sei Erfinder von Göttern, und weil ich neue Götter erdichtete und an die alten nicht glaubte, eben deshalb hat er mich nach seiner Behauptung verklagt.

Euthyphron. Ich verstehe, Sokrates! Das kommt gewiß daher, daß du sagst, die Gottheit offenbare sich dir bei jeder Gelegenheit‘). Er hat also diese Klage gegen dich

70 Platous Dialoge.

als einen Neuerer auf dem Gebiete der Religion anhängig gemacht, und so wendet er sich an das Gericht, um dich zu verdächtigen, wohl wissend, daß solche Verdächtigungen vei der Menge leicht Glauben finden. Denn”) auch mich, denke dir, verlachen sie wie einen, der nicht recht bei Verstand ist, wenn ich in der Volksversammlung über das göttliche Walten etwas sage und ihnen die Zukunft ver- künde, und doch ist unter allen meinen Voraussagungen. keine, die sich nicht bewahrheitet hätte. Aber gleichwohl sind sie auf uns alle neidisch, die solche Gaben besitzen. Drum soll man sich um sie gar nicht kümmern und ruhig seinen Weg gehen.

Drittes Kapitel.

Sokrates. Lieber Euthyphron, verlacht zu werden, das hat wohl nicht viel auf sich. Denn den Athenern macht es meines Erachtens nicht viel aus, wenn sie von einem glauben, er besitze ein außergewöhnliches Wissen?®), habe aber nicht die Absicht, seine Weisheit andere zu lehren; von wem sie aber meinen, er übertrage seine An- sichten auch auf andere, dem zürnen sie, sei es nun aus Neid, wie du meinst, oder aus irgendwelchem anderen Grunde.

Euthyphron. Wie sie sich nun in der Beziehung mir gegenüber verhalten, das zu erproben, trage ich durch- aus kein Verlangen.

Sokrates. Du stehst ja wohl in dem Rufe, daß du dich selten machst und nicht geneigt bist, deine Weisheit andere zu lehren; von mir aber glauben sie, wie ich fürchten muß, daß ich aus Menschenfreundlichkeit all mein Wissen jedermann verschwenderisch mitteile nicht nur un- entgeltlich, sondern indem ich mit Freuden noch zulegen würde, wenn mich einer nur anhören will. Wenn sie mich also, wie gesagt, auslachen würden, wie du das von dir behauptest, so wäre es recht hübsch, die Zeit unter Scherz und Gelächter vor Gericht zu verbringen; wenn sie aber

er

Euthyphron. 71

Ernst machen, wie das dann ablaufen wird, das weiß außer euch Sehern kein Mensch.

Euthyphron. Sokrates, vielleicht hat die ganze Sache nichts auf sich, sondern du führst deinen Prozeß nach Wunsch durch, und auch ich, wie ich denke, den meinen.

Viertes Kapitel.

Sokrates. Wie steht es denn nun mit deinem Pro- zeß, Euthyphron? Wirst du gerichtlich verfolgt, oder verfolgst du? |

Euthyphron. Ich bin der Verfolgende.

Sokrates. Und wen verfolgst du?

Euthyphron. Einen, durch dessen Verfolgung ich wieder einmal den Glauben erwecke, ich sei nicht recht bei Sinnen.

Sokrates. Wieso? Verfolgst du denn einen, der fliegen kann?

Euthyphron. An Fliegen ist bei dem nicht zu denken. Es ist ja ein ganz alter Mann.

Sokrates. Wer ist es denn ?

Euthyphron. Mein Vater.

Sokrates. Dein eigener Vater, mein Bester

Euthyphron. Ganz recht.

Sokrates. Worauf lautet denn deine Klage, und worum handelt es sich bei dem Prozesse’?

Euthyphron. Um Mord°), Sokrates.

Sokrates. Um Himmels willen! Ganz gewiß sehen die meisten Menschen die Berechtigung deines Verfahrens nicht ein. Es ist ja auch nicht Sache des ersten besten, hierbei das Richtige zu treffen, sondern das erfordert einen Mann, der wohl schon eine hohe Staffel der Weisheit er- klommen hat. |

Euthyphron. Beim Zeus, fürwahr eine hohe, So- krates.

Sokrates. Gewiß gehört der von deinem Vater Ge- tötete zu deinen nächsten Angehörigen. Das ist ja klar:

79 Platons Dialoge.

denn wegen eines Fremden würdest du doch wohl nicht mit einer Klage wegen Mordes gegen ihn vorgehen. Euthyphron. Lächerlich ist es, Sokrates, daß du meinst, es mache einen Unterschied, ob der Getötete ein Fremder ist oder ein Angehöriger, und man müsse nicht, vielmehr lediglich darauf achten, ob der, der ihn tötete, ihn mit Recht getötet hat oder nicht, und wenn mit Recht, es gut sein lassen, im anderen Falle gegen ihn vorgehen, gerade wenn der Täter dein Herd- und Tischgenosse ist. Denn die Befleckung wird gleichgroß!%), wenn du mit einem solchen zusammen bist, während du um die Sache weißt, und nicht dich und ihn durch gerichtliches Vor- gehen entsühnst. Der Getötete war nämlich ein Tagelöhner von mir, und als wir auf Naxos ein Gut bewirtschafteten, diente er dort bei uns um Tagelohn. In der Trunkenheit nun schlägt er einen unserer Sklaven tot, der ihn gereizt hatte. Darauf läßt ihn mein Vater an Händen und Füßen gefesselt in eine Grube werfen und schickt einen Mann hierher, um bei dem Ausleger des heiligen Rechtes an- zufragen, was er tun solle Während dieser Zeit kümmert er sich um den Gefesselten ganz und gar nicht, da er ja ein Mörder sei und gar nichts darauf ankomme, wenn er auch stürbe. Und in der Tat kam es auch so. Infolge von Hunger, Frost und der Fesselung starb er, bevor noch der Bote von dem Ausleger zurückkam. Deshalb sind mein Vater und alle meine Verwandten unwillig, daß ich für den Gretöteten mit einer Klage auf Mord gegen den eigenen Vater vorgehe, der ihn nicht getötet habe, wie sie sagen, und wenn er ihn auch zehnmal getötet hätte, so sei doch der Umgekommene ein Mörder gewesen, und um so einen brauche man sich nicht zu kümmern. Daß wegen eines solchen Menschen der Sohn gegen den eigenen Vater mit einer Anklage auf Mord vorgehe, sei einfach gottlos. Mein Sokrates! die wissen eben gar nicht, was vom religiösen Standpunkte aus beurteilt Fromm, was Grottlos ist. Sokrates. Du meinst also -wahrhaftig, lieber Euthy- phron, über die Gebote der Religion und über das, was

ba

Euthyphron, 73

Fromm und was Gottlos ist, so genau Bescheid zu wissen, daß du bei einem solchen Hergange, wie du ihn schilderst, nicht fürchtest, mit einer gerichtlichen Verfolgung deines Vaters schließlich deinerseits eine gottlose Tat zu be- gehen ?

Euthyphron. Ich wäre ja gar nichts nütze, Sokra- tes, und ein Euthyphron würde vor der großen Menge der Menschen nichts voraus haben, wüßte ich nicht auf diesem ganzen Gebiete genau Bescheid.

Fünftes Kapitel.

Sokrates. Wäre es da nicht das Beste für mich, trefflichster Euthyphron, ich würde dein Schüler und forderte vor der Verhandlung des Prozesses mit Meletos grade mit Bezug auf eben diese Fragen ihn zu einer Ver- ständigung auf mit der Erklärung, schon in früherer Zeit hätte ich hohen Wert auf theologisches Wissen gelegt, und so wäre ich denn jetzt, wo er behauptet, daß ich aus Leichtfertigkeit und Neuerungssucht auf dem Gebiete der Religion irregehe, in der Tat dein Schüler geworden, „und wenn du, Meletos“, so würde ich fortfahren, „zugestehst, daß Euthyphron auf diesem Gebiete weise ist und den rechten Glauben hat, so halte auch mich für rechtgläubig und ziehe mich nicht vor Gericht; im anderen Falle mache eher gegen ihn, der mein Lehrer ist, eine Klage anhängig als gegen mich, daß er nämlich die älteren Leute verderbe, mich und seinen Vater, mich durch seine Lehre, jenen durch Strafe und Züchtigung“, und wenn er auf mich nicht hört und von der Klage nicht abläßt oder statt meiner dich anklagt, ist es da nicht das Beste, ich sage vor Gericht genau dasselbe wie bei der Aufforderung zur Verständigung!!) ?

Euthyphron. Wahrhaftig bei Zeus, Sokrates, wenn er sich wirklich unterfangen sollte, gegen mich mit einer Klage vorzugehen, so würde ich schon eine schad- hafte Stelle an ihm ausfindig machen, und es würde viel

74 Platons Dialoge.

früher über ihn vor Gericht verhandelt werden als über mich!?).

Sokrates. Glaub mir, mein lieber Freund, das kenne ich und trage daher Verlangen, dein Schüler zu werden; denn ich weiß, daß wie mancher andere auch dieser Me- letos anscheinend für dich überhaupt keine Augen hat, während er mich so sicher und so leicht durchschaute, daß er mich der BetlDele angeklagt hat.

Jetzt sage mir bei Zeus, was du eben noch genau zu wissen behauptetest: „Worein setzt du das Wesen der Frömmigkeit und der Grottlosigkeit bei Mord sowohl als bei anderen Vergehen? Oder ist das Fromme nicht bei einer jeden Handlung mit sich identisch, und das Gottlose anderseits das gerade Gegenteil von allem Frommen, sich selbst aber gleich und hat nicht alles, was gottlos sein soll, insofern als es gottlos ist, ein und dasselbe Wesen r“

Euthyphron. Ganz gewiß, lieber Sokrates.

Sechstes Kapitel.

Sokrates. Sage mir nun: Was verstehst du unter Fromm und was unter Grottlos

Euthyphron. Ich sage also: „Fromm ist eben das, was ich jetzt tue, nämlich gegen einen Übeltäter, der sich durch Mord oder Tempelraub oder ein anderes Verbrechen solcher Art vergangen hat, gerichtlich vorzugehen, mag es nun der Vater oder die Mutter oder sonst wer sein; aber gegen ihn nicht vorzugehen ist gottlos.“ Denn merke auf, mein Sokrates, einen wie schlagenden Beweis ich dir da- für anführen werde, dab das die gesetzliche Weise zu handeln ist, einen Beweis, den ich auch schon anderen gegenüber dafür geltend gemacht habe, daß das rechte Ver- halten doch wohl darin besteht, daß man dem Frevler sein Unrecht nicht hingehen läßt, er sei auch, wer er sei. Ganz von selbst halten die Menschen Zeus für den besten und gerechtesten der Götter, und von diesem Gotte sagen "516 übereinstimmend, er habe seinen eigenen Vater in Fesseln 6 5

Eutliyphron. 75

geschlagen, weil er seine Söhne verschlang ohne recht- lichen Grund, und dieser wiederum habe seinen Vater entmannt um eben solcher Taten willen‘); mir aber zür- nen sie, daß ich gegen meinen Vater gerichtlich vorgehe, der ein großes Unrecht begangen hat, und so widersprechen sie sich selbst in bezug auf die Götter und auf mich. Sokrates. Lieber Euthyphron, das ist wohl der Grund, zur Anklage gegen mich, daß es mich mit großem Unwillen erfüllt, wenn einer von den Göttern solche Dinge sagt. Und darum eben, so scheint es, wird mancher sagen, ich versündige mich. Wenn nun auch du, der auf diesem Gebiete ein so bedeutendes Wissen besitzt, an solche Dinge glaubst, so müssen wir zustimmen, denn was könnten wir dagegen sagen, wir, die wir selber zuge- stehen, hiervon nichts zu wissen!#)? Drum sage mir bei dem Gotte der Freundschaft): „Glaubst du wirklich an solche Vorkommnisse ?“ Euthyphron. Und an noch wunderbarere als diese, von denen die meisten Menschen gar nichts wissen. Sokrates. Also glaubst du, die Götter führen wirk- lich untereinander Krieg, und es kommen zwischen ihnen schreckliche Feindschaften vor und Schlachten und vieles andere solcher Art, wie es sich in den Erzählungen der Dichter findet und auf den Bildern, mit denen die guten Maler unsere Heiligtümer bemalt haben, und so ist denn auch das Gewand der Göttin, das an den großen Panathenäen auf die Akropolis gefahren wird, voll von solchen Stickereien!6). Sollen wir sagen, daß diese Ge- schichten und Darstellungen auf Wahrheit beruhen ? Euthyphron. Nicht allein von diesen soll das gelten, sondern, wie gesagt, wenn du willst, so werde ich dir noch vieles andere von den Göttern erzählen, was dich ganz gewib in grenzenloses Erstaunen versetzen wird.

Siebentes Kapitel.

Sokrates. Das sollte mich nicht wundernehmen. Doch das kannst du mir ein andermal erzählen, wenn wir

76 Platons Dialoge.

Zeit dazu haben; jetzt aber versuche mir das deutlicher anzugeben, wonach ich dich eben fragte. Denn vorhin, mein Freund, hast du mich nicht ausreichend belehrt, als ich dich fragte, was denn das Fromme sei, sondern hast mir gesagt, das eben sei fromm, was du jetzt damit tust, daß du deinen Vater wegen Mordes anklagst!?).

Euthyphron. Und damit, Sokrates, sagte ich die Wahrheit. E-

Sokrates. Vielleicht. Aber, lieber Euthyphron, du nennst ja noch viele andere Handlungen fromm.

Euthyphron. So ist es ja auch.

Sokrates. Erinnerst du dich nun, daß ich dich nicht dazu aufforderte, mich über eine oder zwei der vielen frommen Handlungen zu belehren, sondern über das Wesen selbst18), durch welches alles Fromme fromm ist? Denn du sagtest doch wohl, durch ein und dasselbe Wesen sei alles Gottlose gottlos und alles Fromme fromm. Erinnerst du dich nicht?

Euthyphron. Gewib.

Sokrates. Demnach belehre mich über dieses Wesen |

selbst, was es denn ist, damit ich auf dasselbe hinblicke und es als Muster brauchen kann und so Handlungen von dir oder irgendeinem anderen, die ihm entsprechen, als fromm bezeichne, die aber, die ihm nicht entsprechen, nicht so nenne.

Euthyphron. Wenn du das wünschest, werde ich es dir auch in dieser Weise darlegen.

Sokrates. Gewiß ist das mein Wunsch.

Euthyphron. Fromm ist also das den Göttern An- genehme, aber das ihnen nicht Angenehme ist gottlos.

Sokrates. Sehr schön!), Euthyphron. Wie ich wünschte, daß du antworten möchtest, so hast du jetzt ge- antwortet, ob jedoch richtig, das weiß ich noch nicht; doch wirst du mich offenbar darüber noch belehren, daß, was du sagst, richtig ist.

Euthyphron. Ganz gewiß,

ER

Euthyphron. 7

Achtes Kapitel.

Sokrates. Wohlan denn! Laß uns zusehen, wie es mit unserer Erklärung steht. Das den Göttern Angenehme und der den Göttern angenehme Mensch ist fromm, aber das den Göttern Verhaßte und der den Göttern verhaßte Mensch ist gottlos. Es ist aber das Fromme nicht dasselbe wie das Gottlose, sondern sein gerades Gegenteil. Ist es nicht so?

Euthyphron. Auf jeden Fall ist so gesagt worden 30).

Sokrates. Und scheint das Gesagte auch zutreffend ?

Euthyphron. Ich glaube, mein Sokrates.

Sokrates. Ist nun nicht auch das behauptet worden, mein Euthyphron, daß die Götter untereinander hadern und streiten und gegenseitige Feindschaft unter ihnen herrscht ?

Euthyphron. Allerdings ist das gesagt worden.

Sokrates. Auf welchem Gebiete aber, mein Bester, muß sich die Meinungsverschiedenheit bewegen, wenn sie Feindschaft und Ausbrüche des Zornes hervorrufen soll? Laß uns die Sache so betrachten! Wenn wir beide, ich und du, über eine Zahl verschiedener Meinung wären, welche von zwei Arten von Gegenständen in größerer An- zahl vorhanden seien, würde die Meinungsverschiedenheit in diesem Punkte uns zu Feinden machen und gegenein- ander aufbringen, oder würden wir vielmehr zur Auszäh- lung schreiten und so damit schnell ins Reine kommen ?

Euthyphron. Ganz gewiß.

Sokrates. Würden wir nun nicht auch, wenn wir über Größer und Kleiner verschiedener Ansicht wären, zur Ausmessung schreiten und so der Meinungsverschie- denheit ein rasches Ende bereiten ?

Euthyphron. So ist es.

Sokrates. Und über Schwerer und Leichter, denk ich, würden wir uns einigen, wenn wir zum Wägen schritten ? |

Euthyphron. Warum denn nicht?

78 Platons Dialoge.

Sokrates. Worüber nun müssen wir verschiedener Meinung sein und aubßerstande, zu einer Entscheidung zu kommen, wenn wir einander feind werden und uns er- zürnen sollen? Vielleicht ist es dir nicht gegenwärtig; . drum will ich es sagen, und du magst zusehen, ob es folgende Dinge sind: das Gerechte und das Ungerechte, das Schöne und das Häßliche®!), das Gute und das Böse. Sind das nicht die Gegenstände, bei denen Meinungsver- schiedenheit und Unvermögen zu einer genügenden Ent- scheidung über sie zu kommen, dahin führen, daß wir ein- ander feind werden, im Falle wir es werden, ich und du und alle anderen Menschen?

Euthyphron. Die Meinungsverschiedenheit, mein Sokrates, die sich auf diese Gegenstände bezieht, kommt in Betracht.

Sokrates. Wie steht es nun mit den Göttern, mein Euthyphron ? Werden sie nicht, wenn sie überhaupt über etwas verschiedener Meinung sind2), eben hierüber ver- schiedener Meinung sein ?

Euthyphron. Ganz unbedingt.

Sokrates. Also halten nach dem, was du sagst, edler Euthyphron, auch von den Göttern die einen dies, die an- deren jenes für gerecht und ungerecht, und für schön und häßblich und für gut und böse. Denn sie würden sich wohl nicht entzweien, wenn sie nicht hierüber verschie- dener Ansicht wären. Meinst du nicht?

Euthyphron. Du hast recht.

Sokrates. Es lieben nun doch wohl auch jegliche eben das, was sie für schön und für gut und gerecht halten, das Gegenteil davon aber hassen sie?

Euthyphron. Durchaus. |

Sokrates. Ein und dasselbe halten also nach deiner Rede die einen für gerecht, die anderen für ungerecht, und indem sie darüber verschiedener Ansicht sind, entzweien 8 s sie sich und kämpfen sie miteinander. Ist es nicht so?

Euthyphron. So ist es.

Euthyphron. _ 79

Sokrates. Ein und dasselbe also wird, wie es scheint, von den Göttern gehaßt und geliebt, und so wird ein und dasselbe den Göttern verhaßt und den Göttern angenehm sein.

Euthyphron. Es sieht so aus.

Sokrates. Und so wäre nach dieser Rede ein und dasselbe fromm und gottlos.

Euthyphron. Es scheint so.

Neuntes Kapitel.

Sokrates. Also hast du nicht auf meine Frage ge- antwortet, du Trefflichster. Denn natürlich habe ich dich nicht nach dem gefragt, was als ein und dasselbe fromm und gottlos ist, und was den Göttern zugleich angenehm und auch verhaßt ist2®). Daher ist es hinsichtlich dessen, was du jetzt tust, wo du deinen Vater der Strafe überant- worten willst, gar nicht zu verwundern, wenn du mit diesem Beginnen etwas tust, was dem Zeus angenehm ist, dem Kronos aber und dem Uranos verhaßt, und dem He- phästos lieb, der Hera aber verhaßt®), und falls sonst einer von den Göttern mit einem anderen hierüber verschiedener Ansicht ist, du auch diesen in derselben Weise, je nach dem, was einer getan oder erlitten hat, Wohlgefälliges oder Verhaßtes tust.

Euthyphron. Sokrates, ich glaube doch, darin stimmen alle überein, daß büßen muß, wer einen mit Un- recht getötet hat. |

Sokrates. Wie denn? Hast du schon einmal irgend wen auf der ganzen Welt das bestreiten hören, daß, wer einen mit Unrecht getötet oder sonst irgendein Un- recht begangen hat, dafür büßen muß?

Euthyphron. In Wirklichkeit hören sie gar nicht auf, das zu bestreiten, namentlich vor Gericht. Nachdem sie Unrecht über Unrecht begangen haben, tun und sagen sie alles Mögliche, um der Strafe zu entgehen.

Sokrates. Gestehen sie denn auch ihr Unrecht ein,

80 Platons Dialoge.

und behaupten sie dann trotz des Eingeständnisses, dab sie nicht bestraft werden dürfen ?

Euthyphron. Das allerdings nicht.

Sokrates. Also tun und sagen sie nicht alles Mög- liche; denn das, denke ich, wagen sie nicht zu bestreiten, daß, haben sie unrecht getan, sie dafür auch büßen müssen, sondern sie behaupten, meine ich, kein Unrecht getan z haben.

Euthyphron. Du hast recht. |

Sokrates. Das also bestreiten sie nicht, daß, wer unrecht getan hat, dafür büßen muß; aber darüber rechten sie wohl, wer es ist, der unrecht getan hat und womit und unter welchen Umständen).

Euthyphron. Ganz recht.

Sokrates. Verhält es sich denn nicht mit den Göttern genau so, wenn anders die Götter über Recht und Unrecht uneins sind, wie deine Rede lautet, und behaupten nicht herüber und hinüber die einen von den anderen, daß sie ihnen unrecht tun, während die Beschuldigten es in Ab- rede stellen? Denn das, du Trefflichster, wagt wohl kein Gott und kein Mensch zu behaupten, daß, wer unrecht tut, nicht büßen müsse.

Euthyphron. Jawohl, damit hast du recht, Sokrates, wenigstens in der Hauptsache.

Sokrates. Über die Tat, denke ich, mein Euthy- phron, streiten in jedem Falle die, die da streiten, sowohl Götter als Menschen, wenn Götter überhaupt untereinander streiten; wenn sie über irgendeine Tat in ihrem Urteil aus- einander gehen, behaupten die einen, sie sei mit Recht vollbracht, die anderen, mit Unrecht. Ist dem nicht so?

Euthyphron. Ganz gewiß.

Zehntes Kapitel.

Sokrates. Wohlan nun, lieber Euthyphron, belehre auch mich, auf daß ich weiser werde. Welchen Beweis hast Du dafür, daß alle Götter der Ansicht sind, der sei

Euthyphron. 81

mit Unrecht getötet, der als Tagelöhner zum Mörder ge- worden, gefesselt von dem Herrn des Getöteten, infolge der Fesseln starb, bevor der, der ihn gefesselt, von den Aus- legern des heiligen Rechtes erfuhr, was er mit ihm an- fangen solle, und daß es recht ist, daß für einen solchen der Sohn gegen seinen Vater gerichtlich vorgeht und ihn wegen Mordes verklagt?*)? ‘Wohlan! Versuche hierfür mir einen klaren Beweis zu erbringen, daß durchaus alle Götter dieses Verfahren für richtig halten. Wenn du mir das genügend nachweist, so werde ich nimmer aufhören, dich wegen deiner Weisheit zu preisen.

Euthyphron. Diese Aufgabe führt doch wohl zu weit, wenn ich auch in der Lage wäre, dir dies ganz klar darzutun.

Sokrates. Ich verstehe. Du redest so, weil ich in deinen Augen schwerer von Begriffen bin als die Richter; denn diesen wirst du offenbar den Nachweis führen, dab solches Tun ungerecht ist und alle Götter es hassen.

Euthyphron. Ganz klar werde ich es ihnen bewei- sen, o Sokrates, wenn sie nur auf meine Worte hören.

Elftes Kapitel.

Sokrates. Sie werden schon auf dich hören, sofern ihnen deine Worte gefallen). Während deiner Rede aber kam mir folgender Gedanke, und ich erwäge ihn bei mir: „Wenn mich Euthyphron auch zehnmal zu der Erkenntnis bringen sollte, daß die Götter insgesamt eine solche Her- beiführung des Todes für ein Unrecht halten, was habe ich da durch Euthyphron an Erkenntnis gewonnen für die Beantwortung der Frage, was denn Fromm, was Gottlos ist? Denn der Gottheit verhaßt wäre offenbar diese Tat. Aber nicht hierdurch erschien soeben das Fromme und das Unfromme bestimmt?2). Denn das der Gottheit Verhaßte zeigte sich auch als der Gottheit Angenehm. Darum er- lasse ich dir diese Aufgabe, mein Euthyphron. Wenn du willst, mögen jene Tat alle Götter für ungerecht halten

Platon Laches und Euthyphron, Phil. Bibl. Ba. 178. 6

89 Platons Dialoge.

und mögen sie alle hassen. Doch wollen wir jetzt unsere Erklärung dahin berichtigen, daß was alle Götter hassen, gottlos ist, was sie aber lieben, fromm, was aber die einen lieben und die anderen hassen, keines von beiden ist oder beides? Willst du, daß dies jetzt unsere Definition von Fromm und Gottlos sein soll?

Euthyphron. Was hindert uns daran, lieber So- krates Ar

Sokrates. Mich gar nichts, mein Euthyphron, aber gerade du fasse deine Aufgabe ins Auge, ob du bei dieser Annahme mir am leichtesten die versprochene Belehrung geben kannst.

Euthyphron. Ich möchte sagen: Fromm ist das, was alle Götter lieben, und das Gegenteil davon, das, was alle Götter hassen, gottlos.

Sokrates. Wollen wir nun nicht auch erwägen, lieber Euthyphron, ob dieser Satz richtig ist, oder wollen wir ihn auf sich beruhen lassen und so ohne weiteres mit

uns und mit andern zufrieden sein, indem wir einfach Ja

dazu sagen, wenn einer nur behauptet, etwas verhalte sich so und so? oder sollen wir näher zusehen, wie es mit dem steht, was einer sagt?

Euthyphron. ‘Wir müssen näher zusehen; doch glaube ich, dab das jetzt Gesagte richtig ist.

Zwölftes Kapitel.

Sokrates. Bald, mein Guter, werden wir es besser wissen. Bedenke nämlich folgendes: Wird das Fromme von den Göttern geliebt, weil es fromm ist, oder ist es fromm, weil es geliebt wird ?

Euthyphron. Ich weiß nicht, was du meinst, mein Sokrates. |

Sokrates. So will ich versuchen, deutlicher zu sein. Wir reden von einem Getragenen und von einem Tragen- den, von einem Geführten und einem Führenden, von einem Gesehenen und einem Sehenden; und du verstehst,

Euthyphron. 83

daß alle diese Dinge voneinander verschieden sind, und inwiefern sie es sind.

Euthyphron. Ich glaube es zu verstehen.

Sokrates. Ist nun nicht auch etwas ein Geliebtes und das Liebende von ihm verschieden ?

Euthyphron. Wie sollte es denn nicht?

Sokrates. Sage mir nun, ist das Getragene, des- wegen weil es getragen wird, ein Getragenes, oder aus irgendwelchem anderen Grunde?

Euthyphron. Nein, aus diesem Grunde.

Sokrates. Und so ist denn auch das Geführte des- wegen, weil es geführt wird, ein Geführtes, und das Ge- sehene deswegen, weil es gesehen wird, ein Gesehenes?

Euthyphron. Ganz gewiß.

Sokrates. Also nicht weil es ein Gesehenes ist, des- wegen wird es gesehen, sondern im Gegenteil, weil es ge- sehen wird, deswegen ist es ein Gesehenes, und auch nicht weil es ein Geführtes ist, deswegen wird es geführt, son- dern weil es geführt wird, deswegen ist es ein Geführtes, und nicht weil es ein Getragenes ist, deswegen wird es getragen, sondern weil es getragen wird, deswegen ist es ein Getragenes. Ist dir deutlich, Euthyphron, was ich sagen will? Ich will nämlich folgendes sagen. Wenn mit einer Sache etwas vorgenommen wird oder sie etwas er- leidet2®), so wird nicht mit ihr etwas vorgenommen, weil sie etwas ist, mit dem etwas vorgenommen wird, sondern weil mit ihr etwas vorgenommen wird, ist sie etwas, mit dem etwas vorgenommen wird; und ebensowenig leidet etwas, weil es ein Leidendes ist, sondern es ist ein Lei- dendes, weil es etwas erleidet. Stimmst du dem nicht zu?

Euthyphron. Gewiß.

Sokrates. Ist nun nicht auch das Geliebte etwas, mit dem etwas vorgenommen wird oder das von einem etwas erleidet?

Euthyphron. Sicherlich.

Sokrates. Demnach verhält es sich auch hiermit ebenso, wie mit den vorhergehenden Dingen: nicht weil

6*

84 Platons Dialoge.

es geliebt ist, wird es von denen geliebt, die es lieben, sondern weil es geliebt wird, ist es geliebt.

Euthyphron. Ganz unbedingt.

Sokrates. Was sagen wir denn nun über das Fromme, mein Euthyphron? Es wird doch wohl nach deiner Erklärung von allen Göttern geliebt?

Euthyphron. Jawohl.

Sokrates. Deswegen weil es fromm ist oder aus irgendwelchem anderen Grunde?

Euthyphron. Nein, aus diesem Grunde.

Sokrates. Also weil es fromm ist, wird es geliebt; es ist aber nicht deswegen fromm, weil es geliebt wird?

Euthyphron. Offenbar.

Sokrates. Aber das Gottgeliebte ist, weil es von den Göttern geliebt wird, ein von den Göttern (reliebtes und Gottgeliebtes3) ?

Euthyphron. Wie sollte es nicht?

Sokrates. Also ist Gottgeliebt nicht identisch mit Fromm, lieber Euthyphron, und auch Fromm nicht iden- tisch mit Gottgeliebt, wie du behauptest, sondern das eine ist von dem anderen verschieden.

Euthyphron. Wieso denn, Sokrates?

Sokrates. Weil wir einverstanden sind, daß das Fromme deswegen geliebt wird, weil es fromm ist, und nicht deswegen fromm ist, weil es geliebt wird. Nicht wahr?

Euthyphron. Jawohl.

|Dreizehntes Kapitel.]

Sokrates. Daß aber das Gottgeliebte, weil es von den Göttern geliebt wird, eben infolge davon, daß es ge- liebt wird, gottgeliebt ist, aber nicht, weil es gottgeliebht ist, deswegen geliebt werde?).

Euthyphron. Ganz recht.

Sokrates. Wenn hingegen®?), mein lieber Euthy-

ι1 St.

Euthyphron. ΩΡ

phron, Gottgeliebt und Fromm dem Begriffe nach dasselbe wären, so würde sich folgendes ergeben: Da das Fromme geliebt wird, weil es fromm ist, so müßte auch das Gott- geliebte geliebt werden, weil es gottgeliebt ist, und da das Gottgeliebte gottgeliebt ist, weil es von den Göttern ge- liebt wird, so müßte auch das Fromme fromm sein, weil es geliebt wird. Nun aber siehst du, daß gerade das Gegen- teil bei ihnen stattfindet, da sie durchaus voneinander verschieden sind. Denn das eine, das Gottgeliebte, ist, weil es geliebt wird, solcher Art, daß es geliebt wird, das an- dere aber, das Fromme, wird deswegen geliebt, weil es solcher Art ist, daß es geliebt wird). Und nun muß ich gestehen, es hat ganz den Anschein, als ob du, lieber Eu- thyphron, auf die Frage, was denn das Fromme sei, nicht geneigt wärest, mir sein Wesen zu enthüllen, sondern nur ein Leiden von ihm anzugeben und zu sagen, was diesem Frommen widerfährt, nämlich, daß es von allen Göttern geliebt werde, was aber sein Wesen ist, das solches bewirkt, das hast du noch nicht angegeben. Wenn es dir nun recht ist, so verbirg es mir nicht, sondern beginne noch einmal von vorn und sage, was denn das Fromme ist, daß es von den Göttern geliebt wird oder sonst etwas er- leidet; denn über dieses letztere, über das, was ihm wider- fährt, werden unsere Ansichten nicht auseinander gehen. Drum sage getrost: was ist Fromm, was Gottlos3#) Euthyphron. O Sokrates, ich vermag nicht in Worte zu fassen, was ich hierüber denke. Denn was wir auf- stellen, das geht jedesmal wie im Kreise herum und will nicht auf dem Platze bleiben, auf den wir es gestellt haben. | Sokrates. Was du sagst, mein Euthyphron, scheint, auf unsern Ahnherrn Daidalos>5) zu passen. Wenn ich das sagte und aufstellte, so würdest du dich wohl über mich lustig machen, dab also auch mir infolge meiner Verwandt- schaft mit jenem meine Gebilde in Worten davonlaufen und nicht da bleiben, wohin man sie gestellt hat. So aber sind ja die Sätze von dir, also muß der Scherz eine an-

89 Platons Dialoge.

dere Wendung nehmen. Denn du bist es, dem sie nicht standhalten wollen, wie du auch selbst merkst.

Euthyphron. Nach meiner Meinung, o Sokrates, fordert das Gesagte so ziemlich denselben Spott heraus, denn nicht ich bin es, der diesen Kreislauf und diese Flatterhaftigkeit in unsere Sätze hineinlegt, sondern du scheinst mir der Daidalos zu sein; denn soweit es auf mich ankommt, blieben sie so, wie sie sind.

Sokrates. Also scheine ich, mein Freund, jenen berühmten Mann in der Kunst weit zu übertreffen, inso- fern als der nur seine eigenen Werke so schuf, daß sie nicht an ihrem Platze blieben, während ich dieselbe Wir- kung außer bei meinen Werken, wie es scheint, auch bei den Werken anderer hervorbringe. Und gewiß ist das an meiner Kunst das Auffallendste, daß ich gegen meinen Willen ein großer Künstler bin. Denn daß die aufgestellten Sätze bleiben und fest begrünaet sein möchten, das wäre mir weit lieber, als zu der Kunst des Daidalos die Schätze des 'Tantalos3®) hinzuzugewinnen. Doch lassen wir das nun genug sein. Da du mir aber kein Freund von An- strengungen zu sein scheinst, werde ich selbst mich mit- bemühen, daß du mich über das Fromme belehrst. Er- matte nur nicht zu früh. Sieh denn, ob es dir nicht als notwendig erscheint, daß das Fromme seinem ganzen Um- fange nach gerecht ist3”).

Euthyphron. Gewiß.

Sokrates. Ist nun auch das Gerechte seinem ganzen Umfange nach fromm, oder ist zwar das Fromme seinem ganzen Umfange nach gerecht, das Gerechte aber nicht 19 s seinem ganzen Umfange nach fromm, sondern der eine Teil von ihm ist fromm, ein anderer Teil aber etwas anderes ? |

Euthyphron. Lieber Sokrates, ich bin nicht im- stande, deinen Auseinandersetzungen zu folgen.

Sokrates. Und doch stehst du mir nicht weniger an Jahren nach, als ich dir an Weisheit. Aber, wie gesagt, infolge der Fülle deiner ‘Weisheit scheust du die An-

Euthyphron. 87

strengung. Drum, du Glücklicher, nimm dich zusammen. Es ist ja auch gar nicht schwer, meine Worte zu ver- stehen. Ich meine nämlich gerade das Gegenteil von dem, was der Dichter®®) in den Versen gesagt hat:

Zeus, der das alles vollbracht

und das alles®®) gepflanzt hat,

Willst du nicht nennen; denn

da wo Furcht ist, waltet die Scham) auch.

Ich weiche nun insofern von dem Dichter ab soll ich dir sagen, in wiefern

Euthyphron. Gewiß.

Sokrates. Nach meiner Ansicht waltet nicht überall da, wo Furcht ist, auch Scham; denn viele, die Krank- heiten und Armut und vieles andere dieser Art fürchten, scheinen mir zwar diese Übel zu fürchten, keineswegs aber sich dessen zu schämen, was sie fürchten. Ist das nicht auch deine Meinung’?

Euthyphron. Ganz gewib.

Sokrates. Aber wo Scham ist, da ist, meine ich, auch Furcht; denn gibt es einen, der, wenn er eine Tat scheut und sich ihrer schämt, nicht zugleich in Furcht wäre und in Sorge vor dem Rufe der Schlechtigkeit ?

Euthyphron. Ganz gewiß ist er in Sorge.

Sokrates. Also ist es nicht richtig zu sagen: „denn wo Furcht ist, da waltet die Scham auch“, sondern wo Scham ist, da ist auch Furcht; nicht jedoch, wo Furcht ist, ist überall Scham; denn umfassender, denke ich, ist der Begriff der Furcht als der Begriff der Scham; denn die Scham ist ein Teil) der Furcht, gleichwie das Un- gerade ein Teil der Zahl, so daß nicht überall, wo eine Zahl ist, da auch ein Ungerades ist, wohl aber wo ein Ungerades ist, da auch eine Zahl ist. Nunmehr kannst du mir wohl folgen?

Euthyphron. Gewiß.

Sokrates. Ein solches Verhältnis nun hatte ich auch vorhin im Auge, als ich fragte: „Ist, wo Gerechtes ist, da

88 Platons Dialoge.

auch Frommes? Oder ist zwar da, wo Frommes ist, auch Gerechtes, aber wo Greerechtes ist, nicht überall Frommes, denn das Fromme ist ein Teil des Gerechten ?“ Wollen wir ‘so sagen oder bist du anderer Ansicht?

Euthyphron. Nein, so; denn deine Darlegung scheint mir richtig.

Vierzehntes Kapitel.

Sokrates. Betrachte denn das Weitere. Wenn das Fromme ein Teil des Gerechten ist, so müssen wir eben, wie es scheint, ausfindig machen, welcher Teil des Ge- rechten das Fromme wohl ist. Wenn du mich nun nach einem der eben genannten Gegenstände fragtest, z. B. welcher Teil der Zahl das Gerade sei und welche Zahl die gerade Zahl, so würde ich sagen: die, welche nicht dem ungleichseitigen Dreiecke entspricht, sondern dem gleich- schenkligen“2). Oder ist das nicht deine Ansicht?

Euthyphron. Gewib,.

Sokrates. Versuche nun auch du mich in dieser Weise zu belehren, welcher Teil des Gerechten das Fromme ist, damit wir auch Meletos sagen können, er solle uns nicht weiter unrecht tun und solle seine Klage auf Gott- losigkeit fallen lassen, da wir von dir bereits zur Genüge über das Wesen der Gottesfurcht und Frömmigkeit und ihres Gegenteiles belehrt worden seien.

Euthyphron. Mir scheint also, mein Sokrates, der Teil der Gerechtigkeit Gottesfurcht und Frömmigkeit zu sein, der es mit der den Göttern zugewandten Sorge zu tun hat, der Teil aber, der es mit der Sorge für die Menschen zu tun hat, scheint mir der übrige Teil der Ge- rechtigkeit zu sein®#).

Fünfzehntes Kapitel.

Sokrates. Damit scheinst du mir recht zu haben, lieber Euthyphron; doch fehlt mir noch eine Kleinigkeit.

Futhyphron, 8.

ı3 85ι. Ich verstehe nämlich noch nicht, was du „Sorge“ nennst. Denn du meinst doch wohl nicht, von derselben Art wie die Sorge für andere Wesen, sei auch die den Göttern zugewandte Sorge. Wir sagen doch wohl“) zum Bei- spiel sagen wir: nicht ein jeder versteht für Pferde zu sorgen, sondern der Stallmeister. Nicht wahr?

Euthyphron. Ganz gewib.-

Sokrates. Die Kunst des Stallmeisters besteht ja in der Sorge für die Pferde.

Euthyphron. Sicherlich.

Sokrates. Und so versteht auch für Hunde nicht ein jeder zu sorgen, sondern der Weidmann.

Euthyphron. So ist es.

Sokrates. Die Kunst des Weidmanns®>) besteht ja, meine ich, in der Sorge für die Hunde.

Euthyphron. Jawohl.

Sokrates. Und die Kunst des Rinderhirten in der Sorge für die Rinder.

Euthyphron. Gewib.

Sokrates. Also besteht die Frömmigkeit und Gottes- furcht in der Sorge für die Götter, mein Euthyphron ? Ist das deine Meinung’?

Euthyphron. Jawohl.

Sokrates. Verfolgt nun nicht eine jede Sorge ein und dasselbe Ziel? Ich denke dabei an folgendes. Die Sorge bezweckt etwas Gutes und eine Förderung des Gegenstandes, für den sie sorgt, wie du ja siehst, daß die Pferde, für die die Kunst des Stallmeisters sorgt, davon Nutzen haben und besser werden. Oder scheint es dir nicht so?

Euthyphron. Jawohl. _

Sokrates. Und so haben wohl auch die Hunde von der Kunst des Weidmanns Gewinn, und die Rinder von der des Rinderhirten und alle andern Tiere in gleicher Weise. Oder meinst du, daß die Fürsorge die Schädigung ihres Gegenstandes zum Ziele habe?

20 Platons Dialoge.

Euthyphron. Beim Zeus! Das glaub’ ich nicht,

Sokrates. Sondern den Nutzen ?

Euthyphron. Wie sollte sie nicht?

Sokrates. Also ist auch die Frömmigkeit als Sorge für die Götter ein Nutzen für die Götter und macht die Götter besser? Und würdest du das gelten lassen, daß, so oft du eine fromme Tat vollbringst, du irgend einen der Götter besser machst ? |

Euthyphron. Beim Zeus! Das mein’ ich nicht.

Sokrates. Ich glaube auch nicht, Euthyphron, daß du das meinst. Ich bin wirklich weit davon entfernt. Des- wegen eben fragte ich auch, was du denn unter der Sorge für die Götter verstündest, da ich nicht annahm, daß du cine solche meintest.

Euthyphron. Und das mit Recht, mein Sokrates; eine solche meine ich auch nicht.

Sokrates. Nun gut! Aber was für eine Sorge für die Götter wäre denn nun die Frömmigkeit?

Euthyphron. Genau dieselbe, wie die, die Sklaven ihren Herren zuwenden.

Sokrates. Ich verstehe. Wie es scheint, ist sie eine Sorge, die sich in den Dienst der Götter stellt.

Euthyphron. Ganz gewiß.

Sechzehntes Kapitel.

Sokrates. Kannst du nun wohl sagen, zur Hervor- bringung welches Werkes die im Dienste der Ärzte ste- hende Sorge dienstbar ist? Meinst du nicht, zur Hervor- bringung der Gesundheit?

Euthyphron. Jawohl.

Sokrates. Wie steht es denn nun mit der den Schiffs- baumeistern dienstbaren Sorge? Zur Hervorbringung wel- ches Werkes leiht sie ihre Dienste

Euthyphron. Offenbar, lieber Sokrates, zur Her- vorbringung eines Fahrzeuges.

14 St.

Kuthyphron. ΟἹ

Sokrates. Und die den Baumeistern dienstbare wohl zur Hervorbringung eines Hauses ?

Euthyphron. Ja.

Sokrates. Sage mir, mein Bester, zur Hervorbrin- gung welches Werkes leistet wohl die den Göttern dienst- bare Sorge Dienste? Offenbar weißt du das, da du be- hauptest, auf dem Gebiete der Religion von allen Men- schen am besten Bescheid zu wissen.

Euthyphron. Und damit sage ich die Wahrheit, Sokrates. |

Sokrates. Sage also beim Zeus, welches ist denn jenes ganz schöne Werk, zu dessen Hervorbringung uns die Götter als Gehilfen brauchen ?

Euthyphron. Der schönen Werke, lieber Sokrates, die sie vollbringen, sind viele.

Sokrates. Ihrer viele vollbringen ja auch die Feld- herren, mein Lieber! Gleichwohl könntest du leicht ihr Hauptwerk angeben, den Sieg im Kampfe. Oder nicht?

Euthyphron. Wie so denn nicht?

Sokrates. Viele schöne Werke bringen, glaub’ ich, auch die Landwirte hervor. Gleichwohl ist die Haupt- sache bei ihrer hervorbringenden Tätigkeit die Gewinnung der Nahrung aus dem Boden der Erde.

Euthyphron. Sehr wohl.

Sokrates. Wie aber nun? Was ist bei den vielen schönen Werken, die die Götter hervorbringen, die Haupt- sache bei ihrer Tätigkeit?

Euthyphron. Schon kurz vorher sagte ich dir, Sokrates, dad es eine zu umfassende Aufgabe sei, genau zu erkennen, wie sich das alles verhält. Das jedoch sage ich dir ohne viele Worte, wenn einer es versteht, den Göttern Angenehmes zu sagen und zu tun in Gebet und Opfer, das sind die frommen Werke, und solches Tun erhält die Familien und das Gemeinwesen der Staaten. Das dem wohlgefälligen Tun aber entgegengesetzte Tun ist gottlos, und dies stürzt eben alles um und richtet alles zugrunde.

92 Platons Dialoge,

Siebzehntes Kapitel.

Sokrates. Fürwahr, Euthyphron, wenn du nur woll- test, so hättest du mit viel weniger Worten, das haupt- sächlichste von den Werken angeben können, die in Frage kamen. Doch du bist eben nicht geneigt, mich zu belehren. Das ist ganz klar. Denn auch jetzt, wo du dicht davor standest, bist du wieder abgewichen, und doch, hättest du mir diese Antwort noch gegeben, so wäre ich bereits hin- reichend von dir über das Wesen der Frömmigkeit be- lehrt. So aber es muß ja der Fragende dem Gefragten folgen, wohin der ihn führt wie bestimmst du nun wiederum das Wesen von Fromm und Frömmigkeit? Nicht als eine Wissenschaft, wie man zu opfern und zu beten hat?

Euthyphron. Jawohl.

Sokrates. Ist nun nicht Opfern soviel als den (Göttern etwas schenken, Beten aber soviel als die Götter um etwas bitten ?

Euthyphron. Gar wohl, o Sokrates.

Sokrates. Nach diesem Satze wäre also die Fröm- migkeit ein Wissen, wie man die Götter um etwas bitten und wie man ihnen etwas schenken soll.

Euthyphron. Ganz richtig, Sokrates, hast du meine Worte verstanden.

Sokrates. Mein Lieber, ich bin ja ein Freund deiner Weisheit, und so achte ich auf sie und lasse mir keines deiner Worte entgehen. Doch sprich: Worin besteht denn dieser der Gottheit geweihte Dienst? Du meinst darin, dab wir von ihnen etwas erbitten und ihnen Gaben darbringen ?

Euthyphron. Jawonhl. |

Achtzehntes Kapitel.

Sokrates. Ist nun nicht das die rechte Bitte, daß wir sie um das bitten, dessen wir von ihnen bedürfen ? Euthyphron. Was denn sonst?

Euthyphron. . 93

Sokrates. Und anderseits, das die rechte Gabe, daß wir ihnen als Gegenleistung das geben, was sie von uns brauchen ? Denn es wäre doch wohl nicht vernünftig, wenn man einem etwas gibt, ihm das zu schenken, dessen er gar nicht bedarf.

Euthyphron. Da hast du recht, Sokrates.

Sokrates. Also wäre die Frömmigkeit, lieber Eu- thyphron, die Wissenschaft von einer Art gegenseitigen Handels zwischen Göttern und Menschen.

Euthyphron. Eine Handelswissenschaft ist sie, wenn es dir lieber ist, sie so zu nennen.

Sokrates. Nun und nimmermehr ist mir etwas lie- ber, wenn es nicht wahr ist. Doch sage mir: Welchen Nutzen haben die Götter von den Gaben, die sie von uns empfangen? Was sie geben, ist ja jedem offenbar; denn alles Gute, das wir besitzen, kommt von ihnen. Welchen Gewinn aber haben sie von den Gaben, die sie von uns

. empfangen? Sind wir etwa ihnen gegenüber bei dem

Handel so im Vorteile, daß wir alles Gute von ihnen empfangen, sie aber von uns gar nichts?

Euthyphron. Meinst du denn, mein Sokrates, daß die Götter Gewinn von dem haben, was sie von uns empfangen ?

Sokrates. Was wären denn diese Gaben, mein Eu- thyphron, die wir den Göttern spenden ?

Euthyphron. Was anderes, meinst du, als Preis und Ehrenerweisungen, und wie ich eben sagte, ein Wohl- gefallen 46)

Sokrates. Wohlgefällig also ist das Fromme den Göttern, aber nicht nützlich und auch nicht lieb?

Euthyphron. Meines Erachtens von allen Dingen ganz besonders lieb.

Sokrates. Also ist, wie es scheint, das Fromme wiederum das den Göttern Liebe?

Euthyphron. Ganz gewiß.

94 Platons Dialoge.

Neunzehntes Kapitel.

Sokrates. Und bei einer solchen Erklärung kannst du dich noch wundern, wenn es zutage tritt, daß deine Sätze nicht an ihrer Stelle bleiben, sondern davon laufen, und willst von mir behaupten, ich sei der Daidalos, der macht, daß sie davonlaufen, während du selbst ein viel größerer Künstler als Daidalos bist und bewirkst, daß sie im Kreise herumlaufen ? Merkst du denn nicht, daß un- sere Erörterung im Kreise herumgegangen und auf die- selbe Stelle zurückgekehrt ist? Denn du erinnerst dich doch wohl, daß im Vorhergehenden uns die Begriffe Fromm und Gottgeliebt nicht als identisch erschienen, sondern als voneinander verschieden. Oder weißt du das nicht mehr?

Euthyphron. Ich weiß es.

Sokrates. Siehst du nun nicht, daB du das den Göttern Liebe als Fromm bezeichnest? Dieses kommt aber doch auf das Gottgeliebte hinaus? Oder nicht?

Euthyphron. Ganz gewiß.

Sokrates. Also war entweder vorhin das Ergebnis unserer Erörterung nicht richtig, oder wenn das richtig war, so ist unsere jetzige Erklärung nicht richtig.

Euthyphron. Es scheint so.

Zwanzigstes Kapitel.

Sokrates. Also müssen wir mit der Betrachtung, was das Fromme sei, wieder von vorn anfangen; denn bevor ich das erkannt habe, werde ich freiwillig die Hände nicht in den Schoß legen. Drum halte mich deiner Be- lehrung nicht für unwert, sondern denke mit allem Ernste nach und sage mir nunmehr die Wahrheit. Denn wenn überhaupt jemand auf der Welt sie kennt, so kennst du sie, und so dürfen wir dich gleich Proteus“”) nicht eher los- lassen, als bis du sie gesagt hast. Denn wenn du nicht ganz genau wüßtest, was fromm und was gottlos ist, so

‚6 St.

Eutlyphron. ᾿ς 95

hättest du dich ganz gewiß nun und nimmermehr unter- fangen, wegen eines Tagelöhners deinen alten Vater mit einer Klage auf Mord zu verfolgen, sondern du hättest die Götter gescheut und dich nicht der Gefalr ausgesetzt, damit ein Unrecht zu begehen, und hättest dich vor den Menschen geschämt. So aber weiß ich sehr wohl, du ver- meinst ganz genau zu wissen, was Fromm ist und was nicht. Demnach sage es mir und verbirg mir deine An- sicht darüber nicht.

Euthyphron. Ein andermal also, mein Sokrates; denn jetzt muß ich rasch anderswohin, und es ist für mich hohe Zeit, weg zu gehen.

Sokrates. Was tust du, mein Freund! Du willst auf und davon, nachdem du mich um die große Hoffnung gebracht hast, belehrt von dir über das, was Fromm und was nicht Fromm ist, würde ich den Prozeß mit Meletos los werden durch den Nachweis, daß ich auf dem Gebiete der Religion bereits durch Euthyphron zu ausreichender Erkenntnis gelangt bin und nicht mehr aus Unwissenheit nach eigenem Gutdünken handele und neue Wege ein- schlage, und würde so auch mein übriges Leben als besserer Mensch hinbringen.

Anmerkungen zum Euthyphron.

1) 8.68. Lykeion, ein dem Apollon Lykeios geweihtes Gym- nasium, im Osten der Stadt außerhalb der Mauern am Ilissos gelegen, mit Säulenhallen und schattigen Baumgängen. Hier hielt sich Sokrates gern auf und hier lehrte später Aristoteles.

ὃ) 8.68. Die Halle des Basileus, die Königshalle, am Markte gelegen, war das Amtslokal des zweiten Archon. Als das Königtum in Athen abgeschafft wurde, trug man religiöse Bedenken, es auch in seiner hohenpriesterlichen Bedeutung abzuschaffen. Daher nannte man den zweiten Archon „König“, βασιλεύς. Vor diesen gehörten alle Rechtssachen, die Religion und Kultus betrafen, also auch die Klagen wegen Gottlosigkeit, die γραφαὲ ἀσεβείας, und die Klagen wegen Mordes, die γραφαὲ φόνου, die letzteren, weil bei ihnen vor allem die Blutrache in Betracht kam. Vor der Königshalle erscheint Eutbyphron als Kläger, Sokrates als Angeklagter. Der zweite Archon hatte nämlich in den bezeichneten Rechtsfällen den Prozeß ein- zuleiten, also die schriftlich abgefaßte Klage entgegenzunehmen, ebenso die Einrede des Angeklagten, den Kläger auf seine Anklage, den Angeklagten auf seine gleichfalls schriftlich eingereichte Einrede - zu vereidigen, die Zeugen zu verhören usw., sodann bei der Ver- handlung den Vorsitz zu führen, die Abstimmung vorzunehmen und für die Vollstreckung dieses Urteils zu sorgen.

8) 8.68. „Rechtsstreit“, „Kriminaiklage“ sind gewählt für die Übersetzung der griechischen Wörter dixn und γραφή. Von diesen bezeichnet δίκη als genus jede Art der Klage oder des Prozesses, als species die Frivatklage, den Privatprozeß, causa privata, der als zweite Art der Klage die γραφή, die Öffentliche Klage, die causa publica, der Kriminalprozeß gegenübersteht. Bei Euthyphrons Vater handelt es sich um Mord, bei Sokrates um Gottlosigkeit. Da bei Mord und Gottlosigkeit das Interesse des Staates, ja sein Bestand in Frage kommt, so waren die sich auf diese Vergehen beziehenden Prozesse in Athen natur gemäß Öffentliche Klagen. Die öffentlichen Klagen waren schriftlich einzureichen, daher ihre Bezeichnung als γραφαί.

*) 8.68. Die Hervorhebung, daß Meletos ein fast ganz un- bekannter junger Mensch sei, ist Ausdruck der Verachtung. Er war formell der Hauptankläger des Sokrates. Er reichte die Klageschriit ein, die von Anytos und Lykon mit unterschrieben war. Er war Dichter, und so erscheint er auch in der Apologie unter den drei Anklägern als. Vertreter der Dichter, während wir den Anytos als 1% td der Handwerker und Lykon als Vertreter der Volksredner inden.

Anmerkungen, 97

δ 8.69. „Die keimende Jugend“, Meletos war Dichter.

6) 8,69. 8 handelt sich um das bekannte δαιμόνιον des So- krates. „Das Göttliche“ bezeichnet in diesem Zusammenhange das (@öttliche im Menschen, das ist die Vernunft im Menschen, die ihren Grund und Ursprung in der göttlichen Vernunft hat. So wohnt die Gottheit in dem Menschen und offenbart in solcher Warnung ihre Fürsorge für ihn. Aber nur der Gute ist fähig, ihre Stimme zu vernehmen. Nach der vorliegenden Stelle sind Sokrates’ Außerungen über sein Daimonion fälschlich dahin ver- standen worden, daß er damit eine von den Göttern des Volks- laubens verschiedene Gottheit meine, Die Annahme, er denke abei an eine Mehrheit von Göttern, lag den Griechen bei ihrem polytheistischen Glauben nahe und wurde noch durch Sokrates’ Be- hauptung der Häufigkeit dieser ihm zuteil werdenden Offenbarung begünstigt.

?) 8.70. Es handelt sich bei Sokrates und bei Euthyphron um eine Art von Offenbarung. Allerdings sind die beiden Arten von einander sehr verschieden.

8) 8.70. Gemeint sind von dem Volksglauben abweichende Anschauungen auf religiösem Gebiete.

9) S. 71. Das Wort φόνος umfaßt im attischen Rechte Mord, Totschlag, fahrlässige Tötung und Verwundung in tödlicher Absicht.

10) S. 72. Euthyphron hält an dem alten Glauben fest, daß von dem durch ein Verbrechen unrein Gewordenen die Befleckung auf alle übergehe, die mit ihm in Berührung kommen, und zwar wird die Ansteckung um so größer, je inniger das Zusammensein ist. So wird der Herd- und Tischgenosse des Verbrechers schließlich ebenso unrein wie dieser selbst (ἴσον τὸ μίασμα γίγνεται) und kommt in gleiche Verdammnis. In solcher Lage ist der Sohn des Verbrechers, und darum muß dieser ganz besonders darauf bedacht sein, wieder rein von Schuld zu werden. Entsühnung kann er aber nur durch gerichtliche Verfolgung des Verbrechers herbeiführen. Durch eine solche entsühnt er sich und zugleich den Vater. So ist die Anklage im Grunde genommen auch für den Vater eine Wohltat. Darum trägt auch Euthyphron nicht das geringste Bedenken, gegen den eigenen Vater, mit einer Anklage auf Leben und Tod vorzugehen. Nach seiner Überzeugung ist sein Tun fromm, denn Frömmigkeit besteht in der Verfolgung des Unrechtes ohne Ansehen der Person, und ist heilsam zugleich für ihn und für den Vater.

ı1) S.73. Sokrates erklärt es unter den obwaltenden Verhält- nissen für das Beste, zur Beilegung des gegen ihn anhängig gemachten Prozesses Meletos zu einem außergerichtlichen Verfahren aufzufordern. Euthyphron hat sich soeben einer ganz außergewöhnlichen Kenntnis auf dem Gebiete der Religion gerühmt. War dem wirklich so, und war nun Sokrates der Schüler Euthyphrons, so konnte sich Meletos beruhigen, wenn Euthyphron die Rechtgläubigkeit des Sokrates he- zeugte. Glaubte Meletos an diese nicht, so war es das Richtige, statt des irregeleiteten Schülers den Lehrer, der ihn irregeleitet hatte, zu verfolgen. Tat Meletos weder das eine noch das andere, so konnte Sokrates die Verwerfung seines Vorschlages, bei dem er sich auf das große Ansehen des Meletos berufen hatte, bei der

Platon Laches und Euthyphron. Phil. Bibl. Bd. 178. 7

98 Euthyphron.

gerichtlichen Verhandlung gegen Meletos verwerten. Die Ironie, mit der ihn Sokrates behandelt, merkt Euthyphron in seiner Ein- bildung nicht.

12) S, 74. Xenophon MemorabilienII 9 empfiehlt Sokrates seinem Freunde Kriton den Archedemös, einen armen, aber braven und des Rechtes kundigen Mann, der ihn vor den Verfolgungen seiner Feinde sicherstellen könne. Dieser machte die Vergehen und die Feinde der böswilligen Ankläger Kritons ausfindig, bedrohte nunmehr sie selbst mit gerichtlichen Anklagen und zwang sie so, von der Ver- folgung Kritons abzulassen. Bald baten Kriton auch viele seiner Freunde, daß erihnen Archedemos als Helfer gegen die Sykophanten überlasse. Man sieht, der Gottesmann Euthyphron weiß sich recht gut mit weltlichen Mitteln zu helfen und bildet sich hierauf auch etwas ein.

13) Siehe S. 60 und Anmerkung dazu.

14) S. 75. Unter Wissen versteht Sokrates ein begriffliches Wissen, also ein Wissen im Sinne von Wissenschaft. Diesem Wissen des Menschen sind Grenzen gezogen. Das ganze metaphysische Gebiet, also auch das Bereich des Göttlichen, liegt nach Sokrates jenseits dieser Grenzen. Durch seine Forschungen auf dem sittlichen Gebiete aber wurde er bei dem innigen Zusammenhange zwischen Ethik und Religion über diese Grenzen hinausgeführt; doch blieb er sich bewußt, daß es hier wohl ein Glauben gebe, aber nicht ein Wissen im strengen Sinne des Wortes, So wußte er nicht, daß die Seele unsterblich sei, aber er glaubte es.

15) 8.75. Zeus führt als Beschützer der Freundschaft den Bei- namen φίλιος. Sokrates wendet sich mit diesen Worten an die Freundschaft des Euthyphron.

6) S. 75. Das größte Volksfest der Athener waren die Pan- athenäen, Παναϑήναια τὰ μεγάλα. Sie wurden im dritten Jahre jeder Olympiade zu Ehren der Stadtschirmerin Athene (Adnvä πολιάς) gegen Ende des Monats Hekatombaion (= Mitte Juli bis Mitte August) mit großer Pracht begangen. Ihre Einsetzung wurde dem Erichthonios zugeschrieben. Das Fest hieß ursprünglich Adnvala, Theseus aber soll es als Bundesfest sämtlicher zu einem Staate ver- einigter Attiker eingesetzt und daher ihm den Namen “Παναϑήναια gegeben haben. Die drei ersten Tage des Festes waren musischen und gymnischen Wettkämpfen gewidmet. Der glänzendste Teil des Festes war der große Festzug, πομπή, am 28. Tage des Monats Hekatombaion, der seinen Weg nach der Akropolis nahm, um das uralte Standbild der Polias im Erechtheion mit einem neuen Pracht- gewande zu bekleiden. Von athenischen Jungfrauen, den ἐργαστῖναι, gearbeitet, zeigte es auf safranfarbigem Grunde in glänzenden Stickereien die Taten der Athene im Kampfe gegen die Titanen und Giganten. In Form eines Segels war es an einem Rollschiffe aufgehängt. Am Zuge der Bürgerschaft unter ihren Vorstehern, den Demarchen, beteiligte sich die junge ‚Mannschaft zu Fuß und zu Roß. Eine solche panathenäische πομπή stellte der zum guten Teile ag erhaltene Fries in der Cella des Parthenon dar.

11) S.76. Diese Kritik hält sich an die ersten Worte der Er- klärung Kuthyphrons: „Das Fromme ist eben das, was ich jetzt tue“.

Anmerkungen. 99

Dagegen enthält das sich daran Anschließende ein Allgemeines, Nach ihm besteht die Frömmigkeit darin, daß man den Frevler ver- folgt ohne jedes Ansehen der Person, die Gottlosigkeit dagegen in der Unterlassung dieser Verfolgung. Hiermit wird das Wesen der Frömmigkeit in die Verfolgung gesetzt, und es wird als göttliches Gebot hingestellt, den Missetäter, selbst mit Hintansetzung aller Pietät, zu verfolgen, Plato verwirft diese Definition nicht nur aus dem formalen Grunde, den er angibt, sondern wesentlich um der Sache willen. Es soll aber auch gezeigt werden, wie bei ungenügender Form der wissenschaftlichen Erläuterung auch kein genügender Inhalt gewonnen wird, Die richtige Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Frömmigkeit wird erst da gefunden, wo ihre Definition in korrekter Weise gesucht wird.

18) S. 76. Den mannigfaltigen Eigenschaften gegenüber, die den einzelnen frommen Handlungen anhaften und die an dem Be- griffe Fromm gemessen, nicht als notwendig, sondern als zufällig erscheinen, ist das Fromme das Fromme selbst, αὐτὸ τὸ ὅσιον, ἃ. ἢ, das Fromme losgelöst von allen zufälligen Merkmalen, mit anderem Ausdrucke das Fromme an sich. Das Fromme an sich aber und der Begriff Fromm sind ein und dasselbe.

19) δ, 10. Das Lob bezieht sich darauf, daß Euthyphron dem Verlangen des Sokrates entsprechend jetzt eine Antwort gegeben hat, die eine allgemeine Bestimmung enthält,

20) S. 77. Überliefert ist:

Eid. Οὕτω μὲν οὖν. Σω. Kai εὖ γε φαίνεταί εἰρῆσϑαι - | Eid. Δοκῶ, Σώκρατες, εἴρηται γάρ.

Unmittelbar vorher hat Sokrates gesagt: „Das Fromme aber ist nicht identisch mit dem Gottlosen, sondern sein gerades Gegenteil; ist dem nicht so?* Demgegenüber wird man zunächst zu den Worten des Euthyphron: Οὕτω μὲν οὖν einfach ἐστέν ergänzen: „Allerdings ist es so.“ Aber dann fehlt der Zusammenhang mit dem Folgenden: „Und scheint es mit Recht gesagt zu sein?“ Die hierauf folgenden Worte des Euthyphron: „Ich glaube; denn es ist gesagt worden“, geben keinen Sinn. Weil etwuis gesagt worden ist, deswegen brauche ich es noch lange nicht zu glauben. Also müssen die Worte: εἴρηται γάρ an dieser Stelle unbedingt gestrichen werden. Dagegen muß eiontaı den Worten οὕτω μὲ» οὖν hinzugefügt werden. Auf die Frage des Sokrates: „Ist dem nicht so γα" antwortete Euthyphron: „Auf jeden Fall ist so "gesagt worden“. Er sagt dies mit Bezug auf Ῥ. δα, wo auf das bestimmteste ausgesprochen ist, daß Fromm und Gottlos zu einander im vollsten Gegensatze stehen. Naturgemäß schließt Sokrates hieran die Frage. ob denn dieser Satz auch als richtig erscheine. Euthyphron antwortet nicht recht zuversichtlich:

„Ich glaube, mein Sokrates“. Er ahnt, daß er durch Anerkennung dieses doch unbedingt wahren Satzes in die Brüche kommt. Aber eine Anerkennung des Satzes ist es doch, und so fährt Sokrates ruhig fort: „Ist nun nicht auch das gesagt worden, daß die Götter miteinander streiten und hadern und daß gegenseitig Feindschaft unter ihnen besteht?“ Euthyphron antwortet: „Es ist ja gesagt“,

εἴρηται ydo.

7*

100 Eutliyphron.

Schanz in seiner Ausgabe des Euthyphron mit deutschem Kommentar bemerkt S. 41 zu der Stelle: „Das in den Handschriften nach δοκῶ, Σώκρατες überlieterte εἴρηται γάρ, welches von Maresch nach οὕτω μὲν οὖν gestellt wurde, erachte ich als eine irrtümliche Wiederholung des unten folgenden εἴρηται yao.“ Hiermit hat Schanz den einen Anstoß beseitigt, den anderen, den Mangel an innerem Zusammenhange zwischen den Worten des Euthyphron: οὕτω μὲν οὖν und den Worten des Sokrates Καὶ εὖ γε φαίνεται εἰρῆσϑαι hat er bestehen lassen. Übrigens dürfen wir nach diesen Worten nicht mit Schanz einen Punkt setzen. Daß sie eine Frage enthalten, beweist die Antwort des Euthyphron: „Ich glaube, mein Sokrates“. |

21) S. 78. „Schön und Häßlich“ stehen hier zugleich im ethischen Sinne. Das Gute macht gleich dem schönen Kunstwerke einen wohltuenden und befriedigenden Eindruck und wird demnach wie etwas Schönes empfunden. Daher heißt ein Mann, der die Tugend, die ἀρετή des Mannes in vollkommener Weise zur Dar- stellung bringt, ein schöner und guter Mann, ἀνὴρ καλὸς κἀγαϑύός. Die Griechen sind eben ein Volk der Kunst, während dem Römer die Beziehung auf den Staat nahe liegt. Daher nennt dieser das sittlich Gute honestum, weil er an die Ehre und das Ansehen denkt, die sittliches Verhalten dem Bürger im Staate bringt, das honestum bringt die honores (vgl. unser „ehrbar“), und das sittlich Schlechte nennt er turpe, weil er an die Schande denkt, die es dem Manne bei seinen Mitbürgern einträgt. Da wo der Grieche die Erschei- nung eines Mannes als eine schöne empfindet, reden wir vielfach mit aristokratischer Anschauung von einer edelen Erscheinung (edel ursprünglich = adelig). |

Nach Plato sind die drei höchsten Ideen das Wahre, das Gute und das Schöne. Da es sich hier um das ethische Gebiet handelt, so ist für das Wahre das Gerechte eingesetzt.

22) S. 78, Daß die Götter über etwas verschiedener Meinung seien, ist die Annahme des Euthyphron, Sokrates kann es nicht glauben.

23) S. 79. P. 8a: οὐ γὰρ τοῦτό γε ἠρώτων, τυγχάνει ταὐτὸ ὃν ὅσιόν τε καὶ ἀνόσιον, δὲ ἂν ϑεοφιλὲς 7), καὶ ϑεομισές ἐστιν, Statt des überlieferten ö schreibt Schanz a. ἃ. Ο. S. 44 ᾧ. „Sokrates hatte nach einer Definition des ὅσιον gefragt, durch diese Definition ist aber das ὅσιον und ἀνόσιον als identisch erschienen; sie ist also nichtig. Mit τοῦτό γε haben wir einen allgemeinen Ausdruck für die Defini- tion (λόγος) wie 72c. Bei der Lesart & entspricht der Satz genau dem vorausgegangenen. τὰ αὐτὰ = ταὐτὸν, ferner καὶ ὅσια καὶ ἀνόσια --- ὅσιόν τε καὶ ἀνόσιον, endlich τούτῳ τῷ λόγῳ —= ᾧ.“ Eine scharf- sinnige Erklärung, aber das überlieferte ö gibt einen guten Sinn. Sokrates hat nach dem gefragt, was fromm ist, und nach dem, was unfromm ist, aber nicht nach dem, was als ein und dasselbe zugleich fromm und unfromm ist, mit anderen Worten nach dem Begriffe Fromm und nach dem Begriffe Unfromm, aber nicht nach einem Begriffe, der Fromm und Unfromm zugleich in sich befaßt.

2) S. 79. Von den Kämpfen zwischen Zeus, Kronos und Uranos hat Euthyphron p. 6a gesprochen. Vgl. S. 60 und 74f. Von Hera und ihrem Sohne Hephaistos wird Ilias XVIILI, 396ff. folgendes be-

Anmerkungen, 101

richtet: Hera warf ihren Sohn Hephaistos, weil sie ihn wegen seiner Lahmheit nicht sehen mochte, vom Olymp ins Meer binab, wo ihn Thetis und Eurynome aufnahmen. Um sich dafür zu rächen, schickte dieser der Hera aus der Tiefe des Meeres einen goldenen Thron mit unsichtbaren Schlingen, Als sie auf ihm Platz nahm, war sie gefesselt und wurde erst von Hephaistos selbst wieder befreit.

25) S. 80. P. 84: καὶ πότε scil. δρῶν ἀδικεῖ, „unter welchen Umständen handelnd er unrecht getan hat.“ Es kommt z. B. außer- ordentlich viel darauf an, unter welchen Umständen einer einen anderen erschlagen hat, ob im Zustande der Notwehr, ob in trun- kenem Zustande wie jener Tagelöhner in unserer Schrift und gereizt usf.

®) S. 81. Die Behandlung, durch die Euthyphrons Vater den Tod des Tagelöhners herbeiführte, ist, wie wir schon sahen, nach unseren juristischen Anschauungen Mord, wir würden aber in dem vorliegenden Falle mildernde Umstände annehmen. Diese liegen einmal in der Untat des Tagelöhners, sodann darin, daß Euthyphrons Vater, der Herr des Erschlagenen, nicht eigenmächtig gegen den Missetäter vorgehen, sondern die Weise, wie die Untat zu sühnen sei, den Auslegern des heiligen Rechtes überlassen wollte, Diese beiden Momente werden an unserer Stelle sehr zugunsten des Vaters hervorgehoben und sehr zuungunsten des Sohnes. Unter solchen Umständen mußte dieser von der Verfolgung des Vaters durch eine Kriminalklage unbedingt absehen, da ja eine gesetzliche Verpflich- tung für den Tagelöhner einzutreten für ihn gar nicht bestand und das Gefühl der Pietät ihn davon zurückhalten mußte, mit einer solchen Klage gegen den eigenen Vater vorzugehen. Aber die starre Konsequenz, mit der er seine Auffassung von dem Wesen der Frömmigkeit durchzuführen sich für verpflichtet erachtet, läßt bei ihm das natürliche Gefühl nicht aufkomınen.

27) S. 81. Wörtlich: „wenn anders du ihnen schön (gut) zu reden scheinst.“ Das kann sowohl auf die Wahrheit des Inhaltes als auf die Schönheit der Form gehen. Wie uns auch die Apologie lehrt, sahen die athenischen Richter sehr auf diese und hatten es gern, wenn ihnen angenehme Dinge gesagt wurden,

38) S, 81. Die folgende Stelle p. 9c hat große RER bereitet. Wir müssen sie daher eingehender betrachten. Sokrates hat an Euthyphron die Forderung gestellt nachzuweisen, daß alle Götter ein Verfahren wie das seines Vaters, wodurch der Tagelöhner den Tod fand, für ein Unrecht halten und infolge dessen Euthyphrons Vorgehen gegen seinen Vater billigen. Die Erfüllung dieser For- derung ist für Euthyphron eine Unmöglichkeit, darum läßt sie So- krates unter folgender Begründung fallen. Während Euthyphron redete, ist ihm der Gedanke gekommen, sollte ihm Euthyphron auch zehnmal beweisen, daß alle Götter die Tat seines Vaters für ein Unrecht halten, so ist er durch Euthyphron doch nicht darüber be- lehrt worden, was denn Fromm, was Gottlos ist. Das allerdings wäre durch den Nachweis, daß alle Götter die Tat von Euthyphrons Vater für ein Unrecht halten, erwiesen, daß sie der Gottheit ver- haßt wäre, „aber es hat sich eben gezeigt, daß hierdurch das Fromme und das Unfromme in seinem Wesen nicht. bestimmt ist; denn das

102 Euthyphron.

den Göttern Verhaßte hat sich auch den Göttern wohlgefällig er- wiesen,“ τὸ γὰρ ϑεομισὲς ὃν καὶ ϑεοφιλὲς ἐφάνη. Diese Worte erklärt Schauz für eingeschoben. Er bemerkt ἃ. ἃ. O. S.49 zu der Stelle: „Diese Worte sind, wie H. v. Kleist Philolog. 41 (1882) p. 355—359 gezeigt hat, interpoliert; denn sie rekurrieren auf die zweite Defini- tion, allein hier handelt es sich um ein Zurückfallen in die erste, τούτῳ bezieht sich wie τούτου und αὐτὸ auf τὸ ἔργον, d.h. auf den durch die Fahrlässigkeit des Vaters des Euthyphro veranlaßten Tod des Arbeiters.“ Aber der den angefochtenen Worten unmittelbar vorhergehende Satz: ἀλλὰ γὰρ οὐ τούτῳ ἐφάνη ἄρτι ὡρισμένα τὸ ὅσιον. καὶ μή verlangt unbedingt eine Begründung, und diese Begründung muß um des ἄρτι ἐφάνη willen in einer kurz vorher gegebenen Fr- örterung enthalten sein. Wir finden sie p. 8a, wo Sokrates sagt: „Ein und dasselbe also wird, wie es scheint, von den Göttern ge- haßt und geliebt, und so wird ein und dasselbe den Göttern verhaßt und den Göttern wohlgefällig sein.“ „Und so würde nach dieser Rede (nach dem was Euthyphron von dem Hader und Streite unter den Göttern gesagt hat) ein und dasselbe fromm und unfromm sein.“ Auf dieses τούτῳ τῷ λόγῳ ist besonders zu achten, ebenso wie p. Te auf κατὰ τὸν σὸν λόγον in dem Satze: καὶ τῶν ϑεῶν ἄρα, γενναῖε Εὐϑύφροον, ἄλλοι ἄλλα δίκαια καὶ ἄδικα (von Schanz mit Recht hinzugefügt) κατὰ τὸν σὸν λόγον, καὶ καλὰ καὶ αἰσχρὰ καὶ ἀγαϑὰ καὶ κακά. Es wird eben betont, daß so falsche Gedanken nur'dann herauskommen, wenn man sich auf den Glaubensstandpunkt Euthy- phrons stellt. | | Sokrates fährt p. Ic fort: ὥστε τούτου ἀφίημί σε, Εὐϑύφρον. Nach Schanz „will Sokrates, daß bei der Bestimmung der Frömmigkeit von der Beurteilung des ἔργον, des Einzelfalles, nämlich des ϑάνατος des Arbeiters abgesehen werde.“ Diese Erklärung paßt nach meiner Überzeugung nicht in den Zusammenhang. Zu Anfang des Kapitels hat Sokrates sehr bestimmt die Forderung gestellt, Euthyphron solle nachweisen, daß alle Götter in dem Verfahren gegen den Arbeiter ein großes Unrecht erblicken, aber dann ist ihm der Gedanke ge- kommen, daß durch diesen Nachweis nur dargetan werde, daß jenes ἔργον den Göttern verhaßt, daß es ϑεομισές ist, Aber damit ist noch nicht bewiesen, daß die Tat eine gottlose Tat ist, denn auf dem ethischen Gebiete herrscht Uneinigkeit und Streit, und so erscheint das der Gottheit Verhaßte zugleich auch als der Gottheit wohl- gefällig. Darum gewinnen wir für die Feststellung des Begriffs Fromm und Unfromm durch den Nachweis, daß alle Götter eine Tat hassen, nichts. Darum mögen alle Götter, wenn es Euthyphron so will, jene Tat für ein Unrecht oder Verbrechen halten und mögen alle sie hassen. Das ist für die Feststellung der Begriffe Fromm und Unfromm gleichgültig. Aber die aufgestellte Behauptung be- darf noch einer ergänzenden Berichtigung. Was alle Götter hassen, mag für unfromm gelten, was alle lieben, für fromm. Wie steht es denn nun mit den Taten, die der eine Teil der Götter liebt, der andere haßt? Diese können nur entweder keines von beidem, also weder fromm noch unfromm sein, oder zugleich beides, zugleich fromm und unfromm. Ein Drittes gibt es nicht. Sind sie keines von beidem, so sind sie hinsichtlich einer ethischen Bewertung in-

Anmerkungen. 103

different, sind sie ἀδιάφορα, Aber es ist ausführlich und nachdrück- lich genug dargetan, daß die Streitigkeiten der Götter sich auf dem “ethischen Gebiete bewegen, und die angeführten Fälle von Haß und Feindschaft unter ihnen sind wahrlich nicht indifferenter Natur. Diese Bestimmung kommt also in Wegfall, ebenso die andere, denn dieselben Taten zugleich als fromme und als unfromme zu bezeich- nen, hat keinen Sinn, So ist klar und deutlich nachgewiesen, daß auf dem Boden, auf dem Euthyphron mit seinen strenggläubigen Genossen hinsichtlich des Wesens der Gottheit steht, eine Ethik überhaupt nicht erwachsen kann, am wenigsten ein gesunder Begriff der Frömmigkeit. Plato übt eine scharfe Kritik an den An- schauungen des Euthyphron von dem Wesen der Gottheit, aber diese Kritik gilt der gesamten strenggläubigen Partei und will zu- gleich dartun, wie großes Unrecht diese dem gottesfürchtigen So- krates mit der Anklage wegen Gottlosigkeit angetan hat, eine An- klage, die sich, wie unser Dialog erklärt, namentlich darauf stützte, daß der gottesfürchtige Mann durch jene Erzählungen von den Göttern mit großem Unwillen erfüllt wurde.

30) S, 83. P. 106: εἴ τι γίγνεται τι πάσχει, οὐχ ὅτι γιγνόμενόν ἐστι, γίγνεται, ἀλλ᾽ ὅτι γίγνεται, γιγνόμενόν ἔστιν. γίγνεσθαι ist hier Passivum zu ποιεῖν. Mit dem Frommen geschieht etwas, oder es wird mit ihm etwas vorgenommen. Dem entspricht das unmittelbar folgende πάσχει. Wenn wir es mit „leiden“ übersetzen, so ist dies in demselben Sinne zu verstehen, wie in „Leideform“. Bei den griechischen Grammatikern bezeichnet πάϑος das genus passivum, die beiden anderen διαϑέσεις sind ἐνέργεια (activum) und μεσότης (medium). τ

80). S. 84. P.10d. Überliefert ist: ᾿Αλλὰ μὲν δὴ διότι ya φιλεῖται ὑπὸ ϑεῶν, φιλούμενόν ἐστι καὶ ϑεοφιλές. Schanz zeigt in ausführlicher Begründung, daß Bast mit vollem Rechte am Schlusse dieses Satzes τὸ ϑεοφιλές hinzugesetzt hat. Ich glaube, daß außerdem ὑπὸ ϑεῶν noch einmal gesetzt werden muß, so daß die Stelle lautet: Alla μὲν δὴ διότι γε φιλεῖται ὑπὸ ϑεῶν, ὑπὸ ϑεῶν φιλούμενόν ἔστι καὶ ϑεοφιλὲς τὸ ϑεοφιλές.

81) S. 84, Der Satz schließt sich auf das engste an die un- mittelbar vorhergehenden Worte des Sokrates an. Hier ein neues Kapitel beginnen zu lassen steht im vollsten Widerspruche mit dem Zusammenhange der Beweisführung.

82) S. 84, Das bereits gewonnene Ergebnis, daß Fromm und Gottgeliebt zwei verschiedene Begriffe sind, wird nun noch durch einen indirekten oder apagogischen Beweis dargetan, d.h. durch den Nachweis, daß die Annahme des Gegenteils oder auch alle anderen Annahmen als die in der Thesis enthaltene zu Unmöglichkeiten und Ungereimtheiten führen (deductio ad absurdum, ἀπαγωγὴ eis τὸ ἀδύνατον bei Aristoteles). Aus der Annahme, daß ϑεοφιλές und ὅσιον identische Begriffe seien, folgt, daß das, was von dem Frommen ausgesagt wird auch von dem Gottgeliebten gelten müßte, und das, was von dem Gottgeliebten ausgesagt wird, auch von dem Frommen gelten müßte. Richtig ist der Satz: Das ὅσιον wird geliebt, weil es ὅσιον ist. Wären nun ὅσιον und ϑεοφιλές gleichbedeutend, so könnte _ ich ϑεοφιλές für ὅσιον einsetzen und sagen: Das ϑεοφιλές wird ge-

104 Euthyphron.

liebt, weil es ϑεοφιλές ist. Ebenso verhält es sich mit dem Satze: Das ϑεοςριλές ist ϑεοφιλές, weil es von den Göttern geliebt wird. Setze ich hier für ϑεοφιλές ὅσιον ein, so ergibt sich der Satz: Das ὅσιον ist ὅσιον, weil es von den Göttern geliebt ist. Beide Male erhalte ich also bei der Gleichsetzung von ὅσιον mit ϑεοφιλές einen unmöglichen Gedanken.

88) S. 85. P, 118: τὸ μὲν γάρ, ὅτι φιλεῖται, ἐστὶν οἷον pılsiodaı, τὸ δ᾽ ὅτι ἐστὶν οἷον φιλεῖσϑαι, διὰ τοῦτο φιλεῖται. „Denn das eine (das Gottgeliebte) ist, weil es geliebt ist, so geartet, daß es geliebt wird, das andere aber (das Fromme) wird darum geliebt, weil es so ge- artet ist, daß es geliebt wird.“ Also bei dem Gottgeliebten folgt daraus, daß es geliebt wird, nur daß es liebenswert ist, über sein eigentliches Wesen, über seine οὐσία erfahren wir nichts. Das Fromme dagegen ist so geartet, daß es geliebt wird, wird also um seines Wesens willen geliebt. Es fragt sich also, welches ist denn dieses Wesen, diese οὐσία, das Substanzielle an ihm, um dessent- willen es geliebt wird? Diese οὐσία hat Euthyphron nicht angegeben, sondern nur ein πάϑος, nur etwas, was es erleidet (p. 11b: πέπονϑε, gleich darauf: εἴτε φιλεῖται ὑπὸ ϑεῶν εἴτε ὅτιδὴ πάσχει), was ihm getan oder mit ihm vorgenommen wird, τί γίγνεται τί πάσχει (vgl. Anm. 29); er hat also, um mit Aristoteles zu reden, nur angegeben, was dem Frommen κατὰ συμβεβηκός, per accidens zuteil wird, 6 τῷ ὁσίῳ συμβαίνει. |

Mit aller Bestimmtheit wird hier der Satz aufgestellt: Das Fromme ist der Art, daß es von den Göttern geliebt wird. Wir sind versucht, von hier aus gleich weiterzugehen und den Begrift der Frömmigkeit ’estzustellen. Wir können dies in voller Über- einstimmung mit Plato mit einigen wenigen Sätzen erreichen, Wenn das Fromme von der Art ist, daß es von der Gottheit geliebt wird, so muß es dem Wesen und Willen Gottes gemäß sein. „Gott aber war gut und wollte, daß alles soviel als möglich ihm ähnlich werde.“ Wer diesem Willen des guten Gottes entsprechend sein ganzes äußeres und inneres Leben gestaltet, der ist fromm und die Liebe Gottes wird ihm zuteil. Hierzu stimmt auch der Begriff der Frömmigkeit, wie ihn in unserem Dialoge nachher Sokrates fest- stell. Aber an unserer Stelle konnte er diesen sehr naheliegenden Abschluß noch nicht geben, denn hier hat er es noch mit dem Euthyphron zu tun, der an eine bunte, von Haß und Streit zer- rissene Götterwelt glaubt. So mußte der wahre Begriff der Fröm- migkeit auf anderer Grundlage erbaut werden.

84) 5, 85. Die hier eingstretene Unterbrechung der Unter- suchung weist darauf hin, daß wir hier an einer bedeutsamen Stelle des Dialogs stehen. Sokrates nimmt alsdann die Leitung der dia- lektischen Erörterung in die Hand und bringt die Bestimmung des Wesens der Frömmigkeit zustande.

5) S. 85. Daidalos, der berühmteste Künstler der mythi- schen Zeit. „Der Fortschritt gegen die ältesten Bilder bestand darin, daß Dädalus an seinen Statuen die Augen öffnete, so daß sie zu blicken, die Füße trennte, so daß sie zu schreiten schienen. Deshalb rühmt die Sage an diesen Statuen auch die große Lebendig- keit in verschiedenen Ausdrücken, z. B. daß Herakles mit einem

Anmerkungen. 105

Steine nach seinem Bilde warf, daß man sie binden muß, damit sie nicht davon laufen, und was dergleichen mehr ist, Daß von diesem Charakter der Lebendigkeit nur gegenüber der leblosen Steifheit der ältesten Bilder die Rede sein kann, versteht sich von selbst.“ Overbeck, Gesch. der Plastik I, 86. Wenn Sokrates ihn als seinen Ahnherrn bezeichnet, so hat das folgende Bewandtnis, Sokrates rechnete sich zu der Zunft der Bildhauer, als deren Begründer Daidalos betrachtet wurde. Indem nun die Berufsgenossenschaft als Geschlechtsgenossenschaft aufgefaßt wird, wird aus dem Begründer der Zunft der Ahnherr des Geschlechts. Vgl. Anm, 46 der Apelt- schen Übersetzung des Platonischen Menon, Bd. 153 der Philos, Bibl., 8. 87,

36) S. 86, Tantalos, König von Phrygien, Sohn des Zeus und Tischgenosse der Götter, Vater des Pelops und der Niobe. Sein Reichtum war sprichwörtlich und ebenso die Qualen des Durstes, die er in der Unterwelt erlitt, weil er die Geheimnisse der Götter verraten hatte,

87) S. 86. Anschauung und Sprachgebrauch der Hellenen setzten die Begriffe Gerecht und Fromm in nahe Beziehung; daher zieht Sokrates hier das Gerechte ohne weiteres heran. ls handelt sich jetzt darum, den Umfang des Begriffes Fromm und den Umfang des Begriffes Gerecht in ihrem gegenseitigen Verhältnisse fest- zustellen, um zu bestimmen, welcher der beiden Begriffe der Gat- tungsbegriff, welcher der Artbegriff ist.

Dieser Abschnitt zeigt recht deutlich, eine wie hohe Bedeutung für die philosophische Betrachtung der Dinge Plato dem Sprach- gebrauche und dem Sprachbewußtsein beilegt. Beruht doch hierauf zu einem guten Teile das Werden seiner Ideenlehre. Die Sprache ist eben der unmittelbarste Ausdruck des Inhaltes unseres Geistes.

38) δ, 87. Die nachfolgenden Verse sind aus den Kypria, einem Gedichte, welches die Begebenheiten, die der Ilias vorausgehen, schilderte. Seinen Namen hat das Gedicht davon, daß es auf der Insel Kypros entstanden ist. Der Verfasser war der älteren Zeit unbekannt, in der späteren Zeit wird das Gedicht dem Stasinos oder, Hegesias beigelegt.

89) S. 87. „das alles“ kann auf die Gesamtheit der Dinge in der Welt hinweisen, so daß Zeus als der Schöpfer der Welt gemeint ist. Das ist das Wahrscheinliche. Aber da der Zusammenhang, in dem die Verse standen, nicht nachweisbar ist, so erscheint es nicht ausgeschlossen, daß im Vorhergehenden bestimmte Taten des Zeus erwähnt waren, die von seiner Furcht einflößenden Kraft und Ge- walt zeugten.

40) S. 87. Der Dichter selbst hat αἰδώς offenbar in der Be- deutung „Scheu“ genommen. Wer Zeus fürchtet, der scheut sich, seinen Namen auszusprechen („wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir seinen Namen nicht unnützlich führen“); also wo Furcht ist, da ist auch Scheu. Plato nimmt aber αἰδώς hier in der Bedeutung „Scham“. Daher fügt er p. 12c zu αἰδούμενος noch καὶ αἰσχυνόμενος. Unter Scham aber versteht er „Furcht vor Schande“. Hiermit ist die Scham eine besondere Art von Furcht und ist demnach eine _ Spezies des Genus Furcht.

106 Euthyphron.

Es handelt sich darum, den Begriff des ὅσιον auf wissenschaft- lichem Wege zu gewinnen. Demnach kommt es vor allem darauf an festzustellen, daß δίκαιον der weitere, umfassendere Begriff ist und ὅσιον der engere, daß also δίκαιον sich zu ὅσιον verhält, wie das Genus zur Spezies. Hiermit ist die wissenschaftliche Grundlage für die Definition von Fromm und Frömmigkeit gewonnen, denn defi- nitio fit per genus proximum et differentiam specificam.

Diese Erörterungen können leicht als umständlich, ja den Gang der Untersuchung hemmend erscheinen. Aber Plato hielt es mit Recht für nötig, zunächst die logischen Verhältnisse festzustellen, denn die Logik war damals noch im Werden. Es mußte ihm aber ganz besonders darauf ankommen, für das Wesen der Definition ein klares Verständnis bei seinen Lesern zu schaffen, denn gerade die Definition ist für die Erkenntnis des Wesens der Dinge von größter Bedeutung und bildete die Grundlage für den Aufbau seiner Ideenlehre.

41) S, 87. „ein Teil“, μόριον. Es liegt hier eine räumliche An- schauung vor. Man denke sich δέος als Quadrat, von dem ein Teil αἰδώς ist. So ist da, wo αἰδώς ist, auch δέος, aber nicht überall, wo δέος ist, auch αἰδώς. Alle in diesem Abschnitte gebrauchten Bezeichnungen: πᾶν τὸ ὅσιον, πᾶν τὸ δίκαιον, ἵνα---ἔνϑα καί, ἐπὶ πλέον, πανταχοῦ, μόοιον, μέρος gehen auf den Umfang des Begriffs. Der weitere, umfassendere Begriff ist, da er weniger Merkmale hat, zu- gleich der allgemeinere, und insofern der engere Begriff unter ihn fällt und in seinem allgemeinen Wesen durch ihn bestimmt wird, der übergeordnete, der höhere. Bei der Definition, ὁρισμός, nun ist vor allem für den zu definierenden Begriff der nächst höhere, das genus proximum zu suchen. Als das genus proximum zu ὅσιον er- weist sich hier das δίκαιον.

Schanz bemerkt S. 58 seiner Ausgabe zu dieser Stelle: „Die ganze spitzfindige Untersuchung hat nur formalen Wert.“ Von „Spitzfindigkeit“ kann ich hier nichts entdecken. Es werden ganz einfache logische Verhältnisse klargestellt, die für die Gewinnung einer richtigen Definition von grundlegender Bedeutung sind. Die Behauptung aber, diese ganze Untersuchung habe nur formalen Wert, würde Plato mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Seine Weltanschauung ist in seiner Ideenlehre gegeben, die Ideen aber sind Begriffe und diese können nur durch logisches Denken ge- wonnen werden. So können wir uns nur bei Kenntnis und Be- obachtung der logischen Verhältnisse und Gesetze zur Erkenntnis der Ideenwelt erheben, und damit ist die Logik für die Gewinnung einer idealen Weltanschauung von der größten Bedeutung.

42) S, 88. Die Griechen stellen arithmetische Verhältnisse durch geometrische Figuren dar, so die gerade Zahl durch ein gleich- schenkliges, die ungerade durch ein ungleichseitiges Dreieck.

48) 8. 88. τὸ πεοὶ τὴν τῶν ϑεῶν ϑεραπείαν. Nach dem Gange der Erörterung erwartet man zunächst τὸ περὶ τοὺς ϑεοὺς δίκαιον „Frömmigkeit ist das rechte Verhalten gegenüber den Göttern.“ Est pietas iustitia adversum deos. Da aber „rechtes Verhalten“ ‚nur ein formaler Begriff ist, nach dessen Inhalte erst gefragt werden muß, so wird dieser Inhalt gleich dafür eingesetzt: Gerechtigkeit

Anmerkungen. 107

ist ϑεραπεία, ist Dienst, und je nachdem dieser sich auf die Götter oder auf die Menschen bezieht, ist sie Frömmigkeit oder Gerechtig- keit im engeren Sinne. So umfaßt die Gerechtigkeit als Genus die Frömmigkeit mit, anderseits tritt die Frömmigkeit als selbständige Tugend neben die Gerechtigkeit und hat ihren eigenen Namen, Daher erscheinen bei Plato bald vier, bald fünf Kardinaltugenden: Die fünf Tugenden sind δικαιοσύνη iustitia, εὐσέβεια pietas, σοφία sapientia, σωφροσύνη temperantia, ἀνδρεία fortitudo. Wird die εὐσέ- pe nicht mit genannt, so ist sie in der δικαιοσύνη mit inbegriffen.

iesen Sprachgebrauch haben wir auch in der Bibel. „(Gerechtig- keit erhöhet ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben,“ „Der Gerechte erbarmt sich auch seines Viehes, aber der Gottlosen Herz ist unbarmherzig.“ Bei Plato ist, wie wir im Laches sahen, die Gerechtigkeit auch der Inbegriff aller Tugend, und auch in der Bibel finden wir das Wort in derselben Bedeutung. „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“ Und wenn Gott als der Gerechte gepriesen wird, so ist damit gemeint, daß in ihm alle Tugend, alles Ethische in seiner höchsten Potenz und in seiner vollsten Reinheit gegeben ist. So beruht die Gerechtigkeit Gottes auf seinem heiligen Willen, und Gott der Gerechte ist nichts anderes als Gott der Heilige.

4) S. 89. Sokrates will erst eine allgemeine Erklärung von dem Wesen der ϑεραπεία geben, bricht aber damit sofort ab, um es lieber an Beispielen klar zu machen. Der historische Sokrates liebt es, die Beispiele für seine Lehren dem gewöhnlichen Leben zu ent- nehmen. Pferde Esel, Hunde, sodann Schuster, Walker, Köche, Schmiede, Färber spielen in seinen Beweisführungen immer wieder eine Rolle.

#5) 5, 89. „Die Kunst des Weidmanns,“ κυνηγετική. Die Etymologie des Wortes weist auf die große Bedeutung hin, die der Hund für die Jagd hatte.

46) S. 95. Die schönste Erklärung der Bedeutung von Opfer und Gebet haben wir in dem Lieblingsverse Melanchthons Odyssee III, 48: πάντες δὲ ϑεῶν yareovo’ ἄνϑρωποι. Der Zusammenhang ist, folgender. Telemach und Pallas Athene in der Gestalt des Mentor kommen auf ihrer Fahrt nach Kunde von dem langabwesenden Odysseus nach Pylos, wo sie Nestor mit seinen Pyliern bei einer großen Opfermahlzeit antreffen. Sie werden auf das freundlichste begrüßt und zur Teilnahme am Opfermahl eingeladen. Peisistratos, Nestors jüngster Sohn, füllt einen goldenen Becher mit Wein und reicht ihn Pallas Athene mit den Worten: „Bete jetzt, o Fremd- ling, zum meerbeherrschenden Poseidon, denn zu seinem Opfermahle seid ihr grade gekommen. Aber wenn das Trankopfer dar- gebracht und zu ihm gebetet hast, wie es recht ist, dann gib auch diesem (Telemach) den Becher mit honigsüßem Weine, daß auch er ein Trankopfer darbringe; denn auch er betet, wie ich glaube, zu den Unsterblichen; es tragen ja alle Menschen Verlangen nach den Göttern.“

Nach diesen Worten Homers haben also Gebet und Opfer ihren Grund in dem Verlangen nach der Gottheit, d. h. in dem Verlangen, zu der Gottheit in ein näheres Verhältnis zu kommen, in eine Ge-

108 Futhyphron.

meinschaft zu ihr zu treten. Gewöhnlich übersetzt man nicht: „alle Menschen verlangen nach den Göttern“, sondern „alle Menschen bedürfen der Götter“, aber die eigentliche Bedeutung von χατέειν ist „verlangen“, und es ist auch gar kein Grund, von dieser Be- deutung hier abzugehen.

41 5; 94. Proteus, ein weissagender Meergreis, der sich auf der Insel Pharos bei Agypten aufhielt und da die Robben der Amphitrite hütete, Des Mittags trieb er seine Herde gewöhnlich ans Ufer und ruhte mit ihr im Schatten der Felsen. Dabei überfiel ihn einst auf den Rat der Eidothea, des Proteus Tochter, Menelaos, mit seinen Gefährten in Robbenfelle gehüllt, und nötigte ihn, trotz- dem er sich in alle möglichen Gestalten verwandelte (eine aus der Vielgestalt des Meeres hergeleitete Eigenschaft) ihm zu weissagen, wie er nach Hause zurückkehren könne. Odyssee IV, 351ff.

Übersicht über die Literatur zu Laches und Euthyphron.!) Von Benno v. Hagen in Jena.

Außer den Texten in den Gesamtausgaben von J. Bekker, von

Fr. Ast, von den Zürichern, von K. Fr. Hermann, von M. Schanz uud

J. Burnet nenne ich folgende Ausgaben mit erklärenden Anmerkungen:

Platonis Euthyphr., Apol, Crito, Phaedo explie. J. F. Fischer, Ed. 111. Leipzig 1783.

Platonis Laches, Euthyphr., Apol. et Menex. Ed. Engelhardt. Berlin 1825.

Laches in Band V, Euthyphron in Band VI der Ausgabe von G. Stallbaum mit lat. Kommentar. Erfurt und Gotha 1834 und 1836.

Platons Laches. MitEinl. u. Anm. von Ed. Jahn. Wien (1864) 1888,

Platons Euthyphro with introduction and notes by William Arthur Heidel. New York (1903).

Euthyphro and Menexenus. Ed. by T. R. Mills. Introduct. text, notes etc. London 1902.

Euthyphro, Apology, Crito with introd., translat., notes by F. M. Stawell. Temple Greek and Latin Classics. London 1906. Quinque dialogi platonici: Euthyphr., Apol. Crito, Phaedo, Protag. Rec. et brevi adnotatione instruxit Henr. van Her-

werden. Groningae 1906.

Plato ex hermeneias kai diorthoseos Spyridonos Moraitou. Tom. 11. Periechon Euthyphrona, Lacheta . .. In griechischer Sprache. Konstantinopel (Leipzig 1908, B. Liebisch.).

Plato, Euthyphro. With introd. and notes by St. G. Stock. Oxford 1909.

Euthyphron für den Schulgebrauch herausgegeben von H. Ber- tram. 2. Aufl. von Joh. Nusser. Gotha 1903.

Laches von denselben, ebenda 1904.

Euthyphron f£. ἃ. Schulgebrauch erkl. von M. Wohlrab. 4. verb. Aufl. (1879) 1900.

Laches für den Schulgebrauch erkl. von Christian Cron. 5. Aufl. Leipzig 1891.

Euthyphron für den Schulgebrauch herausgegeb. von A. Th. Christ. Leipzig u. Wien, 5. Aufl. 1906.

1) Die 1. Auflage brachte keine Literaturübersicht, da Gustav Schneider eine solche nicht hinterlassen hatte. Auf Wunsch des Ver- lages lieferte ich 1920 hinter dem von Apelt besorgten Gesamtregister des Platon-Index die Übersicht. Jetzt hat sie in verbesserter Gestalt hier ihren Platz gefunden;

110 Übersicht über die Literatur zu Laches und Euthyphron.

Laches von demselben 1904, 2, Abdruck 1920,

Platons Laches und Euthyphron. Zum Gebrauch für Schüler herausgegeben von A.v. Bamberg. Bielefeld und Leipzig, Vel- hagen & Klasing 1903.

Laches. ‚Scholarum in usum ed. Jos. Kräl. Ed. II. Leipzig und Wien 1902, neue Titelausgabe ebenda 1920.

Platon. Auswahl für den Schulgebrauch hrsgegeb. von H. Röhl. Münster, Aschendorff 1910 (darin Laches). Komment. 1911.

Von Übersetzungen nenne ich: A. Deutsche. |

Platons sämtliche Werke. Übers. von Hieronymus Müller. Mit Einl. von K. Steinhart. 1. Band (Laches) 1850, 2. Band (Euthy- phron) 1851.

Platons Werke. In 40 Bändchen. Stuttgart, Metzlers Verlag. 2. Gruppe, 2. Bändchen: Hippias d. Kl. und Euthyphron über- setzt von L. Georgii, 2. Aufl. 1884. 5. Bändchen: Laches und Charmides, übers. von L. Georgii, 2. Aufl. 1882.

Platons Laches oder von der Tapferkeit. Übersetzt von Friedrich Schleiermacher. Neun herausgegeben von Otto Güthling. Universalbibliothek 1785, Leipzig, Reclam (1883).

Platons Euthyphron, Laches, Hippias. Deutsch von K. Preisen- danz. Jena, E. Diederichs 1908.

Außerdem vgl. die Übersetzungen in der Langenscheidtschen

Sammlung. |

B. Ausländische. 1. Dänische:

Platon, Euthyphr. oversat af H. Holten-Bechtolsheim. Kopen- hagen 1916.

2. Englische:

Plato, Euthyphro and Laches. Litterally translated by John Gibson. London, J. Cornish & Sons (1890).

The Trial and Death of Socrates being the Euthyphron, Apology, Crito and Phaedo of Plato. Translated into english by Frederick John Church. London and New York, Macmillan and Co. 1891.

The dialogues of Plato translated into english with analysis and introductions by Benjamin Jowett. Oxford 1892. Vol. I (1892) Laches, vol. II (1892) Euthyphro.

Euthyphro: Litterally translated by E. T. Pegg. London 1903.

Euthyphro and Crito. Translated by St. G. Stock, London 1909.

Plato with an english translation by Harold North Flowler and an introduction by Walter Rangeley Maitland Lamb. London. New York (1914. 1917) 1919. 1921. I. Euthyphro... (1914. 1917) 1919.

3. Italienische:

I dialoghi di Platone nuovamente volgarizza tida Eugenio Ferrai.

4 voll. Padova 1873—1883. Vol. ILaches, Vol. II Eutifrone.

Übersicht über die Literatur zu Laches und Euthyphron. 111]

Dialoghi di Platone tradotti da R. Bonghi. 13 voll. 1880 ---1904, Vol. I (1880, 1901) Eutifrone della Santitä. Vol. XI (1903) Lachete della Fortezza.

Platone. Lachete della fortezza. Dialogo tradotto da Attilio Gnesotto. Padova 189.

Platone. Idialoghi. L’Eutifrone ossia del Santo. Nuovo volgarizza- mento con argumenti e note di Giuseppe Meini. Torino 1899,

4. Schwedische:

Valda skrifter af Platon i svensk Ööfversättning af Magnus 10 ἃ] 8 7ὕ, Stockholm 1870fi. 6 delen. 8, Euthyphron (1877), 4. Laches (1880).

5. Spanische:

Cinco diälogos de Platon. Darunter: El Eutifron. Tradueidos direec- tamente del griego, com argumentos y mnotas por Anacleto Longu& y Molpeceres. Madrid 18ξ0,

Zur Erläuterung.

Ambrosini, Antonio. Osservazione critiche al volgarizzamento dell’ Eutifrone di Platone di Ruggiero Bonghi. Fano: Stab. tip. Pas- qualis 1880 (12 S.).

Apelt, Otto. Observationes criticae in Platonis dialogos. Progr. d. Gymn. Weimar 1880 (inest Laches).

v. Arnim, Hans. Platos Jugenddialoge und die Entstehungszeit des Phaidros. Leipzig 1914.

v. Bamberg, Alb. Platons Euthyphron. Entlassungsrede. Ostern 1890. In des Verf. Ideale. Ausgew. Schulreden (Berlin 1906). 5. 29—38.

Becker, Theodor. Zur Erklärung von Platons Laches. In: Jahr- bücher f. elass. Philol. 121 (1880) S. 305—16.

Berndt, Rich. Der innere Zusammenhang der in den platon. Dialogen Hipp. min., Laches, Charmides u. Lysis aufgewiesenen Probleme. Progr. Gymn. Lyck 1908,

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114 Übersicht über die Literatur zu Laches und Euthyphron.

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men nn

Register).

Die Zahlen bedeuten die Seiten. (opp. = Gegensatz, def. = Definition der Begriffe.) (La. = Laches, Eu. = Euthyphron.)

Activum (Tätigkeitsform) 82 ἢ. 103. | Begriffsabgrenzung 86f.

Aeneas 34.

Arzte 42. 48. 90.

für Augen und Ohren 32.

Agathokles 17. 54.

Aixone 5. 46. 56.

Akropolis 75.

Alkibiades 7. 54.

Alter, Fortschritt und 80.

—, Vergeßlichkeit im 32.

Anklage durch einen Bürger 60.

Anytos 96.

Apollon 96.

Apologetische Tendenz des Eu. 65.

Apologie 3. 12. 62f.

Archedemos 98.

Argiver 6. 7.

Aristeides 10. 14 53.

Aristoteles 2. 11. 96. 103f.

Arithmetische Verhältnisse 106.

Artbegrift 105.

Asinaros (Fluß) 9,

Atheismus 62f.

Athene 98.

Attika’ 21.

Aufgabe des Eu. 63ff.

Augenheilung 25.

Augensalbe 25.

Ausbildung 26.

Ausharren, vernünftiges 37.

im Kampfgetöse 38. |

Ausleger des delphischen Rechts 59. 72. 81.

Basileus, Halle des 68. 96. Baumeister 91.

Befleckung 58. 72. 97.

Begriff, Untersuchung des B.s 63. Begriffe, ethische 2. 64. 78.

Beharrlichkeit 36. 39,

Berufsgenossenschaft 105.

Beten 92.

Beweis, indirekter (apogogischer) 84. 108

Bibel 2. 11, 58. 107.

Böotien 7,

Böse opp. Gut 50. 78,

Charoiades 5, Chronologie 10, 54, culpa 60,

Daidalos 85. 86. 94. 104f. Daimonion 97.

Damon 17. 46. 50. 51. deductio ad absurdum 103.

' Definition 106.

Delion 6. 12. 18.

Demen (Verfassung) 53. Demokratisches Prinzip 53. Denken (und Handeln) 11. Dichter 75.

δίκη 96.

dolus eventualis 60. Dreieck 106.

Echtheitsfrage des La. 5. Eu. 57

Erziehung 14 fr.

Etymologische Untersuchungen 57.

Eurymedon, Feldherr 8. Euthyphron (Persönliches) 57 ff.

Fachmann 2.

Fahrlässigkeit 60.

Fechtkunst 14. 16. 19—24, Feigheit opp. Tapferkeit 35f, Feldherrn 91. Feldherrnkunst 9. 48.

1) Verfaßt vom Herausgeber Dr. Benno von Hagen in Jena,

110

Fesselung 59. 72. 81. Fliegerkunst 71. Flötenbläser 41.

Form, Schönheit der 10]. Frauen 45.

Freundschaft, Gott der 75. Friedenspartei 7. Frömmigkeit 50.

Fromm an sich 99.

Fromm (def.) 74. 76. 82ff, 88. 90f. [92£.

Fromm opp. Gottlos 74, Furcht 47. 87. 105. Fußvolk 34,

(astmahl δά.

Gattungsbegriff &6ff. 105. Gaugenosse 17. 29. 53. Gegenleistung 93.

Geld, Verwendung von 37, genus proximum 106, (Greometrische Figuren 106. Gerecht (Begriff) 86. 87f. 105f. (rerecht opp. Ungerecht 78. (serechtigkeit 47. 107. Gericht, Verhalten vor 79. Geschlechtsgenossenschaft 105. (reschwindigkeit 36. Gesundheit opp. Krankheit 42, Gewichtsbegriffe 77.

Glauben opp. Wissen 98. (Goethe 2.

(sott der Freundschaft 75. (Gottesdienst 92.

(ottlos opp. Fromm 74. Grottlosigkeit 73,

γραφή 960.

(sut und Böse 50.

Gut opp. Böse 78, Gutswirtschaft 59. 72. Gylippos 8.

Gymnasien 54.

(symnasion Lykeion 96.

Habichtsnase 68.

Häßlich opp. Schön 78. 100. Halex (Fluß) 6. Handelswissenschaft 93. Hauptwerk 91.

Hera 79. 100£.

Heraklit 67.

Herdgenossenschaft 58. 61. 72. 97.

Herodot 55.

Register.

Hephaistos 79. 101.

Hesiod 60.

Homer 34. 52. 5b. 56. 100f. 1078. Hoplomachen 21.

Horaz 55.

Hunde 89.

Jagd, Bild von der 40. Ideenlehre 66. 106.

Ilias 55. 100£. ie, Ilissos (Fluß) 96.

Ironie 58. 94. 95. 98.

Kardinaltugenden 107. Karier 28. 54.

Kinder, Unverstand der 45. Klageschrift 63. Kleisthenes 53.

Kleruch 59.

Königtum 96.

Krankheit opp. Gesundheit 42. Kratylos 57.

Kriegskunst 20. Kriminalklage 68. 96. 101. Kriton 67. 98.

Krommyon 56.

Kronos 58. 60. 79. 100. Kultusvorschriiten 61. Kunst, Bild von der 86 Kypria 105.

Kythera 7.

Laches (Persönliches) 1.

Laienstandpunkt des La. 4,

Lakedaimonier 21.

—, Kampfesweise der 34f.

Lamachos 7. 46. 56.

Landwirte 42. 48. 69. 91,

Leben opp Tod 42f.

Lehrer, Alter des L.s 31.

—, Notwendigkeit des L.s 52.

—, gute 26.

Lehrerpersönlichkeit 31.

Lehrtätigkeit, Auffassung der 70.

Leibesübung 19.

Leideform (Passivum) 82f. 103.

Leontiner 5.

Logische Erörterungen 64. 106.

Logoslehre 67.

Lokrer 6.

Lungenentzündung, Verhalten be, 37.

Register.

Lykeion 68. 90, Lykon 96. Lyra 30. Lysimachos 10.

Mäßigung 47.

Maler 75.

Mantik 58.

Mantinea 6. 12.

Maßbegriffe 77.

Megaris 56.

Mehrheit (Mehrzahl) 24.

Melanchthon 107.

Melesias 10,

Meletos 63. 65. 68f. 73. 14, 88, οθδῖ. 97.

Melos 6.

Mende 7.

Messana 6.

Methode 64f.

Methone 7.

Mildernde Umstände 101.

Militärbehörde, oberste 54.

Minoa (Insel) 6.

Mondfinsternis 8.

Mord 60. 74. 81. 101.

Musiklehrer 17. 54.

Mylä 6. Mythen 58. 61. 75. Naxos 59. 72.

Nebenzweck des Eu. 65. Neuerer, religiöser 70. Nierenkrankheit 8.

Nikeratos 6. 51.

Nikias (Persönliches) 6ft. Nikiasfrieden 6.

Nikostratos 6.

Nisaea 6.

Nutzen opp. Schaden 90. 93.

Odyssee 56. 107f.

Offenbarung der Gottheit 69. 97. Opfern 92.

Orakel zu Delphi 59.

Oropos 7. | Orthodoxie in Athen 58. 102.

Palästren 54,

Panathenaeen 75. 98.

Parthenon 98,

Parther 55. Passivum (Leideform) 82 ἔ, 85. 103.

117

Pathos (πάϑος) 108.

Perikles 6. 10.

Perser 385.

Pferde 25. 89.

Phaia 55.

Phalanx 55,

Philosophie, sche 1.

Pitthos 68.

Plataeae, Schlacht bei 35. δῦ.

Plutarch 55f.

Polias (Athene) 98.

Prodikos 46. 56. -

Protagoras 1. 11. 12. 13. 67.

Proteus 94. 108.

Prozeß des Sokrates 66. 73.

des Eu. ?71£. 81.

Prüfung durch Sokrates 29.

Pythagoreer 67.

Pythokleides 54.

Quadrat 106.

Räumliche Anschauung 106.

Reiterei 84.

Religiöser Standpunkt des Sokra- tes 62f.

Rinderhirten 89.

Rosse des Aeneas 34.

Rückzugsstrategie 34.

Sachkenntnis 24.

Sau, krommyonische 45, bdf. Schaden opp. Nutzen 93.

Scham 87. 105.

Scheu 105.

Schiedsrichteramt des Sokrates 23. Schiffsbaumeister 90.

Schiller 11.

Schön opp. Häßlich 78. 100. Schuldfrage 59. 72.

Schule, Notwendigkeit der 52. See, Bild.von der stürmischen 40. Seher 43. 71.

Sichellanze, Erfindung des Stesi- Sizilien 5, [leos 22. Sizilische Expedition 7.

Skione 7,

Skythen, Rückzug der 34. Sokrates im La, 10.

im Eu. 61—63.

Solon 30f.

Sokratisch-Platoni-

118

Sophisten, Honorar der 27.

—, synonyme Unterschiede bei den 46.

Sophistik, Grundanschauung 1.

Sophroniskos, Vater des Sokrates

Sorge (def.) 89. [17. 54.

Spezies 106.

Sprache 105.

Sprachgebrauch von φόνος ὅθ, 97.

Sprichwort 28. 45. 54. 55.

Staatsanwalt 60.

Staatsinteresse 96.

Stallmeister 89,

Steinbrüche 9,

Stesileos 22.

Stimmenmehrheit 24.

Strafe 80.

Streitwagen 34.

Sykophanten 98.

Synonyme Unterschiede 46.

Syrakus 5. 8.

Szenerie 10,

Tagelöhner 59. 72. 81. 9.

Register.

Tonkünstler 30,

Totschläger 59. Tragödiendichter in Attika 21. Trunkenheit 59. 72.

Tugend, Arten der 88, 47. 50. —, Gesamtheit der 50. Turnlehrer 24,

"Übereinstimmung zwischen Wissen und Wollen 10f.

Überschrift 4,

Umfang des Begriffs 86. 106.

Ungerades 87.

Ungerecht opp. Gerecht 78.

Ungeschicklichkeit, körperliche 22.

Unrecht 80.

Unterricht 1588.

Unverstand . von Kindern Tieren 45,

Uranos 79. 100.

und

[818 (οὐσία) 104.

Väter, Taten der 15. Vater und Sohn (Verhältnis) 71f. 81.

Taktik der Spartaner bei Plataeae | Vergeßlichkeit im Alter 32.

Tanagräer 7.

Tantalosschätze 86. 105.

Tapferkeit (def.) 84. 36. 41. 44. 49f.

im Kriege 35.

auf See 35.

bei verschiedenen Anlässen 35.

Technik (des Reitens, Schießens usf.) 38,

Teile des Begriffs 86f. 88.

Tempelraub 74.

Textkritisches 55. 99. 100. 1018,

Theologenhochmut 58. 91. 103.

Therapeia (ϑεραπεία) 106. 107.

Thermopylä (Schlacht) 55.

Theseus 98.

Thukydides, Historiker 8. 10,

--, Parteiführer 10.

Thyrea 7.

Tiere, Fürsorge für 89.

—, Tapferkeit der 45.

Timäus 66.

Tischgenossenschaft 58. 61. 72. 97.

ἐξ öpferkunst 55.

Tötung, fahrlässige 59f.

Tonarten (dorische, jonische usf.) 30.

[34f. Verlegenheit (des Nikias) 44.

Verurteilung des Sokrates 66.

Verwegenheit 45.

Volksreligion, Stellung des So- krates zur 62.

Voraussagungen 70.

Wahrsager 9. 48. Weidmann 89. 107.

Wesen der Frömmigkeit 93.

Widerspruch, offensichtlicher 79. 84f.

Wirklichkeitssinn Platons 2.

Wissen 40f. 49. 98.

Wissen (def.) 48.

Wissen opp. Glauben 98.

Wissen und Wollen 10f,

Wissenschaft des Arztes 48.

Wohlgefallen 91. 9.

Wollen und Wissen 10f.

Xenophon 98.

Zahl 87. 106.

Zahlbegriffe 77.

Zeit der Abfassung des La. 12, des Eu. 66f.

Zeus 58. 60. 74. 79. 87. 98. 100.105.

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PLAION APOLOGIE DES SOKRATES UND KRITON

ÜBERSETZT UND ERLÄUTERT VON

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ZWEITE, DURCHGESEHENE AUFLAGE

DER PHILOSOPHISCHEN BIBLIOTHEK BAND 180 LEIPZIG 1922 / VERLAG VON FELIX MEINER

Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechte, vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis.

1. Apologie des Sokrates . a. Einleitung b. Übersicht über die Llleniten. c. Inhalt und Gliederung . d. Übersetzung . e. Anmerkungen .

L9

. Kriton . a. Einleitung b. Inhalt und en c. Übersetzung . d. Anmerkungen

3. Register zu Apologie und Kriton N

Seite

1—71

1—16 17—19 20—22 23—63 64— 71 72—105 72—81 82 83—103

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Einleitung zur Apologie.

Nur wenigen Männern von weltgeschichtlicher Be- deutung ist ein Schicksal beschieden worden wie das des Sokrates. Er durfte ein langes, der innersten Über- zeugung von seinem einzigartigen Berufe durchaus ent- sprechendes und diesem Beruf unausgesetzt gewidmetes Leben durch einen Tod beschließen, der, wenn auch an sich noch so tragisch, ihm selbst doch eher als ein Glück denn als ein Unglück erschien: in voller Seelenruhe, in ungestörtem Gleichmut, ohne die mindeste Trübung seiner Stimmung geht er dem über ıhn verhängten Ende entgegen, seinen Freunden ein Tröster und Mahner, der Mit- und Nachwelt aber ein erhebendes und eindrucks- volles, immerdar wirksames Muster wahrer Seelengröße. Diese Wirkung aber auf die Nachwelt würde nicht so sicher, nicht so stark und nachhaltig gewesen sein, wenn nicht der Griffel Platons den Hergang der Sache seiner höheren Bedeutung nach in ergreifender und eindring- . lichster Weise verewigt hätte. Aus dem Dreigestirn von Schriften, die dem persönlichen Schicksal seines Lehrers gewidmet sind, hebt sich die Apologie als unmittelbarstes und lebendigstes Zeugnis für. die Geistesart des So- krates heraus, denn hier führt er allein in eigenster Sache das Wort. Das Bild, das wir dadurch von ihm erhalten, ist so eindrucksvoll, steht so in Einklang mit allem, was wir sonst von ihm wissen, ist in sich so geschlossen und einheitlich, gibt uns einen so würdigen Begriff von der Seelenstärke und unbeugsamen Willenskraft des Man- nes, daß wir unwillkürlich an seine Wirklichkeit glauben, uns wenigstens keinen anderen Sokrates vor den Richtern

Platon Apologie und Kriton. Phil. Bibl. Bd. 180. 1

2 Einleitung.

wünschen möchten als diesen. Kein Wunder also, wenn nicht wenige Beurteiller im Anschluß an Schleier- macher die Meinung vertreten haben, die Apologie sei nichts anderes als eine getreue Wiedergabe der von So- krates vor den Richtern gehaltenen Rede.

Daß diese Ansicht nicht unangefochten bleiben würde, ließ sich bei dem emsigen Forschungseifer und regen Spürsinn unserer Ältertumsforscher um so eher erwarten, als es sich hier um ein Ereignis handelt, das an sich der weitesten Teilnahme und Beachtung sicher sein kann um ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung anderseits um eine Frage, deren wenigstens streng philologische Beantwortung nicht lediglich auf der Plato- nischen Apologie selbst beruht; vielmehr liegt ein nicht unbedeutendes Aktenmaterial vor, das zur Vergleichung herangezogen werden muß, ein Aktenmaterial, das übri- gsens nur einen Teil bildet der üppig wuchernden Lite- ratur, die sich im Altertum sehr bald an den die Ge- müter mächtig erregenden Prozeß anschloß'). Es ist das erstens die Xenophontische. Apologie des Sokrates, so- dann das erste Buch sowie das Schlußkapitel der Xeno- phontischen Memorabilien, ferner die nur literarische An- klagerede des Sophisten Polykrates gegen Sokrates, von der sich nicht unbeträchtliche Spuren bei Libanius erhalten haben, sowie endlich die Entgegnung des Lysias auf die literarische Anklage des Polykrates. Von dieser ebenfalls rein literarischen Auslassung des Lysias läßt sich wenigstens so viel sagen?), daß man sie im Alter- tum weiterhin in Verkennung ihres rein literarischen Charakters für eine wirklich für Sokrates zum gericht-

1) Die Xenophontische Apologie weist gleich im Eingang auf die Fülle dieser Literatur hin, und daß sie sich auch noch weiterhin vermehrte, sehen wir unter anderem daraus, daß noch der Phalereer Demetrius eine ἀπολογία Σωκράτους verfaßt hat, von des Libanius Apologie des Sokrates gar nicht zu reden.

2) Vgl. Hirzel, Rhein. Mus. 42, 2398. Auch ein kleines Frag- ment der Lysiasrede ist erhalten, s. Schanz, Einl. zur Apol, p. 35

Einleitung. 3

lichen Gebrauch geschriebene Rede hielt, wie denn auch Polykrates seine Anklagerede dem Anytos in den Mund gelegt hatte. Da das zeitliche Verhältnis der einzelnen Aktenstücke zueinander manchem Zweifel unterliegt, so kann man leicht ermessen, daß sich hier ein weites Feld für Meinungsverschiedenheiten bietet. Die strittigen Punkte im einzelnen darzulegen würde für die Bedürf- nisse nichtphilologischer Leser wenig am Platze sein. Es genügt dafür auf die eingehenden Ausführungen von M. Schanz zu verweisen, die dieser in der Einleitung zu seiner erklärenden Ausgabe der Apologie (Lpz. 18953) gegeben hat. So viel scheint jedenfalls sicher, daß in der Platonischen Apologie die Anklage des Polykrates nicht berücksichtigt ist. Die Abfassung der ersteren liegt somit allem Anschein nach zeitlich vor der Anklage des Polykrates. Um so umstrittener ist das Zeitverhältnis nicht nur zwischen der Platonischen und der Xenophon- tischen Apologie, sondern auch zwischen der letzteren und den Memorabilien. Dazu kommt noch die Echtheits- frage für die Xenophontische Apologie; denn noch immer finden sich auffallenderweise Kritiker, welche diese Schrift dem Xenophon absprechen.

Wir werden uns also die Freiheit nehmen, das philo- logische Beiwerk, mit dem die Frage belastet ist, beiseite zu lassen, werden vielmehr nur aus der Betrachtung der Schrift selbst und der für ihre Abfassung maßgebenden Umstände uns ein Urteil zu bilden suchen über ihren Charakter und ihre damit zusammenhängende historische Zuverlässigkeit.

So viel wird jeder einsichtige Leser von vornherein zugeben, daß des Sokrates Rede nicht wortgetreu wieder- gegeben ist. Stenographische Wiedergabe der Gerichts- verhandlungen gab es nicht. Die Berichterstatter waren, soweit es sich nicht um geschriebene, also auswendig ge- lernte Reden handelt, auf ihr Gedächtnis angewiesen. In dieser Beziehung kann man nun zwar dem Platon, der, wie die Apologie selbst berichtet, der Verhandlung

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4 Einleitung.

beiwohnte, ein gut Teil mehr zutrauen als einem gewöhn- lichen Sterblichen. Allein eine wenn auch nur nahezu wörtliche Wiedergabe scheint doch ausgeschlossen an- gesichts der Tatsache, daß Redeweise und Darstellungs- art der Apologie sich durchaus nicht von der uns von den Dialogen her bekannten Manier des Platon unter- scheiden. Man wird sich demnach kaum des Eindrucks erwehren können, daß die sprachliche Einkleidung im wesentlichen auf niemandes anderen Rechnung zu setzen ist als auf die des Platon selbst. Und man wird vielleicht in bezug auf das Formelle der Darstellung noch einen Schritt weiter gehen und behaupten können, daß auch, was die Gruppierung des Stoffes, die Farbengebung und die Intensität der Beleuchtung in gewissen Partien an- langt, Platon sich manche Freiheit erlaubt haben mag '). Auch wird er weder alles, was über des Sokrates Lippen gegangen, dem Inhalte nach pedantisch wiedergegeben noch sich gescheut haben sich diesen oder jenen erläu- ternden oder erweiternden Zusatz zu gestatten.

Allein mit allen diesen Zugeständnissen bleiben wir doch noch in erheblicher Ferne von dem Standpunkte der- jenigen, die in der Apologie nichts anderes sehen wollen als eine freie Schöpfung Platons. Nicht an die Richter soll nach dem Hauptvertreter dieses Standpunktes?) die Rede ihrer wahren Bestimmung nach gerichtet sein, son- dern an das gesamte hellenische Publikum; nicht auf die Widerlegung der Ankläger soll sie berechnet sein, sondern auf die Darlegung der göttlichen Mission des Sokrates als des berufenen Menschenprüfers; nicht sowohl um Ab- wehr der Verurteilung soll es sich handeln .als um den Gedanken, daß diese Verurteilung ungerecht war. Und die Rechtfertigung muß sich zu einer Charakteristik des verurteilten Weisen erweitern. Es soll in die Seele der Leser ein Bild des Märtyrers gesenkt und sein An-

1) Hierzu vgl. das in der Anmerkung 40 zu dem 17. Kapitel

(28Eff.) über die Komposition der Schrift Gesagte, 3) M. Schanz a. a. OÖ. p. 69ff. 75, 91. 101.

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denken für alle Zeiten festgestellt werden. Diese Auf- fassung scheint eine Stütze zu finden in dem bereits an- gedeuteten Umstand, daß die Rede nicht eben den vollen Eindruck der Improvisation macht. Wäre sie eine reine Wiedergabe der wirklichen Rede, so würde das zur Vor- aussetzung haben, daß Sokrates wohl vorbereitet in die Gerichtsverhandlung eingetreten wäre, eine Voraus- setzung, die wenig zu dem Wesen des außerordentlichen Mannes stimmt und von Xenophon') ausdrücklich abge- wiesen wird. Gleichwohl läßt sich schwerlich bestimmen, wie weit es einem Sokrates gelingen konnte, ohne eigent- liche Ausarbeitung, jedenfalls aber doch nicht ohne einiges Überdenken der Sache, die ihn innerlich ja doch beschäf- tigen mußte, vor Gericht etwas vorzubringen, was Hand und Fuß hatte und auch einiges beitrug zu dem Eindruck, den die angeblich ganz freie Schöpfung Platons nach dem Urteil der Vertreter dieses Standpunktes dem Obigen zu- folge macht.

Folgen wir der Ansicht dieser Kritiker, so würde sich Platon bei Abfassung der Apologie etwa in der Lage eines Dichters befunden haben, der gewisse Vorgänge des Lebens, die er beobachtet hat, zur Grundlage einer dra- matischen Dichtung macht. Um aber ein wirkliches Drama daraus zu machen, kann der Dichter nicht auf das Recht freier Gestaltung verzichten, denn das Leben. ist nie so gefällig, ihm den Stoff schon in der den An- forderungen der Kunst entsprechenden Präformation dar- zubieten. Mit dieser Freiheit nun hat es bei dem Dichter eben Keine Not; denn die Personen, um die es sich handelt, sind dem Publikum meist ganz unbekannt und er der Dichter hat kein Interesse daran, das Publikum auf sie als auf die Urbilder der Dichtung hinzuweisen; weit eher ist das Gegenteil der Fall. Ganz anders bei Platon. Er hatte es mit einer jedermann wohlbekannten Person, mit einer die ganze Bürgerschaft tief erregenden Sache

1) Memor. IV, 8, 5.

6 Einleitung.

zu tun. Dem Auftreten des vielleicht volkstümlichsten Mannes Athens vor Gericht eine ganz andere Färbung zu geben, als ihr tatsächlich zukam, konnte selbst ein Pla- ton nicht ungestraft wagen. Daß die Apologie wohl nur wenige Jahre nach dem Tode des Sokrates abgefaßt ist, darüber herrscht ziemliche Übereinstimmung. Bei dem großen Aufsehen aber, das der Prozeß erweckt, und der Teilnahme, die er gefunden, war es selbstverständlich, daß ein wenn auch mit den Rechten literarischer Wiedergabe ausgerüsteter Berichterstatter sich keiner groben Verstöße gegen die Tatsachen schuldig machen konnte, ohne auf den stärksten Protest der Leser zu stoßen. Die fünf- bis sechshundert Richter, dazu das zahlreiche Publikum, das der Verhandlung mit Spannung gefolgt war, stellten eine Schutzmacht zugunsten des wirk- lichen Sachverhalts dar, gegen die schwerlich selbst der göttliche Platon aufgekommen wäre. Zudem war es in diesem Falle eine Art Ehrensache, den Sokrates in seiner eigentlichen Gestalt vorzuführen, ihm kein wesentlich ver- ändertes Gesicht zu verleihen; denn wurde hier bei so starker und aktueller Kontrolle ein ganz idealisiertes Bild gegeben, so konnte das bei dem besser unterrich- teten Publikum nur Befremden erwecken. Bedurfte es so könnte man fragen so starker Nachhilfe für den Sokrates, um sich literarisch vor dem Publikum sehen lassen zu können? |

Vergleicht man die literarische Sachlage der Apo- logie mit der des Dialogs Phaidon, so springt der Unter- schied in die Augen. Dort eine gerichtliche Einzelrede, öffentlichen Charakters und für jedermann kontrollierbar, hier Unterhaltungen des Freundeskreises in der Abge- schiedenheit der Gefängniszelle, denen schon die dialogische Form eine Art Freibrief für eigenmächtige künstlerische Behandlung gab. Dort sachliche Gebundenheit, hier dich- terische Freiheit mit einziger Ausnahme der Erzählung der eigentlichen Todesszene. .

Spricht also die ganze Sachlage bei Abfassung der

Einleitung. 7

Apologie dafür, daß Platon sich nur für die Form- gebung freie Hand vorbehalten hat, so fehlt es doch auch nicht an gewissen Einzelheiten, die als tatsächliche Be- stätigungen für diese Auffassung gelten können. So vor allem die Namennennung einer Reihe von anwesenden Freunden, auf die 33D ff. von Sokrates hingewiesen wird; ebenso 36 A die Bemerkung über die geringen Erfolge der persönlichen Bemühungen des Meletos zur Herbeiführung der Niederlage des Sokrates, die vielmehr als das Werk des Anytos und Lykon anzusehen sei; denn diese Be- merkung ergibt sich ganz unmittelbar aus der unleugbar tatsächlichen Situation. Anderseits wäre es kein Wunder gewesen, wenn bei den teilweise recht stürmischen Szenen der Verhandlung eine oder die andere Äußerung ungenau oder mißverständlich aufgefaßt worden wäre. Die Xeno- phontische Apologie sagt sehr richtig, jeder Gegenantrag trage in solchem Falle schon an sich ein gewisses Ein- geständnis der Schuld in sich; dementsprechend läßt sie ihren Sokrates überhaupt von Stellung eines Antrages absehen; kommt es aber zur Stellung eines solchen, so ist selbstverständlich ein Antrag logischer und besser als zwei oder drei. Es ist nun sehr wohl denkbar, daß Sokrates die stolze Bemerkung über Speisung im Pryta- neion als der einzig würdigen Erwiderung des Staates für seine Verdienste um die Bürgerschaft in seine Rede zwar habe einfließen lassen, aber als bloße Gewissens- schärfung für die Richter, ohne sie zu einem eigentlichen Antrag zu formulieren, und daß die darüber entstehende Unruhe eine irrtümliche Auffassung bei Platon und viel- leicht auch bei anderen hervorrief.

Auch der Umstand, daß Sokrates sich ab und zu auf Dinge einläßt, die nicht unmittelbar den Wortlaut der Anklage zum Gegenstand haben, gibt keinen Grund zu der Annahme, das sei ein dem Sokrates nicht zuzu- trauendes Hineintragen ungehöriger Dinge in die an die Anklage gebundene Verteidigung; denn neben der eigent- lichen Anklage stehen doch im Gerichtsverfahren die

Einleitung.

ζο

Reden der Ankläger, die manches enthalten mochten, was, ohne im strengen Sinne zur Anklage zu gehören, eine Entgegnung forderte. Mit besonderem Nachdruck hat man aber darauf hingewiesen‘), daß Sokrates, statt sich im eigensten Interesse mit der Abwehr der ihm zuge- schriebenen Vergehen zu begnügen, die Anklage geflis- sentlich erweitere; nötigt er doch den Meletos geradezu zu dem Bekenntnis (26 Β), daß er ihn (den Sokrates) für einen kompletten Atheisten halte. Das heiße doch, meint man, sich selbst die Grube graben, in die man hinein- gestürzt werden soll. Ganz abgesehen nun von der Frage, ob es nicht doch zuweilen im Interesse eines Angeklagten liegen kann, die Anklage nach dieser oder jener Seite hin zu erweitern, ist es gewiß bei niemandem weniger angebracht als gerade bei Sokrates, ihn zum achtsamen Befolger juristischer Technik und Taktik zu machen. Wenn irgend jemand, so war er der Mann, sich nicht an vermeintliche Regeln zu binden, sondern frank und frei den Eingebungen seines Geistes zu folgen. Aber liegt denn die Sache hier wirklich so, daß Sokrates sich einer starken Sünde wider den heiligen Geist der Rechtspraxis schuldig macht? Durch nichts kann man sich vor Gericht eine bessere Position verschaffen als dadurch, daß man den Gegner in recht ernste Widersprüche mit sich selbst verwickelt. Man macht ihn dadurch mundtot. Und das ist es, was Sokrates vollständig erreicht durch die an die Spitze gestellte Frage nach seinem Gottesglauben überhaupt. Die Anklage beruft sich zum Beweise ihrer Rechtsgültigkeit lediglich auf das δαιμόνιον des Sokrates. Es war also ganz richtig und sachgemäß, wenn Sokrates, um den Gegner in Widerspruch mit sich selbst zu brin-

1) So Schanz ἃ. ἃ. Ὁ. p. 72: „In der Apologie tritt uns das Ungeheuerliche entgegen, daß der Angeklagte den Klagegrund zu seinen Ungunsten verschiebt. Während er nur der Einführung neuer Gottheiten beschuldigt wird, läßt er sich vom Meletos die Anklage dahin erläutern, daß er zum Atheisten gemacht wird, und verteidigt sich daraufhin gegen den Atheismus.“

Einleitung. 4

gen und ihn dadurch matt zu setzen, sich zunächst nur streng an dieses Argument hielt. Auf Grund desselben konnte er schlagend beweisen, daß er alles andere eher als ein Atheist sei. Damit hatte er dem Meletos eine entscheidende Niederlage beigebracht: der Vorwurf des Atheismus, der zwar nicht einen Teil der gerichtlichen Anklage bildete, aber von Sokrates dem Meletos kluger- weise abgelockt worden war, war in sich zusammen- gebrochen, zusammengebrochen mit Hilfe gerade des ein- zigen Beweismittels, dessen sich der Gegner in der An- klage bedient hatte. Mehr allerdings als die Nichtig- keit dieser Beschuldigung konnte auf diesem Wege nicht bewiesen werden. Es blieb also noch die weitere Be- schuldigung bestehen, die sich auf das Verhältnis des Sokrates zu den staatlich anerkannten Gottheiten bezog. Hier konnte aber Sokrates ruhigen Blutes abwarten, ob die Gegner sich darauf überhaupt noch einlassen würden. Er hatte nur nötig auf das zu verweisen, was er bereits vorher (21Aff.) über sein inniges Verhältnis zum del- phischen Apollo vorgebracht hatte, als dessen eifrigsten Diener nicht nur er sich bekannte, sondern auch der Gott ihn anerkannte. Und was die spezifisch attischen Gott- heiten anlangt, so konnte er sich mit bestem Gewissen, wie er es auch in der Xenophontischen Apologie (8 11) tut, auf seine regelmäßige Teilnahme an allen öffentlichen Opfern wie auf seinen häuslichen Gottesdienst berufen !).

1) Dies war ein sehr wesentliches Moment für den Nachweis der Rechtgläubigkeit, deren wachsamer Hüter, wenigstens in der klassischen Zeit, der Demos war. Das antike Demokratentum ist in politischen Meinungen, Wünschen und Bestrebungen ziemlich auf den nämlichen Ton gestimmt wie das moderne. Ganz anders aber steht es in Sachen der Religion; diese durchdrang im Altertum der- maßen das ganze staatliche und private Leben wie auch alle Ge- biete der Kunst, daß eine Abkehr von ihr oder gar eine Verun- glimpfung nicht viel weniger bedeutete als einen Bruch mit der Volks- gemeinschaft. Der religiöse Freisinn hat seinen Sitz nicht im Lager der Demokratie, sondern der Aristokratiee Männer wie Kritias

sind ihre Bannerträger. Erst seit dem 4. Jahrhundert änderte sich das allmählich.

10 Einleitung.

Die Gegner hüteten sich denn auch sorglich vor weiterer Berührung dieser religiösen Fragen und darin liegt mittelbar zugleich ein wertvolles Eingeständnis ihrer wahren Beweggründe: die Verdächtigung der Recht- gläubigkeit des Sokrates war ihnen, wie es scheint, nur Vorwand für teils persönliche teils politische Gegner- schaft, die sich hinter der Anklage versteckte.

Man kann sich ohne Bedenken alles, was Sokrates. in der Apologie vorträgt, recht wohl als von ihm erwähnt denken, mag es auch in anderer Form geschehen sein. Jedenfalis wird man dem Sachverhalt nicht gerecht, wenn man mit polizeimäßigem Spürsinn angebliche Sünden nach dieser Seite hin aufzudecken bemüht ist. So könnte es (nach 20Ef£.) scheinen, als hätte Sokrates, wie man das tatsächlich aus der Stelle herausgelesen hat, seine die Menschen zur Selbsterkenntnis anregende Tätigkeit erst von dem Zeitpunkt ab begonnen, wo ihm Chairephon den Spruch des deiphischen Gottes mitgeteilt hat. Allein näher zugesehen handelt es sich von da ab um das absichtliche Aufsuchen von Männern, die in dem Rufe besonderer Tüchtigkeit in irgendwelchem Fache stehen. Das schließt doch nicht aus, daß Sokrates schon vorher wie auch nachher seine Kraft und seine Zeit oft genug aufklären- den Unterhaltungen mit ihm sich beliebig zugesellenden Leuten gewidmet hat; tut er doch selbst (23C) des Um- standes Erwähnung, daß er bei Prüfung und Verhör der von ihm aufgesuchten Zelebritäten gewöhnlich eine Schar von Jünglingen als Gefolge um sich gehabt habe, denen diese Menschenprüfung, diese Demaskierung, nicht wenig Vergnügen bereitet habe. Es werden also hier seine gewöhnlichen Begleiter hinreichend scharf unter- schieden von jenen vermeintlichen Größen, die er eigens für seine besonderen Zwecke aufsucht. Schon lange also kann Sokrates den ungesuchten geistigen Verkehr mit allerhand Leuten gepflegt haben, die Wert legten auf seine Unterhaltungen, ohne daß das athenische Publikum sıch irgendwie darüber aufregte.

Einleitung. ıl

Was aber die aus Anlaß des delphischen Spruches erfolgende eigenartige Wendung in seiner Tätigkeit an- langt, die von ihm selbst als eigentlicher Grund zu der gegen ihn sich ansammelnden Feindschaft und Gehässig- keit bezeichnet wird (23 A), so sind es drei Berufsarten, die sich von des Sokrates Zudringlichkeit beunruhigt sehen: die Dichter, die Handwerker und die Staatsmänner (Redner). Und diese drei Gruppen sind es denn auclı, aus denen die Ankläger des Sokrates hervorgegangen sind: Meletos als Vertreter der gekränkten Dichter, Any- tos: als Vertreter der Handwerker, Lykon als der der Redner.

Werfen wir, soweit es die Überlieferung gestattet, einen Blick auf diese Männer, um daran eine kurze Betrachtung über die Ursachen des denkwürdigen Pro- zesses zu knüpfen. Der Wortführer war Meletos, ein junger und wenig bekannter Mann, Dichter von Beruf wie sein Vater. Dieser sein Vater hatte, wenn auch nicht völlig talentlos, doch wegen seiner Tragödien den Spott des Aristophanes über sich ergehen lassen müssen. Neben Meletos trat als zweiter Ankläger, als Vertreter der Handwerker, der ungleich bedeutendere und politisch einflußreichere Anytos auf, der aus dem Dialog Menon als eifriger und leidenschaftlicher Gegner der Sophisten und Weisheitslehrer bekannt ist. Als Inhaber einer großen Gerberei erfreute er sich eines ansehnlichen Wohl- standes, der ihm im Verein mit entschiedener politischer Begabung und reger Tatkraft die Wege geebnet hatte zu einer führenden Stellung im Staate an der Spitze der Demokratie, der er mit Leib und Seele ergeben war. Er hatte sich neben Thrasybulos und Archinos hervorragend verdient gemacht um Wiederherstellung der Demokratie durch den Sturz der Dreißig. Mit Sokrates, den er nicht umhinkonnte als einen: Vertreter der sophistischen Rich- tung anzusehen, hatte er sich wegen seines Sohnes über- worfen, dem er dem Rate und der Warnung des Sokrates zuwider den Weg zu höherer Geistesbildung verschlossen

19 Einleitung.

hatte, um ihn im eigenen Interesse am Gerbereigeschäfte festzuhalten, ein Verfahren, das sich bitter rächen sollte: der Sohn ergab sich dem Trunke und nahm ein trauriges Ende. Der Dritte im Bunde war Lykon, der Vertreter der Redner, über den wir im Grunde nicht mehr wissen als was wir aus der Apologie selbst entnehmen können. Denn was sonst über ihn in einem Scholion zur Pla- tonischen Apologie berichtet wird, ist wenig verläßlich.

Könnte es hiernach scheinen, als wären für die An- klage persönliche Beweggründe und Berufsinteressen aus- schließlich maßgebend gewesen, so liegt doch in dem von Platon selbst angedeuteten (36.A) Umstand, daß bei äußer- lichem Zurücktreten in dem Anklageverfahren tatsächlich doch Anytos die eigentliche Führung in der Hand hatte, ein bedeutsamer Hinweis darauf, daß die Sache auch einen politischen Hintergrund wenigstens gehabt haben kann, wie dies schon oben in anderem Zusammenhange angedeutet ward. Der Prozeß fällt in eine Zeit, in der die politische Atmosphäre wie geladen war von elek- trischen Spannungen. Zwar hatte die demokratische Partei nach ihrem Siege in einer Anwandlung von poli- tischer Großmut oder vielleicht richtiger gesagt in kluger und wohlberechneter Mäßigung eine allgemeine politische Amnestieergehen lassen. Aber nicht lange, so tauchte der alte Groll wieder auf; das fortwirkende bittere Gefühl der Leiden, die der Frevelmut und die Grausamkeit der Tyrannen dem Demos auferlegt hatte, die unheilbaren Wunden, die so vielen Familien geschlagen worden waren, ließen, verschärft vielleicht durch mancherlei Umtriebe der (regenpartei, kein ruhiges gegenseitiges Vertrauen aufkom- men. Sykophantentum und demagogische Wühlereien waren wieder am Werke, kurz der finstere Geist der Rachsucht regte sich mächtig im Volke. Sokrates aber, obschon durchaus kein fanatischer Parteimann, ja sogar durch ein Gesetz der Dreißig damals in seiner gewohnten Tätig- keit wesentlich beschränkt, war gleichwohl in den Augen mancher demokratischen Führer, insbesondere des Any-

Einleitung. 13

tos, ein gefährlicher Sophist nicht nur, sondern auch Op- timat, der namentlich durch seine Beziehungen zu dem Haupte der Dreißig, zu Kritias, schweren Verdacht auf sich gelenkt hatte. Ihn aus dem Wege zu räumen mochte die demokratische Partei mithin einiges Interesse haben und die Religion zu Hilfe nehmen, wo die Politik wegen der Amnestie nicht herhalten konnte.

Dem mag nun sein wie ihm wolle; für uns liegt die Bedeutung der Platonischen Apologie nicht in der Auf- klärung dieser Frage, sondern in dem erhebenden Ein- druck, den die Haltung des Sokrates gegenüber dem über ihn heraufziehenden Ungewitter macht. Seines Wertes und seiner Schuldlosigkeit sich vollkommen bewußt und durchdrungen von der unerschütterlichen Überzeugung, daß sein Schicksal in der Hand der gütig waltenden Gott- heit auf das beste gewahrt sei, sah er mit völligem Gleichmut dem Ausfall des Prozesses entgegen, nicht zwar seines gerichtlichen Sieges gewiß, desto gewisser aber seiner selbst und damit des moralischen Sieges. „Gern verzichtete er auf die kurze ihm noch etwa bevor- stehende Lebenszeit, um dauernd fortzuleben im An- denken aller kommenden Jahrhunderte. Sein Auftreten vor Gericht war nicht förderlich für seine Freisprechung, aber es hob, was mehr besagen will, den Menschen.“ So äußert sich ein berufener Beurteiler aus dem Alter- tum?) über den Sokrates der Apologie. Die unverbrüch- liche Selbstgewißheit, die völlige Sorglosigkeit um den Ausgang der Sache, die über alle irdischen Zufällig- keiten und Bedenken erhabene Sinnesart sie sind es, deren ergreifende Darstellung der Platonischen Apologie ihren Wert für alle Zeiten, für die ganze gebildete Menschheit gegeben hat. Diese Darstellung mag im ein- zelnen nicht jede Äußerung des Sokrates mit akten- mäßiger Genauigkeit wiedergeben, mag nicht jedem klei- nen Wechsel in der Szenerie des gerichtlichen Dramas

1) Quinctilian zu Anfang des 11. Buches seines bekannten Lehr- buches über Beredsamkeit.

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folgen, aber wir sind dessen sicher, daß sie uns den Ein- druck wiedergibt, den des Sokrates Auftreten vor Gericht auf jeden nicht völlig verblendeten oder stumpfsinnigen Zuhörer machen mußte: wie er unbekümmert um die üb- lichen Formen, voller Verachtung gegen die würdelosen Mittel der Mitleidserregung sich aus der Rolle des An- geklagten gleichsam zu der des Oberrichters erhebt, in- dem er den Richtern das schlaffe Gewissen schärft und sich durchweg zum Verteidiger der Gerechtigkeit und des wahren Interesses am Gemeinwohl macht. Die et- waigen Abweichungen, die sich Platon von dem wirk- lichen Auftreten des Sokrates gestattet, sind, wenn ich recht sehe, nur dazu bestimmt, Ersatz zu schaffen für den notwendigen Nachteil, in dem die literarische Wieder- gabe ihrem Wesen nach gegen den unmittelbaren Ein- druck der wirklichen Aktion stehen mußte.

Fragen wir nun nach den wesentlichsten und zugleich für alle Zukunft vorbildlichen Zügen dieses Sokrates der Apologie, so möchte ich vor allem auf zwei Punkte. hinweisen: auf die starke Betonung seines Pflichtgefühls und auf sein unerschütterliches Gottvertrauen.

Was das erstere anlangt, so wird man schwerlich irgendwo ein stärkeres und mannhafteres Zeugnis für die Macht des Pflichtbewußtseins finden als dasjenige, welches uns das siebzehnte Kapitel der Apologie bietet. Ein höheres Pflichtbewußtsein kann es nicht geben als das, welches den Schrecken des Todes nicht den min- desten Einfluß einräumt auf den durch das Ehrgefühl bestimmten Entschluß. In dem, was Sokrates uns in diesem Kapitel vorträgt, schließen sich Lehre und Tat, Wissen und Handeln zu einer Einheit zusammen, die an Wirkung auf den Leser kaum überboten werden kann. Man sieht, auch ohne den kategorischen Imperativ konnte sich im Altertum das Pflichtgefühl in einer Stärke zeigen, die hinter keiner Betätigung desselben in unseren Tagen zurücksteht. Wenn Kant in der Einleitung zur Logik sagt: „In der Moral sind wir nicht weiter gekommen

Einleitung. 15

als die Alten,“ so hat er mithin, was die Betätigung der Moral anlangt, ganz recht; was aber ihre philoso- phische Begründung anlangt, so ist er zu bescheiden, seiner außerordentlichen Verdienste darum zu gedenken ').

Der andere Punkt betrifft die Zuversicht, mit der sich Sokrates dem gütigen Schutze der Gottheit anver- traut. Sie hängt eng zusammen mit dem Gedanken an ein Fortleben nach dem Tode, also mit dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele. Wenn Sokrates (400 ff.) über seinen Glauben in dieser Beziehung keine sichere Auskunft gibt, sich vielmehr in kühler Disjunktion ganz wie ein Unbeteiligter ausdrückt, so ist es voreilig, daraus zu schließen, daß er diesen Glauben nicht gehabt hätte. Man lese z. B. wie sich in einem anderen Falle Aristoteles (Pol. 126945) ausdrückt: eixös τε τοὺς πρώτους, εἴτε γη- yeveis ἦσαν εἴτε ἐκ φϑορᾶς τινος ἐσώϑησαν, ὁμοίους εἶναι καὶ τοὺς τυχόντας καὶ τοὺς ἀνοήτους. Hätten wir über die in diesen Worten berührte Frage nur diese Stelle, so würden wir meinen, daß für Aristoteles die Wagschalen der Disjunktion in vollkommenem Gleichgewicht ständen. Und doch wissen wir aus anderen Stellen ganz genau, daß Aristoteles das zweite Glied der Alternative”) für das

1) Sokrates wußte so gut wie Kant, daß der Mensch durch seine Pflicht an Gesetze und zwar nicht bloß positive Gesetze gebunden sei. Wie erstaunt aber würde er gewesen sein, wenn er von Kant gehört hätte, daß der Mensch sittlich seiner eigenen und dennoch zugleich allgemeinen Gesetzgebung unterworfen sei und daß als notwendiger Zweck der moralischen Handlung die Menschen- würde anzuerkennen sei. Den Alten war die Pflichterfüllung eine Forderung, deren Mißachtung in Widerspruch stand nicht mit der objektiven Notwendigkeit der Handlung, sondern mit der subjektiven Anerkennung der Beelenschönheit als der Bedingung alles mora- lischen Handelns.

2) Bei dieser Disjunktion handelt es sich um die Frage, ob das Menschengeschlecht durch generatio aequivoca aus der Erde ent- standen oder die ganze anbeginnlose Zeit hindurch auf der Erde weilend nur periodischen Katastrophen unterworfen sei. Aus Stellen wie De coel. 270b 12, Met. 1074b 10. Pol. 1329b 25 wissen wir, daß Aristoteles der letzteren Ansicht zugetan war.

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allein richtige ansah. Sokrates wahrte eben äußerlich vor den Richtern in dieser Frage den Schein reiner Ob- jektivität. Wer aber zwischen den Zeilen zu lesen ver- steht, der fühlt auch!) in der Apologie die wahre Mei- nung des Sokrates durch. So hört der etwas aufmerksame Leser aus den Worten 410 ἕν τι τοῦτο διανοεῖσϑαι AAndEs, ὅτι οὔκ ἔστιν ἀνδρὶ ἀγαϑῷ κακὸν οὐδὲν οὔτε ζῶντι οὔτε τελευτήσαντι οἴ π Mühe die Meinung heraus, daß der κακὸς ἀνήρ denn doch auf eine Strafe im Jenseits zu rechnen habe, daß es also eine Ewigkeit gibt.

Diese Schlußpartie reiht sich würdig jenen Aus- führungen des siebzehnten Kapitels an. Sie entläßt uns mit dem sicheren und erhebenden Eindruck, daß echtes Selbstvertrauen und echtes Gottvertrauen zwei Seelen- mächte sind, die nicht in Widerstreit sondern in Einklang miteinander stehen.

1 Mit diesem „auch“ wird, wie der Leser leicht erraten mag, auf den Phaidon hingewiesen, dessen Argumentation zwar selbstverständlich ganz dem Platon angehört, aber doch, künstlerisch genommen, ihrer Tendenz nach durchblicken läßt, daß Sokrates trotz mangelnden eigent-. lichen Wissensvondem@lauben andie Unsterblichkeit durchdrungen war; denn sonst hätte Platon es schwerlich gewagt, dem Sokrates diese ganze Beweisführung in den Mund zu legen. Man vergleiche dazu auch aus unserer Apologie die Stelle 29 AB, wo Sokrates so scharf wie mög- lich nur das sichere Wissen über das Jenseits in Abrede stellt und eben durch diese Schärfe um so bestimmter dem Glauben Zulaß gewährt.

Übersicht über die Literatur für die Apologie und den Kriton. Mit Unterstützung von Rudolf Klußmann

Außer den Texten in den Gesamtausgaben von I. Bekker, von Fr. Ast, von den Zürichern, von K. F. Hermann, von M. Schanz, von J. Bur- net, von H.N. Fowler (Pl. with an english translation. London. New York [1914. 17] 1919. 21. Bis jetzt 2 Bde.) u. von M. u. A. Croiset Sr (Euvres complötes. Texte &tabli et traduit. Paris 1920f. Bis jetzt

2 Bde.) nenne ich folgende Ausgaben mit erklärenden Anmerkungen:

Platonis dialogi quinque. Rec. notisque illustr. Nath. Forster (1745). Ed. II. Oxford 1765.

Platonis dialogi IV. Euthyphr., Apologia, Crito, Phaedo graece. Rec., emend., explic. J. F. Fischer (1770). Ed. III. Lpz. 1783. Platonis dial. quatuor. [Crito]. Curavit I. E. Biester. Ed. V. Cura-

vit Ph. Buttmannus. Berlin (1780) 1830.

Literatur. 17

Platonis dialogi quatuor. Scholarum in usum ed. L. F. Heindorfius. Berlin 1805. Ed. II. 1827.

Platonis dialogorum delectus. Ex rec. et cum lat. interpret. Fr. A. Wolfii. Berlin 1812. Platonis dial. quatuor. Laches, Euthyphr., Apologia et Menex. Adno- tatione perpetua illustr. F. G. Engelhardt. Berlin 1825. Platonis Crit. cum comment. perpetuo et pleno in usum iuventutis scholast. ed. E. Loewe (Leo). Lpz. 1825. Ed. IL. 1833. Platonis Apol. et Crit. ed. G. Stallbaum. Gotha 1827. Ed. V. cur. M. Wohlrab. Lips. 1877.

Platonis Apol. Crit. Phaed. ed. R. B. Hirschig. Utrecht 1853.

The Apology of Pl. With a revised text and engl. notes a. a digest of platonic idioms by J. Riddel. Oxford 1867.

Platonis Apol. Socr. With introduction, notes and appendices by J. Adam. Cambridge 1887.

Platonis Crit. with introduction notes and appendix by J. Adam. Cambridge 1888.

Platons Krito mit deutschem Kommentar von M. Schanz. Lpz. 1888.

Platons Apologia mit deutschem Kommentar von M.Schanz. Lpz. 1893.

Pl. The Apology of Socr. Edited by Adela Marion Adam. Cambridge 1914.

Außerdem seien genannt die Schulausgaben von A. Ludwig (Wien 1856, 6. Aufl. 1879), Ch. Cron (Teubner 1857, 12. Aufl. 1912), H. Bertram (1882, 7. Aufl. 1913), E. Goebel (1883, 2. Aufl. 1893), A. Th. Christ (1889, 5. Aufl. 1908), A. v. Bamberg 1897f., Fr. Rö- siger (1902, 4. Aufl. 1919), B. Grimmelt (1907, 3. Aufl. 1920).

Von Übersetzungen nenne ich: Plat. Werke. Übersetzt v. Fr. Schleiermacher. Berlin (1804—10).

(Apol. Kr. I 2. 1855.)

Pls. sämtl. Werke. Übersetzt von H. Müller, mit Einleit. von

K. Steinhart. Lpz. 1850—73. (Apol. Kr. 2. 1851.)

Pls. Werke. Apologie u. Krit. Übers. v.L. Georgii. Stuttgart (1857)

5. Aufl. 1883. (Sammlung Osiander u. Schwab. I. Gruppe 6.) Pls. ausgew. Werke. 6. Apol. v.K. Prantl. Stuttg. K. Hoffmann. 1854. Apol. des Sokr. Übers. u. erläut. v. F. A. Nüßlin. Mannheim 1838.

1848. 1862 (mit guten Anmerkungen).

Platons Apologie, Kriton, Phaidon. Übers. v. H. Zimpel. Breslau 1888. Pls. Werke. Griechisch und Deutsch. Mit krit. u. erklär. Anmer-

kungen. Leipzig: Engelmann. (T. 3. Apol. 4. Aufl. 1863. Teil 4

Krito. 4. Aufl. 1855.)

Pls. Verteidigung des Sokr. u. Kriton. Deutsch v. E. Horneffer.

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Inhalt und Gliederung der Apologie.

A. Erste Rede. 17A-35E. ο. 1—25.

a) Einleitung: Kennzeichnung des Gegensatzes zwischen den Reden der ΝΕ und der von ihm selbst zu erwartenden Rede nach Inhalt und Form: dort Lügen in rednerischem Aufputz, hier schlichte Wahrheit in einfachem Gewande. 17A—18A, c. 1.

b) Widerlegung der früheren, nicht gerichtlichen Ankläger. 18A—24B. c. 2—10.

Die Verleumdungen gehen auf meist schon weit zurückliegende Verunglimpfungen zurück, zu denen vor allem der Spott der Komö- diendichter das Seinige beigetragen. Sie lassen sich, wenn man sie in die Form einer gerichtlichen Anklage kleidet, folgendermaßen zusammenfassen: „Sokrates tut unrecht und treibt Unfug, indem er das Irdische und Himmlische erforscht, die schlechte Sache zur guten macht und dieses auch andere lehrt.“ Dies wird widerlegt durch Berufung auf alle seine bisherigen Zuhörer. 18A—20C., c. 2—4.

Die eigentlichen Gründe des Hasses gegen ihn sind zurück- zuführen auf sein Verhalten gegenüber einem delphischen Orakel- spruch, der ihn für den weisesten Menschen erklärte. Fest über- zeugt von dem ihm anhaftenden völligen Mangel an wirklicher Weis- heit habe er, um den Sinn des Orakels zu ergründen, Gelegenheit gesucht, die namhaftesten Vertreter dreier Berufsklassen, nämlich der Dichter, der Handwerker und der Staatsmänner auf ihre Weis- heit hin einer gründlichen Prüfung zu unterwerfen, die ergeben habe, daß sie sich zwar weise dünken, es aber nicht sind. Diese Fest- stellung habe ihm nicht geringen Haß eingetragen. 20 D—23A. c. 9—8.

Dieser Haß aber sei dadurch noch gesteigert worden, daß Jünglinge die sich ihm aus Wissenstrieb angeschlossen hätten, an dieser Menschenprüfung viel Wohlgefallen gefunden hätten und es sich nicht hätten versagen können, ähnliche Versuche auch ihrerseits anzustellen, So sei es gekommen, daß sich die drei Ankläger zu- sammengefunden hätten, Meletos als Vertreter der Dichter, Anytos der Handwerker, Lykon der Redner (Staatsmänner).. 23A—24A. c. 9—10.

Inhalt und Gliederung. 2]

c) Die gerichtliche Anklage. 24B-B5E. ο, 11—24.

Ihr Wortlaut: „Sokrates frevelt dadurch, daß er die Jugend verdirbt und an die Götter des Staates nicht glaubt sondern an anderes neues Dämonentum.“

Dem ersten Vorwurf begegnet er durch den Hinweis auf die tatsächliche völlige Gleichgültigkeit des Meletos gegen alle Fragen der Jugenderziehung, die ihn jedes Rechtes auf Mitsprechen in diesen Dingen beraube, sodann durch die Bemerkung, daß er (So- krates) selbst sich den größten Schaden zugefügt haben würde durch Verführung der Jugend; denn von schlecht erzogenen Mitbürgern habe man nur Übeles zu erwarten. 24B—26A. c. 11—13.

Zur Widerlegung des zweiten Vorwurfes veranlaßt Sokrates den Meletos auf Befragen das Bekenntnis abzulegen, daß nach seiner Ansicht Sokrates überhaupt nicht an Götter glaube. Das widerlegt Sokrates schlagend durch den Nachweis, daß die Tatsache seines Dämonenglaubens notwendig auch den Glauben an das Dasein von Göttern in sich schließe. Die Anklage falle also in sich zusammen und eine etwaige Verurteilung könne ihren Grund nicht in den Be- schuldigungen der Ankläger haben, sondern nur in dem Haß der großen Menge. 26B—28A, c. 14 und 15.

Sokrates beantwortet nunmehr die von selbst sich einstellende Frage, warum er von einem so gehässigen und gefahrvollen Berufe nicht Abstand nehme. Das einmal als richtig Erkannte, meint er, muß man auch unbedingt zur Richtschnur seines Handelns machen, ein Grundsatz, von dessen Befolgung selbst keine Todesgefahr ab- lenken darf. Des zum Zeugnis beruft er sich auf bekannte Tat- sachen aus seinem Leben. Die Menschen zur Tugend und Wahr- heit zu führen sei, so meint er, der ihm von der Gottheit angewiesene Beruf und keine Todesfurcht könne ihn bewegen diesen seinen Posten zu verlassen, und dies um so weniger, als es ja gar nicht feststehe, ob der Tod nicht eher ein Glück sei als ein Unglück. 28B—30B. c. 16 und 17.

Den Athenern aber sagt er voraus, daß sie durch seine Ver- urteilung niemanden mehr schädigen würden als sich selbst, indem sie sich dadurch desjenigen Werkzeuges berauben, dessen sich die Gottheit bedient habe, um den Bürgern das Gewissen zu schärfen und sie zum Dienste des Guten anzuspornen, Es würde sich so leicht kein zweiter finden, der so unter völliger Hintansetzung seines persönlichen Vorteils dem Wohle des Ganzen sein Leben widme. 300—31C. c. 18. |

Daran schließt sich die Entwickelung der Gründe, die ihn von staatlicher Tätigkeit so gut wie ganz ferngehalten haben. Sein Dämonium sei es gewesen, das ihn davon zurückgehalten habe, und die Erfahrungen und Tatsachen des öffentlichen Lebens gäben den besten Beweis für die Richtigkeit dieses Rates. Wie ungerecht und

99 Inhalt und Gliederung.

verkehrt es sei, ihn der Verderbung der Jugend zu beschuldigen, beweise abgesehen von der Tatsache, daß er sich niemals zum eigent- lichen Lehrer der Jugend aufgeworfen habe, schon der Umstand, daß kein einziger von denen, die einst als Jünglinge ihm angehangen, sich jetzt irgendwie an der Klage gegen ihn beteiligte. 81 --84 Β. c. 19—22.

Wenn er es verschmähe, durch die üblichen Mittel das Mitleid der Richter zu erregen, so geschehe das nicht aus Hochmut, sondern aus Achtung vor der Würde und Ehre des Staates; auch würde es. unrecht und nur ein Zeichen eigenen Schuldgefühles sein, wollte er sich dazu hergeben, nach dieser Seite auf die Richter einzuwirken; denn das heiße nichts anderes als sie ihrem Eide untreu machen. 340—35E. c. 23 und 24.

B. Zweite Rede. 35E—38B. c. 25—28. (Nach der Verurteilung.)

Nach Kundgebung seiner durch die Verurteilung nicht im mindesten getrübten Stimmung und seiner Verwunderung über die geringe Zahl derer, die gegen ihn gestimmt haben, stellt er seinen Gegenantrag gegen den Antrag des Meletos (Todesstrafe). Nicht UÜbeles sondern Gutes gebühre ihm für den einzigartigen Dienst, den er der Stadt geleistet: also Speisung im Prytaneion sei der würdige Entgelt für alle seine uneigennützigen Bemühungen. Eine Geld- strafe könne er aus eigenen Mitteln nicht aufbringen, aber mit Hilfe opferwilliger Freunde könne er dreißig Minen bieten,

C. Dritte Rede. 38C0—42A. c. 29—33. (Nach Verkündigung des Todesurteils.)

1. Ansprache an diejenigen Richter, welche ihn verurteilt haben: er selbst verliere, so sagt er, durch das Todesurteil nur eine kurze ihm sonst vergönnte Spanne Zeit; auf ihnen aber werde für immer der Vorwurf lasten, sich einer ungerechten Hinrichtung schuldig gemacht zu haben. Er habe jedes ungesetzliche Mittel zu seiner Rettung von sich gewiesen, sie dagegen hätten sich nicht gescheut der Schlechtigkeit zu huldigen. Doch werde es nicht an solchen fehlen, die sein Andenken von allen entstellenden Flecken reinigen würden. 38C—39D. c. 29 und 30.

2. Ansprache an die ihm günstig gesinnten Richter: Sein Dämonium sei ihm Bürge dafür, daß seine Verurteilung ihm nicht zum Schaden gereiche. Der Tod sei auf keinen Fall ein Übel für einen frommen Mann. Seine Feinde fordere er, frei von jedem Zornes- gefühl, dazu auf, sich an ihm dadurch zu rächen, daß sie seine Söhne mit ebensolchen Mahnungen belästigten, wie er sie ihnen habe zuteil werden lassen. 39E—42A. c. 31—33.

17 St,

Platons Apologie

oder

Des Sokrates Verteidigungsrede').

1. Welchen Eindruck, meine athenischen Mitbürger ’?), meine Ankläger auf euch gemacht haben, weiß ich nicht; ich meinesteils stand so unter dem Bann ihrer Worte, daß ich mich beinahe selbst vergaß: so überzeugend klan- gen ihre Reden. Und doch, von Wahrheit war kaum eine Spur zu finden in dem was sie gesagt haben. Am meisten aber war ich erstaunt über eine von den vielen Lügen, die sie vorgebracht haben, über die Warnung nämlich, die sie an euch richteten, ihr solltet euch ja nicht von mir täuschen lassen, denn ich sei ein Meister der Rede. Daß sie sich nicht entblödeten dies zu sagen trotz der Gewißheit, alsbald durch die Tatsachen von mir wider- legt zu werden, wenn es sich nämlich nunmehr heraus- stellt, daß ich nichts weniger bin als ein Meister der Rede, das schien mir der Gipiel aller Dreistigkeit zu sein, es müßte denn sein, daß sie den einen Meister der Rede nennen, der die Wahrheit sagt. Denn wenn sie es so meinen, dann habe ich kein Bedenken, mich als Redner gelten zu lassen nur eben nicht als einen von ihrer Art. Sie, die Kläger, haben, wie- gesagt, so gut wie nichts Wahres vorgebracht; von mir aber sollt ihr die volle Wahrheit vernehmen. Aber, beim Zeus, meine Mit- bürger, was ihr von mir zu hören bekommt, wird kein in Worten und Wendungen schön gedrechseltes und wohl- verziertes Redewerk sein wie das dieser Ankläger, son- dern ein schlichter Vortrag in ungesuchten Worten. Denn ich bin fest überzeugt von der Gerechtigkeit meiner

24 Platon.

Sache und keiner von euch möge mich anders als mit Vertrauen anhören. Es wäre doch auch in der Tat ein starker Verstoß, meine Mitbürger, wollte ich in diesen meinen Jahren vor euch auftreten wie ein Jüngling, der sich in künstlichem Redeschmuck gefällt. Und ich richte an euch, meine athenischen Mitbürger, recht dringend die folgende Bitte: wenn ihr von mir bei meiner Ver- teidigung die nämliche Redeweise vernehmt, deren ich mich auf dem Markt an den Wechslertischen) bediene, wo viele von euch mir zugehört haben wie auch ander- wärts, so wundert euch nicht und machet darob keinen Lärm. Es verhält sich damit nämlich folgendermaßen: Es ist heute das erstemal, daß ich vor Gericht erscheine, siebenzig Jahre alt. Ich bin also ein völliger Fremdling in der hier üblichen Redeweise. Gesetzt nun, ich wäre hier ein Fremder im eigentlichen Sinne, so würdet ihr es offenbar verzeihlich finden, wenn ich mich derjenigen Sprache und Redeform bediente, in der ich erzogen bin. So wende ich mich denn jetzt an euch mit der, wie mir scheint, nicht unbilligen Bitte: macht euch keine Ge- danken über meine Redeweise, gleichviel ob sie schlecht oder. gut ist; richtet vielmehr eueren Sinn und euere ganze Aufmerksamkeit darauf, ob, was ich sage, recht, ist oder nicht; denn das ist die Pflicht und Aufgabe des Richters, wie es die des Redners ist die Wahrheit zu sagen.

2. An erster Stelle liegt es mir ob, meine athe- nischen Mitbürger, mich gegen die falschen Beschuldi- sungen früherer Zeit und gegen meine früheren An- kläger zu rechtfertigen, sodann gegen die späteren An- schuldigungen und Ankläger. Schon längst nämlich seit vielen Jahren haben euch zahlreiche Ankläger gegen mich in den Ohren gelegen, die nichts als Unwahrheiten vor- brachten, Leute, die ich mehr fürchte als den Anytos und seinen Anhang, so gefährlich diese auch sein mögen; gefährlicher, meine Mitbürger, sind doch jene, welche die meisten von euch schon von Kindheit an gegen mich ein-

Apologie des Sokrates. 25

zunehmen und als durchaus lügenhafte Ankläger euch weiszumachen suchten: „Es treibt hier ein gewisser So- krates sein Wesen, ein weiser Mann, der über die Himmels- erscheinungen nachgrübelt, auch alles Unterirdische auf- gespürt hat und die schlechte Sache zur guten zu machen®) weiß.“ Diese Leute, die solches Gerede ver- breiteten, sie sind meine wirklich gefährlichen Ankläger. Denn wer das hört, der ist der Meinung, daß solche Grübler auch an keine Götter glauben. Dazu kommt, daß die Zahl dieser Ankläger groß ist und daß sie ihr Geschäft schon lange Zeit treiben, ferner, daß ıhr, an die ihre Reden sich richteten, in einem Alter standet, dem die größte Vertrauensseligkeit innewohnt, denn ihr waret Knaben, nur einige bereits Jünglinge, und einen Anwalt für den Angeklagten gab es nicht also ein ganz ein- seitiges Verfahren®). Und was das tollste ist, man kann nicht einmal die Namen dieser Leute erkunden und an- geben, es sei denn, daß ein oder der andere Komödien- schreiber darunter ist. Aber alle, die aus Neid oder Verleumdungssucht euch auf ihre Seite brachten, dazu auch solche, die selbst erst angestiftet andere anstifteten ihnen allen ist sehr schwer beizukommen. Denn es ist gar nicht möglich, irgendeinen von ihnen hierher vor Gericht zu bringen und zu überführen. Es ist geradezu ein Kampf gegen Schatten, den ich führen muß, und meine Widerlegung verhallt in der Luft, denn es gibt niemanden, der antwortet.

Stellet also euch eurerseits auf den Standpunkt, daß, wie ich sage, zwei Klassen von Anklägern gegen mich erstanden sind, erstens diejenigen, die jetzt mit ihrer Anklage hervorgetreten sind, sodann die früheren, von denen eben die Rede war; und ich darf wohl auf euer Einverständnis rechnen, wenn ich glaube, mich gegen diese letzteren an erster Stelle verteidigen zu müssen. Habt doch auch ihr den Anklagen dieser Leute früher Gehör geschenkt und in weit höherem Maße als denen der jetzigen. |

928 Platon.

Wohlan denn! So gilt es denn, mich zu verteidigen, meine Mitbürger, und zu versuchen, den Stachel der Verleumdung aus euerer Seele, die ihn so lange Zeit in sich geträgen, in so kurzer Zeit zu entfernen. Wohl wäre es mein Wunsch, es möchte dazu kommen und es möchte meine Verteidigung nicht erfolglos bleiben, sofern dies für euch und für mich von Segen ist. Allerdings halte ich das Beginnen für schwierig und verkenne nicht den eigentlichen Stand der Sache. Gleichwohl mag sie ihren Lauf nehmen wie es Gott gefällt: das Gesetz fordert Ge- horsam und die Verteidigung ist unabweisbare Pflicht.

3. Werfen wir also den Blick rückwärts auf den - Ursprung der Beschuldigung, die zu meinem bösen Leu- mund geführt und die dann auch dem Meletos den Mut gegeben hat, diese Klage gegen mich anzustrengen. Gut denn. Was brachten also die Verleumder in ihren Reden gegen mich vor? Wir müssen sie wie gerichtliche An- kläger ansehen und ihre Beschuldigungen wie aus einer beschworenen Klageschrift verlesen lassen. Also: ,„So-

19 St.

krates frevelt wider die Gesetze und treibt Un-_

fug, indem er dem nachspürt, was unter der Erde ist und was am Himmel sich zeigt’), und die schlechte Sache zur guten macht, zudem auch an- dere in ebendiesen Dingen unterweist.“ So etwa lautet die Anklage. Ihr habt es ja selbst in der Komödie des Aristophanes gesehen: da schwebt ein gewisser So- krates in den Wolken hin und her, der sich für einen Luftwandler ausgibt und auch sonst allerhand albernes Zeug zu Markte bringt, lauter Dinge, von denen ich nichts, rein gar nichts verstehe. Wenn ich dies sage, so soll darin durchaus nicht eine Mißachtung solcher Weisheit liegen; es kann ja Leute geben, die in diesen Dingen ein wirkliches Wissen besitzen möchte es mir erspart bleiben, vom Meletos mit einer so gefährlichen Anklage verfolgt zu werden®). —, doch wie gesagt, meine Mitbürger, ich verstehe von der Sache gar nichts. Als Zeugen rufe ich eine große Zahl von euch selbst auf

) St.

Apologie des Sokrates. 27

und fordere euch alle, die ihr je meinen Unterhaltungen beigewohnt habt, auf, euere Erfahrungen darüber zu gegenseitiger Belehrung miteinander auszutauschen; nicht wenige von euch sind dazu in der Lage. Gebt euch denn einander Auskunft darüber, ob jemals einer auch nur das Geringste über dergleichen Dinge in meinen Unterredun- gen gehört hat. Daraus werdet ihr erkennen, dab es ganz ähnlich auch mit allem andern steht, was die große Menge von mir fabelt.

4. Daran ist also nichts; und wenn ihr etwa von dem oder jenem vernommen habt, ich sähe es darauf ab Unter- richt zu geben und dafür Geld einzustreichen, so ist auch das nicht wahr, obschon es in meinen Augen sehrschätzens- wert ist, wenn man die Fähigkeit besitzt, andere zu unterrichten wie Gorgias!®) aus Leontini und Prodikos aus Keos undHippias aus Elis. Denn keinem von ihnen fehlt die Fähigkeit dazu: sie ziehen von Stadt zu Stadt und suchen die jungen Leute, die doch in der Lage wären, den belehrenden Umgang mit jedem beliebigen ihrer eigenen Mitbürger ganz umsonst zu genießen, für sich zu gewinnen, indem sie sie auffordern, den Umgang mit jenen abzubrechen und sich an sie anzuschließen gegen Bezahlung, mit der obendrein noch Dank ver- bunden sein soll. Übrigens gibt es jetzt hier noch einen anderen Weisheitslehrer, aus Paros'"), der, wie ich er-. fuhr, unter uns weilt. Ich begegnete nämlich einem Manne, der den Sophisten mehr Geld gezahlt hat als alle anderen zusammengenommen, dem Kallias!?), dem Sohne des Hipponikos. Mit ihm ließ ich mich in ein Gespräch ein. Er hat nämlich zwei Söhne und so sagte ich: Kung,

„Mein Kallias, wenn deine Söhne Füllen oder Kälber wären, dann ließe sich gegen Lohn ein Wärter für sie finden, der sie zu trefflichen und guten Vertretern der ihrer Gattung zukommenden Tüchtigkeit zu machen hätte; es wäre das ein Pferdezüchter oder ein Landwirt. Bei

dir aber handelt es sich um Menschen. Wen also ge-

28 Platon.

denkst du ihnen zum Erzieher zu geben? Wer versteht sich auf diese Art von Tüchtigkeit, die des Menschen und Bürgers? Denn du hast dir die Sache gewiß über- legt in Rücksicht auf deine Söhne. Gibt es einen sol- chen,“ fragte ich, ‚oder nicht?“

„Gewiß‘“, erwiderte er.

„Wer ist es?“ fuhr ich fort, „und woher, und wie hoch ist der Preis?“

„Euenos,‘ erwiderte er, „aus Paros und der Preis fünf Minen.‘!?)

Da pries ich den Euenos glücklich, wenn er wirklich diese Kunst innehat und so preiswert lehrt. Würde ich doch auch selbst mir darauf etwas zugute tun und mich damit brüsten, wenn ich mich darauf verstünde. Indes, ich verstehe ja nichts davon, meine Mitbürger.

5. Vielleicht wird einer von euch erwidern: „Aber Sokrates, womit beschäftigst du dich denn eigentlich? Woher stammt denn all das verleumderische Gerede gegen dich? Doch nicht etwa daher, daß du nichts treibst, was von dem Tun und Treiben der anderen merklich abweicht? Wie hätte dann ein solcher Ruf und Leumund entstehen können? Ich müßte mich doch sehr täuschen: du treibst gewiß Dinge, die der großen Menge auffällig sind!*). Sage uns also, wie es damit steht, denn wir möchten kein leichtfertiges Urteil über dich fällen.“

Wer das sagt, scheint mir eine ganz berechtigte Forderung zu stellen, und ich werde versuchen euch die Gründe darzulegen, die für meinen Ruf und bösen Leu- mund bestimmend gewesen sind. So höret denn. Es werden manche von euch glauben, ich hätte es nur auf einen Scherz abgesehen; aber ihr dürft völlig überzeugt sein: ich werde euch die reine Wahrheit sagen. Ich bin näm- lich, meine Mitbürger, durch nichts anderes zu diesem meinem Ruf gekommen als durch eine bestimmte Art von Weisheit. Und was ist das für eine Weisheit? Vielleicht nichts anderes als schlichte Menschenweisheit. Denn in

1 St.

Apologie des Sokrates. 99

der Tat scheint dies die Art von Weisheit zu sein, die mir eigen ist. Die vorhin von mir genannten Männer dagegen dürften wohl Vertreter einer Weisheit sein, die über menschliches Wissen hinausgeht; ich wüßte keine treffendere Bezeichnung dafür; denn ich verstehe mich nicht darauf, sondern wer dies sagt, der lügt und hat es dabei darauf abgesehen mich zu verleumden.

Und nun, meine Mitbürger, laßt euch durch meine scheinbare Großsprecherei nicht zu lärmendem Wider- spruch reizen. Denn das Wort, das ich aussprechen will, stammt nicht von mir her, vielmehr werde ich es auf einen Urheber zurückführen, der eueren vollen Glau- ben verdient. Als Zeugen nämlich für meine Weisheit, für ihr Vorhandensein überhaupt wie für ihre Beschaffen- heit, will ich euch den Gott in Delphi stellen. Ihr kanntet ja doch den Chairephon’'?). Er war mein Freund von Jugend auf, war auch mit euch, der Volkspartei, be- freundet und floh mit euch aus der Stadt, wie er auch mit euch wieder zurückkehrte. Ihr kennt ja die Art des Chairephon, sein heftiges Losstürmen auf jedes erstrebte Ziel. So war er denn, als er einst nach Delphi kam, kühn genug, das Orakel darüber zu befragen doch, wie gesagt, macht keinen Lärm, ihr Männer! Er fragte nämlich, ob jemand weiser sei als ich. Da tat nun die Pythia den Spruch, es sei niemand weiser als ich. Und darüber wird auch sein Bruder!®) hier Zeugnis ablegen, da jener selbst nicht mehr unter den Lebenden weilt.

6. Vergeßt nun nicht, weshalb ich euch dies sage: ich will euch Aufklärungen geben über den Ursprung der Verleumdungen gegen mich. Nachdem mir nämlich der Bescheid zu Ohren gekommen, stellte ich bei mir folgende Erwägungen an. „Was mag der Gott wohl meinen und was für ein Rätsel gibt er da auf? Denn von Weisheit kann ich nicht die geringste Spur in mir finden. Was meint er also damit, wenn er mich für den Weisesten erklärt? Lügen wird er doch gewiß nicht, denn das widerspricht seinem Wesen.‘ So schwankte ich lange Zeit

30 Ylaton.

hin und her über den Sinn seines Spruches. Endlich schlug ich nach den allerschwersten Bedenken folgenden Weg ein zur Erforschung der Sache. Ich machte mich an einen der im Rufe der Weisheit stehenden Männer heran, um in ihm womöglich den lebendigen Gegen- beweis gegen den Spruch des Gottes zu finden, und dem Orakel darzutun: siehe, dieser da ist weiser als ich, und du hast doch mich dafür erklärt. Bei näherer Betrach- tung dieses Mannes nun und im Gespräch mit ihm den Namen brauche ich nicht zu nennen; es war einer der Staatsmänner, mit dem mir bei näherem Einblick in sein Wesen solches begegnete erhielt ich den Ein- druck, der Mann komme zwar vielen anderen Menschen und am allermeisten sich selbst weise vor, sei es aber durchaus nicht. Darauf suchte ich ıhm denn klarzu- machen, er bilde sich zwar ein, weise zu sein, sei es aber nicht. Die Folge davon war, daß ich mich ihm sowie vielen, die dabei waren, verhaßt machte; bei mir selber aber dachte ich im Weggehen: „Diesem Mann bin. ich allerdings an Weisheit überlegen; denn wie es scheint, weiß von uns beiden keiner etwas Rechtes und Ordent- liches, aber er bildet sich ungeachtet seiner Unwissenheit ein, etwas zu wissen, während ich, meiner Unwissenheit mir bewußt, mir auch nicht einbilde etwas zu wissen. Es scheint also, ich bin doch noch um ein kleines Stück weiser als er, nämlich um dies: was ich nicht weiß, das bilde ich mir auch nicht ein zu wissen.“ Darauf machte ich mich an einen anderen, an einen, der für noch weiser galt als jener, und der Eindruck war ganz cer nämliche. So machte ich mir auch ihn zum Feinde und noch viele andere. |

7. Darauf machte ich nun förmlich die Runde und bemerkte überall mit Kummer und Besorgnis, daß ich mich nur verhaßt machte; gleichwohl dünkte es mich notwendig, die Widerlegung des Gottesspruches allen anderen Rücksichten voranzustellen. Um also den Sinn des Orakelspruches zu ergründen, glaubte ich mich an alle

+

Apologie des Sokrates. 9]

wenden zu müssen, die in dem Rufe standen, etwas zu

. wissen. Und, beim Hunde”), meine Mitbürger denn

ich muß euch die Wahrheit sagen —, es war eine merk- würdige Erfahrung, die ich da machte: diejenigen, die sich des glänzendsten Rufes erfreuten, schienen mir bei meiner dem Gotte geweihten Prüfung es so gut wie an allem fehlen zu lassen, andere hinwiederum, die weniger geachtet waren, auf einer weit höheren Stufe der Ein- sicht zu stehen. So muß ich euch denn meine Wanderung vorführen, eine wahre Kette von Mühseligkeiten; denn das Orakel durfte doch am Ende nicht gar unwiderlegt bleiben. 15)

Nach den Staatsmännern nämlich wendete ich mich zu den Dichtern, den Meistern der tragischen, dithyram- bischen und anderer Dichtung, überzeugt, mir hier den gleichsam handgreiflichen Beweis meiner geistigen Unter- legenheit im Vergleich mit ihnen holen zu können. So nahm ich denn diejenigen von ihren Gedichten vor, auf die sie, wie mir schien, den größten Fleiß verwendet hatten, und bat sie um Auskunft über den Sinn derselben, um gleichzeitig auch einen gewissen geistigen Gewinn davon zu haben. Ich schäme mich nun, meine Mitbürger, euch die Wahrheit zu sagen; und doch muß es sein: nahezu alle Anwesenden wußten besser als die Dichter Bescheid zu geben über die Werke, die diese selbst ver- faßt hatten. Es wurde mir also binnen kurzem klar, daß ihre Werke nicht Früchte der Weisheit?) sind, son- dern einer gewissen natürlichen Anlage und einer Be- geisterung, wie sie sich bei den Wahrsagern und Orakel- sängern findet. Denn auch diese sagen vielerlei Schönes, sind sich aber des eigentlichen Sinnes dessen, was sie sagen, nicht bewußt.?®) In ähnlicher Geistesverfassung befinden sich auch die Dichter, wie mir damals klar wurde. Zugleich bemerkte ich, daß ihre dichterische Be- gabung sie zu dem Glauben verleitet, auch in allen übrigen Dingen, von denen sie nichts verstehen, an Weis- heit alle anderen zu übertreffen. Ich machte mich also

32 Platon.

auch von ihnen los in der Meinung, ihnen in derselben Hinsicht überlegen zu sein wie den Staatsmännern.

8. Schließlich machte ich mich an die Handwerker. Daß ich selbst nämlich so gut wie nichts wisse, das war mir völlig klar, bei diesen aber war ich meiner Sache ganz sicher: ich durfte auf viele schöne Kenntnisse bei ihnen rechnen. Darin täuschte ich mich denn auch nicht, denn sie wußten in der Tat Dinge, die ich nicht wußte; sie waren also insofern weiser als ich. Allein, meine Mitbürger, die guten Handwerker schienen mir an dem- selben Fehler zu leiden wie die Dichter: weil ein jeder von ihnen ein vortrefflicher Vertreter seiner Kunst war, machte er zugleich den Anspruch, auch sonst auf den wichtigsten Gebieten?!) allen anderen an Weisheit über- legen zu sein, eine Kurzsichtigkeit, die einen tiefen Schatten auf jene ihre Weisheit warf. Ich richtete also an mich selbst im Namen des Orakels die Frage, was ich vorziehen würde: der zu bleiben, der ich bisher war,

also weder weise zu sein auf die Art dieser Handwerker

noch auch ihren Unverstand zu teilen, oder aber beides mit ihnen zu teilen. Die Antwort, die ich mir und dem Orakel gab, lautete dahin, es sei besser für mich, zu bleiben wie ich bin.

9. Dieses Prüfungsverfahren, meine Mitbürger, war für mich die Quelle vieler Feindschaften, und zwar von Feindschaften der gefährlichsten und schwersten Art: daher die zahlreichen Verleumdungen wider mich, daher der Ruf, in den ich kam, ein Weiser zu sein. Denn die Zuhörer sind in der Regel des Glaubens, ich selbst sei im Besitze der Weisheit, die ich durch Prüfung und Widerlegung anderer suche. In Wahrheit aber kommt, so scheint es, meine Mitbürger, diese Weisheit nur der Gottheit zu, und ihr Orakelspruch kann nur dieses be- sagen, daß die menschliche Weisheit herzlich wenig, Ja gar nichts bedeutet. Und allem Anschein nach gilt dieser Spruch nicht eigentlich dem Sokrates, sondern der Gott bedient sich meines Namens nur beispielsweise, als wollte

23 |

Apologie des Sokrates. 23

er sagen: „Derjenige unter euch, ihr Menschen, ist der weiseste, der wie Sokrates erkannt hat, daß seine Weis- heit in Wahrheit keinen Heller wert ist.‘“ Dieses also im Sinne der Gottheit zu erforschen und zu ergründen, mache ich auch jetzt noch immer die Runde bei Bürgern und Fremden, wo ich einen für weise halte; stellt sich mir dies aber als nicht zutreffend heraus, dann mache ich mich zum Helfer des Gottes und erbringe den Nachweis, daß er nicht weise ist. Und diese Tätigkeit hat mir keine Zeit übriggelassen, mich irgendwie den staatlichen und häuslichen Geschäften zu widmen: der Dienst, den ich der Gottheit leiste, bringt tausendfältige Armut über mich.

10. Dazu kommt noch folgender Umstand: es schließen sich mir Jünglinge, die als Söhne der wohlhabendsten Bürger sehr viel freie Zeit haben, freiwillig an, und diese finden nicht wenig Vergnügen daran, zuzuhören, wenn ich die Menschen ins Gebet nehme. Oft machen sie es mir auch nach und probieren an anderen ihre Überführungskunst??); und dabei finden sie gewiß mehr als genug Menschen, die da glauben, etwas zu wissen, tatsächlich aber wenig oder nichts wissen. So kommt es denn, daß die von ihnen Überführten gegen mich voller Zorn sind statt gegen sich selber und von einem gewissen Sokrates reden, einem gottlosen Menschen und. Verführer der Jugend. Und fragt man sie nach Be- weisen, also nach Taten und Lehre des Mannes, dann wissen sie nichts zu sagen, sondern sind wie vor den Kopf geschlagen; um aber nicht völlig ratlos zu scheinen, kramen sie die bekannten Schlagworte aus, die man ge- meinhin den Philosophen entgegenhält, nämlich er lehre die himmlischen Erscheinungen und die Dinge unter der Erde, lehre den Unglauben in bezug auf die Götter und lehre die Kunst, die schlechtere Sache zur besseren zu machen. Denn den wahren Grund ihres Hasses einzugestehen, das bringen sie nicht über sich; sie wollen nicht gestehen, daß sie durch So-

Platon Apologie und Kriton. Phil. Bibl. Bd. 180. 3

34 Platon.

krates bloßgestellt werden als Leute, die vorgeben, etwas zu wissen, in der Tat aber nichts wissen. Bei ihrem vorauszusetzenden Ehrgeiz aber, bei ihrer Leidenschaft- lichkeit, ihrer großen Zahl, ihrem vollen Krafteinsatz und der Überredungskunst in ihren Aussagen wider mich ist es begreiflich, daß sie auch euer Ohr schon längst mit ihren leidenschaftlichen Verleumdungen gegen mich ge- wonnen haben. |

Aus ihrer Mitte sind auch meine Ankläger Meletos, Anytos und Lykon®®) hervorgegangen, Meletos, um seinem beleidigten Herzen für die Dichter Rache an mir zu verschaffen, Anytos, um sich der Handwerker und Staats- männer, Lykon, um sich der Redner anzunehmen. Es würde mich also, wie schon zu Anfang bemerkt, wunder- nehmen, wenn es mir gelänge, in so kurzer Zeit den Eindruck dieser so mächtig angeschwollenen Verleumdung aus eueren Herzen zu verdrängen. Damit habt ihr, meine Mitbürger, die volle Wahrheit vernommen; ich habe euch nicht das geringste verschwiegen oder unterschlagen.

Und doch weiß ich, daß ich mich eben dadurch verhaßt

mache. Darin liegt denn zugleich der Beweis dafür, daß ich die Wahrheit sage und daß es mit der Verleumdung gegen mich und ihren Gründen so und nicht anders be- stellt ist. Und möget ihr nun jetzt oder in der Folge euch mit der Untersuchung der Sache beschäftigen, immer werdet ihr diese meine Auffassung bestätigt finden. 11. Damit mag denn meine Rechtfertigung vor euch gegen die Anschuldigungen der ersten Ankläger abge- schlossen sein. Nunmehr will ich versuchen mich gegen Meletos, den Biedermann und Vaterlandsfreund, wie er sich nennt, und gegen die späteren Ankläger zu ver- teidigen. Wir müssen nämlich, als handelte es sich um ganz neue Ankläger, nunmehr die eidliche Klage auch dieser Leute?) vornehmen. Sie lautet etwa folgender- maßen: „Sokrates vergeht sich wider die Gesetze, indem er die Jugend verdirbt und nicht an die vaterländischen Götter glaubt, sondern einem

24 Si

Apologie des Sokrates, 35

Glauben an eine neue Art von Dämonentum?”) hul- digt.‘ Das ist der Gegenstand der Anklage und wir wollen nun diese Anklage Punkt für Punkt einer genauen Prüfung unterwerfen.

Zunächst stellt er mich als Frevler an der Jugend hin, die ich angeblich verderbe. Ich dagegen, meine Mit- bürger, werfe dem Meletos widergesetzliches Verhalten vor, weil er mit ernsthaften Dingen Scherz treibt 5), näm- lich leichtfertig seine Mitmenschen den Drangsalen ge- richtlicher Verfolgung preisgibt und sich anstellt als ginge er ganz auf in Eifer und Sorge für Dinge, um die er sich tatsächlich niemals auch nur einen Augenblick geküm- mert hat. Daß dem so ist, will ich versuchen auch euch?”) klarzumachen.

12. Also Meletos, nun achtgegeben und geantwortet! Legst du nicht den größten Wert auf die sittliche Bes- serung der Jugend?

Meletos. Gewiß.

Sokrates. Nun, so sage hier vor den Richtern, wer macht sie denn besser ? Das weißt du ja doch offenbar, denn du hast ja ein so warmes Herz für sie. Hast du doch ihren Verführer in mir, wie du sagst, ausfindig gemacht und bringst mich vor die Richter und verklagst mich; nun nenne also auch den, der sie sittlich bessert, und gib ihn den Richtern mit Namen an.?®) Siehst du, Me- tos, du schweigst und weißt nichts zu sagen. Und doch! Ist das nicht in deinen Augen eine Schande und der volle Beweis für meine Behauptung, daß du dich nie um die Sache gekümmert hast? So sage denn, mein Bester, wer macht sie denn besser?

Meletos. Die Gesetze. |

Sokrates. Aber das ist es nicht, was ich wissen will, sondern welcher Mensch der freilich auch zuvor die Gesetze kennen muß.

Meletos. Hier, die Richter, Sokrates.

Sokrates. Wie sagst du, Meletos? Die hier Ver-

; 5%

36 Platon.

sammelten sollen imstande sein, die Jugend zu erziehen? Sie sollen sie besser machen ?*®)

Meletos. Unbedingt.

Sokrates. Etwa alle oder nur einige von ihnen, andere wieder nicht?

Meletos. Alle.

Sokrates. Das heißt wohl gesprochen, bei der Hera! Über Mangel an guten Erziehern können wir uns also wahrlich nicht beklagen. Und nun weiter. Wie steht es mit den Zuhörern hier? Machen auch sie die Jugend besser oder nicht?

Meletos. Auch sie.

Sokrates. Und die Ratsherren?

Meletos. Auch die Ratsherren.

Sokrates. Aber, Meletos, die Männer der Volks- versammlung (die Ekklesiasten), verderben sie vielleicht die Jugend? Oder sorgen auch sie für deren Besserung?

Meletos. Auch sie.

Sokrates. Es scheint also, alle Athener sind be-

müht um die sittliche Besserung der Jugend außer mir:

ich bin der einzige, der sie verdirbt. Ist das deine Mei- nung?

Meletos. Ganz entschieden.

Sokrates. Damit hast du mir einen schweren Schlag versetzt. Doch antworte mir. Verhält es sich deiner Ansicht nach mit den Pferden ebenso? Sind es die Menschen insgesamt, die die Pferde besser machen, und nur ein einzelner, der sie verdirbt? Oder findet nicht das gerade Gegenteil statt, daß nämlich ein einzelner oder nur ganz wenige imstande sind, sie besser zu machen, nämlich die Pferdezüchter, während die meisten, wenn sie sich mit Pferden abgeben und sie brauchen, sie rui- nieren? Verhält es sich nicht so, Meletos, nicht nur bei den Pferden, sondern auch bei allen anderen Geschöpfen? Ja, so verhält es sich unzweifelhaft, möget ihr, du und Anytos, es nun zugeben oder nicht. Es wäre ja auch ein unerhörtes Glück für die Jugend, wenn es nur einen

Apologie des Sokrates. 37

gäbe, der sie verdirbt, alle andern aber sich ihr förder- lich erwiesen. Aber, mein Meletos, du läßt ja keinen Zweifel darüber, daß du dich nie um die Jugend ge- kümmert hast, und gibst klar zu erkennen, daß du in deinem Leichtsinn dir niemals irgendwelche Sorge dar- über gemacht hast, weshalb du mich eigentlich hier vor Gericht ziehst.

13. Ferner sage uns, beim Zeus, Meletos, ist es besser unter braven Bürgern zu leben als unter bös- willigen? Antworte, mein Freund, es ist ja keine schwere Frage. Nicht wahr, die Böswilligen tun ihren Nächsten doch immer Böses, die Guten dagegen Gutes?

Meletos. Gewiß.

Sokrates. Gibt es nun irgend jemanden, der von seinen Bekannten lieber Nachteil als Vorteil haben will? Antworte, mein Bester. Das Gesetz fordert von dir eine Antwort ὅὃ. Gibt es jemanden, der Schaden haben will?

Meletos. Gewiß nicht.

Sokrates. Wohlan denn, ziehst du mich hier vor Gericht als einen, der absichtlich die Jugend verführt und sie schlechter macht, oder der es unabsichtlich tut?

Meletos. Absichtlich, in meinen Augen wenigstens.

Sokrates. Wie also, Meletos? Du bist so viel weiser in deinen jungen Jahren als ich in meinen hohen Jahren, denn du siehst schon ein, daß die Bösen ihren. Nächsten immer Böses tun, die Guten aber Gutes und ich soll noch in so tiefer Unwissenheit stecken, daß ich nicht einmal dies weiß°"), daß, wenn ich einen durch meinen Umgang mit ihm zu einem verworfenen Menschen mache, ich mich in die Lage bringe, von ihm irgend- welchen bösen Streich fürchten zu müssen? Und einem solchen Unheil soll ich mich mit voller Absicht aus- setzen, wie du sagst? Nein, das glaube ich dir nicht, Me- letos, und vermutlich auch kein anderer Mensch: sondern entweder verderbe ich die Jugend überhaupt nicht, oder

. wenn ich sie verderbe, dann unabsichtlich; in beiden

Fällen also lügst du. Verderbe ich sie aber unabsicht-

38 Platon.

lich, dann fordert das Gesetz bei derartigen Verfehlungen keine gerichtliche Verfolgung, vielmehr soll man dann den Betreffenden beiseite nehmen zum Zwecke der Be- lehrung und Warnung. Denn kein Zweifel: wenn ich zu voller Einsicht gelangt bin, dann werde ich ablassen von dem, was ich unabsichtlich tue. Du aber hast jede Gelegenheit, mit mir zusammenzukommen und mich zu belehren, gemieden und hast dich nicht dazu entschließen können; statt dessen ziehst du mich hier vor Gericht, wohin dem Gesetze nach diejenigen gehören, die der Züch- tigung bedürfen, nicht aber der Belehrung.

14. So viel, meine Mitbürger, liegt wohl nun klar zutage, daß, wie gesagt, Meletos sich keinen Deut um diese Dinge gekümmert hat. Gleichwohl sage uns doch, Meletos, auf welche Weise ich deiner Meinung nach die Jugend verderbe.. Deine Klageschrift gibt ja wohl genügende Auskunft darüber. Sie sagt, ich verderbe sie dadurch, daß ich sie lehre, nicht an die staatlich aner- kannten Götter zu glauben sondern an ein neues Dä- monentum anderer Art. Sind das nicht die Lehren, durch die ich deiner Meinung nach Verderben stifte?

Meletos. Ja, das ist meine ganz entschiedene Mei- nung.

Sokrates. Bei ebendiesen Göttern nun, Meletos, von denen jetzt die Rede ist, erkläre dich noch deutlicher gegen mich und die Anwesenden, denn ich vermag nicht klar zu sagen, was für eine Lehre du mir zuschreibst: lehre ich den Glauben an das Dasein von doch irgend- welchen Göttern, so daß ich selbst doch an das Dasein von Göttern glaube also kein völliger Atheist bin und mich nicht dadurch schuldig mache —, nur eben nicht an das der staatlichen Götter sondern an andere, und besteht eben in diesem Umstande, in diesem Glauben an andere Götter mein angebliches Verbrechen, oder er- klärst du mich für völlig ungläubig in bezug auf die Götter und für beflissen, meinen eigenen Unglauben als Lehrer auch auf andere zu übertragen?

27 St.

Apologie des Sokrates. 39

Meletos. Dies letztere behaupte ich: du glaubst überhaupt an keine Götter. 52

Sokrates. Du wunderlicher Meletos, was willst du mit dieser Behauptung? Ich soll also wohl Sonne und Mond nicht für Götter halten wie die übrigen Menschen?

Meletos. So ist es, beim Zeus, ihr Richter: er hält tatsächlich die Sonne für einen Stein, den Mond für eine Erde.

Sokrates. Du meinst wohl, es sei Anaxagoras ἢ) den du als Angeklagten vor dir hast, mein lieber Me- letos, und denkst so geringschätzig von den Richtern und hältst sie für solche Fremdlinge in der Bücherwelt, daß sie nicht wissen sollten, daß die Bücher des Anaxa- goras von derartigen Äußerungen wimmeln? Also von mir lernen denn auch die jungen Leute diese Weisheit, die sie manchmal, hochgerechnet, für eine Drachme auf dem Markte an dem ÖOrchestraplatze°®*) kaufen können, um dann den Sokrates auszulachen, wenn er diese Weisheit als sein Eigentum in Anspruch nimmt, zumal es noch dazu so ungereimtes Zeug ist! Aber, beim Zeus, soll ich denn in deinen Augen wirklich ein so ausgemachter Gottesleugner sein?

Meletos. Ja, beim Zeus, das bist du ohne jede Einschränkung.

Sokrates. Das glaubt dir niemand, Meletos, und wenn ich recht sehe, glaubst du es selber nicht. Denn mir scheint dieser Ankläger, meine Mitbürger, ein durch und durch übermütiger und zuchtloser Gesell zu sein, der aus reinem Übermut, Frevelsinn und jugendlichem Mut- willen diese Klage eingereicht hat. Denn es will mir vor- kommen, als habe er es auf ein Rätsel abgelegt und mache nun die Probe: „wird der weise Sokrates wohl merken, daß ich mir mit ihm einen Scherz erlaube und mich mit mir selber in Widerspruch setze, oder werde ich ihn und die übrigen Zuhörer täuschen?“ Denn wie mir scheint, stellt dieser Ankläger in der Klageschrift Behauptungen auf, mit denen er sich selbst widerspricht,

40 Platon.

wie wenn er etwa sagte: „Sokrates ist schuldig, weil er nicht an Götter glaubt, sondern an Götter glaubt.“ Und was wäre das anders als ein Scherz?

15. So erwägt denn, meine Mitbürger, mit mir, in- wiefern er sich meiner Meinung nach in solchen Wider- sprüchen bewegt. Du aber antworte uns, Meletos. - Ihr aber, vergesset nicht, worum ich euch gleich anfangs bat: enthaltet euch jeglichen Lärmens, wenn ich in meiner gewohnten Art spreche.

Gibt es wohl, Meletos, irgendeinen Menschen, der zwar an menschliche Eigenschaften glaubt, an Menschen aber nicht glaubt? Antworten soll er, meine Mitbürger, statt immer wieder bloß aufzumurren! Gibt es einen, der nicht an Pferde glaubt, wohl aber an Eigenschaften von Pferden? oder der nicht an Flötenspieler glaubt, wohl aber an Eigenschaften von Flötenspielern? Nein, es gibt keinen, du Ehrenmann: wenn du nicht antworten willst, nun so sage ich es dir und den anderen Anwesenden. Aber auf das Folgende wenigstens gib Antwort: Gibt es jemanden, der zwar an Dämonentum glaubt, an Dämonen aber nicht glaubt?

Meletos. Nein.

Sokrates. Welche Wohltat, daß du dich endlich zu einer Antwort bequemt hast, wenn auch nur aus Achtung vor den Richtern. Du gibst also zu, daß ich an Dämonentum glaube und es auch lehre, gleichviel ob neues oder altes. Jedenfalls glaube ich an Dämonentum nach deiner ausdrücklichen Versicherung, wie du es ja auch in deiner Anklageschrift eidlich bezeugt hast. Glaube ich aber an Dämonentum, dann muß ich unbedingt auch an Dämonen glauben. Ist es nicht so? Ja, so ist es! Denn ich nehme an, daß du beistimmst, da du ja nicht ant- wortest. Die Dämonen aber halten wir sie nicht ent- weder für Götter oder für Sprößlinge der Götter? Gibst du es zu oder nicht?

Meletos. Gewiß.

Sokrates. Wenn ich also, wie du zugibst, an Dä-

σι

Apologie des Sokrates. 41

monen glaube, und die Dämonen eine Art Götter sind, so wäre das ja eben jenes Rätsel- und Scherzspiel, auf das du es nach meiner Behauptung abgelegt hast: denn ich, der ich nach deiner Aussage an keine Götter glaube, soll doch anderseits wieder an Götter glauben. Wenn es ferner wahr ist, daß die Dämonen Sprößlinge der Götter sind, nämlich unechte von Nymphen oder anderen Wesen, als deren Kinder sie in der Überlieferung ja auch gelten, wer in aller Welt möchte da an Kinder der Götter glauben, an Götter aber nicht? Das wäre ja doch gerade so ungereimt, als wollte jemand an Sprößlinge von Pferden und Eseln glauben, an Maulesel nämlich, nicht aber an das Dasein von Pferden und Eseln. Nein, Meletos, kein Zweifel: entweder wolltest du mit Ein- reichung dieser Klage mir einen Possen spielen, oder du konntest kein wahres Vergehen ausfindig machen, dessen du mich beschuldigen könntest. Daß du aber irgendeinen auch nur halbwegs vernünftigen Menschen überreden könntest, es könne ein und derselbe Mensch einerseits an Dämonentum und göttliche Wesen glauben

. und anderseits wieder weder an Dämonen noch an Götter

noch an Heroen glauben, das ist eine reine Unmöglich- keit. 8) 16. Doch, meine Mitbürger, daß ich nicht schuldig

. bin im Sinne der Anklage des Meletos, das bedarf meines .

Erachtens keiner langen Ausführungen weiter zum Zwecke der Verteidigung, sondern das Gesagte genügt. Was aber einen schon früher berührten Punkt°®) anlangt, nämlich daß eine starke Feindschaft bei vielen erwachte, so ist dies ohne Zweifel wahr. Und dies ist’s, was mich zu Falle bringen wird, wenn ich nun einmal fallen soll, nicht Meletos oder Anytos, sondern der böse Leumund bei der Menge und deren Gehässigkeit. Dies hat schon viele treffliche Männer zu Fall gebracht und das wird, denk’ ich, auch in Zukunft so sein, und es hat keine Gefahr, daß es bei mir haltmache.

Vielleicht könnte nun jemand sagen: „Und da schämst

49 Platon.

du dich nicht, Sokrates, einem Berufe nachzugehen, der dich nunmehr dem Tode in die Arme liefert? Ich aber würde ihm mit gerechter Entrüstung antworten: „Du irtst gewaltig, mein Bester, wenn du meinst, ein Mann, der auch nur etwas auf sich hält, solle ängstlich mit Leben oder Tod rechnen statt bei seinem Tun und Han- deln darauf zu sehen, ob er gerecht oder ungerecht han- delt und ob seine Taten die eines edeln oder eines ehr- vergessenen Mannessind. Denn nichtswürdig wären ja nach deinem Urteil alle die gottentstammten Helden, die vor Troja ihr Leben ließen, unter ihnen aber vor allen anderen der Thetis Sohn, der jegliche Gefahr für nichts achtete, wenn ihm etwas Schimpfliches zugemutet wurde. So be- sonders, als seine Mutter, sie, die Göttin, seinem Ver- langen, den Hektor zu töten, mit etwa folgenden Worten, glaub’ ich, entgegentrat: „Wenn du deines Freundes Pa- troklos Tod rächen und den Hektor töten willst, so mußt du selber sterben.‘‘ Denn, sagt 516 5), Nach Hektor sogleich ist der Tod dir bereitet.

Er aber beantwortete diese Abmahnung sofort mit dem Ausdruck der Verachtung von Tod und Gefahr, denn als ein Feigling zu leben und seine Freunde nicht zu rächen schien ihm weit abschreckender. Er βαρὺ 35)

Lieber stürb’ ich sogleich,

nachdem ich den Frevler gestraft, damit ich nicht hier weile, dem Spotte ausgesetzt, 89) Bei den gewölbten Schiffen die Erde belastend.

Von ihm glaubst du gewiß nicht, daß er sich um Tod und Gefahr bekümmert habe. Und so ist es in der Tat, meine Mitbürger: Wo einer sich selbst seinen Posten bestimmt hat, überzeugt, daß es keinen besseren Ent- schluß gebe, oder wo er seinen Posten von einem Vor- gesetzten angewiesen erhalten hat, da muß er ausharren und der Gefahr Trotz bieten und weder des Todes noch der Gefahr achten gegenüber der Schande.‘*°)

5

cr

Apologie des Sokrates. 43

17. Bedenket doch, meine Mitbürger: Als die Feld- herren, die doch nur ihr*') Menschen zu meinen Vor- gesetzten gewählt hattet, mir bei Potidaia, bei Amphi- polis, bei Delion meinen Posten anwiesen, da habe ich auf diesem Posten gleich den anderen ausgeharrt und dem Tode getrotzt. Wäre es da nicht unverzeihlich, wenn ich gegenüber der Weisung des Gottes, der, wie ich glaubte und annahm, mich aufforderte, mein Leben der Wahrheitsforschung sowie der eigenen Prüfung und der der anderen zu widmen wenn ich da aus Furcht vor dem Tode oder vor wer weiß welchem anderen Schrecknis meinen Posten hätte verlassen wollen? Ja, wahrlich un- verzeihlich wäre das, und dann könnte man mich aller- dings mit vollstem Recht vor Gericht fordern wegen man- gelnden Götterglaubens, sofern ich dem Orakel nicht folge und den Tod fürchte und vermeine weise zu sein, ohne es doch zu sein. Denn den Tod fürchten, meine Mit- bürger, was ist das anders als sich dünken weise zu sein ohne es doch zu sein? Es heißt nämlich so viel wie sich einbilden zu wissen was man nicht weiß. Denn es weiß niemand vom Tode, ob er nicht vielleicht sogar das allergrößte Glück für die Menschen ist, und doch fürchtet man sich vor ihm, als wüßte man ganz genau, daß er das größte Übel sei. Und doch, was wäre dies anderes als jene verrufene Unwissenheit, die in der Ein- bildung besteht zu wissen was man nicht weiß? Dies aber, meine Mitbürger, ist der Punkt, in dem ich mich auch bei dieser Frage vielleicht von den meisten Men- schen unterscheide, und wenn ich wirklich sagen darf, ich sei in irgend etwas weiser als ein anderer, so wäre das eben darin, daß ich, nicht ausreichend bekannt mit den Dingen im Hades, mir auch nicht einbilde, ein Wissen davon zu besitzen. Gesetzwidrig handeln aber und dem Bessern er sei nun Gott oder Mensch den Gehorsam zu verweigern, das, weiß ich, ist nichts- würdig und schändlich. Niemals also werde ich statt der Übel, die ich als solche sicher kenne, Dinge fürchten

44 Platon.

oder meiden, von denen ich nicht weiß, ob sie nicht viel- leicht für uns ein Glück sind. Setzet einmal den Fall, ihr sprächet mich jetzt frei und das sei so zugegangen: ihr wäret nicht einverstanden gewesen mit Anytos *?), welcher erklärte, entweder hätte ich gar nicht vor Gericht gezogen werden dürfen, oder, nachdem dies einmal ge- schehen, sei es unumgänglich notwendig mich zum Tode zu verurteilen, denn, wie er begründend hinzufügte, wenn ich glücklich davonkäme, dann würden euere Söhne in tätiger Befolgung der Lehren des Sokrates dem vollen Verderben zugeführt werden. Darauf hättet ihr mir er- klärt: „Sokrates, jetzt zwar wollen wir dem Anytos nicht nachgeben, sondern sprechen dich frei, doch nur unter der Bedingung, daß du dich nicht mehr mit dergleichen Untersuchungen abgibst und der Weisheitsliebe frönst: wirst du dabei ertappt, dann ist dir der Tod gewiß.“ Wenn ihr also, wie gesagt, unter dieser Bedingung mich freisprächet, so würde ich euch erwidern: „Meine Mit- bürger, euere Güte und Freundlichkeit weiß ich sehr zu schätzen, gehorchen aber werde ich mehr dem Gotte als euch, und solange ich noch Atem und Kraft habe, werde ich nicht aufhören der Wahrheit nachzuforschen und euch zu mahnen und aufzuklären und jedem von euch, mit dem mich der Zufall zusammenführt, in meiner gewohnten Weise ins Gewissen zu reden: Wie, mein Bester, du, ein Athener, Bürger der größten und durch Geistesbildung und Macht hervorragendsten Stadt, schämst dich nicht, für möglichste Füllung deines Geldbeutels zu sorgen und auf Ruhm und Ehre zu sinnen, aber um Einsicht, Wahr- heit und möglichste Besserung deiner Seele kümmerst du dich nicht und machst dir darüber keine Sorge? Und bestreitet dies einer von euch und versichert, er sorge allerdings darum, so werde ich ihn nicht etwa sofort gehen lassen und mich entfernen, sondern ich werde ıhn ausfragen und prüfen und ins Gebet nehmen, und wenn ich den Eindruck gewinne, daß er ungeachtet aller Ver- sicherung keine Tugend besitze, so werde ich es an Vor-

Apologie des Sokrates. 45

St. würfen nicht fehlen lassen, daß er das Schätzenswerteste am geringsten achtet und das Wertlose höher.‘ *®)

So werde ich’s mit jung und alt halten, wer mir auch immer in den Weg kommt, mit Fremden und Ein- heimischen, vor allem aber doch mit euch Einheimischen, denn ihr steht mir als stammverwandt näher. So näm- lich befiehlt es der Gott, dessen könnt ihr gewiß sein. Auch glaube ich, daß euch und euerer Stadt nie ein größeres Glück beschert worden ist als dieser mein dem Gott geweiheter Dienst. Besteht ja doch meine ganze Tätigkeit darin, daß ich in beständiger Wanderung euch mahne, jung und alt, weder das körperliche Wohl noch die Sorge für Hab und Gut höher zu stellen und eifriger im Auge zu haben als das Wohl der Seele und ihre möglichste Besserung. Denn, so lautet meine Rede, nicht aus Reichtum geht die Tugend hervor, sondern aus der Tugend der Reichtum **) und alle anderen menschlichen Güter im persönlichen wie im öffentlichen Leben. Wenn ich nun durch solche Reden die Jugend verderbe, dann müssen sie Ja wohl schädlich sein; wenn aber jemand sagt, ich lehre anderes als dieses, so ist das null und nichtig. Darum, meine Mitbürger, das versichere ich euch: folget dem Anytos oder folget ihm nicht, sprechet mich frei oder nicht, auf keinen Fall werde ich anders han-

- deln, und müßte ich noch so oft den Tod über mich ergehen lassen.

18. Enthaltet euch, meine Mitbürger, jeder störenden Kundgebung und bleibet eingedenk meiner Bitte an euch, meine Worte nicht mit Lärm aufzunehmen sondern sie anzuhören; ihr werdet, denke ich, es nicht zu bereuen haben, wenn ihr ruhig zuhört. Ich habe euch nämlich noch einiges andere zu sagen, was euch vielleicht zu lärmendem Widerspruch reizen wird; doch lasset euch nicht dazu hinreißen.

So lasset euch denn gesagt sein: Wenn ihr mich hinrichtet und meine Schilderung hat euch gezeigt, wer ich bin —, so werdet ihr euch selbst größeren Scha-

46 Piaton.

den zufügen als mir: Mir wird Meletos so wenig ge- fährlich werden wie Anytos; steht das doch gar nicht in seiner Macht; denn es verträgt sich, dächt’ ich, nicht mit der göttlichen Weltordnung, daß der bessere Mensch von dem schlechteren Leid erfahre. Ja, mich ums Leben bringen, mich in die Verbannung treiben, mich der Bürgerrechte berauben, das kann er vielleicht; aber das mag er wie mancher andere vielleicht für ein großes Unglück halten: ich dagegen halte nicht dies für ein Übel, sondern weit mehr die Handlungsweise, in der er sich jetzt gefällt, indem er es unternimmt ungerechter- weise einen Menschen ums Leben zu bringen.

Daher, meine Mitbürger, bin ich jetzt weit entfernt, um meiner selbst willen mich zu verteidigen, wie mancher wohl annehmen möchte, vielmehr gilt meine Verteidigung euch, um euch zu bewahren vor einer Versündigung an dem euch von Gott bescherten Geschenk, indem ihr über mich den Tod verhängt. Denn nehmt ihr mir das Leben, so werdet ihr nicht leicht einen anderen dieser Art fin-

den, der, mag es auch lächerlich klingen, der Stadt ge-

radezu als Zuchtmittel von der Gottheit beigegeben ist, als wäre sie ein großes, edles Roß, das aber eben wegen seiner Größe zur Trägheit neigt und der Anregung durch den Sporn*°) bedarf. So hat denn der Gott auch mich der Stadt beigegeben als einen Mann, der nicht müde wird euch zu wecken, zu mahnen, zu schelten, kurz, der den ganzen Tag euch überall auf dem Nacken sitzt. Ein anderer dieser Art wird euch so bald nicht wieder er- stehen, meine Mitbürger. Darum, wenn ihr mich hört, werdet ihr meiner schonen. Doch wer weiß! Ihr werdet vielleicht, ähnlich einem aus dem Schlummer Geweckten, in euerem Ärger auf mich losschlagen und vom Anytos verleitet mich ohne Bedenken zum Tode verurteilen, um dann euer weiteres Leben zu verschlafen, wenn euch nicht der Gott aus Erbarmen einen andern zusendet. Daß es aber die Gottheit ist, die mich euch als solchen Mahner beigegeben, das könnt ihr aus folgendem entnehmen. Es

Apologie des Sokrates. 47

sieht doch nämlich nicht wie menschliches Verhalten aus, daß ich meine persönlichen Angelegenheiten samt und sonders vernachlässigt habe und nun schon so viele Jahre der Verkümmerung meines Hauswesens ruhig zusehe, nur darauf bedacht, unablässig für euer Wohl tätig zu sein, indem ich mich an jeden einzelnen wende und ihm wie ein Vater oder ein älterer Bruder ins Gewissen rede, er solle sich ja der Tugend befleißigen. Und wenn ich von allem dem noch einen Gewinn hätte und meine Mah- nungen mir einigen Lohn einbrächten, so wäre mein Ver- halten vielleicht begreiflich. So aber seht ihr auch selbst, daß die Ankläger, die in allen übrigen Punkten bei ihrer Anklage nicht das geringste Schamgefühl zeigen, doch es nicht fertigbringen konnten, die schamlose Be- hauptung aufzustellen und einen Zeugen dafür beizu- bringen, ich hätte jemals mir einen Gewinn verschafft oder Bezahlung erbeten. Denn ich habe, denk’ ich, einen ausreichenden Zeugen dafür, daß ich die Wahrheit sage. Dieser Zeuge, wer ist es? meine Armut. “ἢ

19. Vielleicht könntet ihr es sonderbar finden, daß ich mit meinen Ratschlägen und meiner Vielgeschäftigkeit mich immer nur an einzelne wende, es aber nicht über mich gewinnen kann, Öffentlich in der Volksversammlung vor euch aufzutreten als Berater des Staates. Der Grund . liegt in einer Erscheinung, über die ihr mich oft genug . habt sprechen hören. Es ist dies ein gewisses göttliches und dämonisches Zeichen‘), was ja auch Meletos in seiner Klageschrift ins Lächerliche gezogen hat. Mich hat diese Erscheinung schon gleich von Kindheit auf begleitet: es ist eine Stimme, die sich immer nur in ab- mahnendem Sinne vernehmen läßt, um mich von einem Vorhaben abzubringen, niemals aber in zuredendem Sinne. Das ist es, was mich der staatlichen Tätigkeit fernhält. Und es scheint mir ein wahrer Segen, daß es das tut. Denn glaubet mir, meine Mitbürger: hätte ich schon frühzeitig mich mit politischen Angelegenheiten befaßt, dann wäre es längst mit mir vorbei, und ich hätte weder

48 Platon.

euch noch mir irgendwelche nützlichen Dienste erweisen können. Seid mir nicht gram, wenn ich euch die Wahr- heit sage: kein Mensch ist seines Lebens sicher, der euch oder einer anderen Volksmenge offen und ehrlich ent- gegentritt und allerlei Unrecht und Gesetzwidrigkeit im Staate zu verhindern sucht, sondern wer wirklich ein Vorkämpfer des Rechtes sein will, der muß, um auch nur kurze Zeit sein Leben zu fristen, schlechterdings sich auf den Einzelverkehr beschränken und auf die Beteili- gung an den Öffentlichen Angelegenheiten verzichten.

20. Für diese Behauptungen will ich euch schlagende Beweise anführen, nicht Worte, sondern, worauf ihr so großes Gewicht legt, Tatsachen. Vernehmet also, was mir begegnet ist, um euch zu überzeugen, daß ich dem Rechte zuwider vor niemandem, er sei wer er wolle, zu- rückweichen werde aus Furcht vor dem Tode, mag dieser mir auch noch so stark drohen für den Fall, daß ich eben nicht nachgebe. Was ich euch vortragen werde, ist ärger- licher und unerquicklicher Art*°), aber es ist die Wahr- heit. Ich habe, meine Mitbürger, niemals eine andere amtliche Stellung im Staate bekleidet als die eines Rats- herrn.*”) Meine Phyle, die Antiochis, hatte gerade die Leitung der Geschäfte, als ihr die zehn Feldherren, die sich nicht um Rettung der Schiffbrüchigen nach der Seeschlacht (bei den Arginusen) bemüht hatten, alle zumal aburteilen wolltet, in ungesetzlichem Verfahren, wie ihr späterhin alle selbst erkanntet. Damals war ich der einzige Prytane, der sich gegen dieses gesetzwidrige Verfahren erklärte 55, und obschon die Stimmfübrer drauf und dran waren, meine Verhaftung und Abführung durchzusetzen, und ihr lärmend beistimmtet, glaubte ich doch lieber im Bunde mit Gesetz und Recht allen Ge- fahren trotzen zu müssen als aus Furcht vor Gefängnis oder Tod mich euch und eueren widergesetzlichen Be- schlüssen anzuschließen. Diese Vorgänge fallen in die Zeit, wo der Staat noch eine demokratische Verfassung hatte.

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Apologie des Sokrates, 49

Als aber die Wendung zur Oligarchie eingetreten war, ließen die Dreißig mich nebst vier anderen in ihr Amtslokal (Tholos) kommen und gaben uns den Befehl, aus Salamis den dort heimischen Leon zur Stelle zu schaf- fen®®), um ihn hinzurichten, wie sie denn auch vielen anderen häufig derartige Befehle erteilten in der Absicht, möglichst viele zu ihren Mitschuldigen zu machen. Da- mals, darf ich sagen, habe ich nicht durch Worte, son- dern durch die Tat bewiesen, daß ich mich, derb her- ausgesagt, keinen Deut um den Tod kümmere, dagegen auf nichts mehr halte als darauf, nichts Ungerechtes und Sündhaftes zu begehen. Denn selbst jenes Schreckens- regiment konnte mich trotz all seiner Macht nicht dazu bringen, ein Unrecht zu begehen; nein, sobald wir die Amtsstätte verlassen hatten, machten sich die vieranderen alsbald auf nach Salamis und holten den Leon, ich aber eilte flugs wieder in meine Wohnung. Und wer weiß, ob ich nicht darüber mein Leben eingebüßt hätte, wenn jenes Regiment nicht über Nacht gestürzt worden wäre. Und diesen Vorgang werden mir viele von euch°®) be- stätigen können.

21. Meint ihr nun wohl, ich hätte so viele Jahre durchhalten können, wenn ich mich der staatlichen Tätig- keit gewidmet und dabei als redlicher Mann mich immer

zum Verfechter des Rechtes gemacht und darin, wie es

P ἦτ

sıch gehört, meine höchste Aufgabe erkannt hätte? Weit gefehlt, meine Mitbürger. Und wäre es bei einem anderen

. Menschen etwa anders gewesen?

Von mir wird man denn den Eindruck haben, daß ich mein lebelang immer der gleiche geblieben bin, sowohl was meine gelegentliche öffentliche Tätigkeit an- langt, wie in meinen persönlichen Angelegenheiten: nie- mals habe ich irgendeinem auch nur das Geringste wider das Recht eingeräumt, und dabei denke ich nicht bloß an die Bürger im allgemeinen, sondern auch an diejenigen, welche meine Verleumder als meine Schüler hinstellen. °?) Ich aber bin niemals jemandes. Lehrer gewesen. Wohl

Platon Apologie und Kriton. Phil. Bibl. Bd. 180. | 4

50 Platon.

aber habe ich, wenn jemand Verlangen trug mich reden zu hören, in Ausübung meines eigenartigen Berufes mich niemals jemandem, gleichviel ob jung oder alt, versagt, auch verstehe ich mich zu solchen Unterhaltungen nicht etwa nur, wenn man mich dafür bezahlt, sonst aber nicht; nein, ob reich oder arm, ich lasse mich fragen, und wer will, kann antworten und hören was ich sage. Und ob nun ein solcher Frager ein tüchtiger Mann wird oder nicht, dafür bin billigerweise nicht ich verantwortlich, denn ich habe ja nie irgendeinem Unterricht versprochen oder erteilt, und behauptet etwa jemand, er habe von mir jemals beiseits etwas gelernt oder gehört, was nicht auch alle anderen hören konnten, so könnt ihr ee sein, daß er die Unwahrheit sagt.

22. Aber wie kommt es, daß manche so lange Zeit gern mit mir Umgang pflegen? Ihr habt’s schon ge- hört°*), meine Mitbürger; ich habe euch die volle Wahr- heit gesagt: es macht ihnen Vergnügen zuzuhören, wenn die Leute ins Gebet genommen werden, die sich ein- bilden, weise zu sein, es aber nicht sind; denn das hat einen gewissen Reiz. Mir aber ist, wie gesagt, diese Auf- gabe von der Gottheit zugewiesen durch Orakel, durch Träume und durch alle möglichen Zeichen, durch welche der göttliche Wille U ae dem Menschen kundgegeben wird.

Dies, meine Mitbürger, ist wahr und ist leicht zu erweisen. Wenn ich wirklich die jungen Leute teils verderbe teils verdorben habe, so müßten doch wohl einige ältere von ihnen, die nun in reiferen Jahren erkannt hätten, daß ich ihnen in ihrer Jugend irgend einmal einen verderblichen Rat erteilte, jetzt entweder selbst hier auftreten, um mich anzuklagen und Vergeltung zu üben, oder, falls sie sich dazu nicht verstehen wollten, dann müßte irgendeiner aus ihrer Verwandtschaft, Vater, Bru- der oder wer sonst von den Angehörigen, wenn ihren Verwandten von mir irgend etwas Schlimmes widerfahren, jetzt dessen eingedenk sein. Wirklich sind auch viele

84 St.

Apologie des Sokrates. 51

von ihnen hier zur Stelle: ich sehe zunächst da den Kriton°®), meinen Alters- und Stammesgenossen, den Vater des Kritobulos dort; dann den Sphettier Lysanias, dort den Vater des Äschines; ferner den Antiphon hier, den Ke- phisier, des Epigenes Vater. Sodann andere, deren Brü- der in der geschilderten Art mit mir Umgang gepflogen, Nikostratos, des Theozotides Sohn, Bruder des Theo- dotos und zwar ist Theodotos tot, der ihn also gewiß nicht zu meinen Gunsten beeinflußt haben kann und hier Paralos, des Demodokos Sohn, dessen Bruder Theages war; dort auch Adeimantos, des Ariston Sohn, und sein Bruder, dieser Platon da, und Aiantodoros, von welchem Apollodoros dort ein Bruder ist. Und noch viele andere könnte ich euch nennen, von denen Meletos doch wenig- stens den einen oder den anderen in seiner Rede hätte als Zeugen anführen sollen. Hat er es aber bei jener Ge- legenheit vergessen, so hole er es jetzt nach ich gebe ihm gern die Möglichkeit dazu?®) und mache die ent- sprechenden Angaben darüber. Aber das gerade Gegen- teil findet statt: ihr findet, meine Mitbürger, sie sämt- lich bereit mir zur Seite zu stehen, mir, ihrem Verführer, der ihren Verwandten Böses angetan hat, wie Meletos und Anytos sagen. Die Verführten selbst könnten ja einen Grund haben, mir beizustehen; aber die nicht ver- führten, schon reiferen Männer, ihre Verwandten, welchen anderen Grund hätten sie wohl mir beizustehen als einzig den gerechten und billigen, daß sie wissen: Meletos lügt und ich sage die Wahrheit.

23. Gut denn, meine Mitbürger. Was ich zu meiner Verteidigung vorzubringen habe, wäre etwa dies, wenn sich vielleicht auch noch ein oder das andere ähnlicher Art hinzufügen ließe. Vielleicht aber wird nun mancher von euch ungehalten sein, wenn er an sich selber zurück- denkt, wie er als Angeklagter in irgendeinem weit un- bedeutenderen Prozeß als diesem die Richter mit den in- ständigsten Bitten bestürmt hat unter einem Strome von Tränen und unter Hinweis auf seine eigens zu dem

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52 Platon.

Zwecke der heftigsten Mitleidserregung mitgebrachten Kinder und seine sonstigen Verwandten und zahlreichen Freunde, während ich alle diese Mittel der Rührung ver- schmähe und dies in einer Lage, die allem Anschein nach die äußerste Gefahr in sich birgt. Wer weiß, ob nicht mancher, von solchen Gedanken erfüllt, sich in seiner Selbstgefälligkeit gegen mich gereizt fühlt und eben da- durch zur Erbitterung gegen mich hingerissen bei der Abstimmung sich von seinem Zorne reizen läßt. Sollte nun einer von euch so gesinnt sein Ich glaube es zwar nicht, sollte es aber der Fall sein —, so dürften meines Erachtens folgende Worte gegen ihn am Platze sein: Mein Bester, ich habe auch wohl einige Verwandte, denn auch hier gilt das Wort Homers?’”), auch ich stamme nicht

Vom Baume oder dem Felsen

sondern von Menschen, auch ich habe also Verwandte und Söhne, meine Mitbürger, und zwar drei, einer schon ein Jüngling, zwei aber noch Kinder.°®) Doch gleichwohl habe ich keines von ihnen hierherbringen lassen, um mir unter Hinweis auf sie ein freisprechendes Urteil zu er- flehen.

Und warum werde ich nichts dergleichen tun? Nicht aus übertriebenem Selbstgefühl oder aus Mißachtung gegen euch, meine Mitbürger, nein! Aber ganz abgesehen davon, ob ich den Tod verachte oder nicht denn das ist eine andere Frage erscheint es mir in Rücksicht auf den guten Ruf als eine Forderung des Anstandes an mich, an euch und an den ganzen Staat, daß ich mich nicht auf dergleichen Unfug einlasse, ich, ein Mann von so hohen Jahren und so bekanntem Namen, mag es auch mit diesem Namen, was seine Berechtigung anlangt, stehen wie es wolle; aber es ist nun einmal die fest- stehende Meinung: daß Sokrates vor den andern Menschen etwas voraus habe. Wenn also diejenigen unter euch, die in dem Rufe hervorragender Weisheit oder Tapfer- keit oder irgendwelcher sonstigen Tugend stehen, sich

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Apologie des Sokrates. 53

von dieser Seite zeigen, so ist das eine Schande. So habe ich oft genug gesehen, wie Leute von hervorragendem Ruf sich vor den Richtern ganz sonderbar anstellten, als meinten sie wer weiß welchen Schrecknissen preis- gegeben zu werden, wenn sie sterben müßten, geradeso als ob sie der Unsterblichkeit sicher wären, wenn ihr sie nicht zum Tode verurteiltet. Sie drücken, so dünkt mich, dem Staate ein Schandmal auf, und es könnte dann auch ein Fremder meinen, die an Tüchtigkeit hervorragenden Athener, denen ıhre Mitbürger selbst vor sich den Vor- zug geben bei Wahl der Obrigkeiten und Verteilung sonstiger Auszeichnungen, unterschieden sich nicht von den Weibern. Solches Verhalten also, meine Mitbürger, dürfen weder wir zeigen, die wir etwas in der Welt gelten, noch dürft ihr, wenn wir uns dessen schuldig machen, es zulassen; vielmehr müßt ihr gerade darauf Wert legen zu zeigen, daß ihr weit eher den verurteilt, der solche Rührszenen vor euch aufführt und die Stadt lächerlich macht, als den, der Ruhe und Anstand be- wahrt.

24. Aber auch abgesehen von dem guten Ruf, meine Mitbürger, scheint es mir auch schon vom Standpunkte des strengen Rechtes verwerflich, die Gnade des Richters anzuflehen und durch Bitten die Freisprechung zu er- wirken statt durch belehrende und überzeugende Auf- klärung. Denn nicht dazu hat der Richter seinen Platz eingenommen, um nach Gunst des Rechtes zu walten, sondern um unparteiisch den Sachverhalt festzustellen. Und durch seinen Richtereid hat er sich nicht verpflichtet, sich dem, dem er nach Gutdünken sein Wohlwollen schenkt, gnädig zu erweisen sondern sein Richteramt streng nach den Gesetzen auszuüben. Also weder wir dürfen euch daran gewöhnen, meineidig zu werden, noch dürft ihr euch daran gewöhnen: beide würden wir uns dadurch den Vorwurf der Gottlosigkeit zuziehen. Mutet mir also, meine Mitbürger, gegen euch nicht eine Art des Auftretens zu, die ich weder für ehrenhaft noch für ge-

54 Platon.

recht noch für fromm halte, zumal da ich, dem Himmel seis geklagt, vom Meletos hier der Gottesleugnung ge- ziehen werde. Denn kein Zweifel: wenn ich euch, die ihr durch euren Eid gebunden seid, durch berückende Rede auf meine Seite brächte und durch Bitten einen Druck auf euch ausübte, so würde ich euch ja lehren, nicht an das Dasein von Göttern zu glauben, und würde durch meine Verteidigung mich recht eigentlich selbst beschuldigen, daß ich nicht an Götter glaube. Aber das sei ferne von mir. Denn ich glaube an sie so fest, meine Mitbürger, wie keiner meiner Ankläger, und ich stelle es euch und der Gottheit anheim über mich zu richten, wie es sowohl für mich am besten sein wird wie auch für euch. °?)

Nach der Verurteilung.

25. Wenn ich nicht ungehalten bin, meine Mitbürger, über das von euch gefällte Verdammungsurteil, so hat das, abgesehen von manchen anderen Umständen, seinen Grund besonders darin, daß mir dies Urteil nicht un- erwartet gekommen ist; nein, weit eher wundere ich mich über die Zahl der Stimmen, die sich nach beiden Seiten hin ergeben haben. Denn ich hatte nicht auf einen so geringen Unterschied gerechnet sondern auf einen weit größeren. So aber hätten nur dreißig Stimmen anders fallen müssen, dann wäre ich freigekommen.°®) Zwar dem Meletos gegenüber bin ich meiner Ansicht nach auch so freigesprochen, und nicht nur dies, sondern es ist jedermann klar, daß, wenn nicht Anytos und Lykon als Ankläger gegen mich aufgetreten wären, er zu einer Geldbuße von tausend Drachmen verurteilt worden wäre, da er dann noch nicht den fünften Teil der Stimmen erlangt hätte.°!) |

26. Der Kläger trägt auf Tod gegen mich an. Gut. Ich aber, welchen Gegenantrag soll ich, meine Mitbürger, stellen? Offenbar doch den Antrag auf die verdiente Strafe. Wie also? Was für eine Strafe oder Buße habe

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Apologie des Sokrates. 55

ich dafür verdient, daß ich es mir beikommen ließ, mein lebelang nicht der Ruhe zu pflegen, sondern im Gegen- satz zu der großen Menge, unbekümmert um Gelderwerb, Hauswirtschaft, Heerführer- und Rednertätigkeit und son- stige amtliche Tätigkeit, um Geheimbünde, um Parteiungen, wie sie das Öffentliche Leben mit sich bringt denn ich hielt mich in der Tat für zu gut, um mich meiner per- sönlichen Sicherheit zuliebe auf dergleichen einzulassen —, daß ich also unbekümmert um all dies einen Weg ver- schmähte, auf dem ich weder euch noch mir selbst irgend- welche ersprießlichen Dienste hätte leisten können? Da- für wählte ich einen anderen Weg: ich wandte mich per- sönlich jedem einzelnen zu, um ihm die meiner Meinung nach größte Wohltat zu erweisen; ich bemühte mich näm- lich, einem jeden von euch die Überzeugung beizubringen, daß er unrecht täte sich eher um sein Hab und Gut zu bekümmern als um sich selber und um die möglichste Förderung seiner sittlichen und geistigen Bildung. Eben- sowenig dürfe er eher Sorge tragen für die Angelegen- heiten des Staates als für den Staat selber und ebenso müsse er es in allen übrigen Dingen halten. Was soll mir nun verdientermaßen bei einer solchen Sinnesart wider- fahren? Etwas Gutes, meine Mitbürger, wenn der An- trag in Wahrheit dem Verdienste entsprechend gestellt werden soll, und zwar muß dies Gute von der Art sein, daß es auf meine Verhältnisse paßt. Was aber ist nun passend für einen Mann, einen Wohltäter euerer Stadt, der der Muße bedarf für seinen Beruf euch aufzurütteln und zu mahnen? Ich wüßte nicht, meine Mitbürger, was für einen solchen Mann passender wäre als die Speisung ım Prytaneion (Rathaus)°”); für ihn ist sie weit mehr angebracht als für Mitbürger von euch, die in Olympia mit dem Rennpferd oder dem Zweigespann oder dem Vier- gespann gesiegt haben. Denn diese verschaffen euch nur ein scheinbares Glück, ich dagegen ein wirkliches und echtes; auch bedürfen sie keiner Versorgung, ich aber bedarf ihrer. Soll ich also meinen Antrag stellen ent-

56 F-jaton.

sprechend dem, worauf ich rechtlichen Anspruch habe, so beantrage ich Speisung im Prytaneion.

27. Vielleicht werden diese Worte einen ähnlichen Eindruck auf euch machen wie meine Äußerungen über die Mitleidserregung und das Flehen um Schonung, den Eindruck nämlich der Selbstüberhebung. Aber von Hoch- mut kann hier gar nicht die Rede sein, vielmehr steht es damit folgendermaßen. Ich bin überzeugt, daß ich nie- mandem vorsätzlich unrecht tue. Euch freilich überzeuge ich davon nicht, weil die Zeit gegenseitiger Aussprache für uns zu kurz war.°®) Denn es will mich bedünken, wenn bei euch die Bestimmung bestünde wie anderwärts, über Tod und Leben nicht bloß einen Tag zu Gericht zu sitzen sondern mehrere Tage‘), dann wäret ihr wohl überzeugt worden. So aber, bei so kurzer Zeit, ist es nicht leicht, sich von schweren Verleumdungen rein zu waschen. Überzeugt also, wie ich bin, niemandem unrecht zu tun, weise ich es weit von mir, mir selbst unrecht zu tun und mir selbst das Zeugnis auszustellen, irgendwelche

37 St

Strafe zu verdienen und einen dementsprechenden An-

trag gegen mich selbst zu stellen. Welche Furcht “Ὁ sollte mich auch dazu treiben? Etwa, daß mich die Strafe trifft, die Meletos gegen mich beantragt, von der ich, wie gesagt, nicht weiß, ob sie ein Glück oder ein Unglück ist? Statt dessen sollte ich es mir einfallen lassen, etwas zu wählen, was, wie ich sicher weiß, ein Unglück ist? Worauf also sollte ich denn antragen? Etwa auf Ge- fängnis? Was soll mir das Leben im Gefängnis, wo ich nichts bin als der Sklave der jedesmaligen Behörde, der Elfmänner®®) nämlich’? Oder auf eine Geldstrafe und (Gefängnis bis zu ihrer Abzahlung? Aber das käme für mich auf dasselbe hinaus wie das vorige; denn ich habe keine Geldmittel, um die Schuld abzutragen. Oder soll ich den Antrag auf Verbannung stellen? Vielleicht näm- lich würdet ihr diesem Antrag beistimmen. Ich müßte doch wahrlich von einem unbändigen Lebensdrang beseeit sein, wenn ich so unvernünftig wäre, mir nicht folgende

St.

Apologie Jes Sokrates. 57

Frage vorzulegen: „Euch, meinen Mitbürgern, war mein Treiben und Reden schon unerträglich; ıhr fandet es lästig und anstößig, so daß ihr jetzt trachtet, es los zu werden und nun sollen fremde Leute sich leicht darein finden?“ Nun und nimmermehr, meine Mitbürger! Das wäre ein schönes Leben für einen Mann in meinen Jahren, in der Fremde zu weilen, von einer Stadt zur andern wandernd und nirgends geduldet. Denn glaubt mir, ich mag kommen wohin ich will, überall werden die jungen Leute mir zuhören, geradeso wie hier. Weise ich sie ab, so werden sie mich wegtreiben unter Beistand der für ihre Sache gewonnenen älteren Leute. Weise ich sie aber nicht ab, dann werden dies eben um ihretwillen ihre Eltern und Angehörigen tun.

28. Nun könnte man vielleicht einwenden: „Aber Sokrates, könntest du es nicht über dich gewinnen schwei- gend und in Ruhe in der Fremde zu leben?“ Das ist der Punkt, den es am allerschwierigsten ist euch begreiflich zu machen. Sage ich nämlich, dies sei nichts anderes als Ungehorsam gegen die Gottheit und deshalb sei es mir unmöglich, mich still zu verhalten, so werdet ihr mir das nicht glauben als einem, der mit seiner wahren Meinung hinter dem Berge hält. Sage ich aber, daß es das größte Glück für den Menschen ist, sich Tag für Tag über die

. Tugend zu unterhalten und über die weiteren Fragen,

über die ihr mich reden hört als einen Prüfer und Er- forscher sowohl meiner selbst wie anderer, und daß ein Leben ohne Prüfung und Erforschung nicht lebenswert sei, so werdet ihr dieser meiner Rede noch weniger Glau- ben schenken. Es ist so wie ich sage, meine Mitbürger, aber es euch glaublich zu machen ist keine leichte Sache. Dazu kommt noch, daß ich nicht gewohnt bin, mir irgend etwas Schlimmes gegen mich selbst zuzumuten. Hätte ich nämlich Geld, so würde ich auf eine Strafsumme antragen, die ıch zahlen könnte, denn das würde ich nicht als Schädigung empfinden. So aber habe ich keines, ihr müßtet denn euere Forderung auf das wenige beschrän-

583 Platon.

ken, was ich zu zahlen imstande wäre; und das wäre etwa eine Mine Silber. So viel also beantrage ich. Platon aber hier, meine Mitbürger, und Kriton und Kritobulos und Apollodoros fordern mich auf, dreißig Minen zu bean- tragen, wofür sie selbst Bürgen sein wollen. So viel also beantrage ich, und diese Männer hier werden euch zu- verlässige Bürgen für diese Geldsumme sein. ”) |

Nach der Strafbestimmung.

29. Eine kurze Spanne Zeit ist es, meine athenischen Mitbürger, die mir ohne das von euch über mich ver- hängte Todesurteil noch zu leben vergönnt gewesen wäre. Um. dieser kurzen Zeit willen aber werdet ihr zu trauriger Berühmtheit gelangen und starken Beschuldigungen aus- gesetzt sein von seiten der schmähsüchtigen Gegner unse- rer Stadt, darüber, daß ıhr den Sokrates umgebracht habt, einen weisen Mann. Ja, einen weisen Mann werden sie mich nennen, wenn ich es auch nicht bin, sie, die euch lästern wollen. Hättet ihr nur ein kleines Weilchen warten wollen, so wäre euch euer Wunsch von selbst erfüllt worden. Denn ihr seht mir ja doch an, wie weit in meinen Jahren ich vorgerückt, wie nahe dem Tode ich bin. Doch das sage ich nicht zu euch allen sondern nur zu denen, die mich zum Tode verurteilt haben. Und an ebendiese richte ich noch die folgenden Worte:

„Vielleicht glaubt ihr, meine Mitbürger, den Grund meiner Verurteilung in dem Mangel an Redebereitschaft finden zu müssen, durch die ich euch hätte umstimmen können, wenn ich entschlossen gewesen wäre alle Mit*el der Tat und des Wortes aufzubieten, um den Freispruch zu erwirken. Weit gefehlt! Ein Mangel war es aller- dings, der meine Verurteilung herbeiführte, aber nicht an Worten sondern an Dreistigkeit und Schamlosigkeit und an dem Willen, mit rednerischen Mitteln auf euch zu wirken, die eueren Ohren die liebsten sind: ich hätte mich aufs Wehklagen und Jammern legen und mich in Wort und Tat zu noch gar manchen Dingen verstehen

Apologie des Sokrates. 59

müssen, die meiner nicht würdig sind, wie ich behaupte, Dinge, die ihr freilich von den anderen zu hören ge- wohnt seid. Allein weder bei der Verteidigung selbst glaubte ich mir irgend etwas Unehrenhaftes erlauben zu dürfen zur Abwendung der Gefahr, noch auch gereut es mich jetzt, mich so verteidigt zu haben; nein, weit lieber will ich durch eine solche Verteidigung dem Tode geweiht sein als mir durch eine Verteidigung von jener Art das Leben erkaufen. Denn weder vor Gericht noch im Kriege, es handle sich nun um mich oder irgendeinen anderen, verträgt es sich mit der Ehre, nichts unversucht

. zu lassen, um nur ja dem Tode zu entgehen. Denn auch,

was die Schlachten anlangt, so zeigt sich oft deutlich genug, daß sich da mancher dem Tode entziehen kann durch Wegwerfen der Waffen sowie dadurch, daß man die Verfolger um Gnade anfleht. Und so gibt es noch gar mancherlei andere Mittel in jeder Art von Gefahr; kurz, man kann so dem Tode entfliehen, wenn man vor nichts Unehrenhaftem zurückscheut in Wort und Tat. Nein, meine Mitbürger, dem Tode zu entgehen, ist, denk’ ich, nicht schwer, weit schwerer dagegen ist es, der Schlechtigkeit zu entgehen; denn sie läuft schneller als der Tod. So bin denn auch ich jetzt als langsamer alter Mann von dem Langsameren (unter jenen beiden) ein-

geholt worden, meine Ankläger dagegen, rüstige und

flinke Leute, von dem Schnelleren (unter jenen beiden), von der Schlechtigkeit. Und so scheide ich denn jetzt von euch, des Todes schuldig erklärt von euch, sie aber der Niederträchtigkeit und Ungerechtigkeit überführt von der Wahrheit. Und ich belasse es bei diesem Spruch wie auch jene. Wer weiß denn: vielleicht sollte es so kommen, und ich glaube, es ist gut so.“

30. „Nun möchte ieh noch einen Blick in die Zukunft tun und euch, die ihr mich verurteilt habt, die euere voraussagen. Denn ich stehe bereits auf dem Punkte, wo die Menschen vornehmlich zu Weissagern werden, wenn sie nämlich unmittelbar an der Schwelle des Todes

60 Platon.

stehen.°®) So verkünde ich euch denn, ihr Männer, die ihr mich hingerichtet habt: es wird alsbald nach meinem Tode eine Strafe, eine weit schwerere, beim Zeus, über euch kommen, als ihr sie über mich durch das Todesurteil verhängt habt. Denn jetzt habt ihr das getan in dem Wahn, ıhr würdet nicht Rechenschaft geben müssen über euer Leben; es wird aber, so behaupte ich, sich ganz das Gegenteil davon für euch ergeben. Die Zahlderer, die von euch Rechenschaft fordern, wird größer werden: bisher habe ich sie zurückgehalten, ohne daß ihr es gewahr wurdet. Sie werden euch um so gefährlicher werden, je Jünger sie sind, und ihr werdet um so größeren Ärger davon haben. Wenn ihr nämlich glaubt, durch Hinrich- tung von Menschen den Schmähungen gegen eueren un- lauteren Lebenswandel Einhalt zu tun, so seid ihr im Irrtum. Denn ein solches Befreiungsmittel ist weder leicht möglich noch ehrenhaft, vielmehr ist das schönste und zugleich leichteste Mittei dies, nicht anderen das Dasein unmöglich zu machen sondern nach Kräften an

der eigenen sittlichen Besserung zu arbeiten. Dies ist

es, was ich euch, meinen Gegnern vor Grericht, weissage, und damit scheide ich von euch.“

31. Mit denen aber, die mich freigesprochen haben, möchte ich gerne noch ein Wort reden über die hier soeben erlebten Vorgänge, solange die Behörden noch durch ihre Geschäfte in Anspruch genommen sind und ich noch nicht nach meiner baldigen Todesstätte mich be- geben muß. Ich bitte also, ihr Männer, verweilet noch so lange. Es hindert ja nichts, uns miteinander zu unter- halten, solange es erlaubt ist. Denn euch als meinen Freunden will ich die eigentliche Bedeutung dessen, was mir heute widerfahren ist, dartun. Mir ist nämlich, ıhr Richter®) denn euch darf ich mit Fug und Recht Richter nennen etwas ganz Sonderbares begegnet. Die gewohnte prophetische Stimme, die dämonische °®), war in der ganzen letzten Zeit immer sehr rege und warnte mich auch bei ganz geringen Anlässen, wo ich etwa im

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Apologie des Sokrates, 61

Begriffe war, das Rechte zu verfehlen. Eben jetzt aber ist mir doch, wie ihr selbst seht, etwas widerfahren, was man wohl für der Übel größtes halten dürfte, wofür es denn auch allgemein gilt. Gleichwohl trat das göttliche Zeichen mir weder heute früh beim Verlassen meiner Wohnung warnend entgegen, noch bei meinem Gange hierher auf das Gericht, noch an irgendwelcher Stelle meiner Rede, wenn mir etwas auf der Zunge lag; und doch hat es bei anderen Gelegenheiten mich oft mitten im Satze aufgehalten. Heute aber ist es mir während des ganzen gerichtlichen Vorganges nirgends entgegengetreten weder bei meinem Tun noch bei meinen Reden. Was ich mir nun als Grund dafür denke? Ich will es euch sagen: was mir widerfahren, ist allem Vermuten nach ein Glück, und unmöglich können wir recht haben mit unserem Glauben, der Tod sei ein Unglück. Ich habe den schla- genden Beweis für diese Behauptung: unmöglich konnte mir das gewohnte Warnungszeichen ausbleiben, wenn mein Vorhaben nicht ein glückliches gewesen wäre. 32. Auch von folgender Seite her wollen wir uns klarmachen, wieviel Ursache wir haben zu hoffen, daß der Tod ein Glück sei. Eines von zweien nämlich ist das Totsein: entweder ist es eine Art Nichtsein, so daß der Tote keinerlei Empfindung hat von irgend etwas, .oder es ist, wie der Volksmund sagt, eine Art Ver- pflanzung und Übersiedelung der Seele von hier nach einem anderen Ort. Im ersten Falle nun, wo von Emp- findung nicht mehr die Rede ist, sondern von einer Art Schlaf, der so tief ist, daß dem Schlafenden nicht ein- mal irgendein Traumbild erscheint, wäre der Tod ein wunderbarer Gewinn. Denn ich glaube, wenn einer eine solche Nacht, die ihm einen völlig traumlosen Schlaf gebracht hat, auswählte und ihr die übrigen Nächte und Tage seines Lebens gegenüberstellen müßte, um zu ent- scheiden, wie viele Tage und Nächte in seinem Leben er glücklicher verbracht habe als diese Nacht ich glaube, dann wird nicht etwa bloßeinMann gewöhnlichen Schlages

62 Platon.

Sondern der Großkönig in eigener Person finden, daß diese sich sehr leicht zählen lassen im Vergleich zu den

anderen Tagen und Nächten. Ist also der Tod von dieser

Art, so nenne ich ihn einen Gewinn; denn die ganze Ewigkeit scheint dann eben nichts weiter zu sein als eine einzige solche Nacht. Ist aber der Tod gleichsam eine Art Auswanderung von hier nach einem anderen Ort und hat es mit dem, was der Volksmund sagt, seine Richtigkeit, daß dort alle Verstorbenen weilen, was gäbe es dann, ihr Richter, für ein größeres Glück als dieses? Denn findet einer bei seiner Ankunft im Hades, erlöst von diesen sogenannten Richtern, die wahren Richter, die dort, wie es heißt, Recht sprechen, Minos, Rhadamanthys, Aıakos und Triptolemos‘!) nebst den anderen Heroen, die ein rechtschaffenes Leben geführt haben, wäre das etwa eine Verschlechterung unserer Aufenthaltsstätte? Oder aber mit Orpheus, Musaios, Hesiod und Homer zu verkehren, wieviel würde mancher von euch dafür geben! Ich wenigstens wollte gern oftmals des Todes sein, wenn dem so ist. Ja, für mich hätte der Aufenthalt dort noch seinen ganz besonderen Zauber: denn wenn ich dann etwa dem Palamedes”??) begegnete und dem Telamonier Aıas oder wer sonst von den alten Helden durch un- gerechten Richterspruch den Tod gefunden, so wäre es für mich eine wahre Wonne, mein Geschick mit dem ihren zu vergleichen. Und dann noch die Hauptsache: seine Aufgabe darin zu sehen, daß man die dort Weı- lenden ausforsche und prüfe wie die Menschen hier auf Erden, wer von ihnen weise sei und wer es zu sein glaube, ohne es doch zu sein. Wieviel gäbe mancher dar- um, wenn er die Führer des großen Heeres vor Troja oder den Odysseus oder den Sisyphos‘?) oder tausend andere, die zu nennen wären, Männer und Frauen, ver- hören könnte! Mit ihnen dort sich zu unterhalten und zu verkehren und sie auszuforschen, welches überschweng- liche Glück wäre das. Und so viel wenigstens ist doch ganz sicher: dort verhängt man nicht wegen solcher Unter-

mr

Apologie des Sokrater. 63

redungen die Todesstrafe. Denn wie in anderer Beziehung so sind auch darin die dort Weilenden glücklicher als die Erdenkinder hier, daß sie die ganze weitere Zeit hin- durch unsterblich sind, wenn der Volksmund recht hat.

33. Aber auch ihr, meine Richter, sollt dem "Tode mit froher Hoffnung ins Angesicht schauen und eines als unverbrüchliche Wahrheit anerkennen, den Satz näm- lich, daß es für einen rechtschaffenen Mann kein Übel gibt, weder im Leben noch im Tode, und daß seine ὅδε! von den Göttern nicht im Stich gelassen wird. So ist auch mein Schicksal nicht ein bloßes Spiel des Zufalls, sondern ich zweifle nicht, daß es für mich das beste war schon jetzt zu sterben und aller Mühsal ledig zu werden. Darum hat mich auch die innere Stimme nicht gewarnt und ich meines Teiles hege keinen besonderen Groll gegen diejenigen, die mich verurteilt haben, und gegen meine Ankläger. Freilich wurden sie bei ihrer Verurteilung und Anklage nicht von der eben geschilderten Gesinnung geleitet, sondern von der Absicht mir wehe zu tun; und das darf nicht ungerügt bleiben.

Um eines aber bitte ich sie noch: Wenn meine Söhne erwachsen sind, so übet Vergeltung an ihnen aus, ıhr Männer, indem ihr ihnen dasselbe Leid antut, das ich euch antat, sofern euch dünket, daß sie mehr auf Geld-

.erwerb und sonstigen Tand bedacht sind als auf Tugend.

Und bilden sie sich etwas ein auf Dinge, von denen sie nichts verstehen, so haltet nicht zurück mit euerem Tadel] gegen sie wie ich damit nicht zurückhalte gegen euch —, wenn sie ihr Streben nicht auf das richten, was nottut, und wenn sie wähnen, etwas zu sein, während an ihnen rein gar nichts ist. Wenn ihr dies tut, dann ist mir volles Recht von euch geworden, mir und meinen Söhnen. |

Aber nun ist es Zeit, daß wir gehen, ich um zu sterben, ihr um weiter zu leben. Wer von uns beiden dem besseren Lose entgegengeht, das ist allen verborgen, nur der Gottheit nicht.

-

Anmerkungen

zur Apologie.

1) S. 23. Die Rede ward im Jahre 399 v. Chr. vor einem Ge- richtshof von etwa 500 ausgelosten Richtern (Heliasten) gehalten. Sie sondert sich nach Maßgabe des gerichtlichen Verfahrens in drei Teile: auf die eigentliche Verteidigungsrede folgt zunächst die Ent- scheidung über das Schuldig oder Nichtschuldig. Nach erfolgter Verurteilung der Antrag der Kläger lautete auf Todesstrafe stand dem Angeklagten das Recht zu, einen Gegenantrag zu stellen. Das bildet den Gegenstand der zweiten kurzen Rede des Sokrates. Nach erfolgter Verurteilung zum Tode hält dann Sokrates noch eine Ansprache zunächst an diejenigen Richter, die ihn verurteilt haben, sodann an diejenigen, die ihn freigesprochen haben.

2) S.23. Bezeichnenderweise redet Sokrates die Richter nicht in der üblichen Weise ἄνδρες δικασταί (ihr Richter) an, sondern mit der allgemeinen Anrede ἄνδρες ᾿Αϑηναῖοι. Erst in der Schluß- rede, da, wo er sich an diejenigen Richter wendet, die ihn frei- gesprochen, bedient er sich der üblichen Anrede. Es gehört das mit zu jener μεγαληγορία, jenem etwas hochfahrenden, um seinen persönlichen Vorteil völlig unbekümmerten Ton, der in der Xeno- phontischen Apologie gleich zu Anfang als besonders charakteristisch für die Selbstverteidigung des Sokrates bezeichnet wird. Er macht sich selbst gleichsam zum Richter über sie, indem er ihnen die ihnen eigentlich zukommende Bezeichnung vorenthält. Vgl. Anm. 69.

3) S, 24. Die Wechslertische, ἃ. ἢ. die Geschäftslokale der Wechsler, befanden sich auf dem Markte, also dem Hauptverkehrs- platze auch für die tägliche Unterhaltung.

4) S.24. Uber Anytos 8. Einleitung S. 11. Diese Hervorhebung des Anytos ohne Nennung der andern Ankläger deutet auf die führende Rolle hin, die ihm tatsächlich bei diesem Prozesse zuk«m.

δὴ) S. 25. Also „dem Unrecht zum Siege verhelfen“. Wörtlich: „die schwächere Sache zur stärkeren machen“, m, a. W. aus Schwarz Weiß machen. Der von Protagoras stammende Ausdruck ist zum Schlagwort geworden nicht bloß für die Sophistenkunst, sondern für das ganze Arsenal der Advokatenkniffe in der gerichtlichen Praxis.

.6) S. 25. Griechisch: ἐρήμην κατηγορεῖν, ἃ. 1. anklagen ohne daß der Angeklagte sich vor Gericht einfindet, so daß ein Kontu- mazialurteil erlassen wurde.

?) S. 25. An erster Stelle ist hierbei natürlich an Aristophanes zu denken, dessen „Wolken“, zuerst aufgeführt 423 v. Chr., den So- krates in stärkster Verzerrung als Grübler über die Geheimnisse der

Anmerkungen. 65

Natur auf der Bühne vorgeführt hatten. Aber auch andere nam- hafte Komiker wie Kratinos, Ameipsias und Eupolis hatten den So- krates auf die Bühne gebracht und lächerlich gemacht. Für einen Komödienschreiber gab es auch wohl kein dankbareres Objekt als die Figur des Sokrates.

9) S. 26. Sokrates hatte sich zwar nicht mit den Naturerschei- nungen selbst, wohl aber in jüngeren Jahren mit den Schriften der Naturphilosophen eingehend genug beschäftigt, um ein Urteil darüber zu haben. Das bezeugt ausdrücklich Xenophon in den Memora- bilien I, 6, 14, daneben auch der Phaidon des Platon 96A ff. Aber das Urteil, das er darüber gewonnen, war ein durchaus ablehnendes: οὐδὲ γὰρ περὶ τῆς τῶν πάντων φύσεως ἧπερ τῶν ἄλλων οἱ πλεῖστοι διελέγετο. .. ἀλλὰ καὶ τοὺς φροντίζοντας τὰ τοιαῦτα umpaivovrag ἀπε- δείκνυεν. Nichts war also unsinniger als ihn für einen Anhänger der Naturphilosophie auszugeben. N

9) S. 26. Hier liegt ein Fehler der Überlieferung vor und die führende Handschrift zeigt auch Spuren einer Verderbnis: das von πῶς steht in Rasur und von zweiter Hand ist ποτ᾽ übergeschrieben. Das führte mich auf die Vermutung (Fleckeis. Jahrb. 137, 1888, 160), es sei zu schreiben un ποϑ᾽ ὡς ἐγὼ ὑπὸ “Μελήτου τοσαύτας δίκας φύγοι „möchte er (nämlich der unmittelbar vorher erwähnte τις) vor ähn- lichen Anklagen bewahrt bleiben wie ich sie durch Meletos erfahre.“ Hinter das φύγοι könnte man noch den Dat. eth. vo: setzen. Anders sucht Schanz zu helfen er schreibt ἥελήτων für Meintov —, ob richtig, bezweifle ich.

10) S. 27. Den Lesern des Platon zur Genüge bekannt aus dem Dialog Gorgias. Den Athenern, auf die er durch die Kunst und Macht seiner Beredsamkeit einen sehr starken Einfluß ausübte, war er seit seinem ersten Aufenthalt in Athen (427 v. Chr.) bekannt, und zwar war es eine staatliche Sendung, die ihn als Vertreter seiner Vaterstadt Leontini auf Sizilien nach Athen geführt hatte. Die beiden anderen berühmten Sophisten kennt der Leser besonders aus dem Dialog Protagoras. | 11) S. 27. Das geht auf Euenos von Paros, dessen Platon auch im Phaidros 267 A und im Phaidon 60D nicht ohne einen ironischen Beigeschmack Erwähnung tut als eines erfinderischen Kopfes und Dichters. |

ı2) S, 27. Kallias, der reiche und verschwenderische Sohn des Hipponikos, ist vor allem bekannt aus dem Dialog Protagoras, wo er als glänzender Wirt die berühmtesten Sophisten um sich ver- sammelt hat. j

18) S. 28. Ein sehr bescheidenes Honorar im Vergleich mit dem, was ein Gorgias, Protagoras und Hippias forderte.

14) 8. 28. Schanz streicht die Worte εἰ μὴ οἵ πολλοί. Sie sind allerdings überflüssig, auch logisch störend, doch ist ein solcher Pleonasmus dem Griechischen nicht fremd, und wer sollte denn das Bedürfnis gehabt haben, die Worte hereinzubringen? Man könnte ja daran denken, für εἰ μὴ das graphisch naheliegende οἶμαι ein- zusetzen, dessen die grammatische Selbständigkeit des beigegebenen Satzes nicht störender Gebrauch zur Genüge bekannt ist; indes unbedingt nötig ist solche Anderung keineswegs,

Platon Apologie und Kriton. Phil. Bibl. Bd. 180. 5

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66 Apologie.

15) S. 29. Chairephon, ein treuer Anhänger des Sokrates, allen Athenern wohlbekannt durch seine lange, hagere Figur, seine fahle Gesichtsfarbe und sein leidenschaftliches, stürmisches Wesen, war die Zielscheibe vielfachen Spottes von seiten der Komiker. Wegen seiner dünnen Stimme nannte man ihn „Fledermaus“. Er war also für Sokrates kein ganz ungefährlicher Freund; aber der Demos, als dessen Vertreter die Richter hier erscheinen, hatte doch allen Grund ihm dankbar zu sein wegen seiner entschieden volks- freundlichen Haltung in der kritischen Zeit der dreißig Tyrannen. Daran erinnert hier Sokrates die Richter mit Recht. Als Unter- redner tritt er auch auf in den Dialogen Gorgias und Charmides.

1) Κ᾽ 29. Chairekrates. S. Xen. Mem. II, 3, 1.

11 S. 31. Diese Beteuerungsformel hören wir auch sonst aus dem Munde des Sokrates, so namentlich Gorg. 482B. Sie verleugnet nicht einen Stich ins Lächerliche, wie sie sich denn auch bei den Komikern findet.

18) S. 31. Unverkennbare Ironie. Allen auf Widerlegung des Orakels gerichteten Bemühungen des Sokrates zum Trotz behält das Orakel doch recht.

19) S. 31. Vgl. dazu die ironische Bemerkung im Dialog Ion 532D: „Weise mögt ihr wohl sein, ihr Rhapsoden und Schauspieler sowie diejenigen, deren Dichtungen ihr vortragt, meine Weisheit aber besteht nur darin, die schlichte Wahrheit zu sagen, wie es einem Laien ansteht.“

2) S. 31. Vgl. Tim. 71DE: „Kein Mensch, der voll bei Sinnen ist, ist eines gottbegeisterten und wahren Seherspruches fähig, aber die von einem Seher oder Verzückten getanen Aussprüche mit scharfem Verstande aufzufassen, das ist Sache eines Mannes, der im Besitze seiner vollen Geisteskraft ist; er ist es dann, der alle jene - hellseherischen Außerungen mit der Schärfe des Verstandes prüft und entscheidet, inwieweit und für wen sie Anzeichen eines künf- tigen oder vergangenen oder gegenwärtigen Unglückes oder Glückes sind: dagegen steht es dem noch im Traumzustand Befindlichen nicht zu, seine eigenen Traumgesichte und Außerungen zu beurteilen.“ Vgl. auch Ion 533C.

31) S. 32. Nämlich in Sachen der Staatsverwaltung. Gevatter Schneider und Handschuhmacher traten in der Blütezeit der athe- nischen Demokratie nicht selten mit dem Anspruch auf, Orakel der Staatsweisheit zu sein.

22) S. 33. Als gutes Beispiel dafür kann das von Xen. Mem.I, 2, 40ff. mitgeteilte Gespräch zwischen dem jungen Alkibiades und seinem Vormund Perikles gelten, welch letzterer dabei einigermaßen ins Gedränge kommt.

23) S. 34, Über die drei Ankläger vgl. Einleitung S. 11 ἢ.

34) S. 34. Mit Rückbeziehung auf die fiktive erste Anklage 19B.

25) S, 35. So habe ich das im Griechischen absichtlich als schillerndes Wort gewählte und weiterhin bald in adjektivischem bald in substantivischem Sinne gebrauchte δαιμόνια übersetzen zu sollen geglaubt; denn der Ausdruck Dämonentum kann alle diese Bedeutungen annehmen. Sokrates kommt weiterhin 31Cff. auf sein spezifisches Dämonium, die ihm innewohnende göttliche Stimme, zu

Anmerkungen. 67

reden. Auf dies Dämonium bezieht sich die Anklage des Meletos. Über das Wesen desselben vgl. meine Bemerkung zu der Übersetzung des Theätet S. 157 Anm. 18,

360) 3, 35. Nämlich weil er, was an sich nur als Scherz auf- gefaßt werden kann, durch die Anklage zum bitteren Ernste gemacht hat: eine geradezu lächerliche Beschuldigung wird zur gefährlichsten Waffe gemacht.

1) S, 35. Auch euch, nämlich: sowie es mir klar ist.

38) S. 35. Dem Angeklagten stand das Recht zu, an den Kläger Fragen zu stellen, die een beantworten mußte.

=) S. 36. Eine sehr wohlberechnete und wirkungsvolle In- duktion, die dazu führt, die gesamte Bürgerschaft Athens unter einen Hut zu bringen, um sie so dem einen Sokrates gegenüber- zustellen. Sie gibt dem so isolierten Sokrates die Handhabe zu einer weiteren Induktion, die schlagend den Standpunkt des Gegners als unhaltbar erweist.

80) S, 37. Vgl. Anm. 28.

sı) αὶ 37. Die von Meletos gegebene Antwort nämlich würde, wenn sie die Wahrheit besagte, das hier angedeutete Verhältnis als Folge in sich schließen.

88) S. 39. Das widerlegt Sokrates im folgenden in bestimm- tester Form. Dagegen bleibt der auf den Glauben an die Landes- götter bezügliche Zweifel unerörtert, Sokrates hatte nicht nötig, darauf einzugehen, denn er hatte ja schon durch seine Erörterung über sein Verhältnis zu dem delphischen Apollo sich zur Genüge als einen Gläubigen erwiesen (21Aff.), auch wußte jedermann Be- scheid über seine Gewissenhaftigkeit in Erfüllung der Kultuspflichten, worüber ung Xenophon Auskunft gibt. Er konnte es also ruhig dem Meletos überlassen, durch Stellung einer Gegenfrage die Fortsetzung der Beweisführung herbeizuführen. Aber Meletos schwieg, wahr- scheinlich aus sehr gutem Grunde. Vgl. Einleitung S. 9f.

88) S. 39. Anaxagoras, der berühmte Philosoph aus Klazomenä, der etwa 480 bis 450 in Athen lebte, hochgeschätzt von Perikles, . erklärte die Sonne für einen μύδρος διάπυρος, eine glühende Stein- masse, den Mond für eine Art Erde.

84) S. 39. Diese vielumstrittene Stelle bezieht man am natür- lichsten auf einen Platz auf dem Markte, Orchestraplatz genannt, der einen Verkaufsstand für Bücher gehabt zu haben scheint. Der Preis der Bücher schwankte, wie es scheint, je nach den besonderen Verhältnissen. Früher ward die Stelle meist auf das Theater be- zogen, also auf irgendein Stück, in dem auf des Anaxagoras Natur- philosophie angespielt ward.

3) S. 41. Die Stelle, obschon vielfach angezweifelt und durch Streichung des οὐ nach ὡς oder sonstige Konjekturen angeblich be- richtigt, ist m. E. richtig überliefert. Es handelt sich um eine an- scheinend überflüssige und störende Negation nach negativen Wen- dungen wie οὐδεμία μηχανή ἔστιν. Vgl. z. B. Herod. II, 181 ἔστι τοι οὐδεμία μηχανὴ un οὐκ ἀπολωλέναι κάκιστα γυναικῶν πασέων. Nur ist an unserer Stelle durch die Aufeinanderfolge zweier abhängiger Sätze eine Art Verschiebung eingetreten.

860 S. 41. Vgl. 284.

5*

68 Apologie,

8) S. 42. Il. 18, 96.

8) ὃ, 42. Il. 18, 98.

88. 42. Il. 18, 104.

40) S. 42. Das nun folgende siebzehnte Kapitel ist das für die Charakteristik des Sokrates wichtigste und eindrucksvollste der ganzen Apologie. Vgl. die Einleitung S. 14f. Vielleicht ist es kein bloßer Zufall, wenn dieser Abschnitt auch äußerlich die Mitte der Schrift bildet. Es gehen zwölf Stephanusseiten voraus und es folgen deren zwölf, ein Zeichen der Sorgfalt, die Platon der Form der Darstellung zugewandt hat. Daß er gegen solche anscheinende Außerlichkeit nicht gleichgültig war, scheint mir daraus hervorzugehen, daß sich auch in anderen seiner Schriften eine solche, ich möchte sagen zahlen- mäßige Abwägung Pedanterie würde wohl mancher sagen in der Stoffverteilung beobachten läßt. So steht z. B. genau in der Mitte der ganzen Republik (4730f.) derjenige Satz, der das eigent- liche Herz des ganzen Werkes bildet, der Satz nämlich von der Notwendigkeit der Vereinigung von Philosophie und staatsmännischer Tätigkeit als der Voraussetzung des Glückes der Staaten. Ahnliches gilt vom Theätet, dessen Mittelstück jener schöne Abschnitt bildet, der den Gegensatz schildert zwischen der Wonne des reinen Denkens und dem Drange des rastlosen Geschäftstreibens in den Gerichts- höfen. Zwar nur episodenartig eingefügt, bildet dieser Abschnitt doch nicht nur stilistisch zweifellos das Glanzstück, sondern auch inhaltlich als Ausblick auf die höchste Stufe der Erkenntnis in ge- wisser Weise geradezu den Gipfelpunkt des ganzen Werkes. Das Mittelstück des Phaidros ist die Palinodie mit ihren prachtvollen mythischen Schilderungen, und ‚ähnliche Beobachtungen lassen sich noch mehr machen, wie z. B. für den Timaios, in dessen Mitte die Elementenlehre steht, die, auf der Lehre von den Elementardrei- ecken ruhend, gewiß denjenigen Teil des Werkes darstellt, auf den das eigene erfinderische Denken Platons den meisten Anspruch hat.

4 S. 43. Das „ihr“ geht auf die Richter als die Repräsen- tanten des Volkes wie 21A Χαιρεφῶν ὑμῶν τῷ πλήϑει ἑταῖρος ἦν. Die drei Schlachten, an denen Sokrates beteiligt war, fallen in die Jahre 432 v. Chr. (Potidaia auf der Halbinsei Chalkidike), 422 v. Chr. (Amphipolis am Strymon in Thrakien) und 424 v. Chr. (Delion in Böotien). Bei Potidaia hatte Sokrates (vgl. Symp. 220DE) dem Alkibiades das Leben gerettet, auch bei Delion hatte er sich be- sonders durch Tapferkeit ausgezeichnet. Der Schlacht bei Potidaia wird in Beziehung auf Sokrates auch im Eingang des Dialogs Crar- mides Erwähnung getan.

#2) S. 44. Hier tritt Anytos deutlich als der eigentliche Treiber bei der Sache hervor. |

#3) S. 45. Diese Stelle ist vielleicht mehr als manche andere danach angetan, uns fühlen zu lassen, wie erbitternd unter Umständen der Fragedrang des Sokrates auf die davon Betroffenen wirken mochte. Das Straßenleben der Südländer kommt durch klimatische Verhältnisse und durch die natürliche Beanlagung der Menschen dem Bedürfnis der Plauderei und des geselligen Gedankenaustausches ungleich stärker entgegen als das unsrige. Einen Sokrates in einer modernen nordischen Großstadt kann man sich kaum vorstellen

Anmerkungen, 59

Aber auch beim Südländer gibt es eine Grenze der Duldsamkeit in dieser Beziehung.

“) S, 45. Das ist diejenige Seite sokratischer Weisheit, in deren einseitigem Verfolg Antisthenes zu seinem Standpunkt völliger Bedürfnislosigkeit, zu der Sinnesweise eines Alhafı gelangte:

den wilden, guten, edlen Wie nenn’ ich ihn? Der wahre Bettler ist Doch einzig und allein der wahre König.

„Sage du uns,“ heißt es im Xenophontischen Symposion 4, 34 aus dem Munde des Sokrates, „o Antisthenes, wie du bei all deiner Armut dazu kommst, auf Reichtum stolz zu sein.“ Und Antisthenes bleibt die Antwort darauf nicht schuldig. Sie ist sozusagen eine Predigt über das hier gegebene Textwort.

#5) S, 46. So, und nicht in der Bedeutung „Bremse“ ist hier nach der ganzen Tendenz der Stelle das Wort μύωψ zu fassen,

46) S. 47. Sokrates gibt weiterhin 38B selbst die Strafsumme, zu deren Erlegung er sich allenfalls verstehen könnte, auf eine Silbermine an, also auf noch nicht 100 Mark. Nach Libanius hatte er 100 Minen (5000 bis 6000 Mark), wovon er aber infolge der Unter- stützung eines Freundes alles bis auf 5 Minen verlor. Vgl. Xen. Dec. 2, 3.

4 S. 47. Hierzu vgl. Anm. 25.

48) S. 48. So glaube ich das schwierige Wort dızavıza wieder- geben zu sollen. Mangweilig", wie Schleiermacher übersetzt, ist nicht bezeichnend genug.

4) S. 48. Die Verwaltung der laufenden Staatsgeschäfte lag in der Hand des Rates der Fünfhundert, zu dem jede der 10 Phylen 50 durchs Los erwählte Mitglieder stellte. Jede Phyle führte während eines Zehntels des Jahres die Regierung (die Prytanie) und hatte zum Vorsitzenden einen durchs Los erwählten, täglich wechselnden Vorsitzenden (ἐπιστάτης). Diesem kam es zu, im Rate und in der Volksversammlung den Vorsitz zu führen. Sokrates gehörte zu der

φυλὴ ᾿Αντιοχίς.

, 50) S. 48. Es handelte sich um Bestrafung der wegen ver- absäumter Rettung der Schiffbrüchigen angeklagten Strategen in der Arginusenschlacht 406 v. Chr. Die Sache wurde unter Verstoß gegen die gesetzliche Ordnung an die Volksversammlung verwiesen und dort in stürmischer Verhandlung unter Verletzung der gesetz- lichen Vorschriften zuungunsten der Angeklagten durchgeführt, indem diese zum Tode verurteilt wurden. Sokrates hatte sich als ἐπιστάτης am Tage der Verhandlung geweigert, die Abstimmung vor- zunehmen. Die Angabe, alle zehn Feldherren seien verurteilt worden, ist ungenau. Nach Xenophon waren nur acht beteiligt, von denen sechs hingerichtet wurden, während zwei nicht nach Athen zurück- gekehrt waren.

δι) S. 49, Diesen Vorgang erwähnt Platon auch im 7. Brief 324Ef. Leon hatte sich vor den Dreißig nach Salamis geflüchtet. Unter denen, die ihn im Auftrag der Dreißig zurückholen sollten, befand sich auch ein Meletos, der aber sicher ein anderer war als unser Ankläger.

70 Apologie.

52) ᾿ς, 49. Ich folge hier K. F. Hermann, der ὑμῶν für ὑμῖν schreibt.

55) S. 49. Dabei denkt Sokrates vor allem an Kritias und Alkibiades, deren Beziehungen zu Sokrates der Verleumdung reich- liche Nahrung gaben. |

δὲ) 8. 50. Vgl. 23C.

55) S. 51. Uber Kriton 8. den Dialog Kriton, Sein Sohn Kritobulos wird in mehreren Platonischen Gesprächen erwähnt; Lysanias ist der Vater des Sokratikers Aeschines, des Verfassers mehrerer sokratischer Dialoge. Antiphon ist nicht zu verwechseln mit dem berühmten Redner Antiphon, dem Rhamnusier. Von Niko- stratos und Paralos wissen wir nichts weiter. Adeimantos ist der bekannte Bruder des Platon. Aiantodoros ist uns sonst nicht bekannt, während sein Bruder Apollodoros als leidenschaftlicher Verehrer des Sokrates uns aus dem Phaidon und dem Symposion um so bekannter ist.

56) S. 51. Der Redende durfte ohne seine Erlaubnis von dem Gegner nicht unterbrochen werden.

δ) S. 52. Od. 19, 163.

58) S. 52. Der erstere hieß Lamprokles, die beiden anderen Sophroniskos und Menexenos.

59%) S. 54. Alle Prozesse zerfielen in ἀγῶνες τιμητοί und ἀτίμητοι d.h. solche, für welche die Strafe nicht vom Gesetze schon vor- gesehen, sondern erst von den Richtern abgeschätzt wurde, und solche, in denen die Strafe vom Gesetz vorgesehen war. Unser Fall gehört zu der ersten Art. Es tritt zunächst eine Pause ein, während deren die Richter, nachdem sie sich zurückgezogen, über die Schuld- frage abzustimmen haben, Bei Wiedereröffnung der Verhandlung stand es dem Angeklagten frei, im Falle der Verurteilung wie hier dem Strafantrag des Gegners einen nach seiner Ansicht angemessenen Strafantrag entgegenzustellen. Zwischen diesen beiden hatte der Gerichtshof dann zu wählen.

60) S. 54. Diogenes Laertius berichtet (2, 41), die Zahl der verurteilenden Stimmen hätte 281 betragen. Rechnet man also 500 Richter, so erklärten sich 219 für Schuldlosigkeit.e Da bei Stimmengleichheit Freisprechung erfolgte, die Zahl für Stimmen- gleichheit aber hier 250 betrug, so fehlten dem Sokrates zum Frei- spruch nur 31 Stimmen. Die Angabe von 30 Stimmen bei Pl. be- ruht also wohl bloß auf einer Abrundung,

61) S. 54. Sehr richtig bemerkt Schleiermacher: „Niemand lasse sich von Fischers Berechnung dieser Sache verführen, welciie gewiß falsch ist. Denn ihm zufolge müßten die drei Ankläger, um nicht 1000 Drachmen zu erlegen, drei Fünfteile und also mehr der Stimmen gehabt haben, als um den Sokrates zu verdammen, Viel- mehr muß man denken, daß alle Stimmen dem Meletos als Haupt- ankläger zugute gerechnet wurden, daß aber Sokrates will zu ver- stehen geben, wenn ihm nicht Anytos und Lykon mit ihrer Partei Beistand geleistet hätten, er nur den dritten Teil der ihm wirklich zugefallenen Stimmen würde gehabt haben, und dann offenbar weniger als ein Fünftel.“ In diesem Falle nämlich mußte der Kläger bei öffentlichen Klagen 1000 Drachmen Strafe an den Staat

Anmerkungen. 7]

zahlen und verlor das Recht, künftig Klagen ähnlicher Art ein- zureichen; bei Klagen wegen Gottlosigkeit erfolgte dazu noch eine teilweise Ausschließung vom TTempelbesuch.

62), S, δῦ. Das Prytaneion war ein Staatsgebäude am Nord- abhange des Burghügels, in dem die Prytanen und die Ehrengäste Athens speisten. Für einen Bürger war es eine hohe Ehre, der ständigen Teilnahme an dieser städtischen Tafel gewürdigt zu werden. Zu diesen Bevorzugten gehörten auch die olympischen Sieger.

88) S, 56. Die Zeit zu den Reden wurde jeder Partei durch die Wasseruhr (κλεψύδρα) zugewiesen.

%) S. 56. Das geht auf Sparta, wo der Rat der Alten über Todesverbrechen mehrere Tage beratschlagte.

65) S., 56. Furcht nämlich vor etwas, was nach gewöhnlicher Meinung milder wäre als der Tod. Gerade den Tod fürchte ich ja nicht.

60) S. 56. Der sehr wichtigen Behörde der Elfmänner lag die Aufsicht über die Gefängnisse und die Vollstreckung der Straf- erkenntnisse ob.

0) δ, 58. Die Richter ziehen sich nun abermals zur Beratung zurück, worauf dann die Verkündigung der Strafe (Tod durch den Giftbecher) erfolgt. Darauf ergreift Sokrates zum dritten Male das Wort. Ob diese dritte Rede eine reine Fiktion des Platon sei, wie Wilamowitz annimmt, lasse ich dahingestellt.

88) S, 60. Ein nicht bloß im Altertum (vgl. Hom. I. 16, 851ff. 22, 358ff.) verbreiteter Glaube: mit dem Erlöschen des leiblichen Auges erhöht sich die Sehkraft des Geistes.

62) S. 60. Zum ersten Male bedient er sich hier dieser vor Gericht üblichen Anrede, denn jetzt hat er es mit wahren Richtern zu tun. Vgl. Anm. 2.

20) S. 60. Vgl. Anm. 2b.

11 S. 62. Der gewöhnlichen Dreizahl der Totenrichter ist hier als vierter Triptolemos zugefügt, ein uralter attischer Herrscher.

13) 8.62. Palamedes erscheint in den Homerischen Gedichten noch nicht. Nach den kyprischen Gedichten und den Tragikern wird er auf Veranlassung des Odysseus ungerechterweise zum Tode verurteilt und von dem Heere vor Troja gesteinigt wegen angeb- lichen Einverständnisses mit Priamos. Bei Aias handelt es sich um den Wettstreit um die Waffen des Achilles, die von Agamemnon nicht ihm sondern dem Odysseus zugesprochen wurden, was zum Tode des ersteren führte. -

18). S. 62. Sisyphos, der Frevler, erscheint hier sonderbarer- weise in bester Gesellschaft neben Agamemnon und Odysseus.

Einleitung zum Kriton.

Der Kriton bildet das Mittelglied einer Trilogie, die, umfassend die Apologie des Sokrates, den Kriton und den Phaidon, sich als Ganzes ebenso von den übrigen Schriften des Platon abhebt wie sich ihre Teile auch ihrer- seits wieder scharf voneinander unterscheiden. Was das erstere anlangt, so tritt uns bei Platon sonst nirgends das rein persönliche Moment, das bloße Interesse an dem Schicksal, an den Lebensbegegnissen des Sokrates als der für die Darstellung bestimmende Gesichtspunkt ent- gegen. Hier dagegen ist es ersichtlich das persönliche Interesse, was dem Platon den Griffel geführt hat, die Absicht nämlich, das tragische Ende des geliebten Meisters in seinen ergreifenden Zügen zu schildern und damit zu- gleich, wie sich von selbst ergab, ein leuchtendes Denk- mal zu errichten als Ansporn zu allem Guten und Großen. Was aber das andere anlangt, das Verhältnis nämlich der drei Stücke zueinander, so ist das sie zusammen- haltende Band zwar sehr einfach in der natürlichen Folge der Ereignisse selbst gegeben, indem uns die Apologie das Bild der gerichtlichen Verhandlung vorführt, der Phaidon das Bild des sterbenden Sokrates und der Kriton als verbindendes Mittelglied die künstlerisch in einen Akt konzentrierte Darstellung derjenigen Vorgänge, die für die dreißigtägige Gefängniszeit des Sokrates an erster Stelle in Betracht kommen, nämlich die Bemühungen seiner Freunde, ihn dem Gefängnis und dem Tode zu entreibßen. Aber der Charakter der Darstellung ist doch in jeder der drei Schriften ein wesentlich verschiedener. Diese Verschiedenheit zeigt sich in einer sehr bestimmt her- vortretenden Steigerung der künstlerischen Freiheit, mit der Platon den Gegenstand behandelt. Gibt uns die Apo- logie ein in der Form zwar gehobenes, aber sachlich 11}

Einleitung. 713

wesentlichen treues Bild von dem Auftreten des So- krates vor Gericht, so zeigt der auch zeitlich von ihr um ein erhebliches Stück abzurückende Phaidon die wei- teste und künstlerisch freieste Ablösung von dem Boden der Wirklichkeit, an dem nur die ergreifende Schluß- partie, die Schilderung der Todesstunde selbst, festhält; im übrigen erscheint hier Sokrates geradezu in einer Art Verklärung als nicht nur überzeugter sondern auch über den ganzen Apparat der Ideendialektik gebietender Ver- fechter einer Unsterblichkeit, gegen die alle irdische Un- sterblichkeit, alles Fortleben im Andenken der Mensch- heit sich wie ein Stäubchen gegen das Weltall ausnimmt. Zwischen beiden steht der Kriton, zwar nicht in gleichem Abstande von beiden denn er hat, was die Freiheit der Komposition ebenso wie die Zeit der Abfassung be- trifft, seinen Platz weit näher an der Seite der Apologie als des Phaidon —, aber doch eben als ein Zwischenglied.

Mit sicherem künstlerischen Griff hat Platon es ver- standen, in diesem Dialog das Wesentliche der für das Schicksal des Sokrates bedeutsamen Vorgänge, die sich in der Zeit zwischen seiner Verurteilung und seinem Tode abspielten, in ein Bild zusammenzudrängen. Nichts aber war, wie schon bemerkt, in dieser Beziehung wich- tiger als die Bemühungen seiner Freunde, ihn aus dem Gefängnis zu befreien und an sicherer Stätte in der Fremde zu bergen. Ein Unternehmen, das auf den ersten Blick verwegener scheinen könnte als es tatsächlich war. Denn nicht nur, daß den Freunden des Sokrates alle Mittel zu Gebote standen, um die etwaigen Hindernisse wegzuräumen: auch ein großer Teil des nicht unmittel- bar beteiligten Publikums von Athen, ja sogar nicht wenige der ihm ungünstigen Richter hegten im stillen den Wunsch, den Justizmord, als welcher sich sehr bald die Verurteilung des Sokrates den ruhiger denkenden Bürgern darstellen mochte, verhindert und dadurch ihr Gewissen einigermaßen entlastet zu sehen. Und was den Freundeskreis betrifft, so spielte neben dem natürlichen

74 Kriton.

Wunsch der Rettung des Meisters für sie die Rücksicht auf die öffentliche Meinung keine geringe Rolle. Sie fühlten sich bedrückt durch den Gedanken, daß man es ihnen bei der angedeuteten Stimmung der öffentlichen Meinung als einen Mangel an Mut, Tatkraft und Opfer- willigkeit auslegen würde, wenn sie nicht alles daran- setzten ihren Meister in Sicherheit zu bringen. Daß sie es an Bemühungen in dieser Richtung nicht fehlen ließen, wird uns auch sonst zur Genüge bezeugt.!) Wenn Dio- genes Laertius?) die Sache so darstellt, als sei es Ae- schines gewesen, der den Sokrates zur Flucht gedrängt habe Platon habe nur aus Abneigung gegen diesen und gegen dessen Freund Aristippos dem Kriton diese Rolle zugewiesen —, so will das wenig besagen. Kriton ist gewiß nicht der einzige gewesen, der diesen Plan eifrig betrieben hat; wenn sich Platon aber gerade ihn aus- gewählt hat zum Träger der Handlung, so beruht das nicht auf persönlicher Zuneigung oder Abneigung, son- dern auf künstlerischer Berechnung. Niemand aus dem Freundeskreise des Sokrates war hier mehr am Platze als Kriton, dieser langjährige, erprobte Freund des Meisters, der gerade alle diejenigen Eigenschaften in sich ver- einigte, auf die es dem Platon für die Zwecke wirk- samer Komposition hier ankam: aufrichtigste Hilfsbereit- schaft, entsprechende Wohlhabenheit und was dem Platon hier für die künstlerische Situation besonders wichtig war ein über das bescheidene Mittelmaß bür- gerlichen Verstandes nicht hinausgehender Grad von Ein- sicht; denn er brauchte zur glücklichen Durchführung seiner dichterischen Absicht vor allem einen Vertreter der Stimme des Publikums und dafür konnte er unter den Freunden des Sokrates kaum einen besseren finden als den treuherzigen, aber in seinem Urteil beschränkten und anlehnungsbedürftigen Kriton. Dabei hat Platon mit

Apol. $ 23. Plut. adv. Col. c. 32. 3) Diog. Laert. IlI, 36.

Kinleitung. 75

feinem künstlerischen Takt es doch vermieden, den So- krates gegen Kriton jenen ab und zu etwas ironischen Ton anschlagen zu lassen, der dem Leser aus dem Dialog Euthydemos wohlbekannt ist; denn das hätte hier dem Ernst der Lage und der Absicht des Platon wenig ent- sprochen.

Diese Absicht aber, welche war es? Offenbar kommt es dem Platon an erster Stelle darauf an, die unverbrüch- liche Gesetzestreue seines Lehrers in das hellste Licht zu stellen. Angesichts des himmelschreienden Unrechtes, das ihm im Namen der Gesetze widerfahren war, sollte er als unbeugsamer Verfechter der Gerechtigkeit, als jener vir vustus et tenax propositi, von dem Horaz allem Anschein nach im Hinblick auf den Sokrates der Apologie und des Kriton singt, nicht etwa seine eigene Rettung, wohl aber die Ehrenrettung der Gesetze auf sich nehmen. Haben die Richter bei seiner Verurteilung sich durch äußere, konventionelle Rücksichten leiten und von der Pflicht strenger Gerechtigkeit abdrängen lassen, sind sie also den Gesetzen untreu geworden, so soll Sokrates, der Mißhandelte, weit erhaben über jede Anwandlung et- waiger Rachsucht oder auch nur des Zornes und der Auf- regung über das ihm Widerfahrene, den verletzten Ge- setzen gleichsam ihr gestörtes Ansehen wieder zurück- geben. Sokrates, der Geschmähte und von den Richtern Verkannte, erscheint so als das leuchtende Gegenbild zu der Verworfenheit der Richter. Die Richter sind die Verderber der Gesetze, Sokrates ist ihr Anwalt. Alles spitzt sich mit scharfer künstlerischer Berechnung zu auf den schließlichen Triumph der mit Füßen getretenen Gesetzesautorität. Richter, Publikum, Freunde sie alle haben gegen die Gesetze gesündigt oder sündigen dagegen, sei es zum Schaden des Sokrates sei es zu seinem vermeintlichen Nutzen: die Richter durch ihren ungerechten Urteilsspruch, das Publikum durch seine Nachsicht gegen die widergesetzlichen Bemühungen um Befreiung des Sokrates, die Freunde durch ebendiese Be-

76 Kriton.

mühungen selber. Nichts tut mehr not, als daß den miß- achteten Gesetzen Genugtuung gewährt, ihr gutes Recht wieder zu Ansehen gebracht werde. Das aber konnte nicht drastischer geschehen als durch Einführung der Gesetze selbst als redender Personen. So und nur so konnte die eigentümliche Lage der Verhältnisse in ihrer ganzen Verkehrtheit und Widersinnigkeit mit überwälti- gender dramatischer Lebendigkeit zur Anschauung ge- bracht werden. Indem Platon den Gesetzen Odem und Sprache einhauchte, machte er sie nicht nur zu Menschen, sondern zu einer Art höherer Wesen, die sich sogar wieder in einen gewissen Gegensatz zu den Menschen stellen dürfen, wie dies höchst eindrucksvoll durch ihre an den Sokrates gerichteten Worte (04 Β) geschieht: „Nun, du gehst zwar jetzt hin, wenn du hingehst (nach dem Hades), als einer, der nicht von uns, sondern von Men- schen Unrecht erlitten hat.‘

Läßt Platon über das hiermit gekennzeichnete Haupt- absehen des Dialogs keinen Zweifel, so bietet sich ihm daneben Gelegenheit zur Einfügung dieses und jenes die Charakteristik des einzigen Mannes ergänzenden Zuges. In dieser Hinsicht kommt besonders in Betracht einmal seine Stellungnahme zur Öffentlichen Meinung, sodann die Kennzeichnung seiner außerordentlichen Heimatsliebe.

Was die erstere betrifft, so ist es echt Sokratisch, wenn er es ablehnt der Meinung der großen Menge zu folgen, sofern diese in Widerspruch steht mit der Mei- nung der Sachverständigen als der allein maßgebenden Instanz. Doch ist es nicht ohne Interesse, damit zu vergleichen was Platon selbst in den Gesetzen gelegent- lich über diesen Punkt bemerkt. Im zwölften Buch (350C) heißt es da: „Es ist durchaus zu loben, wenn die meisten Staaten dazu aufmuntern, auf den guten Ruf bei der großen Masse der Menschen besonderen Wert zu legen.‘‘ Aber er lenkt doch unmittelbar darauf mehr oder weniger kräftig in das sokratische Fahrwasser ein, wenn er fortfährt: „Das richtigste und wichtigste freilich

Einleitung. | 77

ist es, daß man in Tat und Wahrheit ein tüchtiger Mann ist und nur in diesem Sinne ein ruhmvolles Leben er- strebt, nicht aber in anderem Sinne, wenigstens wenn man ein vollkommen tugendhaiter Mann sein will.“ Für Sokrates konnte in der eigenartigen Lage, in welcher er sich befand, nur der letztere Gesichtspunkt in Frage kommen. Er durfte und konnte hier nur an sein eigenes Gewissen appellieren und dieses redete vernehmlich genug.

Was aber die Heimatsliebe anlangt, so konnte Platon deren Stärke bei Sokrates kaum glücklicher kennzeichnen als dadurch, daß er die Gesetze selbst (c. 14) sie her- vorheben und als einen Bund, den er mit ihnen, den Gesetzen, geschlossen, hinstellen läßt. Es zeigt sich bei dieser Sache, nebenbei gesagt, wieder der Vorteil, den Platon sich durch die Wahl eines so bescheidenen Geistes wie Kriton zum Mitunterredner im Dialog verschaffte In Kritons Munde ist die Aufforderung an Sokrates zur Gründung einer neuen Heimat noch am ehesten verständ- lich. Ihm steht der Vorschlag eines Heimatwechsels besser zu Gesicht als einem Aeschines oder Aristipp, die viel zu klug waren, um sich nicht zu sagen, dab eine solche Verpflanzung für jeden anderen eher denkbar sei als für einen Sokrates; einen kurzen Verzicht auf die Heimat mochten sie wohl für möglich halten, nicht aber eine dauernde Entfernung vom Vaterlande, wie sie Platon dem Kriton aus guten dichterischen Gründen vorschweben läßt. Jeder kluge Athener wußte, daß es heiße eine nor- dische Eiche in die Tropen verpflanzen, wenn man dem Sokrates zumuten wollte, dem heimischen Boden für immer zu entsagen.

Es sei zum Schluß die aka noch auf einige Einwürfe hingelenkt, die man die Sache vom Sokratischen, nicht vom Platonischen Standpunkt aus be- trachtet wider den Gedankengehalt des Dialoges er- hoben hat.) Man hat gesagt, es sei unsokratisch, für

1 Vgl. H. Gomperz, .Ztschr. für Phil. und philos. Kritik 109, . 178£,

78 Kriton.

die unbedingte Autorität der Gesetze einzutreten; sokra- tisch sei es, die Gesetze nur soweit anzuerkennen und für wahre Gesetze zu halten, als sie der Vernunft ent- sprechen, wie ja nach Sokrates das Unvernünftige über- haupt auf keinem Gebiete zu Recht bestehen könne. Darin liegt eine völlige Verkennung nicht des Sokratischen Standpunktes hinsichtlich des Rechtes der Abweisung überhaupt, wohl aber seiner Überzeugung von der Stellung des Bürgers zu den Gesetzen. Ohne Gesetze gibt es kein geordnetes Staatswesen. Jeder Bürger aber steht zu den Gesetzen in einem freiwilligen Unterwürfigkeits- verhältnis, welches noch verpflichtender ist als das der Kinder zu den Eltern (500, 50E); durch sein Verbleiben im Staat bei gegebener Möglichkeit ihn zu verlassen hat er sich mit eigenem Entschluß die Anerkennung der Gesetze zur unbedingten Pflicht gemacht. So berichtet denn auch Xenophon‘), das δίκαιον (das Recht, das Ge- rechte) falle dem Sokrates mit dem νόμιμον (dem Gresetz- mäßigen) zusammen, wenn es daneben auch für gewisse Verhältnisse ein δίκαιον φυσικόν, ein ursprüngliches, gött- liches Recht gebe, das durch ungeschriebene Gesetze (ἀγράφους νόμους) bestehe, wie das der Verehrung der Götter und Eltern, der Verpflichtung der Dankbarkeit, der Anerkennung der Blutschande zwischen Eltern und Kindern kurz solcher Verhältnisse, die ins Gebiet des Religiösen hinüberspielen. Die Gleichstellung von δίκαιον und νόμιμον mag auf den ersten Blick sich bei Sokrates wie eine Inkonsequenz ausnehmen, indem darin ein Ver- zicht zu liegen scheint auf die Geltendmachung dessen, was die Vernunft selbst auf Grund ihrer unbedingten Machtvollkommenheit fordert. Näher zugesehen aber schließt sie auch nach dem Dialog selbst das Recht der Kritik keineswegs aus. Es wird vielmehr (51B, 51E) ausdrücklich gesagt, daß man entweder die Notwendig- keit einer Besserung gewisser Gesetze nachweisen oder

1) Xen. Mem. IV, 4, 188.

Einleitung. {9

das durch sie Gebotene tun müsse. Hier läßt also das erste Glied der Alternative vollen Spielraum für die Kritik, nur daß sich diese Kritik nicht unmittelbar in Ungehorsam gegen die Gesetze umsetzen, sondern nur auf legalem Wege zu einer Umänderung derselben führen darf. Für die Möglichkeit aber, diesen legalen Weg mit Erfolg zu betreten, war in Athen hinreichend gesorgt. Zudem dürfte Sokrates ein ausreichend sicheres Gefühl dafür gehabt haben, daß ein radikaler Vernunftstand- punkt für die menschliche Gesetzgebung ein Ding der Unmöglichkeit sei. Eine naheliegende Überlegung zeigt, daß eine staatliche Gesetzgebung niemals darauf An- spruch machen kann, eine reine Vernunftgesetzgebung darzustellen. Keine staatliche Gesetzgebung kann mehr sein als ein Kompromiß zwischen der Einheit der Idee und der unendlichen Vielgestaltigkeit des Lebens. Das ideale Vernunftgesetz kann sich in dem trüben Medium der sinnlichen Erscheinung nie in seiner vollen Reinheit darstellen; alle philosophische Weisheit und philosophische Rechtslehre reicht nur aus, die Kriterien festzustellen, die für jede wirkliche Gesetzgebung maßgebend sein sollen, also die Richtung zu bezeichnen, in welcher sie sich im allgemeinen zu bewegen hat. Es kann hier nicht die Rede sein von einer unmittelbaren Herrschaft der ‘Vernunft denn die Idee des Rechtes gehört einer anderen Welt an als die positive Rechtsgestaltung, die nie einen anderen Charakter tragen kann als den des Em- pirischen und Historischen sondern im besten Falle nur von einer unendlichen Annäherung, gleich der der Hyperbel an die Asymptote. Mag nun Sokrates diese Betrachtung angestellt haben oder nicht, jedenfalls geht sie aus der Natur der Sache selbst hervor und kommt seinem Standpunkt zugute.

Ein weiteres Bedenken, das man gegen unseren Dia- log erhoben hat!), besteht darin, daß Sokrates sich hier mit voller Entschiedenheit gegen jede Form des ἀδικεῖν

1). H. Gomperz ἃ. ἃ. Ο. 1715. ι

80 Kriton.

(Unrechttun) ausspricht'), also auch jede Betätigung der Vergeltung gegen die Feinde für unstatthaft erklärt (49B). Dies steht allerdings in schroffem Widerspruch nicht nur mit der Anschauung der Griechen überhaupt, sondern auch mit der des Sokrates, wie wir sie aus Xenophon’?) kennen. Rein für sich genommen, also ab- gelöst aus dem den Eindruck vielleicht mildernden Ge- dankenzusammenhang des Dialogs, zeugt dieser Stand- punkt von einer Friediertigkeit, die man einem Sokrates kaum zutrauen mag und die nur noch übertroffen wird von der Ethik der Evangelien, die ihren Gipfelpunkt in dem Spruche erreicht: „Schlägt dich jemand auf den einen Backen, so reiche ihm den anderen dar,‘ ein Spruch, der, wie ein bekannter Philosoph bemerkt, recht gut ist für jeden, der so klug ist, sich nicht auf den einen Backen schlagen zu lassen, aber für den, der das erste Unglück hatte, ein sehr bedenklicher Rat ist, der besser nicht be- folgt wird. Allein man hat doch einigen Grund, den hier anscheinend Sokratischen Satz im Lichte der ganzen im Dialoge vorliegenden Situation zu betrachten. Durch die Flucht aus dem Gefängnis würde sich Sokrates, wie der Dialog ausdrücklich hervorhebt (D0Aff.), zum aus- gesprochenen Feinde der Gesetze machen, denn das Ge- setz fordert, daß einmal gefällte gerichtliche Urteile als rechtsgültig anerkannt und vollstreckt werden müssen. Die Gegner in dem hier angenommenen denn tat- sächlich sind es nach seiner Überzeugung (54B) gar nicht die Gesetze, von denen er Unrecht erfahren, sondern die Menschen (die Richter) Feindesverhältnis wür- den sein die Gesetze einerseits, Sokrates anderseits. So-

1) Unrechttun ist unter allen Umständen verwerflich. Darüber kann kein Streit sein. Es fragt sich nur, wie weit der Begriff de: Unrechttuns reicht. Recht und Unrecht setzen immer ein Verhältnis der Gegenseitigkeit unter den betreffenden Menschen voraus. Dem Rechte des einen entspricht die Verpflichtung des anderen. Diese Wechselbeziehung ist in der obigen Platonischen Fassung nicht

beachtet. 2) Mem. II, 6, 35. IIL 9 8,

Kinleitung, 8]

krates also würde durch seine Flucht den Gesetzen eineu schweren Schlag beibringen, er würde sich in hohem Maße ebendessen schuldig machen, was jener Satz von der durchgängigen Verwerflichkeit des ἀδικεῖν verbietet. Es ist klar: dem Platon kommt alles darauf an, den Sokrates in die Lage zu bringen, daß er die Unnatur und die Ver- werflichkeit des Widerstandes gegen die Gesetze so wirk- sam und grell wie nur möglich vor die Seele des Lesers stelle. Zu dem Ende läßt er ihn das Verhältnis zwischen sich und den Gesetzen zur Fiktion einer persönlichen Gegnerschaft zuspitzen, eine Fiktion, die ihm alle jene Vorteile bot, die das Lebendige stets vor dem Abstrakten hat. Das fingierte Mißverhältnis zwischen ihm und den Gesetzen wurde so bildlich zu einem persönlichen Kon- flikt, der mit voller dramatischer Lebendigkeit wirkt. Dies wirksame Bild eben ist es, zu dem sich Platon den Weg bahnt durch die möglichste Verallgemeinerung jenes Satzes von der Unstatthaftigkeit des Unrechttuns. Ohne Ausdehnung dieses Satzes auf die Rache auch gegen die Feinde hätte er sein drastisches Bild von den be- leidigenden und wieder beleidigten Gesetzen gar nicht durchführen können. Man mache sich den Zusammen- hang der zugrunde liegenden Gesichtspunkte klar: die Gesetze sollen als angebliche Beleidiger erscheinen, die - man nicht wieder beleidigen, an denen man sich nicht rächen darf. Zu dem Ende muß zunächst der Satz fest- gestellt werden, daß man sich überhaupt an niemandem rächen dürfe, sodann müssen die Gesetze personifiziert werden, denn unrecht tun ebenso wie unrecht leiden können nur Personen, nicht Sachen. . Die Personifikation der Gesetze also, diese künstlerisch hier dem Platon so wichtige Sache, hängt aufs engste zusammen mit der Auf- stellung des vielberufenen Satzes. Man hat also einigen Grund, diesen Satz hier mit etwas milderem Auge zu betrachten als wenn er als selbständige These für sich dastünde.

Platon Apologie und Kriton. Phil. Bibl. Bd. 150, 6

Inhalt und Gliederung

des Kriton.

Kriton, der sich in aller Frühe in der Gefängniszelle des So- krates eingefunden, fordert den erwachenden Sokrates zu endlicher, schleuniger Flucht auf, da die Ankunft des delischen Schiffes und damit die Hinrichtung unmittelbar bevorstehe. Alles sei zu seiner Rettung bereit und Sokrates dürfe seine Freunde nicht länger dem bei der großen Menge bereits erwachten Verdachte aussetzen, als hätten sie es an Opferwilligkeit fehlen lassen. 43A—46A. c. 1—5.

Sokrates erklärt, von seinen stets als richtig erkannten Grund- sätzen auch jetzt nicht abweichen zu können. Das Urteil der großen Menge sei belanglos gegenüber dem Urteil der Sachverständigen. Nicht das Leben an sich sei das höchste Glück, sondern ein gutes und gerechtes Leben. Die Flucht aus dem Gefängnis wäre ein Frevel wider die Gesetze, denn diese fordern die Vollstreckung er- gangener Urteile. Unrecht tun aber sei unter allen Umständen un- zulässig, selbst als Vergeltung erfahrenen Unrechts. Auch ange- nommen also, die Gesetze hätten ihm unrecht getan, 80 sei er doch nicht befugt, sich an ihnen zu rächen. 46 B—49E. c. 6-10.

Dies darzutun treten die Gesetze persönlich auf und legen die Gründe dar, die jede Auflehnung gegen sie als Unrecht und Frevel erscheinen lassen. Sie nämlich, die Gesetze, sind, wie sie nun selbst darlegen, die Begründer eines gesitteten staatlichen Lebens über- haupt und verlangen mit Recht eine Unterwürfigkeit, die noch bindender ist als die der Kinder gegen die Eltern. Indem sie es der Wahl eines jeden anheimstellen, die Stadt mit seiner Habe zu verlassen, legen sie dem in ihr Bleibenden die Pflicht des Gehorsams gegen sich auf. Niemand aber habe mit größerer Heimatliebe an Athen gehangen als Sokrates. 50 A—53A. c. 11—14.

Zudem würde eine Flucht ihm gar keinen Vorteil bringen. Er würde seine Freunde nur dem Vorwurf der Gesetzesübertretung aussetzen, würde in wohlgeordneten Gemeinwesen als Untergraber gesetzlicher Ordnung einen schlechten Empfang finden, würde auch als Gast in Thessalien eine sehr schlechte Rolle spielen und seinen Kindern mehr schaden als nützen. 53A—54B. c. 15.

Uber die Rücksicht auf das Leben gehe die auf die Gerechtig- keit, deren strenge Beachtung ihn auch zu der Hoffnung berechtige, im Hades eine wohlwollende Aufnahme zu finden,

Der Macht dieser Gründe kann sich auch Kriton nicht ent- ziehen. 54 B—54E. c. 16.

St.

Platons Kriton.

Personen: Sokrates, Kriton!),

1. Sokrates. Wie, mein Kriton? Zu so ungewohnter Stunde du schon hier? Oder ist es nicht noch früh am Tage? |

Kriton. Allerdings.

Sokrates. Wie früh denn etwa?

Kriton. Noch tiefe Dämmerung.

Sokrates. Sonderbar, daß der Gefängniswärter sich dazu verstehen konnte dir Einlaß zu gewähren.

Kriton. Wir sind schon miteinander bekannt, So- krates, infolge meiner häufigen Besuche bei dir, auch hat es an Erkenntlichkeit meinerseits ihm gegenüber nicht ganz gefehlt.

Sokrates. Bist du eben erst gekommen oder bist du schon eine Weile hier?

Kriton. Schon ziemlich lange.

Sokrates. Wie kommt es dann, daß du mich nicht

. gleich geweckt, sondern ruhig hier neben mir gesessen .

hast?

Kriton. Beim Himmel, Sokrates, in so leidvoller Lage auch noch des Schlafes beraubt zu werden, das wäre mir selber doch eine Qual. Doch nehme ich längst schon

mit Erstaunen wahr, wie sanft du. schläfst, und wenn

ich dich nicht weckte, so geschah das recht absichtlich, damit dir die Zeit angenehm verrinne. Oft genug habe ich auch schon früher, solange ich lebte, dich glücklich gepriesen ob deiner Gemütsart, niemals aber habe ich dich stärker bewundert als bei dem jetzt dich heim- suchenden Mißgeschick, ob der Gelassenheit nämlich und Ruhe, mit der du es trägst. u*

84 Platon.

Sokrates. Ja, mein Kriton, es würde mir doch auch schlecht anstehen in meinen alten Tagen, mich zu sträuben, wenn es nun ans Sterben geht.

Kriton. Es gibt, mein Sokrates, genug Leute, die sich in deinen Jahren auch noch von ähnlichen Schick- salsschlägen betroffen sehen; allein ihr Alter bewahrt sie durchaus nicht davor, sich gegen das über sie herein- brechende Unglück zu sträuben.

Sokrates. Du hast recht. Doch warum hast du dich so in aller Frühe eingefunden?

Kriton. Ich bringe, Sokrates, eine schlimme Nach- richt, schlimm und bedrückend nicht für dich, wie mir scheint, wohl aber für mich wie für alle, die dir nahe- stehen; ja, ich wüßte keine andere, die für mich so be- drückend wäre.

Sokrates. Und was wäre das für eine? Etwa die von dem Eintreffen des Schiffes aus Delos, dessen An- kunft für mich die Ankündigung des Todes bedeutet?)

Kriton. Noch ist es nicht angelangt, aber irre ich nicht, so steht seine Ankunft noch heute bevor nach den Mitteilungen einiger Reisenden, die von Sunion hier eingetroffen sind, wo sie das. Schiff verlassen haben. Aus ihren Mitteilungen geht klar hervor, daß es heute einlaufen wird, und so wirst du denn, Sokrates, morgen dein Leben lassen müssen. |

2. Sokrates. Nun, Glück zu, mein Kriton. Ist das der Wille der Götter, so mag es dabei sein Be- _ wenden haben. Allein ich glaube nicht, daß es heute schon eintreffen wird.

Kriton. Was führt dich auf diese Vermutung?

Sokrates. Du sollst es hören. Ich soll ja doch den Tod erleiden an dem Tage, der auf die Ankunft des Schiffes folgt. |

Kriton. So lautet wenigstens der Spruch der zu- ständigen Behörde. |

Sokrates. Nun, so glaube ich nicht, daB es am heutigen Tage eintreffen wird, sondern erst am folgenden.

Kriton. SH

Meine Annahme aber stützt sich auf einen Traum, den ich eben erst in dieser Nacht gehabt habe. Und so ist es, wie es scheint, ein wahres Glück gewesen, daß du mich nicht geweckt hast.*)

Kriton. Und welcher Art war dieser Traum’

Sokrates. Es kam mir vor, als träte ein schönes, wohlgestaltetes Weib an mich heran, in weißem Ge- wande. Sie rief mich und sagte: Sokrates,?)

Laß drei Tage vergehn, dann bist du im scholligen Phthia. Kriton. Ein absonderlicher Traum, Sokrates. Sokrates. Nun, mir wenigstens will es scheinen, als

wäre er deutlich genug, Kriton.

3. Kriton. Leider nur zu deutlich, allem Anschein nach. Aber, mein Teuerster, noch ist es Zeit: folge mir jetzt und rette dich. Denn stirbst du, so ist das mehr als ein Unglück für mich. Nicht genug nämlich, daß ich in dir eines Freundes beraubt werde®), wie ich nimmer einen wieder finden werde: ich werde auch bei vielen, die mich und dich nicht genau kennen, in den Verdacht geraten, ich hätte, obschon in der Lage, dich zu retten, wenn ich nur meinen Geldbeutel hätte öffnen wollen, mich dazu nicht entschließen können. Kann es aber eine schlimmere Schädigung des guten Namens geben als die Verdächtigung, man schlüge den Wert des Geldes . höher an als den der Freunde? Die große Menge wird . es nicht glauben, daß du selbst dich nicht hättest ent- schließen können von hier zu entweichen, wenn wir es mit allem Ernste betrieben hätten.

Sokrates. Aber, mein trautester Kriton, wozu sich so viele Sorgen machen um die Meinung der Leute? Die Bestgesinnten, die vor den anderen Beachtung verdienen, werden ja doch die Sache so nehmen wie sie ihrem wirk- lichen Ablauf gemäß zu nehmen ist.

Kriton. Aber du hast doch, Sokrates, ein Ein- sehen dafür, daß man sich auch um die Meinung der Leute kümmern muß. Gerade der vorliegende Fall läßt klar erkennen, daß die große Menge imstande ist einem

86 Platon.

das größte Leid zuzulügen von kleinem gar nicht zu reden.

Sokrates. Ach möchte doch, mein Kriton, die große Menge imstande sein einem das größte Leid zuzufügen, auf daß sie auch imstande wäre das größte Glück zu verleihen.°) Dann bliebe nichts zu wünschen übrig. So aber vermögen sie keines von beiden. Denn sie können weder Einsicht noch Unverstand austeilen, sondern hängen in ihrem Tun und Treiben ganz von den Launen des Zufalls ab.

4. Kriton. Damit magst du denn recht haben. Aber nun, mein Sokrates, gib mir Auskunft auf folgende Frage: erfüllt dich dein etwaiges Entweichen von hier mit der Besorgnis, die zünftigen Angeber (Sykophanten) könnten mir und deinen anderen Freunden mit der Beschuldigung zu Leibe rücken, wir hätten dir von hier fortgeholfen, so daß wir uns in die Zwangslage gebracht sähen, ent- weder unser ganzes Vermögen oder wenigstens erhebliche Summen zu verlieren, oder auch noch außerdem Leid und Weh über uns ergehen zu lassen? Sollte dich eine Furcht dieser Art ängstigen, dann laß sie ruhig fahren. Denn wir sind es dir doch wohl schuldig dich zu retten und diese Gefahr auf uns zu nehmen, ja, wenn es sein muß, eine noch größere. Folge mir also und gib jedes andere Vorhaben auf.

Sokrates. Allerdings hege ich Besorgnisse dieser Art, mein Kriton, aber auch noch manche andere.

Kriton. So sage dich denn los von dieser Furcht; ist doch der Geldbetrag nicht groß, gegen welchen gewisse Leute bereit sind dich zu retten und von hier fortzu- bringen. Und was unsere zünftigen Angeber betrifit, so weißt du ja, sie sind leicht zu bestechen, und um sie mundtot zu machen, bedarf es keines großen Aufwandes. Zunächst steht dir nun mein Vermögen zur Verfügung, und ich sollte meinen, es reichte aus; für den Fall aber, daß du etwa aus sorglicher Schonung für mich glauben solltest, von der Benutzung meines Vermögens absehen

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Kriton. 87

zu müssen, sind unsere Gäste aus der Fremde bereit, den erforderlichen Aufwand zu bestreiten. Und einer von ihnen, Simmias aus Theben”), hat zu ebendiesem Zweck eine ausreichende Summe bereits mitgebracht. Aber auch Kebes und noch gar viele andere sind voller Bereitschaft. Also weder durch Furcht, wie gesagt, darfst du dich abhalten lassen unermüdlich an deiner Rettung zu arbeiten!®),, noch darfst du deine Äußerung vor Ge- richt, du würdest als Flüchtling in der Fremde nichts mit dir anzufangen wissen, dich weiter beunruhigen lassen. Denn auch anderwärts wirst du an zahlreichen Orten, in die du kommst, Leute finden, die sich deiner liebreich annehmen. Willst du aber nach Thessalien gehen, so habe ich dort Gastfreunde, die dich hoch in Ehren halten und dir Schutz gewähren werden; von keinem Thessalier also brauchst du ein Leid zu be- fürchten.

5. Dazu kommt nun noch folgendes, mein Sokrates. Es will mir geradezu als ein Unrecht erscheinen, wenn du darauf hinarbeitest, dich preiszugeben trotz der vor- handenen Möglichkeit dich zu retten, und dir geflissent- lich ein Schicksal zu bereiten, wie es dir auch deine Feinde bereiten möchten und tatsächlich bereitet haben in der Absicht, dich zu verderben. Zudem versündigst du dich meines Erachtens auch an deinen Kindern, die du erziehen und heranbilden könntest, während du dich nun von ihnen trennen und sie verlassen willst!?), so daß, soweit es auf dich ankommt, ihr Schicksal dem Zufall preisgegeben ist. Was aber ihrer harret, ist vermutlich nichts anderes als das gewöhnliche Los der Waisen im Waisenstand. Entweder nämlich muß man sich das ehe- liche Glück ganz versagen oder sich mit ausdauernder Hingebung der Erziehung und Bildung seiner Kinder widmen. Du aber scheinst mir den bequemsten Weg zu wählen. Wählen aber soll man doch das, was ein braver und tapferer Mann wählen würde, zumal wenn man doch erklärt, man sei sein lebelang der Tugend be-

δδ Platon.

tlissen gewesen. So schäme ich mich denn in deinem wie in unserem, deiner Freunde, Namen, denn man könnte denken, der ganze Hergang der Sache sei eine Folge des Mangels an Tapferkeit unserseits, nicht nur das Er- scheinen vor Gericht, dem man recht wohl hätte aus- weichen können!?), sondern auch der Verlauf der Ge- richtsverhandlung und endlich dieser lächerliche Abschluß des ganzen Handels.!?) Vor all dem, wird man meinen, hätten wir die Augen verschlossen, indem wir nichts zu deiner Rettung unternahmen, so wenig wie du selbst, obschon es doch möglich und ausführbar war, wenn wir nur irgendwie unsere Schuldigkeit getan hätten. Über- lege dir, Sokrates: wird das nicht neben allem Unglück dir und uns auch noch Schimpf und Schande eintragen? Auf, entschließe dich, wenn noch möglich; denn es ist eigentlich gar keine Zeit mehr sich zu entschließen, der Entschluß muß schon gefaßt sein, und es gibt nur einen; denn in der kommenden Nacht muß alles getan sein. Zaudern wir aber noch, so ist es mit der Möglich-

keit und Ausführbarkeit vorbei. So folge mir denn, So-

krates, um jeden Preis und laß jeden anderen Gedanken fahren.

6. Sokrates. Mein lieber Kriton, deine Hilfsbereit- schaft ist aller Anerkennung wert, vorausgesetzt, dab sie hier auch richtig und angebracht ist; wo nicht, so ist sie um so bedenklicher, je lebhafter sie ist. Es gilt also gemeinsam zu erwägen, ob ich so handeln soll oder nicht; denn nicht erst jetzt, sondern immer schon habe ich es so gehalten, daß ich keiner anderen Stimme meines Innern folge als der, die mir bei eingehender Erwägung als die beste erscheint. So kann ich mich denn von früher einmal ausgesprochenen Grundsätzen jetzt, wo mich dies Schicksal getroffen hat, nicht lossagen, viel- mehr sind sie in meinen Augen noch dieselben und ich achte und ehre sie ebenso wie früher. Können wir gegen- wärtig nichts Besseres vorbringen, so laß dir gesagt sein, daß ich dir nicht nachgebe, mag auch die Macht der

Kriton. 89

Menge durch noch stärkere Schreckmittel als bisher uns gruseln machen wie Kinder, durch Verhängung von Ge fängnis, Tod und Vermögensentziehung. Wie können wir also mit unseren Erwägungen am besten zum Ziele ge- langen? Wenn wir zunächst uns wieder dem Satze zu- wenden, den du über die Meinungen der Menge aufstellst. Wir fragen also, ob die immer wiederkehrende Behaup- tung, daß man auf gewisse Meinungen achten müsse, ΔῈ} andere wieder nicht, richtig oder falsch war. Oder war sie etwa richtig, solange der Tod noch nicht über mich verhängt war, während sich jetzt klar herausstellt, daß sie gar nicht ernst gemeint, sondern in Wahrheit nichts war als ein Spiel der Unterhaltung und eine Seifenblase’ Ich möchte also in Gemeinschaft mit dir, mein Kriton, untersuchen, ob der Satz jetzt, in meiner gegenwärtigen Lage, seine Geltung verlieren oder noch weiter gelten soll, ob wir ihn also fallen lassen oder ihm folgen sollen. Ich denke, bei Leuten, die auf ein selbständiges Urteil Anspruch machen, war der Satz, so wie ich ihn eben aussprach, stets in Geltung, daß man von den den Men- schen geläufigen Meinungen einigen volle Beachtung schenken müsse, anderen wieder nicht. Wie meinst du nun? Hat es damit nicht seine volle Richtigkeit? Denn nach menschlichem Ermessen hast du für morgen nicht

- den Tod zu befürchten, und das vorliegende Mißgeschick

kann dich nicht irremachen. Erwäge also: scheint dir der Satz nicht richtig zu sein, daß man nicht alle Mei- nungen der Menschen beifällig aufnehmen soll, sondern nur einige, andere wieder nicht? Was meinst du? Ist das nicht richtig gesagt?

Kriton. Allerdings. RN

Sokrates. Den sachgemäßen also muß man seinen Beifall geben, den verfehlten aber nicht?

Kriton. Ja. |

Sokrates. Sachgemäß sind aber doch die der Ein- sichtigen, verfehlt dagegen die der Unverständigen?

Kriton. Gewiß. -

90 Platon.

7. Sokrates. Wie steht es nun ferner mit folgendem in unseren Gesprächen öfters aufgestellten Satz: Ein Mann, der nach allen Regeln der Kunst Leibesübungen treibt, - wird der wohl auf jedermanns Lob und Tadel und Urteil achten, oder nur auf das jenes Einen, des Arztes oder Turnmeisters nämlich?

Kriton. Dieses Einen allein.

Sokrates. Dieses einen Mannes Tadel und Lob muß für ıhn ausschlaggebend sein: seinen Tadel muß er fürch- ten, sein Lob dankbar begrüßen, nicht aber das der großen Menge.

Kriton. Offenbar.

Sokrates. In seinen Handlungen also ebenso wie in seinen Leibesübungen und in seinem Essen und Trin- ken muß er sich dem Urteil dieses Einen fügen, dieses Meisters und Sachverständigen, der ihm mehr gelten muß als die anderen alle zusammen.

Kriton. Du hast recht.

Sokrates. Versagt er aber diesem Einen den Gehor- sam und macht er sich nichts aus dessen Urteil und Lob, hält er es vielmehr mit den Meinungen der großen Menge, wird ihm das nicht zum Übel ausschlagen?

Kriton. Unfehlbar.

Sokrates. Worin besteht nun wohl dieses Übel? Was hat es für eine Beziehung und nach welcher Seite hin wird der Unfolgsame davon betroffen?

Kriton. Offenbar an seinem Körper; denn diesen richtet er dadurch zugrunde.

Sokrates. Ganz recht. Steht es nun nicht ebenso, mein Kriton, auch mit den übrigen Dingen? Steht es nicht, um nicht allesamt durchzugehen, ebenso mit dem Recht und dem Unrecht, dem Häßlichen und Schönen, dem Guten und Schlechten, worauf sich unsere jetzige Beratung bezieht? Müssen wir etwa dem Urteil der Menge folgen und. vor ihm Respekt haben, oder dem jenes Einen, des Sachverständigen wenn es einen solchen gibt —, vor dem man mehr Achtung und Furcht haben muß

σ

Kriton. 4]

als vor der ganzen Masse der übrigen? Denn folgen wir ihm nicht, dann kann es nicht ausbleiben, daß wir das- jenige zugrunde richten und entwürdigen, was durch Ge- rechtigkeit gehoben, durch Ungerechtigkeit aber zugrunde gerichtet wird. Oder sollte es ein solches überhaupt nicht geben?

Kriton. Was wenigstens mich betrifft, so glaube ich an dessen Dasein, Sokrates.

8. Sokrates. Nun gut. Laß uns also nun wieder an dasjenige denken, was durch Gesundheit gebessert, durch Krankheit dagegen zugrunde gerichtet wird, wenn wir uns nicht dem Urteil des Sachverständigen fügen. Lohnt es sich überhaupt noch zu leben, wenn dieses dem Unter- gang anheimgefallen ist? Es ist dieses aber doch wohl der Körper. Oder nicht?

Kriton. Ja.

Sokrates. Ist nun das Leben noch lebenswert mit einem verkommenen und zerrütteten Körper?

Kriton. Nimmermehr.

Sokrates. Sollte es dagegen der Mühe noch wert sein zu leben, wenn dasjenige zerrüttet ist, dem die Ungerech- tigkeit Schande und Schaden, die Gerechtigkeit dagegen Nutzen bringt? Oder sollen wir etwa denjenigen wie auch

. immer zu benennenden Teil unseres Innern, der die Heim- . stätte ist der Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit, für be-

langloser halten als den Körper?

Kriton. Nimmermehr.

Sokrates. Vielmehr für wertvoller?

Kriton. Weitaus.

Sokrates. In keinem Falle also, mein Bester, haben wir uns daran zu kehren, was die große Menge über uns sagt, sondern was jener Einzige, der über Recht und Unrecht genau Bescheid weiß, und was die Wahrheit selber sagt. Mithin gibst du zunächst der Sache von vorn- herein eine falsche Wendung dadurch, daß du forderst, wir sollten uns an die Meinung der großen Menge kehren hinsichtlich des Gerechten, Schönen und Guten und des

9. Platon,

Gegenteils. Ja, aber die große Menge ist doch machtvoll genug, uns das Leben zu nehmen? Dies dürfte wohl einer einwenden.

Kriton. Das ist allerdings einleuchtend. Ja, so würde man sagen, Sokrates. Du hast ganz recht.

Sokrates. Allerdings. Aber, mein Bester, nicht nur der eben besprochene Satz scheint mir noch seine frühere Geltung zu behalten, sondern du mußt auch noch den fol- genden Satz hinsichtlich seiner Geltung ins Auge fassen: „Nicht das Leben ist das zu erstrebende höchste Gut, sondern das gute Leben.‘ Steht dieser Satz noch in Gel- tung oder nicht? 12)

Kriton. Ja, er steht noch in Geltung.

Sokrates. „Gut“ aber und „schön“ und „gerecht‘ besagen dasselbe. Dieser Satz steht doch noch in Geltung. Oder nicht?

Kriton. Ja.

9. Sokrates. Auf Grund des Eingeräumten ist nun zu erwägen, ob mir ein Recht zusteht zu dem Versuche, von hier zu entweichen ohne Erlaubnis der Athener, oder ob ich kein Recht dazu habe. Und stellt es sich heraus, daß ich ein Recht dazu habe, dann wollen wir den Ver- such machen, wo nicht, so muß er unterbleiben. Was aber die Rücksichten auf Geldaufwand, auf böse Nachrede und Kindererziehung: anlangt, von denen du redest, so handelt es sich da vielleicht tatsächlich, mein Kriton, um Anschauungen von Leuten, die leichthin den Tod ver- hängen und den Toten dann wieder ins Leben zurück- rufen möchten, wenn sie dazu nur imstande wären, Leute ohne eine Spur von Verstand, eben echte Massenmenschen. Wir aber haben, im Einklang mit der Entscheidung der gesunden Vernunft, unser Augenmerk auf nichts anderes zu richten als auf die eben aufgeworfene Frage, ob wir gerecht handeln, wenn wir denen, die uns von hier fort- schaffen wollen, Geld zahlen und auch noch Dank hinzu- fügen, und wenn wir beide das Entweichen betreiben, du als Befreiender und ich als Flüchtling, oder ob wir in

τ

Kriton. 43

Wahrheit wider das Recht handeln, wenn wir uns auf alles dies einlassen. Sollte es sich herausstellen, daß wir daran unrecht täten, dann darf es für uns, gegenüber der Ver- sündigung durch Unrechttun, gar nicht in Betracht kom- men, ob unser ruhiges Ausharren für uns den Tod oder sonst irgendwelches Leid mit sich bringt.

Kriton. Du hast recht, Sokrates, wie mir scheint. Sieh nur zu, was wir zu tun haben.

Sokrates. Gemeinsam zu erwägen, mein Bester, ist unsere Aufgabe, und hast du einen Einwand gegen meine Ausführungen vorzubringen, so rücke nur heraus damit, ich werde darauf eingehen; wo nicht, so höre endlich auf, mein Teuerster, mir immer wieder die nämliche Weisheit zu predigen, ich müsse von hier entweichen, im Wider- spruch zu dem Beschluß der Athener. Denn so sehr ich es zu schätzen weiß, daß du mir zuredest so zu handeln, so soll dein Rat doch nicht wider meinen Willen befolgt werden.!?) Gib nun also acht, ob gleich der Anfang der Untersuchung deinem Sinne entspricht, und versuche

. meine Fragen zu beantworten nach bestem Wissen und

Gewissen.

Kriton. Das will ich versuchen.

10. Sokrates. Wie steht es mit unserer Meinung über das Unrechttun? Darf man unter keinen Umständen freiwillig unrecht tun, oder darf man es unter gewissen _ Umständen, unter anderen wieder nicht? Oder ist das Unrechttun überhaupt durchweg weder gut noch schön, wie wir in früheren Gesprächen es oft festgestellt haben [und wie auch eben erst wieder behauptet ward 7} 1 Oder sollen alle diese früheren Feststellungen in diesen wenigen Tagen wie weggeblasen sein? Sollen also Männer so hohen Alters wie wir, mein Kriton, schon geraume Zeit ernst- haft miteinander Reden getauscht haben ohne zu merken, daß es reines Kinderspiel war, was wir trieben? Oder bleibt es unbedingt bei dem damaligen Spruch, mögen nun die Leute ja oder nein dazu sagen? Und ist das Un- rechttun, mag uns nun ein noch härteres Schicksal be-

94 Platon.

schieden sein als das gegenwärtige oder ein milderes, für den Frevelnden doch unbedingt verwerflich und häß- lich???) Soll dieser Satz gelten oder nicht?

Kriton. Er soll gelten.

Sokrates. In keinem Falle aa darf man unrecht tun?

Kriton. Gewiß nicht.

Sokrates. Also auch der, dem Unrecht widerfahren ist, darf nicht wieder unrecht tun, wie die meisten glau- ben; denn man darf ja eben unter keinen Umständen unrecht tun."®)

Kriton. Nein, das darf man gewiß nicht.

Sokrates. Und weiter. Darf man Böses zufügen, Kriton, oder nicht? |

Kriton. Kein Zweifel, man darf es nicht, Sokrates.

Sokrates. Wie nun? Böses zu erwidern, wenn einem Böses widerfährt, ist das, wie die meisten behaupten, recht oder unrecht?

Kriton. Unrecht, ganz entschieden.

Sokrates. Denn den Menschen Böses zufügen, heißt doch nichts anderes, als ihnen unrecht tun.

Kriton. Du hast recht.

Sokrates. Also weder erlittenes Unrecht vergelten noch Böses zufügen darf man irgendeinem Menschen, mag man auch noch so schwer von ihm zu leiden haben. Und sieh dich wohl vor, Kriton, ehe du zustimmst, auf daß du nicht gegen deine Überzeugung einstimmst: denn ich weiß: nur ganz wenige denken so und werden so denken. Für die Anhänger dieses Glaubens nun und ihre Gegner gibt es kein gegenseitiges Verständnis, sondern unver- meidlich nur gegenseitige Verachtung angesichts ihrer beiderseitigen Grundsätze und Entschließungen. Darum überlege denn auch du dir’s recht genau, ob du dich mir anschließen kannst und meine Ansicht teilst und ob wir zum Ausgangspunkt unserer Beratung den Satz machen, daß es niemals zulässig ist unrecht zu tun, noch auch Unrecht zu erwidern, noch wenn einem Böses widerfährt,

Kriton. οὗ

sich durch Erwiderung des Bösen zur Wehr zu setzen, oder ob du diesem Grundsatz nicht beitreten und ihn nicht teilen kannst. Mir allerdings steht dieser Satz wie schon früher so auch jetzt noch fest, aber du bist vielleicht anderer Ansicht. Darüber mußt du dich nun äußern und Aufklärung geben. Hältst du aber an dem Früheren fest, so höre nun das Weitere.

Kriton. Ja, ich halte fest daran und bin der gleichen Ansicht. So laß denn hören.

Sokrates. So sage ich nun das Weitere, oder frage vielmehr: Muß man, wenn man mit einem anderen einen rechtlichen Vertrag geschlossen hat, ihn auch einhalten, oder darf man sich trügerisch seiner Verpflichtung ent- ziehen?

Kriton. Einhalten muß man Ihn.

11. Sokrates. Von diesem Standpunkt aus betrachte nun dieSache. Wenn wir von hier entweichen ohne Geneh-

. migung des Gemeinwesens, verüben wir dann Böses nach

gewissen Seiten hin und zwar gegen solche, die es am wenigsten verdient haben, oder nicht? Und bleiben wir dem treu, was wir als gerecht anerkannt haben, oder nicht?

Kriton. Ich bin nicht imstande, Sokrates, auf deine Frage zu antworten, denn ich verstehe sie nicht.

Sokrates. Nun, betrachte es von folgender Seite. . Setze den Fall, wir wären im Begriff von hier davonzu- laufen oder wie man die Sache sonst benennen soll, und die Gesetze und das Gemeinwesen stellten sich uns in den Weg und fragten: „Sage mir, Sokrates, was läßt du dir einfallen zu tun? Gehst du nicht geradezu darauf aus, durch dieses dein Beginnen uns, die Gesetze, sowie das ganze Gemeinwesen zugrunde zu richten soweit es auf dich ankommt? Oder glaubst du an die Möglichkeit, daß ein Staat noch Bestand habe und vor dem Untergange bewahrt sei, in welchem die einmal gefällten gerichtlichen Urteile keine Kraft haben, sondern von Unberufenen wir- kungslos gemacht und vernichtet werden?“ Was werden

98 Platon.

wir, Kriton, auf diese und ähnliche Fragen antworten? Denn es ließe sich gar manches, zumal von einem ge- schulten Anwalt, zugunsten des mit Vernichtung be- drohten Gesetzes sagen, welches verordnet, daß die ein- mal gefällten Urteile in Kraft bleiben. Oder sollen wir ihm antworten: Der Staat hat uns ja doch unrecht getan und den Rechtsstreit nicht richtig entschieden?'?) Wird dıes unsere Antwort sein oder wie soll sie lauten? |

Kriton. Dies wird sie sein, beim Zeus, mein So- krates. |

12. Sokrates. Wie nun, wenn die Gesetze folgender- maßen sprächen: „War es denn dies, Sokrates, worauf sıch die Vereinbarung zwischen uns und dir bezog? Lautete diese nicht vielmehr dahin, du würdest dich ge- treulich den richterlichen Urteilen fügen, die vom Staate gefällt werden?“ Wenn wir uns nun mit dieser Abferti-. sung nicht zufrieden gäben, dann würden sie vielleicht sagen! „Laß dich durch unsere Rede nicht irremachen, Sokrates, sondern antworte, denn das Fragen und Ant- worten ist dir ja zur anderen Natur geworden. So sage denn: Was hast du denn uns und dem Staate vorzu- werfen, daß du uns aus dem Wege räumen willst? Waren wir es nicht fürs erste, die dir zum Dasein verhalfen? Hat nicht durch unsere Vermittlung dein Vater deine Mutter geheiratet und dir das Leben geschenkt? Sag an, was für Fehler hast du an uns, soweit wir es mit Ehe- verhältnissen zu tun haben, zu rügen? Was tadelst du an uns?‘ ?®)

„Jch wüßte nichts zu tadeln‘“, würde ich antworten.

„Aber soweit wir es mit der Erziehung und Heran- bildung der Neugeborenen, die auch dir zuteil geworden, zu tun haben, wie steht es da mit deinem Tadel? Oder haben wir, soweit wir uns auf dieses Gebiet bezogen, nicht alles in bester Weise geregelt, indem wir deinem Vater die Anweisung gaben, dich in den musischen und symnastischen Künsten unterrichten zu lassen?‘ ”’)

„In bester Weise“, würde ich antworten.

ad

Kriton, 97

„Gut! Nachdem du also geboren, erzogen und heran- gebildet worden bist, kannst du da etwa behaupten, du wärest nicht der Unserige als unser Sohn und Untertan, du selbst so gut wie deine Vorfahren? Und wenn dem so ist, wie kannst du dann glauben, es bestehe gleiches Recht zwischen dir und uns, und was wir gegen dich zu tun uns erlauben, das habest auch du das Recht uns zu tun? Besaßest du etwa gegen deinen Vater oder deinen Herrn wofern du etwa einen solchen hattest das gleiche Recht? Durftest du ihm etwa wieder ‘antun, was du von ihm zu leiden hattest? Durftest du seine etwaigen Schmähungen, seine Schläge und was sonst alles noch

. von dieser Art in Betracht kommt, durch Gleiches er-

widern? Nein! Und dem Vaterland und den Gesetzen gegenüber soll dir dies alles erlaubt sein? Wenn wir also über dich den Tod verhängen, weil unserer Überzeugung nach die Gerechtigkeit es so fordert, so willst auch du dir es zur Aufgabe machen, die Gesetze und das Vater- land nach Kräften deinerseits zu Fall zu bringen, und behaupten, du hättest das volle Recht so zu handeln, du, der sich rühmt, in Wahrheit nur im Dienste der Tugend zu stehen? Besteht deine Weisheit etwa darin, nicht zu wissen, daß das Vaterland in den Augen der Götter und aller Vernünftigen unter uns Menschen ehr-

. würdiger und heiliger ist und in größerem Ansehen steht

als Mutter und Vater und die sonstigen Vorfahren? und daß man ihm, dem Vaterlande, alle Ehrfurcht schuldig ist, und wenn es zürnt, ihm mehr nachgeben und freund- lich zureden muß als dem zürnenden Vater? Und daß man es entweder in überzeugender Weise eines Besseren be- lehren oder sich seinen Anordnungen fügen und über sich ergehen lassen muß was es uns etwa zu leiden auf- erlegt, ohne zu murren, mag es uns nun zu Schlägen oder zu Gefängnis verurteilen oder uns zum Kriegsdienst, zu Wunden und Tod entbieten? Dies sind unerläßliche Leistungen, die vom Recht gefordert werden: nicht wei- chen darf man, nicht wanken, noch seinen Posten ver- Platon Apologie und Kriton. Phil. Bibl. Bd. 180. 7

98 Platon.

lassen, sondern sowohl im Kriege wie vor Gericht und überall tun was der Staat und das Vaterland fordern, es sei denn, daß man es überzeugend eines Besseren be- lehre über das, was das eigentliche Recht fordert.?”) Ge- walt aber wäre eine Sünde schon gegen Mutter und Vater, wieviel mehr also noch gegen das Vaterland!“

Was sollen wir darauf erwidern, Kriton? Daß die Gesetze recht haben oder nicht?

Kriton. Was mich anlangt, so stimme ich den Ge- setzen bei.

13. Sokrates. ‚So erwäge denn, Sokrates,“ so etwa würden die Gesetze vermutlich fortfahren ‚ob wir die Wahrheit sagen mit der Behauptung, dein jetziges Unterfangen gegen uns sei nicht vereinbar mit der Ge- rechtigkeit. Denn wir, die wir dich erzeugt, aufgezogen, herangebildet und aller staatlichen Wohltaten ganz so wie auch alle anderen Bürger teilhaftig gemacht haben, er- teilen gleichwohl ausdrücklich durch öffentliche Erklä- rung jedem Athener, nachdem er in die Bürgerliste ein- getragen ist und sich mit den Verhältnissen des Staates sowie mit uns, den Gesetzen, bekannt gemacht hat, auf seinen Wunsch für den Fall, daß er mit uns nicht zu- frieden ist, die Erlaubnis, mit seiner ganzen Habe fort- zuziehen, wohin es ihm gefällt. Und keines von uns, den Gesetzen, hindert ihn oder verbietet ihm hinzuziehen, wohin er nur Lust hat, sei es nun in eine euerer Pflanz- städte, wofern wir und unsere Stadt ihm nicht gefallen, oder sonst wohin: er kann seinen Wohnsitz dahin ver- legen, unter Mitnahme seines Vermögens. Wer von euch aber hier verbleibt, wohlbekannt mit der Art unserer Rechtsprechung und unserer sonstigen Staatsverwaltung, der hat so behaupten wir dadurch bereits tatsäch- lich seine Verpflichtung anerkannt unseren Anordnungen Folge zu leisten, und wer ihnen nicht nachkommt, der behaupten wir macht sich eines dreifachen Ver- gehens schuldig: er versagt den Gehorsam erstens seinen Erzeugern, sodann seinen Erziehern und drittens uns

δύ,

Kriton. 99

(den Gesetzen); denn trotz der anerkannten Verpflich- tung, uns zu gehorchen, leistet er uns weder Gehorsam noch belehrt er, wenn uns etwa ein Versehen begegnet, uns eines Besseren, obschon wir ihm die Möglichkeit dazu geben und nicht rücksichtslos fordern, daB er unseren Befehlen folge, sondern ihm die Wahl lassen: er kann entweder uns eines Besseren überzeugen oder uns Folge leisten; er aber tut keines von beidem.

14. Alle diese Vorwürfe, behaupten wir, werden auch dich treffen, Sokrates, wenn du dein Vorhaben ausführst, und gerade dich nicht weniger sondern mehr als die anderen Athener.“ Wenn ich nun fragen wollte „Wes- halb denn?“, so würden sie vielleicht mit Recht mir vor- halten, daß ich in höherem Maße als die anderen Athener meine Anerkennung jener Verpflichtung kundgegeben habe. Sie würden nämlich sagen:

„Wır haben schlagende Beweise dafür, daß du mit uns und dem Staate zufrieden warst; denn hättest du nicht ganz besonderes Wohlgefallen an ihm gehabt, so würdest du es den übrigen Athenern nicht so sichtlich ın der Vorliebe für das Verweilen in der Stadt zuvorgetan haben. Bist du doch niemals aus der Stadt herausge- kommen, weder zum Besuch eines auswärtigen Festspiels außer einmal nach dem Isthmos noch nach irgendeinem

. anderen Ziele, ausgenommen die Teilnahme an Feldzügen; -

auch sonst hast du es nicht wie andere Menschen gemacht, hast niemals eine Reise unternommen, hast niemals Ver- langen getragen andere Städte, andere Gesetze kennen zu lernen, sondern an uns und unserer Stadt Genüge gehabt. So entschieden gabst du uns den Vorzug und ließt erkennen, daß dein bürgerliches Leben mit uns (den Gesetzen) in Ein- klang stehen würde. Neben anderem hast du hier auch deine Familie gegründet, zum Zeichen, daß du an dem Staate dein Wohlgefallen hast. Zudem stand es dir ja noch im Verlaufe des Prozesses frei, den Antrag auf Verbannung zu stellen, wenn anders du wolltest; so hättest du damals mit Einwilligung des Staates tun können, was du jetzt : %-

100 Platon.

im Widerspruch zu seinem Willen beabsichtigst. Damals gabst du dir das Ansehen, als machte es dir nichts aus, wenn du sterben müßtest, gabst vielmehr, wie du er- klärtest, dem Tode den Vorzug vor der Verbannung. Jetzt aber achtest du dieser Worte nicht mehr und kehrst dich auch nicht, an uns, die Gesetze; denn du gehst dar- auf aus, uns zunichte zu machen, und handelst nicht anders wie der nichtswürdigste Sklave: du versuchst da- vonzulaufen im Widerspruch mit den Verträgen und dem Übereinkommen, nach welchem du als Bürger zu leben gelobt hast. Fürs erste also beantworte uns eben diese Frage, ob wir recht haben mit unserer Behauptung, du habest in der Tat und nicht bloß in Worten gelobt, dein bürgerliches Leben würde mit uns (den Gesetzen) im Einklang stehen, oder ob unrecht.“

Wie soll unsere Antwort darauf lauten, Kriton? Doch wohl zustimmend?

Kriton. Notwendig, mein Sokrates.

Sokrates. „Kein Zweifel also,“ so würden sie

fortfahren „du vergehst dich gegen die Verträge,

die du mit uns selbst abgeschlossen hast, und gegen deine Versprechungen, die du doch abgegeben hast ohne durch Zwang oder Arglist beeinflußt zu sein. Auch bist du nicht genötigt worden dich in kurzer Zeit zu entschließen, sondern siebenzig Jahre liegen hinter dir, in denen dir die Entschließung über dein Fortgehen freistand, wenn du mit uns nicht zufrieden warst und dir die Ab- machungen nicht gerecht erschienen. Du aber hast weder Lakedaimon noch Kreta?®) vorgezogen, die du doch bei jeder Gelegenheit als wohlgeordnete Staaten rühmst, auch keine der anderen hellenischen oder nichthellenischen Städte, sondern hast dich noch nicht einmal so lange von Athen wegbegeben wie die Lahmen und Blinden und son- stigen Krüppel. So ersichtlich hob sich dein Wohlgefallen an der Stadt und an uns, den Gesetzen, von dem der übrigen Athener 40.322) Und nun willst du trotzdem der Übereinkunft nicht treubleiben? Nimm Vernunft an, So-

Kriton. 101

krates, und folge uns! Dann wirst du dich wenigstens nicht lächerlich machen durch dein Entweichen aus der Stadt.“

15. „Denn überlege doch: wenn du dein Wort brichst und gegen deine Verpflichtungen verstößt, was wird dann daraus Gutes erwachsen für dich und deine Freunde? Denn so viel ist doch wenigstens ziemlich sicher, dab sie sich der Gefahr aussetzen auch selbst verbannt zu werden und auf ihre Vaterstadt verzichten zu müssen oder um ihr Vermögen zu kommen. Was dich selbst aber anlangt, so wird man, wenn du fürs erste eine der nächst- liegenden Städte aufsuchst, Theben oder Megara beides wohlverwaltete Gemeinwesen —, dort einen Feind ihrer Staatsverfassung in dir zu sehen glauben, und alle, die ein Herz für ihre Vaterstadt haben, werden dich mit Mißtrauen betrachten und ihre Gesetze durch dich ge- fährdet glauben.» So wirst du deinen hiesigen Richtern nur zu größerem Ansehen verhelfen und ihr Urteil wird sonach den Anschein völliger Gerechtigkeit haben. Denn wer die Gesetze untergräbt, der wird entschieden auch dafür gelten, ein Verführer unverständiger Jünglinge zu sein. Wirst du also die wohlverwalteten Staaten und die von bester Ordnungsliebe beseelten Bürger meiden wollen? Und wirst du, wenn du es so hältst, das Leben auch noch für lebenswert halten? Oder willst du dich ihnen doch nähern und schamlos genug sein, dich mit ihnen in Unter- haltungen einzulassen aber in was für Unterhaltungen denn, Sokrates? etwa solche wie hier, daß an Wert für die Menschen nichts über Tugend und Gerechtigkeit, über Ördnungsnormen und Gesetze gehe? Und glaubst du nicht, daß Sokrates da eine traurige Figur abgeben würde? Glauben wenigstens sollte man es.“

„Indes, du wirst wohl diese Gegenden meiden und dich nach Thessalien wenden, zu den Freunden des Kri- ton. Denn da geht es mehr als sonstwo wüst und zügel- ios her und vielleicht würde man dort mit Vergnügen deinen Erzählungen lauschen, wie du in lächerlicher Ver-

109 Platon.

kleidung aus dem Gefängnis entwichst, in einem um- geschlagenen Mantel oder einem Hirtenkittel oder einer anderen Umhüllung, deren sich Durchgänger zu bedienen pflegen, und mit unkenntlich gemachtem Gesicht. Daß aber du in einem Alter, das nur noch für kurze Lebens- zeit Aussicht bietet, dich nicht schämtest dich so gierig ans Leben zu klammern mit Übertretung der heiligsten Gesetze wirst du das etwa von niemandem zu hören bekommen? Kann wohl sein! für den Fall nämlich, daß du niemanden durch Beleidigung reizest; im anderen Falle aber, Sokrates, wirst du genug zu hören bekommen was du mit Entrüstung von dir weisen wirst. So wirst du dir denn dein Leben sichern durch Kriecherei vor allen Menschen und durch untertänigen Gehorsam. Und dein Tun und Treiben in Thessalien, was wird es anderes sein als üppiges Schmausen, als ob du als geladener Gast dich von der Heimat dahin begeben hättest? Die schönen Reden aber über Gerechtigkeit und über die Tugend über- haupt, wo werden sie bleiben?“

„Doch, nicht zu vergessen, du willst ja um deiner Kinder willen leben, um sie zu erziehen und heranzu- bilden. Wie? Nach Thessalien willst du sie bringen, um sie zu erziehen und zu bilden, willst sie also zu Fremd- lingen machen, um sie auch noch mit dieser Wohltat zu beglücken? Oder .nein; denn das kommt wohl schwer- lich in Betracht. Werden sie aber hier erzogen, wird sich dann ihre Erziehung und Bildung besser gestalten, weil du überhaupt noch lebst ohne doch mit ihnen zu- sammen zu sein? Deine Freunde werden ja doch für sie sorgen. Werden sie etwa dieser Pflicht genügen, wenn du nach Thessalien wanderst, wenn aber nach dem Hades, dann nicht? Sie, die sich für deine. Freunde ausgeben, müßten doch keinen Pfifferling wert sein, wenn davon überhaupt die Rede sein könnte.“

16. „Nein, Sokrates, folge uns, deinen Erziehern. Achte weder Kinder noch das Leben noch sonst etwas höher als das Recht. Dann kannst du, wenn du nach

54 |

Kriton. 103

dem Hades kommst, dich auf alles dies berufen zur Recht- fertigung vor den dortigen Herrschern. Denn weder hier auf Erden kann es dir oder sonst einem der Deinigen Vorteil bringen oder als gerecht oder gottesfürchtig er- scheinen, wenn du dein Vorhaben (der Flucht) weiter verfolgst, noch wird es dir nach deiner Ankunft im Jenseits dort Vorteil bringen. Nein, denn jetzt schei- dest du, wenn du scheidest, von hier als ein Mensch, dem Unrecht geschehen, nicht durch uns, die Gesetze, sondern durch Menschen. Scheidest du aber nach Ver- übung so schmählicher Wiedervergeltung und Rache, nach Bruch der von dir gegebenen Zusagen und des mit uns geschlossenen Übereinkommens, nach Vollführung von Freveltaten gegen diejenigen, die es am wenigsten ver- dienten, gegen deine Freunde, gegen dein Vaterland und gegen uns, so werden nicht nur wir, solange du noch auf Erden weilst, dir zürnen, sondern auch unsere dortigen Brüder, die Gesetze im Hades, werden dich nicht freund- lich empfangen; denn sie haben Kunde davon, daß du, soviel an dir lag, auf unsere Vernichtung hingearbeitet hast. Laß dich also nicht von Kriton verleiten seinem Rate vor dem unseren den Vorzug zu geben.“

17. Solches, mein lieber Freund Kriton, des kannst du gewiß sein, glaube ich zu hören, etwa so wie die kory- bantisch Verzückten?®) die Flöten zu hören glauben. Auch in mir klingt der Schall dieser Reden und läßt mich nichts anderes hören. Sei also versichert, daß, was meine jetzige Ansicht betrifft, jedes Wort der Entgeg- nung von dir in den Wind gesprochen sein wird. Gleich- wohl laß dich vernehmen, wenn du ‚glaubst noch etwas erreichen zu können.

Kriton. Nein, mein Sokrates, ich habe. nichts mehr zu sagen.

Sokrates. So sei es denn abgetan, mein Kriton, und laß uns demgemäß handeln, da uns der Gott so leitet.

Anmerkungen

zum Kriton.

S. 83. Kriton, ein braver Bürger und wohlhabender Land- wirt, war dem Sokrates als Alters- und Demengenosse (vgl. 33D ἡλικιώτης καὶ δημότης) innig befreundet und bereit kein Opfer zu scheuen, um ihn vor dem Tode zu retten. Von Gesinnung durch und durch lauter und edel, zählte er seiner geistigen Begabung nach doch nur zu den Durchschnittsmenschen, wie er denn in unserem Dialog sich geradezu als Vertreter der Volksstimme darstellt. Dem Ernst der Lage gemäß, die hier den Gegenstand des Ge- spräches bildet, zeigen die Ausführungen des Sokrates hier nichts von jener ironischen Färbung, an der es im Dialog Euthydemos gegen ihn nicht fehlt. Er hält sich streng an die Sache, läßt aber doch den Leser nicht im unklaren über den Abstand zwischen der eigenen Geisteshoheit und dem geistigen Niveau seines Freundes. Der Leser des Platon kennt den Kriton auch noch aus der Schluß- partie des Phaidon, wo er sich wie in unserem Dialog nicht genug tun kann in liebender Fürsorge für seinen Freund.

2) S. 83. Die auch am Tage dunkele Gefängniszelle läßt Nacht und Tag nicht sicher unterscheiden. Vgl. Phaed. 116DE., !

8) S. 84. Nähere Auskunft darüber gibt der Phaidon (58A): „Es ist das Schiff, in dem der Überlieferung zufolge Theseus einst die sieben Opferpaare nach Kreta brachte und glücklich mit ihnen wieder heimkehrte. Damals hatten die Athener für den Fall, daß die Opfer gerettet würden, dem Apollo gelobt, jedes Jahr eine Fest- gesandtschaft nach Delos zu schicken.“ Das weitere darüber siehe daselbst.

*) 5. 85. Denn er hat den Traum „eben erst“ gehabt, würde also darum gekommen sein, wenn er frühzeitiger aufgeweckt wor- den wäre.

5) S. 85. Hom. 1]. 9, 363.

6) S. 85. Die Übersetzung folgt der jetzt üblichen Text- gestaltung, nach der für das überlieferte σοῦ eingesetzt wird τοῦ und das δὲ nach Zu gestrichen wird. Ein minder gewaltsamer Vorsck!ag wäre vielleicht: ἀλλ᾽ ἄχαρι (für ἀλλὰ χωρὶς) μὲν σοῦ κ. τ. Δ. mit Bei- behaltung des δὲ nach ἔτι.

?) 5. 85. Hierzu vgl. Einleitung S. 76f. und Gess. 646E.

8) S. 86. Nach dem bekannten Satze des Aristoteles τῶν ἐναντίων αὐτὴ ἐπιστήμη, der übrigens auch schon dem Platon ge- läufig ist z. B. Phaed. 97D. Vgl. meine Plat. Aufs. S. 204 Anm.

9) 5, 87. Simmias und Kebes sind die aus dem Phaidon wohlbekannten Verehrer des Sokrates, die, durch den Pythagoreer Philolaos dialektisch trefflich geschult, mit Sokrates in regem Ver- kehr standen.

Anmerkungen. 105

10) 8, 87. So dürfte das ἀποκάμῃς der Hss. zu verstehen sein, das von manchen Herausgebern ohne Not in ἀποκνήσῃς umgeändert worden ist.

1) 8. 87. Nämlich infolge des Entschlusses zu sterben.

12) S. 88. Man hätte schon vor Beginn der Verhandlung die Flucht bewerkstelligen können, die dann sogar gesetzlich ver- stattet war.

13) δ, 88. Daß selbst die letzte Möglichkeit des Entweichens unbenutzt bleiben soll, erscheint dem Kriton als Gipfel der Ver- säumnis, als eine unverzeihliche Herausforderung des Spottes.

1) 5, 92. Vgl. hierzu meine Plat. Aufs, 147 ff., besonders 156f.

15) $S. 93. In der Auffassung und Wiedergabe dieser schwie- rigen und vielleicht nicht richtig überlieferten Stelle bin ich Schleier- macher gefolgt.

1) S, 93. Die Worte scheinen einer auf 46B (τοὺς λόγους, οὗς ἐν τῷ ἔμπροσϑεν ἔλεγον, οὐ δύναμαι νῦν ἐκβαλεῖν) bezüglichen Rand- bemerkung ihren Ursprung zu verdanken, denn eine bestimmte Be- ziehung dafür findet sich in dem Vorausliegenden nicht.

1) S, 94. Ahnlich Gorg. 508E, wenn auch nicht so ausdrück- lich wie hier.

18) S. 94. Dazu vgl. Einleitung S. 79f.

190) S. 96. Hiernach würden also Staat und Gesetze dem So- krates gegenüber als Beleidiger erscheinen. Aber selbst wenn man dies gelten ließe, so würde doch, dem Satze von der Unzulässigkeit der Wiedervergeltung zufolge, eine Rache an den Gesetzen durch Zuwiderhandeln gegen ihr Gebot unstatthaft sein.

20) S. 96. Eine zusammenhängende Ehegesetzgebung gab es in Athen nicht, wohl aber mancherlei Bestimmungen über Rechts- gültigkeit der Ehen und über die rechtliche Stellung der Kinder,

21) S. 96. Die Erziehung war in Athen grundsätzlich Privat- sache. Doch wurde die Verpflichtung der Kinder gegen die Eltern in wichtigen Punkten, z. B. was Unterstützung in Alter und Krank- heit durch die Kinder betrifft, gesetzlich davon abhängig gemacht, daß die Eltern den Kindern eine ordentliche Erziehung gegeben hatten.

39) 5, 96. Zu Anfang eines jeden Jahres war der Volksver- sammlung Gelegenheit gegeben zu einer Revision etwa anstößiger Gesetze; über die gemachten Einwendungen und Vorschläge hatte dann eine Kommission von Nomotheten zu beraten und das Weitere zu veranlassen. |

38) S. 100. Sparta und Kreta sind diejenigen Staaten, denen in den Platonischen Dialogen oft genug der Vorzug vor allen übrigen Staaten, nicht am wenigsten auch vor Athen, eingeräumt wird.

3) S. 100. Die folgenden Worte δῆλον “ὅτε τίνι γὰρ ἂν πόλις ἀρέσκοι ἄνευ τούτων sind wohl mit Stephanus und Schanz als ein Glossem zu streichen. In der Übersetzung habe ich sie übergangen.

25) S. 103. Den korybantisch Verzückten klingt die gehörte Musik noch lange in ihrem Inneren nach. So sind dem Sokrates die Worte der Gesetze noch lange in seiner Seele vernehmbar.

Register

zu

Apologie und Kriton.

A.

Absichtliches Unrecht 37.

Achilles 42,

Adeimantos, Bruder Platons 51.

Aiakos 62 (Totenrichter).

Aiantodoros 5i (Freund des So- krates).

Aias, Telamonier 62.

Amphipolis 48 (Schlacht bei A.).

Anaxagoras 39.

Angeber, zünftige (Sykophanten) 86

Anklage 26f. (die ungerichtliche), 34ff. (die gerichtliche).

Ankläger, die früheren 24ff. Die jetzigen 34ff.

Antiochis, attische Phyle 48.

Antiphon, der Kephisier 51.

Anytos 11ff. 24. 34. 36. 41. 44. 45. 46. 51. 54.

Apollodoros 51 (anwesend im Ge- richt). 58.

Apollon s. Delphi. |

Apologie, Xenophontische 2ff,

Arginusenschlacht 48.

Ariston 51 (Platons Vater).

Aristophanes 26 (Wolken).

Arzt 90.

Aschines 51 (der Sokratiker).

Atheismus, angeblicher des So- krates 25. 33. 38ff. 54.

Athen, Athener 36 (als Erzieher der Jugend). 44. 92f. 99.

Auswanderung aus Athen 98 (den Bürgern erlaubt).

B. Bruder, der, des Chairephon 29.

C©. Chairephon 29.

D. Dämonen, Dämonentum 40f. Dämonium des Sokr. 47. 60f. Delion in Böotien 43 (Schlacht). Delos, Insel 84. Delphi 29 (der delphische Gott). Demodokos 51 (Vater des Paralos). Dichter 31f. (von Sokr. geprüft). Dreißig (die Tyrannen) 49.

E. Eheglück 87. Ehre 59. Einbildung 43 (in bezug auf Wis- sen).

Elfmänner 56. Elis 27 (Heimat des Hippias). Eltern und Vaterland 97£.

Epigenes 51 (Sohn des Antiphon).

Esel 41. Euenos aus Paros 27f. (Sopbist).

F

Flötenspieler 40. 103.

Freiwilliges Unrecht 37. 93.

Furcht vor dem Urteil der großen Menge 85ft.

σι.

Gefängniswärter 88.

Gehorsam 43.

Gerechtigkeit 91.

Gerichtliche Lärmszenen 24. 29. 40. 45. Rührszenen 5if. 58f. Gerichtliche Urteile bleiben in Kraft 96.

Gesetze (νόμοι) 35 (als Verbesserer der Jugend). 53 (Richtschnur für die Richter). 95ff. (Personi- fikation der G.). 96 (Ehe und Erziehung betreffende G.).

Gleichesmit Gleichem erwidern 97,

Gorgias 27 (aus Leontini).

Ρ | |

Register.

(tott 29 ff. (der delphische). 43. 44,

Gut und Schlecht 90. 92 (Einheit des Guten, Schönen und Ge- rechten), 46.

(Gymnastik 90,

Hades 43. 103.

Handwerker 32 (von Sokr. geprüft). Häßlich und Schön 90.

Heroen 62.

Hesiod 62.

Hippias, der Sophist, aus Elis 27. Hipponikos 27 (Vater des Kallias). Homer 62.

Homerzitate 42. 52. 85.

ι ὦ).

Induktion 36. 40. Jugend, Jünglinge33 ff. (Verhältnis zu Sokr.).

K.

Kallias, Sohn des Hipponikos 27.

Kebes 87 (aus Theben).

Keos, Insel 27 (Heimat des Pro- dikos).

Kindererziehung 87. 102.

Komödiendichter 25 (als Verleum- der des Sokr.).

Körper und Seele 91.

Korybantenverzückung 103.

Kreta 100.

Kritobulos, Sohn des Kriton 51. 58.

Kriton 51. 58. 83ff. (Mitunter- redner im Dialog Kriton).

L. Lakedaimon 100. Lärmszenen s. Gericht. Leben und Tod 42 ff. (im Verhältnis zu Ehre und Pflicht). 91. 92. Leon aus Salamis 49. Leontini 27. Literatur 17ff. Lykon, Ankläger 12. 34. 54. Lysanias, der Sphettier 51.

M

Markt in Athen 24. 39. Massenmenschen 92.

107

Maulesel 41.

Merara 101.

Meletos 11. 26. 34ff. 46. 51. 54, 56.

Menge, die große 27. 28. 36. 41. 48. 55. 88 ἢ,

Minos 62 (Totenrichter).

Mond 39 (ein Stein).

Musaios 62.

N.

Name, der gute 85. Nikostratos 51. Nymphen 41,

®. Odysseus 62. Olympische Sieger 55. Orakel, delphisches 29ff. 43. Orakelsänger 31. Orchestraplatz 39. Orpheus 62.

P.

Palamedes 62.

Paralos 51 (Sohn des Demodokos).

Paros, Insel 27f. (Heimat des Euenos).

Patroklos 42.

Personifikation der Gesetze 95 f

Pferd, Pferdezüchter 27. 36. 40. 41. 46.

Pflichten gegen das Vaterland und die Gesetze 9I6ff.

Phthia 85.

Platon 51 (als Zuhörer bei der Gerichtsverhandlung). 85.

Polykrates der Sophist 2 ἢ.

Potidaia 43 (Schlacht).

Prodikos 27.

Prüfungskunst des Sokrates 29

Prytaneion 5öf. (Speisung im P.)

Pythia 29.

. BR.

Recht und Unrecht 37. 43. 48. 90. 92.

Reichtum 45 (und Tugend).

Rhadamanthys 62 (Totenrichter).

Richter, Richteramt 35f. (als an- gebliche Erzieher der Jugend). 53 (ihre wahre Pflicht).

Ruf, der gute 52.

108

S.

Sachverständige, der 89ff. (als allein zuständiger Berater).

Salamis, Insel 49.

Scheinweisheit 99 ἢ", 48,

Schlachten 59 (geben Gelegenheit zur Lebensrettung).

Schön und Häßlich 90.

Seele und Körper 91.

Sententiöses 46 (der bessere und der schlechte Mensch). 59 (Tod und Schlechtigkeit). 63 (Gott verläßt den Gerechten nicht). 92 (lebenswertes Leben).

Simmias aus Theben 87.

Sisyphos 62.

Sklavenstreiche 100.

Sokrates, Selbstcharakteristik 23f. (als Redner). 27 (als angeblicher Lehrer, vgl.49f.) 58. 28ff. (seine Weisheit). 30ff. (Prüfungsver- fahren). 33 (Atheismus, vgl. 25. 38f. 54). 33ff. (seine jungen Zuhörer). 43f. (Verächter der Todesfurcht, vgl. 49). 46 (ist ein Geschenk Gottes an Athen). 47 (Vernachlässigung seines Haus- wesens. Armut, vgl. 57f.). 47 (Verhalten zum Staat und den öffentlichen Angelegenheiten, vgl. 55). 47 (Dämonium. 60). 48 (Vorkämpfer des Rechts). 5iff. (stolzes Verhalten gegen die Richter, keinFlehen um Gnade). δῦ. (seine Gegenanträge). 57 (Abweisung der Auswanderung). 85 (sein Traum im Gefängnis), 88 ff. (sein Urteil über die öffent- liche Meinung). 96 (der geborene Frager und Antworter). 99 (Hei- matliebe). 101 ἢ, (Themata seiner Unterhaltungen). 102 (Verhält- nis zu seinen Kindern).

Sonne 39 (ein Stein).

Staatsmänner 30f. (von Sokr, ge- prüft).

Sunion, Vorgebirge 84.

Sykophanten 86 s. Angeber.

Apologie und Kriton.

τ.

Theages 51 (Bruder des Paralos).

Theben 87. 101.

Theodotos 51 (Bruder des Niko- stratos).

Theozotides 51 (Vater des Niko- stratos).

Thessalien, Thessalier 87. 10] ἢ.

Thetis 42 (Mutter des Achilles).

Tod 43ff. (vielleicht das größte Glück).

Todesfurcht 43. 52f. 59.

Triptolemos 62 (Totenrichter).

Troja 42. 62.

Tugend 45 (und Reichtum).

Turnmeister 90.

τ.

Überführungskunst 33.

Unsterblichkeit 15f. 43. 53.

Unrechttun unter keinen Umstän- den erlaubt 93f. 8, Unrecht, Freiwillig.

Unwissenheit 43.

Urteil der großen Menge 86ff.

Υ.

Vaterland 97ff. (Pflichten gegen dasselbe).

Verbannung 99 (möglicher Antrag darauf).

Verfehlungen 37f. (absichtliche und unabsichtliche).

Vergleiche 25 (Kampf gegen Schatten). 27 (Füllen, Kälber). 36 (Pferde). 46 (Roß, Sporm). 47 (Vater). 100 (Krüppel). 108 (Korybanten).

Verkleidung 102 (Fluchtmittel)).

Verleumdungen s. Anklagen.

Verurteilung des Sokrates 54.

ww.

Wahrsager, Wahrsagung 31. 59f. Waisenstand 87.

Wechslertische 24.

Weisheit, wahre und falsche 29f.

-| Weltordnung, göttliche 46.

Druck von Ο. Grumbach in Leipzig.

PLAIONS DIALOG

GORGIAS

ÜBERSETZT UND ERLÄUTERT

VON

ΑΘ APR BL4

ZWEITE DURCHGESEHENE AUFLAGE

DER PHILOSOPHISCHEN BIBLIOTHEK BAND 148 LEIPZIG 1922 / VERLAG VON FELIX MEINER

Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechta, vorbehalten

Einleitung.

Kein Geringerer als Aristoteles ist uns Gewährsmann für ein Geschichtchen, dem zufolge ein korinthischer Land- ' mann, begeistert durch die Lektüre des platonischen Gorgias, seinen Acker und Weinberg habe fahren lassen, dem Schülerkreis des Platon beigetreten sei und fortan seine Seele zum Saatfeld für dessen Lehren gemacht habet). Der äußeren Beglaubigung dieser Erzählung steht ihre innere Wahrscheinlichkeit zur Seite. Denn in der Tat wird jeder nicht völlig unempfängliche Leser des Dialogs etwas von dieser aufrüttelnden, das Gewissen weckenden Kraft desselben an sich verspüren. Selbst in dem stumpfe- ren Gemüt wird das Gespräch wenigstens einen Stachel, einen gewissen Anreiz zur Besinnung auf unser besseres Ich zurücklassen. Der Dialog bekämpft die landläufige Rhetorik als hauptsächlichsten Träger des krankhaften und.

: verblendeten Zeitgeistes, den von seinen Fehlern zu heilen ᾿ς und zu einer gesunden Lebensansicht zu bekehren das eigentliche Absehen des Werkes ist. Wenn das Gespräch an mehreren Stellen (503 Aff. 517 A) den Gedanken zum Ausdruck bringt, daß mit Verurteilung der tatsächlich im Schwange gehenden Rhetorik nicht der Stab über alle Rhetorik überhaupt gebrochen sei, sondern daß es auch eine gesunde und echte Rhetorik geben könne, die nur eben tatsächlich noch nicht vorhanden sei, so könnte man sich versucht fühlen, in dem Dialog selbst so etwas wie . ein Beispiel dieser echten Rhetorik zu sehen. Zwar scheint

1) S. Arist. p. 1484b 15ff. der ΠΣ Ν᾽ ὙΊΩΣ θῖν und Frg. 64 der Teubn. Ausg. ed. Rose.

Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Rd. 148. 1

2 Einleitung.

die dialogische Form dies zu verbieten; doch sagt schon Sokrates selbst halb im Ernst halb im Scherz, daß er sich beinahe wie ein Volksreäner vorkomme, da er, die Schran- ken des gewöhnlichen Dialogs durchbrechend, sich in langen Reden ergangen habe (465E. 519DE, vgl. auch 4820). ‚Was aber den Inhalt des Gespräches anlangt, so entspricht dieser von Anfang bis zu Ende in vollstem Maße den An- forderungen, die Sokrates als maßgebend für eine echte Rhetorik andeutet. Eine Verfechterin der sittlichen Be- stimmung des Menschen, eine Warnerin vor zu begehen- dem, eine Rächerin von begangenem Unrecht soll sie sein. Nach dieser Richtung hin uns lebhafte Antriebe zu geben ist ein unleugbares Verdienst des Werkes. Es gibt kein anderes platonisches Gespräch, das die gebietende Macht der sittlichen Ideen uns so scharf zum Bewußtsein brächte, keines, das uns so eindringlich ins Gewissen redete wie dies. Die siegreiche Durchführung der Sätze, daß Unrecht leiden besser sei als Unrecht tun und daß die Lust nicht zusammenfalle mit dem Guten, weckt in jedem das deut- liche Gefühl einer inneren Nötigung zur Anerkennung eines festen sittlichen Kerns der menschlichen Natur. Daß in dieser ethischen Wendung des Dialogs der eigentliche Zweck des Ganzen liegt, ist jetzt wohl allge- mein anerkannt. Allein erst allmählich, besonders wohl durch Schleiermacher, ist diese Erkenntnis durchge- drungen, während Cousin, Ast, Stallbaum und andere das eigentliche Thema des Gesprächs noch in der Bekämpfung der Rhetorik sahen. Bei der Rolle, welche die Rhetorik darin spielt, indem sie den ersten Teil ganz, den zweiten auf eine weite Strecke hin beherrscht, ist das begreiflich. Schon im Altertum gingen die Ansichten darüber ausein- ander. „Über den Zweck des Dialogs,“ sagt Olympiodor in seinem Kommentar (ed. A. Jahn in Jahns Archiv Suppl. 1848. XIV, p. 109), „dachten die einen so, die anderen so. Die einen nämlich behaupten, das.eigentliche Thema des Gesprächs sei die Rhetorik; darum geben sie ihm den Titel ‚Gorgias oder über die Rhetorik‘. Mit Un-

Einleitung 3

recht; denn sie übertragen das charakteristische Merkmal eines Teiles auf das Ganze; aus der Unterredung nämlich des Gorgias entlehnten sie den Zweck für das Ganze. ΟΠ Andere wieder behaupten, das Gespräch habe die Ge- rechtigkeit und Ungerechtigkeit zum Thema in dem Sinn, daß die Gerechten glücklich seien, die Ungerechten da- gegen unglücklich und elend, und je ungerechter einer sei, um so größer sei das Elend, dem er verfalle, und je länger er in der Ungerechtigkeit verharre, um 50 unglück- licher sei er, und die Unsterblichkeit häufe auf ihn voll- ends das äußerste Maß des Elends. Auch diese entnehmen den Zweck des Ganzen nur aus einem Teil, nämlich aus der Unterredung mit dem Polos. Noch andere behaupten, die Endabsicht des Dialogs sei die Betrachtung über die Gottheit. Auch diese nehmen nur auf einen Teil Rücksicht, nämlich auf den Mythos, in welchem, wie leicht zu sehen, der Gottheit gedacht wird. Diese Ansicht ist ganz be- sonders befremdend. Wir dagegen behaupten, daß der Dialog seine Endabsicht in der Erörterung der ethischen Grundwahrheiten habe, deren Anerkennung uns den Weg zeigt, auf dem wir zu einem glücklichen Leben in Ge- meinschaft mit unseren Mitbürgern gelangen können.“

Hier findet sich mit einer (abgesehen von der etwas zu niedrigen Einschätzung der zweiten Ansicht, die im - Grunde mit der eigenen Ansicht Olympiodors auf eins hinausläuft) sehr verständigen Kritik zugleich die richtige Ansicht über das Ganze verbunden. Denn die wahre und einzig würdige Lebensansicht und Lebensaufgabe über- zeugend zu kennzeichnen im Gegensatz zu den alle Sitt- lichkeit untergrabenden Tendenzen des herrschenden Zeit- geistes das ist die bei näherem Eindringen in das Werk unverkennbare Absicht des Autors, und nur insofern als in der Rhetorik eigentlich das ganze Sündenregister der Zeit beschlossen lag, wird sie zum Gegenstand so ein- gehender und lebhafter Erörterungen gemacht. Es ist also das höchste praktische Problem selbst, es ist die Frage nach dem eigentlichen Zweck unseres Lebens,

| μ᾿

4 | Einleitung.

worauf der Dialog hinausläuft. Nicht die Rhetorik, das Idol der Zeit, sondern die auf dem Grunde der Philosophie zu erlangende Sittlichkeit ist das einzig würdige Lebens- ziel. So lautet die wider alle gegnerischen Argumente zum Siege geführte Antwort des Sokrates.

Der starke Eindruck, den das Werk macht, beruht zum nicht geringen Teil auf der dialogischen Form. Das persönliche Element, das in ihr liegt, kann je nach der Art, in der es gehandhabt wird, den sachlichen Argumenten eine eigenartige Verstärkung geben. In unserem Dialog hat Platon mit besonderer Kunst und entsprechendem Erfolg davon Gebrauch gemacht. Sokrates bringt erst den Gorgias, dann den Polos zu Zugeständnissen, die eine Anerkennung der moralischen Anlage und Grundstimmung des Menschen enthalten. Indem nun erst Polos hinsicht- lich des Gorgias, sodann Kailikles hinsichtlich beider Ge- nannten mit der unwidersprochenen Behauptung hervor- treten, diese Zugeständnisse seien aus Scham gemacht worden, also aus Scheu, durch Äußerung einer anderen Meinung sich zu kompromittieren, wird uns auf eine höchst eindrucksvolle Weise die Unvermeidlichkeit der Anerkennung der sittlichen Bestimmung des Menschen zu Gemüte geführt. Denn diese Scham ist für den, der von ihr beherrscht wird, der, wenn vielleicht auch unwillkommene so doch unwiderlegliche Zeuge unseres natürlichen Ehr-. gefühls, dem zufolge wir es als einen Abbruch für unsere innere Würde empfinden, wenn wir uns zu Verfechtern der Ungerechtigkeit machen. Es liegt also darin das stille Bekenntnis, daß niemand Ehre und Gerechtigkeit, disse Eckpfeiler der Sittlichkeit, verleugnen kann, ohne sich vor sich selbst und vor anderen zu erniedrigen.

Aber auch in anderer Beziehung fordert die künst- lerische Form des Werkes dazu auf, noch etwas bei ihr zu verweilen. Die Bitterkeit des Tones, in dem Platon in diesem Dialog sein Verwerfungsurteil gegen die athe- nische Demokratie und vor allem gegen ihre berühmtesten Leiter ausspricht, hat wohl zu der Meinung geführt, Platon

Einleitung, 5

habe dies Werk in besonders gereizter Stimmung ge- schrieben. Diese Bitterkeit mag ihren Grund wesentlich in den bestimmten Beziehungen des Dialogs auf das Schick- sal des Sokrates haben. An das tragische Ende seines ge- liebten Lehrers konnte Platon nicht ohne Ingrimm denken. Aber mochte sich diese Bitterkeit auch bei gegebenem Anlaß geltend machen, so beherrschte sie ihn doch keines- _ wegs völlig und störte ihn nicht in seinem geistigen Gleichgewicht. Der künstlerischen Vollendung seiner Arbeit hat sie so wenig Eintrag getan, daß wir, die Sache von dieser Seite betrachtet, eher auf eine Stimmung froher Schaffensfreudigkeit und glücklicher dichterischer Frei- heit schließen müßten als auf Verbissenheit und Be- fangenheit. Alles in diesem Werk ist hinsichtlich der Darstellungsform auf das feinste abgewogen, alles auf das genaueste und in ruhigster Erwägung berechnet, alles mit frischesten Farben gegeben. Jeder Fortschritt im Gedankengang bedeutet zugleich eine Steigerung des Inter- esses, indem die Erörterung fast unvermerkt von der mehr oder weniger zufälligen, weil nur durch die besondere Geschichte Athens bedingten Erscheinung der Rhetorik zu den ewigen Forderungen der Vernunft vordringend das eigene Lebensinteresse des Lesers auf das lebhafteste anzuregen weiß. Dieser Steigerung entspricht zugleich _ der Charakter der einander ablösenden Mitunterredner auf das beste. Der Dichter scheint hier mit dem Philosophen in ‚Wettbewerb zu treten: reddere personae scit convenientia cuique. Die Person illustriert zugleich die Sache. Gor- gias, der würdige Greis, der, kein Freund des Unrechtes, es im Grunde mit seiner vielgerühmten Kunst ganz ehrlich meint, aber dabei doch eine gewisse Naivität in Auf- fassung sittlicher Fragen nicht verleugnen kann; Polos, der junge Stürmer und Dränger, der sich alles zutraut, um bald belehrt zu werden, daß er alles nur halb erfaßt und immer zu kurz denkt, dabei in Sachen der Sittlichkeit schon einen bedenklichen Grad von Leichtfertigkeit verrät; end- lich Kallikles, der vollendete Weltmann, geistreich und

6 Einleitung.

liebenswürdig, frivol und egoistisch, sich über alle Sitt- lichkeit als über kindisches Blendwerk souverän hinweg- setzend, bei aller Umschmeichelung des Volkes doch ein ausgemachter Verächter der Menschen, soweit sie nämlich zur Masse gehören. Dabei sind alle drei dem Sokrates von Herzen zugetan und von dem Glauben durchdrungen, daß sie es bei der Empfehlung ihrer Ansicht nur wohl mit ihm meinen. Und Sokrates? Er übertrifft sich fast selbst in der Unerschöpflichkeit seiner Mittel zur Durch- setzung seines Standpunktes. Nie gereizt oder unhöflich, geht er geduldig, wenn auch nicht ohne Ironie, auf alle Einfälle und Launen seiner Mitunterredner ein und weib einen nach dem anderen matt zu setzen durch die Kraft seiner Argumente und das Geschick in der Art ihrer Ver- wendung. Diese Argumente selbst lassen wir hier zunächst noch auf sich beruhen. Aber welche Abwechslung hat Platon hier seinem Sokrates in den Formen der Erörte- rung zu leihen gewußt! Bald läßt er ihn in der üblichen Weise als Frager auftreten, bald wird die bestimmende Rolle des Fragers an den Partner abgetreten. Ist der Gegner des Antwortens müde, weil er seine unvermeidliche Nieder- lage voraussieht, so zeigt sich Sokrates ironisch bereit die Unterredung überhaupt fallen zu lassen das sicherste Mittel, die übrigen Anwesenden zum energischen Wider- spruch zu reizen und dadurch das verglimmende Feuer zu um so hellerer Flamme zu entfachen. Oder er nimmt zeitweise die Fortführung des Gedankenganges ganz auf sich und dies wiederum in doppelter Form: entweder in der ihm an sich wenig geläufigen Form der zusammen- hängenden Rede, oder indem er gewissermaßen zurück- fallend in seine Gewohnheit die eigene längere Ausein- andersetzung wieder zu einem fingierten Dialog umge- staltet, und dies in so lebhafter Weise, daß der abtrünnige Mitunterredner unversehens in die Falle geht, indem er durch das unwillkürlich gespannte Interesse sich ver- anlaßt sieht, in die Stelle des bloß fingierten Mitunter- redners einzutreten. Ja die heitere, mit den Gegnern

Einleitung. | 7

spielende Laune des Sokrates steigert sich stellenweis sogar bis zum vollen Übermut (wie 480 1), so daß Kalli- kles nicht ohne Grund fragt, ob er es im Ernst meine oder im Scherz. Und doch ruht wieder über dem Ganzen der tiefste Ernst: in der Heiterkeit des Sokrates spiegelt sich nur das siegesfreudige Bewußtsein von der beglücken- den Kraft wahrhaft sittlicher Lebensauffassung wider. Gerade der oben berührte Umstand, daß es eigentlich alle Mitunterredner mit dem Sokrates ganz gut meinen, läßt die sittliche Größe des letzteren um so leuchtender hervortreten: er wünscht und sucht keine Rettung aus etwaiger Gefahr durch andere als dem Geiste strengster Sittlichkeit entsprechende Mittel.

Man hat den Gorgias mehrfach geradezu mit einem Drama verglichen und diese Vergleichung im einzelnen durchzuführen gesucht. Wie wenig angebracht ein so durchgeführter Parallelismus ist, hat schon Bonitz in seiner trefflichen Abhandlung über unseren Dialog dar- getan. Aber etwas von dramatischer Wirkung wird man dem Werke nicht absprechen können. Der Dialog ent- läßt uns wie die echte Tragödie mit dem lebhaften Gefühl von der Überlegenheit des menschlichen Geistes über alle ‚Widerstände und Hemmnisse des äußeren Lebens.

Diese künstlerische Seite des Werkes hilft auch dazu, einen die kraftvolle Haltung des Ganzen einigermaßen beeinträchtigenden Zug etwas weniger fühlbar zu machen. So glänzend nämlich auch der Sieg ist, den die Sache der Philosophie davonträgt, so ist dieser Sieg doch nur. ein theoretischer. Nach der praktischen Seite hin läßt er uns unbefriedist. Denn er ist verknüpft mit dem Verzicht auf jede Beteiligung am öffentlichen Leben. Mag sich Sokrates auch (521D) den einzig wahren Staats- mann nennen, er steht mit seinen Schülern nach dem hier entwickelten Programm doch abseits von der großen Bühne des Lebens, wie im Schmollwinkel. Seine staatsmännische Rolle hat mit der gegenwärtigen Welt nichts gemein. „Ich gehöre nicht zu den Staatsmännern,‘“ so läßt er sich

S Einleitung.

(473E), in ganz anderem Sinne als soeben, über sich selbst vernehmen. Eine tiefe Kluft liegt zwischen ihm und dem Staate. „Du siehst doch,‘ sagt er zu Kallikles (500C), „daß sich unsere Unterredung um eine Frage dreht, die jeder auch nur einigermaßen einsichtige Mensch als die aller- wichtigste betrachtet, nämlich die, welches die richtige Lebensweise ist, ob die, zu der du mich aufforderst, dem eigentlichen Mannesberuf, der darin besteht, daß man vor dem Volke redet und die Rednerkunst übt und sich in den staatlichen Geschäften betätigt, wie ihr es jetzt tut, oder das der Philosophie gewidmete Leben, und wodurch sich dieses von jenem unterscheidet.“ Dies scharfe Ent- weder Oder wirft Staat und Philosophie völlig ausein- ander. Der auf das Äußerste zugespitzte Gegensatz zwi- schen Rhetorik und Philosophie führt unausbleiblich zur Unnatur und Phantastik. Man glaubt sich bei diesen Ausführungen aus aller bürgerlichen Ordnung überhaupt herausgehoben. Auf friedlichem Wege zu seinem Recht zu gelangen scheint völlig ausgeschlossen. Gegen das Unrechtleiden gibt es (509Eff.) keinen anderen Schutz als Umpanzerung mit möglichst großer persönlicher Macht. Die Rhetorik ist im Grunde Negation jeder staatlichen Ordnung. An die Stelle des Staates tritt das bellum omnium contra ommes. Mit diesem Pseudostaat hat die Philosophie nicht die mindeste Gemeinschaft.

Daß die Philosophie, wenn sie für das Öffentliche Leben wirksam werden soll, doch irgend einmal eingreifen müsse in diesen Sündenpfuhl, ist ein Gedanke, der nur mittelbar insofern hervortritt, als Kallikles (4860) den Sokrates zur Beteiligung am Staatsleben auffordert, eine Aufforderung, die Sokrates in eingehender Ausführung abweist. Wenn er nachträglich (521A. 521E) durch den Vergleich mit dem Arzte, der unter Kindern, die er be- handelt, durch den Koch angeklagt wird, sein Verhält- nis zum öffentlichen Leben doch in etwas anderem Lichte erscheinen läßt, so geschieht das eben nur im Bilde. Tatsächlich kehrt dieser platonische Sokrates dem Staate

Einleitung, . Ω

den Rücken. Der wirkliche Sokrates dachte sehr viel anders darüber. Er sah, wie Xenophon (Mem. I, 6, 15) be- richtet, seine Aufgabe gerade darin, möglichst viele Schüler für den Staatsdienst heranzubilden. Er sah in : dem bestehenden Staate nicht die Negation aller recht- lichen Ordnung, sondern, prinzipiell wenigstens, den Ver- treter der bürgerlichen Ordnung. Er glaubt an einen anderen Schutz gegen das Unrechtleiden als der platonische Sokrates. Bei Xenophon (Mem. II, 9, 1ff.) gibt er dem Kriton, der viel unter ungerechten Verfolgungen zu leiden hatte, den gut bürgerlichen Rat, sich an den Archedemos, einen des Rechtes kundigen braven Mann zu wenden, ein Rat, der den besten Erfolg hatte.

Platon treibt hier wohl bewußt die Sache auf die äußerste Spitze, wie dies bei Kontrastierung gegnerischer Standpunkte zu geschehen pflegt. Das Bedürfnis einer Versöhnung zwischen Staat und Philosophie hat er natür- lich empfunden und die Synthese in der Republik voll- zogen, wenn auch nicht für die Wirklichkeit sondern für den Gedanken. In unserem Dialog aber stehen sich Philosophie und Staat anscheinend völlig unversöhnt und unversöhnbar gegenüber. Aber fallen sie theoretisch auch ganz auseinander, so wirkt doch die künstlerische Form, die Platon dem Ganzen gegeben, etwas mildernd und ab- schwächend auf diesen Gegensatz. Indem nämlich Platon - . im Bilde uns einige Hauptvertreter der herrschenden Tages- strömungen in lebhaftem Gedankenaustausche mit Sokrates vorführt, läßt er die kleine, prinzipiell abseits stehende Philosophengruppe doch in gewisser Weise in das Getriebe des öffentlichen Lebens eingreifen und stellt so wenigstens eine Art idealen Zusammenhangs her.

In wie hohem Grade Platon in diesem Dialoge Künst- ler und Dichter, in wie geringem Grade dagegen Historiker sein will, zeigt die souveräne Art, wie er mit den Zeit- verhältnissen umspringt. Die gelegentlichen geschicht- lichen Anspielungen, die bestimmend sein könnten für die Zeit, in der man sich das Gespräch gehalten denken

10 Einleitung.

soll, lassen uns hin und her schwanken über einen Zeit- raum von etwa zwanzig Jahren. Weist uns die Er- wähnung des kürzlich erfolgten Todes des Perikles auf die Zeit etwa der ersten Anwesenheit des Gorgias in Athen um 427 v. Chr. hin, so würde anderseits, wollten wir die Sache ernst nehmen, der bestimmte Hinweis auf die Prytanie des Sokrates jede Ansetzung des Gespräches vor dem Jahre 406 v. Chr. strengstens verbieten. Dies nur einer der chronologischen Widersprüche, die der Dialog zeigt; sie sämtlich aufzuführen, lohnt nicht. Platon hat offenbar mit vollem Bewußtsein sich in diesem Punkte die größte poetische Freiheit gewahrt. Es genügt dies einfach fest- zustellen.

Schwieriger gestaltet sich die Beantwortung der Frage nach der Zeit der Abfassung des Dialogs selbst. War man früher unter Berufung namentlich auf die schonungs- lose Härte des Urteils über die Führer der athenischen Demokratie geneigt das Werk möglichst nahe an den Tod des Sokrates heranzurücken, so hat seit einiger Zeit die vermutete Beziehung des Gespräches auf ein Pamphlet des Sophisten Polykrates, das sich der Fiktion bediente, den Anytos abermals als Ankläger des Sokrates mit einer Reihe von Beschuldigungen vorzuführen, nicht wenige Kritiker dazu geführt den Dialog eine Reihe von Jahren vom Prozeß des Sokrates abzurücken. Man ist nämlich imstande die annähernde Zeit dieses Pamphlets, von dessen Inhalt man sich aus Xenophons Memorabilien und aus einer Rede des späten Sophisten und Rhetors Libanius (Apologie des Sokrates) ein ungefähres Bild machen kann, wenigstens nach dem terminus a quo zu be- stimmen!). Es kann nämlich erst nach dem Wiederauf- bau der langen Mauern im Jahre 392 v. Chr. geschrieben worden sein, da dieser in ihm erwähnt war. Steht also der

1) Ausführliches, darüber bei Schanz in der Einleitung zu der erklärenden Ausgabe der plat. Apologie, Lpz. 1893, p. 22ff. und A. Gercke in der Einleitung zu Sauppes Ausgabe des Gorgias, Berl. 1897, p. XLIIIff.

Einleitung. 11

Gorgias damit in Zusammenhang, so wird man seine Ver- öffentlichung nicht vor 390 v. Chr. ansetzen können. Allein die Kombinationen, auf denen diese Hypothese be- ruht, sind, nicht sowohl was den mutmaßlichen Inhalt des Pamphlets als was die Beziehungen des platonischen Gor- gias darauf anlangt, nicht allem Zweifel entrückt. Eine gründliche Auseinandersetzung mit der Rhetorik als an- geblich höchster Lebensweisheit was sie in den Augen der Zeitgenossen war würde Platon wahrscheinlich auch ohne Rücksicht auf ein derartiges Pamphlet unternommen haben. Sollte dasselbe aber einigen Einfluß auf die Ent- stehung des Dialogs gehabt haben, so hat es Platon ver- standen, die Spuren des Temporären und Zufälligen zu verwischen und seinem Werk einen Gedankengehalt von dauernder Bedeutung zu geben!). Darauf kam es ihm offenbar vor allem an und das ist ihm auch gelungen, selbst nach der negativen Seite hin; denn die Rhetorik wird, wenigstens in entwickelteren Staaten, immer, auch unter gesunderen Verhältnissen als denen des damaligen Athen, selbst da, wo die öffentliche Meinung sich be- stimmt für die dAndıwn ῥητορική entschieden hat, sich in gewissen Grenzen auch noch als wirksame Waffe des mehr oder minder krassen Egoismus behaupten.

Auf alle Fälle wird man gut tun, wenn es sich um die zeitliche Einordnung des Gorgias handelt, sich auch noch nach anderen Kriterien umzusehen. Solche liegen einer- seits in dem sachlichen Verhältnis zu anderen Dialogen,

1) Auffallend bleibt eigentlich nur der bissige Ausfall gegen die berühmten Führer der athenischen Demokratie, die man als Antwort auf deren Verherrlichung durch. Polykrates auffaßt. Aber notwendig ist diese Erklärung nicht, diese Verherrlichung war in Athen ziemlich allgemein. Und man beachte doch auch einerseits die hohe Wertschätzung, welche dem Aristides (526B) zuteil wird anderseits den Umstand, daß es sich hier ausschließlich um die Frage der moralischen Besserung der Bürger durch die Staatsmänner handelt. Denn dies ist die Frage, auf die Sokrates den Kallikles festgelegt hat. Die sonstige Befähigung derselben wird ja aus- .drücklich anerkannt (517Ab). Gerade die ausgesprochenermaßen

rein ethische Wendung -der Beurteilung mußte auch an sich eine besondere Schärfe der Kritik mit sich führen:

12 Einleitung.

anderseits in den Ergebnissen der Sprachstatistik. In ersterer Hinsicht kommen namentlich der Protagoras und Menon in Betracht. Gegen den ersteren stellt sich der Gorgias rücksichtlich des Lehrgehaltes in gewissen Punkten als ein Fortschritt dar, während der Menon seinerseits wieder auf eine etwas spätere Entstehungszeit als die des Gorgias hinzudeuten scheint. Was aber die Sprachstatistik anlangt, so weist sie den Gorgias entschieden noch in die erste Periode der platonischen Schriftstellerei. Man sieht sich auf diesem Wege etwa zu demselben Resultat geführt, welches die angeblichen Beziehungen des Dialogs auf das Pamphlet des Polykrates ergeben. Dies mag jener Hypothese zur Empfehlung dienen.

Über die Art des Beweisverfahrens, das in unserem Dialog einen breiten Raum einnimmt, werden die An- merkungen das Nötige beibringen. Hier sei nur so vie] bemerkt, daß sich darin nicht wenig Spitzfindiges und Willkürliches findet, daß aber das Anfechtbare nicht so- wohl in der logischen Konsequenz der Schlußfolgerungen, wie man wohl behauptet hat, als in der Formulierung der Prämissen, also in der Materie der Urteile liegt. Aber alle Schwächen dieser Art treten doch zurück hinter der siegreichen Kraft, mit der der Grundgedanke des Ganzen von der Sittlichkeit als führender Macht des Lebens zur Anerkennung gebracht worden ist.

Inhalt und Gliederung des Gesprächs.

Einleitung. (c.1.2. 447 A—448D).

Sokrates, gewillt einen Vortrag des Gorgias anzuhören. den dieser in einer Halle hält, ist auf dem Markte durch seinen Schüler Chairephon aufgehalten worden und kommt mit diesem vor der Halle an, als der Vortrag gerade be- endet ist. Der eben heraustretende Kallikles, dessen Gast Gorgias während seines Aufenthaltes in Athen ist, er-

Einleitung, 13

klärt auf Befragen, daß Gorgias nicht abgeneigt sein werde, über das Wesen seiner Kunst, über das Sokrates Auf- klärung wünscht, ihm Auskunft zu geben. Nachdem man in die Halle eingetreten, fordert nach einem kurzen Vor- gespräch zwischen Chairephon und Polos, dessen vom Gegenstand abspringende Antworten das Mißfallen des Sokrates erregen, dieser den Gorgias selbst zur Unterredung mit ihm, dem Sokrates, auf. Gorgias erklärt sich bereit.

Erster Hauptteil. Gespräch mit Gorgias (c. 3—15. 448E—461 B).

1. Gorgias, der die Bitte des Sokrates, unter Ver- meidung langer Reden sich auf kurze Antworten zu be- schränken, nach Möglichkeit zu erfüllen verspricht, be- zeichnet seine Kunst zunächst als Rhetorik, eine Kunst, die er nicht nur selbst übe, sondern auch andere zu lehren imstande sei. Als Gegenstand dieser Kunst gibt er an „Reden“. Da aber, wie Sokrates bemerkt, auch andere Künste sich der Reden bedienen, kommt es auf eine nähere Bestimmung für die dem Bereich der Rhetorik angehörenden Reden an. Nach einigem Suchen wird als Ziel dieser Reden die ein bloßes Glauben, kein Wissen bewirkende Über- redung der Hörer, und zwar in großen Versammlungen der Bürger, als ihr Gegenstand aber die wichtigsten menschlichen Angelegenheiten, vor allem die Fragen über Recht und Unrecht festgestellt (456 A). Indem nun Gorgias die alles umfassende und beherrschende Macht seiner Kunst in längerer Ausführung preist, verwahrt er sich gegen etwaige Vorwürfe darüber, daß ein Mißbrauch dieser Kunst zu unlauteren Zwecken vonseiten der Jünger nicht ausgeschlossen sei. Komme ein unrechter Gebrauch vor, so treffe die Schuld nicht den Lehrer, sondern die Schüler c.3—11. 448E—457C.

2. Darin glaubt Sokrates einen Widerspruch zu er- kennen. Ehe er indes mit dem Nachweis dafür hervortritt, sondiert er vorsichtig und höflich den Gorgias, ob dieser

14 Einleitung.

auch unbefangen genug sei, einen etwaigen Nachweis dieser Art ohne Unwillen aufzunehmen. Gorgias erklärt zwar ebenso unbefangen zu sein wie Sokrates, macht aber doch einen kleinen Versuch das Gespräch zum Abbruch zu bringen, der aber an dem energischen Widerspruch der An- wesenden scheitert‘ (408). Nunmehr weist Sokrates den Widerspruch in des Gorgias Ausführungen nach, indem er diesen zunächst sich selbst dahin berichtigen läßt, daß der Redner zwar in allen übrigen Gebieten mit der bloßen Fähigkeit zu überreden, also ohne eigenes Wissen, aus- komme, was aber die Fragen über Recht und Unrecht, Gut und Schlecht, Schön und Häßlich, also das eigentliche Gebiet der Rhetorik anlange, auch selbst ein Wissender sein und seine Schüler dazu machen müsse. Da nun der Wissende nach sokratisch-platonischem Grundsatz auch immer das Rechte tut, so ist es auch ausgeschlossen, daß der Redner jemals einen unrechten Gebrauch von seiner Kunst mache. Gorgias ist also mit sich selbst in einem Widerspruch befangen, dessen gründliche Auf- hellung, wie Sokrates meint, eine lange Untersuchung erfordern würde c.12—15. 4570—461C.

Zweiter Hauptteil.

Gespräch zwischen Sokrates und Polos (ec. 16—36. 4610 —481B).

1. Polos, der jetzt in die .Stelle des Gorgias als Mit- unterredner eintritt, erklärt den angeblichen Widerspruch nur für eine Folge der falschen Scham, die den Gorgias zu dem Zugeständnis geführt habe, der Redner müsse selbst im vollen Besitz des Wissens über Recht und Unrecht sein. Sokrates begrüßt nicht ohne Ironie dies sein Eingreifen in die Verhandlung und läßt ihn die Rolle des Fragenden übernehmen. Aber da Polos sich auber- stande zeigt, streng bei der Sache zu bleiben, indem er die Frage nach dem Wesen der Rhetorik mit der nach ihrer Macht zusammenwirft, so sieht sich Sokrates ver-

Einleitung. 15

anlaßt, selbst in längerer Darlegung seine Ansicht über sie zu entwickeln. Er will sie nicht als Kunst gelten lassen, sondern nur als Erfahrenheit und zwar als eine Erfahrenheit in Erzeugung von Wohlgefallen und Lust. Sie gehört zu denjenigen Fertigkeiten, die es auf bloße Schmeichelei abgesehen haben. Es gibt nämlich wie für den Leib, so auch für die Seele neben den wahrhaft deren Bestes fördernden Künsten gewisse diesen parallel lau- fende Afterkünste, die unter dem Gattungsbegriff der Schmeichelei zusammenzufassen sind. Wie für den Körper neben der Gymnastik und der Heilkunst die Putzkunst und Kochkunst als schmeichlerische Afterkünste her- laufen, so für die Seele neben der Gesetzgebung und Rechtspflege die Sophistik und Rhetorik c.16—20. 461C bis 466A.

2. Ohne sich auf eine Prüfung dieser Aufstellungen einzulassen spielt Polos gleich wieder seinen schon be- kannten Haupttrumpf aus, der in der Berufung auf die un- vergleichliche Macht der Redner besteht. Sokrates leugnet diese angebliche Macht gerade heraus und behauptet zum nicht geringen Erstaunen des Polos auf das bestimmteste, daß weder Redner noch Tyrannen tun, was sie wollen c. 21. 22. 466 A—467C. | a) Diese seine Ansicht begründet Sokrates, nun wieder

die Rolle des Fragenden übernehmend, durch die Unter- scheidung von bloßem Belieben (Gutdünken) und eigent- lichem Wollen, verbunden mit der Unterscheidung von Mittel und Zweck. Der eigentliche Zweck alles Handelns, m. a. W. der wahre Gegenstand unseres Wollens ist stets das Gute; aber da die Einsicht in dasselbe häufig mangel- haft ist, täuschen wir uns über den Zweck (über unseren wahren Vorteil) und verwechseln Mittel und Zweck. Nicht alles, was wir tun, wollen wir auch wirklich; wir tun es also dann aus bloßem Belieben, in der Meinung, damit unseren wahren Vorteil (das Gute) zu erreichen. Wenn nun die Macht der Redner darin besteht, durchzusetzen, was ihnen beliebt, so ist dies keine wahre Macht; denn

16 Einleitung.

diese besteht darin, zu erreichen, was man wirklich will (das Gute) c.23. 24. 467C—468E.

b) Dem Polos, der sich von seinem Wohlgefallen an der Macht der Redner und Tyrannen nicht losreißen kann, stellt Sokrates die Behauptung entgegen, daß nur die gerechte Ausübung solcher Macht zu billigen sei, und als Polos ihm das vielbeneidete Glück des mazedonischen Archelaos als Beispiel für das Gegenteil entgegenhält, stellt er unter Hinweis auf das Unsachliche eines solchen angeblichen Beweises (471Eff.) den Gegensatz ihrer An- sichten dahin fest, daß Polos meine, Unrechtleiden sei schlimmer als Unrechttun, Unrechttun aber sei ein Übel nur dann, wenn es Strafe zur Folge habe, wogegen nach seiner, des Sokrates Ansicht einerseits Unrechttun schlim- mer sei als Unrechtleiden, anderseits Straflosigkeit nach be- gangenem Unrecht das allergrößte Übel sei c. 25—29. 468 E—A730. |

a) Der Beweis für die erste Behauptung wird einge- leitet durch das dem Polos abgewonnene Zugeständnis, daß das Unrechttun zwar besser, aber doch häßlicher sei als das Unrechtleiden; das Häßliche aber beruht entweder auf dem Schmerz oder auf dem Übel (κακόν), das damit verbunden ist. Da nun das Unrechttun dem, der es tut, keinen Schmerz bereitet, gleichwohl aber häßlich ist, so muß es notwendig ein Übel sein ο. 80. 31. 4730—475F.

β) Der Beweis für die zweite Behauptung des Sokrates beruht auf dem Satz, daß die Strafe die rechtliche Wirkung des Unrechtes, also der Vollzug der Gerechtigkeit ist. Damit aber fällt sie durchaus in den Bereich des Schönen und Guten. Sie bessert den Frevler und erweist ihm daher eine Wohltat, wogegen der straflos Ausgehende, wie Arche- laos, weit unglücklicher ist als der der Strafe teilhaftig Gewordene ce. 32—35. 475 E—479E.

3. Aus dem FErwiesenen werden nun, nicht ohne einen gewissen triumphierenden Übermut, die Konse- quenzen gezogen. Jeder Frevler muß, wenn er sein wahres Beste im Auge hat, nichts eifriger betreiben als seine

Einleitung. 17

eigene Bestrafung. Und die Rhetorik muß, wenn sie sich selbst recht versteht, nahezu den entgegengesetzten Stand- punkt einnehmen als den tatsächlich von ihr innegehaltenen c.36. 480 B—481B.

Dritter Hauptteil.

Gespräch mit Kallikles (c. 37—73. 481 B—527E.).

Mit dem Eingreifen des Kallikles gewinnt das Ge- spräch alsbald eine weit umfassendere Bedeutung. Schlos- sen sich die bisherigen Ausführungen unmittelbar oder mittelbar an die Rhetorik als solche an, so erscheint nunmehr die Rhetorik nur noch als Vertreterin der einen von zwei Lebensanschauungen und Lebensaufgaben, zwischen denen es zu wählen gilt. Diese Wendung erhält das Gespräch durch die Einführung der Begriffe „Natur“ (φύσις) und „Satzung“ (νόμος), die beide, aber von ver- schiedenen Gesichtspunkten aus, für unsere Beurteilungen des sittlich Schönen und Häßlichen bestimmend sind. Indem Kallikles die Niederlage des Gorgias und Polos auf die geschickte Ausnutzung des gegenseitigen Verhältnisses dieser Begriffe durch Sokrates zurückführt, sieht er in ihm den gewandten Dialektiker, den Vertreter der Philosophie, die für die Jugendbildung wohl empfehlenswert sei, aber als Lebensberuf den Menschen schutz- und wehrlos und überhaupt untauglich mache für die Anforderungen des praktischen Lebens, in welchem ausschließlich das Recht des Stärkeren gelte. Diesen Anforderungen zu dienen sei der einzig würdige Mannesberuf: und darum die Beschäf- tigung mit Rhetorik und Politik die wahre Lebensauf- gabe, der auch Sokrates sich widmen. solle, entsagend dem verkehrten Lebensideal, der Philosophie (486D). Die Berechtigung dieser Mahnung gemeinsam mit Kallikles zu prüfen ist Sokrates um so williger bereit, als Kalli- kles, wie Sokrates nachweist, alle wesentlichen Eigen- schaften besitzt, die ein sicheres und endgültiges Ergebnis der gemeinsamen Untersuchung VerbiS OR c.37—4T. 481B bis 488B.

Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Bd. 148. 2

18 Einleitung.

1. Sokrates veranlaßt nun den Kallikles im Anschluß an dessen Behauptung über das Recht des Stärkeren zu Herrschaft und Vorteil über die Schwächeren sich des näheren über den Begriff des „Stärkeren‘ zu erklären und weist sowohl die Deutung, wonach es der physisch Stärkere, wie die zweite, wonach es der ‚‚Bessere“ sei, als widerspruchsvoll zurück. Die dritte Deutung aber, der gemäß es der Einsichtigere und, genauer bestimmt, der in Angelegenheiten des Staates Einsichtigere und Tat- kräftigere sei, führt zu der Frage, ob dieser Einsichtigere bloß über andere oder auch über sich selbst zu herrschen berufen sei (m. a. W. zu der Frage, wer denn eigentlich als wirklich einsichtig zu bezeichnen sei). Damit ist Kallikles an seiner verwundbarsten Stelle getroffen: Selbstbeherrschung ist in seinen Augen die krasseste Un- natur, uneingeschränkte Befriedigung aller Gelüste die eigentliche Tugend und Glückseligkeit (4920). Die ge- meinhin so genannte Tugend ist ihm nichts als mensch- lich. Satzung und Aberwitz. Dieser seiner Anschauung gibt Kallikles den kräftigsten Ausdruck und spricht damit, wie Sokrates richtig bemerkt, offen und zum Vorteil für die Untersuchung aus, was die meisten zwar denken, aber zu sagen sich scheuen c. 43—47. 488 B—492D.

2. Die Haltlosigkeit des von Kallikles vertretenen Standpunktes sucht Sokrates zunächst durch teils von den Pythagoreern entlehnte teils eigene Gleichnisreden zu beleuchten, ohne den Kallikles zu bekehren, der dabei bleibt, daß die Befriedigung aller Begierden ohne Unter- schied ein glückliches Leben gewähre. Seine Ansicht läuft also auf nichts Geringeres hinaus als auf die Gleich- setzung der (sinnlichen) Lust mit dem Guten (495 A). Diese angebliche Identität des Angenehmen mit dem Guten widerlegt nun Sokrates so:

a) Alle Lust, insofern sie Befriedigung einer Begierde ist, stellt eine Verknüpfung von Lust und Schmerz dar, denn Begierde für sich ist schmerzhaft, ihre Befriedigung also eine Vereinigung von Lust und Schmerz; mit dem

Einleitung. 19

Aufhören der Begierde hört aber auch die Lust auf. Eine solche Vereinigung und gleichzeitiges Aufhören findet aber beim Guten und Schlechten niemals statt, vielmehr wird man dieser nur im Wechsel miteinander, niemals aber zugleich, teilhaftig. Also sind Lust und Gutes nicht miteinander identisch, ebensowenig Schmerz und Schlechtes c.47—52. 490 E—497E.

ß) Die Erfahrung zeigt, daß feige Leute sich beim Ab- zug der Feinde mehr freuen (größere Lust empfinden) als die Tapferen. Da nun früher (489E. 491 Bf.) die Tapferen von Kallikles als „gute‘‘ Männer bezeichnet worden waren, so ergibt sich daraus bei Voraussetzung der Identität von Gut und Lust der Widerspruch, daß die Feiglinge besser sind (weil sie mehr Lust empfinden) als die Tapferen c.52. 53. 497 E— 499B. |

Kallikles räumt nun als etwas angeblich ganz Seibst- verständliches, das er nur im Scherze verleugnet habe, die Unterscheidung der Lüste in gute und schlechte (nütz- liche und schädliche) und damit den Unterschied zwischen Gutem und Angenehmem (Lust) ein. Daraus zieht So- krates nunmehr die Folgerungen, nämlich den Gegensatz der beiden Lebensweisen.

3. Das Ziel alles menschlichen Handelns ist danach _ nicht die Lust schlechthin, sondern das Gute. Um des Guten willen, wie schon im Gespräch mit Polos fest- gestellt ward, muß alles andere geschehen, nicht umge- kehrt; um des Guten willen also muß das Angenehme geschehen, nicht um des Angenehmen willen das Gute. Es gilt also zunächst den Unterschied zwischen den da- durch bestimmten zwei Lebensweisen. festzustellen und dann nach Maßgabe ihres Wertes die Entscheidung darüber zu treffen, welche dieser Lebensweisen man erwählen muß c.54. 55. 500A—500D.

a) Aus der getroffenen Unterscheidung zwischen Gutem und Angenehmem folgt zunächst die Richtigkeit des früher gegen Polos entwickelten Gegensatzes zwischen eigentlichen Künsten, die auf richtiger Einsicht in das

Ὁ:

20 Einleitung

wahrhaft Beste beruhen, und Afterkünsten, die auf loße Schmeichelei hinauslaufen und nicht auf Ein- sicht in das Beste, sondern auf bloßer Erinnerung beruhen. Zu den letzteren gehören außer den früher genannten auch Musik und Dichtung, soweit sie es nur auf Erweckung von Wohlgefallen, also auf die Lust abgesehen haben. Ferner die Volksrednerei, sofern sie nicht das wahre Beste der Bürger im Auge hat, was in Athen bisher noch nie der Fall gewesen ist (608 ΒΟ). Wie man sich aber die bisher vermißte wahre Rhetorik zu denken habe, wird nun von Sokrates entwickelt: die Seele besonnen und gerecht zu machen ist ihr eigentliches Ziel. Nur ein so geregeltes Leben hat wirklichen Wert. Zügellosigkeit ist der Verderb der Seele und Züchtigung das richtige Heilmittel dagegen. Das will dem Kallikles wenig einleuchten; da er sich aber dialektisch nicht da- gegen wehren kann, verweigert er die weitere Beteiligung am Gespräch (505E), so daß Sokrates nun eine Weile der alleinige Sprecher ist. Er zeigt, daß, wie Beson- nenheit die Grundlage des Guten und der Tugend und somit des Glückes, so Zügellosigkeit der sichere Weg zum Schlechten und Elend ist. Züchtigung der Begierde, d. h. Strafe, ist also das einzige Mittel zügellose Menschen vor dem Elend zu bewahren. Daraus folgt die Richtigkeit dessen, was früher gegen Polos über die Strafe als wahre Wohltat und über das Unrechttun im Vergleich zu dem Unrechtleiden behauptet wurde (608 Ὁ). Die Wehrlosigkeit also, meint Sokrates, die man ihm als schlimme Folge seiner Lebensansicht vorgehalten habe, sei kein wahrer Nachteil, denn der Unrechtleidende sei vor dem Unrecht- tuenden weitaus im Vorteil. Gegen das Unrechttun kann man sich auf ehrliche Weise schützen, nämlich durch Be- lehrung und Übung, gegen das Unrechtleiden dagegen nur durch möglichste Ansammlung von Macht, was nicht anders möglich ist als durch Anpassung an die Machthaber, also durch Verschändung der Seele und fortwährenden An- reiz zum Frevel. Der Verbrecher, der uns das Leben raubt, ist weit unglücklicher als das Opfer seines Ver-

Einleitung. 9]

brechens. Nicht möglichst lange zu leben, sondern tugend- haft zu leben ist das allein würdige Streben. Alle Künste, welche darauf berechnet sind uns vor Lebensgefahr zu schützen, sind nur von geringem Wert, verglichen mit jenem Ziel. Beispiel der Steuermannskunst (511 Dff.).

Kallikles, der sich unwillkürlich schon wieder am (16- spräch beteiligt hat, gibt jetzt sein, wenn auch nur prinzipielles Einverständnis damit zu erkennen c. 55—69. 500 E—513C.

b) Vor den der Schmeichelei dienenden Afterkünsten die Mitbürger zu bewahren und ihr wahres Bestes zu för- dern ist nur der imstande, der im Besitze wirklicher Ein- sicht in das Gute ist. Von den bisherigen Staatsmännern Athens läßt sich das nicht sagen. Keiner von ihnen hat es verstanden, seine Mitbürger moralisch besser zu machen, und oft genug haben sie sich über den angeblichen Un- dank ihrer Mitbürger zu beklagen gehabt, ganz ähnlich wie die Sophisten über den ihrer Schüler. Sophisten und Rhetoren (Staatsmänner) gehören überhaupt zusammen, nur daß die Sophisten an Wert eine Stufe höher stehen. Beide sind Vertreter der die Mitbürger in die Irre führen- den Lebensansicht. Soll man nun dieser folgen oder der- jenigen, die das wahre Seelenheil der Mitbürger im Auge hat? (521A). Kallikles entscheidet sich in Rücksicht nament- . lich auf die gerade dem Sokrates möglicherweise drohende Gefahr für das erstere. Allein Sokrates will davon nichts wissen. Welches Schicksal ihn auch treffen könne, er sei dagegen gefeit durch die Selbsthilfe, die er sich geleistet: durch die Selbstbewahrung von jeder Art von Unrecht. Auf Grund dessen könne er mit bestem Vertrauen den Weg in den Hades antreten c. 69—78. 513D—522E.

c) Diese Überzeugung, daß der Tod ihm nichts anhaben könne, findet ihre Bekräftigung durch den Mythus vom Totengericht, dem zufolge die als rein befundenen Seelen zur Seligkeit eingehen werden. Mit einer kurzen Zusammen- fassung der Hauptergebnisse des Gesprächs und eindring- lichen Mahnung an den Kallikles zur Beherzigung dieser Ergebnisse schließt das Gespräch c. 78—83. 523 A—527E.

Einleitung.

IV IV

Übersicht über die Literatur.

Mit Unterstützung von Rudolf Klussmann,

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er

Platons Gorgias.

Die im Dialog auftretenden Personen sind: Kallikles, Sokrates, Cbairephon, Gorgias, Polos.!)

Erstes Kapitel.

Kallikles. Zu Streit und Kampf, mein Sokrates, kommt man wohl gern zu spät wie es heißt, aber nicht zum Feste,

Sokrates. Kommen wir wirklich, mit dem Sprich- wort zu reden, nach?) dem Feste und haben nun das Nachsehen ?

Kallikles. Und was für ein Fest, wie ausgesucht fein! Was hat uns Gorgias eben für eine Fülle von Herrlichkeiten zu hören gegeben.

Sokrates. Daran, mein Kallikles, ist unser Chaire- phon hier schuld: er nötigte uns auf dem Markte zu verweilen.

Chairephon. Das macht nichts aus, mein Sokrates. Ich werde es schon wieder gut machen; denn Gorgias ist mein Freund; er wird uns also eine Probe seiner Redekunst geben, wenn es gewünscht wird, sogleich, oder wenn es dir lieber ist, ein andermal.

Kallikles. Wie, mein Chairephon ? Trägt Sokrates Verlangen, den Gorgias zu hören ?

Chairephon. Das ist es ja gerade, was uns hierher geführt hat.

Kallikles. Also begebt euch, wenn es euch beliebt, in mein Haus?); denn bei mir hat Gorgias sein Quartier, und er wird euch sicherlich eine Probe seiner Kunst geben.

26 Platons Gorgias.

Sokrates. Schön, mein Kallikles.. Aber wird er sich auch auf eine Unterredung mit uns einlassen wollen ? Ich möchte nämlich von ihm erkunden, was es mit der Kunst des Mannes eigentlich auf sich hat und worin das besteht, wozu er sich anheischig macht und was er lehrt. Den anderen Vortrag aber soll er, wie du sagst®), ein andermal zum besten geben.

Kallikles.. Am besten ist's, ihn selbst zu fragen, mein Sokrates. Denn das gehörte ja als ein besonderes Stück mit zu seiner Prunkleistung. Er forderte nämlich alle die drinnen Weilenden auf, jede beliebige Frage an ihn zu richten, mit der Versicherung, er werde auf alles antworten.

Sokrates. Vortrefflich! Mein Chairephon, du mußt ihn fragen. |

Chairephon. Was soll ich ihn fragen ?

Sokrates. Was er ist.

Chairephon. Wie meinst du das? |

Sokrates. Setze den Fall, er wäre ein Meister im Ver- fertigen von Schuhen; dann würde er dir wohl antworten: ein Schuhmacher. Oder verstehst du nicht, wie ich’s meine ?

Zweites Kapitel.

Chairephon. Ich verstehe und werde fragen. (In der Halle.) Sage mir, mein Gorgias, behauptet Kalli- kles mit Recht, daß du auf jede Frage, die man an dich richtet, dich anheischig machst zu antworten ?

Gorgias. Ja gewiß, mein Chairephon. Denn 6 erst machte ich mich gerade dazu anheischig, und ich behaupte, daß mich seit vielen Jahren niemand nach etwas gefragt hat, worauf ich ihm die Antwort schuldig geblieben wäre.

Chairephon. Also wirst du gewiß mit Leichtigkeit antworten, mein Gorgias.

Zweites Kapitel. | 27

Gorgias. Es steht dir frei, mein Ohairephon, einen Versuch zu machen.

Polos. Beim Zeus, mein Ühairephon, ist es dir aber recht, so mache den Versuch mit mir. Denn Gorgias ist, wie es scheint, zu abgespannt; hat er doch eben einen langen Vortrag gehalten.

Chairephon. Wie, mein Polos? Glaubst du besser zu antworten als Gorgias?

Polos. Darauf kommt es nicht an, sondern nur darauf, dir befriedigend zu antworten.

Chairephon. Allerdings. Aber da du es wünschst, so antworte mir.

Polos. So frage denn.

Chairephon. Das soll geschehen. Gesetzt, Gor- gias wäre ein Meister in der Kunst seines Bruders Herodikos5), wie würden wir ihn dann nennen, um ihn richtig zu bezeichnen ? Nicht ebenso wie jenen ?

Polos. Gewib.

Chairephon. Wenn wir also sagten, er wäre ein Arzt, so würde diese Bezeichnung doch zutreffend sein’?

Polos. Ja.

Chairephon. Wäre er aber kundig der Kunst, in der Aristophon, des Aglaophon Sohn, oder dessen Bruder‘) Meister sind, welches würde dann die richtige Bezeichnung für ihn sein’?

Polos. ‚Maler‘ offenbar.

Chairephon. Welches ist nun in Wirklichkeit die Kunst, deren er kundig ist, und wie werden wir ihn demgemäß richtig nennen ?

Polos. Mein Chairephon, die Menschen gebieten über zahlreiche Künste, die auf Grund gemachter Er- fahrungen erfahrungsgemäß aufgefunden worden sind. Denn Erfahrung läßt unser Leben fortschreiten nach den Regeln der Kunst, Mangel an Erfahrung aber nur nach des Zufalls Gunst. In allen diesen Künsten sind Men- schen tätig in mannigfacher Verteilung an jede einzelne und in mannigfacher Abstufung der Fähigkeiten, in den

98 Platons Gorgıas.

besten aber die besten. Zu ihnen gehört auch unser Gorgias hier, und er ist Vertreter der schönsten unter den Künsten.

Drittes Kapitel.

Sokrates. Trefflich, mein Gorgias, scheint Polos für Reden gerüstet zu sein; aber was er dem Chairephon versprach, das hält er nicht.

Gorgias. Wieso denn, mein Sokrates?

Sokrates. Die ihm vorgelegte Frage läßt er, wie mir scheint, völlig unbeantwortet.

Gorgias. Nun, so frage du ihn doch, wenn du willst.

Sokrates. Nicht gern, falls du selbst geneigt sein solltest zu antworten; viel lieber nämlich würde ich dich fragen. Denn aus dem, was Polos gesagt hat, geht klar hervor, daß er sich mehr mit der sogenannten Rede- kunst als mit der Kunst der Unterredung befaßt hat.

Polos. Wieso denn, mein Sokrates ?

Sokrates. Weil du, mein Polos, auf die Frage des Chairephon, welcher Kunst Gorgias kundig sei, seine Kunst preist, als ob sie getadelt würde, aber die Frage, was sie ist, unbeantwortet gelassen hast.

Polos. Habe ich nicht geantwortet, daß sie die schönste sei?

Sokrates. Sicherlich. Aber niemand fragte nach dem Wie der Kunst des Gorgias, sondern nach dem Was, und wie man den Gorgias nennen müsse. Wie 85 dir vorher Chairephon an die Hand gab und du ihm treffend und kurz antwortetest, so gib auch jetzt an, was seine Kunst ist und wie wir den Gorgias nennen müssen. Oder, mein Gorgias, sage du uns lieber selbst, welches die Kunst ist, deren du kundig bist, und nach der man dich demzufolge nennen muß:

Gorgias. Die Rhetorik, mein Sokrates.

Sokrates, Also einen Rhetor muß man dich nennen?

Viertes Kapitel. 29

Gorgias. Und zwar einen guten, mein Sokrates, wenn du mich denn nach dem benennen willst, was ich, mit Homer zu reden, mich rühme zu sein’).

Sokrates. Das will ich.

Gorgias. So tu es denn.

Sokrates. Darf man dir die Fähigkeit zusprechen, auch andere dazu auszubilden ?

Gorgias. Dazu mache ich mich anheischig nicht nur hier, sondern auch anderwärts.

Sokrates. Würdest du dich entschließen, mein Gor- gias, die Art der Unterredung, wie wir sie jetzt führen, auch weiter innezuhalten im Wechsel von Frage und Antwort, jene langen Reden aber, wie sie auch Polos be- gann, für später aufheben ? Aber was du versprichst, mußt du auch halten und dich entschließen kurz auf die Fragen zu antworten.

Gorgias. In manchen Fällen, mein Sokrates, ist es unvermeidlich in längerer Ausführung zu antworten. Indes werde ich versuchen mich so kurz wie möglich zu fassen. Denn auch das ist einer der Vorzüge, deren ich mich rühme, daß niemand die nämliche Sache kürzer ausdrücken kann als ich.

Sokrates. Das ist es eben, worauf es jetzt an- kommt, mein Gorgias. So lege mir denn jetzt eine kunst- gerechte Probe eben dieser Fähigkeit ab, der Kunst kurz zu reden, später dann einmal von der Kunst, lang zu reden.

Gorgias. Ja, das soll geschehen, und du wirst ge- wiß sagen müssen, daß du nie einen gehört hast, der sich kürzer gefaßt hätte.

Viertes Kapitel.

Sokrates. Wohlan denn! Du behauptest ja, der Rede- kunst kundig und imstande zu sein auch einen anderen zum Redner zu machen: also womit hat es denn die Redekunst eigentlich zu tun, wie z. B. die Weberkunst mit der Herstellung von Gewändern. Nicht wahr?

30 Platons Gorgias.

Gorgias. Ja.

Sokrates. Und die Musik mit der Erfindung von Melodien ? |

Gorgias. Ja.

Sokrates. Wahrlich, bei der Hera, mein Gorgias, ich bewundere deine Antworten, du antwortest ja so kurz wie nur möglich. |

Gorgias. Ja, mein Sokrates, ich glaube, ganz wie sich’s gehört.

Sokrates. Recht so. Nun gib mir also in der näm- lichen Weise auch Auskunft über die Rhetorik: auf welches Wissensgebiet bezieht sie sich ?

Gorgias. Auf Reden.

Sokrates. Auf was für Reden, mein Gorgias? Etwa solche, die den Kranken Anweisung darüber geben, durch welche Lebensweise sie wieder gesund werden 753) können

Gorgias. Nein.

Sokrates. Also nicht auf alle Reden bezieht sich die Rhetorik. | |

Gorgias. Gewiß nicht.

Sokrates. Aber sie schafft doch die Fähigkeit zu reden.

Gorgias. Ja.

Sokrates. Und doch wohl auch das zu verstehen, worüber sie reden lehrt?

Gorgias. Selbstverständlich.

Sokrates. Gibt nicht die oben genannte Heilkunst die Fähigkeit zur Einsicht und zum Reden über die Kranken’?

Gorgias. Ohne Widerrede.

Sokrates. Also hat es doch, allem Anschein nach, auch die Heilkunst mit Reden zu tun?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Doch wohl mit solchen, die sich auf die Krankheiten beziehen ? |

Gorgias. Gewiß.

Sokrates. Und hat es nicht auch die Gymnastik mit

μῶν

50

Fünftes Kapitel. 41

Reden zu tun, nämlich solchen, die sich auf gute und schlechte Beschaffenheit des Leibes beziehen ?

Gorgias. Sicherlich.

Sokrates. Auch mit den anderen Künsten, mein Gorgias, steht es ebenso: alle haben sie es mit Reden zu tun, die sich auf den Gegenstand beziehen, den eine jede von ihnen kunstmäßig behandelt.

Gorgias. So scheint es.

Sokrates. Wie kommt es nun also, daß du die anderen Künste, die es doch auch mit Reden zu tun haben, nicht als Redekünste bezeichnest, da du doch die- jenige als Redekunst bezeichnest, die es mit Reden zu tun hat?

Gorgias. Weil sich, mein Sokrates, bei den übrigen Künsten beinahe die ganze Weisheit auf Handfertigkeit und dergleichen Leistungen bezieht, während bei der Rede- kunst dergleichen Handarbeit nicht in Frage kommt; vielmehr beruht da die ganze Leistung und die entschei- dende Wirkung auf Reden. Deshalb behaupte ich, daß es die Redekunst mit Reden zu tun hat, und das mit vollem Recht, wie ich meine.

Fünftes Kapitel.

Sokrates. Habe ich nun eine klare Vorstellung davon, was du unter ihr verstehst? Doch halt! gleich soll es mir deutlicher werden. Antworte nur. Es gibt doch Künste? Nicht wahr?

Gorgias. Ja. I

Sokrates. Alle Künste nun, glaube ich, zerfallen doch in solche, die ganz überwiegend auf Werktätigkeit beruhen und der Rede nur in geringem Maß oder, wie einige, gar nicht bedürfen ihr Werk könnte auch in vollem Schweigen vollzogen werden wie die Malerei und Bildhauerei und viele andere Künste. Diese Art von Künsten meinst du wohl mit denen, auf die sich die Redekunst nicht beziehen soll. Oder nicht?

32 Platons Gorgias.

Gorgias. Du hast völlig recht mit deiner Annahme, mein Sokrates.

Sokrates. Eine zweite Art aber von Künsten sind diejenigen, deren Aufgabe ganz in der Rede besteht und die einer Werktätigkeit fast gar nicht oder nur in ganz geringem Maße bedürfen, wie Arithmetik, Rechenkunst, Geometrie, auch wohl Brettspiel®) und viele andere Künste, bei denen zum Teil Reden und Tun ungefähr im Gleich- gewicht stehen, während bei den meisten die Reden über- wiegen, so daß ihre ganze Leistung und die entscheidende Wirkung auf den letzteren beruht. Unter diese Art von Künsten rechnest du, wie es scheint, die Redekunst.

Gorgias. Ganz recht.

Sokrates. Aber von den genannten wenigstens wirst du doch keine, denke ich, als Redekunst bezeichnen wollen, obschon du dem Wortlaut nach diese Behauptung auf- stelltest, daß die sich durch Rede entscheidend betätigende Kunst Redekunst sei, so daß dir jemand, der dich etwa in der Unterredung schikanieren wollte, entgegnen könnte: Also die Arithmetik, mein Gorgias, erklärst du für Rede- kunst? Allein ich glaube, du erklärst weder die Arithme- tik noch die Geometrie für Redekunst.

Gorgias. Und das mit vollem Recht, mein Sokrates; mit deiner Meinung triffst du durchaus die Wahrheit.

Sechstes Kapitel.

Sokrates. So tu du nun auch das Deinige und bringe

deine Antwort auf meine Frage zu vollem Abschlub. Denn da die Redekunst eben zu denjenigen Künsten ge-

hört, die sich überwiegend durch Rede betätigen, und es

neben ihr noch manche andere dieser Art gibt, so ver- suche anzugeben, worauf sich die Reden, auf deren ent- scheidende Wirkung es ankommt, beziehen müssen, um als Leistung der Redekunst zu gelten?). Wenn mich z. B. jemand rücksichtlich einer der eben genannten Künste

Sechstes Kapitel. 33

fragte: Mein Sokrates, was ist die Arithmetik für eine Kunst?, so würde ich ihm entsprechend deiner obigen Antwort entgegnen, sie gehöre zu den Künsten, deren entscheidende Wirkung auf der Rede beruht. Und wenn er mich weiter nach dem Gegenstand fragte, auf den sich diese Kunst im Unterschied zu den anderen Künsten dieser Art beziehe, so würde ich sagen, auf das Gerade und Ungerade, rücksichtlich der Größe ihres jedesmaligen Be- trages. Und gesetzt, er fragte: Was verstehst du unter Rechenkunst?, so würde ich antworten: Auch sie gehört zu den Künsten, deren entscheidende Wirkung ganz auf der Rede beruht. Und wenn er weiter nach dem Gegen- stand fragte, auf den sie sich bezieht, so würde ich wie diejenigen, die in der Volksversammlung einen schrift- lichen Antrag stellen!%), sagen: „Im übrigen steht es mit der Rechenkunst ganz wie mit der Arithmetik.“ Denn sie bezieht sich auf das Gerade und Ungerade. Der Unter- schied aber besteht darin, daß die Rechenkunst ihr Augen- merk darauf richtet, wie es beim Ungeraden und Geraden hinsichtlich ihrer Menge teils im Verhältnis zu sich selbst, teils im gegenseitigen Verhältnis zueinander!!) steht. Und wenn mich jemand nach der Astronomie fragte und ich sagte: „Auch deren entscheidende Wirkung liegt ganz und gar in den Reden“, und er nun sagte: „Worauf be- ziehen sich diese, mein Sokrates?“, so würde ich sagen: auf die Bewegung der Sterne und der Sonne und des Mondes und das gegenseitige Verhältnis ihrer Geschwindig- keit. -:

Gorgias. Und damit eh du ganz recht haben.

Sokrates. Nun also, mein Gorgias, kommt die Reihe an dich. Denn auch die Rhetorik gehört ja zu den Künsten, die alles durch Rede bewirken und entscheiden. Nicht wahr ?

Gorgias. Allerdings.

Sokrates. So nenne denn den eitbnaks auf den sie sich im Unterschied von den übrigen dieser Art bezieht. Platon. Gorgias. Phil. Bihl. Bd. 148. 3

84 Platons Gorgias.

Was sind es für Dinge, auf die sich die Reden beziehen,

deren sich die Rhetorik bedient? | Gorgias. Die wichtigsten und hervorragendsten

menschlichen Angelegenheiten, mein Sokrates.

Siebentes Kapitel.

Sokrates. Aber, mein Gorgias, auch diese deine Antwort leidet an Unbestimmtheit und entbehrt noch der nötigen Klarheit. Denn vermutlich hast du doch bei den Trinkgelagen Leute jenes Trinklied!?) vortragen hören, in welchem sie singend aufzählen: Gesundheit ist das Beste, das zweite schön zu werden, das dritte, wie der Dichter des Liedes sagt, Reichtum ohne Betrug.

Gorgias. Ja, das habe ich gehört. Aber wozu diese Anführung

Sokrates. Weil alsbald die Meister dieser vom Lieder- dichter gepriesenen Herrlichkeiten als deine Rivalen auf- treten würden»), der Arzt und der Turnlehrer und der Er- werbsmann; und zuerst würde der Arzt sagen: Mein So- krates, Gorgias täuscht dich; denn nicht seine Kunst hat es mit dem für die Menschen wichtigsten Gut zu tun, son- dern die meinige. Wenn ich ihn nun fragte: Was bist du denn, daß du so redest? würde er wohl sagen: ein Arzt, Wie meinst du es also? Ist wirklich das Werk deiner Kunst das größte Gut? Selbstverständlich, würde er wohl antworten, mein Sokrates, denn ihr Werk ist doch die Gesundheit; was gäbe es aber für ein größeres Gut für die Menschen als die Gesundheit? Wenn dann nach ihm der Turnlehrer sagte: Wahrlich, mein Sokrates, auch ich würde mich wundern, wenn dir Gorgias seine Kunst als Erzeugung eines größeren Gutes nachweisen könnte als ich die meinige, so würde ich auch zu ihm sagen: Wer bist du denn, mein Bester? und was ist dein Werk? Turnlehrer, würde er erwidern, mein Werk aber besteht darin, die Menschen körperlich schön und kräftig zu

Siebentes Kapitel. 35

machen. Nach dem Turnlehrer aber würde der Erwerbs- mann und ich glaube, mit gründlicher Verachtung aller anderen sagen: Sieh doch zu, lieber Sokrates, ob du beim Gorgias oder bei irgendeinem anderen ein Gut entdecken kannst, das größer wäre als der Reichtum. Wir würden nun also zu ihm sagen: Wie? Bist du dessen Meister? Ja, würde er sagen. Und was bist du? Erwerbs- mann. Wie? würden wir sagen, ist in deinen Augen Reich- tum wirklich das größte Gut für die Menschen ? Selbst- verständlich, wird er erwidern. Indes, würden wir sagen, unser Gorgias hier tritt doch dafür ein, dab seine Kunst ein größeres Gut erzeuge als die deinige. Offenbar würde er darauf entgegnen: Und was ist dies für ein Gut? Gorgias mag antworten. Wohlan denn, mein Gorgias, nicht nur jene mußt du dir als Fragende denken, sondern auch mich; also antworte: Was ist das, was du für das größte menschliche Gut erklärst und dessen du Meister zu sein behauptest ?

Gorgias. Was tatsächlich, mein Sokrates, das größte Gut ist und den Menschen für ihre Person die Freiheit verschafft und zugleich einem jeden in seinem Staat die Herrschaft über andere 14).

Sokrates. Was meinst du damit? | Gorgias. Die Fähigkeit, durch beredte Worte so- wohl vor Gericht die Richter zu überreden wie in der Rats- versammlung die Ratsherren und in der Volksversammlung die versammelte Gemeinde, wie auch in jeder anderen Versammlung, die sich aus Bürgern zusammensetzt, diese Bürger. Und auf Grund dieser Fähigkeit wirst du den Arzt in deiner Hand haben ebenso wie auch den Turnlehrer. Unser Erwerbsmann aber wird seine Schätze dann offenbar für einen anderen erwerben und nicht für sich, sondern für dich, der du das Wort beherrschst und die Massen zu überreden vermagst.

a

36 Platons Gorgias,

Achtes Kapitel.

Sokrates. Jetzt hast du, mein Gorgias, wie mir scheint, am treifendsten gezeigt, was für eine Kunst du eigentlich unter der Rhetorik verstehst, und irre ich nicht, so meinst du, daß die Rhetorik die Kunst der Überredung

"

ist und daß ihre ganze Wirksamkeit und ihre eigentliche

Bedeutung darauf hinausläuft. Oder kannst du etwas gel- tend machen dafür, daß die Redekunst mehr vermöge als Überredung zu wirken in der Seele der Hörer

Gorgias. Keineswegs, mein Sokrates, sondern mir scheint deine Bestimmung ganz zutreffend; denn dies ist die eigentliche Bedeutung derselben.

Sokrates. Höre denn, mein Gorgias. Wenn irgend- einer, der sich mit einem anderen unterredet, von dem Wunsche beseelt ist den Kern der Sache, um die es sich handelt, richtig zu erfassen, so kannst du versichert sein, daß ich überzeugt bin, einer von diesen zu sein; ich denke aber auch du. | |

Gorgias. Wo soll das hinaus, mein Sokrates ?

Sokrates. Gleich will ich es dir sagen. Was die von der Rhetorik ausgehende Überredung, von der du sprichst, eigentlich ist und auf was für Dinge sie sich bezieht, das, glaube mir, weiß ich genau zwar nicht, doch eine Vermutung wenigstens habe ich darüber, was du wahr-

scheinlich damit meinst und worauf sie sich bezieht.

Nichtsdestoweniger werde ich dich fragen, was du eigent- lich unter der von der Rhetorik erzeugten Überredung verstehst und worauf sie sich deiner Meinung nach bezieht. Wenn ich nun selbst schon eine Vermutung darüber habe, weshalb will ich denn dann erst noch dich fragen und es nicht selber sagen? Nicht etwa deinetwegen, sondern im Interesse der Untersuchung, auf daß diese einen Fort- gang nehme, der uns den eigentlichen Sachverhalt mög- lichst klar stellt. Denn prüfe, ob ich dir nicht richtig zu verfahren scheine mit meiner Frage an dich. Gesetzt z. B. ich fragte dich, was für ein Maler Zeuxis!5) wäre,

63

Achtes Kapitel. . 97

und du antwortetest, ein Bildermaler, würde ich dich dann nicht mit Recht fragen, was für Bilder er male? Oder nicht ?

Gorgias. Allerdings.

Sokrates. Doch wohl aus dem Grunde, weil es auch noch andere Maler gibt, die mancherlei andere Bilder malen.

Gorgias. Ja.

Sokrates. Gäbe es aber keinen anderen Maler als den Zeuxis, dann wäre an deiner Antwort nichts auszusetzen gewesen.

Gorgias. Ganz recht.

Sokrates. Wohlan denn, so gib nun auch Auskunft über die Rhetorik: Scheint dir die Rhetorik die einzige Kunst zu sein, die Überredung bewirkt, oder gibt es auch andere dergleichen Künste? Ich meine das so: Wer irgend- eine Sache lehrt, überredet der auch in bezug auf das, was er lehrt? Oder nicht?

Gorgias. Doch, mein Sokrates! Er tut dies unter allen Umständen.

Sokrates. So kommen wir denn wieder auf unsere obigen Künste zu reden. Belehrt uns nicht die Arithmetik und der Arithmetiker über die Größenverhältnisse der

. Zahl?

Gorgias. Gewib.

Sokrates. Überredet er nicht also auch in Beziehung darauf?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Also auch die Arithmetik ist eine Kunst der Überredung.

Gorgias. So scheint es.

Sokrates. Wenn uns also jemand fragte: Welcher Art ist diese Überredung und worauf bezieht sie sich? so werden wir ihm doch wohl antworten: Sie ist diejenige Überredung, die über die Größenverhältnisse des Geraden und Ungeraden belehrt. Und von allen den oben ge-

st, nannten Künsten werden wir nachweisen können, daß

38 . Platons Gorgias,

sie Künste der Überredung sind und von welcher be- stimmten Art und worauf sie sich beziehen. Oder nicht?

Gorgias. Ja 00 |

Sokrates. Also ist die Rhetorik nicht die einzige Kunst, die Überredung erzeugt.

Gorgias. Du hast recht.

Neuntes Kapitel.

Sokrates. Da sie also nicht die einzige ist, die dieses Werk vollbringt, sondern es auch andere von dieser Art gibt, so würden wir ganz ähnlich wie bei der Frage nach dem Maler mit Recht an den Betreffenden die weitere Frage richten: Welche Art von Überredung ist es, welche die Rhetorik bewirkt, und worauf bezieht sich die Kunst ihrer Überredung? Oder scheint dir diese weitere Frage nicht berechtigt?

Gorgias. Doch.

Sokrates. Antworte also, mein Gorgias, da auch du dieser Ansicht bist. ab,

Gorgias. Ich meine also die Art von Überredung, mein Sokrates, die in den Gerichten und in anderen großen Versammlungen sich geltend macht, wie ich eben vorhin erst sagte, und der Gegenstand, mit dem sie es zu tun hat, ist das Gerechte und Ungerechte.

Sokrates. In der Tat vermutete ich schon, daß du diese Art von Überredung meintest und daß dies ihr Gegenstand sei, mein Gorgias. Aber du darfst dich nicht wundern, wenn ich gleich nachher:s) wieder dich nach etwas frage, was an sich klar zu sein scheint und was ich trotzdem durch weiteres Fragen erkunde. Denn, wie gesagt, im Interesse des regelrechten Fortschrittes der Untersuchung frage ich und nicht deinetwegen, sondern damit wir nicht in die üble Gewohnheit fallen, einander Gedanken unterzuschieben und die nötigen Antworten

Neuntes Kapitel. | 39

vorwegzunehmen, vielmehr du deine Ansicht deiner Vor- aussetzung gemäß ganz nach Gefallen durchführen kannst.

Gorgias. Daran scheinst du mir sehr wohl zu tun, mein Sokrates.

Sokrates. Wohlan denn, so laß uns auch folgendes betrachten. Du kennst doch den Ausdruck „deutliche Er- kenntnis“ ?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Und weiter den Ausdruck „für wahr hin- nehmen“ ?

"Gorgias. Auch diesen.

Sokrates. Scheint dir nun deutliche Erkenntnis und für wahr hinnehmen, oder, mit anderen Worten, Wissen und Glauben ein und dasselbe oder verschieden zu sein?

Gorgias. Mir wenigstens, mein Sokrates, scheint es verschieden zu sein.

Sokrates. Und das mit Recht; du kannst es aus folgendem erkennen. Wenn dich nämlich jemand fragte: Gibt es, mein Gorgias, einen falschen und einen wahren Glauben 11) so würdest du, glaube ich, sagen: Ja.

Gorgias. Ja.

Sokrates. Wie nun? Gibt es ein falsches und ein wahres Wissen ?

Gorgias. Unmöglich.

Sokrates. Offenbar also sind sie nicht ein und das- selbe.

Gorgias. Sehr recht.

Sokrates. Aber überredet (überzeugt) sind doch so- wohl die Wissenden wie die Glaubenden

Gorgias. Allerdings. |

Sokrates. Dürfen wir also zwei Babes von Über- redung annehmen, die eine, welche Glauben ohne deut- liche Erkenntnis, die andere, welehe Wissen schafft?

Gorgias. Gewiß.

Sokrates. Welche Art von Überredung bewirkt nun die Rhetorik vor Gericht sowie in den anderen großen Versammlungen in Beziehung auf Recht und Unrecht?

΄-. | Platons Gorgias.

Diejenige, aus welcher der Glaube entspringt ohne das Wissen oder diejenige, aus der das Wissen hervorgeht? Gorgias. Offenbar, mein Sokrates, diejenige, aus der der Glaube hervorgeht. Sokrates. Also ist die Rhetorik, wie es scheint, eine Kunst der auf Glauben und nicht auf wirklicher Belehrung

beruhenden Überredung hinsichtlich des Rechtes und Un-

rechtes.

Gorgias. Ja.

Sokrates. Der Redner also vor Gericht sowie in den anderen großen Versammlungen gibt keine wirkliche Belehrung über Recht und Unrecht, sondern wirkt nur Glauben. Wie sollte er auch in so kurzer Zeit imstande sein eine so große Volksmasse über so wichtige Dinge zu belehren ?

Gorgias. Nimmermehr.

Zehntes Kapitel.

Sokrates. Wohlan denn, laß uns zusehen, was wir uns eigentlich unter der Rhetorik denken. Denn ich ver- mag in der Tat selbst noch nicht klar zu erkennen, was ich eigentlich darunter verstehe. Wenn die Stadt eine Versammlung hält zur Wahl von Ärzten oder von Schiffs- bauern oder von einer anderen Gattung von Werkmeistern, dann wird doch offenbar der Redner nicht mitraten Denn selbstverständlich gilt es doch bei jeder Wahl den Kunstverständigsten zu wählen. Ebensowenig wenn es sich um die Erbauung von Mauern oder um die Einrichtung von Häfen oder Schiffswerften handelt; sondern da sind es die Bauverständigen, welche raten. Auch nicht, wenn über die Wahl von Feldherren oder den Aufmarsch gegen Feinde oder die Besetzung fester Plätze beraten wird; vielmehr werden da die der Strategik, nicht die der Rhetorik Kundigen raten. Oder wie denkst du darüber, mein Gor- gias? Denn da du dich selbst für einen Rhetor erklärst

Zehntes Kapitel, 41

und für fähig andere dazu zu machen, so ziemt es sich wohl die Aufgaben deiner Kunst von dir zu erkunden. Und du kannst glauben, ich handle dabei zugleich in deinem eigenen Interesse. Denn vielleicht ist unter den Anwesenden einer oder der andere, der dein Schüler, werden möchte, wie ich denn manchen, ja recht viele hier be- merke, die vielleicht aus bloßer Schüchternheit dich nicht

fragen. Wenn du also von mir befragt wirst, so sieh das

so an, als ob auch jene dich fragten. Nämlich: Welcher Gewinn, lieber Gorgias, wird uns erwachsen, wenn wir deine Belehrung genießen ? Über was für Dinge werden wir imstande sein der Stadt Rat zu erteilen; etwa ledig- lich über Recht und Unrecht oder auch über die von Sokrates eben berührten Gebiete? Versuche also ihnen zu antworten.

Gorgias. So will ich dir denn, mein Sokrates, die ganze Bedeutung der Rhetorik klar enthüllen. Du selbst hast mir ja den Weg dazu gut vorgezeichnet. Was näm- lich die Schiffswerften, von denen du sprachst, und die athenischen Mauern und die Anlegung der Häfen an- langt, so weißt du ja doch, daß sie auf den Rat des Themistokles, zum Teil auch auf den des Perikles ge- baut wurden, nicht aber auf den der Werkmeister.

Sokrates. Es wird dies, mein Gorgias, vom Themi-

stokles erzählt; den Perikles aber hörte ich selbst, als

er uns den Bau der mittleren Mauer empfahl.

Gorgias. Und wenn eine Wahl der Art stattfindet, wie du sie vorhin erwähntest, mein Sokrates, so sind es doch bekanntlich die Redner, die den Rat erteilen und mit ihren Vorschlägen darüber durchdringen.

Sokrates. Das eben, mein Gorgias, erregt meine Verwunderung, und darum frage ich so beharrlich nach der eigentlichen. Bedeutung der Rhetorik!s). Denn so be- trachtet scheint sie mir beinahe eine übernatürliche Macht

zu besitzen.

49 Platons Gorgias.

Elftes Kapitel.

Gorgias. Wie erst, wenn du alles wüßtest, mein Sokrates, daß sie nämlich sozusagen alles, was die sämt- lichen Künste leisten, in sich zusammenfaßt und in ihre Gewalt zu bringen weiß. Ein schlagender Beweis dafür liegt in folgendem: Oftmals nämlich habe ich mit meinem Bruder!) sowie mit anderen Ärzten einen Kranken be- sucht, der sich weigerte, eine Arznei zu trinken oder sich von dem Arzt schneiden oder brennen zu lassen, und wenn der Arzt ihn nicht zu überreden vermochte, gelang es mir ihn zu überreden, durch keine andere Kunst als die der Rede. Ich behaupte ferner, daß, wenn ein Redner und ein Arzt in eine Stadt, es sei welche du willst, kommt und es gilt durch die Macht des Wortes in einer Volksversammlung oder in sonst irgendeiner Versamm- lung zu entscheiden, wer von beiden gewählt werden soll, der Arzt völlig unbeachtet bleibt, der Redegewandte dagegen gewählt wird, wenn er nur will. Und wenn der . redekundige Mann gegen irgendeinen anderen Werkmeister im Wettbewerb aufträte, so würde er seine Wahl eher durchsetzen als irgendein anderer. Denn es gibt nichts, worüber der Redner nicht gewinnender zu sprechen. ver- möchte als irgendeiner aus der Zahl der Werkmeister vor der großen Menge nämlich. Dies also wäre die Be- deutung unserer Kunst nach Umfang und Beschaffenheit. Doch wäre es unrecht, mein Sokrates, von der Redekunst einen anderen Gebrauch zu machen als von jeder anderen Kampfkunst. Denn auch von der anderweitigen Kampf- kunst darf man nicht Anwendung gegen jedermann machen. Weil man Faustkampf und Pankration und Waffenkampf erlernt hat, wodurch man Freund und Feind überlegen ist, so darf man deshalb doch nicht etwa die Freunde schlagen oder stechen oder totschlagen. Und wenn es vorkommt, daß ein Mensch, der nach Besuch der Ringschule sich körperlich kräftig entwickelt und sich zum Faustkämpfer ausgebildet hat, nun seinen Vater und: seine

er

Zwölftes Kapitel, 43

Mutter schlägt oder einen anderen von seinen Verwandten oder Freunden, so wäre es wahrhaftig unrecht, deshalb die Turnlehrer oder die Fechtmeister mit Haß zu ver- folgen und aus den Städten auszuweisen. Denn jene Meister lehrten ihre Kunst unter Voraussetzung ihrer rechtmäßigen

: Verwendung gegen Feinde und Missetäter, zur Abwehr, nicht zum Angriff. Sie aber jene Schüler drehen

die Sache um und mißbrauchen ihre Stärke und ihre Kunst. Nicht also die Lehrmeister sind Schurken noch auch die Kunst schuld oder verwerflich aus obigem Grunde, son- dern, wenn ich recht sehe, diejenigen, welche Mißbrauch damit treiben. Ebenso steht es auch mit der Redekunst. Denn der Redner vermag schlechtweg gegen alle und über alles zu sprechen, weiß also in großen Versammlungen, wenn er nur will, die Zuhörer besser für sich zu gewinnen, gleichviel um welchen Gegenstand es sich handelt. Aber nun und nimmermehr darf er doch deshalb etwa den Ärzten ihre Ehre rauben, weil er allerdings imstande wäre dies zu erreichen, und ebensowenig den anderen Meistern, sondern er darf, wie von der Kampfkunst über- haupt, so auch von der Redekunst nur den rechtmäßigen Gebrauch machen. Wenn aber einer, zum Redner aus- - gebildet, nun auf Grund der erlangten Fertigkeit und Kunst frevelhaft handelt, so darf man, denke ich, nicht den Lehrmeister mit Haß verfolgen und aus den Städten ausweisen. Denn er hat seine Kunst zu rechtmäßigem Gebrauch gelehrt, jener aber macht den entgegengesetzten Gebrauch davon. Also denjenigen, der Mißbrauch damit treibt, müßte man von Rechtswegen hassen und wegjagen und zum Tode verurteilen, nicht aber den Lehrmeister.

Zwölftes Kapitel.

Sokrates. Ich glaube, mein Gorgias, auch dir fehlt es nicht an Erfahrung in mancherlei Unterredungen und

' du hast dabei wohl folgende Beobachtung gemacht: Nicht

44 Platons Gorgias.

leicht sind die Beteiligten imstande über den Gegenstand, auf dessen Erörterung sie sich eingelassen haben, durch feste Begriffsbestimmungen sich zu verständigen und sich gegenseitig belehren zu lassen und zu belehren und so in Frieden voneinander zu scheiden, sondern wenn sie über etwas streiten und der eine dem anderen Unrichtig-

keit oder Unklarheit in seinen Behauptungen vorwirft,

werden sie ärgerlich und glauben, daß sich der Gegner in seinen Aufstellungen nur von Gehässigkeit gegen sie leiten lasse, indem er rechthaberisch nur seinen Stand- punkt zu behaupten, nicht aber die vorliegende Sache selbst zu erledigen strebe. Und in manchen Fällen nimmt die Sache den widerwärtigsten Abschluß: sie trennen sich, nachdem sie einander geschmäht und sich gegenseitig Dinge gesagt haben, die auch den Unwillen der Zu- hörer erregen und sie mit Scham erfüllen darüber, daß sie sich dazu hergegeben haben, solchen Menschen zuzuhören. Weshalb nun sage ich dies? Weil das, was du jetzt sagst, mir durchaus nicht folgerichtig und im Einklang zu sein scheint mit dem, was du zuerst sagtest über die Redekunst. Ich scheue mich also dich zu widerlegen, aus Furcht, du möchtest glauben, daß ich nicht im Interesse der Sache und ihrer Klarstellung rede, sondern aus Recht- haberei gegen dich. Gesetzt nun, auch du gehörtest zu der Klasse von Menschen, zu denen ich gehöre, so würde ich dich gerne weiter fragen; wo nicht, so würde ich es lassen. Was sind das aber für Leute, zu denen ich gehöre ? Ich gehöre zu denen, die sich gerne widerlegen lassen, wenn ich etwas Unrichtiges behaupte, die aber ander- seits auch gern widerlegen, wenn ein anderer etwas Un- richtiges behauptet, auf keinen Fall aber zu denen, die sich weniger gern widerlegen lassen als selbst wider- legen. Denn ich halte das erstere in ebendemselben Maße für ein größeres Gut, als es ein größeres Gut ist selbst vom größten Übel befreit zu werden, als einen anderen davon zu befreien. Nach meinem Dafürhalten nämlich gibt es kein Übel für den Menschen, das so grob

Dreizehntes Kapitel. 45

wäre wie eine falsche Meinung über die jetzt von uns verhandelte Sache®%). Wenn du also auch deinerseits dich zu diesen Leuten rechnest, so lab uns die Unterredung fortsetzen; scheint es dir aber ratsam es zu lassen, so wollen wir die Sache auf sich beruhen lassen und der Unterredung ein Ende machen").

Gorgias. Nein, mein Sokrates, auch ich gehöre zu den Männern nach deiner Sinnesart. Vielleicht indes sollten wir Rücksicht nehmen auf das Interesse der An- wesenden. Denn als ihr hier erschienet, hatte ich schon lange Zeit hindurch den Anwesenden vielerlei vorgetragen, und jetzt müßten wir vielleicht noch eine weite Strecke zurücklegen, wenn wir die Unterredung fortsetzen. Wir müssen also auch gegen sie rücksichtsvoll sein und dürfen sie nicht festhalten, wenn sie irgendein anderes Geschäft. vorhaben.

Dreizehntes Kapitel.

Chairephon. Ihr selbst, mein Gorgias und Sokrates, vernehmt den lärmenden Widerspruch der Anwesenden, die gar zu gern hören möchten, was ihr etwa noch zu sagen habt. Auch ich selbst würde es tief bedauern, wenn mich ein dringendes Geschäft nötigen sollte auf ein Gespräch von solcher Bedeutung und solcher Art des Vortrags zu verzichten, um einer unaufschiebbaren Pflicht zu genügen. | | |

Kallikles.. Wahrhaftig, bei den Göttern, mein Chairephon. Habe doch auch ich schon manchen Ge- sprächen beigewohnt, aber an keinem so viel Vergnügen gehabt wie an diesem. Was mich also anlangt, so könnt ihr euch bis zum Abend unterhalten, ohne daß meine Freude nachlassen wird.

Sokrates. Nun, mein Kallikles, meinerseits steht nichts im Wege, wenn nur Gorgias dazu aufgelegt ist.

. Gorgias. Es wäre doch am Ende eine Schande, mein Sokrates, wenn ich mich weigern wollte, nachdem

8

48 Platons Gorgias.

ich selbst einen jeden aufgefordert habe mich zu fragen, was ihm beliebt. Wenn es denn diese hier wünschen, so setze die Unterhaltung fort und frage was du willst. Sokrates. So höre denn, mein Gorgias, was mir an deinen Behauptungen verwunderlich scheint. Denn vielleicht hast du ganz recht und ich verstehe dich nur

nicht recht. Du erklärst, imstande zu sein einen zum

Redner zu bilden, wenn er diese Kunst von dir lernen will ?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Doch wohl so, daß er, mag der Gegen- stand sein welcher er wolle, vor der großen Menge Glauben findet, nicht belehrend, sondern nur überredend.

Gorgias. Allerdings.

Sokrates. Du behauptetest ja doch eben erst, daß der Redner auch in Fragen der Gesundheit sich mehr Glauben verschaffen wird als der Arzt.

Gorgias. Gewib, wenigstens vor der großen Menge.

Sokrates. Heißt nun nicht dies „vor der groben Menge“ so viel als „vor den Nichtkennern“? Denn er wird sich doch nicht vor den Kennern mehr Glauben ver- schaffen als der Arzt.

Gorgias. Ganz recht.

Sokrates. Wenn er sich mehr Glauben verschafft als der Arzt, so wird er doch dadurch glaubwürdiger als der Kenner.

Gorgias. ΤῊΝ

Sokrates. Ohne doch Arzt zu sein. Nicht wahr?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Wer aber nicht Arzt ist, der ist doch wohl dessen unkundig, dessen der Arzt kundig ist.

Gorgias. Offenbar.

Sokrates. Der Nichtkenner würde also vor Nicht- kennern glaubwürdiger sein als der Kenner, wenn der Redner glaubwürdiger ist als der Arzt. Das ist doch die richtige Folgerung, oder was sonst ?

Gorgias. Ja, hier wenigstens ist das die richtige Folgerung.

459

Vierzehntes Kapitel. 47

Sokrates. Also auch hinsichtlich aller übrigen Künste verhält es sich mit dem Redner und der Redekunst ebenso: die Dinge selbst in ihrem eigentümlichen Ver- halten braucht diese Kunst nicht zu kennen, wohl aber muß sie über ein wohl ausgeklügeltes Überredungsver- fahren gebieten, das vor Nichtkennern den Schein erweckt, als wäre der Redner besser unterrichtet als die Kenner.

Vierzehntes Kapitel.

Gorgias. Ist das, mein Sokrates, nicht eine große Er- leichterung, wenn man nur diese eine Kunst und nicht auch die übrigen erlernt zu haben braucht, um in keiner Weise hinter den Meistern zurückzustehen ?

Sokrates. Ob der Redner bei solchem Verhalten hinter den anderen Meistern zurücksteht oder nicht, werden wir weiterhin erörtern”), sofern es für unsere Unter- suchung förderlich ist. Jetzt aber wollen wir erst darüber ins klare zu kommen suchen, ob der Redekundige es mit Recht und Unrecht, Schändlich und Schön, Gut und Böse ebenso hält wie mit der Gesundheit und den Gegen- ständen der übrigen Künste, nämlich daß er die Sache selbst, also was gut ist und was böse oder was schön ist und was schändlich oder gerecht oder ungerecht, nicht kennt, wohl aber ein Überredungsverfahren in bezug auf sie alle in seine Gewalt gebracht hat, das unter Nicht- kennern den Schein erweckt, als wäre er, der Nichtkenner, besser unterrichtet als der Kenner. Oder ist die eigene Kenntnis hier unerläßlich und muß der, welcher die Rede- kunst von dir erlernen will, schon im Besitz dieser Kennt- nis zu dir kommen? Wo nicht, so wirst du, der Lehrer der Rhetorik, diese Dinge dem neu Eintretenden nicht beibringen denn das ist nicht deine Sache —, wohl aber wirst du es dahin bringen, daß er vor der großen Menge das dahin Gehörige zu wissen scheint, ohne es zu wissen, und daß er gut zu sein scheint, ohne es zu

48 Platons Gorgias.

sein? Oder wirst du überhaupt nicht imstande sein, ihm die

Rhetorik beizubringen, wenn er nicht schon vorher die Wahrheit über diese Dinge kennt? Oder wie verhält es sich damit, mein Gorgias? Ja, beim Zeus, lege uns die eigentliche Bedeutung der Rhetorik ganz unverhüllt, wie du eben sagtest (455D), dar.

Gorgias. Nun, ich glaube, mein Sokrates, er wird,

falls er nicht im Besitz dieser Kenntnis ist, auch dies von mir erlernen 35).

Sokrates. Halt, deine Antwort genügt. Wenn du jemanden zum Redner gebildet hast, so muß er unbedingt Kenntnis haben von Recht und Unrecht, sei es von früher her sei es durch spätere Belehrung deinerseits.

Gorgias. Allerdings.

Sokrates. Wie nun? Wer das Baufach erlernt hat, ist doch ein Bauverständiger, oder nicht?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Und wer die Musik erlernt hat, doch Ba ein Musikverständiger ?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Und wer die Heilkunde erlernt hat, ein Heilkundiger ? Und dieselbe Regel gilt auch für die übrigen Fächer: in jedem einzelnen Fall ist der, welcher ein Fach erlernt hat, das, was die Kenntnis desselben aus ihm macht?

Gorgias. a

Sokrates. Ist nun nach dieser Regel nicht auch der, welcher das Recht erlernt hat, gerecht 36)

Gorgias. Gewiß.

Sokrates. Der Gerechte handelt aber doch gerecht

Gorgias. Ja.

Sokrates. Ist also der Redner nicht notwendig ge- recht und der Gerechte nicht notwendig gewillt gerecht zu handeln ?

Gorgias. So scheint es wenigstens.

Sokrates. Niemals also wird der Gerechte Unrecht verüben wollen.

Fünfzehntes Kapitel. 49

Gorgias. Unter keinen Umständen,

[Sokrates. Der Redner aber muß demzufolge gerecht sein.

Gorgias. Ja]®).

Sokrates. Niemals also wird der Redner Unrecht zu tun gewillt sein.

Gorgias. Gewiß nicht.

= 1

Fünfzehntes Kapitel.

Sokrates. Nun erinnerst du dich doch, daß du kurz vorher sagtest, man dürfe, wenn der Faustkämpfer seine Kunst unrechtmäßig anwende, dies nicht den Turnlehrern zum Vorwurf machen und sie nicht aus den Städten aus- weisen, ebensowenig dürfe man auch, wenn der Redner seine Redekunst unrechtmäßig verwende, dem Lehrer daraus einen Vorwurf machen und ihn aus der Stadt ausweisen, sondern nur den, der das Unrecht verübe und die Redekunst mißbräuchlich anwende? Ward dies be- hauptet, oder nicht?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Jetzt aber erweist sich der nämliche Red-

ner als ein Mann, der niemals Unrecht tut. Oder nicht?

Gorgias. So ist es.

Sokrates. Und in unseren ersten Aufstellungen, mein Gorgias, hieß es, dab die Rhetorik es mit Reden zu tun habe nicht über das Gerade und Ungerade, sondern über Recht und Unrecht. Nicht wahr?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Damals nun, als du dies sagtest, nahm ich an, die Redekunst könne slies andere eher als etwas Un- gerechtes sein, da sie es in ihren. Reden ja immer mit der Gerechtigkeit zu tun hat. Als du aber kurz darauf sagtest, der Redner könne von der Redekunst auch einen 'unrechtmäßigen Gebrauch machen, da wunderte ich mich

st. und meinte, die Behauptungen stünden nicht im Einklang Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Bd. 148. 4

50 Platons Gorgias,

miteinander. So tat ich denn, wie du dich erinnern wirst, die Äußerung, daß, wenn du es, wie ich, für einen Gewinn erachtetest widerlegt zu werden, es sich lohne die Unter- redung fortzusetzen, wo nicht, sie fallen zu lassen. Im weiteren Verlaufe aber unserer Betrachtungen wird nun hinwiederum, wie du selbst siehst, eingeräumt, der Rede- kundige könne unmöglich einen unrechtmäßigen Gebrauch von der Redekunst machen und könne nimmermehr Un- recht tun wollen. Über die Frage nun, wie es sich damit eigentlich verhält, völlig ins klare zu kommen, dazu bedarf es wahrhaftig, mein Gorgias, eines sehr ausführ- lichen Gedankenaustausches.

Sechzehntes Kapitel.

Polos. Wie, mein Sokrates? Denkst du auch wirk- lich selbst so über die Rhetorik, wie du jetzt sagst? Oder hat es damit deiner wahren Meinung nach nicht vielmehr folgende Bewandtnis: Weil Gorgias aus Schamgefühl dir einräumte, der redekundige Mann kenne das Gerechte und das Schöne und das Gute und werde, wenn der Schüler nicht schon im Besitze dieser Kenntnis zu ihm käme, selbst sie ihm beibringen, so ergab sich wohl infolge dieses Zugeständnisses ein Widerspruch in den Behaup- tungen, indem du selbst nach deiner beliebten Art die Sache zu so verfänglichen Fragen zuspitztest. Denn hältst du es für möglich, daß einer in Abrede stellen wird, er kenne sowohl selbst das Gerechte wie er es auch andere lehren könne? Aber die Sache so zuzuspitzen verrät einen starken Mangel an Ritterlichkeit.

Sokrates. Mein schönster Polos, recht geflissentlich gehen wir darauf aus, uns Genossen und Söhne zu gewin- nen, damit, wenn wir selbst bei zunehmendem Alter in die Irre geraten, ihr Jüngeren uns beisteht und unserem Leben den fehlenden Halt gebt in Taten und Worten. So auch jetzt: Wenn ich und Gorgias in der Untersuchung fehl gehen,

+

Sechzehntes Kapitel. 51

so stehe du uns bei und mache den Fehler wieder gut. Das ist deine Pflicht. Und ich erkläre mich bereit, von dem, was eingeräumt worden ist, sofern es deiner Meinung nach nicht mit Recht eingeräumt worden ist, zurückzu- nehmen, was du verlangst, wenn du nur eine Bedingung einhältst.

Polos. Und das wäre?

Sokrates. Wenn du, mein Polos, deine Neigung zu langen Reden einschränkst, der du zu Anfang nachgabst.

Polos. Wie? Soll es mir nicht frei stehen zu reden so viel ich will?

Sokrates. Es stünde in der Tat schlimm um dich, mein Bester, wenn du nach Athen gekommen wärest, wo in ganz Griechenland die meiste Redefreiheit herrscht, und nun der einzige sein solltest, dem dieser Vorzug nicht zugute käme. Aber erwäge dagegen: Wenn du dich in langen Reden ergehst und nicht gewillt bist auf das Ge- fragte zu antworten, stände es dann nicht anderseits schlimm um mich, wenn es mir nicht {rei stehen soll fortzugehen und dich nicht anzuhören ? Aber wenn dir an

. der bisherigen Untersuchung etwas gelegen ist und du

gewillt bist ihr aufzuhelfen, so nimm, wie ich eben sagte, zurück was du willst, im Wechsel von Frage und Antwort, und mach es wie ich und Gorgias: widerlege und laß dich . widerlegen. Denn du behauptest doch wohl, was Gorgias versteht, auch deinerseits zu verstehen. Oder nicht?

Polos. Jawohl.

Sokrates. Forderst du also nicht auch deinerseits jeden auf, dich zu fragen was ihm beliebt, im Vertrauen auf deine Fertigkeit im Antworten ? |

Polos. Allerdings.

Sokrates. So tu denn auch jetzt was du lieber willst, frage oder antworte.

4

592 Platons (orgias,.

Siebzehntes Kapitel.

Polos. Gut, es soll geschehen. So antworte mir denn, mein Sokrates. Da Gorgias dir über das Wesen der Rheto- rik im unklaren zu sein scheint, so sage, wofür erklärst du sie denn ?

Sokrates. Meinst du damit, für was für eine Kunst ich sie erkläre ? |

Polos. Ja.

Sokrates. Meiner Ansicht nach ist sie überhaupt keine Kunst, mein Polos, um dir die Wahrheit zu sagen.

Polos. Aber was soll denn die Rhetorik deiner Mei- nung nach sein?

Sokrates. Eine Sache, von der du in deiner kürz- lich von mir gelesenen Schrift behauptest, daß sie der Kunst zum Dasein verhelfe (8. 4480).

Polos. Was meinst du damit?

Sokrates. Eine gewisse Erfahrenheit.

Polos. Eine Erfahrenheit also scheint dir die Rheto- rik zu sein? |

Sokrates. Ja, wenn du nicht anderer Meinung bist.

Polos. Erfahrenheit worin ?

Sokrates. In der Erzeugung eines gewissen Wohl- gefallens und einer gewissen Lust.

Polos. Also erscheint dir die Rhetorik doch als eine schöne Sache, als Fähigkeit nämlich, bei den Menschen Wohlgefallen zu erwecken

Sokrates. Wie, mein Polos? Hast du denn von mir schon erfahren, wofür ich sie erkläre, daß du schon rach dem fragst, was erst nachher an die Reihe kommt, näm- lich ob ich sie nicht für etwas Schönes halte?

Polos. Habe ich nicht erfahren, daß du sie für eine gewisse Erfahrenheit erklärst ?

Sokrates. Willst du mir nun, da du das Wohl- gefallen so in Ehren hältst, einen kleinen Gefallen er- weisen ?

Polos. Ja.

εν

St.

Achtzehntes Kapitel: 53

Sokrates. Frage mich jetzt, was für eine Kunst mir die Kochkunst zu sein scheint.

Polos. So frage ich denn, was ist die Kochkunst für eine Kunst ? |

Sokrates. Überhaupt keine Kunst, mein Polos®*).

Polos. Nun was denn? Heraus damit.

Sokrates. So sei’s denn gesagt: eine gewisse [r- fahrenheit.

Polos. Worin? Heraus mit der Sprache.

Sokrates. Es sei denn gesagt, mein Polos‘ iu der Erzeugung von Wohlgefallen und Lust.

Polos. Sind denn aber Kochkunst und Redekunst ein und dasselbe ?

Sokrates. Durchaus nicht; wohl aber jede ein Teil der nämlichen Tätigkeit.

Polos. Und welche wäre das?

Sokrates. Wenn es nur nicht gar zu unritterlich wäre die Wahrheit zu sagen. Denn ich trage des Gorgias wegen Bedenken mit der Sprache herauszugehen;; er könnte nämlich glauben, ich wollte seine Tätigkeit lächerlich machen. Ob nun die Redekunst, mit der Gorgias sich beschäftigt, das ist, was ich meine, weiß ich nicht; denn aus unserer eben angestellten Untersuchung ward uns nicht klar, wofür er sie eigentlich hält. Was ich aber

᾿ς unter Redekunst verstehe, ist ein Teil einer Sache, die

mit dem Schönen nichts gemein hat. Gorgias. Was für einer, mein Sokrates? Sage es ohne jede Scheu vor mir.

Achtzehntes Kapitel.

Sokrates. Also: Sie scheint mir, mein Gorgias, eine Tätigkeit zu sein, die zwar nicht kunstmäbig ist, aber einen mit einer gewissen Treftsicherheit ausgerüsteten, mutigen und für den Verkehr mit Menschen besonders beanlagten Geist verlangt. Ihrem eigentlichen Wesen nach

54 Platons Gorgias,.

nenne ich sie Schmeichelei?). Diese Tätigkeit scheint mir viele Teile unter sich zu begreifen; neben andern aber ist einer von ihnen auch die Kochkunst. Sie scheint zwar eine Kunst zu sein, meinem Dafürhalten nach aber ist sie keine Kunst, sondern eine Erfahrenheit und Geübtheit. Ihr rechne ich als einen Teil auch die Rhetorik zu und die Putzkunst und die Sophistik, vier Teile also, die sich auf eine entsprechende Zahl von Objekten beziehen. Wenn also Polos durch Fragen sich unterrichten will, so mag er frageh; denn noch hat er nicht erfahren, für welchen Teil der Schmeichelkunst ich die Rhetorik halte, vielmehr hat er nicht bemerkt, daß ich diese Frage noch gar nicht beantwortet habe, sondern kommt gleich mit der Frage, ob ich sie nicht für etwas Schönes halte. Ich aber werde ihm erst dann Auskunft darüber geben, ob ich die Rhetorik für etwas Schönes oder Häßliches halte, wenn ich ihm zuvor Auskunft darüber gegeben habe, was sie ist. Denn so und nicht anders gehört es sich, mein Polos. Willst du nun darüber Kunde haben, so frage, welchen Teil der Schmeichelkunst ich unter der Rhetorik verstehe.

Polos. So frage ich denn, und du antworte, was für einen Teil. |

Sokrates. Wirst du meine Antwort auch wohl ver- stehen? Die Rhetorik ist nämlich nach meinem Dafür- halten ein Schattenbild eines Teiles der Staatskunst.

Polos. Wie nun? Erklärst du sie damit für etwas Schönes oder Häßliches?

Sokrates. Für etwas Häßliches; denn das Schlechte nenne ich häßlich, da ich dir nun einmal antworten soll als wüßtest du schon, was ich meine.

Gorgias. Aber auch ich, beim Zeus, mein Sokrates, verstehe nicht, was du meinst2®). |

Sokrates. Sehr begreiflich, mein Gorgias; denn noch bin ich ja gar nicht zu einer deutlichen Erklärung ge- kommen, unser Polos hier aber ist jung und überstürzt sich.

St.

Neunzelhntes Kapitel. 55

Gorgias. Überlaß ihn sich selbst und sage mir, was du mit deiner Behauptung, die Rhetorik sei ein Schatten- bild eines Teiles der Politik, eigentlich meinst.

Sokrates. Nun, ich will versuchen klar zu machen, was mir die Rhetorik zu sein scheint; wenn es aber nieht zutreffend ist, so wird unser Polos die Widerlegung geben. Du unterscheidest doch zwischen Leib und Seele?

Gorgias. Selbstverständlich.

Sokrates. Jedes von beiden hat doch deiner Meinung nach auch seine besondere Art des Wohlbefindens?

Gorgias. Gewib.

Sokrates. Ferner auch ein Wohlbefinden, das nur scheinbar, aber nicht wirklich ist? Beispielsweise: Viele scheinen sich körperlich wohl zu befinden, denen niemand so leicht anmerkt, daß sie sich tatsächlich nicht wohl befinden, es müßte denn ein Arzt oder ein Lehrer der Gymnastik sein.

Gorgias. Sehr richtig.

Sokrates. Und nicht nur im Körper, behaupte ich, sondern auch in der Seele findet sich etwas, was den Schein des Wohlbehagens hier wie dort hervorbringt, im ‚Widerspruch zu dem tatsächlichen Befinden.

Gorgias. So ist es.

Neunzehntes Kapitel.

Sokrates. Wohlan denn; ich will dir, soweit es mir möglich, meine Meinung deutlicher zu machen suchen. Entsprechend den zwei Objekten gibt es meiner Meinung nach auch zwei Künste; diejenige, welche sich auf die Seele bezieht, nenne ich Politik, die auf den Körper bezügliche kann ich dir nicht so mit einem Namen bezeichnen, aber ich unterscheide an der einen Pflege des Leibes zwei Teile, nämlich die Gymnastik und die Heilkunde. Auf seiten der Politik aber entspricht. der Gymnastik die Gesetzgebung, der Heilkunde aber die

56 Platons Gorgias.

Rechtspflege. Beiderseits nun findet zufolge der Beziehung auf das nämliche Objekt eine gewisse Gemeinschaft statt, einerseits der Heilkunst mit der Gymnastik, anderseits der Rechtspflege mit der Gesetzgebung; gleichwohl aber unterscheiden sie sich voneinander. Dies wären also vier Künste, deren Sorge immer auf das wahre Wohl hier

des Körpers dort der Seele gerichtet ist. Dies nimmt nun -

die Schmeichelkunst wahr, nicht etwa auf Grund wirklicher Erkenntnis, sondern bloßer Mutmaßung, schleicht sich, sich vierfach teilend, in entsprechender Verhüllung in jeden dieser Teile ein und gibt vor das zu sein, wohin sie sich eingeschlichen hat; dabei kümmert sie sich um das wahre Beste nicht im geringsten, macht vielmehr durch die Lockung des jedesmal Angenehmsten Jagd auf den Unverstand, den sie dermaßen täuscht, daß sie an Wert alles andere zu übertreffen scheint. In die Heilkunst hat sich also die Kochkunst eingeschlichen und gibt vor, die besten Speisen für den Leib zu kennen. Wenn also unter Kindern oder unter Männern, die so unverständig sind wie Kinder, ein Koch und ein Arzt in Wettbewerb treten müßten, wer von beiden der wirklich Sachverständige hinsichtlich der nützlichen und schädlichen Speisen ist, der Arzt oder der Koch, so müßte der Arzt Hungers ster- ben. Schmeichelei also nenne ich das, und behaupte, daß etwas Derartiges häßlich sei, mein Polos denn damit wende ich mich an dich —, weil das erstrebte Ziel das Angenehme ist und nicht das wahre Beste. Eine Kunst nenne ich es aber nicht, sondern Erfahrenheit, weil sie keine Erkenntnis besitzt von der wahren Natur dessen, was sie darbietet, und infolgedessen nicht imstande ist den Grund für die einzelnen Erscheinungen anzugeben. Ich aber nenne nicht Kunst, was sich über die Gründe nicht ausweisen kann. Wenn du hierüber anderer Meinung bist, so bin ich bereit dir darüber Rede zu stehen.

m ---- - --

Zwanzigstes Kapitel. 57

Zwanzigstes Kapitel.

Der Heilkunst also schiebt sich, wie gesagt, die Koch- kunst als Schmeichelkunst unter; der Gymnastik aber in der nämlichen Weise die Putzkunst, die voller Bosheit und Trug, unedel und kriecherisch, durch Formen und Farben, durch Glätte und Kleiderpracht täuscht und dazu führt, daß man mit fremder Schönheit prangt, dagegen die eigene Schönheit, die Frucht der Gymnastik, ver- nachlässigt. Um mich nun nicht ins Breite zu verlieren, will ich nach Art der Mathematiker zu dir reden denn da wirst du mir wohl folgen können. Wie sich also die Putzkunst zur Gymnastik verhält, so die Kochkunst zur Heilkunst. Oder besser so: Wie sich die Putzkunst zur Gymnastik verhält, so die Sophistik zur Gesetzgebungs- kunst, und wie die Kochkunst zur Heilkunst, so die Rheto- rik zur Rechtspflege. Worauf ich aber hinaus will, ist folgendes: Der durch die Natur der Sache bestimmte Unter- schied ist der eben angegebene; infolge der nahen Ver- wandtschaft aber werden Sophisten und Rhetoren ais ein und demselben Gebiet angehörig zusammengemengt und wissen ebensowenig selbst, wozu sie eigentlich da sind, wie die anderen Menschen wissen, was sie aus ihnen machen sollen. Denn wenn die Seele nicht über den Leib herrschte, sondern er selbst die Herrschaft über sich führte, und wenn die Kochkunst und Heilkunst nicht von der Seele ins Auge gefaßt und geschieden würden, sondern der Körper selbst nach Maßgabe dessen entschiede, woran er selbst Wohlgefallen findet, so würde das Wort des Anaxagoras®) in voller Geltung stehen, mein lieber Polos denn in diesen Dingen bist du ja zu Hause —: alle Dinge würden in Eins. zusammengemengt, denn es gäbe keinen Unterschied zwischen dem, was zur Heilkunst und zur Gesundheit und zur Kochkunst gehört. Was ich also ‘unter Rhetorik verstehe, hast du nun gehört: sie entspricht der Kochkunst, indem sie für die Seele das ist, was jene für den Leib. Vielleicht nun war es sonderbar von mir,

58 Platons Gorgias.

daß ich es dir verwehrte lange Rede zu halten, während ich selbst meine Rede so weit ausgedehnt habe. Ich darf aber immerhin einigen Anspruch auf Nachsicht machen. Denn als ich mich kurz faßte, verstandest du mich nicht und warst durchaus nicht imstande mit der Antwort, die ich dir gab, etwas anzufangen, sondern ver- langtest nach näherer Auseinandersetzung. Wenn nun auch ich meinerseits mit deiner Antwort mich nicht zurecht zu finden weiß, so dehne auch du deinen Vortrag aus, finde ich mich aber damit zurecht, so hindere mich nicht in ihrer Ausnutzung; denn das fordert die Billigkeit. Und wenn du jetzt mit dieser meiner Antwort etwas anzufangen weißt, so rücke nur mit deiner Meinung heraus.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Polos. Was also ist deine Meinung? Für Schmeiche- lei erklärst du die Rhetorik ? |

Sokrates. Nur für einen Teil der Schmeichelei er- klärte ich sie doch. So jung noch an Jahren, und schon so schwach an Gedächtnis, mein Polos? Wie soll das erst später mit dir werden?

Polos. Meinst du denn also, die guten Redner stün- den wie Schmeichler in den Staaten in geringer Geltung?

Sokrates. Soll das eine Frage sein, die du an mich richtest, oder der Anfang zu irgendwelcher Rede?

Polos. Eine Frage.

Sokrates. Ich meine, sie stehen überhaupt in gar keiner Geltung.

Polos. In gar keiner Geltung? Wie? haben sie nicht die größte Macht in den Staaten ?

Sokrates. Nein, sofern du das Machthaben für etwas Gutes erklärst für den Machthaber.

Polos. . Das tue ich allerdings.

Sokrates. Demnach scheinen mir denn die Redner die allergeringste Macht im Staate zu haben.

466

Zweiundzwanzigstes Kapitel. 59

Polos. Wie? Töten sie nicht wie die Tyrannen, wen sie nur wollen, rauben sie nicht ihren Mitbürgern das Vermögen und verjagen sie sie nicht aus den Staaten ganz nach ihrem Gutdünken ?

Sokrates. Ja, beim Hunde Doch bin ich, mein Polos, bei jeder deiner Äußerungen in Zweifel, ob du selbst dies behauptest und deine eigene Meinung kundgibst, oder ob du mich fragst.

Polos. Du hörst doch, ich frage dich.

Sokrates. Gut, mein Freund. Dann richtest du zwei Fragen zugleich an mich.

Polos. Wieso zwei?

Sokrates. Außertest du dich nicht eben etwa so: die Redner töten, wen sie wollen, wie 416 T'yrannen, und sie rauben ihren Mitbürgern das Vermögen und verjagen sie aus den Staaten, ganz nach ihrem Gutdünken?®”)

Polos. Jawohl.

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Sokrates. Ich behaupte nun also, dab dies zwei Fragen sind, und ich werde dir auf beide antworten. Denn meiner Meinung nach, mein Polos, haben die Redner und die Tyrannen in den Staaten eine verschwindend kleine Macht®"), wie ich eben vorhin behauptete; tun sie ΄ doch sozusagen gar nichts, was sie (wirklich) wollen, dagegen tun sie, was ihnen das Beste zu sein dünkt.

Polos. Heißt das nicht soviel wie „große Macht haben‘ ? |

Sokrates. Nein, wie wenigstens Polos behauptet:?).

Polos. Ich wäre es, der dies leugnete? Ich bin es ja gerade, der es behauptet.

Sokrates. Beim du gewiß nicht; denn du sagst ja, der Besitz großer Macht sei ein Gut für den Inhaber dieser Macht.

Polos. Das behaupte ich allerdings.

Sokrates. Angenommen also, es hätte einer keinen

60 Platons Gorgias:

Verstand, hältst du es dann für ein Gut, wenn er das tut, was ihm das Beste zu sein dünkt? Und nennst du das große Macht haben ?

Polos. Nein.

Sokrates. Also mußt du mich nun Ro und mir beweisen, daß die Redner Einsicht besitzen und daß die Rhetorik eine Kunst und keine Schmeichelei sei. Wenn dir dies aber nicht gelingt, dann ist es auch mit der Behauptung vorbei, daß die Redner und die Tyrannen, die in den Staaten tun, was ihnen gut dünkt, dadurch ein Gut in ihrer Hand hätten, sofern nämlich Macht, wie du behauptest, ein Gut, das verstandlose Tun dessen aber, was einem gut dünkt, auch nach deinem Zugeständnis ein Übel ist. Oder nicht?

Polos. Ja.

Sokrates. Wie könnten also die Redner oder die Tyrannen in den Staaten große Macht besitzen, wenn nicht dem Sokrates vom Polos nachgewiesen wird, daß sie tun, was sie (wirklich) wollen ? |

Polos. Da behalte einer die Geduld.

Sokrates. Meine Behauptung ist: Sie tun nicht, was sie (wirklich) wollen. Nun widerlege mich doch.

Polos. Gabst du nicht eben zu, dab sie tun, was ihnen das Beste zu sein dünkt?

Sokrates. Das gebe ich auch jetzt noch zu.

Polos. Tun sie also nicht, was sie wollen ?

Sokrates. Nein, sage ich.

Polos. Und doch tun sie, was ihnen dünkt ?

Sokrates. Ja.

Polos. Das sind ja ganz krause und uiche Behauptungen, mein Sokrates.

Sokrates. Verleumde mich nicht, mein wohllöblicher Polos, um dich in deiner eigenen Manier?) anzureden ; sondern wenn du es fertig bringst mich zu fragen, so zeige, daß ich im Irrtum bin, wo nicht, so antworte selbst.

Polos. Nun, ich will antworten, damit ich doch erfahre, was du meinst.

"ὃ.

ὌΝ

Dreiundzwanzigstes Kapitel, 61

Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Sokrates. Wie meinst du also? Wollen die Men- schen in jedem einzelnen Falle das, was sie tun, oder vielmehr das, um des willen sie das tun, was sie tun? Glaubst du z. B., daß diejenigen, welche Arznei trinken auf Verordnung der Ärzte, dies (wirklich) wollen, was sie tun, nämlich mit schmerzhafter Überwindung Arznei trinken, oder vielmehr das, um dessen willen sie sie trinken, nämlich die Gesundheit ? 3%)

Polos. Offenbar das letztere.

Sokrates. Und auch bei denen, die auf See fahren oder irgendeinem anderen Erwerb nachgehen, ist nicht das, was sie jedesmal tun, das eigentlich von ihnen Ge- wollte. Denn wer will auf der See fahren und Gefahren bestehen und Bedrängnisse auf sich nehmen? Nein, sie wollen, denke ich, das, um deswillen sie sich auf die See wagen, nämlich reich werden. Denn um des Reichtums willen fahren sie auf der See.

Polos. Allerdings.

Sokrates. Und gilt das nicht ganz allgemein? Wenn einer etwas tut um eines Zweckes willen, so will er doch wohl nicht das, was er gerade tut, sondern das, um des willen er es tut?

Polos. Ja. |

Sokrates. Gibt es nun irgendetwas auf der Welt, was nicht entweder gut ist oder schlecht oder ein Mittleres zwischen beiden, das heißt weder gut noch schlecht? 555)

Polos. Dagegen läßt sich unmöglich etwas ein- wenden, mein Sokrates.

Sokrates. Nennst du nun nicht Weishait, Gesund- heit, Reichtum und alles andere der Art gut, das Gegen- teil davon aber schlecht?

Polos. Ja. |

Sokrates. Als weder gut noch schlecht bezeichnest du doch wohl solches, was zuweilen am Guten, zuweilen

st. am Schlechten, zuweilen auch an keinem von beiden teil-

62 Platons Gorgias.

hat, z. B. sitzen, gehen, laufen, segeln, oder auch Steine, Holz und anderes dieser Art? Meinst du es nicht so? Oder verstehst du irgend etwas anderes unter dem, was weder gut noch schlecht ist?

Polos. Nein, dieses.

Sokrates. Tut man nun dies Mittlere, wenn man es tut, des Guten wegen, oder das Gute des Mittleren wegen?

Polos. Offenbar das Mittlere um des Guten willen.

Sokrates. Also weil wir dem Guten nachtrachten, gehen wir, wenn wir gehen, überzeugt, daß es zweckmäßig ist, und umgekehrt bleiben wir auch stehen, wenn wir stehen bleiben, um des Nämlichen, nämlich des Guten willen. Oder nicht?

Polos. Ja.

Sokrates. Und auch wenn wir einen töten und vertreiben und ihm das Vermögen rauben, so tun wir dies in der Überzeugung, daß es für uns besser sei dies zu tun als nicht zu tun? |

Polos. Allerdings.

Sokrates. Also des Guten wegen tut man alles das, wenn man es tut.

Polos. Ja.

Vierundzwanzigstes Kapitel.

Sokrates. Waren wir nicht einverstanden darüber, daß wir nicht das wollen, was wir irgendeines Zweckes wegen tun, sondern den Zweck, um deswillen wir es tun?

Polos. Durchaus.

Sokrates. Also nicht so schlechthin wollen wir hin- morden und aus dem Staate verjagen oder Vermögen rauben, sondern nur dann wollen wir es, wenn es nütz- lich ist; wenn es schädlich ist, dann nicht. Denn das Gute wollen wir, wie du sagst, was aber weder gut noch schlecht ist, das wollen wir nicht, und ebensowenig das Schlechte. Nicht wahr? Habe ich recht, mein Polos, oder nicht? Warum antwortest du nicht?

Vierundzwanzigtes Kapitel. 63

Polos. Du hast recht.

Sokrates. Wenn also, dieses zugestanden, einer einen tötet oder aus dem Staate vertreibt oder des Vermögens beraubt, gleichviel ob T'yrann oder Redner, in der Über- zeugung, es sei so gut für ihn, während es tatsächlich das Gegenteil ist, so tut dieser, was ihm gut dünkt. Nicht wahr?

Polos. Ja. Sokrates. Etwa auch das, was er will, wenn dies tatsächlich schlecht ist? Warum antwortest du nicht?

Polos. Nun, er scheint mir nicht zu tun, was er will.

Sokrates. Ist es also möglich, daß ein solcher große Macht in diesem Staate hat, wenn große Macht deinem Zugeständnis zufolge etwas Grutes ist?

Polos. Nein.

Sokrates. Also ich hatte recht mit meiner Behaup- tung, es könne vorkommen, daß ein Mensch in einem Staat ganz nach seinem Gutdünken handelt und keine große Macht hat und nicht tut, was er will.

Polos. Als ob du, mein Sokrates, dir nicht lieber die Freiheit, im Staate ganz nach deinem Gutdünken zu handeln, gefallen lassen würdest, als das Gegenteil, und nicht mit Neid es ansehen würdest, wenn einer nach

Gutdünken einen tötet oder des Vermögens beraubt oder

St.

ins Gefängnis bringt.

Sokrates. Meinst du das so, daß er es mit Recht oder mit Unrecht tut?

Polos. Darauf kommt nichts an; denn ist er nicht in beiden Fällen beneidenswert

Sokrates. Sprich nicht lästerlich, mein Polos.

Polos. Wieso ? |

Sokrates. Weil man die nicht beneiden soll, die nicht zu beneiden sind; sondern bemitleiden, ebenso wie die Elenden.

Polos. Wie? Scheint dir das von den Leuten zu gelten, von denen ich spreche ?

Sokrates. Gewiß.

64 Platons Gorgias,.

Polos. Wer also nach Gutdünken einen tötet und dies mit Recht tut, scheint dir der elend und bemitleidens- wert zu sein ? |

Sokrates. Nein, das nicht, aber auch nicht be- neidenswert.

Polos. Nanntest du ihn nicht eben elend? |

Sokrates. Den, mein Bester, der ungerechter Weise tötet, und bemitleidenswert noch obendrein; den aber, der es gerechter Weise tut, bezeichnete ich als einen, der nicht zu beneiden ist. |

Polos. Bemitleidenswert und elend ist doch wahr- lich eher der, der ungerechter Weise den Tod erleidet.

Sokrates. In geringerem Maße als der, welcher den Tod herbeiführt, mein Polos, und in geringerem Maße als der, welcher gerechter Weise den Tod erleidet.

Polos. Inwiefern, mein Sokrates ?

Sokrates. Insofern, als das Unrechttun das größte aller Übel ist. |

Polos. Wirklich das größte? Ist nicht das Unrecht- leiden ein größeres’?

Sokrates. Durchaus nicht).

Polos. Du also möchtest lieber Unrecht leiden als Unrecht tun wollen ?

Sokrates. Wollen möchte ich keines von beiden: wenn ich aber unweigerlich wählen müßte zwischen Un- rechttun und Unrechtleiden, so würde ich mich lieber für das letztere entscheiden als für das erstere.

Polos. Du würdest also nicht Tyrann sein wollen ?

Sokrates. Nein, wenn du darunter dasselbe versteust wie ich.

Polos. Nun, was ich darunter verstehe, habe ich eben gesagt und bleibe dabei, nämlich die Freiheit, in dem Staate ganz nach Gutdünken zu schalten und zu walten, also zu töten, zu verbannen, kurz alles zu tun nach eigenem Belieben. |

Fünfundzwanzigstes Kapitel. 65

Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Sokrates. Wenn ich nun meine Meinung sage, mein Verehrtester, so sollst du mit deiner Widerlegung nicht zurückhalten. Wenn ich nämlich auf menschenerfülltem Markt, ausgerüstet mit einem unter der Achsel verborgenen Dolch, zu dir sagte: Mein Polos, eben bin ich in den Besitz einer wunderbaren Macht und Herrscherkraft ge- langt; denn wenn es mir gut dünkt, daß irgendeiner der Menschen, die du hier beisammen siehst, augenblicklich den Tod erleide, so wird der dazu Ausersehene alsbald tot sein. Und wenn es mir gut dünkt, daß irgendeinem von ihnen der Schädel eingeschlagen werde, so wird ihm der Schädel auf der Stelle gespalten sein, und wenn ihm das Kleid aufgeschlitzt werden soll, wird es alsbald auf- geschlitzt sein. So groß ist meine Macht in diesem Staate. Wenn ich nun deinem Unglauben dadurch begegnete, dab ich dir den Dolch vorzeigte, so würdest du bei dessen Anblick vielleicht sagen: Mein Sokrates, auf diese Art wäre es niemandem verwehrt große Macht zu haben, denn so könnte auch jedes beliebige Haus, das du dazu auser- sehen hast, niedergebrannt werden und ebenso auch die athenischen Schiffshäuser mitsamt allen Trieren und allen Lastschiffen des Staates sowohl wie der Privatleute. Aber der Besitz großer Macht kann doch demnach nicht darin bestehen, daß man tut, was einem gut dünkt. Oder meinst du doch?

Polos. Nein; so wie du die Sache darstellst. natürlich nicht. |

Sokrates. Und kannst du auch angeben, was du an einer solchen Macht auszusetzen hast?

Polos. Gewiß. |

Sokrates. Nun, was? Sage es.

Polos. Dies, daß solche Handlungsweise unmöglich ungestraft bleiben kann.

Sokrates. Ist aber Strafeleiden nicht ein Übel?

Polos. Allerdings. a

Platon. Gorgias. Phil.Bibl. Bd. 148. 5

66 Platons Gorgias.

Sokrates. Also nunmehr, mein Wunderlicher, denkst du doch wieder anders über die Sache3®). Nämlich: Wenn das Handeln nach Gutdünken zugleich ein nützliches Han- deln ist, dann ist es etwas Gutes, und nur darin besteht, wie es scheint, tatsächlich der Besitz großer Macht; im anderen Falle aber ist es etwas Schlechtes und eine arm- selige Macht. Sind wir nun nicht darüber einverstanden, daß die vorhin genannten Handlungen, das Töten und Ver- bannen von Mitbürgern und der Raub ihres Vermögens, in manchen Fällen gut, in manchen aber auch das Gegen- teil sind ?

Polos. Gewiß.

Sokrates. Dies also wird, wie es scheint, sowohl deinerseits wie auch meinerseits eingeräumt.

Polos. Ja.

Sokrates. Wann also erklärst du es für gut, dies zu tun? Sage, welche Bestimmung triffst du?

Polos. Gib du doch selbst, mein Sokrates, die Ant- wort darauf.

Sokrates. Nun, mein Polos, wenn du es lieber von mir hören willst, so erkläre ich: wenn man es gerechter Weise tut, dann. ist es gut, wenn aber ungerechter Weise, dann schlecht.

Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Polos. Ein schweres Stück Arbeit, dich zu wider- legen, mein Sokrates. Könnte nicht aber auch ein Kind dich des Irrtums überführen ?

Sokrates. Nun, ich werde dem Kinde sehr dank- bar sein, ebensosehr aber auch dir, wenn du mich wider- legst und von Hirngespinsten befreist. Laß dich’s ja nicht verdrießen dich einem Freunde wohltätig zu erweisen, sondern widerlege ihn.

Polos. Wohl denn, mein Sokrates, ich brauche nicht auf längst vergangene. Dinge zurückzugreifen, um dich zu

Sechsundzwanzigstes Kapitel, 67

widerlegen; bekannte Vorgänge der jüngsten Zeit sind ganz dazu angetan dich zu widerlegen und den Beweis zu liefern, daß viele Menschen verbrecherisch handeln und doch glücklich sind.

Sokrates. Was wären das für welche?

Polos. Du siehst doch den Archelaos, des Perdikkas Sohn”), über Makedonien herrschen ?

Sokrates. Ich sehe es nicht, aber ich weiß doch durch Hörensagen davon.

Polos. Scheint er dir glücklich zu sein oder un- glücklich ?

Sokrates. Ich weiß es nicht, mein Polos, denn ich habe noch keinen Umgang mit dem Manne gehabt.

Polos. Wie? Nicht anders als durch Umgang könntest du es erkunden und erkennst nicht gleich von selbst, daß er glücklich ist?

Sokrates. Nein, wahrhaftig nicht.

Polos. Dann, mein Sokrates, wirst du ‚zweifellos auch behaupten, daß du den Großkönig?®) nicht als glück- lich erkennst.

Sokrates. Und das mit vollem Recht; denn ich weiß ja nicht, wie es mit seiner Geistesbildung und mit seiner Gerechtigkeit steht.

Polos. Wie? Wäre denn das der Inbegriff der Glück- seligkeit ? |

Sokrates. Nach meiner Meinung ja, mein Polos. Denn den tugendhaften Mann wie auch das tugendhafte Weib nenne ich glücklich, den ungerechten und frevel- haften dagegen unglücklich.

Polos. So wäre also Archelaos nach deiner Meinung unglücklich

Sokrates. Ja, mein Freund, wenn er ungerecht ist.

Polos. Wie wäre:-es möglich ihn anders zu nennen? Hatte er doch auf seine jetzige Herrschaft nicht den min- desten Anspruch. Denn er war der Sohn einer Frau, die die Sklavin des Alketas war, des Bruders des Perdikkas, und ginge es nach dem Recht, so war er der Sklave des

68 Platons Gorgias.

Alketas. Wenn er also rechtmäßig handeln wollte, so stände er im Dienste des Alketas und wäre glücklich nach deiner Behauptung. Aber nun ist er ganz unerhört unglücklich geworden, da er die größten Verbrechen be- gangen hat. Erstens nämlich ließ er eben diesen seinen Herrn und Oheim zu sich kommen unter dem Vorgeben, ihm die Herrschaft, die Perdikkas ihm geraubt hatte, über- geben zu wollen, bewirtete ihn und machte ihn trunken wie auch den Sohn desselben, den Alexander, seinen Vetter und ungefähren Altersgenossen, ließ sie auf einen Wagen laden, schaffte sie so des Nachts hinaus, ermordete sie und ließ sie beide verschwinden. Und alle diese Greuel- taten verrichtete er, ohne zu merken, daß er dadurch höchst unglücklich geworden war, und empfand keine Reue dar- über; vielmehr ließ er kurze Zeit darauf abermals die Gelegenheit vorüber, sich glücklich zu machen durch recht- mäßige Erziehung seines Bruders, des echten Sohnes des Perdikkas, eines etwa siebenjährigen Knaben, dem die Herrschaft dem Rechte nach zukam, und durch Zurück- erstattung der Herrschaft an ihn, sondern er stürzte ihn in einen Brunnen und ließ ihn ertrinken, zur Kleopatra aber, der Mutter des Knaben, sagte er, er sei bei Ver- folgung einer Gans hineingefallen und umgekommen. Weil er also unter allen Makedoniern die größten Freveltaten begangen hat, so ist er infolgedessen der unglücklichste unter ihnen und nicht etwa der glücklichste, und vielleicht - gibt es manchen Athener, dich voran, der lieber jeder andere Makedonier sein wollte als Archelaos.

Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Sokrales. Gleich zu Beginn unserer Unterredung, mein Polos, lobte ich dich, daß du meinem Dafürhalten nach für die Rhetorik trefflich vorgebildet seist, wogegen du die Dialektik vernachlässigt habest. Und soll nun jetzt dies der versprochene Beweis sein, mit dem mich

S

P

Siebenundzwanzigstes Kapitel. 69

auch ein Kind widerlegen würde (4700), und ist wirklich jetzt von dir, wie du meinst, durch diesen Beweis meine Behauptung widerlegt, daß der, welcher Unrecht tut, nicht glücklich sei? Woher denn, mein Guter? Von deinen Behauptungen gebe ich dir keine einzige zu.

Polos. Du willst nur nicht, denn im Grunde denkst du doch so wie ich.

Sokrates. Mein Verehrtester, du versuchst mich nach Rhetorenart zu widerlegen, wie die, welche vor Ge- richt einen angeblichen Gegenbeweis geben. Denn auch da glauben die einen die anderen zu widerlegen, wenn sie für ihre Behauptungen zahlreiche angesehene Zeugen’®) auf- stellen, während der Gegner nur einen einzigen oder auch gar keinen aufstellt. Dieser Gegenbeweis ist aber völlig be- langlos rücksichtlich der Wahrheit. Denn es kann vor- kommen, daß einer durch das falsche Zeugnis vieler bei der Menge in Ansehen stehender Männer mundtot gemacht wird. So werden äuch in diesem unserem Fall dir fast alle Athener und Fremden mit ihrem Zeugnis für dich zur Seite stehen, falls du gegen die Wahrheit meiner Behauptung Zeugen aufstellen willst). Als Zeugen wer- den für dich auftreten, wenn du es wünschst, Nikiast!), des Nikeratos Sohn, mitsamt seinen Brüdern, von denen die im Dionysosheiligtum in Reih und Glied aufgestellten

᾿ς Dreifüße stammen, und wenn du es wünschst, auch Aristo-

krates, des Skellias Sohn, von dem das herrliche Weih- geschenk im Pythischen Haine stammt, und wenn du es wünschst, auch des Perikles ganzes Haus oder eine andere Sippschaft, die du dir beliebig hier auswählen kannst. Aber ich ganz allein stimme dir nicht bei. Denn dein Beweis gegen mich hat keine zwingende Kraft, viel- mehr suchst du mich durch Aufstellung vieler falscher Zeugen gegen mich aus meinem Eigentum, das heißt aus der Wahrheit zu verdrängen. Ich aber muß es dahin bringen, dich selbst als einzigen Zeugen aufzustellen zur Bestätigung meiner Behauptung; sonst glaube ich nichts

. der Rede Wertes erreicht zu haben rücksichtlich des Gegen-

70 Platons Gorgias.

standes unserer Untersuchung. Und auch du, glaube ich, hast nichts erreicht, wenn ich nicht als einziger Zeuge dir zur Seite stehe; alle anderen genannten magst du ruhig verabschieden. Es gibt also diese Art des Gegen- beweises, die du und viele andere für die richtige halten ; es gibt aber auch eine andere, die ich meinerseits für die richtige halte. Laß uns also beide miteinander ver- gleichen und prüfen, wodurch sie sich voneinander unter- scheiden. Denn das, worüber wir streiten, ist weit entfernt, etwas Unbedeutendes zu sein; vielmehr kann man sagen, daß es dasjenige ist, dessen Kenntnis für uns der edelste Besitz, dessen Nichtkenntnis dagegen der größte Vorwurf ist. Denn in der Hauptsache handelt es sich dabei darum, zu erkennen oder nicht, wer glücklich ist und wer nicht#2). Um gleich unseren Fall zu nehmen: wenn du den Archelaos für ungerecht und gleichwohl für glücklich hältst, so hältst du es doch für möglich, daß ein Mensch, der frevelt und ungerecht ist, doph glückselig sei. So müssen wir doch wohl deine Ansicht deuten ? Polos. Allerdings.

Achtundzwanzigstes Kapitel.

Sokrates. Ich hingegen erkläre das für unmöglich. Dies ist der eine Punkt, in dem wir verschiedener Meinung sind. Gut. Soll er, der Übeltäter, nun aber auch dann glücklich sein, wenn er die gebührende Strafe erhält?

Polos. Gott bewahre, denn dann wäre er ja höcust unglücklich.

Sokrates. Wenn also der Übeltäter keine Strafe erhält, soll er dann nach deiner Meinung glücklich sein ?

Polos. Ja.

Sokrates. Nach meiner Meinung dagegen, mein Polos, ist der Übeltäter und Ungerechte in jedem Falle unglücklich, aber noch unglücklicher, wenn er für sein Unrecht nicht zur Rechenschaft gezogen wird, dagegen

Achtundzwanzigstes Kapitel. 71

weniger unglücklich, wenn er zur Rechenschaft gezogen wird und Strafe erleidet von Göttern und Menschen.

Polos. Das sind ja lauter Ungereimtheiten, die du da zu behaupten versuchst.

Sokrates. Ich will aber versuchen, auch dich, mein Bester, dahin zu bringen, daß du dich zu meiner Ansicht bekennst. Denn ich halte dich für ‘meinen Freund. Dies sind also nun die Punkte, in denen wir verschiedener An- sicht sind. Prüfe auch du die Sache. Ich sagte doch vorhin, das Unrechttun sei schlimmer als das Unrecht- leiden #).

Polos. Allerdings.

Sokrates. Du dagegen das Unrechtleiden.

Polos. Ja.

Sokrates. Und ich behauptete, die Übeitäter seien un- glücklich, und ward von dir widerlegt.

Polos. Ja, beim Zeus.

Sokrates. Wie du meinst, mein Polos.

Polos. Und vielleicht mit Recht.

Sokrates. Du erklärtest ferner die Übeltäter für glücklich, wenn sie der Strafe entgingen.

Polos. Gewiß.

Sokrates. Ich aber behaupte, daß sie höchst unglück- lich sind, diejenigen dagegen, die Strafe erleiden, in min- derem Grade. Willst du auch das widerlegen ? |

Polos. Nun, das ist wohl noch schwerer zu wider- legen als jenes, mein Sokrates“).

Sokrates. So nicht, mein Polos, sondern überhaupt unmöglich, denn die Wahrheit wird niemals widerlegt.

Polos. Wie? Wenn ein Mensch dabei ertappt wird, dab er unrechtmäßiger Weise nach der Tyrannen- herrschaft strebt, und daraufhin gefoltert, entmannt und geblendet wird und vielen anderen großen und mannig- fachen Schimpf nicht nur über sich selbst ergehen lassen muß, sondern auch an seinen Kindern und an seinem Weib mit ansehen muß und schließlich ans Kreuz ge- schlagen oder in Pech gesotten wird, so soll der glücklicher

12 Platons Gorgias.

sein, als wenn er glücklich durchkommt, Tyrann wird und bis an sein Lebensende im Staate herrscht und tut, was

ihm beliebt, beneidet und glücklich gepriesen von seinen °

Mitbürgern wie von den Fremden? Das zu widerlegen erklärst du für unmöglich ?

Neunundzwanzigstes Kapitel.

Sokrates. Nun suchst du wieder durch Schreckge- spenster bange zu machen, mein edler Polos, aber wider- legen willst du nicht. Vorher verlegtest du dich darauf Zeugen aufzurufen. Gleichwohl komm meinem Gedächtnis ein wenig zu Hilfe. „Wenn er unrechtmäßiger Weise nach der Tyrannenherrschaft strebt‘; so sagtest du doch#).

Polos. Ja. a

Sokrates. Glücklicher nun wird niemals einer von beiden sein, weder der, welcher unrechtmäßiger Weise die Tyrannenherrschaft hergestellt hat, noch der, welcher Strafe erleidet; denn von zwei Unglücklichen wird keiner glücklicher sein; unglücklicher aber ist der, welcher glück- lich durchgekommen und Tyrann geworden ist. Wie, Polos? Du lachst? Ist das wieder eine neue Art von Beweis, zu lachen, wenn man etwas sagt, nicht aber zu widerlegen ? |

Polos. Meinst du nicht widerlegt zu sein, mein So- krates, wenn du Dinge behauptest, die kein anderer Mensch sich einfallen läßt zu behaupten ? Denn frage doch einen der Anwesenden. |

Sokrates. Mein Polos, ich gehöre nicht zur Zunft der Politiker. Als ich im vorigen Jahr Ratsherr. war“) und meine Phyle den Vorsitz hatte und ich die Ab- stimmung leiten mußte, erregte ich Heiterkeit durch meine Unwissenheit darüber, wie die Abstimmung in Gang zu bringen sei. Fordere mich also auch jetzt nicht auf, die Anwesenden abstimmen zu lassen, sondern wenn du keine

474 |

Neunundzwanzigstes Kapitel. 73

bessere Widerlegung als die bisherige hast, so überlasse mir, wie vorhin gesagt#”), zur Abwechslung die Wider- legung und mache dich so mit derjenigen Art von Wider- legung bekannt, die ich für die richtige halte. Denn ich weiß für meine Behauptungen nur einen als Zeugen zu stellen, nämlich eben den, mit dem ich die Unter- redung führe, mit der großen Menge dagegen befasse ich mich gar nicht; und nur einen verstehe ich zur Abstim- mung zu bringen, mit der großen Menge dagegen lasse ich mich überhaupt auf keine Unterredung ein. Sieh also zu, ob du mir zur Abwechslung die Möglichkeit der ‚Widerlegung geben willst durch Beantwortung meiner Fragen. Denn ich glaube, daß nicht nur ich, sondern auch du und die übrigen Menschen das Unrechttun für schlimmer halten als das Unrechtleiden und die Straf- losigkeit für schlimmer als die Strafe.

Polos. Dies tue weder ich noch, wie ich glaube, irgendein anderer Mensch. Denn würdest du selbst denn lieber Unrecht leiden als Unrecht tun wollen?

Sokrates. Nicht nur ich, sondern auch alle anderen.

Polos. Weit gefehlt, weder ich noch du noch irgend- ein anderer.

Sokrates. Willst du dich nun dazu verstehen zu antworten ?

Polos. Ja gewiß. Denn ich bin voll Verlangen zu erfahren, was du eigentlich zu sagen haben wirst.

Sokrates. Damit du es also erfahrest, gib mir Aus- kunft gerade so als ob ich dich ganz von vorn früge: Scheint dir, mein Polos, das Unrechttun schlimmer zu sein oder das Unrechtleiden ?

Polos. Mir sicher das Unrechtleiden.

Sokrates. Was aber häßlicher? Das Unrechttun oder das Unrechtleiden ? Antworte.

Polos. Das Unrechttun.

74 Platons Gorgias.

Dreißigstes. Kapitel.

Sokrates. Wenn häßlicher, dann doch auch schlechter.

Polos. Durchaus nicht.

Sokrates. Ich verstehe. Du hältst, wie es scheint, schön und gut, schlecht und häßlich nicht für dasselbe.

Polos. Nein.

Sokrates. Wie aber steht es nun mit dem Folgen- den? Alles Schöne, z. B. Körper, Farben, Gestalten, Stimme, Beschäftigungen nennst du doch in jedem ein- zelnen Falle schön in Hinblick auf irgendetwas? Wenn du z. B. zunächst Körper schön nennst, so ist das Be- stimmende für dich dabei doch entweder der Nutzen in Rücksicht auf den Zweck, für den ein jeder dienlich ist, oder ein gewisses Lustgefühl, wenn er dem Beschauer beim Anschauen Freude macht? Kannst du sonst noch eine Beziehung rücksichtlich der Schönheit anführen 48)

Polos. Nein.

Sokrates. Nennst du nicht in gleicher Weise auch alles andere wie Gestalten und Farben schön entweder wegen eines gewissen Lustgefühls oder wegen eines Nutzens oder um beider willen ?

Polos. Ja.

Sokrates. Nicht auch die Stimmen und alles Musi- kalische ?

Polos. Ja.

Sokrates. Und das Schöne, das sich auf Gesetze und Berufstätigkeit bezieht, liegt doch auch in nichts anderem als darin, daß es entweder nützlich oder ange- nehm oder beides ist.

Polos. So ist es, wie mir scheint.

Sokrates. Und ebenso steht es doch auch mit ders Schönheit der Wissenschaften ?

Polos. Sicherlich. Und jetzt triffst du es mit deinen Bestimmungen ganz schön, wenn du das Schöne nach der Lust und dem Guten bestimmst.

Einunddreißigstes Kapitel. 75

Sokrates. Nicht auch das Häßliche nach dem Gegen- teil, nach Schmerz und Schlechtem ?

Polos. Notwendig.

Sokrates. Wenn also von zwei schönen Dingen das eine schöner ist, so liegt der Grund dafür darin, dab es entweder an einem von beiden oder an beiden im Übergewicht ist, nämlich entweder an Annehmlichkeit oder an Nutzen oder an beiden.

Polos. Allerdings.

Sokrates. Und wenn von zwei häßlichen Dingen das eine häßlicher ist, so wird es häßlicher sein, weil es entweder an Schmerz oder an Schlechtigkeit oder an beiden im Übergewicht ist. Oder ist das nicht notwendig?

Polos. Ja.

Sokrates. Also nun weiter: Was wurde denn eben von dem Unrechttun und Unrechtleiden behauptet? Sagtest du nicht, das Unrechtleiden sei schlechter, das Unrechttun dagegen häßlicher ?

Polos. Ja.

Sokrates. Wenn also das Unrechttun häßlicher ist als das Unrechtleiden, so ist es entweder schmerzlicher und also häßlicher, weil es an Schmerz überragend ist, oder es ist häßlicher, weil es an Schlechtigkeit oder an beiden überragt. Ist nicht auch das notwendig’?

Polos. Unumgänglich.

»»--------.-.. -.- .

Einunddreißigstes Kapitel.

Sokrates. Laß uns nun zunächst prüfen, ob das Unrechttun an Schmerz das Unrechtleiden überragt und ob die Übeltäter mehr zu leiden haben als die Miß- handelten.

Polos. Das doch keinesfalls.

Sokrates. An Schmerz also ist es nicht überragend.

Polos. Offenbar nicht.

76 Platons Gorgias.

Sokrates. Wenn also nicht an Schmerz, dann kann es auch nicht an beiden zusammen überragen.

Polos. Offenbar nicht.

Sokrates. Also nur an dem anderen.

Polos. Ja.

Sokrates. Nämlich dem Schlechten.

Polos. So scheint es.

Sokrates. Wenn also das Unrechttun an Schlechtig- keit überragend ist, so muß es doch schlechter sein als das Unrechtleiden ?49)

Polos. Offenbar.

Sokrates. Wurde uns nicht vorhin von der großen Masse der Menschen ebenso wie von dir zugestanden, daß das Unrechttun häßlicher sei als das Unrechtleiden ?

Polos. Ja. |

Sokrates. Jetzt aber stellt es sich als schlechter heraus. |

Polos. So scheint es.

Sokrates. Würdest du nun ee das Schlechtere und Häßlichere wählen anstatt des minder Schlechten und Häßlichen? Antworte unverzüglich, mein Polos du brauchst nichts Schlimmes zu fürchten und vertraue dich ruhig der Untersuchung an wie einem Arzt und antworte mit Ja oder Nein auf meine Fragen.

Polos. Nun gut: ich würde es nicht wählen, mein Sokrates.

Sokrates. Oder sonst irgendeiner ?

Polos. Ich glaube nicht, wenigstens angesichts dieses Beweises.

Sokrates. Also hatte ich recht mit meiner Behaup- tung, daß weder ich noch du noch irgendein anderer Mensch sich bereit finden wird lieber Unrecht zu tun als Unrecht zu leiden. Denn das erstere ist ja das Schlechtere.

P.0108. Offenbar.‘

Sokrates. Du siehst also, mein Polos: Beweis gegen Beweis gehalten) ergibt sich ihre völlige Ungleichheit; denn dir stimmen alle anderen bei außer mir, mir aber

a. .>

Zweiunddreißigstes Kapitel. 77

genügst du ganz allein zur Bestätigung und zum Zeugnis,

.und ich lasse dich allein abstimmen, die anderen gehen

mich nichts an. Und damit also wollen wir es so halten. Demnächst aber gilt es den zweiten strittigen Punkt zu prüfen, nämlich ob es, wie du meintest, das größte Übel ist für das Unrecht Strafe zu leiden, oder ob es ein größeres Übel ist keine Strafe zu leiden, wie ich meiner- seits meinte. Laß uns also folgenden Weg für die Prüfung einschlagen. Ist Strafeleiden und gerechte Züchtigung er- fahren für getanes Unrecht nach deiner Meinung ein und dasselbe ?

Polos. Ja.

Sokrates.: Kannst du nun etwa bestreiten, daß das Gerechte auch durchweg schön sei, sofern es gerecht ist? Und überlege genau, ehe du antwortest.

Polos. Nein, mir scheint das Gerechte auch schön zu sein, mein Sokrates°t).

Zweiunddreißigstes Kapitel.

Sokrates. Richte nun deinen Blick auch auf folgen- des: Wenn jemand etwas tut, so muß es doch auch not- wendig etwas geben, was unter dieser Tätigkeit leidet>2).

Polos. So scheint es mir. |

Sokrates. Und es leidet dann doch wohl das, was der Tuende tut, und derartiges, wie es der Tuende tut? Ich meine es so: Wenn z. B. jemand schlägt, so muß auch etwas geschlagen werden?

Polos. Notwendig.

Sokrates. Und wenn der Schlasende kräftig oder schnell schlägt, so wird auch notwendig der geschlagene Gegenstand so geschlagen.

Polos. Ja. |

Sokrates. Das Leiden des Geschlagenen entspricht also genau dem Tun des Schlagenden ?

Polos. Gewib.

78 Platons Gorgias.

Sokrates. Und wenn einer brennt, so muß auch etwas gebrannt werden ?

Polos. Selbstverständlich.

Sokrates. Und wenn er stark oder schmerzhaft brennt, so muß das Gebrannte so gebrannt werden, wie das Brennende brennt.

Polos. Gewib.

Sokrates. Und wenn einer schneidet, so steht es doch damit ebenso? Denn es wird doch etwas geschnitten.

Polos. Ja.

Sokrates. Und wenn der Schnitt groß oder tief oder schmerzhaft ist, so entspricht der Schnitt in dem Ge- schnittenen genau der Tätigkeit des Schneidenden ?

Polos. Offenbar.

Sokrates. Nun sieh zu, ob du auch mit der Ver- allgemeinerung des Gesagten, also seiner Ausdehnung auf alles einverstanden bist. Nämlich: Wie das Tun des Tuenden beschaffen ist, so auch das Leiden des Leidenden.

Polos. Ja, ich bin einverstanden.

Sokrates. Da hierüber also Einverständnis besteht, so sage, ob das Bestraftwerden etwas leiden heißt oder etwas tun?

Polos. Zweifellos, mein Sokrates, leiden.

Sokrates. Doch wohl unter der Tätigkeit jemandes ?

Polos. Selbstverständlich; nämlich unter der des Zächtigenden.

Sokrates. Wer aber richtig züchtigt, der züchtigt doch gerecht?

Polos. Ja.

Sokrates. Und tut recht, oder nicht?

Polos. Recht.

Sokrates. Also der Gezüchtigte leidet gerecht durch Abbüßung der Strafe?

Polos. So scheint es.

Sokrates. Das Gerechte aber haben wir doch als schön anerkannt 9 8)

Polos. Allerdings.

Dreiunddreißigstes Kapitel. 79

Sokrates. Von ihnen also tut der eine Schönes, der andere, der Gezüchtigte nämlich, leidet es. Polos. Ja.

Dreiunddreißigstes Kapitel.

Sokrates. Wenn Schönes, dann doch auch Gutes? Denn das Schöne ist entweder angenehm oder nützlich.

Polos. Notwendig.

Sokrates. Also wer Strafe büßt, leidet Gutes?

Polos. So scheint es.

Sokrates. Er hat also Nutzen davon?

Polos. Ja.

Sokrates. Doch wohl den Nutzen, der mir dabei vorschwebt? An der Seele nämlich wird er gebessert, wenn er gerechter Weise gezüchtigt wird.

Polos. Wahrscheinlich.

Sokrates. Also von der Schlechtigkeit der Seele wird der befreit, welcher Strafe leidet?

Polos. Ja.

Sokrates. Ist es also nicht die größte Schlechtig- keit, von der er befreit wird? Mache dir das folgender- maßen klar: in Vermögenssachen gibt es doch, wie du

. siehst, beim Menschen keine andere Schlechtigkeit:®) als

Armut?

Polos. Nein, nur Armut.

Sokrates. Und wie steht es in Sachen der Leibes- beschaffenheit? Wirst du als Schlechtigkeit da nicht Schwäche und Krankheit und Häßlichkeit und dergleichen anerkennen ?

Polos. Ja.

Sokrates. Meinst du nun nicht, daß es auch in der Seele eine Schlechtigkeit gibt?

Polos. Selbstverständlich.

Sokrates. Nennst du diese nicht Ungerechtigkeit und Unwissenheit und re und dergleichen ?

Polos. Gewib.

80 Platons Gorgias.

Sokrates. Also für Vermögen, für Leib und für Seele, diese drei Arten von Dingen, hast du drei Arten von Schlechtigkeit genannt, Armut, Krankheit, Ungerech- tigkeit ?

Polos. Ja. |

Sokrates. Welches ist nun die häßlichste unter diesen Schlechtigkeiten? Nicht die Ungerechtigkeit oder ganz allgemein die Schlechtigkeit der Seele?

Polos. Weitaus.

Sokrates. Und wenn die häßlichste, doch wohl auch die schlechteste ?

Polos. Wie meinst du das, mein Sokrates?

Sokrates. So: Am häßlichsten ist das Häßlichste zufolge des früher Eingeräumten5) immer deshalb, weil es entweder den größten Schmerz oder Schaden oder beides bereitet. |

Polos. Ja.

Sokrates. Am häßlichsten aber ist Ungerechtigkeit und überhaupt alle Schlechtigkeit der Seele nach dem, was eben eingeräumt ward.

Polos. Ja, soistes

Sokrates. Am häßlichsten also von allen ist sie doch entweder insofern, als sie am schmerzvollsten und durch Leid überragend ist oder weil sie durch Schädlich- keit oder endlich weil sie in beiden Beziehungen über- ragend ist?

Polos. Notwendig.

Sokrates. Ist nun etwa Ungarsöhiiekeäit und Zucht- losigkeit, Feigheit und Unwissenheit schmerzvoller als Armut und Krankheit?

Polos. Das scheint mir nicht so, mein Sokrates, wenigstens nach dem Vorliegenden®).

Sokrates. Also weil sie durch eine geradezu über- wältigend große Schädlichkeit und unerhörte Schlechtig- keit die anderen überragt, ist die Schlechtigkeit der Seele am häßlichsten von allen, da sie es ja nach deinem Zu- geständnis nicht durch überragenden Schmerz ist.

5".

Vierunddreibßigstes Kapitel. 8]

Polos. Mag sein.

Sokrates. Was aber durch den größten Schaden alles andere überragt, dürfte wohl auch das größte Übel auf der Welt sein.

Polos. Ja.

Sokrates. Die Ungerechtigkeit also und die Zucht- losigkeit und die sonstige Schlechtigkeit der Seele ist das größte Übel in der Welt?

Polos. Allem Anschein nach.

Vierunddreißigstes Kapitel.

Sokrates. Welche Kunst nun befreit uns von Armut? Nicht die Erwerbskunst ?

Polos. Ja.

Sokrates. Und welche von Krankheit? Nicht die Heilkunst’?

Polos. Offenbar.

Sokrates. Welche aber von Schlechtigkeit und Un- gerechtigkeit? Wenn du nicht sofort rechten Bescheid weißt, so mach es dir folgendermaßen klar: ‚Wohin und zu wem bringen wir die körperlich Kranken ?

Polos. Zu den Ärzten, mein Sokrates.

Sokrates. Wohin aber die Übeltäter und Zuchtlosen ?

Polos. Zu den Richtern, meinst du doch.

Sokrates. Nicht, um sie der strafenden Gerechtig- keit zu überweisen ? |

Polos. Ja.

Sokrates. Üben nun nicht diejenigen, welche richtig züchtigen, diese Züchtigung gewissermaßen im Namen der Gerechtigkeit aus?

Polos. Offenbar.

Sokrates. Die Erwerbskunst befreit uns also von Armut, die Heilkunde von Krankheit, die Rechtspflege von Zuachtlosigkeit und Ungerechtigkeit.

Polos. Mag wohl sein.

Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Bd. 148. 6

80 Platons Gorgias.

Sokrates. Was ist nun unter diesen das Schönste ? Polos. Was meinst du mit dem ‚diesen‘ ? Sokrates. Erwerbskunst, Heilkunst, Recht.

Polos. Weit obenan, mein Sokrates, steht das Recht.

Sokrates. Wenn es also das Schönste ist, kommt das doch wieder auf folgendes hinaus: entweder gewährt es die meiste Lust oder Nutzen oder beides zusammen ?

Polos. Ja. |

Sokrates. Ist nun die ärztliche Behandlung ange- nehm und freuen sich diejenigen, die sich ihr unterziehen ?

Polos. Das schwerlich.

Sokrates. Aber doch nützlich. Nicht wahr?

Polos. Ja.

Sokrates. Denn man wird von einem großen Übel befreit; also lohnt es sich, den Schmerz auszuhalten und so gesund zu werden.

Polos. Gewiß.

Sokrates. Was ist nun für das leibliche Befinden des Menschen das größte Glück? daß er geheilt wird oder daß er überhaupt nicht krank wird?

Polos. Offenbar dies, daß er überhaupt nicht krank wird.

Sokrates. Denn nicht das ist, wie es scheint, das wahre Glück, daß man vom Übel befreit wird, sondern daß man überhaupt davon verschont bleibt.

Polos. Allerdings.

Sokrates. Wie nun aber? Wenn zwei, seiesam Leib oder an der Seele, mit einem Übel behaftet sind, welcher von ihnen ist der Unglücklichere? derjenige, welcher geheilt und von dem Übel befreit wird, oder der, welcher nicht geheilt wird, sondern so bleibt, wie er ist?

Polos. Derjenige, der nicht geheilt wird, glaube ich.

Sokrates. War nun nicht das Strafeleiden Befreiung vom größten Übel, nämlich von der Schlechtigkeit ?57)

Polos. Ja.

Sokrates. Denn die rechtliche Strafe weckt den

+

Fünfunddreißigstes Kapitel. 83

Sinn für Besonnenheit und Gerechtigkeit und bewährt sich als heilkräftig gegen die Schlechtigkeit’®)

Polos. Ja.

Sokrates. Am glücklichsten ist also der, dessen Seele mit keiner Schlechtigkeit behaftet ist, da sich dies als größtes aller Übel herausgestellt hat.

Polos. Offenbar.

Sokrates. Zunächst nach ihm steht der, der davon befreit wird.

Polos. So scheint es.

Sokrates. Das aber war der, der verwarnt und ge- züchtigt wird und Strafe erleidet.

Polos. Ja.

Sokrates. Am schlechtesten also lebt der, welcher mit Ungerechtigkeit behaftet ist, ohne davon befreit zu werden.

Polos. Offenbar.

Sokrates. Ist das nun nicht der, der die größten Freveltaten begeht und die größte Ungerechtigkeit übt

.und es dabei doch fertig bringt weder verwarnt noch ge-

züchtigt noch von Rechtswegen gestraft zu werden dies von dir gerühmte vermeintliche Glück, zu dem Archelaos sich verholfen hat und die anderen Tyrannen

und Redner und Machthaber ?

Polos. So scheint es.

Fünfunddreißigstes Kapitel.

Sokrates. Denn was diese, mein Bester, fertig ge- bracht haben, ist ungefähr dasselbe, wie wenn ein mit den schwersten Krankheiten Behafteter es durchsetzte, von seinen körperlichen Gebrechen den Ärzten nicht Rechen- schaft zu geben und nicht geheilt zu werden aus kin- discher Angst vor dem Brennen und Schneiden, weil es schmerzhaft ist. Oder meinst du nicht so?

Polos. Ja. |

6*

84 Platons Gorgias.

Sokrates. Weil er, wie es scheint, nicht weiß, was Gesundheit und körperliche Tüchtigkeit ist. Und ähnlich scheint es zufolge des jetzt von uns Festgestellten auch mit denen zu stehen, die sich der rechtlichen Strafe zu entziehen suchen, mein Polos: sie sehen mit scharfem Auge das Schmerzhafte bei der Sache, für das Nützliche der- selben aber sind sie blind und sind in Unwissenheit dar- über, wieviel unglückseliger im Vergleich zu einem Leben mit ungesundem Leib ein Leben mit einer Seele ist, die nicht gesund, sondern schadhaft und ungerecht und gott- los ist. Darum setzen sie denn auch alles daran nicht der Gerechtigkeit überliefert und von dem größten Übel befreit zu werden: sie sammeln Schätze und Freunde und suchen sich zu den wirksamsten Rednern auszubilden. Wenn aber das, was wir festgestellt haben, mein Polos, auf ‚Wahrheit beruht, merkst du da die Folgen, die sich aus der Untersuchung ergeben? Oder wünschst du, dab wir sie zusammen entwickeln ?

Polos. Ja, wenn es dir recht ist.

Sokrates. Ergibt sich nicht als größtes Übel die Ungerechtigkeit und das Unrechttun ?

Polos. Allem Anschein nach.

Sokrates. Und zwar erwies sich als Befreiung von diesem Übel das Erleiden der Strafe ?

Polos. So scheint es.

Sokrates. Freibleiben von der Strafe aber als Be- harren des Übels?

Polos. Ja.

Sokrates. Also nimmt das Unrechttun rücksicht!ich der Größe erst die zweite Stelle unter den Übeln ein, dagegen für verübtes Unrecht nicht Strafe leiden, das ist das allergrößte und erste Übel 553).

Polos. Es scheint so.

Sokrates. ‘Waren wir, mein Freund, darüber nicht geteilter Meinung? Du priesest den Archelaos, der die größten Frevel verübte ohne Strafe dafür zu erleiden, ich glaubte umgekehrt, daß, wenn einer für begangenes Un-

Sechsunddreißigstes Kapitel. 85

recht nicht bestraft wird, mag es nun Archelaos sein oder irgendein anderer Mensch, es diesem gebühre mehr als alle anderen Menschen unglücklich zu sein, und dab immer der Übeltäter unglücklicher sei als der Mißhandelte, und der von Strafe frei Bleibende unglücklicher als der Bestrafte. Waren das nicht meine Behauptungen ?

Polos. Ja.

Sokrates. Ist nicht der Beweis für ihre Richtigkeit geliefert worden ?

Polos. Es scheint so.

Sechsunddreißigstes Kapitel.

Sokrates. Gut. ‚Wenn es nun also damit seine Rich- tigkeit hat, mein Polos, worin besteht denn dann der große Nutzen der Rhetorik? Denn nach dem, was wir soeben festgestellt haben, muß man sich vor allem selbst hüten Unrecht zu tun, da es uns reichliches Übel ein- bringen wird. Nicht wahr?

Polos. Allerdings.

Sokrates. Wenn man aber entweder selbst Unrecht getan hat oder ein anderer, den man lieb hat, dann muß man aus freien Stücken schleunigst dahin gehen, wo man

so rasch als möglich seine Strafe erhält, nämlich zum

‚Richter gleichsam wie zum Arzte, auf daß die Krankheit

der Ungerechtigkeit sich nicht einniste und die Seele verderbe und unheilbar mache. Oder können wir zu anderen Behauptungen kommen, wenn wir an unseren früheren Zugeständnissen festhalten, mein Polos? Ist dies nicht die einzig mögliche Art, in Übereinstimmung mit, jenen Zugeständnissen zu bleiben ?

Polos. Was ließe sich auch anderes sagen ?

Sokrates. Zur Verteidigung des Unrechts also, gleichviel ob des eigenen oder des von Eltern oder Freun- den oder Kindern oder auch vonseiten des Vaterlandes begangenen, nützt uns die Rhetorik gar nichts, mein

86 Platons Gorgias,.

Polos. Weit eher noch könnte man annehmen, daß sie für das Gegenteil nützlich sei, daß man also vor allem sich selbst anklagen müsse, dann aber auch seine Ver- wandten und sonstigen Freunde, falls einer von ihnen Unrecht tut, und das Unrecht nicht verschleiern, sondern ans Licht bringen müsse, auf daß der Übeltäter seine Strafe

erhalte und gesund werde. Auch muß man, wie weiter

anzunehmen, sich selbst und die anderen nötigen, ruhiges Blut zu bewahren und mit zugedrückten Augen und wackeren Mutes wie beim Schneiden und Brennen des Arztes still zu halten, den Blick nur auf das Gute und Schöne als Ziel gerichtet, unter Verachtung des Schmerz- vollen. Hat man also ein Unrecht begangen, das Schläge verdient, so muß man sich geduldig schlagen lassen; wenn Gefängnis, sich einkerkern lassen; wenn Geldstrafe, zahlen; wenn Verbannung, in die Fremde gehen; wenn den Tod, sterben, wobei man selbst der erste Ankläger ist sowohl gegen sich wie die Seinigen und die Redekunst dazu verwendet die Verbrechen aufzudecken und die Schuldigen von dem größten Übel zu befreien, von der Ungerechtigkeit. Sollen wir dies behaupten oder nicht, mein Polos? |

Polos. Es kommt mir zwar ungereimt vor, mein Sokrates, indes stimmt es doch vielleicht in deinem Sinne mit den früheren Behauptungen zusammen.

Sokrates. Entweder müssen wir also die früheren Behauptungen aufgeben, oder wir müssen die jetzigen Folgerungen anerkennen ?

Polos. Ja, so ist es.

Sokrates. Wenn man aber nun umgekehrt in die Lage kommt, irgendeinem Menschen Leid zufügen zu müssen, sei es einem Feind oder wem sonst nur hüte man sich sorgfältig davor, selbst der Beleidigte zu sein, belasse es vielmehr bei dem Fall, daß der Feind einem anderen Unrecht zufügt —, muß man auf jede Weise durch Tat und Wort es dahin zu bringen suchen, dab er keine Strafe erhält und nicht vor den Richter kommt®);

Siebenunddreißigstes Kapitel. 87

geschieht dies aber doch, dann muß man alles daran setzen, daß er, der Feind, glücklich davon komme und frei bleibe von Strafe, daß er also, falls er viel Gold ge- raubt, dies nicht zurückerstatte, sondern es behalte und es in frevelhafter und gottloser ‚Weise für sich und die Seinigen vergeude, und falls er todeswürdige Verbrechen begangen hat, nicht zum Tode verurteilt werde, wo mög- lich überhaupt nicht sterbe, sondern ein endloses Dasein führe in seiner Ruchlosigkeit, wo nicht, doch möglichst lange Zeit so fortlebe. Zu solchen Zwecken scheint mir, mein Polos, die Rhetorik brauchbar zu sein; denn für den, der nicht Unrecht tun will, scheint mir ihr Nutzen nicht eben groß zu sein, wenn überhaupt von einem Nutzen die Rede sein kann, wie denn im Vorhergehenden ein solcher in keiner ‚Weise zutage getreten ist.

Siebenunddreißigstes Kapitel.

Kallikles. Sage mir, mein Chairephon, spricht So- krates im Ernst so oder treibt er Scherz ?

Chairephon. Meiner Ansicht nach, mein Kallikles, spricht er in vollstem Ernst. Das einfachste aber ist, du fragst ihn selbst.

Kallikles. Ja, bei den Göttern, das ist mein leb- hafter Wunsch. Sage mir, mein Sokrates, wie sollen wir’s mit dir jetzt halten? Meinst du es ernst oder treibst du nur Scherz? Denn wenn du es ernst meinst und das, was du sagst, tatsächlich wahr ist, wäre dann nicht dies unser menschliches Leben völlig auf den Kopf gestellt? Ist nicht die Art, wie wir tatsächlich handeln, dem An- schein nach genau das Gegenteil von dem, was (nach deiner Ansicht) geschehen sollte ?

Sokrates. Mein Kallikles, wenn die Menschen sich nicht eins wüßten in Beziehung auf einen bestimmten Zustand, mag er für die einen dieser, für die anderen ein anderer sein, vielmehr jemand sich in einem nur ihm

88 Platons Gorgias,

eigentümlichen, von dem aller anderen verschiedenen Zu- stande befände, dann wäre es nicht leicht, dem anderen seinen eigenen Zustand klar zu machen. Ich sage das im Hinblick darauf, daß ich und du uns jetzt tatsächlich in dem nämlichen Zustand befinden: wir sind beide verliebt und beide von doppelter Liebe erfüllt, ich zu Alkibiades,

des Kleinias Sohn, und zu der Philosophie, du aber zu

dem Volk (Demos) der Athener und zu dem Sohn (Demos) des Pyrilampes. Nun bemerke ich bei dir immer wieder, daß du trotz deiner großen Begabung, was auch deine Lieb- linge sagen mögen, und zu welcher Ansicht sie sich auch bekennen mögen, ihnen nicht widersprechen kannst, sondern dich hin und her windest. Wenn du nämlich in der Volksversammlung eine Ansicht vorträgst, die das Volk der Athener nicht billigt, dann schwenkst du um und redest ihnen nach dem Munde, und mit dem jugend- lich schönen Sohn des Pyrilampes geht es dir ganz ebenso). Denn du bist nicht imstande den Anschlägen und Reden deiner Lieblinge entgegenzutreten. Wenn sich also einer über das Ungereimte deiner Reden wundert, die du immer wieder ihnen zuliebe hältst, so würdest du ihm, wolltest du die Wahrheit sagen, vielleicht erwidern, wenn es nicht einem gelinge deinen Liebling von diesen seinen Reden abzubringen, so würdest auch du nimmer ablassen, so zu reden. Du mußt es also für durchaus in der Ordnung halten, von mir ganz Ähnliches zu hören, und darfst dieh nicht wundern, daß ich so rede, sondern mußt meinen Liebling, die Philosophie, davon abbringen so zu reden. Denn sie sagt, mein lieber Freund, stets das, was du jetzt von mir hörst, und erweist sich mir weit weniger veränderungssüchtig als der andere Liebling. Denn des Kleinias Sohn hier redet bald so bald so, die Philosophie aber stets auf die nämliche Weise. Sie sagt aber das, worüber du dich jetzt wunderst, und doch warst du ja selbst Zeuge der ganzen Untersuchung. Entweder also mußt du jene, die Philosophie, widerlegen, wie ich kurz vorher sagte‘), und dartun, daß Unrechttun und für

Achtunddreißigstes Kapitel. 89

getanes Unrecht nicht bestraft werden nicht das aller- größte Übel sei; oder, wenn du dieses unwiderlegt läßt, dann, mein Kallikles, wird, wahrlich beim Hund, dem ägyptischen Gott“), Kallikles nicht mit dir überein- stimmen, sondern sein Lebenlang mit dir im Zwiespalt sein®). Und doch, mein Bester, möchte ich sehr viel lieber, daß meine Leier verstimmt und mißtönend wäre und ein Chor, den ich zu leiten hätte, und daß die meisten Men- schen nicht mit mir derselben Ansicht wären, sondern mir widersprächen, als daß ich, ich einer, mit mir nicht in Einklang wäre und mir widerspräche.

= - -..--.

Achtunddreißigstes Kapitel.

Kallikles. Mein Sokrates, deine Reden verraten eine ziemlich übermütige Laune und du zeigst dich als wirklichen Volksredner. Auch das, was du jetzt hier vorträgst, klingt wie eine Rede vor dem Volk), wobei es dem Polos ebenso erging, wie es, nach des Polos eigenem Zeugnis, dem Gorgias dir gegenüber erging. Denn so sagte er Gorgias, von dir gefragt, ob er einem, der sein Schüler in der Rhetorik werden wolle und noch ohne Kenntnis von dem Wesen der Gerechtigkeit sei, dieseKennt- nis beibringen werde, habe aus einem gewissen Scham- gefühl diese Frage bejaht, nämlich um nicht zu ver- stoßen gegen die gewöhnliche Sinnesart der Menschen, die es einem übel auslegen, wenn man dies verneint. Durch dieses Zugeständnis sei er gezwungen worden, sich mit sich selbst in Widerspruch zu bringen; du aber habest eben daran deine Freude. Und er machte sich damals®) mit Recht, wie mir scheinen will, über dich lustig. Und jetzt mußte er nun seinerseits das Nämliche an sich selbst erleben, und ich bin eben in dieser Beziehung gar nicht einverstanden mit Polos, daß er dir einräumte, das Unrechttun sei häßlicher als das Unrechtleiden. Denn infolge dieses Zugeständnisses fing er sich selbst in seinen

90 Platons Gorgias.

eigenen Worten und wurde so von dir mundtot gemacht; denn er schämte sich, seine eigentliche Ansicht auszu- sprechen. Denn du, mein Sokrates, steuerst tatsächlich, unter dem Vorgeben der Wahrheit nachzugehen, auf solche unnatürliche und auf die große Masse berechnete Sätze los, die der Natur nach nicht schön sind, wohl

aber der Satzung nach). In der Regel aber steht das mit-

einander in Widerspruch, die Natur und die. Satzung. Wenn also einer aus einem gewissen Schamgefühl nicht wagt zu sagen, was er denkt, sieht er sich gezwungen sich mit sich selbst in Widerspruch zu setzen. Mit klug be- rechneter Benutzung dieses Kunstgriffes treibst nun auch du in der Unterredung ein hinterlistiges Spiel: Wenn einer bei seiner Behauptung die Satzung im Auge hat, richtest du deine Frage unvermerkt so ein, als wäre von der Natur die Rede, und wenn er die Natur im Auge hat, als wäre von der Satzung die Rede. So machtest du es z. B. gleich bei den vorliegenden Fragen über Unrechttun und

Unrechtleiden: als Polos von dem redete, was der Satzung.

nach häßlicher ist, verfuhrst du mit der Satzung so, als wäre es die Natur‘”). Denn der Natur nach ist häßlicher, was auch schlechter ist, nämlich das Unrechtleiden, der Satzung nach aber das Unrechttun. Denn wer ein Mann ist, der läßt es sich nicht gefallen Unrecht zu leiden, sondern nur ein Sklave, für den es besser wäre tot zu sein als zu leben, da er nicht imstande ist, wenn er beleidigt und gemißhandelt wird, sich selbst zu helfen ®) und ebenso- wenig einem anderen, den er lieb hat. Meiner Ansicht nach sind es eben die sich schwach Fühlenden unter den Menschen und die große Masse, die die Gesetze geben. In ihrem eigenen Interesse und zu ihrem Nutzen geben sie die Gesetze und teilen Lob und Tadel aus. Um die kraftvolleren Menschen, die imstande sind sich Vorteile zu verschaffen, einzuschüchtern, und um selbst nicht ins Hintertreffen zu kommen, sagen sie, das Übervorteilen sei häßlich und ungerecht; und darin eben bestehe das Un- rechttun, in dem Streben die anderen zu übervorteilen.

+

Neununddreißigstes Kapitel. 9]

Denn was sie selbst anlangt, so sind sie als die Schwäche- ren, glaube ich, ganz zufrieden, wenn sie nur das Gleiche haben ®),

Neununddreißigstes Kapitel.

Deshalb wird es nach Satzung für ungerecht und häß- lich erklärt nach Übervorteilung der großen Masse zu streben, und man nennt dies Unrechttun. Die Natur selbst aber, denke ich, gibt deutlich zu erkennen, daß es gerecht ist, wenn der Bessere gegen den Schlechteren und der Fähigere gegen den Unfähigeren im Vorteil ist. Daß dem so ist, zeigt sich in mannigfacher Weise nicht nur bei den übrigen Geschöpfen, sondern auch bei den Men- schen in den Verhältnissen ganzer Staaten und Ge- schlechter: es gilt nämlich da als ausgemachtes Recht, daß der Stärkere über den Schwächeren herrsche und gegen ihn im Vorteil sei. Auf Grund welches Rechtes wäre denn sonst Xerxes gegen Hellas zu Felde gezogen, oder sein Vater gegen die Scythen? Und tausend andere Bei- spiele der Art könnte man anführen. Kein Zweifel: diese Leute handeln nach der Natur und, beim Zeus, nach dem Gesetz der Natur, aber freilich nicht nach jenem von uns willkürlich aufgestellten Gesetz, auf Grund dessen . wir auf die Besten und Kraftvollsten unter uns gleich von Jugend auf die Hand legen und sie wie Löwen zu

.zähmen und zu sänftigen suchen, um sie unterwürfig

zu machen, unter dem Vorgeben, es müßte Gleichheit herrschen und diese sei das Schöne und Gerechte.- Aber laßt nur den rechten Mann erstehen, eine wirkliche Kraft- natur; der schüttelt all das ab, zerreißt die Fesseln und macht sich frei, tritt all unsere Paragraphen, unsere Zähmungs- und Besänftigungsmittel und den ganzen Schwall widernatürlicher Gesetze mit Füßen und steigt so vom Sklaven empor zum glänzenden Herrn über uns: da leuchtet denn das Recht der Natur aufs hellste hervor.

99 Platons Gorgias.

Auch Pindar’°) scheint mir diese meine Ansicht darzu- legen in dem Liede, wo es heißt:

Das Gesetz, das König ist über alle, Sterbliche wie Unsterbliche.

Dieses (das Gesetz) aber, sagt er:

Vollführt ohne Scheu die größte Gewalttat Mit machtvoller Hand; das bezeugen Des Herakles Taten, denn ungekauft

So ungefähr heißt es; denn ich weiß das Gedicht nicht auswendig. Der Sinn aber ist, daß er die Rinder des Geryones davon trieb, ohne sie zu kaufen, auch ohne sie von ihm geschenkt zu bekommen; denn er hielt es für natürliches Recht, daß Rinder und aller sonstige Besitz der Schlechteren und Schwächeren dem Besseren und Stärkeren gehören.

Vierzigstes Kapitel.

Mit der Wahrheit also verhält es sich so; das wird dir klar werden, wenn du der Philosophie nun endlich entsagst und dich wichtigeren Dingen zuwendest. Denn die Philosophie, mein Sokrates, hat in der Tat einen ge- wissen Reiz, wenn man sich in der Jugend maßvoll mit ihr befaßt‘!). Wenn man aber länger als nötig sich mit ihr abgibt, so ist sie der Verderb der Menschen. Denn wenn einer auch bei noch so hoher Begabung das Studium der Philosophie noch lange im Leben weiter treibt, so ist die notwendige Folge, daß er unbekannt bleibt mit allem, was derjenige kennen muß, der ein Mann von Stellung und Ansehen werden will. Denn diese Leute bleiben unbekannt mit den im Staate geltenden Gesetzen sowie mit den Mitteln der Rede, deren man sich im privaten und öffentlichen Geschäftsverkehr mit den Men- schen bedienen muß, ingleichen auch mit den mensch- lichen Freuden und Leidenschaften und überhaupt voll-

--

Vierzigstes Kapitel. 93

ständig unbekannt mit der Sinnesart der Menschen. ‚Wenn sie also in die Lage kommen irgendwelches persönliche oder staatliche Geschäft zu erledigen, machen sie sich lächerlich, ganz so, wie umgekehrt die Staatsmänner sich lächerlich machen, wenn sie etwa bei euren Übungen und Verhandlungen sich einfinden wollten. Denn hier trifft das ‚Wort des Euripides’??) zu, wenn er sagt:

Es glänzt und sucht ein jeder seinen Ruhm in dem, Und wendet dem den größten Teil des Tages zu, Wo er sich ganz zu Haus und Meister fühlt.

. Worin er sich dagegen schwach fühlt, das meidet er und

schmäht es, während er das andere lobt, aus Eigenliebe, weil er glaubt, so sich selbst zu loben. Das Richtigste aber ist doch wohl, an beiden Anteil zu haben. Von Philosophie soviel zu verstehen, als die Bildung fordert, ist eine löbliche Sache und in jungen Jahren sich mit Philosophie zu beschäftigen ist keine Schande. Wenn der Mensch aber schon älter wird und immer noch Philo- sophie treibt, so macht er sich, mein Sokrates, allmählich lächerlich. Mir geht es gegenüber den der Philosophie Beflissenen ähnlich wie gegenüber den Stammelnden und sich kindisch Gebärdenden. Denn wenn ich ein Kind, dem seine Unfertigkeit im Sprechen noch wohl ansteht, stammeln und sich kindisch anstellen sehe, dann habe . ich meine Freude daran’®) und es scheint mir lieblich und unbefangen und entsprechend dem Alter des Kindes, während, wenn ich es sich völlig deutlich ausdrücken höre’®), dies für mein Gefühl etwas Unbehagliches hat; es beleidigt mein Ohr und erinnert mich an sklavische Sinnesart. Wenn man aber einen Mann stammeln hört und sich kindisch gebärden sieht, so erscheint das lächer- lich und unmännlich und man möchte zum Stocke greifen. Ebenso nun geht es mir mit den Philosophiebeflissenen. ‚Wenn ich bei einem noch heranreifenden Jüngling philo- sophischen Trieb wahrnehme, so macht mir das Freude und scheint mir am Platze zu sein, und ich halte den

94 Platons Gorgias.

Betreffenden für einen Menschen von edler und freier Sinnesart, den der Philosophie Abholden aber für einen unedlen Menschen, der sich niemals irgendeiner schönen und edlen Aufgabe gewachsen fühlen wird. Wenn ich aber nun einen Älteren noch mit der Philosophie be- schäftigt sehe, so daß er sich nicht davon losmachen

kann, so scheint mir für diesen Mann der Stock am Platze

zu sein, mein Sokrates. Denn solch ein Mensch verfällt, wie eben bemerkt’5), mag er auch noch so begabt sein, unausbleiblich der Unmännlichkeit, da er die Brennpunkte des öffentlichen Lebens und die Märkte meidet, wo, wie der Dichter sagt (Il. 1, 441), die Männer ihre Treftlichkeit bewähren, und es trifft ihn das Schicksal, in stiller Zurück- gezogenheit in einem Winkel flüsternd mit drei oder vier Bürschchen sein weiteres Leben zuzubringen; ein freies und lautes und keckes Wort kommt aber niemals über seine Lippen.

Einundvierzigstes Kapitel.

Ich aber, mein Sokrates, habe dich herzlich lieb. Es scheint nun mir dir gegenüber so zu ergehen, wie dem Zethos des eben erwähnten Euripides gegenüber dem Amphion; denn es treibt mich, eine Sprache gegen dich zu führen, ähnlich der des Zethos, nämlich: Du läßt, Sokrates, das unbeachtet, dem du deine ganze Sorge zuwenden müßtest, und machst eine so edle Geistesanlage durch knabenhaftes Gebaren ihrer eigentlichen Bestim- mung abwendig; und weder in des Rechtes Rat könntest du deiner Meinung richtig Ausdruck geben, noch glaub- haft und wirksam reden, noch einem anderen einen herz-

haften Rat geben. Indes, mein lieber Sokrates und lege es mir nicht übel aus, denn nur, weil ich dir wohl will, sage ich es scheint dir dies Verhalten nicht

schimpflich zu sein, das du meiner Meinung nach zeigst und ebenso die anderen, die sich zu lange mit der Philo- sophie abgeben? Denn wenn jetzt einer dich oder irgend-

Zweiundvierzigstes Kapitel. 95

einen anderen deinesgleichen festnähme und ins Gefängnis schleppte’®), indem er dich fälschlich eines Verbrechens beschuldigte, so wüßtest du dir nicht im mindesten zu helfen, sondern würdest den Kopf verlieren und den Mund aufsperren ohne etwas sagen zu können, und vor die Richter gestellt und von einem rechten Erzschurken angeklagt, würdest du nun zum Tode verurteilt werden, wenn er diesen Antrag stellen wollte. Und das soll weise sein, mein Sokrates, wenn eine Kunst den Mann nur schlechter macht, der wohlbegabt von ihr emp- fangen ward, so daß er weder sich selbst zu helfen und sich aus den größten Gefahren zu retten imstande ist, noch irgendeinen anderen, sondern von seinen Feinden um sein ganzes Vermögen gebracht wird und völlig entehrt im Staate lebt? Einem solchen Tropf kann man, derb ge- sprochen, einen Backenstreich geben, ohne daß man dafür bestraft wird. Aber, mein Guter, folge mir, laß ab vom ‚Widerlegen und übe die edle Kunst der Staatsgeschäfte und übe, was dir das Ansehen der Klugheit gibt und überlaß anderen diese gekräuselten Redens- arten oder Nichtigkeiten oder wie man sie nennen soll, die deinem Hause keinen Deut einbringen’), und eifre nicht Männern nach, die sich mit der ‚Widerlegung solcher Lappalien abgeben, sondern solchen, denen Ver- mögen, Ruhm und viele andere Güter zur Verfügung stehen.

Zweiundvierzigstes Kapitel.

Sokrates. Wenn ich etwa eine goldene Seele hätte, mein Kallikles, sollte ich mich da nicht freuen, wenn ich einen jener Steine fände, an denen man das Gold prüft, und zwar den besten? Denn wenn sich meine Seele bei der prüfenden Berührung mit diesem Steine als wohl gebildet erwiese, dann würde ich genau wissen, daß ich mit ihr zufrieden sein kann und daß ich keiner anderen Prüfung bedarf.

96 Platons Gorgias.

Kallikles. Was willst du mit dieser Frage, mein Sokrates ?

Sokrates. Du sollst es hören: einen solchen Glücks- fund glaube ich jetzt getan zu haben, da ich dich ge- funden habe.

Kallikles. ‚Wieso?

Sokrates. Wenn du beistimmend billigst, was meine

Seele an Gedanken in sich hegt, so weiß ich bestimmt, daß sie die lautere Wahrheit sind. Denn nach meiner Ansicht muß derjenige, der durch Prüfung ein sicheres Urteil darüber gewinnen will, ob eine Seele in der rich- tigen Verfassung ist oder nicht, füglich drei Eigenschaften besitzen, die du alle hast: sicheres Wissen, Wohlwollen und Freimut. Denn ich finde viele, die nicht imstande sind mich zu prüfen, weil sie nicht weise sind wie du. Ändere sind zwar weise, wollen mir aber nicht die Wahr- heit sagen, weil sie mich nicht so lieb haben wie du. Unsere beiden Gäste aber hier, Gorgias und Polos, sind zwar weise und mir befreundet, aber es fehlt ihnen an Freimut und ihre Scheu sich bloßzusteilen geht weit über das rechte Maß hinaus. Liegt das nicht am Tage? Gingen sie doch in dieser ihrer Scheu so weit, daß aus reiner Schamhaftigkeit erst der eine, dann der andere es über sich gewinnt in Gegenwart zahlreicher Menschen sich selbst zu widersprechen und zwar rücksichtlich der aller- wichtigsten Fragen. In dir aber findet sich alles das vereinigt, was die anderen nicht haben, denn du hast hinreichende Bildung, was zahlreiche Athener wohl be- stätigen würden, und bist mir wohlwollend. Was hasse ich für einen Beweis dafür? Ich will es dir sagen. Denn ich weiß, mein Kallikles, daß ihr vier euch zu einem Bund zusammengetan habt im Streben nach Weisheit, du und Tisandros aus Aphidnä und Andron, des Androtion Sohn, und Nausikydes aus Cholargeis’®). Denn ich hörte einst einer Besprechung von euch zu über die Frage, wie weit man sich mit der Weisheit befassen müsse, und erinnere mich recht wohl, daß unter euch die Meinung

Zweiundvierzigstes Kapitel, 97

durchdrang, man dürfe nicht zu gründlich philosophieren ; vielmehr gabt ihr euch gegenseitig den Rat, ja nicht durch Erhöhung eurer Weisheit über das nötige Maß hinaus euch unvermerkt ins Verderben zu stürzen. Da ich nun höre, daß du mir ganz denselben Rat erteilst wie deinen vertrautesten Genossen, so ist mir das ein ausreichender Beweis dafür, daß du mir wohlgesinnt bist. Und dab du imstande bist freimütig zu reden und ohne Scham, das sagst du ja selbst und deine vorhin gegebenen Aus- führungen bezeugen es dir. Es steht also jetzt in dieser Beziehung so: Wenn du in den nunmehrigen Verhand- lungen mir in einem Punkte beistimmst, so muß dieser

_ als hinreichend geprüft von mir und dir gelten und man

er

braucht ihn an keinem anderen Prüfstein zu erproben. Denn du wirst es mir doch nicht etwa aus Mangel an ‚Weisheit einräumen oder unter dem Drucke der Scham, ebensowenig aber auch, um mich zu täuschen; denn du hast mich ja lieb, wie du ja selbst sagst. Es wird also unsere beiderseitige Übereinstimmung in der Tat die vollste Gewähr der Wahrheit bieten. Es gibt aber keine schönere Untersuchung, mein Kallikles, als die, die sich auf deinen gegen mich gerichteten Tadel bezieht, nämlich auf die

. Frage, was man für Eigenschaften von einem richtigen Manne fordern müsse und was er treiben müsse und wie-

weit, in älteren und in jüngeren Jahren. Denn wenn ich mit meiner Lebensführung irgendwie nicht auf dem rich- tigen Wege bin, so kannst du glauben, daß ich diesen Fehler nicht freiwillig begehe, sondern aus Unwissen- heit meinerseits. Fahre also fort mich zu warnen, wie du begonnen, und zeige mir in vollem Umfang das Wesen der Lebensrichtung, die du mir empfiehlst, und auf welche ‚Weise ich sie mir aneignen kann. Und solltest du finden, daß ich jetzt dir beistimme, späterhin aber nicht durch die Tat genau das bewähre, was ich jetzt zugab, so magst du mich für einen Tropf halten und dir jede weitere War- nung an mich ersparen als an einen völlig Unwürdigen. ‚Wiederhole mir aber von vorn: Wie verhält es sich Platon. Gorgias. Phil. Bibl Bd. 148. 7

98 Platons Gorgias.

mit der der Natur gemäßen Gerechtigkeit nach deiner und des Pindar Meinung? Nicht so, daß der Stärkere die Habe der Geringeren raube und der Bessere über die Schlechteren herrsche und der Tüchtigere gegen den Untüchtigeren im Vorteil sei? Verstehst du unter Ge- rechtigkeit etwas anderes oder habe ich recht mit meiner ‚Wiederholung ? |

Dreiundvierzigstes Kapitel.

Kallikles. Ja, das behauptete ich damals’) und behaupte es auch jetzt.

Sokrates. Nennst du aber den närn LIEBER besser und stärker? Denn es war mir damals nicht möglich, deutlich zu erkennen, wie du es meinst. Nennst du die Kräftigeren stärker und müssen die Schwächlicheren dem Kräftigeren sich fügen? In diesem Sinne wiesest du doch wohl auch im Vorhergehenden darauf hin, dab die großen Staaten nach dem naturgemäßen Recht gegen die kleinen zu Felde ziehen, weil sie stärker sind und kräftiger, wobei „stärker“ und „kräftiger“ und „besser“ als identisch zu denken sind; oder ist es möglich, besser zu sein und doch geringer und schwächlicher, und stärker zu sein, aber doch schlechter? Oder haben „besser“ und „stärker“ ge- nau dieselbe Bedeutung? Eben darüber mußt du eine ganz bestimmte Erklärung abgeben, ob stärker und besser und kräftiger identisch sind oder verschieden.

Kallikles. Nun gut, ich erkläre bestimmt, daß sie identisch sind.

Sokrates. Ist nicht die große Menge von Natur stärker als der Einzelne? Sie ist es doch auch, welche die Gesetze gibt zur Niederhaltung des Einen, wie du eben sagtest.

Kallikles. Ja, gewiß.

Sokrates. Die Gesetzesbestimmungen der großen Menge sind also die der Stärkeren ?

St.

[πὸ

Dreiundvierzigstes Kapitel. 99

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Also doch auch die der Besseren? Denn die Stärkeren sind nach deiner Behauptung die Besseren.

Kallikles. Ja.

Sokrates. Also sind doch die Gesetzesbestimmungen lieser von Natur schön, da sie ja die der Stärkeren sind?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Ist es nun nicht die Ansicht der großen Menge, wie du ja eben sagtest®%), Recht sei. die Gleich- heit und es sei schimpflicher, Unrecht zu tun als Unrecht zu leiden? Steht es so oder nicht? Und laß dich hierbei ja nicht etwa deinerseits®!) auf einer Schamhaftigkeit ertappen. Ist die große Menge dieser Ansicht oder ist sie es nicht, daß Gleichheit, nicht Übervorteilung Recht sei und daß das Unrechttun häßlicher sei als das Un- rechtleiden ? Enthalte mir diese Antwort nicht vor, mein Kallikles, damit, wenn du mir beistimmst, ich mich zur Bestätigung meiner Ansicht auf dich berufen kann, als auf einen durchaus urteilsfähigen Mann, der mir beige- stimmt hat.

Kallikles. Ja, das ist die Ansicht der großen Menge.

Sokrates. Nicht also nur dem Gesetze nach ist das Unrechttun häßlicher als das Unrechtleiden und nicht

bloß dem Gesetze nach ist Recht Gleichheit, sondern _

auch von Natur. Wie es scheint, hast du also nicht recht mit deiner früheren Äußerung®) und klagst mich ohne Grund an durch die Behauptung, Gesetz und Natur stünden miteinander in Widerspruch und das wüßte ich recht wohl und stützte darauf mein hinterlistiges Ver- fahren in der gemeinsamen Untersuchung: wenn näm- lich einer die Natur meine, dann spiele ich die Sache auf das Gesetz hinüber, wenn aber einer das Gesetz meine, dann auf die Natur.

Tr

100 Platons Gorgias.

Vierundvierzigstes Kapitel.

Kallikles. Daß der Mann doch nicht von seinen Narrenspossen lassen kann! Sage mir, mein Sokrates schämst du dich nicht, bei deinen Jahren solche Wort- klauberei zu treiben, und wenn sich einer im Ausdruck vergreift, dies wie einen Glücksfund anzusehen? Denn glaubst du denn, daß ich unter Stärkersein etwas anderes verstehe als unter Bessersein? Versichere ich dir nicht schon lange, daß ich besser und stärker für dasselbe halte? Oder glaubst du etwa, ich wolle behaupten, wenn sich ein Haufe von Sklaven und allerlei nichtsnutzigem Gesindel versammelt, das höchstens durch Körperkraft etwas ausrichten kann, so sollte das, was diese etwa an- ordnen, Gesetzeskraft haben

Sokrates. Wohl denn, mein hochweiser Kallikles; so meinst du?

Kallikles. Ja, gewiß.

Sokrates. Aber ich, mein Hochverehrter, vermute ja selbst schon längst, daß dir bei ‚stärker‘ so etwas vorschwebt, und gerade um deine Meinung deutlich zu erfahren, frage ich eben zu wiederholten Malen. Denn du bist doch nicht etwa der Meinung, zwei seien besser als einer oder deine Sklaven seien besser als du, weil sie kräftiger sind als du. Aber sage nun noch einmal, was du eigentlich unter den Besseren verstehst, da du nicht die Kräftigeren damit meinst. Und, mein Lobenswerter, schlag einen freundlicheren Ton bei deinen Belehrungen an, damit ich dir nicht aus der Schule laufe.

Kallikles. Du wirst ironisch, mein Sokrates.

Sokrates. Nein, mein Kallikles, beim Zethos, der dir eben zu einem so reichen Erguß von Ironie gegen mich verhelfen mußte, nein, ich will nur von dir wissen, wen du unter den Besseren verstehst.

Kallikles. Die Tüchtigeren.

Sokrates. Da siehst du nun, daß du selbst ein bloßes Spiel mit Worten treibst, aber keinen klaren Auf-

St

Fünfundvierzigstes Kapitel. 101

schluß gibst. Willst du nicht sagen, ob du unter den Besseren und Stärkeren die Einsichtigeren verstehst oder andere ?

Kallikles. Nun, beim Zeus, eben diese verstehe ich darunter und zwar mit voller Sicherheit.

Sokrates. Oft also ist ein Einsichtiger nach deiner Meinung stärker als Tausende von Einsichtslosen ; dieser Eine nun muß herrschen, die anderen müssen gehorchen und der Herrscher muß im Vorteil sein gegen die Be- herrschten denn das scheinst du mir sagen zu wollen, und ich treibe dabei keine Wortklauberei —, sofern der Eine stärker ist als die Tausende.

Kallikles. Ja, so meine ich’s, denn das halte ich für das natürliche Recht, daß man als der Bessere und Einsichtigere über die Untüchtigeren herrsche und das Übergewicht über sie habe.

Fünfundvierzigstes Kapitel.

Sokrates. Hier mache ein wenig Halt. Was be- sagt eigentlich diese deine Behauptung? Angenommen, wir befänden uns in großer Zahl, wie hier jetzt, in einem Raum beisammen und hätten reichlich Speise und Ge- tränke zu gemeinsamer Verwendung, wären aber der Art

nach mannigfach verschieden, die einen kräftig, die anderen

schwächlich, einer aber unter uns, weil Arzt, besäße in dieser Beziehung mehr Einsicht, wäre aber, wie zu er- warten, kräftiger als die einen, schwächlicher als die anderen, wird dieser nicht, weil einsichtsvoller als wir, besser und stärker hinsichtlich der eh; sein, um die es sich da handelt?

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Soll er nun von diesen Speisen mehr bekommen als wir, weil er besser ist, oder soll er als Herrschender zwar alles verteilen, aber in bezug auf Ver- wendung und Aufbrauchen für seinen eigenen Leib nichts voraus haben, wenn er nicht schlimme Folgen verspüren

102 Platons Gorgias.

soll? Vielmehr muß doch für ihn gelten: mehr als die einen, weniger als die anderen. Will es aber der Zufall, daß er von allen der Schwächlichste ist, dann muß er, der Beste, doch von allen am wenigsten bekommen. Nicht wahr, mein Guter 88).

Kallikles. Um Speisen und Getränke und Ärzte und Albernheiten drehen sich deine Reden; davon rede ich nicht.

Sokrates. Verstehst du unter dem Verständigeren den Besseren? Ja oder nein. |

Kallikles. Ja.

Sokrates. Aber meinst du nicht, daß der Bessere mehr haben muß?

Kallikles. Ja, aber nicht an Speisen und Getränken.

Sokrates. Ich verstehe; aber vielleicht an Gewändern, und der beste Weber muß das größte Gewand bekommen und muß mit den meisten und schönsten Gewändern ange- tan umherstolzieren ?

Kallikles. Ach was, ee

Sokrates. Aber an Schuhen muß doch wohl der ein Mehr haben, der in dieser Beziehung der Einsichts- vollste und Beste ist. Der Schuhmacher also muß wohl mit den größten und meisten Schuhen angetan umher- wandeln ?

Kallikles. Laß mich in Ruhe mit deinen Schuhen! Du bringst ja nichts als Albernheiten zutage.

Sokrates. Nun, wenn du es nicht so meinst, dann vielleicht so: du denkst etwa an einen Landwirt, der ein kundiger und tüchtiger Pfleger des Bodens ist; dieser also muß vielleicht mehr Samen haben und für sein Land am meisten Samen verbrauchen ?

Kallikles. Immer bringst du wieder dasselbe vor, mein Sokrates. |

Sokrates. Nicht nur dasselbe, mein Kallikles, son- dern auch über dieselben Sachen).

Kallikles. .Wahrlich, bei den Göttern, unaufhör- 491

Sechsundvierzigstes Kapitel. 103

lich redest du von Schustern und Walkern und Köchen und Arzten, als ob von diesen die Rede wäre.

Sokrates. Nun, so sage du doch, in welcher Beziehung man stärker und einsichtsvoller sein muß, um mit Recht mehr zu bekommen. Oder willst du weder meine Anregung dir gefallen lassen noch selbst Auskunft geben?

Kallikles. Nun, ich gebe sie ja schon lange. Die wirklich Stärkeren sind meiner Meinung nach nicht Schuster oder Köche, sondern diejenigen, die in bezug auf die staatlichen Angelegenheiten einsichtsvoll sind und in bezug auf die beste Art ihrer Verwaltung, und nicht nur einsichtsvoll, sondern auch tatkräftig, indem sie ihre Ge- danken auch zur Ausführung zu bringen wissen und nicht ermatten infolge weichlicher Gemütsart.

Sechsundvierzigstes Kapitel.

Sokrates. Siehst du, mein bester Kallikles, daß es nicht die gleichen Vorwürfe sind, die wir uns gegen- seitig machen? Du nämlich behauptest, ich sage immer dasselbe, und tadelst mich deshalb; ich aber mache dir den entgegengesetzten Vorwurf, nämlich daß du niemals das- selbe sagst über die nämliche Sache, sondern einmal er- klärtest du die Besseren und Stärkeren als die Kräftigeren, dann wieder als die Einsichtigeren, und jetzt kommst du wieder mit etwas Neuem; als Tatkräftigere werden von dir die Stärkeren und Besseren bezeichnet. Aber, mein Guter, mache nun der Sache ein Ende und sage, wen du eigentlich unter den Besseren und Stärkeren verstehst und in welcher Beziehung.

Kallikles. Ich hab’ es ja schon gesagt: diejenigen, die hinsichtlich der Staatsgeschäfte einsichtsvoll und tat- kräftig sind. Denn ihnen ziemt es über die Staaten zu herrschen, und das Recht besteht darin, daß sie vor den anderen im Vorteil sind, die Herrscher vor den Be- herrschten.

104 Platons Gorgias,

Sokrates. Wie aber steht es mit ihnen im Verhältnis zu sich selbst, mein Freund? Wie mit der Frage, ob sie da entweder Herrscher oder Beherrschte sind 85)

Kallikles. Wie meinst du das?

Sokrates. Ich meine, inwiefern ein jeder Herrscher über sich selbst ist. Oder wäre das nicht nötig, über sich selbst zu herrschen, wohl aber über andere? |

Kallikles. Was meinst du mit der Herrschaft über sich selbst ?

Sokrates. Nichts Überraschendes, sondern wie man es gemeinhin versteht, daß man maßvoll ist und die Ge- walt über sich selbst hat, indem man die Lüste und Be- gierden in sich beherrscht.

Kallikles. Wie naiv bist du! Du meinst die Schwachköpfe, die Maßvollen ?

Sokrates. Selbstverständlich. Es kann doch nie- mand verkennen, daß ich dies meine.

Kallikles. O doch, Sokrates, erst recht. Denn wie könnte denn irgend jemand glücklich sein, der irgend- einem gehorchen muß? Nun, das naturgemäße Schöne und Gerechte ist das, was ich dir jetzt in freimütigen Worten verkünde: Wer richtig leben will, muß seine Begierden so groß wie möglich werden lassen ohne ihnen einen Zügel anzulegen; sind sie aber so groß wie möglich, so muß er imstande sein, ihnen mit Tapferkeit und Klugheit zu dienen und alles, wonach sich die Be- gierde regt, zur Stelle zu schaffen. Aber dies ist"natürlich den meisten nicht möglich. Daher tadeln sie die Ver- treter dieser Richtung und verbergen aus Scham unter diesem Tadel ihre eigene Ohnmacht und erklären die Zügellosigkeit für häßlich. Und so suchen sie denn, wie ich früher bemerkte®), die von Natur besseren Menschen sich unterwürfig zu machen, und selbst nicht imstande ihren Lüsten Befriedigung zu verschaffen, loben sie die Mäßigung und Gerechtigkeit aus keinem anderen Grund als weil sie selbst feige sind. Denn wer von vornherein das Glück hatte entweder ein Königssohn zu sein oder von

492 S

Siebenundvierziestes Kapitel. 105

der Natur mit der Kraft ausgerüstet zu sein, um sich selbst zum Herrscher oder Tyrannen oder Machthaber zu machen, was stünde einem solchen Mann schlechter und schimpflicher an als Mäßigung? Sie, denen der Ge- nuß aller Güter freisteht und nichts im Wege steht, sollen selbst das Gesetz und das Gerede und den Tadel der großen Menge zum Herrn über sich machen? Oder sollten sie nicht unglückliche Menschen werden durch die Herrlichkeit der Gerechtigkeit und Mäßigung, bei der sie ihren Freunden nicht mehr Gutes zukommen lassen sollen als ihren Feinden und noch dazu als Herrscher im eigenen Staate? Du, mein Sokrates, behauptest immer der Wahrheit nachzugehen; in Wahrheit nun verhält es sich folgendermaßen: Üppigkeit, Zügellosigkeit und Frei- heit, wenn ihnen alle Hilfsquellen offen stehen, das ist Tugend und Glück, das andere aber, diese eure schönen Benennungen und widernatürlichen menschlichen Ab- machungen, ist eitel Wind und nichtig.

Siebenundvierzigstes Kapitel.

Sokrates. Recht mannhaft, mein Kallikles, stürmst du in freimütiger Rede an; denn unverblümt sagst du jetzt, was die anderen zwar denken, aber nicht sagen wollen. Ich bitte dich nun in deinem Eifer ja nicht nach- zulassen, damit es in Wahrheit offenbar werde, wie wir unser Leben gestalten müssen. Und sage mir denn: deiner Meinung zufolge darf man die Begierden nicht im Zaume halten, wenn man ein menschenwürdiges Dasein führen will, sondern muß sie so groß als möglich werden lassen und ihnen aus allen möglichen Quellen Befriedigung schaffen, und das ist Tugend ?

Kallikles. Das ist meine Meinung.

Sokrates. Also mit Unrecht sagt man, diejenigen seien glücklich, die nichts bedürfen 981)

106 Platons Gorgias.

Kallikles. Da wären ja die Steine und die Toten

am glücklichsten.

Sokrates. Aber auch wie du das Leben auffaßt, steht es schlimm damit. Denn es sollte mich nicht wundern, wenn Euripides recht hätte mit seinem Spruch)

. Wer weiß, ob nicht das Leben nur ein Sterben ist, Das Sterben aber Leben’?

und ob wir in der Tat nicht vielleicht tot sind. Auch von irgendeinem Weisen habe ich schon gehört, daß wir jetzt tot seien und daß unser Leib unser Grabmal sei und daß der Teil der Seele, in dem die Begierden ihren Sitz haben, der Überredung zugänglich sei und herüber und hinüber schwanke. Und dies brachte ein geistvoller Mann, ein Sizilier vielleicht oder ein Italiker, in mythischer Form zur Anschauung und nannte ihn mit einem auf die Sache hindeutenden Namen wegen seiner Faßbarkeit und seiner durch Überredung bestimmbaren Verfassung Faß, und die Einsichtslosen die Weihelosen. Bei den Weihe- losen aber sei der Teil der Seele, dem die Begierden ange- hören, also das Zügellose und Undichte, ein durch- löchertes Faß, ein Vergleich, der von der Unersättlich- keit hergenommen ist. Also das gerade Gegenteil von deiner Behauptung, mein Kallikles, scheint dieser zu be weisen, nämlich daß von den Bewohnern des Hades mit dem er offenbar das Unsichtbare meint diese Un- eingeweihten die unglücklichsten sind, und daß sie in das durchlöcherte Faß Wasser tragen mit einem gleich- falls durchlöcherten Gefäß, nämlich einem Sieb. Mit dem Sieb aber meinte er, wie mein Gewährsmann sagte, Jie Seele. Die Seele aber der Einsichtslosen verglich er als durchlöchert mit einem Siebe, da sie nichts festhalten kann wegen ihrer Unzuverlässigkeit und Vergeßlichkeit®?). Das klingt freilich etwas ungereimt, läßt. aber doch er- kennen, was ich dir dartun will, um dich womöglich zu überreden, deine Ansicht zu ändern, nämlich an Stelle des unersättlichen und zügellosen Lebens das maßvolle

Achtundvierzigstes Kapitel. 107

und mit dem Vorhandenen sich immer begnügende und damit auskommende Leben zu erwählen. Aber richte ich mit meiner Überredungskunst bei dir auch etwas aus und änderst du deine Ansicht dahin, daß die Maßvollen glücklicher sind als die Zügellosen, oder wirst du, wenn ich auch in noch so vielen anderen mythologischen Bil- dern zu dir rede, deine Ansicht gleichwohl nicht ändern ?

Kallikles. Dies letztere trifft eher zu, mein Sokrates.

Achtundvierzigstes Kapitel.

Sokrates. Wohlan denn, so laß dir jetzt ein anderes Bild gleichen Schlages®) vorführen wie das eben mit- geteilte. Sieh zu, ob dir etwa folgende Ansicht über die beiden Lebensrichtungen, die maßvolle und die zügellose, einleuchtet. Nimm an, von zwei Männern hätte ein jeder zahlreiche Fässer und bei dem einen wären sie heil und voll, das eine voll Weines, das andere voll Honigs, ein drittes voll Milch und so noch viele mit vielerlei ange- füllt, die Flüssigkeiten aber für ein jedes von ihnen wären rar und verborgen!) und nur mit vielen Beschwerden und Mühen zu beschaffen. Wenn nun dieser erstere sie ge- füllt hätte, so würde er weder weiter zugießen noch sich irgendwelche Sorge machen, sondern würde, was das an- langt, völlig unbekümmert sein. Für den anderen gilt dies zwar auch wie bei jenem, daß die Flüssigkeiten wohl beschafft werden können, wenn auch nur mit Mühe, aber die Gefäße (die Fässer) sind durchlöchert und schad-

4 st. haft, und er sieht sich genötigt sie Tag und Nacht immer wieder zu füllen, wofern er nicht die äußerste Pein er- dulden will. Angenommen also, das Leben eines jeden von beiden wäre von dieser Art, behauptest du da, das des Zügellosen sei glücklicher als das des Maßvollen Darf ich hoffen, mit dem Gesagten dir das Zugeständnis abzugewinnen, das maßvolle Leben sei besser als das zügellose, oder nicht?

108 Platons Gorgias.

Kallikles. Nein, mein Sokrates, das gelingt dir nicht. Denn jener erstere, der einmal die Füllung voll- zogen, hat überhaupt kein Vergnügen mehr, sondern hat, wie vorhin schon bemerkt, ein Dasein wie ein Stein, indem er nach vollzogener Füllung weder Freude noch Leid hat. Gerade darin liegt das lustvolle Leben, daß einem so viel wie möglich zufließt.

Sokrates. Wenn viel zufließt, muß dann nicht not- wendig auch viel wieder abfließen und müssen die Löcher für die Abflüsse nicht recht groß sein?

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Das Leben, das du meinst, wäre also das einer Ente, und nicht eines Toten oder eines Steines. Und sage mir: bei deiner obigen Erklärung schwebt dir doch vor allem Hunger vor und Essen aus Hunger?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Und Durst und Trinken aus Durst?

Kallikles. Ja, das meine ich, und daß man alle anderen Begierden hat und sie befriedigen kann und so voll Lust ein glückliches Leben führt.

Neunundvierzigstes Kapitel.

Sokrates. Brav so, mein Bester. Fahre nur fort, wie du begonnen hast, und laß dich nicht etwa durch Scham abhalten. Aber auch ich darf, wie es scheint, nicht ab- lassen aus Scham. Und zunächst sage, ob es möglich ist ein glückliches Leben zu führen, wenn man die Krätze hat und es einen juckt und man nach Herzenslust sich kratzen kann und dies Kratzen sein Lebenlang fortsetzt ??2)

Kallikles. Wie abgeschmackt ist das von dir, mein Sokrates, und wie ganz nach der Art eines gemeinen Volksredners.

Sokrates. In der Tat, mein Kallikles, den Polos und Gorgias habe ich eingeschüchtert und habe ihnen Scham beigebracht, aber du wirst dich doch nicht ein-

er

Neunundvierzigstes Kapitel. 109

schüchtern lassen und dich nicht schämen! Du bist ja ein tapferer Mann. Aber antworte nur.

Kallikles. So sage ich denn: Auch wer sich kratzt, führt ein angenehmes Leben.

Sokrates. Und wenn ein angenehmes, dann doch auch ein glückliches?

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Etwa, wenn es ihn bloß am Kopfe juckı oder soll ich auch noch nach Weiterem fragen? Du würdest doch, mein Kallikles, in große Verlegenheit mit der Antwort geraten, wenn einer dich auch nach allen folgenden Körperteilen der Reihe nach fragen wollte. Und, um die Hauptsache auf diesem Gebiet zu erwähnen, das Leben der Mannhuren, ist das nicht schmählich und widerwärtig und kläglich? Oder hast du den Mut, diese glücklich zu nennen, wenn sie in Hülle und Fülle haben, wonach sie begehren ?

Kallikles. Schämst du dich nicht, mein Sokrates, die Rede auf dergleichen Dinge zu bringen ?

Sokrates. Bin ich es’ denn, mein Weackerer, der dies tut, oder nicht vielmehr der, welcher so ohne Ein- schränkung behauptet, daß, wer vergnügt sei, gleichviel welcher Art auch das Vergnügen sei, glücklich sei, und

. keinen Unterschied macht zwischen guten und verwerf-

lichen Lüsten? Aber auch jetzt ist es noch nicht zu spät Auskunft zu geben darüber, ob du angenehm und gut für identisch erklärst oder ob es auch Angenehmes gibt, das nicht gut ist. |

Kallikles.. Um mich nicht selbst mit meinen Be- hauptungen in Widerspruch zu setzen, wenn ich sie für verschieden erkläre, erkläre ich sie für identisch.

Sokrates. Du machst, mein Kallikles, deine früheren Versicherungen zunichte und bist nicht mehr der Mann, mit mir die Wahrheit zu erforschen, wenn du gegen deine eigene Überzeugung sprichst.

Kallikles. Du machst es ja nicht anders, mein So- krates. |

110 Platons Gorgias.

Sokrates. Wenn dem so ist, dann bin ich ebenso auf falschem Wege wie du. Aber, mein Verehrtester, sollte denn wirklich das Gute mit dem Vergnügen jedweder Art eins sein? Denn nicht nur die eben angedeuteten zahlreichen häßlichen Folgerungen ergeben sich daraus, wenn dem so ist, sondern noch viele andere.

Kallikles. Nach deiner Ansicht, mein Sokrates.

Sokrates. Du aber, mein Kallikles, hältst du denn wirklich an dieser Ansicht fest ?

Kallikles. Jawohl.

Fünfzigstes Kapitel.

Sokrates. Sollen wir also mit dem Satze verfahren, als ob du ihn ernst meintest ?

Kallikles. Durchaus.

Sokrates. Wohlan denn, da du es so willst, gib mir über folgendes Auen, Auskunft: Nimmst du ein Wissen an?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Behauptetest du nicht vorhin®), daß es auch eine Tapferkeit (Tatkraft) gebe neben dem Wissen ?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Dies meintest du doch so, daß die Tapfer- keit von dem Wissen verschieden sei, dab sie also zwei seien ? |

Kallikles. Gewiß.

Sokrates. Wienun? Sind Lust und Wissen dasselbe oder verschieden ? |

Kallikles. Offenbar verschieden, mein Aller- weisester. |

Sokrates. Doch ist auch die Tapferkeit verschieden von der Lust?

Kallikles. Selbstverständlich.

Sokrates. Gut denn, das wollen wir uns genau mer- ken, daß Kallikles aus Acharnä „Lustvoll“ und „Gut“ für

cr

Fünfzigestes Kapitel. 111

eins erklärte, Wissen aber und Tapferkeit für sowohl voneinander verschieden wie auch von dem Guten 34),

Kallikles. Sokrates aber aus Alopeke gibt uns das nicht zu. Oder gibt er es doch zu?

Sokrates. Nein, er gibt es nicht zu. Ich glaube aber auch Kallikles nicht), wenn er nur richtige Selbst- schau hält. Denn sage mir, wem es gut geht und wem es schlecht geht, befinden sich die nicht im entgegen- gesetzten Zustand 99) |

Kallikles. Ja.

Sokrates. Sind diese Zustände aber einander ent- gegengesetzt, muß es sich mit ihnen dann nicht verhalten wie mit Gesundheit und Krankheit? Der Mensch nämlich ist doch nicht zu gleicher Zeit gesund und krank und wird doch nicht zu gleicher Zeit der Gesundheit und der Krankheit ledig.

Kallikles. Wie meinst du das?

Sokrates. Du kannst das z. B. an jedem beliebigen Körperteil für sich genommen sehen. Es kommt doch vor,

. daß ein Mensch an den Augen leidet, ein Leiden, das man

als Augenkrankheit bezeichnet.

Kallikles. Gewiß.

Sokrates. Also ist er doch zu gleicher Zeit nicht auch an ihnen gesund?

Kallikles. Gott bewahre.

Sokrates. Wie aber weiter? Wenn er von der Augenkrankheit befreit wird, wird er dann etwa auch ger Gesundheit der Augen ledig und ist schließlich beider zu gleicher Zeit ledig geworden

Kallikles. Nimmermehr.

Sokrates. Denn das wäre doch wohl wunderbar und unbegreiflich. Nicht wahr?

Kallikles. Sicherlich.

Sokrates. Vielmehr erhält und verliert er doch jedes

von beiden abwechselnd ? Kallikles. Ja.

119 Platons Gorgias.

Sokrates. Gerade so steht es doch auch mit Kraft und Schwäche?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Und mit Schnelligkeit und Langsamkeit ?

Kallikles. Gewiß.

Sokrates. Steht es auch mit dem Guten und mit dem Glück und ihrem Gegenteile, dem Schlechten und dem Unglück, so, daß man immer abwechselnd eines von beiden empfängt und wieder los wird ?

Kallikles. Ganz zweifellos.

Sokrates. 'Wenn wir also etwas finden, was der Mensch zu gleicher Zeit los wird und zu gleicher Zeit hat, so kann dies offenbar nicht das Gute und das Schlechte sein. Sind wir darin einverstanden? Und gib deine Ant- wort mit vollem Bedacht.

Kallikles. Ich bin ganz und gar einverstanden.

Einundfünfzigstes Kapitel.

Sokrates. Also nun zurück zu den früheren Zuge- ständnissen. Erklärtest du das Hungern für angenehm oder für unangenehm 331) Ich meine das Hungern an sich.

Kallikles. Für unangenehm, ich gewiß; Essen da- gegen, wenn man Hunger hat, für angenehm.

Sokrates. Ich gleichfalls. Ich verstehe recht wohl. Also das Hungern an sich ist unangenehm. Oder nicht?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Doch wohl auch das Dürsten

Kallikles. Erst recht.

Sokrates. Soll ich also erst noch weiter fragen, oder gibst du zu, daß jedes Bedürfnis und jede Begierde unangenehm sei? |

Kallikles. Du brauchst nicht erst zu fragen, ich gebe es zu. |

Sokrates. Gut. Aber zu trinken, wenn man Durst hat, erklärst du doch für angenehm ?

Einundfünfzigstes Kapitel. 113

Kallikles. Ja.

Sokrates. Von den eben genannten Worten bedeutet doch nun das „Durst haben“ soviel wie „Unlust haben“ ?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Das Trinken aber ist doch Befriedigung des Bedürfnisses und Lust ?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Insofern man trinkt, hat man doch Freude. Das ist doch deine Meinung ?

Kallikles. Durchaus.

Sokrates. Wenn man nämlich Durst hat?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Und also Unlust empfindet?

Kallikles. Ja. |

Sokrates. Merkst du nun das Ergebnis? Nämlich daß man zufolge deiner Behauptung Unlust empfindet und sich zugleich freut, wenn man durstet und trinkt? Oder geschieht dies nicht zugleich nach Ort und nach Zeit, gleichviel ob du das auf die Seele oder auf den Körper beziehst? Denn das macht, denke ich, keinen Unterschied.

Ist es so oder nicht?

Kallikles. Ja. Sokrates. Nun erklärtest du es doch für unmög-

. lich®), daß es einem zugleich gut und schlecht gehe.

St.

Kallikles. Jawohl.

Sokrates. Dagegen Unlust empfinden und sich dabei zu freuen, das hast du als möglich zugegeben ?

Kallikles. Nun ja.

Sokrates. Also ist „sich freuen“ und „sich wohl- befinden“ nicht dasselbe, und ebensowenig ‚„Unlust emp- finden“ und „sich schlecht befinden“; mithin ergibt sich die Verschiedenheit der Lust von dem Guten.

Kallikles. Ich weiß nicht, was du da für Weis- heit auskramst, mein Sokrates.

Sokrates. Du weißt es, aber du stellst dich dumm, mein Kallikles. Und fahre nur noch weiter so fort.

Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Bd. 148.

114 Platons Gorgias.

Kallikles. Was für eine unaufhörliche Schwätzerei treibst du da. |

Sokrates. Ja, sie soll dir zeigen, was für ein Weiser du bist, daß du mich zurechtweist. Hört nicht bei einem jeden von uns mit dem Trinken der Durst und die Lust zugleich auf?

Kallikles. Ich weiß mit deinen Reden nichts anzu- fangen und habe genug davon.

Gorgias. Nicht so, mein Kallikles, beileibe nicht, sondern antworte auch uns zuliebe, damit die EERRBPNUng ihren Abschluß finde.

Kallikles. Ist doch Sokrates immer derselbe, mein Gorgias. Immer fragt er wieder nach Kleinigkeiten und Nichtigkeiten und widerlegt sie.

Gorgias. Aber was macht dir denn das aus? Das kommt ja doch gar nicht auf deine Rechnung, mein Kallikles.. Laß dich nur ruhig vom Sokrates widerlegen, wie es ihm gefällt.

Kallikles. Nun, so fahre nur fort mit deinen kleinen und armseligen Fragen, da es Gorgias so wünscht.

Zweiundfünfzigstes Kapitel.

Sokrates. Glücklich zu preisen bist du, mein Kalli- kles, daß du die großen Weihen empfangen hast noch vor den kleinen®°). Ich hielt das für unzulässig. An dem Punkte also, wo du absprangst, setze nun mit deiner Antwort wieder ein, nämlich ob nicht bei einem jeden von uns mit dem Durst zugleich auch die Lust aufhört.

Kallikles. Ja.

Sokrates. Und auch mit dem Hunger und den übrigen Begierden hört doch Ze auch die Lust auf?

Kallikles. So ist es.

Sokrates. Also hören überhaupt Unlust ee Lust zu gleicher Zeit auf?

Zweiundfünfzigstes Kapitel. 115

Kallikles. Ja.

Sokrates. Das Gute und Schlechte dagegen hört nicht gleichzeitig bei uns auf, wie du ja zugestandest. Bleibst du jetzt nicht mehr bei diesem Zugeständnis ?

Kallikles. Doch. Aber was folgt daraus?

Sokrates. Nun, mein Freund, daß das Gute mit dem Angenehmen nicht identisch ist und das Schlechte nicht mit dem Unangenehmen. Denn diese hören zu- sammen auf, jene aber nicht, da sie eben anderer Art sind. Wie könnte also das Angenehme mit dem Guten und das Unangenehme mit dem Schlechten einerlei sein ? Wenn du willst, kannst du die Sache auch noch von einer anderen Seite betrachten. Denn ich glaube, auch so tritt der Widerspruch hervor. Gib also acht: Gut nennst du doch die Guten zufolge der Anwesenheit des Guten, wie du diejenigen schön nennst, denen Schönheit bei- wohnt 100)

Kallikles. Ja.

Sokrates. Und weiter. Bezeichnest du Unvernünf- tige und Feige als gute Männer? Vorhin wenigstens tatest du das nicht, sondern nanntest die Tapferen und Besonnenen so!"),. Oder bezeichnest du diese nicht als gute?

Kallikles. Ja gewiß. J

Sokrates. Und hast du schon ein unvernünftiges Kind sich freuen sehen?

Kallikles. Jawohl.

Sokrates. Und hast du noch nie einen unvernünf- tigen Mann gesehen, der sich freute?

Kallikles. Ich glaube doch. Aber was soll das?

Sokrates. Nichts. Antworte nur.

Kallikles. Ja, ich habe einen gesehen.

Sokrates. Und weiter. Einen Vernünftigen, der Un- lust und Lust empfand ?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Bei wem findet sich nun mehr Lust

8*

116 Platons Gorgias.

und Unlust, bei den Vernünftigen oder bei den Unver- nünftigen ?

Kallikles. Ich glaube, der Unterschied ist nicht groß. ᾿

Sokrates. Nun, das genügt schon. Hast du im Krieg schon einen Feigling gesehen ?

Kallikles. Wie sollte ich nicht?

Sokrates. Wie nun? Beim Abzug der Feinde, was hattest du da für einen Eindruck? Wer freute sich mehr, die Feigen oder die Tapferen ?

Kallikles. Beide in gleichem Maße, wie mir wenig- stens schien; oder wenigstens nahezu gleich.

Sokrates. Gleichviel. Es freuen sich also jeden- falls auch die Feigen ?

Kallikles. Ganz sicher.

Sokrates. Also, scheint’s, auch die Unvernünftigen.

Kallikles. Ja.

Sokrates. Wenn die Feinde aber zum Angriff vor- rücken, empfinden da bloß die Feigen Unlust oder auch die Tapferen ?

Kallikles. Beide.

Sokrates. In gleichem Maße?

Kallikles. Mehr vielleicht die Feigen.

Sokrates. Beim Abzug der Feinde, da freuen sie sich doch auch wohl mehr?

Kallikles. Vielleicht.

Sokrates. Also Unlust und Lust empfinden Unver- nünftige und Vernünftige, Feige und Tapfere in nahezu gleichem Maße, wie du sagst, in höherem Maße aber doch die Feigen als die Tapferen ?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Nun sind aber doch die Vernünftigen und Tapferen gut, die PN und Unvernünftigen dagegen schlecht ?

Kallikles. Ja. |

Sokrates. Also in ungefähr gleichem Grade werden

Dreiundfünfzigstes Kapitel. 117

die Guten und die Schlechten von Lust und Unlust bewegt ?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Sind also nicht die Guten und die Schlech- ten in ungefähr gleichem Grade gut und schlecht? Oder sind nicht die Schlechten sogar in noch etwas höherem Grade gut?

Dreiundfünfzigstes Kapitel.

Kallikles. Beim Zeus, dabei steht mir der Ver- stand stille.

Sokrates. Wie du dich erinnerst, gibst du doch zu!%), daß die Guten gut sind durch die Anwesenheit des Guten, die Schlechten schlecht durch die Anwesenheit des Schlechten, das Gute aber seien die Lüste, das Schlechte die Schmerzen ?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Nun wohnt doch wohl denen, die sich freuen, das Gute inne, nämlich die Lust, wenn sie wirk- lich sich freuen ?

Kallikles. Selbstverständlich.

Sokrates. Macht nun das Beiwohnen des Guten die Fröhlichen nicht. gut?

Kallikles. Ja. |

Sokrates. Und weiter. Wer Unlust empfindet, wohnt dem nicht das Schlechte bei, nämlich die Schmerzen ?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Die Anwesenheit des Schlechten macht aber doch deiner Aussage zufolge die Schlechten schlecht. Oder ist das nicht mehr deine Meinung?

Kallikles. Doch.

Sokrates. Gut also sind die, welche Lust, schlecht die, welche Unlust empfinden ?

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Und dem Grad der Lust und Unlust ent- spricht immer der Gräd der Güte und der Schlechtigkeit

118 Platons Gorgias.

nach Maßgabe der Bestimmungen „mehr“, „weniger“, „gleich“ ?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Nun behauptest du doch!®), daß die Ver- nünftigen und die Unvernünftigen, die Feigen und die Tapferen in nahezu gleichem Maße Lust und Unlust

empfinden oder sogar noch in höherem Maße die Feigen? _

Kallikles. Ja.

Sokrates. Erwäge denn nun gemeinsam mit mir, was sich aus unseren zugestandenen Sätzen ergibt. Denn zwei- mal und dreimal das Schöne zu sagen und durchzuprüfen ist schön, wie man zu sagen pflegt. Wir behaupten, daß der Vernünftige und Tapfere gut sei. Nicht wahr?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Und der Unvernünftige und Feige schlecht.

Kallikles. Gewißb.

Sokrates. Daß aber auch gut sei, wer Freude emp- findet ?

Kallikles. Ja. |

Sokrates. Und schlecht sei, wer Unlust empfindet?

Kallikles. Notwendig.

Sokrates. Daß aber Leid und Freude der Gute und der Schlechte in gleichem Maße empfindet, in höherem Maße vielleicht noch der Schlechte

Kallikles. Ja.

Sokrates. Also folgt doch, daß der Schlechte in gleichem Maße gut und schlecht ist wie der Gute, ja daß er vielleicht sogar in noch höherem Maße gut ist? Diese und jene früheren Folgen ergeben sich doch wohl, wenn man Angenehmes und Gutes für eins erklärt? Sind sie nicht unvermeidlich, mein Kallikles

Vierundfünfzigstes Kapitel.

Kallikles. Lange schon, mein Sokrates, höre ich dir zu und stimme dir bei1%), weil ich mir sage, daß du, wenn man dir auch nur im Scherze etwas hinreicht, voller

Vierundfünfzigstes Kapitel. 119

Freude wie die Kinder es festhältst; als ob ich oder irgend- ein anderer Mensch, wie du annimmst, es leugnete, dab die Lüste teils besser teils schlechter seien.

Sokrates. Sieh da, mein Kallikles, was für ein Schelm du bist: du behandelst mich wie ein Kind; bald sagst du so, bald wieder anders und führst mich an der Nase herum. Und doch glaubte ich anfangs nicht, dab ich von dir absichtlich getäuscht werden würde, da du mein Freund bist. Doch ich sehe, ich habe mich getäuscht, und ich muß, wie es scheint, der alten Weisheit folgend die Sache nehmen wie sie ist und mich mit dem von dir Gebotenen abfinden. Deine jetzige Behauptung ist also, wie es scheint, die, daß einige Lüste gut, andere schlecht sind. Nicht wahr?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Gut doch wohl die nützlichen, schlecht dagegen die schädlichen ?

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Nützlich aber sind diejenigen, die etwas Gutes bewirken, schlecht dagegen diejenigen, die etwas Schlechtes bewirken ?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Du denkst dabei doch wohl an solche Lüste wie die eben genannten körperlichen beim Essen und Trinken. Von diesen also sind doch wohl diejenigen, welche den Körper gesund und kräftig und sonst noch tüchtig machen, gut, die Begentanlıgen schlecht ?

Kallikles. Gewiß.

Sokrates. Und ist es nicht ebenso mit den Schmer- zen? Sind nicht die einen nützlich, die anderen schädlich ?

Kallikles. Selbstverständlich.

Sokrates. Muß man nun nicht den nützlichen Lüsten und Schmerzen in Wahl und Tat nachgehen ?

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Den schädlichen aber nicht?

Kallikles. Offenbar nicht.

120 Platons Gorgias.

Sokrates. Denn des Guten wegen muß alles getan werden. Das war, wie du dich erinnern wirst, meine und des Polos Ansicht!%). Bist du mit uns dieser Ansicht, das Ziel alles Handelns sei das Gute und um seinetwillen müsse alles andere getan werden, nicht aber dies um des anderen willen ? Gesellst du als dritter dich uns mit deiner Stimme bei?

Kallikles. Ja. |

Sokrates. Also des Guten wegen muß man, wie alles andere, so auch das Angenehme tun, nicht aber das Gute um des Angenehmen willen.

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Ist es nun jedermanns Sache, die Aus- wahl dessen zu treffen, was unter dem Angenehmen gut und was schlecht ist, oder bedarf es eines Sachverständigen dazu ? |

Kallikles. Sicherlich eines Sachverständigen.

Fünfundfünfzigstes Kapitel.

Sokrates. Rufen wir uns also wieder in Erinnerung, was ich früher zum Polos und Gorgias sagte. Es war das, wie du dich erinnern wirst, folgendes: es gebe Berufs- tätigkeiten, die lediglich auf das Vergnügen und auf sonst nichts weiter abzielten und von dem Besseren und Schlech- teren nichts wüßten, andere dagegen, welche der Er- kenntnis dessen, was gut und was schlecht sei, nach- gingen. Und zu denen, die es mit der Lust zu tun haben, rechnete ich die erfahrungsmäßige Tätigkeit des Kochs, die aber keine Kunst sei, dagegen zu denen, die es mit dem Guten zu tun haben, die Heilkunst. Und, beim Grotte der Freundschaft, mein Kallikles, glaube ja nicht, daß du mich zum besten haben dürftest, und antworte nicht ins Gelage hinein gegen deine eigentliche Über- zeugung, sieh aber auch meine Äußerungen nicht so an, als ob ich dich damit zum besten hätte. Denn du siehst

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Sechsundfünfzigstes Kapitel. 191

doch, daß sich unsere Unterredung um eine Frage dreht, die jeder auch nur einigermaßen einsichtige Mensch als die allerwichtigste betrachtet, nämlich die, welches die richtige Lebensweise ist, ob die, zu der du mich auf- forderst, dem eigentlichen Mannesberuf, der darin be- .steht, daß man vor dem Volke redet und die Rednerkunst übt und sich in den staatlichen Geschäften so betätigt, wie ihr es jetzt tut, oder das der Philosophie gewidmete Leben, und wodurch sich dieses von jenem unterscheidet. Vielleicht ist es nun das Beste, die Einteilung zu treffen, die ich eben zu machen versuchte, nach getroffener Ein- teilung aber und erzielter gegenseitiger Übereinstimmung darüber, ob diese beiden Lebensweisen als die mabgebenden der Wirklichkeit entsprechen, zu prüfen, worin sie sich voneinander unterscheiden und welche von beiden man wählen muß. Vielleicht verstehst du mich noch nicht recht. |

Kallikles. Allerdings nicht.

Sokrates. So will ich es dir denn deutlicher sagen. Da zwischen mir und dir Einverständnis darüber herrscht, daß es ein Gutes gibt, ebenso auch ein Angenehmes, dab aber das Angenehme von dem Guten verschieden ist und daß es für jedes von beiden eine ihren Besitz erstrebende Bemühung und Berufstätigkeit gibt, hier eine Jagd auf

das Angenehme, dort auf das Gute doch eben dies

mußt du mir zunächst bejahen oder verneinen. Bejahst du es?

Kallikles. Ja.

—_____.

Sechsundfünfzigstes Kapitel.

Sokrates. Wohlan denn, erkläre dich mir darüber,

ob ich mit dem, was ich zu diesem hier sagte, dir im Rechte zu sein scheine. Ich sagte aber etwa, daß mir die Kochkunst keine Kunst zu sein scheint, sondern eine Erfahrungssache, wohl aber die Heilkunst; die Heilkunst st. nämlich, so sagte ich, kennt durch Forschung die Natur

199 Platons Gorgias.

des Objektes, das sie behandelt, und den Grund für alles, was sie tut, und vermag über jede darauf bezügliche Frage Rechenschaft zu geben, die andere aber geht auf die Lust aus, auf die ihre gesamte Dienstleistung berechnet ist, ohne alle eigentliche Kunst; sie erwägt weder die Natur der Lust noch ihre Ursache und, enthält sich bei völligem Verzicht auf höhere Einsicht sozusagen jeder wissenschaftlichen Untersuchung, reine Übung und Er- fahrungssache, nur die Erinnerung festhaltend an das, was in der Regel geschieht, womit sie denn auch die Lust zu erzeugen weiß. Dies also ist das erste, dessen Gültigkeit du zu prüfen hast, sodann, ob es auch rücksichtlich der Seele gewisse entsprechende Tätigkeiten gibt, einerseits kunstmäßige, die für das Beste der Seele Fürsorge treffen, anderseits solche, die sich darum nicht kümmern, sondern wie dort lediglich die Lust der Seele und die Art ihrer Erzeugung im Auge haben, nach dem Besser oder Schlech- ter bei den Lüsten aber überhaupt nicht fragen und es sich lediglich angelegen sein lassen Wohlgefallen zu er- regen, gleichviel ob gutes oder schlechtes. Denn meiner Ansicht nach gibt es solche, mein Kallikles, und ich nenne eine solche Tätigkeit Schmeichelei, mag sie nun dem Körper gelten oder der Seele oder welchem Gegenstande sonst, sofern man dabei der Lust dient ohne Rücksicht auf das Bessere und das Schlechtere. Einigst du dich nun mit uns zu der nämlichen Ansicht hierüber oder erhebst du Widerspruch ?

Kallikles. Nein, ich gebe es zu, damit deine Unter- suchung endlich zum Abschluß kommt und ich unserem (rorgias seinen Wunsch erfülle.

Sokrates. Gilt das Gesagte uhr nur für eine Seele, für zwei oder viele aber nicht?

Kallikles. Nein, auch für zwei und für viele.

Sokrates. Also ist es möglich, auch einer großen Vielheit von Seelen Wohlgefallen einzuflößen ohne Rück- sicht auf das Beste?

Kallikles. Wie mir scheint, ja.

er

Siebenundfünfzigstes Kapitel. 123

Siebenundfünfzigstes Kapitel.

Sokrates. Kannst du nun sagen, welches die Berufs- tätigkeiten sind, die dieses bewirken ? Oder lieber, wenn’s dir gefällt, antworte auf meine Frage hinsichtlich der Tätig- keit, die dir dahin zu gehören scheint, mit Ja, auf die gegen- teilige mit Nein. Zuerst laß uns das Flötenspiel daraufhin betrachten. Scheint es dir, mein Kallikles, nicht ganz von der Art zu sein, daß es nur auf unser Vergnügen aus- geht, ohne sich um sonst etwas zu kümmern ?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Nicht auch die anderen derartigen Künste, wie z. B. das Zitherspiel bei den Wettkämpfen ?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Ferner die Aufführung von Chören und die Dithyrambendichtung? Scheint sie dir nicht auch von dieser Art zu sein? Oder glaubst du, Kinesias1%), des Meles Sohn, kümmere sich im geringsten darum, etwas

vorzutragen, was geeignet wäre, die Hörer besser zu . machen, und nicht vielmehr nur darum, der lauschenden

Menge zu gefallen ?

Kallikles. Von Kinesias wenigstens, mein Sokrates, gilt dies ganz gewiß.

Sokrates. Und wie denkst du über seinen Vater Meles? Schien er dir bei seinem Zithervortrag etwa das. Beste im Auge zu haben? oder nicht einmal das Ange- nehmste? Denn er langweilte die Hörer durch seinen Gesang. Und scheint dir nicht bei einiger Überlegung überhaupt die ganze Kitharodik und Dithyrambendichtung nur des Vergnügens wegen erfunden zu sein

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Und was ist es, au die hochgefeierte und vielbewunderte Tragödiendichtung!”) ihr Absehen ge- richtet hat? Ist ihr Streben und Bemühen deiner Ansicht nach nur dies, den Zuschauern zu gefallen, oder ermannt sie sich auch dazu, etwas, was ihnen zwar schmeichelt und angenehm, aber schädlich ist, zu unterdrücken, dagegen

194 Platons Gorgias.

das, was etwa unangenehm, aber doch nützlich ist, durch ‚Wort und Gesang zum Vortrag zu bringen, gleichviel ob es ihnen erfreulich ist oder nicht? Welche von beiden Beschaffenheiten zeigt nach deiner Meinung die Tragödien- dichtung

Kallikles. Es liegt doch am Tage, mein Sokrates, daß sie mehr auf das Vergnügen und auf das Wohlgefallen der Zuschauer ausgeht.

Sokrates. Bezeichneten wir ein derartiges Beginnen, mein Kallikles, nicht eben als Schmeichelei ?

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Wohlan denn, wenn man von der ganzen Dichtung die Melodie, den Rhythmus und das Versmaß abzieht, bleibt dann noch etwas anderes übrig als Reden ?

Kallikles. Unmöglich.

Sokrates. Werden nun diese Reden nicht vor großen Volksmassen gehalten ?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Also ist die Dichtkunst doch eine Art Volksrednerei ?

Kallikles. Mag sein.

Sokrates. Also eine rednerische Volksansprache wäre sie. Oder scheinen dir die Dichter in den Theatern sich nicht als Redner zu zeigen ?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Jetzt also hat sie sich uns enthüllt als eine Redefertigkeit vor dem Volke, und zwar einem solchen, das sich zusammensetzt aus Kindern, Weibern und Männern, Sklaven und Freien; hohe Achtung kann sie von uns nicht beanspruchen, denn wir bezeichnen sie als Schmeichelei.

Kallikles. Allerdings.

St.

+

Achtundfünfzigstes Kapitel. 125

Achtundfünfzigstes Kapitel.

Sokrates. Gut. Aber nun die Redekunst vor dem Volk der Athener und vor den Versammlungen der freien Bürger in den anderen Staaten, welche Geltung hat sie in unseren Augen ? Haben die Redner nach deiner Ansicht bei ihren Ausführungen immer das Beste im Auge und sehen sie ihr Ziel darin, ihre Mitbürger durch ihre Reden so trefflich wie möglich zu machen, oder gehen auch sie bloß darauf aus sich bei ihren Mitbürgern in Gunst zu setzen, indem sie über ihrem persönlichen Interesse das Gemeinwohl vernachlässigen und mit den Versammel- ten wie mit Kindern umgehen, nur darauf bedacht, ihnen zu gefallen, und unbekümmert darum, ob sie dadurch besser oder schlechter werden ?

Kallikles. Deine Frage läßt keine einfache Antwort zu. Denn es gibt Redner, die bei ihren Reden das Wohl ihrer Mitbürger im Auge haben, es gibt aber auch Redner des von dir gekennzeichneten Schlages.

Sokrates. Es genügt schon. Denn wenn es hier auch eine Spaltung in zwei Richtungen gibt, so ist doch die eine Richtung Schmeichelei und häßliche Volks- rednerei, die andere allerdings etwas Schönes, das Streben nach möglichster Besserung der Seelen der Mitbürger

- und das Einsetzen der rednerischen Kraft für das Edelste, -

mag es nun angenehmer oder unangenehmer für die Hörer sein!®), Indes eine derartige Kunst der Rede hast du noch niemals erlebt. Oder wenn du einen solchen Redner zu nennen weißt, dann hast du doch allen Grund ihn mir zu nennen. |

Kallikles. Beim Zeus, unter den jetzigen Rednern wenigstens weiß ich dir keinen zu nennen.

Sokrates. Aber wie? Kannst du unter den alten einen nennen, von dem die Athener mit Recht sagen könnten, daß sie durch ihn nach Beginn seiner rednerischen Tätigkeit aus früher Schlechteren besser geworden seien ? Denn ich wüßte keinen zu nennen.

126 Platons Gorgias.

Kallikles. Wie? Weißt du nicht von anderen, daß

Themistokles ein trefflicher Mann gewesen ist und Kimon und Miltiades und der jüngst verstorbene Perikles, den du noch selbst hast reden hören ?109)

Sokrates. Ja, mein Kallikles, wenn, was du früher so nanntest!!0), die wahre Tüchtigkeit ist, nämlich die Be- friedigung der eigenen Begierden und der der anderen. Wenn sie dies aber nicht ist, sondern ihr Wesen gemäß den Zugeständnissen, die wir im weiteren Verlauf der Untersuchung zu machen uns genötigt sahen!t), darin besteht, diejenigen Begierden zu befriedigen, deren Be- friedigung den Menschen besser macht, die gegenteiligen aber nicht, und dies eine Kunst ist, wer möchte dann be- haupten, daß einer der Genannten zu dieser letzteren Art gehöre ?

Kallikles. Ich kann mich damit nicht zurecht finden.

Neunundfünfzigstes Kapitel.

Sokrates. Aber suche nur richtig, dann wirst du es finden. Wir wollen also folgendermaßen in Ruhe prüfen, ob einer von ihnen zu dieser Art gehört. Also so: Der tüchtige Mann, der bei seinen Reden das Beste im Auge hat, wird doch nicht ins Blaue hinein reden, sondern im Hinblick auf ein gewisses Ziel. So überläßt denn auch auf anderen Gebieten kein Werkmeister die Auswahl der seinem Vorhaben dienlichen Mittel dem bloßen Zufall, sondern trifft sie im Hinblick auf den Zweck seines Werkes so, daß das, was er unter den Händen hat, seine richtige Gestalt bekomme. So beobachte nur z. B. die Maler, die Baumeister, die Schiffsbauer und alle anderen Werk- meister, welchen du willst: ein jeder von ihnen läßt für jeden seiner Handgriffe eine bestimmte Ordnung walten und zwingt das eine sich passend dem anderen anzufügen, bis sich das Ganze zu einem wohlgeordneten und wohlge- gliederten Werke zusammengeschlossen hat. So machen

504 Si

Neunundfünfzigstes Kapitel. 197

es denn unter anderen Meistern auch die vorhin genannten mit der Körperpflege sich beschäftigenden Meister), die Turnlehrer und die Ärzte: sie geben dem Körper Wohlge- staltung und richtige Ordnung. Sind wir darüber einver- standen oder nicht?

Kallikles. Es mag so sein.

Sokrates. Ordnung also und Wohlgestalt muß ein Haus haben, um zweckmäßig zu sein, während Unordnung es unbrauchbar macht’?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Ist das Gleiche nicht der Fall bei einem Schiff ?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Und dasselbe gilt doch gewiß auch von unserem Körper ?

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Wie aber steht es mit der Seele? Wird sie tüchtig sein im Zustand der Ordnungslosigkeit oder in dem der Ordnung und Wohlgestalt?

Kallikles. Im letzteren, wie wir nach dem Vorher- gehenden notwendig einräumen müssen.

Sokrates. Wie bezeichnen wir nun beim Körper den aus Ordnung und Wohlgestaltung hervorgehenden Zu-

stand ? | Kallikles. Als Gesundheit und Kraft, wie du viel- leicht meinst.

Sokrates. Jawohl. Wie aber bezeichnen wir den Seelenzustand, der sich aus Ordnung und Wohlgestaltung ergibt Versuche den Namen aufzufinden und anzugeben, wie du es für den Körper tatest.

Kallikles. Warum sagst du ihn denn nicht selbst, mein Sokrates ?

Sokrates. Nun. wenn es dir lieber ist, will ich ihn angeben. Du aber mußt, wenn ich dir recht zu haben scheine, mir dies bekräftigen; wo nicht, so mußt du mich widerlegen und mir nichts durchlassen. Meiner Ansicht nach werden die Ordnungsmaßregeln für den

198 Platons Gorgias.

Körper in dem Namen Gesund zusammengefaßt, woraus sich denn die Gesundheit in ihm entwickelt und die son- stige Tüchtigkeit des Körpers. Ist es so oder nicht? Kallikles. Ja. Sokrates. Für die Ordnungs- und Gestaltungsmaß- regeln der Seele aber gelten die Bezeichnungen Gesetzlich-

keit und Gesetz, zufolge deren die Menschen gesetzlich

und wohlgesittet werden. Eben darin aber besteht die zerechtigkeit und Besonnenheit. Ja oder Nein ? Kallikles. Meinetwegen ja.

—n 1.

Sechzigstes Kapitel.

Sokrates. Auf diese Normen wird jener kunstver- ständige und tüchtige Redner immer seinen Blick ge- richtet halten bei den Reden, mit denen er die Seelen be- arbeitet, sowie bei allen seinen Handlungen und bei den (Graben, die er etwa zu verteilen hat, nicht minder auch bei den Lasten, die er auferlegen muß, immer darauf bedacht, daß in die Seelen seiner Mitbürger Gerechtigkeit einziehe, Ungerechtigkeit aber daraus entweiche, und Besonnenheit einziehe, Zügellosigkeit aber entweiche, und überhaupt. die Tugend ihren Einzug halte, die Schlechtigkeit aber den Abschied erhalte. Stimmst du bei oder nicht?

Kallikles. Ja. |

Sokrates. Was nützt es denn auch, einem kranken und elenden Körper vielerlei Speise zu reichen und die süßesten Getränke oder was sonst, was ihm zuweilen nickt nur keinen Nutzen, sondern im Gegenteil bei richtiger Schätzung sogar Schaden bringen wird? Ist es so?

Kallikles. Es mag sein. |

Sokrates. Denn ich denke, es hat für den Menschen keinen Nutzen zu leben, wenn er körperlich elend ist; denn wer so lebt, muß notwendig auch ein elendes Leben führen. Habe ich nicht recht 118) |

Kallikles. Ja.

505

Sechzigstes Kapitel. 129

Sokrates. Nun lassen doch auch die Ärzte einen Ge- sunden zwar in der Regel seine Begierden befriedigen, wie 510 z. B. einen Hungernden oder Durstenden essen oder trinken lassen so viel er will, einem Kranken dagegen ver- bieten sie doch fast ausnahmslos sich mit dem zu füllen, wonach er begehrt? Gibst auch du dies zu?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Was aber die Seele anlangt, mein Bester, verhält es sich da nicht ebenso? Solange sie schlecht ist infolge von Unverstand, Zuchtlosigkeit, Ungerechtig- keit und Gottlosigkeit, muß man sie von den Begierden abhalten und darf ihr nichts anderes zu tun erlauben als das, was sie besser macht? Ja oder Nein?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Denn damit wird der Seele selbst doch besser gedient ?

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Nun heißt doch sie fernhalten von den Begierden nichts anderes als sie in Zucht halten ?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Die Züchtigung ist also für die Seele besser als die Zuchtlosigkeit, die du vorhin empfahlst!12).

Kallikles. Ich finde mich mit dem, was du sagst, ‚nicht zurecht, mein Sokrates; frage doch einen anderen.

Sokrates. Dieser Mann will es sich nicht gefallen lassen, daß man sich ihm nützlich erweise, und will selbst nicht das über sich ergehen lassen, wovon die Rede ist, nämlich Züchtigung. ᾿

Kallikles. Mir ist auch völlig gleichgültig, was du sagst. Nur dem Gorgias zuliebe habe ich dir meine Antworten gegeben.

Sokrates. Gut. Was sollen wir also tun? Brechen wir die Untersuchung in der Mitte ab?

Kallikles. Das stelle ich dir anheim.

Sokrates. Nun, selbst die Märchen, heißt es, darf man nicht unfertig lassen, sondern muß ihnen einen Kopf

Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Bd. 148. 9

130 Platons Gorgias.

aufsetzent15), damit sie nicht ohne Kopf umherwandeln. Beantworte also auch noch den Rest, damit unsere Unter- suchung ihren Kopf erhalte.

Einundsechzigstes Kapitel.

Kallikles. :Was für Schrauben setzest du einem an, mein Sokrates. Folgst du aber meinem Rate, so läbt du diese Untersuchung liegen oder wählst einen anderen zur Unterredung mit dir.

Sokrates. Wer hat also sonst Lust dazu? Denn wir

wollen die Untersuchung doch nicht unvollendet liegen lassen. | Kallikles.. Könntest du nicht selbst die Unter- suchung zu Ende führen, entweder so, daß du für dich ‚allein sprächst oder auf deine Fragen dir selbst antwortetest?

Sokrates. Auf daß des Epicharmos Wort!!‘) für mich zur Wahrheit werde, „was vordem zwei Männer sagten, das soll ich einer nun zu sagen imstande sein‘ ? Aber es scheint, ich kann an dieser Lage nichts mehr ändern. Wenn wir aber etwas ausrichten sollen!1), so glaube ich müssen wir alle unseren Ehrgeiz darein setzen, zu erforschen, was in bezug auf den Gegenstand unserer Untersuchung wahr und was falsch ist. Denn die Auf- klärung darüber kommt uns allen gemeinsam zugute. Ich will also nun die Untersuchung der Sache durchführen, wie sie sich mir zu verhalten scheint. Wenn es aber einem von euch so vorkommt, als ob das, was ich mir selbst einräume, nicht die Wahrheit wäre, so muß °r eingreifen und mich widerlegen. Denn was ich sage, sage ich nicht als ein Wissender, vielmehr suche ich mit euch gemeinsam. Wenn also der, der mich bekämpft, etwas Richtiges zu sagen scheint, so werde ich der erste sein, der zustimmt. Ich sage dies aber nur für den Fall, daß die Vollendung der Untersuchung notwendig erscheint. Wollt ihr sie aber nicht, so lassen wir die Sache auf sich beruhen und trennen uns.

506

Zweiundsechzigstes Kapitel. 131

᾿ς @orgias. Aber meiner Meinung nach, mein So- krates, liegt noch keine Veranlassung vor, uns zu trennen, vielmehr mußt du die Untersuchung zu Ende führen. Dies scheint auch die Meinung der anderen zu sein. Denn ich meinerseits wünsche lebhaft zu hören, wie du selbst die Sache zu Ende führst.

Sokrates. Nun, mein Gorgias, auch meinerseits hätte ich einen Wunsch, nämlich den, daß ich mit unserem Kallikles hier die Unterredung so lange weiterführte, bis ich ihm die Rede des Amphion zurückgegeben hätte für die des Zethost!s), Da aber du, mein Kallikles, dich weigerst die Untersuchung mit mir zu Ende zu führen, so mache wenigstens als mein Zuhörer deine Einwen- dungen, wenn du einen Fehler in meinen Aufstellungen zu bemerken glaubst. Und wenn du mich widerlegst, so werde ich dir das nicht übelnehmen wie du mir, sondern du wirst bei mir in die Liste der Wohltäter einge- tragen werden und zwar als der größte derselben.

Kallikles. Sprich nur selbst, mein Bester, und bring die Sache zum Abschluß.

Zweiundsechzigstes Kapitel.

Sokrates. So höre denn, wie ich von vorn an die Untersuchung wiederhole. Ist das Angenehme und das Gute ein und dasselbe? Nein, wie ich und Kallikles übereingekommen sind. Muß man aber das Angenehme um des Guten willen tun, oder das Gute um des Ange- nehmen willen? Das Angenehme um des Guten willen. Angenehm ist aber doch das, dessen Erscheinen bewirkt, daß wir uns freuen, gut aber das, dessen Anwesenheit be- wirkt, daß wir gut sind? Gewiß. Gut sind aber nun doch wir ebenso wie alles andere, was gut ist, durch die Anwesenheit einer gewissen Vollkommenheit (Tugend) Mir wenigstens scheint das notwendig zu sein, mein Kalli- kles. Aber die Vollkommenheit (Tugend) jeglichen Dinges,

9Q*

132 Platons Gorgias.

--

sei es ein Geräte, oder Körper oder Seele oder irgendein beliebiges Geschöpf, stellt sich doch wahrlich nicht wie zufällig in voller Schönheit ein, sondern durch Ordnung und Regel und Kunst, wie sie sich für ein jedes dieser

Dinge schickt!!°). Ist es so? Meiner Meinung nach, ja. ᾿

Ist nicht die Tugend eines jeden Dinges etwas durch Ordnung Bestimmtes und Wohlgestaltetes? Ich wenigstens möchte es bejahen. Also eine gewisse einem jeden Dinge eigentümliche Wohlgestalt ist es, deren Eintritt jegliches Ding in der Welt gut macht? Mir wenigstens scheint es so. Eine Seele also, welche die ihr eigentümliche Wohlgestalt hat, ist besser als eine ungestalte? Not- wendig. Nun ist aber diejenige, welche Wohlgestalt hat, eine (sittlich) wohlgestaltete? Wie sollte sie das nicht? Die wohlgestaltete aber ist besonnen? Unbedingt. Die besonnene Seele also ist gut. Ich weiß nichts anderes zu sagen als dieses, mein lieber Kallikles. Weißt du etwas anderes, so halte nicht zurück damit.

Kallikles. Du hast das Wort, mein Bester.

Sokrates. So sage ich denn: wenn die besonnene Seele gut ist, so ist die, welche sich in dem entgegenge- setzten Zustand befindet wie die besonnene, schlecht. Das war aber doch die unverständige und zuchtlose? Ja. Und der Besonnene wird doch tun was recht ist gegenüber Göttern wie Menschen? Denn er wäre doch nicht be- sonnen, wenn er täte was nicht recht ist? Damit ver- hält es sich notwendig so. Handelt er nun gegenüber den Menschen recht, so handelt er gerecht, gegenüber den Göttern aber fromm. Wer aber gerecht und fromm har: delt, der ist doch notwendig selbst gerecht und fromm ? Ja. Und auch tapfer ist er notwendig. Denn ein be-

sonnener Mann wird nimmermehr erstreben oder meiden

was er nicht soll, sondern er wird meiden und erstreben was er soll, seien es Sachen oder Menschen oder Lüste oder Schmerzen, und wird wacker standhalten, wo es die Pflicht gebietet. Mithin ist es unbedingt notwendig, mein Kallikles, daß der besonnene Mann, wie er sich

507 $

+

Dreiundsechzigstes Kapitel. 133

uns in der Untersuchung darstellte als gerecht, tapfer und fromm, auch ein vollkommen guter Mann ist, und daß der gute Mann gut und richtig tut was er tut, und daß der richtig Handelnde glücklich und selig ist, der Schlechte dagegen und schlecht Handelnde unglück- selig120). Das aber wäre der, der den Gegensatz bildet zum Besonnenen, der Zuchtlose, dessen Lob du sangst.

Dreiundsechzigstes Kapitel.

Dies also ist meine Ansicht und für ihre Wahrheit trete ich ein. Ist sie aber wahr, so muß doch wohl der, welcher glücklich sein will, Besonnenheit erstreben und üben, der Zuchtlosigkeit aber entfliehen, so rasch einen jeden von uns die Füße tragen; am liebsten muß man es dahin bringen, daß man überhaupt der Züchtigung nicht bedarf; wenn man aber entweder selbst derselben bedarf, oder irgendein Angehöriger, sei es ein Privatmann oder ein Gemeinwesen, so muß man, wer es auch sei, ihm Strafe und Züchtigung auferlegen, wenn er glücklich werden soll. Das scheint mir das Ziel zu sein, auf das man hinblicken muß, um richtig zu leben, und darauf muß man ali sein Tun, sowohl die eigenen Bestrebungen wie die des Staates hinrichten, dab Gerechtigkeit und Besonnen- heit sich dem beigeselle, der glücklich leben will; die Begierden aber darf man nicht ungezügelt walten lassen und sich nicht auf ihre Befriedigung verlegen, ein end- loses Unheil, ein Leben wie das eines Räubers. Denn ein solcher Mensch ist weder bei einem anderen Menschen beliebt noch bei Gott; denn er ist keiner Gemeinschaft fähig, wem aber das Gefühl der Gemeinschaft fehlt, bei dem kann von Freundschaft keine Rede sein. Es sagen ja doch die Weisen), mein Kallikles, daß die

. Gemeinschaft und Freundschaft und Wohlverhalten und

Besonnenheit und Gerechtigkeit es sei, die Himmel und Erde, Götter und Menschen zusammenhalten, und des-

134 Platons Gorgias.

halb nennen sie dies Weltganze Weltordnung, mein Freund, nicht aber Unordnung oder Zuchtlosigkeit. Du aber scheinst mir darauf nicht zu achten, und trotz all deiner ‚Weisheit bemerkst du nicht, daß die Gleichheit, die geometrische!2?) meine ich, bei Göttern und Menschen eine wichtige Rolle spielt. Du aber glaubst dem Über- maß nachtrachten zu müssen; von der Geometrie aber willst du nichts wissen. Gut. Entweder also muß unser Satz!®), daß durch den Erwerb der Gerechtigkeit und Besonnenheit die Glücklichen glücklich, durch den Besitz der Schlechtigkeit dagegen die Unglücklichen unglück- lich sind, von uns als falsch erwiesen werder, oder, wenn er wahr ist, müssen wir auf die Betrachtung der Folgen eingehen. Jene früheren Behauptungen, mein Kallikles, bei denen’ du mich fragtest, ob ich im Ernste sagte, man müsse sich selbst und seinen Sohn und Freund an- klagen, wenn er Unrecht tue, und sich dazu der Rhetorik bedienen, sind alle nur Folgen daraus. Und was, wie du glaubtest, Polos aus Scham einräumte, das war demnach lautere Wahrheit, nämlich daß das Unrechttun häßlicher sei als das Unrechtleiden, und je häßlicher, um so schlech- ter auch; und wer ein richtiger Redner werden will, der mub demnach gerecht und der Gerechtigkeit kundig sein, was, wie Polos sagte, Gorgias aus Scham zugab.

‚Vierundsechzigstes Kapitel.

Da dem nun so ist, so lab uns erwägen, was es mit deinen Schmähungen gegen mich eigentlich auf sich hat, ob du nämlich recht hast oder nicht mit deiner Behauptung, ich wäre nicht imstande mir selbst oder irgendeinem meiner Freunde oder Angehörigen zu helfen noch sie aus den größten Gefahren zu retten, und ich wäre, wie die Ehrlosen, jedem Angriffslustigen preisgegeben, sei es nun, daß er mir nach deinem kecken Ausdruck einen Backenstreich verabreichen, oder auch mir das Vermögen

Vierundsechzigstes Kapitel. 135

rauben oder mich aus der Stadt verbannen oder das Äußerste mich töten wolle. Und solches über sich ergehen zu lassen ist doch der größte Schimpf, wie dein Satz lautet. Der meine aber, der zwar schon oft aus- gesprochen worden ist, aber ohne Schaden immer noch einmal ausgesprochen werden kann, lautet so: Mein Kalli- kles, ungerechterweise einen Backenstreich zu erhalten ist nicht der größte Schimpf, auch nicht einem Mord- gesellen oder Beutelschneider in die Hände zu fallen; viel schimpflicher und schlimmer ist es, mich und die Meinigen ungerechterweise zu schlagen und zu verwunden; und auch mich zu bestehlen und in die Sklaverei zu schleppen und bei mir einzubrechen, kurz jeden erdenklichen Frevel an mir und den Meinen zu verüben ist für den Frevler schlimmer und schimpflicher als für mich, den vom Frevler Heimgesuchten. Diese Sätze, wie sie sich uns oben in der früheren Unterredung klar ergaben, werden,

wie ich behaupte, mag es auch etwas derb klingen,

durch eiserne und stählerne Beweise gesichert und fest- gehalten, wie es wenigstens hiernach scheinen muß. Wenn du diese Sicherungen nicht löst oder ein anderer noch keckerer als du, dann muß derjenige notwendig im Un- recht sein, der anderes behauptet als was ich behaupte. Denn ich bleibe immer bei derselben Rede, daß ich nicht weiß, wie es sich damit verhält, daß aber von allen, mit denen ich zusammengetroffen bin, keiner, wie auch jetzt wieder, imstande ist eine andere Ansicht zu ver- treten, ohne sich lächerlich zu machen. Ich also halte meine Ansicht für die richtige. Wenn sie aber richtig ist und wenn demnach das Unrecht das größte Übel ist für den, welcher es verübt, und wenn es womöglich ein noch größeres Übel als dies größte ist, daß der Frevler nicht Strafe leidet, welches ist dann wohl die Hilfe, auf die der Mensch sich verstehen muß, wenn er nicht in Wahr- heit sich lächerlich machen will? Doch wohl die, welche den größten Schaden von uns abwehrt? Diese Hilfe weder sich selbst noch seinen Freunden und Angehörigen leisten

136 Platons Gorgias.

zu können, das ist doch unwidersprechlich der größte Schimpf; die zweite Stelle aber in bezug auf Schimpflich- keit nimmt das Unvermögen der Abhilfe gegen das zweit- größte Übel ein, die dritte das gegen das dritte und in diesem Verhältnis weiter. Nach der natürlichen Größe eines jeden Übels richtet sich auch das Lob der Abwehr- kraft gegen das betreffende Übel und ebenso der Schimpf des Mangels derselben. Verhält es sich so oder anders, mein Kallikles? | Kallikles. Nicht anders.

Fünfundsechzigstes Kapitel.

Sokrates. Von diesen zwei Übeln also, dem Un- rechttun und dem Unrechtleiden, ist das größere nach unserer Behauptung das Unrechttun, das kleinere das Un- rechtleiden. Worüber muß nun der Mensch verfügen, um sich selbst so helfen zu können, daß er beider Vor- teile teilhaftig wird, nämlich daß er weder Unrecht tut noch Unrecht leidet? Kommt es dabei auf ein Vermögen an oder auf ein Wollen? Ich meine es so: wird der bloße Wille nicht beleidigt zu werden ihn vor Beleidigung bewahren, oder wird er vor Beleidigung bewahrt bleiben, wenn er sich die Macht verschafft hat nicht beleidigt zu werden ?

Kallikles. Offenbar das letztere, wenn er sich die Macht verschafft hat.

Sokrates. Wie aber steht es nun mit dem Unrecht- tun? Genügt der bloße Wille nicht Unrecht zu tun wird man dann wirklich nicht Unrecht tun oder muß man auch dazu ein gewisses Vermögen und eine gewisse Kunst sich aneignen, da man, wenn man diese Dinge nicht erlernt und geübt hat!%), eben Unrecht tun wird Beantworte mir, mein Kallikles, doch sofort die Frage, ob dir richtig scheint, was wir, ich und Polos, in der früheren Unverredung uns genötigt sahen einzuräumen,

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Sechsundsechzigstes Kapitel, 137

nämlich daß niemand freiwillig Unrecht tue, sondern alle, die Unrecht tun, es wider Willen tun.

Kallikles. Mag es dabei sein Bewenden haben, mein Sokrates, auf dab du die Untersuchung zu Ende führest.

Sokrates. Also, wie es scheint, muß man auch, um nicht Unrecht zu tun, sich erst ein gewisses Ver- mögen und eine gewisse Kunst aneignen.

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Welches ist nun die Kunst, die uns in die Lage bringt entweder gar kein Unrecht zu erleiden oder doch möglichst wenig? Sieh zu, ob sie dir dieselbe zu sein scheint wie mir. Mir nämlich scheint sie die folgende zu sein: man muß entweder selbst in dem Staate herrschen oder auch Tyrann sein, oder man muß Anhänger der bestehenden Staatsordnung sein.

Kallikles. Siehst du, mein Sokrates, wie gern ich bereit. bin, dich zu loben, wenn du einmal etwas Rich- tiges vorbringst? Mit dieser Behauptung scheinst du mir vollkommen recht zu haben.

Sechsundsechzigstes Kapitel.

Sokrates. Sieh nun zu, ob ich auch mit dem Fol-

_ genden deinen Beifall finde. Freundschaft bildet sich,

wie mir scheint, am innigsten dann, wenn, wie schon die Alten und weise Männer sagen, sich der Gleiche dem Gleichen gesellt. Meinst du nicht auch?

Kallikles. Ja. h

Sokrates. Gesetzt also, es fände sich in einer Stadt, wo ein wilder und zuchtloser Tyrann herrscht, ein Mann, der weit besser wäre als er, so würde der Tyrann sich doch gewiß vor ihm fürchten und niemals von ganzem Herzen ihm Freund werden können

Kallikles. So ist es.

Sokrates. Und ebensowenig einem, der viel schlech-

138 Platons Gorgias.

ter wäre. Denn ihn verachtet der Tyrann und wird sich niemals um seine Freundschaft bemühen.

Kallikles. Auch dies ist richtig.

Sokrates. Als alleiniger in Frage kommender Freund

für einen Tyrannen bleibt also übrig ein Mann, der, von

gleicher Sinnesart und zu Lob und Tadel mit ihm gleich- gestimmt, sich ihm willig fügt und unterwirft. Dieser wird eine gewichtige Rolle in diesem Staate Papier! und niemand wird ungestraft ihn beleidigen.

Kallikles. ie |

Sokrates. Wenn also in diesem Staat einer von den jungen Leuten sich im stillen fragte: „Auf welche Weise könnte ich mir wohl zu großer Macht verhelfen und dazu, daß niemand mir Unrecht täte?“ so ist der Weg dazu, wie es scheint, dieser, daß er sich gleich von jung auf ge- wöhnt des Herrschers Vergnügen und Leid auch zu dem seinigen zu machen, und sich bemüht, ihm so ähnlich als möglich zu werden. Nicht wahr?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Er also darf sicher sein, daß ihm kein Unrecht widerfährt und daß er im Staat, wie ihr euch ausdrückt, eine gewichtige Rolle spielt.

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Darf er auch sicher sein, daß er kein Unrecht tut? Oder ist daran gar nicht zu denken, wenn anders er dem Herrscher, diesem Vertreter der Ungerechtig- keit, ähnlich sein und bei ihm großen Einfluß haben soll? Nein, ich glaube gerade das Gegenteil: all sein Streben wird darauf gerichtet sein, sich die Macht zu verschaffen soviel als möglich Unrecht zu tun und troız aller Frevel straflos zu bleiben. Nicht wahr?

Kallikles. Mag sein.

Sokrates. Also wird er mit dem schlimmsten Übel behaftet sein, da er an der Seele verdorben und geschändet ist durch die Nachahmung des Gebieters und durch das Streben nach Macht.

Kallikles. Immer wendest du doch die Worte, ich

Siebenundsechzigstes Kapitel. 139

weiß nicht wie, hin und her, mein Sokrates. Oder weißt du nicht, daß dieser Nachahmer den, der diese Nach- ahmung nicht mitmacht, töten wird, wenn es ihm beliebt, oder ihm sein Vermögen rauben wird’?

Sokrates. Ich weiß es wohl, mein guter Kallikles. Ich müßte ja sonst auch taub sein. Denn nicht nur von dir bekomme ich es zu hören, sondern vorhin auch zu wieder- holten Malen von Polos, ja fast von allen Mitbürgern. Aber auch du mußt nun von mir hören, daß er ihn zwar töten wird, wenn es ihm beliebt; aber dabei ist er ein Schurke und jener ein braver Mann.

Kallikles.. Muß man nun nicht eben über diese Hilflosigkeit empört sein ?

Sokrates. Nein, der Vernünftige nicht, wie das Gesagte zeigt. Oder glaubst du, der Mensch müsse es darauf ablegen, so lange als möglich zu leben und die Künste zu üben, die uns aus den jedesmaligen Gefahren retten, und so auch die, deren Pflege du mir empfiehlst, ' die Rhetorik, die uns vor Gericht aus der Not rettet?

Kallikles. Beim Zeus, mit diesem Rat hat es auch

seine volle Richtigkeit!2).

Siebenundsechzigstes Kapitel.

Sokrates. Wie nun, mein Bester? Hältst du auch die Kunst des Schwimmens für eine hoch zu preisende?

Kallikles. Das wahrhaftig nicht.

Sokrates. Und doch rettet auch sie die Menschen vom Tode, wenn sie ins Wasser gefallen sind; denn da bedarf es dieser Kunst. Wenn dir diese aber zu unbe- deutend erscheint, so will ich dir eine wichtigere nennen als sie, nämlich die Steuermannskunst!?), die nicht nur Leib und Leben, sondern außerdem auch Hab und Gut aus den größten Gefahren rettet, so gut wie die Rede- kunst. Sie ist aber anspruchslos und bescheiden und macht kein Aufheben von sich und gebärdet sich nicht, als ob

140 Platons Gorgias.

sie Wunder was ausrichtete, sondern, wenn sie dasselbe ausgerichtet hat wie die Gerichtsrede, wenn sie z. B. aus Ägina einen hierher gerettet hat, so fordert sie dafür, glaube ich, nur zwei Obolen; und wenn einen aus Ägypten oder aus dem Pontos, so fordert sie für diese große Wohl- tat, für diese Rettung, wie ich eben sagte, nicht nur seiner selbst, sondern auch von Weib und Kind und Hab und Gut nach glücklicher Landung im Hafen, wenn es sehr hoch kommt, zwei Drachmen, und er selbst, der Meister dieser Kunst, der dies vollbracht, steigt aus und ergeht sich am Meeresstrand und neben seinem Schiff in schlich- tem Gewande. Denn er sagt sich vermutlich, daß es ungewiß ist, wem von den Mitreisenden er dadurch ge- nützt hat, daß er ihn vor dem Ertrinken im Meere be- wahrt hat, und wem er geschadet hat, überzeugt, daß sie bei der Landung weder an Leib noch an Seele im geringsten besser waren als bei der Einschiffung. Er ᾿ sagt sich also, daß, wenn ein mit schweren und unheil- baren körperlichen Leiden Behafteter nicht ertrunken ist,

es für diesen ein Unglück war, nicht umgekommen. zu

sein, ihm also durch ihn kein Nutzen widerfahren ist. Und da sollte es für einen, der an dem, was weit kost- barer ist als der Leib, an der Seele, mit vielen unheilbaren Krankheiten behaftet ist, ein Glück sein, weiter zu leben und es sollte ihm von Nutzen sein, daß man ihn, sei es aus dem Meere, sei es aus den Schrecken des Gerichtes oder sonst welcher Gefahr errettete? Nein, er weiß, dab es für einen Schurken kein Glück ist zu leben; denn das Leben, das er führt, muß notwendig ein schlechtes sein.

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Achtundsechzigstes Kapitel.

Daher ist es nicht üblich, daß der Steuermann sich groß tue, obschon er unser Retter ist. Und ebensowenig, mein Verehrungswürdiger, der Kriegsmaschinenbauer, der unter Umständen keine geringeren Rettungsdienste leistet

512 £

Achtundsechzigstes Kapitel. 141

als ein Feldherr, geschweige denn als ein Steuermann, oder als sonst irgendeiner; denn zuweilen rettet er ganze Städte. In deinen Augen ist er allerdings mit dem Ge- richtsredner nicht entfernt zu vergleichen. Und doch, wenn er eurem Beispiel, mein Kallikles, folgen und seine Leistung aufbauschen wollte, dann könnte er euch auf das dringendste zusetzen unter allen Umständen Mecha- niker zu werden; alles andere sei nichts. Denn an Gründen wird es ihm nicht fehlen. Aber du verachtest ihn und seine Kunst nichtsdestoweniger und würdest ihn wie zum Spott wegwerfend „Maschinenbauer“ nennen und würdest weder seinem Sohne deine Tochter geben wollen, noch für deinen Sohn seine Tochter nehmen wollen. Indes was hast du nach dem, was du an deinen Leistungen rühmst, für ein Recht den Maschinenbauer zu verachten sowie die anderen, von denen ich eben sprach? Ja, ich weiß wohl, du würdest sagen, du seiest besser und aus besserer Familie. Wenn aber das „Besser“ nicht das ist, was ich darunter verstehe, sondern die Tugend eben darin besteht, daß man sich und das Seinige rette, gleich- viel was für ein Mensch man ist, so machst du dich nur lächerlich mit deinem Tadel gegen den Maschinenbauer und den Arzt und gegen die anderen Künste, die für den Rettungsdienst geschaffen sind. Aber, Verehrtester, . bei näherer Betrachtung dürftest du wohl erkennen, daß - das Edle und Gute etwas anderes ist als Retten und Gerettetwerden. Denn wer ein Mann ist wie er sein soll, der muß sich lossagen von dem Wunsche so lange als möglich zu leben, und darf nicht am Leben hängen; diese Sorge muß er der Gottheit überlassen und der Weiber- weisheit vertrauen, daß dem Verhängnis niemand ent- rinnen kann, und des weiteren sein Augenmerk nur darauf richten, wie er die ihm noch bestimmte Zeit zu einem möglichst guten Leben gestalte, ob etwa so, daß er sich der Staatsordnung, in der er lebt, möglichst ähnlich mache, was zur Folge haben würde, daß du dem Volke st. der Athener so ähnlich als möglich werden mußt, wenn

149 Platons Gorgias.

du bei ihm beliebt sein und im Staate zu großem Einfluß gelangen willst. Überlege dir genau, ob dies mir und dir frommt, mein Preisenswerter, denn sonst könnte es uns vielleicht ergehen, wie es den thessalischen Weibern er- gehen soll, welche den Mond vom Himmel herunter ziehen, nämlich daß, wenn wir uns für die Wahl der Macht im Staate entscheiden, wir diese Wahl mit dem Liebsten bezahlen müssen. Wenn du aber glaubst, du könntest dieser Staatsordnung unähnlich sein, sei es nach der Seite des Besseren oder des Schlechteren, und es könnte dich trotzdem irgendein Mensch in den Besitz der Kunst setzen, die dich zu einem einflußreichen Manne in dieser Stadt machen wird, so bist du meiner Ansicht nach falsch beraten, mein Kallikles.. Mit bloßer Nachahmung ist es

hier nicht getan; deine eigene Natur muß ganz zur ihrigen werden, wenn du etwas Rechtschaffenes erreichen willst rücksichtlich der Freundschaft zu dem Demos der Athener und, beim Zeus, außerdem auch noch zu dem Demos des ‚Pyrilampes. Wer dich also ihnen so ähnlich wie mög- lich macht, der wird dich, wie du es so sehr begehrst, zu einem Staatsmann und Redner machen. Denn über Reden, die der eigenen Sinnesart entsprechen, freut sich jedermann, über andere ärgert er sich. Es müßte denn sein, daß du anders darüber denkst, mein trautes Haupt. Wollen wir etwas dagegen vorbringen, mein Kallikles?

Neunundsechzigstes Kapitel.

Kallikles. Ich bin mir nicht völlig klar, aber ich glaube fast, du hast recht, mein Sokrates. Es geht mir aber wie der großen Masse: ganz überzeugt bin ich nicht von dir!?7),

Sokrates. Ja; mein Kallikles, die Thiebe zum Volke, die in deiner Seele wohnt, stellt sich mir hindernd ent- gegen. Aber wenn wir vielleicht öfter und besser eben diese Fragen durchprüfen, dann wirst du überzeugt werden.

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Neunundsechzigstes Kapitel, 143

Erinnere dich also, daß wir zwei Arten der Tätigkeit für die durchgehende Behandlung von Leib und Seele unterscheiden, einerseits die, welche dem Vergnügen dient, anderseits die, welche dem Besten dient und nicht auf bloßes Wohlgefallen ausgeht, sondern die Sache ernstlich angreift. Waren das nicht die Bestimmungen, die wir damals trafen ?

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Also die eine, die es mit dem Vergnügen zu tun hat, ist unedler Art und nichts anderes als Schmei- chelei. Nicht wahr?

Kallikles. Mag sein, wenn du so willst.

Sokrates. Die andere aber geht auf das wahre Beste dessen aus, was wir .behandeln, sei es nun Leib oder Seele.

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Ist nun dies nicht die Art, in der wir den Staat und die Mitbürger behandeln müssen, nämlich die Sorge, die Bürger selbst so gut wie möglich zu machen ? Denn ohne dieses hat es, wie wir in der früheren Unter- redung fanden!2), keinen Nutzen, ihnen irgendwelche andere Wohltat zu erweisen: die Gesinnung derer, die entweder großen Reichtum gewinnen oder über andere herrschen oder sonstwie Einfluß erlangen sollen, muß

edel und gut sein. Wollen wir dies annehmen?

Kallikles. Gewiß, wenn du es wünschst. Sokrates. Gesetzt, wir hätten im Dienste des Staates

‘zu wirken und forderten uns einander auf zu Bauunter-

nehmungen und zwar zur Herstellung gewaltiger Bauten wie Mauern oder Schiffshäuser oder Tempel, müßten wir dann nicht uns selbst auf das strengste prüfen, erstens ob wir die Kunst verstehen oder nicht, die Baukunst nämlich, und von wem wir sie erlernt haben? ‘Wäre das nötig oder nicht?

Kallikles. Gewiß.

Sokrates. Und dann zweitens, ob wir jemals ein Privatgebäude, sei es für einen unserer Freunde oder

144 Platons Gorgias,

für uns selbst, gebaut haben und ob dies Gebäude ge- lungen ist oder nicht. Und wenn diese Prüfung ergäbe, daß wir tüchtige und namhafte Lehrer gehabt haben und viele schöne Bauwerke unter Leitung unserer Lehrer und nach Beendigung der Lehrzeit auch viele selbständig und allein ausgeführt haben, dann wäre es durch die Um- stände gerechtfertigt und hätte Sinn und Verstand, wenn wir uns an Öffentliche Werke wagten. ‚Wenn wir aber niemanden nachweisen könnten, der unser Lehrer gewesen wäre, und auch von Bauwerken entweder gar keines oder nur viele mißlungene, dann wäre es doch unvernünftig uns mit Staatsbauten zu befassen und uns gegenseitig dazu aufzufordern. Sollen wir das für wahr gelten lassen oder nicht? Kallikles. Durchaus.

Siebzigstes Kapitel.

Sokrates. Und ebenso auch in allen anderen Fällen. Wenn wir z. B. als staatliche Ärzte wirken wollten und uns als angeblich befähigt dafür gegenseitig dazu auf- fordern wollten, so würden wir uns, nämlich ich dich und du mich doch wohl einander prüfen: „Bei den Göttern, sag an, wie steht es mit dem Sokrates selbst rücksichtlich seiner Leibesgesundheit? Oder ist schon sonst jemand durch Sokrates seine Krankheit losgeworden, ein Sklave oder ein Freier?“ Und ich würde meinerseits, denk’ ich, ᾿ dieselbe Prüfung wieder mit dir vornehmen. Und wenr wir nun keinen einzigen fänden, der durch uns in seinem leiblichen Befinden gebessert worden wäre, weder unter den Fremden noch unter den Einheimischen, weder einen Mann noch ein Weib, wäre es, beim Zeus, dann nicht in Wahrheit lächerlich, mein Kallikles, wenn die Men- schen in der Unvernunft so weit gehen wollten, daß sie, ohne zuvor im Privatleben sich vielfach wie es eben gehen wollte, erprobt, vielfach aber auch mit Glück und

Einundsiebzigstes Kapitel. 145

Erfolg gearbeitet und sich in ihrer Kunst gehörig aus- gebildet zu haben, gleich am Fasse, wie man zu sagen pflegt!2°), die Töpferkunst zu erlernen bestrebt und nicht nur selbst, in öffentliche Dienste zu treten, sondern auch andere dazu aufzufordern beflissen wären. Hältst du ein solches Verfahren nicht für unvernünftig ?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Da du nun, mein Trefflichster, eben be- ginnst dich selbst mit den Staatsgeschäften zu befassen, und mich unter Vorwürfen darüber, daß ich es nicht tue, dazu aufforderst, müssen wir uns da nicht gegen- seitig prüfen: „Sag an, hat Kallikles schon irgendeinen seiner Mitbürger besser gemacht? Ist irgendein Mensch, der früher ein Taugenichts war, ungerecht, zügellos, voller Unverstand, durch Kallikles brav und tüchtig geworden, sei es ein Fremder oder ein Einheimischer, ein Sklave oder ein Freier?” Sage mir, wenn jemand dich so ausforscht, mein Kallikles, was wirst du ihm antworten? Wen wirst du nennen als einen, der durch den Umgang mit dir besser geworden ist? Du zögerst mit der Antwort, ob du einen Erfolg aus deinem Privatleben aufzuweisen hast, ehe du dich an die Öffentlichkeit hervorwagst

Kallikles. Es kommt dir bloß darauf an Recht zu behalten, mein Sokrates. |

Einundsiebzigstes Kapitel.

Sokrates. Nein, nicht aus Rechthaberei frage ich, sondern es kommt mir in Wahrheit darauf an zu erfahren, in welchem Sinne du glaubst unter uns die Staatsgeschäfte

. führen zu sollen. Wird nach dem Beginn deiner staats-

männischen Tätigkeit deine Fürsorge auf etwas anderes

gerichtet sein als auf die möglichste Besserung von uns

Bürgern? Oder haben wir uns nicht wiederholt schon

darüber verständigt, daß dies die eigentliche Aufgabe des

Staatsmannes sein muß? Ja oder nein? Antworte. Ja. Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Βᾶ. 148. 10

146 Platons Gorgias.

Dies sei die Antwort, die ich statt deiner gebe. Wenn also der tüchtige Mann in diesem Sinne für seinen Staat wirken muß, so sage mir nun in Erinnerung an die kurz vorher von dir genannten Männer, ob sie dir auch jetzt noch tüchtige Staatsmänner gewesen zu sein scheinen, Perikles und Kimon und Miltiades und Themistokles.

Kallikles. Gewib.

Sokrates. ‘Wenn sie also tüchtig waren, so hat offenbar ein jeder von ihnen seine Mitbürger aus schlech- teren zu besseren gemacht. Ja oder nein?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Also als Perikles zum ersten Male vor dem Volke redete, waren die Athener schlechter als da- mals, wo er zum letzten Male redete?

Kallikles. Vielleicht.

Sokrates. Nein, nicht vielleicht, mein Bester, son- dern ganz unwidersprechlich nach unseren Zugeständ- nissen, wenn er wirklich ein tüchtiger Staatsmann war.

Kallikles. Was willst du damit? |

Sokrates. Nichts. Aber dies sage mir nun noch, ob nach dem allgemeinen Urteil die Athener durch Peri- kles besser geworden sind, oder ob sie ganz im Gegenteil von ihm zugrunde gerichtet worden sind. Denn ich wenigstens höre, Periklest30) habe die Athener träge und feig und geschwätzig und geldsüchtig gemacht, indem er zuerst das Besoldungswesen einführte.

Kallikles. Das hörst du von den Leuten mit den zer- schlagenen Ohren), mein Sokrates.

Sokrates. Aber das Folgende höre ich nicht nur, sondern weiß es ganz genau, ich sowohl wie du, dab Perikles anfänglich in gutem Rufe stand und die Athener ihn nicht vor Gericht schimpflich verurteilten, solange sie noch schlechter waren; als sie aber durch ihn tüchtig und brav geworden waren, gegen Ende seiner Lebens-

516 S

zeit, da verurteilten sie ihn wegen Unterschlagung, und .

es fehlte nicht viel, so hätten sie das Todesurteil über ihn gefällt, offenbar als über einen nichtswürdigen Mann.

Zweiundsiebzigstes Kapitel. 147

Zweiundsiebzigstes Kapitel.

Kallikles. ‚Wie nun? War denn deshalb Perikles schlecht ?

Sokrates. Wenigstens würde doch wohl ein Hüter von Eseln und Pferden und Rindern als schlecht gelten, wenn er es mit dieser seiner Kunst zuwege brächte, dab die Tiere, die er in seine Pflege übernahm, ohne dab sie ‚gegen ihn ausschlugen und mit den Hörnern stießen und bissig waren, später infolge von Verwilderung alle diese Unarten zeigten. Oder scheint dir nicht der ein schlechter Hüter irgendwelcher beliebigen lebenden Wesen zu sein, der diese Wesen, die er in leidlich zahmem Zustand über- nommen hat, wilder werden ließ als sie bei der Übernahme waren? Ja oder nein?

Kallikles. Ja denn, um dir zu Gefallen zu sein.

Sokrates. Also sei auch so gefällig mir das zu beantworten, ob auch der Mensch eines von den leben- den Wesen ist oder nicht?

Kallikles. Selbstverständlich.

Sokrates. Waren es nicht Menschen, die Perikles unter seiner Obhut hatte?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Wie nun? Hätten sie nicht nach unseren . eben gemachten Zugeständnissen3#) durch ihn aus Un- gerechteren Gerechtere geworden sein müssen, wenn er als wirklich tüchtiger Staatsmann die Obhut über sie übte aa, |

Kallikles. Allerdings. |

Sokrates. Nun sind doch die Gerechten zahm, wie Homer!) sagt. Du aber, was sagst du? Nicht dasselbe?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Nun machte er sie aber doch wilder als sie bei der Übernahme waren, und noch dazu gegen ihn selbst, zu seiner schlimmsten Enttäuschung.

Kallikles. Soll ich dir das zugeben?

10*

148 Platons Gorgias.

Sokrates. Wenn du es für richtig hältst.

Kallikles. So mag es denn so sein.

Sokrates. Wenn er sie nun wilder machte, dann doch auch ungerechter und schlechter’?

Kallikles. Mag sein.

Sokrates. Also nach diesem Nachweis war Perikles kein guter Staatsmann. |

Kallikles. Wohlgemerkt, nach deiner Meinung.

Sokrates. Nein, beim Zeus, auch nach deiner zu- folge deiner Zugeständnisse. Nun weiter zum Kimon !13%) Haben nicht diejenigen, die unter seiner Obhut standen, ihn durch das Scherbengericht aus der Stadt vertrieben, um zehn Jahre seine Stimme nicht hören zu müssen ? Und dem Themistokles taten sie das Gleiche an und bestraften ihn außerdem noch mit Verbannung. Den Miltiades!35) aber, den Helden von Marathon, beschlossen sie in die Felsenschlucht hinabzustürzen und nur dem Dazwischentreten des Prytanen hatte er es zu danken, daß es nicht geschah. Und doch wäre ihnen das nie widerfahren, wenn sie, wie du sagst, tüchtige Männer gewesen wären. Denn es wäre doch töricht, zu glauben, die tüchtigen Wagenlenker, die anfangs nicht von den ‚Wagen herunterstürzen, würden späterhin, wenn sie erst ihre Pferde gehörig gepflegt und selbst bessere Wagen- lenker geworden sind, gleichwohl herabstürzen. Nein, so steht es weder bei der Kunst des Wagenlenkens noch bei sonst einer Tätigkeit. Oder meinst du?

Kallikles. Nein.

Sokrates. Es hat also, wie es scheint, seine Richtig- keit mit unseren vorigen Behauptungen, daß wir keinen kennen, der in diesem unseren Staate sich als einen tüch- tigen Staatsmann erwiesen hätte. Du aber gabst dies wohl von den jetzigen Staatsmännern zu, nicht aber von den früheren und wiesest vorzugsweise auf die genannten Männer hin. Sie aber erwiesen sich als auf gleicher Stufe stehend mit den jetzigen. Sind sie also Redner

Dreiundsiebzigstes Kapitel. 149

gewesen, so haben sie weder die wahre Beredsamkeit') geübt denn sonst wären sie nicht durchgefallen noch auch die schmeichlerische,

Dreiundsiebzigstes Kapitel.

Kallikles. Aber es ist doch gar nicht daran zu denken, mein Sokrates, daß jemals irgendeiner der jetzigen Staatsmänner so große Werke schaffe, wie sie jene ohne Ausnahme geschaffen haben.

Sokrates. Mein Preisenswerter, auch ich tadle sie ja nicht als Diener des Staates, ja sie scheinen mir sogar bessere Diener desselben gewesen zu sein als die jetzigen und fähiger die Bedürfnisse des Staates zu be- friedigen. Aber darin, die Begierden umzulenken und ihnen zu wehren durch Überredung und Nötigung zu dem, was die Bürger besser machen sollte, hatten sie vor. den jetzigen Staatsmännern auch nicht das Geringste voraus. Und doch ist das das einzig würdige Werk eines tüch- tigen Staatsmannes. Schiffe und Mauern und Schiffs- häuser und was dergleichen mehr ist fertigzustellen waren jene allerdings geschickter als die jetzigen; das gebe auch ich dir zu. Das Verfahren also, das wir in unserer Unter- suchung befolgen, ich und du, fordert geradezu‘ zum Lachen heraus. Denn im ganzen Verlaufe unserer Unter- redung sehen wir uns unaufhörlich immer wieder auf denselben Punkt zurückgeworfen und bleiben einander un- verständlich mit unseren Behauptungen. Ich nämlich glaube, du hast oft genug zugestanden und anerkannt, daß es sowohl in Beziehung auf den Körper wie auf die Seele eine doppelte Tätigkeit gibt, die eine eine dienende, die es ermöglicht, unserem Körper, wenn er hungert, Speisen, wenn er durstet, Getränke, wenn er friert, Kleider, Decken, Schuhe und was sonst der Körper zu seiner Befriedigung verlangt, zu liefern. Und absichtlich rede ich zu dir durch die nämlichen Bilder, damit du es

150 Platons Gorgias.

leichter verstehest. Wenn nämlich einer sich auf Be- schaffung dieser Dinge versteht, sei es als Krämer oder Kaufmann oder Handwerker irgendwelcher Art, Bäcker oder Koch oder Weber oder Schuster oder Gerber, so ist es nicht zu verwundern, wenn er auf Grund solcher Eigenschaft sowohl in seinen eigenen Augen als auch bei den anderen als ein Pfleger des Leibes gilt, bei jedem nämlich, der nicht weiß, daß es neben allen diesen Tätig- keiten noch eine Kunst der Gymnastik und der Heilkunde gibt, die erst in Wahrheit Pflege des Körpers ist. Ihr kommt es denn auch zu, über alle diese Künste zu herr- schen und für die rechte Verwendung ihrer Leistungen zu sorgen, weil sie weiß, was von den Speisen und Ge- tränken nützlich und schädlich ist für des Leibes Tüchtig- keit, während alle jene anderen davon nichts verstehen. Daher sind denn auch diese anderen sogenannten Künste, die es mit der Behandlung des Leibes zu tun haben, niedrigen und dienenden und unfreien Charakters, während Gymnastik und Heilkunst den vollen Anspruch darauf haben, Herrinnen über jene zu sein. Wenn ich nun sage, daß dasselbe Verhältnis auch für die Seele gilt, so verstehst du, scheint es, wohl meine Meinung, wenn ich sie entwickele, und stimmst ihr bei als wärest du von ihrer Richtigkeit überzeugt; gleich darauf aber kommst du wieder mit der Behauptung, es habe treffliche und tüch- tige Staatsmänner in unserem Staate gegeben, und wenn ich nun frage, welche, so lautet deine Antwort mit ihrem Hinweis auf angebliche große Staatsmänner ganz ähnlich als wolltest du mir auf meine etwaige Frage, was es in Sachen der Gymnastik für tüchtige Pfleger des Leibes gegeben habe oder gebe, in vollem Ernste erwidern, dab der Bäcker Thearion und Mithaikos13”), der das Buch über die sizilische Kochkunst verfaßt hat, und der Krämer Sarambos1!3®) bewundernswerte Pfleger des Leibes seien, denn der eine bereite treffliche Brote, der andere Speisen, der dritte Wein. Si

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Vierundsiebrigstes Kapitel. 151

Vierundsiebzigstes Kapitel.

Vielleicht würdest du ärgerlich, wenn ich zu dir sagte: Mensch, du verstehst nichts von Gymnastik; du sprichst mir von Dienern und von Menschen, die sich nur mit der Befriedigung von Begierden abgeben, aber von dem eigentlich Guten, worauf es dabei ankommt, nichts verstehen; sie füllen gegebenenfalls die Leiber der Menschen an und machen sie fett und werden darob von ihnen auch noch gelobt, wenn es auch schließlich dahin kommt, daß sie ihnen auch ihr ursprüngliches Fleisch verderben. Diese letzteren aber werden in ihrer Unkennt- nis nicht jene Beköstiger als Urheber ihrer Krankheiten und des Abfalls des alten Fleisches beschuldigen, son- dern diejenigen, die zufällig dann ihnen zur Seite stehen und Rat geben, wenn die frühere Anfüllung, bei der keine Rücksicht auf Gesundheit genommen wurde, ge- raume Zeit später die Krankheit zuwege gebracht hat. Diese sind es dann, die sie anklagen und tadeln und wo- möglich mißhandeln werden, während sie jene früheren wirklichen Urheber des Unheils preisen werden. Und du, mein Kallikles, machst es jetzt genau so. Du preist Menschen, welche dem Athenervolke Schmausereien be- reitet haben, es fütternd mit dem, wonach ihm der Sinn stand. Und es geht die Rede, sie hätten die Stadt groß. gemacht, daß sie aber durch die Schuld jener alten Staats-

. männer krankhaft aufgedunsen und vereitert ist, das

merkt man nicht. Denn ohne Besonnenheit und Gerechtig- keit haben sie die Stadt mit Häfen und Schiffshäusern und Mauern und Tributen und dergleichen Tand ange- füllt. Wenn nun die Krankheit zum Ausbruch kommt, dann werden sie die jeweiligen Ratgeber als die Schuldigen anklagen, den Themistokles aber und Kimon und Perikles, die eigentlichen Urheber des Unheils, werden sie preisen. Über dich aber werden sie vielleicht herfallen, wenn du dich nicht in acht nimmst, und über meinen Freund Alki- biades, wenn sie mit dem neugewonnenen Besitz auch noch

152 Platons Gorgias.

den alten verlieren; und doch seid ihr höchstens mit- schuldig an dem Unheil, nicht die eigentlichen Urheber. Indes ist es doch ein unvernünftiges Schauspiel, das sich ebenso, ‘wie ich sehe, in der Gegenwart abspielt, wie es, nach dem, was ich höre, auch bei jenen alten Männern vorkam. Denn ich bemerke, daß, wenn der Staat einen von den Staatsmännern als Übeltäter hart anfaßt, sie in hellem Zorn auffahren und erschrecklich jammern, wie schlimm es ihnen ergehe; sie, die großen Wohltäter der Stadt, würden nun ungerechterweise von ihr zu- grunde gerichtet. So sagen sie. Das ist aber alles Lüge. Denn niemals wird auch nur ein einziger Lenker eines Staats von dem Staat selbst, den er lenkt, zugrunde ge- richtet. Denn es scheint mit denen, welche sich als Staats- männer aufspielen, gerade so zu stehen wie mit den Sophi- sten. Denn auch die Sophisten, im übrigen weise Männer, machen sich doch eines unbegreiflichen Widerspruchs schuldig. Sie behaupten nämlich Lehrer der Tugend zu sein und gleichwohl klagen sie oft genug ihre Schüler des Unrechts gegen sich an, begangen durch Vorent- haltung der bedungenen Bezahlung und durch sonstigen Undank, dessen sie sich trotz aller empfangenen Wohl- taten schuldig machen. Hat es aber einen Sinn, oder ist es nicht vielmehr reiner Unsinn, daß Menschen, die gut und gerecht geworden sind, dann, wenn sie durch ihren Lehrer die Ungerechtigkeit losgeworden und der Gerech- tigkeit teilhaftig geworden sind, gleichwohl Unrecht tun 189), also ohne Vorhandensein dessen bei ihnen, wodurch das Unrecht erst möglich wird? Scheint dir das nicht unge- reimt zu sein, mein Freund? Du hast mich, mein Kalli- kles, durch deine Weigerung zu antworten in der Tat genötigt eine lange Rede zu halten 149).

Fünfundsicbzigstes Kapitel. 153

Fünfundsiebzigstes Kapitel.

Kallikles. Als ob du nicht imstande wärest auch ohne Antwortgeber dich verständlich zu machen!

Sokrates. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jetzt wenigstens verfalle ich in die Unsitte, lange Reden zu halten, weil du mir nicht antworten willst. Aber, mein Guter, sage beim Freundesgott, scheint es dir nicht unver- nünftig, erst zu behaupten, man habe einen zu einem guten Menschen gemacht und dann ihn zu’ tadeln, dab er ein schlechter Mensch sei, obschon er durch uns selbst zum guten Menschen gemacht worden ist und es auch ist?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Vernimmst du nicht dergleichen Reden von denen, die behaupten, die Menschen zur Tugend zu erziehen ?

Kallikles. Ja. Doch wozu Worte verlieren über Leute, die keiner Beachtung wert sind ?

Sokrates. Was sagst du aber zu jenen Leuten, die erst vorgeben, als Leiter des Staates zu sorgen, daß er in den bestmöglichen Zustand gelange, und dann wieder gegebenenfalls ihn anklagen als angeblich den aller- schlechtesten ? Findest du einen Unterschied zwischen diesen und jenen? Nein, mein Verehrungswürdiger, Sophist und Redner sind dasselbe oder einander nahe verwandt und ähnlich, wie ich zum Polos sagte. Du aber hältst in deiner Unkenntnis das eine, die Rhetorik, für etwas Hochherrliches, das andere dagegen verachtest du. Tatsächlich aber steht die Sophistik an Schönheit

‚über der Rhetorik in eben dem Maße, in dem die Ge-

setzgebungskunst über der richterlichen und die Gym- nastik über der Heilkunst steht!#). Auch war ich des Glaubens, daß Volksredner und Sophisten die einzigen seien, denen es nicht zustehe diejenigen Leute, welche sie selbst erziehen, der Schlechtigkeit gegen sich zu be- zichtigen, wofern sie nicht mit eben diesem Tadel zu- gleich gegen sich selbst die Anklage richten wollen, daß

154 ᾿ς Platons Gorgias.

sie denen keinen Nutzen gebracht haben, denen sie dies versprachen. Ist es nicht so

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Sie allein wären doch eigentlich auch in der Lage, von Bezahlung für die Wohltat abzusehen, wofern sie die Wahrheit sagten. Denn wenn jemand eine Wohltat anderer Art erfahren hat,. z. B. schnellfüßig geworden ist durch einen Turnlehrer, so könnte er ihm vielleicht die Entgeltung: vorenthalten, wenn ihm der Turn- lehrer freie Hand gelassen und nicht sich die Zahlung so ausbedungen hätte, daß er womöglich ganz gleich- zeitig mit der Darbietung der Schnelligkeit auch sein | Geld bekomme. Denn ich meine, nicht die Langsamkeit ist es, auf Grund deren die Menschen Unrecht tun, son- dern die Ungerechtigkeit. Nicht wahr 142)

Kallikles. Ja.

Sokrates. ‘Wer also eben dieses einem wegnimmt, die Ungerechtigkeit, der braucht nicht zu befürchten, daß ihm von dem Betreffenden jemals Unrecht widerfahre, sondern für ihn allein hat es keine Gefahr diese Wohl- tat frei hinzugeben, sofern er in Wahrheit imstande ist Menschen gut zu machen. Nicht wahr?

Kallikles. Ja.

Sechsundsiebzigstes Kapitel.

Sokrates. Daraus erklärt es sich doch wohl auch, daß man für die anderen Ratschläge, die man erteilt, z. B. betreffend einen Hausbau oder andere Künste, ruhig (Geld nehmen kann, ohne damit etwas Unehrenhaftes zutun.

Kallikles. So scheint es.

Sokrates. In bezug aber auf unsere Frage, auf welche Weise einer so tüchtig als möglich werden und so gut als möglich sein Haus oder den Staat verwalten könne, gilt es allgemein als unehrenhaft seinen Rat zu verweigern, wenn man ihn nicht bezahlt bekommt. Nicht wahr?

er .

Scchsundsiebzigstes Kapitel. 155

Kallikles. Ja.

Sokrates. Offenbar ist der Grund dafür der, daß dies die einzige Art von Wohltat ist, die in dem Emp- fänger das Bestreben weckt die Wohltat durch Wohltat zu erwidern, so daß es als ein schönes Zeugnis gelten darf, wenn der Wohltäter auch seinerseits wieder Wohl- tat empfängt. Geschieht es nicht, so ist es ein schlimmes Zeichen. Verhält es sich damit so?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Zu welcher Art von Tätigkeit für den Staat forderst du mich also auf? Gib mir genau Bescheid. Soll ich im Kampf mit den Athenern wie ein Arzt darauf hinarbeiten, daß sie möglichst gut werden, oder soll ich wie ein Diener ihnen nach dem Munde reden? Sage mir

die Wahrheit, mein Kallikles. Denn es ist recht und billig,

daß du, so wie du anfänglich freimütig zu mir redetest, so auch bis zu Ende sagst, was du denkst. So gib auch jetzt eine offene und ehrliche Antwort.

Kallikles. Gut denn, wie ein Diener.

Sokrates. Also ein Schmeichler soll ich sein zu- folge deiner Aufforderung, du Allertrefflichster ?

Kallikles. Nun, sogar ein Myser!#), mein Sokrates, wenn dir’s lieber ist, so zu heißen; denn wenn du das verweigerst

Sokrates. Sage nicht, was du schon oft genug ge-. sagt hast), daß mich jeder, der Lust hat, töten wird; denn sonst werde auch ich wieder sagen: „Ja, aber als ein Schurke einen ehrenwerten Mann.“ Und sage auch nicht, daß er mir rauben wird, was ich etwa besitze, denn sonst werde auch ich wieder sagen: „Mag er mir’s rauben, er wird doch nichts Rechtes damit anzufangen wissen, sondern wie er es mir widerrechtlich raubte, so wird er auch, wenn er es in Besitz hat, einen widerrecht- lichen Gebrauch davon machen; wenn aber widerrechtlich, dann häßlich, und wenn häßlich, dann schlecht.‘

156 Platons Gorgias,

Siebenundsiebzigstes Kapitel.

Kallikles. Wie sicher, mein Sokrates, scheinst du zu glauben, keine dieser Gefahren könne dich je treffen, als wohntest du ganz wo anders und als könntest du nicht von einem vielleicht ganz elenden und nichtswürdigen Menschen vor die Richter gebracht werden 1145)

Sokrates. Ja, ich wäre allerdings, mein Kalli- kles, ein. großer Tor, wenn ich nicht glauben wollte, daß in unserem Staate jeden jedes nur denkbare Schick- sal treffen kann. Aber das weiß ich ganz genau: wenn ich aus einem der obigen Gründe angeklagt werde und vor die Richter gebracht werde, so ist es ein Schurke, der mir das antut; denn kein redlicher Mann wird einen schuldlosen Menschen vor Gericht bringen. Und ein Wun- der wäre es nicht, wenn ich zum Tode verurteilt würde. Soll ich dir sagen, weshalb ich darauf gefaßt bin?

Kallikles. Jawohl. |

Sokrates. Ich glaube allein oder nur mit wenigen Athenern mich der wahren Staatskunst zu befleißigen und allein unter den Lebenden dem Staate wahrhaft zu dienen. Da ich nun bei meinen vielfachen Unterhaltungen niemals jemandem nach dem Munde rede, sondern immer nur im Hinblick auf das wahre Beste und nicht auf das Angenehmste, und da ich mich nicht einlassen will auf das, wozu du aufforderst, nämlich auf jene Schön- rednerei, so werde ich vor Gericht nicht wissen, was ich zu sagen habe. Ich komme wieder auf das Nämliche zurück, was ich schon dem Polos gegenüber ausführte1#), Ich werde nämlich verurteilt werden, wie ein Arzt unter Kindern verurteilt würde, wenn ein Koch ihn anklagte. Denn frage dich nur, was ein solcher Mann als Ange- klagter vor ihnen wohl zu seiner Verteidigung antworten würde, wenn ein Ankläger ihn folgendermaßen beschul- digte: Liebe Kinder, dieser Mann hat euch viel Übles angetan und richtet auch selbst schon die jüngsten unter euch zugrunde mit Schneiden und Brennen und macht

Si _

Achtundsiebzigstes Kapitel. 157

euch dürr und welk und bereitet euch Pein durch Ver-

. ordnung der bittersten Arzeneien und läßt euch hungern

und dursten und regaliert euch nicht, wie ich es tat, mit vielen süßen und mannigfachen Speisen. Was würde wohl ein in solche Bedrängnis geratener Arzt zu sagen wissen’? Oder, wenn er die Wahrheit sagte: ‚Das alles tat ich, liebe Kinder, eurer Gesundheit zuliebe‘, was für ein Ge schrei würden dann wohl solche Richter erheben? Nicht ein gewaltiges ?

Kallikles. Vielleicht. Glauben wenigstens sollte man es. | Sokrates. Wird er nicht in voller Verzweiflung sein, was er sagen soll?

Kallikles. Allerdings.

Achtundsiebzigstes Kapitel.

Sokrates. In derselben Lage würde auch ich mich befinden, wenn ich vor Gericht erscheinen müßte; das weiß ich ganz sicher. Denn Genüsse, die ich ihnen ver- schafft hätte, werde ich ihnen nicht aufzählen können, und das ist es doch gerade, was sie als Wohltaten und Förderungen betrachten, während ich weder diejenigen

- preise, die sie schaffen, noch diejenigen, denen sie ver-

schafft worden. Und wenn einer sagt, ich verderbe junge Leute dadurch, daß ich sie an sich selbst irre mache, oder ich schmähe die Älteren durch kränkende Reden im per- sönlichen oder öffentlichen Verkehr, so werde ich weder die ‘Wahrheit sagen können: „Alles dies sage und tue ich im Einklang mit der Gerechtigkeit‘ darüber zu urteilen ist ja eben eure Sache, ihr Richter!) —, noch irgend etwas anderes. Es bleibt mir also wohl nichts übrig, als über mich ergehen zu lassen, was das Schick- sal eben bringt.

Kallikles. Was sagst du nun dazu, mein Sokrates, wenn ein Mensch im Staate sich in solcher Lage befindet

158 Platons Gorgias.

und unfähig ist, sich selbst zu helfen? Ist das etwas Schönes ? | Sokrates. Ja, wenn er eines von sich sagen darf, wozu du schon wiederholt deine Zustimmung gegeben hasti#8): wenn er sich selbst geholfen hat dadurch, daß er weder gegen Menschen noch Götter ein Unrecht begangen hat, weder in Wort noch in Tat. Denn wir haben wieder- holt eingeräumt, dies sei die beste Selbsthilfe. Könnte mir nun jemand die Unfähigkeit nachweisen, diese Hilfe mir selbst und einem anderen zu leisten, so würde ich mich schämen, möchte dieser Nachweis nun in größerem oder engerem Kreis oder auch bloß unter vier Augen ge- führt werden; und müßte ich auf Grund dieser Unfähig-

keit den Tod erleiden, so wäre ich außer mir. Müßte ich ᾿

aber in den Tod gehen, weil ich ein Stümper bin in der schmeichlerischen Beredsamkeit, so kannst du dessen ge- wiß sein, daß ich den Tod leicht ertrage. Denn das Sterben an sich fürchtet niemand, er müßte denn keine Spur von Verstand und Mannhaftigkeit in sich haben, aber das Unrechttun fürchtet er; denn daß die Seele übervoll von Frevel in den Hades kommt, das ist das größte aller Übel. Wenn du willst, will ich dir zum Erweis dessen eine Greschichte erzählen.

Kallikles. Nun, da du das andere Ban hast,

so erledige auch das. |

Neunundsiebzigstes Kapitel.

Sokrates. So vernimm denn!#). denn so beginnt man ja den Vortrag eines Märchens eine sehr schöne Geschichte, die du vermutlich für eine Sage halten wirst, ich aber für eine Geschichte; denn ich werde dir als wahr vortragen, was ich dir zu erzählen denke. Wie Homer nämlich sagt, verteilten Zeus und Poseidon und Pluton die Herrschaft unter sich, nachdem sie sie von ihrem Vater erhalten hatten. Es bestand nun unter Kronos

523 S

Neunundsiebzigstes Kapitel. 159

das Gesetz für die Menschen und es gilt wie immer so auch jetzt noch unter den Göttern dab derjenige, der sein Leben in Gerechtigkeit und Frömmigkeit voll- bracht hat, nach seinem Tode nach den Inseln der Seligen versetzt werde und dort in voller Glückseligkeit wohne, fern von allem Leid, während derjenige, der ein unge- rechtes und gottloses Leben geführt habe, in die Ge- fängnisstätte der Buße und Strafe komme, die sie Tartaros nennen. Das Richteramt hatten unter Kronos und auch noch unter dem seit kurzem herrschenden Zeus Lebende über Lebende und sie richteten an dem Tage, an dem die Menschen sterben sollten. Die Richtersprüche fielen also schlecht aus. So kamen denn Pluton und die Auf- seher von den Inseln der Seligen zum Zeus und be- klagten sich, daß beiderseits Menschen zu ihnen kämen, die nicht dahin gehörten. Zeus also sagte: Gut, ich werde dem ein Ende machen. Denn jetzt werden die Richtersprüche schlecht gefällt. Die zu Richtenden näm- lich, sagte er, haben eine Hülle um sich, wenn sie ge- richtet werden; denn sie leben noch, wenn sie gerichtet werden. Viele also, sagte er, welche schlechte Seelen haben, sind umkleidet mit schönen Leibern und mit Adel und Reichtum, und wenn das Gericht ergeht, finden sich viele ein um ihnen zu bezeugen, daß sie gerecht gelebt haben. Die Richter werden denn durch diese befangen. gemacht, wozu noch kommt, daß sie selbst auch als Um- hüllte richten, da sich vor ihrer Seele die Hülle der Augen, Ohren und des ganzen Leibes findet. Das alles wird ihnen also hinderlich, die eigene Umhüllung und die derer, die zu richten sind. Zunächst nun, sagte er, muß dem ein Ende gemacht werden, daß sie ihren Tod voraus- wissen; denn jetzt ist das der Fall. Dieser Auftrag ist denn auch an den Prometheus erteilt worden, auf daß er diesen Übelstand abstelle. Ferner müssen sie alle nackt gerichtet werden, nämlich erst wenn sie tot sind. Auch der Richter muß nackt sein, ein Toter, der unmittelbar mit der Seele die ebenfalls unbekleidete Seele des jedes-

160 Platons Gorgias. |

maligen unerwartet Gestorbenen beschaut, als eines solchen, der verlassen ist von allen seinen Verwandten und allen jenen Schmuck auf Erden zurückgelassen hat, damit der Richterspruch gerecht ausfalle. Dies alles hatte ich längst vor euch erkannt und bestimmte zu Richtern meine Söhne, zwei aus Asien, Minos und Rhadamanthys, einen aus Europa, Äakos. Diese also werden nach ihrem Tode das Richteramt üben auf der heiligen Wiese, an dem Dreiweg, von dem zwei Wege abgehen, der eine nach den Inseln

524 Si

der Seligen, der andere nach dem Tartaros. Die aus Asien

Kommenden wird Rhadamanthys richten, die aus Europa Äakos. Dem Minos aber werde ich das Ehrenamt verleihen, die Entscheidung zu treffen, wenn die beiden anderen über einen Fall in Zweifel sind, damit das Urteil über das Ziel der Wanderung so gerecht als möglich für die Men- schen ausfalle. |

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Achtzigstes Kapitel.

Das ist es, mein Kallikles, was, durch Kunde ver- nommen, mir als unbedingt wahr gilt. Und aus dieser Kunde ziehe ich nun folgende Schlüsse. Der Tod ist, wie mir scheint, nichts anderes als die Trennung zweier Dinge voneinander, der Seele und des Jeibes. Nach ihrer Trennung aber voneinander bewahrt jedes von beiden fast unverändert den Zustand wie bei Lebzeiten des Menschen. Zunächst der Körper; seine natürliche Beschaffenheit, seine Lebensgewohnheiten, seine Leiden, alles ist deutlich an ihm ausgeprägt. Wenn z. B. jemand bei Lebzeiten einen großen Körper hatte, sei es von Natur oder durch die Art der Ernährung oder durch beides, so ist nach seinem Tode auch sein Leichnam groß; und wenn dick, dann dick auch im Tode und so weiter. Und wenn einer sein Haar lang wachsen ließ, so zeigt auch sein Leich- nam langes Haar. Und wenn einer im Leben ein ver- prügelter Nichtsnutz war und am Körper Narben als

+

Achtzigstes Kapitel. 161

Spuren der Schläge von Geißelhieben oder sonstigen blutigen Züchtigungen an sich trug, so kann man auch am Leibe des Gestorbenen dies alles noch erkennen. Und waren im Leben die Gliedmaßen jemandes gebrochen oder verrenkt, so ist das auch am Toten erkennbar. Kurz, die Merkmale, die einer bei Lebzeiten seinem Körper auf- geprägt hatte, die zeigen sich auch noch bei dem Toten, entweder sämtlich oder die meisten noch für einige Zeit. Und das Nämliche scheint mir auch bei der Seele der Fall zu sein, mein Kallikles. Alles liegt klar zutage an der Seele, wenn sie des Körpers entledigt ist, sowohl ihre natürliche Beschaffenheit wie auch die Eigentüm- lichkeiten, die der Mensch durch seine jeweiligen Be- schäftigungen der Seele eingepflanzt hat. Wenn sie nun vor den Richter kommen, und zwar die aus Asien vor den Rhadamanthys, da hält Rhadamanthys sie an und beschaut eines jeden Seele, ohne zu wissen, wessen sie ist; ja oft kommt es vor, daB er es mit dem Großkönig zu tun hat oder mit irgendeinem anderen König oder Machthaber, und er sieht nichts Gesundes an der Seele; sondern allenthalben zeigt sie gleichsam die Spuren der

- Geißelhiebe und ist voller Narben infolge der Meineide

und der Ungerechtigkeit, wie sie entsprechend der jedes- maligen Handlungsweise der Seele aufgeprägt wurden; und alles ist verkrümmt!50) an ihr infolge der Verlogen- heit und Prahlerei, und nichts gerade, weil sie sich nie an Wahrheit gewöhnt hat. Auch zeigt sich ihm die Seele voll von Mißverhältnis und Häßlichkeit infolge der Un- gebundenheit und Üppigkeit und des Übermutes und der Maßlosigkeit der Handlungen. Nach der Besichtigung aber läßt er sie sofort in entehrenden Gewahrsam bringen, an die Stätte, wo angelangt sie die ihr gebührenden Leiden auf sich nehmen muß.

Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Bd. 148. 11

162 Platons Gorgias.

Einundachtzigstes Kapitel.

Der Zweck der Strafe aber ist für jeden, der sie erleidet und von einem anderen mit Fug und Recht be- straft wird, der, daß er entweder besser werde und Nutzen davon habe, oder daß er anderen zum warnenden Beispiel diene, damit diese, wenn sie seine wie immer gearteten Leiden sehen, aus Furcht besser werden. Es sind aber die von Göttern und Menschen durch Abbüßung der Strafe auf bessere Wege Gebrachten diejenigen, die heil- bare Frevel begangen haben. Gleichwohl wird ihnen dieser Nutzen sowohl hier auf Erden wie im Hades nur durch Leiden und Schmerzen zuteil; denn anders können sie von der Ungerechtigkeit nicht loskommen. Diejenigen aber, welche am schlimmsten gefrevelt haben und wegen dieser Frevel unheilbar geworden sind, werden zu warnenden Beispielen; und zwar haben sie selbst keinen Nutzen mehr davon, da sie unheilbar sind, wohl aber haben andere Nutzen davon, nämlich die, welche sehen, wie diese wegen ihrer Sünden die schwersten, schmerzhaftesten und furcht- barsten Leiden ausstehen die ganze unendliche Zeit hin- durch, geradezu wie Warnungstafeln aufgehängt dort in dem Unterweltsgefängnis, zur Schau und Abschreckung für alle ankommenden Sünder. Von ihnen wird einer auch das behaupte ich Archelaos sein, wenn Polos die Wahrheit berichtet, und alle ähnlichen Tyrannen. Wenn ich mich nicht täusche, sind auch die meisten dieser warnenden Beispiele aus Tyrannen und Königen und Machthabern und den politischen Leitern der Staaten hervorgegangen. Denn diese begehen wegen ihrer schran- kenlosen Macht die schwersten und göttlosesten Frevel- taten. Dafür zeugt auch Homer. Denn seiner Dichtung zufolge sind es Könige und Machthaber, die die ewigen Strafen im Hades erleiden, Tantalos, Sisyphos und Tityos. Den Thersites dagegen und sonstige Schurken aus dem Volk läßt kein Dichter schwere Strafen erleiden als einen

28 St.

Zweiundachtzigstes Kapitel. 163

Unheilbaren. Denn er hatte nicht die Macht, große Frevel- taten zu verüben. Deshalb war er auch glücklicher als die, welche diese Macht hatten. Nein, mein Kallikles, die Mächtigen sind zugleich diejenigen, aus denen die ruchlosesten Menschen hervorgehen. Indes hindert nichts, daß es auch unter diesen Mächtigen ehrenwerte Männer gebe, und wo sich solche finden, verdienen sie ganz be- sondere Bewunderung. Denn schwer ist es, mein Kalli- kles, und großen Lobes würdig, im Besitze schranken- loser Freiheit zum Freveln bis ans Ende’ ein gerechtes Leben zu führen; nur gering ist die Zahl solcher Männer. Doch hat es sowohl hier wie anderwärts ehrenwerte Männer gegeben und wird deren, wenn ich recht sehe, auch künftighin geben, die ihre Ehre darein setzen, ge- recht zu verwalten, was man ihnen anvertraut. Einer aber strahlt vor allen hervor auch bei den übrigen Hel- lenen, Aristides151), des Lysimachos Sohn. Die große Mehrzahl aber der Machthaber, mein Bester, verfällt der Schlechtigkeit.

Zweiundachtzigstes Kapitel.

Wie gesagt also, wenn jener Rhadamanthys es mit so einem zu tun bekommt, so weiß er von ihm sonst gar nichts, weder wer er ist, noch welcher Herkunft, sondern nur das eine, daß er ein Schurke ist. Und sobald er dies erkannt hat, sendet er ihn nach dem Tartaros mit dem entsprechenden Vermerk dafür, ob er sich als heil- bar oder unheilbar darstellt. Dort angelangt, erleidet er die gebührende Strafe. Bisweilen aber schaut er auch eine Seele anderer Art, die ein frommes und der Wahr- heit geweihtes Leben, geführt hat, die Seele eines Privat- mannes oder sonst eines Menschen, vor allem, mein Kalli- kles, merk wohl auf eines Philosophen, der sein Lebtag seine Schuldigkeit getan und sich keinen Eingriff in anderer Rechte erlaubt hat; dieser zollt er seinen

1"

164 Platons Gorgias.

Beifall und sendet sie nach den Inseln der Seligen. Und ebenso waltet auch Äakos seines Amtes. Beide führen ihr Richteramt mit einem Stab in der Hand. Minos allein aber hält als Oberrichter ein goldenes Szepter in der Hand, wie Odysseus bei Homer'’?) ihn nach seiner Aus- sage gesehen hat:

Haltend das goldene Szepter und Recht erteilend den Toten.

Ich nun, mein Kallikles, bin von der Wahrheit dieser Geschichte überzeugt, und bin beflissen dem Richter meine Seele in möglichst gesundem Zustande vorzuführen. Ver- zichtend also auf alle die Ehren der großen Masse will ich, der Erforschung der Wahrheit hingegeben, versuchen nach Möglichkeit als ein wirklich braver Mann zu leben und wenn es ans Sterben geht, zu sterben. Ich fordere aber auch alle anderen Menschen nach Kräften dazu auf, und so fordere ich denn nun auch dich meinerseits zu diesem Leben und zu diesem Wettkampf auf, den ich höher achte als alle Wettkämpfe hienieden; und ich mache es dir zum Vorwurf, daß du nicht imstande sein wirst dir selbst zu helfen), wenn das Gericht und das Urteil über dich ergeht, von dem ich soeben sprach, sondern wenn du vor den Richter kommst, den Sohn der Aegina, und dieser dich packt: und fortführt, daB du dann dort nicht weniger den Mund aufsperren und schwindlig wer- den wirst als ich hier; und vielleicht wird dir auch einer einen entehrenden Backenstreich versetzen und dir allen erdenklichen Schimpf antun.

Dreiundachtzigstes Kapitel.

Vielleicht nun hältst du dies für ein Märchen, für Altweiberweisheit, und machst dir nichts daraus. Und in der Tat wäre diese Abweisung auch ganz begreiflich, wenn wir, eifrig forschend, etwas finden könnten, was

527 St

Dreiundachziestes Kapitel. 165

besser und wahrer wäre als dieses. Nun aber siehst du, daß ihr drei, die ihr von allen Hellenen jetzt die weisesten seid, du und Polos und Gorgias, nicht imstande seid zu beweisen, daß ein anderes Leben dem vorzuziehen sei, welches auch für das Jenseits sich nützlich erweist. Denn während von den vielen Aufstellungen alle anderen wider- legt wurden, blieb allein der Satz unverrückt stehen, dab man sich mehr hüten müsse vor dem Unrechttun als vor dem Unrechtleiden und daß ein Mann vor allem anderen danach trachten müsse, nicht gut zu scheinen, sondern gut zu sein!54), im persönlichen wie im Öffentlichen Ver- kehr. Wenn sich aber jemand in irgendeiner Beziehung der Schlechtigkeit schuldig macht, so muß er durch Strafe gezüchtigt werden, und dies ist das zweithöchste Gut nach dem Gerechtsein, daß man gerecht werde und durch Züchtigung seine Strafe erhalte. Und jede Art von Schmeichelei, gleichviel ob gegen sich selbst oder gegen die anderen, ob gegen Wenige oder gegen Viele, mub man meiden. Und die Redekunst muß, wenn wir uns ihrer bedienen, wie jede andere Handlung immer nur im Dienste der Gerechtigkeit stehen.

Glaube mir also und folge mir auf dem Wege dahin, wo angelangt du glücklich leben und sterben wirst, wie das Gesagte zeigt. Und wenn dich jemand verachtet als Toren und dich beschimpft, so laß ihm ruhig seinen Willen und laß dir, beim Zeus, sogar getrost den entehrenden Backenstreich geben; denn damit wird dir nichts Schlim- mes widerfahren, wenn du nur in Wahrheit ein braver Mann bist und die Tugend übst. Und dann erst, wenn wir sie gemeinsam geübt, nicht eher, wollen wir nötigen- falls uns auch an die Staatsgeschäfte wagen oder über beliebige andere Geschäfte Rat pflegen, denn dann taugen wir mehr dazu als jetzt. Denn schimpflich ist es, in der Geistesverfassung, in der wir uns jetzt darstellen, groß zu tun, als wären wir etwas, die wir fortwährend in unseren Ansichten über die nämlichen Dinge wechseln, und zwar bei den allerwichtigsten Fragen. So mangelhaft ist unsere

168 Platons Gorgias.

Bildung. Wie einem Wegweiser also wollen wir dem jetzt gefundenen Spruche folgen. Er zeigt uns, daß dies die beste Lebensweise ist sowohl im Leben wie im Tode, die Gerechtigkeit und jede andere Tugend zu üben. Ihm also wollen wir folgen und die anderen dazu auffordern, nicht jenem, für den du in blindem Vertrauen auf seine Wahrheit mich zu gewinnen suchst. Denn er taugt nichts, mein Kallikles.

Anmerkungen.

1) S. 25. Die drei Gesprächsführer Gorgias, Polos und Kal- likles, die neben Sokrates und Chairephon in dem Dialog aulitreten, werden am Schluß des Gesprächs (527A), wenn auch nicht ohne Ironie, als die drei weisesten Männer des damaligen Hellas bezeichnet. In der Tat war der Rhetor Gorgias, von dem das Gespräch seinen Namen trägt, ein hochberühmter Mann. Gebürtig aus Leontini in Sizilien, ein Schüler des bekannten Philosophen Empedokles und weiterhin auch mit den Eleaten in Verbindung stehend, hat er mehrere philosophische Schriften verfaßt, von denen die uns im wesentlichen erhaltene περὲ τοῦ un ὄντος περὶ φύσεως allerdings die Entscheidung darüber schwer macht, ob sie bloß als ein rhetorisch- dialektisches Probestück oder als ein wirklich ernst gemeinter philo- sophischer Traktat aufzufassen sei. Sein Hauptruhm gründet sich Jedenfalls auf seine rhetorische Tätigkeit, die vorwiegend der epi- deiktischen Beredsamkeıt zugewandt war, d.h. derjenigen, die im Gegensatz zu der gerichtlichen Beredsamkeit sich auf Prunk- und Musterreden vor großen Versammlungen verlegte, wie sie uns noch in einigen Beispielen von ihm (Lob der Helena und Verteidigung des Palamedes) vorliegen. In dieser Gattung, in der weiterhin sein Schüler Isokrates glänzte, war er Meister. Er durchwanderte ganz Griechenland, trat in allen bedeutenderen Orten, besonders in Delphi und Olympia als Festredner auf und weilte zu wiederholten Malen auch in Athen, zuerst als Gesandter seiner Vaterstadt im Jahr 427 v. Chr. Neben seinen überall, besonders in Athen, mit größtem Beifall aufgenommenen Reden war es auch der Unterricht in der Rhetorik, der ihn viel in Anspruch nahm und ihm neben ‚großer Anerkennung auch stattliche Einnahmen einbrachte. Doch hielt er darauf, daß man ihn nicht Sophist, sondern Rhetor nannte. Er hat ein rhetorisches Handbuch (Τέχνη), eine Anweisung für Be- redsamkeit verfaßt. Seine Vortragsweise und sein Stil, glänzend durch die rhythmische Gliederung der Rede, durch wohlberechnetes Gleichmaß und gesuchten Gleichklang der sich entsprechenden Satzglieder, sowie überhaupt durch die Beherrschung aller sprach- lichen Mittel zur eindrucksvollen Beleuchtung des jeweiligen Gegen- standes, übten eine geradezu bezaubernde Wirkung auf die Hörer aus: wie die zierlich abgemessenen Touren eines Kontertanzes spielte sich dies Wunder der Rede vor den Anwesenden ab, ein hoher Kunstyenuß für das empfängliche Ohr der Griechen. Es war wie eine Offenbarung für sie. Er schien ihnen erst zu zeigen, welche

168 Anmerkungen,

Schätze in ihrer Sprache verborgen lagen und welcher Wirkungen sie fähig war. Man begreift, daß diese virtuose Handhabung der Sprache nicht ohne starke Einwirkung auf die Ausbildung der atti- schen Kunstprosa war. Zu dem Eindruck, den seine Rede machte, trug sein prunkvolles persönliches Auftreten bei solchen Anlässen nicht wenig bei. In seiner Lebensweise aber war er sehr einfach, ein Umstand, dem er es wohl mit zu danken hatte, daß er ein Lebensalter von 108 Jahren erreichte. Er starb nach der Annahme der alten Chronologen 376 v. Chr., doch wird seine Lebenszeit von manchen um 10 Jahre früher angesetzt. Platon behandelt ihn in unserm Dialoge, entsprechend der allgemeinen Schätzung, deren er sich erfreute, durchaus achtungsvoll. Weit weniger günstig ist das Bild, das er uns von dem Schüler und Reisebegleiter des Gorgias, von Polos, entwirft. Auch dieser hatte seine Heimat in Sizilien; er war in Agrigent geboren; es gab von ibm ebenfalls ein rhetori- sches Handbuch, eine Τέχνη, auf welche Platon 448C und 462B hinweist. Über die Person des Kallikles, die sich historisch nicht nachweisen läßt, sind mancherlei Vermutungen aufgestellt worden. Man hat u. a. an den Charikles oder Kritias gedacht als die unter seiner Maske dargestellten Politiker, was sich indes durch die poli- tische Rolle, welche diese Männer spielten, von vornherein verbietet. Andere haben ihn für eine rein erdichtete Figur erklärt, in welcher Platon die maßgebende politische Anschauungsweise seiner Zeit ver- körpert habe. Allein abgesehen von dem Ungewöhnlichen einer solchen Fiktion bei Platon sind die persönlichen Züge viel zu stark ausgeprägt, um eine solche Annahme zu begünstigen. Man aclıte nur auf den vertraulichen Ton, der zwischen Sokrates und Kallikles herrscht, und man wird nicht umhin können, in letzterem einen wirklichen Staatsmann jener Zeit zu erblicken. Ich sehe in Kal- likles niemand anders als den Alkibiades, der als stumme Person in unserem Dialog der unverkennbare Doppelgänger des Kallikles ist. Meine Gründe dafür habe ich entwickelt in meinen Platon- Aufsätzen p. 106ff. Dem dort Entwickelten füge ich hier noch fol- gendes bei. Hat wirklich das Pamphlet des Polykrates einigen Ein- fluß auf die Entstehung des Gorgias gehabt, dann wäre die Ein- führung des Alkibiades unter der Maske des Kallikles erst recht begreiflich. Denn auf das Schülerverhältnis des Alkibiades zu So- krates hatte Polykrates besonders hingewiesen, und wie es scheint war dies ein Hauptstück seiner Ausführungen; dem gegenüber würde nun der Gorgias das wahre Verhältnis zeigen, in dem Alkibiades zu Sokrates stand. Zugleich fühlt man auch heraus, weshalb Platon den Alkihiades nicht unmittelbar nennen wollte. Das wäre eine zu direkte Bezugnahme auf das an sich wertlose Pamphlet gewesen und hätte überhaupt den künstlerischen Charakter des Ganzen ge- stört. Platons Werk sollte etwas mehr sein als eine aktuelle Streit- schrift. Endlich die vierte neben Sokrates auftretende Person ist der aus der Apologie bekannte Chairephon, ein langjähriger, tıe.er Anhänger des Sokrates. )

2) S.25. Geläufig ist uns die Wendung „post festum kommen“, für die das weniger bezeichnende deutsche Aquivalent einges: tzt werden mußte. Sehr richtig bemerkt Olympiodor zur Motivierung

Anmerkungen. 169

dieses Zuspätkommens, daß, wenn Sokrates noch während des Vor- trags erschienen wäre, er einfach hätte schweigend verharren müssen, wenn er nicht hätte ungezogen werden wollen, Es hätte sich also eine vom Standpunkt der künstlerischen Ökonomie unbrauchbare Situation ergeben.

8 Κὶς, 25. Unser Dialog findet nicht in dem Hause des Kal- likles statt, sondern in der öffentlichen Halle, in welcher der Vor- trag des Gorgias gehalten worden ist,

4 S. 26. Diese Worte hat man sich (nach 447 B) wohl an den Chairephon gerichtet zu denken.

6), S. 27. Dieser Bruder des Gorgias (vgl. 456B) ist nicht zu verwechseln mit einem anderen (etwas älteren) bekannten Arzt dieses Namens, dem Herodikos aus Selymbria (oder Megara), der Prot. 810} und Rpl. 406 AB erwähnt wird.

8) S, 27. Dies ist die berühmte von der Insel Thasos stam- mende Malerfamilie, deren namhaftestes Mitglied Polygnotos hier als ἀδελφὸς Aylaop@rros bezeichnet wird.

?) S. 29. Bekannte homerische Redensart, z. B. Od. 1, 180.

18) S.30. ὑγιαίνειν hier gesund werden. Vgl. Xen. Mem, 11,2, 10.

8) δ, 32. Das Brettspiel, von Pl. mehrfach angeführt, wird schon in der Odyssee 1, 107 als Unterhaltung der Freier erwähnt. Unsere Stelle zeigt, daß es kein stummes Spiel war.

9) S. 32. „Zwei Dinge,“ sagt Aristoteles, „kann billigerweise dem Sokrates niemand streitig machen, die Induktion und die Be- stimmungen der allgemeinen Begriffe“ Für das letztere und in gewissem Sinne auch für das erstere haben wir hier ein Beispiel, μιν sich deren namentlich in den früheren Dialogen noch manche

nden.

10) S. 33. Zusatzanträge (Amendements) zu den Ratsvorlagen wurden in der Volksversammlung mit den Worten eingeleitet: za μὲν ἄλλα καϑάπερ τῇ βουλῇ τὸ δὲ λοιπὸν κ. τ.λ. Dies wird sehr tref- fend auf unseren Fall angewendet.

11) S. 33. Der Scholiast ebenso wie Olympiodor erklären das καὶ πρὸς αὑτὰ καὶ πρὸς ἄλληλα so, daß das erstere bedeute „Gerades im Verhältnis zu Geradem, bez. Ungerades im Verhältnis zu Un- geradem“, das letztere „Gerades im Verhältnis zu Ungeradem“. Allein darin liegt kein Unterschied der Rechenkunst (λογιστική) von der reinen Zahlenlehre (ἀριϑμητική); denn diese Verhältnisse kom- men auf beiden Gebieten vor. Der auch Phi. 56E, Charm. 166A, KRpl. 525C ff, erwähnte Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß es letztere mit reinen, erstere mit benannten Zahlen zu tun hat. Eigentümlich nun für die Rechenkunst ist dabei der Umstand, daß die nämliche Zahl verschiedenen Wert haben kann, was bei der Arithmetik nie der Fall ist; z. B. 18 Pfennige und 18 Apfel sind nicht gleich, sondern wenn der Apfel 2 Pfennige kostet, so sind 18 Pfennige = 9 Apfel.‘ Es kann also sowohl die gerade wie die ungerade Zahl sehr verschiedenen Wert sowohl in Beziehung auf sich selbst wie auch zu anderen sei es geraden oder ungeraden haben, Dies scheint mir der Sinn der Stelle zu sein.

12) S. 34. Bezieht sich auf die kurzen, spruchartigen Lieder, Skolien genannt, die bei Gelagen von den Beteiligten zur Leier

170 Anmerkungen.

oder Flöte gesungen wurden. Auf das hier angeführte Skolion spielt Platon auch Euthyd. 279AB und Phil. 48D an, |

18) S, 34. Durch diese Einführung des Arztes, des Turnmei- sters, des Handelsmannes verstärkt Sokrates in sehr wirksamer Weise seine Position gegenüber dem Gorgias, ein Kunstgriff, den Platon in mancherlei Variationen oft anwendet. Vgl. meine Plat. Auf- sätze p. 104.

14) 5. 35. Darin scheint ein Widerspruch zu liegen: doch braucht man bei „Herrschaft“ nicht ‚gerade an dauernde politische Herrschaft, sondern an zeitweise Überlegenheit bei Rechtshän- deln u. dgl. zu denken.

15) S. 36. Der berühmte Maler aus Heraklea in Unteritalien.

1) 5. 38. Damit wird wohl auf die gleich folgende Unter- scheidung zwischen μάϑησις und πέστις hingewiesen.

1) 8. 39. Das Wort „Glauben“ (πίστις) entspricht hier unge- fähr dem, was bei Pl. sonst gewöhnlich mit δόξα bezeichnet wird, die er, wie hier die πίστις, in δόξα ἀληϑής und ψευδής einteilt. In der entwickelten platonischen Lehre von den Erkenntnisweisen, wie sie uns im 7. Buch der Republik vorliegt, hat πέστις einen engeren Sinn. Da wird nämlich das Gebiet der δόξα als Erkenntnis der Er- scheinungswelt im Gegensatz zu der ἐπιστήμη als der Erkenntnis des wahrhaft Seienden wiederum geteilt in πίστις als sinnliche Erkenntnis der Naturgegenstände und sixaoia, deren Gegenstände die Abspieg: lungen (Bilder) der Naturdinge sind.

18) S. 41. Gorgias hätte antworten können: das Was raten die Redner (Staatsmänner), das Wie (die Frage der. technischen Ausführung) mögen die Fachleute beantworten. Statt dessen ergeht er sich im Preise der Allgewalt der Rhetorik, und so läßt ihn Pl. mit wohlberechneter Kunst selbst die verfängliche Frage des möglichen Mißbrauchs ihrer Macht anschneiden, durch deren weitere Erörterung er auf das Trockene gesetzt wird.

19) S. 42. S. Anm. 5. |

20) 5. 45. Schon hierin liegt eine nicht mißzuverstehende An- deutung über die eigentliche Bedeutung unseres Dialogs als einer Erörterung der höchsten Lebensfrage. Vgl. 472CD.

21) S. 45. Dieses Abbrechenwollen der Unterredung an kriti- schen Stellen ist ein beliebter Kunstgriff des platonischen Sokrates. Vgl. 461f., 506 A und Prot. 3350.

22) S. 47. Das geht auf 466A ff.

23) S. 48. Um dies Zugeständnis kann Gorgias nicht herum- kommen. Denn die Kenntnis des Gerechten und Guten kann und will er dem Redner nicht absprechen. Entweder also muß der Schüler der Rhetorik diese Kenntnis schon mitbringen oder und das ist unser Fall der Lehrer muß sie ihm: beibringen. Damit ist Gorgias gefangen.

2) 9. 48. In den hier aufgezählten Fällen der Induktion ist das Wissen die zureichende Bedingung des Handelns. In Sachen der Ethik aber ist das Wissen nur die eine Bedingung des rich- tigen Handelns; die andere, weit wichtigere, ist die Wıllensbildung, die wohl nach Sokrates (und Platon), nicht aber nach der gemeinen Erfahrung mit dem Wissen zusammenfällt. Gorgias brauchte sich

Anmerkutgen. 171

also auf diesen spezifisch sokratischen Standpunkt gar nicht ein- zulassen,

35) S. 49. Es liegt hier offenbar ein Feliler in der Überliefe- rung vor, der am einfachsten mit Sauppe durch Ausscheidung der eingeklammerten Worte beseitigt wird.

360) Κ΄, 53. Dies darf nicht als eine völlige Verwerfung der Kochkunst aufrefaßt werden. Der richtige Gesichtspunkt der Be- urteilung ergibt sich aus 517E, wo die Kochkunst nebst andern ver- wandten Künsten (τέχναι braucht Sokrates da auch als Bezeichnung für sie) insoweit als Kunst anerkannt wird, als sie unter der Leitung der Heilkunde und Gymnastik steht.

3) S. 54. Dazu vgl. 5130. Auch erinnere man sich der Goethischen Zeilen aus der ersten Epistel:

Sollen wir freudig horchen und willig gehorchen, so mußt du Schmeicheln, Sprichst du zum Volke, zu Fürsten und Kö- nigen, allen Magst du Geschichten erzählen, worin als wirklich erscheinet, Was sie wünschen und was sie selber zu leben begehrten.

=) S. 54. Wenn Gorgias hier wieder eingreift, so geschieht dies bloß zur Belebung der Situation, nicht um ihn wieder zum eigentlichen Mitunterredner zu machen. Sokrates wendet sich als- bald (465 A) ausdrücklich wieder an den Polos.

22) S. 57. Das Buch des berühmten Philosophen Anaxagoras aus Klazomenä (500—428 v. Chr.), des Freundes des Perikles, begann mit den Worten: ‘Ouod πάντα χρήματα nv, ἄπειρα καὶ πλῆϑος καὶ σμικρότητα. Damit ward das völlige In- und Durcheinander der Urbestandteile der Dinge bezeichnet, in welches der ordneude Geist (νοῦς), das Gleichartige ausscheidend und verbindend, eingriff. An- gewendet auf unsern Fall heißt das: Gäbe es nicht ein höheres Prinzip der Scheidung und Ordnung, so würde alles ununterschieden durcheinander gehen. Für das körperliche Gebiet nun ist dieses höhere Prinzip die Seele; sie unterscheidet die dem Körper dienenden Künste und weist ihnen ihre wahre Stellung an. Ebenso muß es auch ein höheres Prinzip geben, welches den der Seele dienenden Künsten, nämlich der Rhetorik und Sophistik, ihre voneinander zu scheidenden Rollen anweist. Dies höhere Prinzip aber kann hier nichts anderes sein als die Philosophie, die als Vertreterin des höchsten Seelenteils (des νοῦς) die Funktionen des niederen Seelen- vermögens (der δόξα) richtig deutet und scheidet. Ohne das höhere Seelenvermögen wäre die richtige Scheidung zwischen Rhetorik und Sophistik nicht möglich.

0) 8. 59. Diese höchst bedeutsame und merkwürdige Unter- scheidung zwischen Wollen und Belieben, auf die sich, wie leicht einzusehen, auch der bekannte Satz, daß niemand freiwillig Unrecht tut (οὐδεὶς ἑκὼν ἀδικεῖ), gründet, läuft im Grunde auf das hinaus, was Kant die Autonomie und die Heteronomie des Triebes nannte, d.h. die Bestimmung unseres Entschlusses entweder durch den rein- vernünftigen oder durch den sinnlichen Trieb. Auch im Charmides (167 E) findet sich diese Unterscheidung angedeutet. Platon hat sich weiterhin an diesen strengen Gebrauch des βούλεσϑαι durchaus nicht

178 Anmerkungen.

immer gebunden. Schon in unserem Dialog 505 A sagt Sokrates: οἷον πεινῶντα φαγεῖν ὅσον βούλεται. Am auffälligsten aber heißt es in den (resetzen (687 E): „Du scheinst mir sagen zu wollen, man müsse nicht darum beten, daß alles unserem Willen (βούλησις) gehorche, wenn dabei der Wille (βούλησις) selber nicht der Vernunft gehorchen soll“. Aristoteles hat die Unterscheidung aufgenommen, wie die Stellen Eth. Nie. 1113a 15, 1189a 5ff., Rihet. 1369a 3 u.a. m. zeigen. Doch bindet auch er sich nicht ganz streng an den Gebrauch des βούλεσϑαι in diesem Sinne.

81) S. 59. Daß dies ein sehr gezwungener Begriff von „Macht“ ist, legt auf der Hand. Polos hätte erwidern können: Für deinen Begriff von Macht mußt du erst ein ganz neues Wort schaffen. Nur hatte er die Waffe schon aus der Hand gegeben, indem er den sokratischen Begriff des Gutes oder des Guten ohne weiteres sich hatte gıfallen lassen. Vgl. Rpl. 336 A.

8) S. 59. Der Partner des Gesprächs muß für alles, was er nolens volens eingeräumt hat, als für sein Eigentum einstehen. Das ist eine der unverbrüchlichen Regeln der Taktik des platonischen Sokrates. Dazu vgl. meine Plat. Aufs. p. 99.

ss) S. 60. Sokrates wendet sich nämlich an den Polos mit der Anrede: λῷστε Πῶλε, mit welchem Gleichklang er die Manier des Polos nachahmt. Unsere Wiedergabe ist natürlich nur ein Versuch.

84) S. 61. Diese wichtige Unterscheidung zwischen Mittel und Zweck findet sich auch Lach. 185 D und sonst mehrfach wenigstens in Andeutungen. Das οὗ ἕνεκα geht auf das Gute als eigentlichen Zweck. Der Begriff des „Guten“ ist freilich in unserem Dialog ein schwankender und mehrdeutiger. Wenn z. B. gleich nachher (467 E) unter den eigentlichen Gütern auch Reichtum aufgeführt wird, so ist dieser doch nur ein relatives Gut, wie unser Dialog selbst (514 A ἐὰν un καλὴ κἀγαϑὴ N διάνοια τῶν μελλόντων χρήματα πολλὰ λαβεῖν) bezeugt. Platon hat es mit seinem Guten auch in unserem Dialog im Grunde auf das Gute an sich, auf die Tugend als Bedingung der Glückseligkeit abgesehen, aber er benutzt doch die Zweideutig- keit des Wortes vielfach in. durchaus nicht einwandfreier Weise zu Zwecken der Argumentation. So viel ist indes für jedermann ein- leuchtend, daß Menschen zu töten niemals ein Zweck an sich sein kann. Wer es für einen solchen hält, der täuscht sich und ver- wechselt Mittel und Zweck.

848) S. 61. Vgl. Lys. 216D,

35) S. 64. Im allgemeinen ist diese Anschauung dem Altertum wenig geläufig (vgl. z. B. Isocr. Panath. 117 κρείττω τὴν Ay ne εἶναι τοῦ δεινὰ ποιεῖν ἑτέρους πάσχειν αὐτούς), doch sagt z. B. Demokrit (Frg. ἃ. Vorsokr. Diels? p. 399): 6 ἀδικῶν τοῦ ἀδικουμένου κακοδαι- μονέστερος. Für die von Sokrates abhängigen Schulen war der Satz weiterhin selbstverständlich, z. B. Aristot. Khet. 1,7 p. 1864} 21: ἀγαϑὸν ἕλοιτ᾽ ἂν 6 βελτίων, οἷον τὸ ἀδικεῖσϑαι μᾶλλον ἀδικεῖν" τοῦτο γὰρ δικαιότερος ἂν ἕλοιτο Vel. auch Eth. Nie. 11888 28. Inter- essant ist es, die. Übereinstimmung zu bemerken, in der Kant sich in diesem Punkte mit Platon befindet. Bei Reicke „Aus Kants Briefwechsel“ 8.19 sagt er: „Die größte Gefahr für Menschen in ihrem Verkehr untereinander ist die, anderen Unrecht zu tun. Un-

Anmerkungen. 173

recht zu leiden ist hingegen für nichts zu achten, und es zu dulden ist oft gar verdienstlich, wenn man hoffen darf, daß eine solche Toleranz den Mutwillen zu beleidigen nicht noch verstärken dürfte“,

80) S. 66. Das bezieht sich auf 466 B, wo Polos noch unbe- dingt für die Macht als etwas (Gutes eingetreten war.

8) S, 67. Der König Archelaos von Makedonien, auf die hier geschilderte Weise zur Herrschaft gelangt, war der Sohn des Per- dikkas II. und einer Sklavin Simiche. Kr regierte von 413—399 als ein aufgeklärter Despot, der viele griechische Künstler und Dichter an seinen Hof zog und auch den Sokrates eingeladen haben soll, der aber ablehnte.

88) S. 67. Der Perserkönig, von den Griechen „Großkönig“ genannt, war den Alten das unübertroffene Beispiel von Glück- seligkeit. |

890) S. 69. Polos hatte seine Auslassung über Archelaos mit einer ironischen Wendung beschlossen, die besagte, daß wohl alle Athener in diesem Punkte mit ihm, dem Polos, in Übereinstimmung sein würden. Dies Pochen auf die Majorität ist es, worauf sich di« hier folgende Apostrophe des Sokrates bezieht.

4) S. 69. Zu dieser Verachtung der großen Masse im Sinne des Schillerschen Wortes „Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen“ vgl. Kriton 440, 48 A, Lach. 184 E und meine Plat. Aufs. p. 88,

4) S. 69. Es sind einige der bekanntesten Familien Athens, die hier aufgeführt werden: Nikias, der bekannte Staatsmann und Feldherr, der 413 v. Chr. in Syrakus als Opfer der Sizilischen Expe- dition starb; Aristokrates, einer der Feldherrn in der Arginusen- schlacht, der 406 v. Chr. mit den anderen Feldherrn dieser Schlacht zum Tode verurteilt wurde; Perikles, der nach 503 C schoa tot ist

4) S, 70. Vgl. Anm. 20.

4) S. 71. Vel. 469B.

“) S. 71. Vgl. 470C.

6) S. 72. Vgl. 473C.

4) S. 72. Sokrates zieht diese an sich sehr ernste Sache, in der es sich um die Verurteilung der Feldherrn der Arginusenschlacht handelte, absichtlich hier etwas ins Lächerliche.

4“ S. 73. Vel. 472C. Polos soll eben dadurch, daß er wieder die Rolle des Antwortenden übernimmt, die Widerlegung möglich machen; denn dadurch wird er gezwungen, dem Gedankengang des Sokrates zu folgen, Ä

48) S. 74. Genau genommen würde die Bestimmung des καλόν als „Nützliches“ das Schöne nicht unter das οὗ ἕνεκα, sondern unter das ἕνεκά τινος verweisen; es würde nicht Zweck, sondern Mittel sein. Allein Platon braucht auch wieder den Begriff des Nützlichen (ὠφέλιμον) nicht nur in dem gewöhnlichen, sondern auch in dem ab- soluten Sinne des an sich Guten. Die hier gegebene Bestimmung des καλόν stimmt überein’ mit Hipp. Mai. 295 Ο verbunden mit 297E. Aus diesem Zusammentreffen ein Argument für die Unechtheit des größeren Hippias herzuleiten, wie es mehrfach versucht worden ist, erscheint mir unzulässig. Vgl. meine Plat. Aufs. p. 233f. Aristoteles erklärt dies καλόν ähnlich in der Rhetorik (1364b 27): τὸ καλόν ἐστιν ἤτοι τὸ ἡδὺ τὸ καϑ'᾽ αὑτὸ αἱρετόν; ebenso 1362b 8.

174 Anmerkungen.

4) S. 76. Auf Grund der Disjunktion τὸ αἰσχρὸν λυπηρὸν βλαβερὸν (κακὸν) ἀμφότερα könnte man ebenso schlagend oder noch schlagender nachweisen, daß gerade umgekehrt das ἀδικεῖσϑαι αἴσχιον sei; denn es ist 1. λυπηρόν, nach allgemeinem Zugeständnis, und 2. βλαβερόν, insofern nämlich, als es, geduldig hingenommen, die Dreistigkeit der Raufbolde nur 'noch mehr anreizt. Also es ver- einigt beide mögliche Bestimmungen des alozuov in sich.

50) S. 76. Bezieht sich auf 472C. |

51) S. 77. Es ist sehr bezeichnend für die Sinnesart der Grie- chen, dergemäß sie in dem Sittlichen vor allem das Geistig-Schöne sehen, daß Polos, der sich mit dem Verhältnis des dixaıo» und ἀγαϑόν nur schwer zurechtzufinden weiß, nicht die mindeste Schwierigkeit macht, sondern sofort bereit ist, das δίκαιον als καλόν anzuer- kennen. |

52) S. 77. Ganz ähnlich wie hier wird die notwendige Zu- sammengehörigkeit von Tun und Leiden in genauester Entsprechung ihrer Modalitäten auch im Protagoras (332 Bff.) dargelegt, wozu man auch Hipp. Mai. 297 A vergleichen mag. Eigentümlich unserer Stelle aber ist die Verwendung dieses Verhältnisses für die Begrün- dung des Strafrechts. So entschieden für Platon in der Strafrechts- lehre der Gesichtspunkt der Besserung der eigentlich durchschlagende ist, so kann er doch um die eigentliche Rechtsidee der Strafe, die eben in der Vergeltung liegt, nicht herumkommen, und das zeigt sich besonders an unserer Stelle hier, die offenbar, bewußt oder un- bewußt für Platon, auf die Vergeltungsidee hinausläuft, wie sich weiterhin auch 478A klar zeigt. Vgl. meine Abh. über die plat, Straftheorie in meinen Plat. Aufsätzen, nam. p. 196 u. 198, wo ich nur eben unsere Stelle noch hätte hinzufügen müssen.

2), ἃ. 78... Vgl. A76B.

54) S. 79. Schlechtigkeit steht hier in dem Sinne des zu Ver- Sana Sea und zu Bekämpfenden.

55) S. 80. Vgl. 475A.

56) S. 80. en Zusatz „nach dem Vorliegenden“ erklärt sich wohl daraus, daß Polos darauf gefaßt ist, auch die allerüberraschend- sten Dinge aus dem Munde des Sokrates bewiesen zu sehen.

δὴ δ᾽ 82. Vgl. 4T8A.

55) S. 83. Darin liegt kein Widerspruch gegen die Lehre von der Tugend als Wissen (also durch Belehrung). Der wirkliche Ver- brecher muß, um überhaupt der Belehrung erst zugänglich gemacht zu werden, Strafe erleiden. Die Strafe wirkt eben nach Platon er- weckend auf den Intellekt. Von unserem Standpunkte aus könnten wir allerdings sagen, es sei nicht unmöglich, daß ein Verbrecher auch ohne Strafe allmählich zu richtiger Einsicht gelange. Wenn Platon diese Möglichkeit unerörtert läßt, so scheint mir das auch auf die Vergeltungsidee hinzudeuten, deren Unvermeidlichkeit er eben fühlte, wenn auch nicht klar erkannte. Die Strafe das fühlte er muß unter allen Umständen eintreten, und darum setzte er sie wohlgemerkt bei Verbrechern als der Belehrung voraus- gehend ohne weiteres voraus. Vgl. auch 525 Bfl.

ὅ84) 5, 84. Die Hss. sind hier vollkommen im Recht.

δυ) ὃ, 86. Hier gefällt sich Sokrates in scherzhaft übermütigen

Anmerkungen, 175

Folgerungen seines siegreich durchgeführten Standpunkter, deren [Ironie namentlich in dem durch die Parenthese bezeichneten Vor- behalt höchst ergötzlich hervortritt.

80) $. 88. Hier finden sich in der sonst meist sehr wortge- treuen lat Übersetzung des Ficinus einige auffällige Auslassungen

81) 5, 88. Vgl. 480E.

68) S. 89. Scherzhafter Schwur bei dem hundsköpfigen Anubis, dem ägyptischen Gott.

63) S. 89, Hierzu vgl. meine Plat. Aufsätze p. 100.

86) 5, 89. Wo es nur gilt Stimmung zu machen oder die Leute ins Bockshorn zu jagen.

65) δ, 89. Vgl. 473E.

66) S. 90. Der Gegensatz zwischen φύσις und νόμος, Natur und Satzung, war ein beliebtes Thema in den sophistisch gebildeten Kreisen. Dieser Gegensatz ist ein mehrdeutiger. Man stellte die Natur der Satzung (ἃ. 1, nicht bloß Gesetz, sondern auch Sitte und Brauch) entweder in dem Sinne einander gegenüber, daß erstere das ewige, ungeschriebene Recht, m. a. W. das natürliche und ursprüng- liche Gesetz der Vernunft bedeutet (also das, was man mitunter auch ἄγραφοι νόμοι nannte), das andere die in den verschiedensten Formen sich bewegende Menschensatzung, also das positive Recht und den überlieferten Brauch. In diesem Sinne nimmt den Gegen- satz Hippias im platonischen Protagoras (337 CD). Oder man ver- stand unter φύσις nicht das Vernunftgesetz, sondern die ungehemmte Betätigung des sinnlichen Triebes, wie es hier Kallikles tut. Dann läuft der Gegensatz hinaus auf den von persönlicher Willkür und konventioneller Satzung. In beiden Auffassungen liegt eine Herab- setzung des νόμος gegen die φύσις; in der ersten eine berechtigte, denn jede positive Gesetzgebung, auch die beste, wird immer ihre Mängel haben, in der letzteren eine unberechtigte, denn die Herr- schaft der persönlichen Willkür als angeblich eigentliches, weil natür- liches, Recht macht überhaupt jedes positive Recht zu nichte. Nach ibr erscheint alle Menschensatzung gegenüber dem vorgeblich allein berechtigten, selbstherrlichen Belieben als ängstliches Schutzmittel der Schwächeren im Sinne des Schillerschen Wortes: „Das Gesetz ist der Freund der Schwachen, Alles will es nur eben machen“. Die Sache brachte es übrigens leicht mit sich, daß man diese φύσις auch als den wahren »ouos bezeichnete.

6) 8. 90. d.h. du nahmst diesen Satz wie einen an sich (φύσει) geltenden Satz, zergliedertest den Begriff des αἰσχρόν und beurteiltest den doch nur konventionell geltenden Satz nach dem Ergebnis dieser Zergliederung. | |

88) S. 90. In diesem Gedanken einer ganz anders gemeinten als der später (522 CD) von Sokrates charakterisierten Selbsthilfe liegt insofern ein wohlberechtigter Kern, als es wider die Ehre ist, eine gröbliche Beleidigung ruhig über sich ergehen zu lassen. Jeder soll sich dagegen nach Maßgabe der Umstände zur Wehr setzen, auch schon aus dem Grunde, weil sonst die Frechheit der Angreifer ins Ungemessene wachsen würde. In den Gesetzen, z. B. IX, 880. A ff., macht sich denn auch ein viel kräftigerer Geist der Abwehr geltend. Vgl. Hes. W. u. T. 349 ff. 709.

178 Anmerkungen.

ὅδ) S. 91. Ein wirklicher Rechtszustand setzt die persönliche Gleichheit der Menschen voraus. Daher tritt schon sehr frühzeitig, wenn auch in vielfach mißverständlicher Auffassung, der Begriff des ἴσον, der Gleichheit, als korrespondierender Begriff der δικαιοσύνη, der Gerechtigkeit, hervor.

τ S. 92, Dies Gedicht des großen thebanischen Sängers Pindar (522—442 v.Chr) ist uns sonst nicht erhalten.

τὺ) S. 92. Platon, der uns auch in der Republik (498 A B, vgl. auch 487 CD) die Verfechter dieser Ansicht schildert, war seiner- seits der gerade entgegengesetzten Ansicht: er wollte das Studium der eigentlichen Philosophie erst mit dem Eintritt in die dreißiger Jahre begonnen wissen, während das frühere Alter sich vorwiegend mit Musik und mit den mathematischen Disziplinen beschäftigen sollte.

1) S. 93. Diese Verse sind der uns nicht erhaltenen Antiope des Euripides entnommen. Eine Glanzpartie dieses Stückes war der Wortkampf zwischen den beiden Söhnen der Antiope Amphion und Zethos, deren völlig verschiedene Begabung und darauf ge- gründete Lebensansicht darin ihren drastischen Ausdruck fand. Amphion, der musikalische, ist der Vertreter der kontemplativen, Zethos der Vertreter der praktischen Lebensrichtung. Das Stück bot also reichlich Wasser auf die Mühle des Kallikles, wie das Fol- gende zur Genüge zeigt; denn überall sind disject« membra poetae eingestreut.

18) S. 93. Erinnert an 1. Kor. 13, 11.

14) S, 93. Dies soll wohl, wenn es nicht als bloßer, für den Vergleich bedeutungsloser Gegensatz gemeint ist, heißen, daß junge Leute sich noch nicht mit Staatsgeschäften abgeben sollen.

25) S. 94. Vgl. 484 Ὁ.

τ) S. 95. Hier tritt die Beziehung auf das Schicksal des So- krates zum ersten Mal klar hervor.

τ S. 95. Das gesperrt Gedruckte sind Worte des Euripides.

18) S. 96. Diese Männer sind sonst wenig bekannt.

19) S. 98. Vgl. 483 D, 484C.

80) S. 99. Vgl. 483 0, 484 A.

8ὴ S. 99. Vgl. 482 E.

82) S. 99. Vgl. 483 A.

88) S. 102. Platon preist späterhin (508 A) in hohen Ausdrücken die geometrische Proportion. Auch hier liegt eine geometrische Proportion zugrunde, und zwar eine doppelte, eine negative und eine positive. Nämlich: Nicht, wie der Geist des Arztes sich τὰ dem der anderen verhält, soll sich die Quantität der ihm zugeteilten Speisen zu der Quantität der den anderen zugeteilten Speisen ver- halten, sondern so wie sich sein Leib rücksichtlich der Gesundheit zu denen der anderen verhält. Vgl. Anm. 122.

84) S. 102. Vgl. 482 A. |

85) 5, 104. Hier erfolgt eine überraschende Wendung. So- krates nämlich hätte auch in gewöhnlicher Art die Merkmale des φρόνιμο: erkunden können. Aber er hat absichtlich erst als charak- teristisch für den φρόνιμος die Berechtigung über andere zu herrschen durch Kallikles hervorheben lassen, um nun in drastischem Gegen- satz zu der Herrschaft über andere das eigentlich entscheidende

Anmerkungen. 177

Merkmal des φρόνιμος einzuführen, nämlich die Herrschaft über sich selbst. Eine sehr wirkungsvolle Zuspitzung.

86) S, 104. Vgl. 488 Ὁ,

51) S, 105. Bedürfnislosigkeit ist ein Vorzug der Götter, kann aber auch ein menschliches Ideal sein, wie Antisthenes zeigt.

88) S. 106. Diese Sentenz fand sich in zwei Stücken des Euri- pides, die beide verloren sind. Das eine war der Phrixos, das andere der Polyidos.

80) S. 106. Die Deutung des Körpers als Grabmal mit dem Wortspiel σῶμα---σῆμα scheint orphischen Ursprungs zu sein. Man vergleiche dazu die Zeilen Schillers aus Ideal und Leben: „Ehe μα zum traur'gen Sarkophage die Unsterbliche (ἃ. 1. die Seele) herunterstieg“. Im übrigen haben wir es mit pythagoreischen Gleich- nisreden zu tun, und zwar ist der angedeutete Gewährsmann aller Wahrscheinlichkeit nach der berühmte Pythagoreer Philolaos, der aus seiner Heimat in Unteritalien zu Sokrates’ Zeiten nach Theben auswanderte. In dem Vergleich wird von dem wirklichen Hades (Danaiden) auf den figürlichen Hades gefolgert, in dem wir uns befinden, denn wir sind ja eigentlich tot. Daher auch die aus- drückliche Etymologie des Wortes Hades. Das Wortspiel zidos (Fab)—nıdarov— πειστικόν habe ich in teilweisem Anschluß an frühere Übersetzer, so gut es gehen wollte, wiederzugeben versucht.

90) S. 107. Damit ist nicht eine weitere pythagoreische Gleich- nisrede gemeint, sondern nur eine solche ähnlichen Charakters, ähn- licher Färbung, und zwar stammt das Gleichnis von niemandem anders als von Sokrates selbst. Das hat Hirzel in s. Aufsatz Py- thagoreisches in Pl. Gorgias p. 13f. klar gezeigt oder wieder gezeigt, denn schon Olympiodor und der Scholiast geben diese Deutung.

91) S. 107. Man streicht das lästige καὶ χαλεπὰ als angeblichen Einschub. Der Begriff, der hier allein am Platze ist, ist der des Verborgenen. Und diesen erhält man, wenn man für καὶ χαλεπά schreibt καὶ καλυπτά, ein Wort, das sehr leicht mit χαλεπά ver- wechselt werden konnte. Dieser meiner Vermutung gemäß habe ich denn übersetzt. |

92) S. 108. Mit dem Jucken bei Krätze wird auch im Philebos (46 A ff.) exemplifiziert, der überhaupt viel Verwandtes enthält.

98). S. 110. S. 491 A.

%) S. 111. Man hat für das handschriftliche τοῦ ἀγαϑοῦ hier einsetzen zu müssen geglaubt τοῦ ἡδέος. Allein Sokrates nimmt die Gleichung ἡδύ ἀγαϑόν (495 A) für gültig, wozu er nach dem Vori- gen durchaus berechtigt ist, und sagt darum für ἡδύ gleich ayador, wodurch die Rede viel energischer “wird.

8) S. 111. Vgl. Anm. 32 c.63. Plat. Aufs. p. 995.

96) S. 111. Der nun folgende Beweis ist ein Hauptbeispiel kaptiöser Argumentation, denn die Ausdrücke κακῶς und εὖ πράττειν bedeuten nach dem gewöhnlichen griechischen Sprachgebrauche nichts anderes als übles und gutes Befinden, also Unlust und Lust. Sie können aber auch den ethischen Sinn des schlecht und gut Handelns haben. Diese Zweideutigkeit wird hier ausgenutzt, wie denn überhaupt mit dem Begriff des ἀγαϑόν im ganzen Dialog etwas willkürlich umgegangen wird. Vgl, Charm. 172A. Anm. 34 u. 120.

Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Bd. 148, | 12

178 Anmerkungen.

”) S. 112, Vgl. 494B. Ganz ähnlich wird im Philebos (31 Ef., 34 Cff.) die Vereinigung widersprechender Zustände beim Ablauf der Lustgefühle dargelegt.

es) S, 113. Vel. 495 E.

®).S. 114. Kallikles gibt sich den Anschein sich nur mit den großen Fragen des Lebens zu befassen, während er die kleinen dem Sokrates überläßt. Darüber scherzt Sokrates durch den Vergleich mit den Mysterien, Zu den großen Mysterien nämlich konnte man nur Zutritt finden, wenn man zuvor in die kleinen Mysterien ein- er war. Kallikles überspringt gewissermaßen die kleinen

Iysterien.

100) Κ΄, 115. Man hat in dem Ausdruck παρουσία wie weiter- hin in den Ausdrücken παρεῖναι, παραγίγνεσθαι (498 D, 506 C) eine Andeutung der Ideenlehre erkennen wollen. Gegen diese Auffassung spricht schon der Plural in ἀγαϑῶν παρουσίᾳ. Vgl. auch ἀρετῆς τινος παραγενομένης 506 D. Auch Soph. 247 A (von den Materialisten).

101) S. 115. Vgl. 491 BC. Der folgende Beweis, an sich schon sehr gezwungen, beruht auf der willkürlichen Voraussetzung, daß Kallıkles in der angezogenen Stelle bereits die volle Anerkennung der guten Männer als besonnener Männer im Sinne der sokratischen Ethik vollzogen hätte. |

102).8..117. Vgl: 497 E.

108) δ, 118. Vgl. 498BC,

104) Κ᾽ 118. Mit etwas gezwungener Verstellung tritt Kallikles den Rückzug an. |

106) S. 120. Vgl. 468B.

106) S. 123. Kinesias, ein von den Komikern mehrfach ver- spotteter Dithyrambendichter. Auch sein Vater Meles entging nicht dem Spott der Komödie,

107) δ᾽ 123. Mit der Tragödie ging Platon bekanntlich auch in der Republik sowie in den Gesetzen sehr scharf ins Gericht.

108) S. 125. Platon erkennt also die Möglichkeit einer guten und echten Rhetorik, deren Charakter er genau kennzeichnet, hier ebenso an wie im Phaidros, wo er sie nur von einem anderen Ge- sichtspunkt aus charakterisiert. Vgl. dazu auch 517 A.

1090) S. 126. Es ist wohl zu beachten, daß Aristides hier nicht‘ mit genannt wird, dem vielmehr 526 B ein hervorragendes Lob ge- spendet wird.

) S. 126. Vgl. 491 Ef. 111) S. 126. Vgl. 499 Ef. ) 8. 127. Vgl. 500 A ff.

118) S. 128. Dazu vgl. meine Plat. Aufs. p. 153.

114) S. 129, Vgl. 491 Καὶ

115) Κὶς, 130. „Finer Sache den Kopf aufsetzen“ war eine den (riechen ἀρ αν Wendung für „etwas fertig machen“,

HG 130. Epicharmos von Kos, seit der Zeit der Perser- kriege in Syrakus wohnhaft, war ein berühmter Komödiendichter, zugleich ein philosophischer Kopf.

117) ὦ, 130. Die guten Handschriften haben hier alle reorhocnusr (nicht ποιήσομεν wie die Ausgaben), was ich für richtig halte rach Krüger 54, 12, 3. Danach habe ich übersetzt.

1186) αὶ 131. Vgl. Anm. 72.

Anmerkungen. 179

119) S. 132. Maß und Ordnung sind für Platon die Grund- bedingungen aller Schönheit, Vollkommenheit und Tugend, Vgl. meine Plat. Aufs. 111 Π᾿

120) S, 133. In diese Ausführung spielt wieder die Zweideutig- keit des εὖ und κακῶς πράττειν herein. Vgl. Anm. 96.

121) S, 133. Damit sind wohl vor allem Pythagoras (582 bis 500) und Empedokles (490—430) gemeint, deren ersterer die Har- monie als Seele der Welt betrachtete, letzterer die Liebe und den Streit als die bildenden Grundkräfte ansah.

122) S. 134. Die auch in den Gesetzen (VI, 757 B) gepriesene geometrische Gleichheit (Gleichheit, nach geometrischer Proportion) ist das Prinzip der Verteilung von Amtern und Ehren im Staat nach Leistungsfähigkeit und Würdigkeit, im Gerensatz zu dem alles nivel- lierenden Prinzip der arithmetischen Gleichheit, die einfach nach Köpfen zählt. Aristoteles, der gleichfalls der geometrischen Gleich- heit das größte Gewicht beilegt, hat es zur Grundlage seiner aus- teilenden Gerechtigkeit, der justitia distributiva gemacht, Vgl. Anm. 88.

133) S. 134. Vgl. 497E,

124) S. 136. Bemerkenswert ist hier der Begriff der ἄσκησις neben dem der μάϑησις in bezug auf die Erwerbung der Tugend. Das bedeutet einen Schritt über Sokrates hinaus, dem das bloße Wissen genügte. Auch 507 CD findet sich schon eine Andeutung.

185) S. 139. Vgl. Anm. 68.

126) S. 139. Dieser philosophische Steuermann, wie man ihn nennen möchte, ist von Platon vortrefflich und mit großer Kunst gezeichnet. Vgl. meine Plat. Aufs. p. 157ff.

127) S, 142. Die Masse der Hörer läßt sich von dem Redner hinreißen, ohne doch gründlich überzeugt zu sein. Ähnlich hier Kallikles.

128) S. 143. Vgl. 504 DE.

122) S. 145. Ein Sprichwort, mit dem man die Verkehrtheit derer kennzeichnete, die über alle Vorübungen wegsehen zu können glaubten. Unter Faß ist hier ein tönernes zu verstehen.

180) S. 146. Perikles ist es gewesen, der die Besoldung der Richter, vielleicht auch die der Ratsmitglieder einführte.

181) S. 146. Damit sind die Spartanerfreunde in Athen gemeint.

182) S. 147. Vgl. 515 Ὁ, auch 460 Dff.

18) S. 147. Od. 6, 120. |

154) S. 148. Kimon wurde wegen seiner Spartanerfreundlich- keit im J. 461 durch Ostrakismus aus Athen entfernt, aber 457 wieder zurückberufen,

155) S. 148. Miltiades wurde wegen seines unglücklichen Zuges gegen Paros zu harter Strafe verurteilt.

186) S. 149, Vgl. Anm. 108.

137) S. 150. Mithaikos aus Syrakus war Verfasser eines Koch- buchs. Bei seinen [,andsleuten stand die Kochkunst in hohen Ehren. 138) S. 150. Sarambos war ein bekannter Weinhändler.

180) S. 152. Solchem Undank geben einige nette Geschichtchen Ausdruck, die sich zwischen Lehrern und Schülern, z. B. zwischen Korax und Tisias, sowie zwischen Protagoras und Euathlos abge- spielt haben sollen.

12*

180 Anmerkungen.

140) S, 152. Das bezieht sich auf den Vorwurt, den Kallikles 482 C gegen Sokrates ausgesprochen hatte. er sei ein wirklicher Volksredner.

141) S. 153. Vel. 465 C.

142) S. 154. Nämlich: Wer durch seine Lehrer die Langsam- keit losgeworden ist, der ist dadurch noch nicht auch die Unge- rechtigkeit losgeworden. Wer aber durch seine Lehrer die letztere losgeworden ist, der kann nicht mehr Unrecht tun. |

148) S. 155. Die Myser waren besonders verachtete Sklaven und als solche sprichwörtlich geworden.

14) S. 155. Vgl. 486 B, 511 A.

145) S. 156. Hier tritt nun die Beziehung auf das Ende des Sokrates ganz klar hervor.

146) S. 156. Vgl. 464 D.

142) S. 157. Wennich vor Gericht sage: δικαέως ταῦτα λέγω, so ist das eigentlich nicht ein mir zustehendes, sondern ein den Richtern zustehendes Urteil. Das ist der Sinn der Stelle, die man gründlich mißverstanden und ihrer Pointe beraubt hat. Sokrates will dartun, daß sein Schicksal nicht in seiner, sondern in der Hand der Richter liege, deren Urteil er über sich ergehen lassen muß. Er folgert so: Ich habe mich ununterbrochen um das sittliche Wohl meiner Mitbürger bemüht; gleichwohl wäre es ganz nutzlos, Jetzt vor euch, ihr Richter, zu sagen: Δικαίως λέγω καὶ πράττω (80 ist mit Sauppe zu interpungieren und zu ὑμέτερον ein Eorıw zu denken), denn dieses Urteil steht allein euch zu. Mein Schicksal hängt ja ganz von euch ab. Das gibt einen bündigen Schluß. Dagegen ist „ich handle in euerem Interesse“ hier ganz unangebracht. Ver- anlaßt ist diese irrtümliche Auffassung durch die falsche Beziehung auf Apol. 31 B, wo das za ὑμέτευα πράττω gar nicht auf die Richter, sondern auf die Gesamtheit der Bürger geht.

148) S. 158. Vgl. 509 Bf.

149) Κ΄, 158. Ἄκουε δή waren die Worte, mit denen man gern eine Erzählung begann. Der nun folgende Mythos einer der eschatologischen Mythen wie am Schluß des Phaidon ist mit Be- nutzung von Reminiszenzen aus Homer und den Orphikern sehr sinn- voll aufgebaut. Der Blick in das Jenseits soll die völlige Furcht- losigkeit des Sokrates vor dem Tode und sein Vertrauen auf, sein Schicksal im anderen Leben begründen, von dem er nichts UÜbles zu erwarten hat, da er sich keines Unrechts bewußt ist.

150) αὶ 161. Eigentlich „krumm“, σκολιά. Vgl. J. Paul, Levana 8 113 „seelenkrümmende Gewohnheiten“ und Schiller, Resignation:

Hier spricht man warten Schrecken auf den Bösen Und Freuden auf den Redlichen.

Des Herzens Krümmen werdest du entblößen,

Der Vorsicht Rätsel werdest du mir lösen

Und Rechnung. halten mit dem Leidenden.

151) 8. 163. Vgl. Anm, 109. 15) ἢ, 164. Od. 11, 569. 153) S, 164. Vgi. 5080. 154) S, 165. Vgl. 459 E.

nt nn TE u

Register.

A. B. Aakos 160#. Baukunst 48. 126. 143f. Abfassungszeit des Dialogs 10ff. | Begierden 104ff, 133. Acharnä 111. Begriffsbestimmungen 44. 169. Agina, Insel 140. Belieben und Wollen 59ff. 171f Aoina, Mutter des Aakos 164. Besonnenheit 152 Ὁ, Aclaophon 27. 169. Besser und stärker 98f. 100. B. und Aegypten 140. tüchtiger 100f. 141.

Alexander, Perdikkas II Sohn 68. | Beweisverfahren 12. Alketas, Bruder des Perdikkas 67f. | Bezahlung für Belehrung 152. 154.

Alkıbiades 88. 151. 168. Bildhauerei 31. Alopeke 111. Bonitz, EL 7. Amphion 94. 131. Böse, das 47; s. schlecht.

Anaxagoras 57 171. > Andron, Sohn des Androtion 96. Ü. Angenehm 74f. dist. gut 109ff. | Chairephon 12, 168.

>

131f.; s. Lust. | Charikles 168. Anubis 89. 175. Chorlieder 123. Anytos 10. |Chronologisches 9f. Archedemos 9. ı Cousin, V. 2. Archelaos, König von Makedonien | D 16. 67ff. 70. 83. 84f. 162. 173. | Darius 91 ΠΥ τ Definition, ihre Wichtigkeit 44. | Demokrit 172. Akon: er Demos, Sohn des Pyrilampes 88. \ 142. 2. par en 2 εὖ Dialog Gorgias, Zweck und Form Be lad 2ff. Inhalt und Gliederung 12ff.

Arzt, der 8. 27. 34f. 40. 42f. 46. Dichtkunst als Volksrednerei 124.

BEIGE 16. 81.588. 86. 86. 1017. | Diongsorheiligiaumg SR; τ 127. 129. 141. 144. 155. A, und , Pithyrambendichtung 123.

Koch 56. 156f. Durst als Mischung von Lust und Asien 160. 161. Unlust 1121. Astronomie 33. Athen 4ff. 11. 51. 138, RB. Athener 69. 88. 125f. 141. 14öff. | Finsichtige, der 101f. 115.

151. . Empedokles 133. 179. Augenkrankheit 111. | Epicharmos 130. 178.

Ausgaben des Dialogs 22. Erfahrenheit: 52.

152

Erfahrung 27; beruht auf Erinne-

rung 122. Erkenntnis 39. Erwerbskunst 34f. 811. Euripides 93. 94. 106. 176. 177. Europa 160.

F.

Familienstolz 141. Faustkampf 42f. Feigheit 79, 104. 115#f. Flötenspiel 123. Freimut 96. Freundschaft 133. 137E. Frömmigkeit 132,

&.

Gemeinschaft 133.

Geometrie 32. 134; s. Gleichheit.

Gerade und ungerade Zahlen 33f. 49.

Gerechtigkeit 98. 132ff. 165f.

Geryones 92.

Gesetze, Schutz der Schwachen Y0f.; s. Satzung.

Gesetzgebung δῖ, 98f. 153.

Gesetzlichkeit 128.

Gesundheit 128.

Glauben und Wissen 39f. 170.

Gleichheit (s. Recht), geometrische 101f. 134. 176. 179.

Glück und Unglück 67ff. 72f. 85. 105£. 133.

Goethe 171.

Gorgias 4. 167.

Gott 132, 153. 141.

Großkönig 67. 161. 173.

Gute, das 47. 60ff. 120. 131ff. 151. 172. 177; dist. Angenehm 109 ff. 131f. Güter dreierlei 80.

Gutdünken und Wollen 59 ΕΓ 171.

Gymnastik 30. 5öf. 150f. 153.

Η.

Hades 106. 1588. 177. Häßlichkeit 47. 75£. 79. Heilbarkeit der Seele 162 ff.

Register.

Hirtenkunst 147.

Homer 29. 94. 147. 158. 162. 164.

Hunger als Mischung von Lust und Unlust 112

I. Ideenlehre 178. Induction 48. 126f. Inseln der Seligen 159. 164.

K.

Kallikles 4. 5. 7. 8. 12. 17. 168.

Kampfkunst 42f.

Kant 171. 172£.

Kenner und Nichtkenner 46ft.

Kimon 126. 146. 148. 151. 179.

Kinesias 123. 178.

Kleopatra 68.

Kochkunst 53ff. 120ff. 171. Koch und Arzt 56. 156f.

' Korinthischer Landmann 1.

Körper s. Leib,

Krankheit 79f.

Krätze 108.

Kriegsmaschinenbauer 140f.

Kritias 168.

Kriton 9.

Kronos 158f.

Künste 27f. 30ff, 37f. δδΗ. 143.

L.

Landwirtschaft 102. Leben, sein Wert 128. 139ff.

| Lebensrichtungen und Lebensauf-

gabe 3f. 17. 44f. 97. 121.

Leib, seine Pflege55 ff. 79.127 8.143. 150; als Grabmal 106. 177. Be- schaffenheit rach dem Tode 160,

Leiden und Tun 77ff.

Libanius 10f.

Literaturübersicht 22ff.

'Lust 74f. 82. 104ff.

M.

Macht 58ff. 138. 172. Malerei 27. 31. 37. 126. Märchen 1291. 158. Maß 132. 179. Mathematik 57.

Heilkunde 27. 30. 48. 55ff. 81f, | Mechaniker 141.

120ff. 150. 153. Herakles 92.

Herodikus 27. 42. 169.

Meles 123. 178. Menge, die große 38. 46. 142 Menon, Dialog 12.

Register.

Menschen, Bedingung ihres gegen- seitigen Verständnisses 87f.

Miltiades 126. 146. 148, 179.

Minos 160ff. 164.

Mithaikos, Koch 150. 179.

Mittel und Zweck 61fl. 171.

Musik 30. 48. 74. 123.

Myser 155. 180.

Mysterien, große u. kleine 114. 178.

N.

Natur, unterschieden von Satzung 17. 904. 99. 175.

Nausikydes aus Cholargeis 96.

Nikias 69, 173.

Nützliche, das 74ft, 82. 119. 173.

0.

Olympiodoros 2f. 168f. 169. 177,

Ordnung als Bedingung der Voll- kommenheit 127f. 132.

Orphiker 177. 180.

Ort der Unterredung 169.

pP.

Pankration, Vereinigung von Faust- und Ringkampf 42.

Perdikkas II. König von Make- donien 67.

Perikles 10. 41. 69. 126. 146fl. 151. 173. 179.

Philolaos 106f. 177.

Philosophie 8f. 88f. 92ff. 176; der Philosoph im Hades 163f.

Pindar 92. 98. 176.

Platon, seine Kunst 4ft,

Pluton 158f.

Politik 54f. 55df.

Polos 4. 5. 168.

Polygnotos 27. 169.

Polykrates, Sophist10f.

Pontos 140.

Poseidon 1588.

Prometheus 159.

Proportion, geometr. 101f. 176.

Protagoras, Dialog 12.

Prüfstein der Seele 95f.

Putzkunst 52. 57.

Pyrilampes 88.

Pythagorasu. Pythagoreer 177.179.

Pythischer Hain 69.

185

R.

Rechenkunst 32. 88, 169.

Recht (und Unrecht) 38. 47f. 63 fl. 82. R. als Gleichheit 91. 99. R. des Stärkeren 91f. 98.

Rechthaberei im Disputieren 44.

Rechtspflege 56.

Reden, lange 29, 58,

Reichtum 61.

Rhadamanthys 160 ff.

Rhetorik und Philosophie 1. 88, Vermeintlicher Nutzen 85f.Mib- brauch 43, Definitionsversuche 33f. 36ff. (Überredung), 47. 52ff. (Erfahrenheit). 40 (Defini- tion des Sokrates). Echte Rh. 1f. 11. 36. 125ff. 149. 178,

Richter 85f. 157,180; in der Unter- welt 189 ἢ,

S.

Sarambos, Krämer 150. 179.

Satzung und Natur 17. 90ff. 99 175.

Schädlichkeit 119.

Schamgefühl 50. 89f. 96. 99. 108. 134.

Schiffsbauer 40. 126.

Schiller 173. 175. 177. 180.

Schlechtigkeit 61ft. τὸ ἢ, 79f. 119. 155. 174; vgl. Übel.

Schleierniacher 2.

Schmeichelei u. Schmeichelkunst 54. ὅδ. 122. 142f. 155. 165.

Schmerz 75ff. 82.

Schöne, das 47, 74f. 77. 118. 132.

Schuhmacher 26 102 ἢ. 1173.

Seele. 55 ff. 143. 149f. (ihre Pflege). ' 127£. (ihre Vollkommenheit). 79f. (ihre Schlechtigkeit). 96f (Mög- lichkeit ihrer Prüfung). 106f. (Vergleich mit Faß und Sieb). 161ff. (Zustand nach dem Tode).

Selbstbeherrschung 104 ff.

Selbsthilfe 90. 94f. 135 ff. 158. 175.

Sententiöses126(Suchenu.Finden).

Simiche, Mutter des Archelaos 67,

syphos 163, 1173.

olion 34. 169,

‚Si Sk | Sokrates 2..6£.; als Elenktiker 44,

184 Register,

114. 130. 145; als Politiker 72, 156; als Volksredner 89. 108. | Unrecht 38. 47f. 68. Hindeutung auf seinen Tod 94f, | Unrechtleiden, Schutz dagegen 156ff. Der wirkliche 8. 9. 102.| 137ff. Sophistik .52. 57. 152ff. Unrechttun und Unrechtleiden 2. Sprachstatistik 12. 8. 16ff. 658. TIff. 89. 90f. 99. Sprichwörter 25. 118f. 129f. 145.| 134ff. 165. Staatskunst 54f.; 8. Politik. Unwissenheit 79. Staatsmänner 4f. 7f. 93. 103. 142. V. or. 10217. (vegplichanisieit) Vergeltungstheorie 78f. 174, en Sophisten). v -- ΤΑΝ δ Aalsnehr Stärker und besser 98ff. Baer Toto 31 ermögen 136.

Unordnung 197.

reger der philosophische Vernünftige, der 115ff.

Strafe, als Besserungsmittel 70Off. | W. δι, 82ff. 129. 162. 165. 174. | Wagenlenker 148.

Strategik 40. Wahrheit 69. 71. 130. Walker 103.

T. \Veber 102. Tantalos 162. Weberkunst 29. Tartaros 159#. Weiberweisheit 141. 164. Tapferkeit 110. 115ff. 132. Weltganzes und Weltordnung 134. Tätigkeit τύ ἢ, (Wille) Wollen u. Gutdünken 59 ff. Themistokles 41. 126. 146. 148. 171. Theorion, Bäcker 150. Wissen 39f. 110f. 170 (u. Glaube). Thersites 1621. Wissenschaften 74. Thessalierinnen (Zauberinnen) 142. Wohlgestalt 127. 182 (Bedingung Tisandros aus Aphidnä 96. der Vollkommenheit). Tityos 162. | Wohlwollen 96. Tod 158. 160 (definiert). x Tragödiendichtung 123f. 178. Ä ᾿ Trinklied (Skolion) 34. ren phon ΜΝ Tugend 128. 131. 136.141.166.179 | Xerxes 91, Tun und Leiden 77ff. 174. 2.

Turnlehrer 34f. 55. 127. 154. Zethos 94. 100. 131. Tyrannen 60ff. 64. 72. 83. 105. Zeugenbeweis 69f. 73. 137£. 162. Zeus 120. 153. 158ff.

| Zeuxis 36f. 170.

Ἷ υ. Zitherspiel 193.

Übel 60ff. 81. 84, 135. Züchtigung 78. 129. 133; s. Strafe, Ubermensch, der 91f. Zuchtlosigkeit 133.

UÜberredung 36ft. Zusatzanträge 169. UÜbervorteilung 90f. Zweck und Mittel 61#. 171. Ungerechtigkeit 79. 81. 84. Zweideutigkeiten im Gebrauch der

Unlust 113; 8. Schmerz. Worte 172. 177. 178. 179.

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