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http://www.archive.org/details/smtlicheromaneunO06dost
F. M. Doſtojewſki Saͤmtliche Romane und Novellen Sechſter Band
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Ein Нее Held Onkelchens Traum
* Zwei Novellen
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F. M. Doſtojewſki
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75 übertragen von H. Roh! 12 Im Inſel-Verlag zu Leipzig / 1922
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3 $ unbekannten Memoiren) 15
N 1
ch war damals noch nicht ganz elf Jahre alt. Im Juli J wurde ich nach einem in der Naͤhe von Moskau gelegenen Gute zum Beſuche bei einem Verwandten von mir, Herrn T'*xw, geſchickt, bei dem zu jener Zeit etwa fuͤnfzig Gaͤſte ver— ſammelt waren; vielleicht waren es auch noch mehr, ich erinnere mich nicht, gezaͤhlt habe ich ſie nicht. Es ging laͤrmend und luſtig her. Es machte den Eindruck, als wuͤrde ein Feſt gefeiert, das dort begonnen haͤtte, um niemals zu enden. Unſer Wirt hatte ſich, wie es ſchien, vorgenommen, ſein ganzes rieſiges Vermoͤgen ſo ſchnell wie moͤglich alle zu machen, und es iſt ihm auch vor kurzem gelungen, dieſe Vermutung zu beſtaͤtigen, das heißt alles, aber auch abſolut alles, bis auf die letzte Kopeke durchzubringen. Alle Augenblicke kamen neue Gaͤſte angefahren; Moskau war ja nur einen Katzenſprung weit entfernt; ſo machten denn die Weg— fahrenden nur anderen Gaͤſten Platz, und das Feſt nahm ſeinen Fortgang. Eine Beluſtigung loͤſte die andere ab, und von den Amuͤſements war kein Ende abzuſehen. Bald wurden in ganzen Trupps Spazierritte in der Umgegend unternommen, bald Spaziergaͤnge im Tannenwalde oder Kahnfahrten auf dem Fluſſe; es wurden Picknicks und Diners auf freiem Felde und Soupers auf der großen Terraſſe am Hauſe veranſtaltet. Dieſe Terraſſe war ringsum mit drei Reihen koſtbarer Blumen beſetzt, die die friſche Nachtluft mit ihren Duͤften erfuͤllten; dazu kam eine ſtrahlende Beleuchtung, die unſere Damen, welche auch ohnedies faſt ſaͤmtlich huͤbſch waren, noch reizender erſcheinen ließ mit ihren von den Erlebniſſen des Tages freudig erregten Geſichtern, mit ihren blitzenden Augen, mit dem Kreuzfeuer ihrer mutwilligen, von glockenhellem Lachen fortwaͤhrend unter— brochenen Reden. Da wurde getanzt, muſiziert und geſungen; und wenn der Himmel ein finſteres Geſicht machte, wurden LXXV. 1
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lebende Bilder geftellt und Scharaden und Sprichwörter aufge: führt; auch Theater wurde im Haufe geſpielt. Es fanden fich geiſtvolle Koͤpfe, die huͤbſche Reden, Erzaͤhlungen und Bonmots zum beſten gaben.
Einige Perſonen ſtanden, ſich von den andern ſcharf ab— hebend, im Vordergrunde. Natuͤrlich war auch uͤble Nachrede und Klatſcherei im Gange, da ohne ſolche die Welt nun einmal nicht beſtehen kann und Millionen von Menſchen vor Langerweile wie die Fliegen ſterben wuͤrden. Aber da ich erſt elf Jahre alt war, ſo bemerkte ich damals, von ganz anderen Dingen in An— ſpruch genommen, dieſe Perſonen gar nicht, und ſelbſt wenn ich etwas bemerkte, ſo bemerkte ich doch nicht alles. Erſt ſpaͤter erinnerte ich mich an einiges. Bei meinem kindlichen Alter konnte mir nur die glaͤnzende Seite des Bildes in die Augen fallen, und dieſer allgemeine Rauſch, Glanz und Laͤrm, dieſes ganze Trei⸗ ben, wie ich es bis dahin nie geſehen oder gehoͤrt hatte, machte auf mich einen ſo ſtarken Eindruck, daß ich in den erſten Tagen vollſtaͤndig die Faſſung verlor und mein kleiner Kopf ganz wirblig wurde.
Aber ich rede immer von meinen elf Jahren, und allerdings, ich war noch ein Kind, nicht mehr als ein Kind. Viele dieſer ſchoͤnen Frauen liebkoſten mich, ohne ſich uͤber mein Lebensalter Gedanken zu machen. Aber ſeltſam: ein mir ſelbſt unverſtaͤnd— liches Gefuͤhl hatte ſich meiner bereits bemaͤchtigt, und es regte ſich in meinem Herzen ſchon eine mir bisher unbekannte Emp— findung, von der mein Herz manchmal zu brennen und, wie er— ſchrocken, heftig zu ſchlagen begann und mein Geſicht ſich oft mit einer ploͤtzlichen Nöte uͤberzog. Mitunter ſchaͤmte ich mich ge— wiſſermaßen und fuͤhlte mich ordentlich gekraͤnkt dadurch, daß man mir als einem Kinde allerlei Privilegien einraͤumte. Ein
Ein kleiner Held 9
andermal ergriff mich eine Art von Staunen, und ich ging irgendwohin, wo mich niemand ſehen konnte, gleichſam um Atem zu holen und mich auf etwas zu beſinnen, was ich, wie mir ſchien, bis dahin ſehr gut im Gedaͤchtniſſe gehabt und jetzt auf einmal vergeſſen hatte, woran ich mich aber notwendig erinnern mußte, weil ich mich ſonſt nirgends zeigen und uͤberhaupt nicht exiſtieren konnte.
Und endlich ſchien es mir auch manchmal, als ob ich etwas vor aller Augen verbaͤrge und um keinen Preis zu jemandem etwas davon ſagen wuͤrde, weil ich kleiner Knabe mich daruͤber bis zu Traͤnen haͤtte ſchaͤmen muͤſſen. Bald kam es dahin, daß ich mitten in dem Wirbel, der mich umgab, mich gewiſſermaßen vereinſamt fuͤhlte. Es waren zwar auch andere Kinder da; aber dieſe waren ſaͤmtlich entweder ſehr viel jünger oder ſehr viel Alter als ich; uͤbrigens fuͤhlte ich mich auch nicht zu ihnen hingezogen. Aller— dings haͤtte ſich mit mir auch nichts zugetragen, wenn ich mich nicht in einer iſolierten Stellung befunden haͤtte. In den Augen aller dieſer ſchoͤnen Damen war ich immer noch ein kleines, unent— wickeltes Weſen, das zu liebkoſen ihnen manchmal Vergnuͤgen machte, und mit dem ſie wie mit einer kleinen Puppe ſpielen konnten. Beſonders eine von ihnen, eine entzuͤckende Blondine mit ſo uͤppigem, dichtem Haar, wie ich es nachher nie wieder ge— ſehen habe und wahrſcheinlich nie wieder zu ſehen bekommen werde, hatte ſich, wie es ſchien, vorgenommen, mir keine Ruhe zu goͤnnen. Das um uns herum erſchallende Gelaͤchter, welches ſie alle Augenblicke durch die ausgelaſſenen, mutwilligen Streiche hervorrief, die ſie mit mir angab, ſetzte mich in Verwirrung und erheiterte ſie; dieſes Treiben bereitete ihr offenbar ein rieſiges Vergnuͤgen. In einem Penſionate haͤtte ſie unter ihren Freun— dinnen gewiß den Beinamen „die Range“ bekommen. Sie war
10 Ein kleiner Held wunderbar ſchoͤn, und es lag in ihrer Schoͤnheit etwas, was
einem gleich beim erſten Blick in die Augen ſprang. Allerdings hatte fie keine Ahnlichkeit mit jenen kleinen, ſchuͤchternen Blon⸗
dinen, die ſo weiß ſind wie Flaumfedern und ſo ſanft wie weiße Maͤuschen oder Paſtorentoͤchter. Sie war von kleiner Statur und ein wenig voll, aber mit zarten, feinen, wundervoll де: zeichneten Geſichtszuͤgen. In dieſem Geſichte leuchtete es manch⸗ mal blitzartig auf, und in ihrem ganzen Weſen hatte ſie mit dem Feuer Ahnlichkeit: ſo lebhaft, ſchnell und leicht war ſie. Aus ihren großen, weit geoͤffneten Augen ſchienen Funken zu ſpruͤhen; dieſe Augen blitzten wie Diamanten, und niemals wuͤrde ich ſolche blauen funkenſpruͤhenden Augen hingeben, um irgend— welche ſchwarzen dafuͤr einzutauſchen, ſelbſt wenn ſie ſchwaͤrzer wären als die ſchwaͤrzeſten Augen, die man bei den Andalufies rinnen findet; ja, meine Blondine gab wahrlich jener beruͤhmten Bruͤnette nichts nach, die ein bekannter, vortrefflicher Dichter beſungen hat, der in ſo herrlichen Verſen vor ganz Kaſtilien geſchworen hat, er ſei bereit, ſich den Hals zu brechen, wenn ihm erlaubt würde, auch nur mit einer Fingerſpitze die Man: tille ſeiner Schoͤnen zu beruͤhren. Man nehme noch hinzu, daß meine Schoͤne die luſtigſte von allen Schoͤnen der Welt, von einer ausgelaſſenen Lachluſt und mutwillig wie ein Kind war, und das alles, trotzdem ſie ſchon ſeit fuͤnf Jahren einen Mann hatte. Das Lachen wich nie von ihren Lippen, die friſch waren wie eine Roſe am Morgen, welche ſoeben beim erſten
Sonnenſtrahle ihren purpurroten, duftenden Kelch erſchloſſen
hat, an dem die kalten, dicken Tautropfen noch nicht weg— getrocknet ſind.
Ich erinnere mich, daß am Tage nach meiner Ankunft eine Theaterauffuͤhrung im Haufe ftattfand. Der Saal war gedrängt
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voll; kein einziger freier Platz war vorhanden, und da ich mich aus irgendwelchem Grunde verſpaͤtet hatte, ſo ſah ich mich ge— noͤtigt, die Vorſtellung ſtehend zu genießen. Aber das luſtige Spiel zog mich immer mehr nach vorn, und ich arbeitete mich ип: vermerkt zu den vorderſten Reihen hindurch, wo ich endlich ſtehen
blieb, mich mit den Armen auf die Lehne eines Seſſels ſtuͤtzend,
auf dem eine Dame ſaß. Es war meine Blondine; aber wir kannten uns noch nicht. Und da verſenkte ich mich von ungefaͤhr in die Betrachtung ihrer wundervoll gerundeten, verfuͤhreriſchen Schultern, welche voll und weiß wie Milchſchaum waren, ob— gleich es mir im Grunde ganz gleich war, was ich betrachtete: ein Paar wundervolle Frauenſchultern oder die mit feuerroten Bändern verzierte Haube, die das graue Haar einer wuͤrdigen Matrone in der erſten Reihe bedeckte. Neben der Blondine ſaß eine alte Jungfer, eine von denen, die, wie ich ſpaͤter Gelegen— heit gehabt habe zu beobachten, ſich immer gern in moͤglichſter Naͤhe junger, huͤbſcher Frauen halten, wobei ſie ſich ſolche aus— ſuchen, die die junge Maͤnnerwelt nicht von ſich ſcheuchen. Indes handelt es ſich jetzt nicht darum; aber kaum hatte dieſe alte Jung: fer bemerkt, worauf meine Augen gerichtet waren, als ſie ſich zu ihrer Nachbarin hinbeugte und ihr kichernd etwas ins Ohr fluͤſterte. Die Nachbarin wendete ſich auf einmal um, und ich erinnere mich noch ganz deutlich: ihre feurigen Augen blitzten mich im Halbdunkel dermaßen an, daß ich, auf dieſe Begegnung nicht vorbereitet, zuſammenfuhr, als ob ich mich verbrannt haͤtte. Die ſchoͤne Frau laͤchelte.
„Gefaͤllt Ihnen das Stuͤck, das geſpielt wird?“ fragte fie, in— dem ſie mir ſchelmiſch und ſpoͤttiſch in die Augen ſah.
„Ja,“ antwortete ich und blickte ſie dabei immer noch mit einer Bewunderung an, die ihr offenbar gefiel.
12 Ein Heiner Held
22 Per en Er RN EB о „Aber warum ftehen Sie denn? Sie werden müde werden; haben Sie denn keinen Sitzplatz?“
„Das iſt es ja eben, daß keiner da iſt,“ erwiderte ich, in dieſem Augenblicke mehr mit meiner Sorge als mit den funkenſpruͤhen⸗ den Blicken der ſchoͤnen Frau beſchaͤftigt und aufrichtig Darüber erfreut, daß ich endlich ein gutes Herz gefunden hatte, dem ich meinen Kummer mitteilen konnte. „Ich habe ſchon geſucht; aber alle Stuͤhle ſind beſetzt,“ fuͤgte ich hinzu, als wenn ich ihr mein Leid klagen wollte, daß alle Stühle beſetzt ſeien.
„Komm hierher,“ ſagte ſie ſchnell; denn ſie war raſch in der Ausführung jeder tollen Idee, die in ihrem mutwilligen Kopfe aufblitzte. „Komm hierher, zu mir, und ſetze dich auf meinen Schoß.“
„Auf Ihren Schoß?“ erwiderte ich ganz betroffen.
Ich habe ſchon geſagt, daß ich mich uͤber meine Privilegien ernſtlich zu ärgern und zu ſchaͤmen anfing. Dieſe Blondine aber trieb es damit zum Spaß und Spott doch gar zu arg. Zudem begann ich, der ich ohnehin ſchon immer ein ſchuͤchterner, ver: ſchaͤmter Knabe geweſen war, mich zu jener Zeit ganz beſonders vor Frauen zu genieren, und daher wurde ich furchtbar ver— legen.
„Nun ja, auf meinen Schoß! Warum willſt du nicht auf тей nem Schoße ſitzen?“ antwortete fie, auf ihrer Einladung Ве: harrend, und kicherte immer ſtaͤrker und ftärfer, fo daß ſchließlich ein lautes Gelächter daraus wurde; weiß der Himmel, worüber fie eigentlich lachte, vielleicht über ihren eigenen Einfall oder vor Freude daruͤber, daß ich ſo verlegen geworden war. Aber eben das hatte ſie gewollt.
Ich erroͤtete und ſah mich in meiner Verwirrung rings um, wohin ich mich wohl davonmachen koͤnnte; aber ſie kam mir zu—
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vor, indem ſie flink meine Hand ergriff, eben zu dem Zwecke, damit ich nicht davonginge, ſie zu ſich hinzog und ſie, fuͤr mich ganz unerwartet, zu meinem groͤßten Erſtaunen ſchmerzhaft in ihren mutwilligen, heißen Fingerchen druͤckte; ſie quetſchte mir die Finger ſo heftig zuſammen, daß ich alle Anſtrengungen machen mußte, um nicht aufzuſchreien, und dabei die komiſchſten Grimaſſen ſchnitt. Außerdem war ich im hoͤchſten Grade ver— wundert, erſtaunt, ja erſchrocken zu ſehen, daß es ſolche komiſchen, boshaften Damen gibt, die mit Knaben ſolche Torheiten reden und ſie dabei, Gott weiß weshalb, ſo ſchmerzhaft kneifen, noch dazu in aller Leute Gegenwart. Wahrſcheinlich ſpiegelte ſich auf meinem ungluͤcklichen Geſichte mein ganzes verſtaͤndnisloſes Er— ſtaunen wieder; denn die Schelmin lachte mich unverhohlen an wie eine Verruͤckte und kniff und quetſchte unterdeſſen meine armen Finger immer ſtaͤrker und ſtaͤrker. Sie war außer ſich vor Entzuͤcken, daß es ihr gelungen war, einen ſolchen Streich aus— zufuͤhren und einen armen Jungen verlegen zu machen und in ſo arge Not zu bringen. Meine Lage war eine verzweifelte. Erſtens brannte ich vor Scham, weil faſt alle um uns herum ſich zu uns hinwandten, die einen verwundert, die andern, welche ſogleich merkten, daß die Schoͤne irgendwelchen Unfug trieb, lachend. Außerdem hatte ich die groͤßte Luſt, aufzuſchreien, weil ſie meine Finger gerade in der Abſicht, mich zum Schreien zu bringen, auf das grauſamſte mißhandelte; aber ich nahm mir wie ein Spartaner vor, den Schmerz auszuhalten; denn ich fuͤrchtete durch einen Schrei einen Aufruhr hervorzurufen, und was waͤre dann aus mir geworden! In einem Anfalle voͤlliger Verzweiflung begann ich endlich einen Kampf und bemuͤhte mich aus aller Kraft, meine Hand an mich zu ziehen; aber meine Tyrannin war weit ſtaͤrker als ich. Zuletzt konnte ich es nicht
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mehr ertragen und ſchrie auf; darauf hatte ſie nur gewartet! Augenblicklich ließ ſie mich los und wandte ſich von mir ab, als ob nichts geſchehen waͤre, oder als ob nicht ſie, ſondern irgendein anderer einen tollen Streich begangen haͤtte, akkurat wie ein Schulknabe, der, ſobald der Lehrer ſich umgedreht hat, flink einem ſeiner Nachbarn einen Poſſen ſpielt, etwa einen kleinen, ſchwaͤchlichen Jungen kneift, ihm ein paar Naſenſtuͤber oder бий: tritte verſetzt, ihm den Ellbogen auf den Tiſch ftößt, und ſich fos fort wieder wegwendet, ſich ordentlich hinſetzt, die Naſe ins Buch ſteckt, ſeine Aufgabe zu lernen anfaͤngt und auf dieſe Weiſe den erzuͤrnten Herrn Lehrer, der auf den Laͤrm hin wie ein Habicht herbeigeſtuͤrzt kommt, in Ratloſigkeit verſetzt, ſo daß er mit langer Naſe wieder abziehen muß.
Aber zu meinem Gluͤcke war die allgemeine Aufmerkſamkeit in dieſem Augenblicke durch das meiſterhafte Spiel unſeres Wirtes gefeſſelt, der in dem aufgefuͤhrten Stuͤcke, einem Scribe⸗ ſchen Luſtſpiel, die Hauptrolle übernommen hatte. Alle klatſch⸗ ten Beifall; waͤhrend des Laͤrms glitt ich aus den Stuhlreihen hinaus und lief ganz an das Ende des Saales, in die entgegen⸗ geſetzte Ecke, von wo ich, hinter einer Säule verborgen, angſt⸗ voll dahin zuruͤckblickte, wo die hinterliſtige Schoͤne ſaß. Sie lachte immer noch, indem ſie ihre Lippen mit dem Taſchentuche bedeckte. Und noch lange drehte ſie ſich um und ſuchte in allen Ecken nach mir mit den Augen; wahrſcheinlich tat es ihr ſehr leid, daß unſer unſinniger Kampf ſo ſchnell ein Ende gefunden hatte, und ſie uͤberlegte nun, wie ſie noch etwas Tolles angeben koͤnne.
Damit hatte unſere Bekanntſchaft begonnen, und ſeit dieſem Abend wich ſie nicht mehr von meiner Seite. Sie verfolgte mich in einer ganz maßloſen, gewiſſenloſen Weiſe und wurde mein
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Plagegeiſt, meine Tyrannin. Die ganze Komik ihres Verhaltens zu mir beſtand darin, daß ſie tat, als ſei ſie bis uͤber die Ohren in mich verliebt, und mich vor allen Leuten blamierte. Natuͤr⸗ lich war mir, einem bloͤden, ſcheuen Jungen, das alles ſo pein— lich und aͤrgerlich, daß ich faſt weinte; ja, manchmal war meine Lage ſo ernſt und kritiſch, daß ich nahe daran war, mich mit meiner heimtuͤckiſchen Verehrerin zu pruͤgeln. Meine naive Ver: legenheit, mein verzweifelter Kummer munterten ſie, wie es ſchien, dazu auf, ihre Verfolgungen immer weiter fortzuſetzen. Sie kannte kein Erbarmen, und ich wußte nicht, wo ich vor ihr bleiben ſollte. Das um uns herum ertoͤnende Gelaͤchter, welches ſie ſo geſchickt hervorzurufen verſtand, ſpornte ſie nur noch zu neuen Streichen an. Aber ihre Scherze gingen ſchließlich denn doch etwas gar zu weit. Wie ich mich jetzt erinnere, erlaubte ſie ſich mit einem ſolchen Kinde, wie ich es war, wirklich gar zu viel.
Aber das lag nun einmal in ihrem Charakter; ſie war eben ein verwoͤhntes Weſen, wie es im Buche ſteht. Ich habe ſpaͤter gehoͤrt, daß ihr eigener Mann derjenige war, der ſie am meiſten verwoͤhnte, ein ſehr dicker Herr von ſehr kleiner Statur, mit ſehr rotem Geſichte, ſehr reich und ſehr geſchaͤftstuͤchtig; wenigſtens machte er dieſen Eindruck: bei ſeiner Beweglichkeit und Ge— ſchaͤftigkeit konnte er nicht zwei Stunden lang an einem Orte bleiben. Täglich fuhr er von uns nach Moskau, mitunter zwei⸗ mal, und immer, wie er ſelbſt verſicherte, in geſchaͤftlichen Эт: gelegenheiten. Etwas Luſtigeres und Gutmuͤtigeres als dieſe komiſche und dabei doch immer wohlanſtaͤndige Phyſiognomie wäre ſchwer zu finden geweſen. Er liebte feine Frau nicht nur dermaßen, daß es ſchon eine Schwaͤche zu nennen war, ſondern betete ſie geradezu wie einen Abgott an.
Er legte ihr in keiner Hinſicht irgendwelche Beſchraͤnkungen
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auf. Sie hatte eine Menge Freunde und Freundinnen. Erftens gab es wenige Leute, die fie nicht liebten, und zweitens war fie bei ihrem Leichtſinn ſelbſt nicht beſonders bedenklich in der Aus— wahl ihrer Freunde, obgleich ihr Charakter im Grunde ein viel ernſterer war, als man es nach dem von mir jetzt Erzaͤhlten vielleicht annimmt. Aber von allen ihren Freundinnen war ihr die liebſte und werteſte eine junge Frau, die mit ihr entfernt verwandt war und jetzt ebenfalls zu unſerer Geſellſchaft gehoͤrte. Es beſtand zwiſchen ihnen ein zartes, feines Verhaͤltnis, eines jener Verhaͤltniſſe, wie ſie ſich manchmal bei der Begegnung zweier Charaktere herausbilden, die oft einander völlig entgegen geſetzt ſind, von denen aber der eine ernſter, tiefer und reiner iſt als der andere, waͤhrend dieſer im Gefuͤhl der ganzen moraliſchen Überlegenheit des erſteren ſich ihm mit groͤßter Demut und edler Selbſterkenntnis willig unterordnet und die Freundſchaft mit ihm im Herzen als ein Gluͤck empfindet. Dann aber beginnen jene zarten, edlen, feinen Wechſelbeziehungen ſolcher Charaktere: Liebe und Nachſicht auf der einen Seite, Liebe und Hochſchaͤtzung auf der andern, eine Hochſchaͤtzung, die bis zu einer Art von Furcht und Angſt geht, man koͤnne in den Augen deſſen, den man ſo hoch ſchaͤtzt, gar zu viel verlieren, und die den eifer— ſuͤchtigen, heißen Wunſch hervorruft, mit jedem Schritte im Leben dem Herzen des andern immer naͤher und naͤher zu kommen. Die beiden Freundinnen ſtanden im gleichen Lebens⸗ alter; aber zwiſchen ihnen beſtand ein unermeßlicher Unterſchied in allen Dingen, von der Art der Schoͤnheit angefangen. Frau M++* war ebenfalls ſehr ſchoͤn; aber in ihrer Schönheit lag etwas Beſonderes, wodurch fie ſich ſcharf aus der Menge von huͤbſchen Frauen abhob; in ihrem Geſichte war etwas, was ihr ſogleich alle Herzen gewann, oder, richtiger geſagt, etwas, was
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bei jedem, der mit ihr zuſammenkam, eine ſchoͤne, edle Sym— pathie erweckte. Es gibt ſolche gluͤcklichen Geſichter. In ihrer Naͤhe wurde einem jeden wohler, freier, waͤrmer ums Herz, und doch blickten ihre großen, traurigen Augen, die voll Feuer und Kraft waren, zaghaft und unruhig wie in ſteter Furcht vor etwas Feindlichem, Drohendem; und dieſe ſeltſame Zaghaftig— keit uͤberzog ihre ſtillen, ſanften, an die klaren Geſichter italieni= ſcher Madonnen erinnernden Züge manchmal mit ſolcher еб: mut, daß dem, der ſie anſah, bald ebenſo truͤb zumute wurde wie bei einem eigenen, perſoͤnlichen Kummer. Dieſes blaſſe, magere Geſicht, auf welchem durch die tadelloſe Schoͤnheit der reinen, regelmaͤßigen Linien und den wehmuͤtigen Ernſt des ſtummen, verborgenen Grames hindurch noch ſo oft der ur— ſpruͤngliche kindlich-klare Ausdruck hervorſchimmerte, der Ab— glanz eines noch nicht weit zuruͤckliegenden vertrauensvollen Lebensalters und vielleicht eines naiven Gluͤckes, und dieſes ſtille, ſchuͤchterne, unſichere Laͤcheln: alles dies erweckte eine ſo innige Teilnahme fuͤr dieſe Frau, daß in dem Herzen eines jeden unwillkuͤrlich ein ſuͤßes, heißes Mitgefuͤhl rege wurde, welches ſchon von ferne laut zu ihren Gunſten ſprach und ſelbſt einen Fremden gleichſam zu ihrem Verwandten machte. Aber dieſe Schoͤne machte den Eindruck der Schweigſamkeit und Ver— ſchloſſenheit, obgleich es doch kein ſorglicheres, liebevolleres Weſen als ſie geben konnte, wenn jemand der Teilnahme be— durfte. Es gibt Frauen, die im Leben gewiſſermaßen den Be— ruf barmherziger Schweſtern ausuͤben. Man braucht ihnen nichts zu verbergen, wenigſtens nichts, was es in der Seele Krankes und Wundes gibt. Wer da leidet, der moͤge dreiſt und hoffnungsvoll zu ihnen gehen, ohne Furcht, ihnen laͤſtig zu fallen; denn nur wenige von uns wiſſen, wieviel unendlich geduldige Liebe, LXXV. 2
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tiefes Mitleid und alles verzeihende Guͤte in manchem Frauen— herzen wohnt. Ganze Schaͤtze von Mitgefühl, Злой und Hoff:
nung ruhen in dieſen reinen Herzen, die ſo oft ebenfalls ver⸗
wundet werden (denn ein Herz, das viel liebt, leidet viel), wo aber die Wunde vor neugierigen Blicken ſorgfaͤltig verſteckt ge⸗ halten wird, da tiefes Leid meiſt ſchweigt und ſich verbirgt. Dieſe Frauen ſchreckt weder die Tiefe einer Wunde zuruͤck, noch ihr garſtiger Eiter, noch ihr widriger Geruch: wer ſich vertrauens⸗ voll an ſie wendet, der iſt dadurch ſchon ihrer wuͤrdig; ſie aber ſind gewiſſermaßen dazu geboren, große, edle Taten zu ver⸗ richten ... Frau M*** war von hohem Wuchſe, geſchmeidig und ſchlank, aber etwas mager. Alle ihre Bewegungen hatten etwas Ungleichmaͤßiges: bald waren ſie langſam, weich und де: wiſſermaßen wuͤrdevoll, bald in kindlicher Art raſch und haſtig; zugleich aber ſprach aus ihren Gebärden eine Art von ſchuͤchter— ner Demut, eine aͤngſtliche Wehrloſigkeit, die aber von nie⸗ mandem Schutz erbat und erflehte.
Ich habe bereits geſagt, daß die wenig loͤblichen Attacken ber hinterliſtigen Blondine mir peinlich waren, mich verletzten, mich bis aufs Blut kraͤnkten. Aber es ſteckte noch ein geheimer, ſonder⸗ barer, dummer Grund dahinter. Dieſen Grund verbarg ich; ich zitterte davor, daß er bekannt werden koͤnnte; ja, bei dem bloßen Gedanken an ihn, wenn ich ganz allein mit niedergebeug⸗
tem Kopfe irgendwo in einem verſteckten, dunklen Winkel ſaß,
wohin kein forſchender, ſpoͤttiſcher Blick einer blauaͤugigen Schel⸗ min drang, bei dem bloßen Gedanken daran ſtockte mir faſt der Atem vor Verwirrung, Scham und Furcht, — kurz, ich war ver: liebt; das heißt, ich gebe zu, daß ich da einen Unſinn geſagt habe: das war ja ein Ding der Unmoͤglichkeit; aber warum feſſelte
von allen Perſonen, die mich umgaben, nur dieſe eine meine
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Aufmerkſamkeit? Warum war ſie die einzige, die ich gern mit meinem Blicke verfolgte, obgleich mir damals entſchieden nichts daran gelegen war, Damen anzuſchauen und mit ihnen bekannt zu werden? Am haͤufigſten geſchah das abends, wenn ſchlechtes Wetter alle in die Zimmer bannte, und wenn ich, einſam in einem Winkel des Saales verſteckt, ziellos um mich ſah; denn ich fand abſolut keine andere Beſchaͤftigung, da mit Ausnahme
meiner Verfolgerinnen ſelten jemand mit mir ſprach; ſo lang— weilte ich mich denn an ſolchen Abenden in einer unertraͤglichen Weiſe. Zu ſolchen Zeiten betrachtete ich die Perſonen, die mich umgaben, und hoͤrte die von ihnen gefuͤhrten Geſpraͤche mit an, von denen ich oft kein Wort verſtand, und ſiehe da, da waren es die ſtillen Blicke, das ſanfte Laͤcheln und das ſchoͤne Geſicht der Frau M*** (denn fie war es), die, Gott weiß warum, meine Aufmerkſamkeit erregten und mich bezauberten, und dieſes mein ſeltſames, undefinierbares aber unbegreiflich ſuͤßes Gefühl haftete dann unausloͤſchbar in meinem Herzen. Oft konnte ich mich ganze Stunden lang nicht von ihr losreißen; ich ſtudierte jede ihrer Gebärden, jede ihrer Bewegungen, horchte auf jeden Klang ihrer vollen, ſilberhellen, aber etwas gedaͤmpften Stimme, und ſeltſam: aus allen meinen Beobachtungen reſultierte bei mir neben jener zaghaften, ſuͤßen Empfindung eine Art von un: begreiflicher Neugier. Ich befand mich in einer ähnlichen Stim— mung, wie wenn ich einem Geheimniſſe nachſpuͤrte.
Am unangenehmſten waren mir jene Spoͤttereien, wenn Frau M** zugegen war. Dieſe Spoͤttereien und komiſchen Angriffe hatten nach meiner Auffaſſung fuͤr mich ſogar etwas Entwuͤrdigendes. Und wenn dann manchmal ein allgemeines Gelächter auf meine Koſten erſcholl, an welchem ſogar Frau Mis ſich mitunter unwillkuͤrlich beteiligte, dann riß ich mich,
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ganz verzweifelt und außer mir vor Gram, von meinen Tyran— ninnen los und lief nach oben auf mein Zimmer, wo ich den uͤbrigen Teil des Tages einſam verbrachte, da ich es nicht wagte, mich nochmals im Saale blicken zu laſſen. Übrigens verſtand ich den Grund meiner Scham und meiner Aufregung ſelbſt noch nicht; dieſer ganze Prozeß vollzog ſich in meinem Innern unbewußt. Mit Frau M*** hatte ich bisher kaum ein paar Worte gefprochen und haͤtte es natuͤrlich meinerſeits auch nicht gewagt. Aber eines Abends, nach einem fuͤr mich unertraͤglichen Tage, war ich auf einem Spaziergange hinter den andern zuruͤckgeblieben; ich war furchtbar muͤde geworden und wanderte langſam durch den Garten nach dem Hauſe hin. Da erblickte ich in einer einſamen Allee auf einer Bank Frau M***, Sie ſaß dort ganz allein, wie wenn ſie ſich dieſen einſamen Ort abſichtlich ausgeſucht haͤtte, hielt den Kopf auf die Bruſt herabgeneigt und drehte mechaniſch ihr Taſchentuch in den Haͤnden hin und her. Sie war ſo in ihre Gedanken verſunken, daß ſie mein Herankommen gar nicht hoͤrte.
Als ſie mich bemerkte, ſtand ſie ſchnell von der Bank auf, wandte ſich ab, und ich ſah, daß ſie ſich ſchnell die Augen mit dem Taſchentuche trocknete. Sie hatte geweint. Nachdem ſie ſich die Augen getrocknet hatte, laͤchelte ſie mir zu und ſchlug mit mir zuſammen die Richtung nach dem Hauſe ein. Ich erinnere mich
nicht mehr, worüber wir miteinander ſprachen; aber fie ſchickte
mich alle Augenblicke unter verſchiedenen Vorwaͤnden von ſich weg: bald bat ſie mich, ihr eine Blume zu pfluͤcken, bald zuzu⸗ ſehen, wer da in der benachbarten Allee reite. Und wenn ich von ihr fortging, fuͤhrte ſie ſofort wieder das Tuch an die Augen und wiſchte ſich die ungehorſamen Traͤnen weg, die ſich gar nicht ſtillen laſſen wollten, ſondern immer von neuem aus ihrem Herzen aufſtiegen und aus ihren armen Augen floſſen. Ich be—
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griff, daß ich ihr offenbar ſehr zur Laſt war, da fie mich fo häufig wegſchickte; und fie ſelbſt ſah bereits, daß ich alles bemerkt hatte, aber ſie konnte ſich nicht beherrſchen, und dadurch wurde mein Mitleid mit ihr noch mehr geſteigert. Ich aͤrgerte mich in dieſem Augenblicke uͤber mich ſelbſt beinahe bis zur Verzweiflung, ver— fluchte mich wegen meines hölzernen Weſens und meiner geiſti—
gen Unbeholfenheit und wußte doch nicht, wie ich ſie in geſchick—
ter Weiſe verlaſſen koͤnnte, ohne zum Ausdruck zu bringen, daß ich ihren Kummer bemerkt hatte; ich ging in traurigem Staunen, ja tief erſchrocken neben ihr her; ich war ganz faſſungslos und fand ſchlechterdings auch nicht ein einziges Wort, um unſer ver: ſiegendes Geſpraͤch im Gang zu halten. |
Dieſe Begegnung hatte auf mich einen fo tiefen Eindruck ge: macht, daß ich den ganzen Abend uͤber mit geſpannter Neugier Frau M*** heimlich beobachtete und kein Auge von ihr ver: wandte. Aber es traf ſich, daß ſie mich zweimal unvermutet bei meinen Beobachtungen ertappte; als fie es das zweitemal Бе: merkte, laͤchelte ſie. Das war ihr einziges Laͤcheln an dem ganzen Abend. Die Traurigkeit war noch nicht von ihrem Geſichte ge— wichen, das jetzt ſehr blaß ausſah. Die ganze Zeit uͤber fuͤhrte ſie ein leiſes Geſpraͤch mit einer boshaften und zaͤnkiſchen alten Dame, die niemand wegen ihres Umherſpionierens und ihrer Klatſchſucht leiden konnte; aber alle hatten vor ihr Furcht und ſahen ſich deswegen genoͤtigt, ſich mit ihr auf guten Fuß zu ſtellen, mochten ſie es nun wollen oder nicht.
Um zehn Uhr traf Frau M'“ s Mann ein. Bis dahin hatte ich ſie ſehr aufmerkſam beobachtet, ohne die Augen von ihrem traurigen Geſichte wegzuwenden; jetzt aber, bei dem uner— warteten Eintritte ihres Mannes ſah ich, wie ſie am ganzen Leibe zu zittern anfing und ihr ohnehin ſchon blaſſes Geſicht auf
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einmal weiß wie Leinwand wurde. Das war fo auffällig, daß auch andere es bemerkten: ich hoͤrte abſeits das Bruchſtuͤck eines Geſpraͤches mit an, aus dem ich mit einiger Muͤhe entnahm, daß die arme Frau M*** es nicht beſonders gut habe. Es wurde де: ſagt, ihr Mann ſei eiferſuͤchtig wie ein Mohr, nicht aus Liebe, ſondern aus Selbſtſucht. Vor allen Dingen war er ein Ver— ehrer weſteuropaͤiſchen Weſens, ein moderner Menſch, mit einer Muſterkarte von neuen Ideen, auf die er ſehr eitel war. Was ſein Außeres anlangt, ſo war er ein ſchwarzhaariger, hochge⸗ wachſener, ſehr kraͤftig gebauter Herr, mit einem Backenbarte nach weſteuropaͤiſcher Faſſon, mit ſelbſtzufriedenem Geſichte, ge⸗ ſundem Teint, zuckerweißen Zaͤhnen und dem tadelloſen Be⸗ nehmen eines Gentleman. Man nannte ihn einen „klugen Kopf“. So nennt man in manchen Kreiſen eine beſondere Gattung von Menſchen, die auf fremde Koſten dick und fett ge: worden ſind, abſolut nichts tun, abſolut nichts tun wollen, und bei denen infolge der lebenslänglihen Traͤgheit und Nichts⸗
tuerei ſich das Herz in ein Stuͤck Fett verwandelt hat. Man kann aus ihrem Munde alle Augenblicke die Bemerkung. hören, ihre Untaͤtigkeit ſei die Folge irgendwelcher verwickelter feind⸗ licher Umſtaͤnde, die „ihr Genie laͤhmten“, und ſie boͤten daher „einen traurigen Anblick“. Das Ш nun einmal {о eine hoch: muͤtige Phraſe bei ihnen, ihr mot d'ordre, ihre Parole und Loſung, eine Phraſe, mit der dieſe feiſten Dickbaͤuche überall und fortwaͤhrend um ſich werfen, und man iſt deſſen als offenbarer Heuchelei und leeren Geredes laͤngſt uͤberdruͤſſig geworden. Manche dieſer komiſchen Käuze, die gar keine Beſchaͤftigung für ſich finden koͤnnen (uͤbrigens haben ſie niemals nach einer ſolchen geſucht), beabſichtigen geradezu alle zu dem Glauben zu bringen, daß ſie ſtatt des Herzens nicht etwa ein Stuͤck Fett, ſondern im
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Gegenteil, allgemein ausgedruckt, etwas „ſehr Tiefes“ haben, was aber eigentlich, daruͤber wuͤrde ſich ſelbſt der allererſte Chirurg in Schweigen huͤllen, allerdings aus Hoͤflichkeit. Das ganze Streben dieſer Herren in der Welt iſt darauf gerichtet, alles in grober Weiſe zu verſpotten und kurzſichtig zu verurteilen, und ſie bekunden dabei einen maßloſen Hochmut. Da ſie nichts
weiter zu tun haben als fremde Fehler und Schwaͤchen heraus—
zufinden und laut zu verkuͤnden, und da ſie genau ſoviel Gut⸗ herzigkeit beſitzen, wie davon der Auſter zuteil geworden iſt, ſo wird es ihnen nicht ſchwer, unter Anwendung der notwendigen Vor— ſichtsmaßregeln ohne Anſtoß in der Welt zu leben. Darauf ſind ſie außerordentlich ſtolz. Sie ſind zum Beiſpiel beinahe davon uͤberzeugt, daß nahezu die ganze Welt ihnen abgabenpflichtig iſt; daß alle Menſchen außer ihnen Dummloͤpfe find; daß jeder ihrer Mitmenſchen dazu da iſt, von ihnen wie eine Zitrone oder wie ein Schwamm nach Beduͤrfnis ausgepreßt zu werden; daß fie die Herren Über alles find, und daß dieſe ganze loͤbliche Ord⸗ nung der Dinge nur davon herruͤhrt, daß ſie ſelbſt eine ſolche Klugheit und einen fo feſten Charakter beſitzen. In ihrem maß⸗ loſen Stolze raͤumen ſie nicht ein, daß auch ſie Maͤngel haͤtten. Sie gleichen jener Sorte von Gaunern, den geborenen Tartuͤffs und Falſtaffs, die dermaßen zu Gaunern geworden ſind, daß fie ſchließlich ſich ſelbſt die Überzeugung zu eigen gemacht haben, es muͤſſe eben ſo ſein, das heißt, ſie muͤßten leben und Gaune⸗ reien ausführen; fie haben allen fo oft verſichert, fie feien ehr:
liiUche Leute, daß fie zuletzt ſelbſt zu dem Glauben gelangt find, fie
ſeien tatſaͤchlich ehrliche Leute und ihre Gaunerei ſei eine ehrliche Handlungsweiſe. Innerlich uͤber ſich ſelbſt Gericht zu halten und eine unbefangene Selbſtkritik zu uͤben, dahin bringen ſie es nie⸗ mals; fuͤr manche Dinge ſind ſie eben gar zu dick und fett. In
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erfter Linie ſteht bei ihnen immer und in jeder Hinficht ihre eigene koſtbare Perſoͤnlichkeit, ihr Moloch und Baal, ihr vor—
treffliches Ich. Die ganze Natur, die ganze Welt iſt fuͤr ſie nichts
anderes als ein einziger praͤchtiger Spiegel, der dazu geſchaffen iſt, daß unſer Goͤtze ſich ununterbrochen in ihm bewundern koͤnne, ohne außer ſich ſonſt jemand oder ſonſt etwas zu ſehen; unter ſolchen Umſtaͤnden iſt es nicht zu verwundern, daß ihm alles auf der Welt ſo haͤßlich vorkommt. Fuͤr alles hat er eine Phraſe in Bereitſchaft und (was bei ihnen der Gipfel der Geſchicklichkeit iſt) die allermodernſte Phraſe. Sie befoͤrdern ſogar ſelbſt dieſe Mode, indem ſie einen Gedanken, von dem ſie wittern, daß er Erfolg haben werde, ohne Beweis auf allen Gaſſen verbreiten. Sie beſitzen einen beſonderen Inſtinkt, um eine ſolche Mode— phraſe aufzuſpuͤren und fie ſich früher als andere Leute anzu: eignen, ſo daß der Anſchein erweckt wird, als ſtamme ſie von ihnen her. Namentlich verſorgen ſie ſich mit einem Vorrat von Phraſen, um ihre tiefſte Sympathie mit der Menſchheit zum Ausdruck zu bringen, und um klarzumachen, worin die korrekteſte von der Vernunft gebilligte Philanthropie beſtehe, und endlich, um unaufhoͤrlich auf die Romantik zu ſchelten, das heißt oft auf alles Schoͤne und Wahre, wovon jedes Atom wertvoller iſt als ihre ganze molluskenartige Sippſchaft. Aber mit ihren ſtumpfen Organen erkennen ſie die Wahrheit nicht in einer abweichenden, unfertigen Übergangsform und ſtoßen alles von ſich, was noch nicht ausgereift iſt, ſich noch nicht geklaͤrt hat und noch gaͤrt. So ein wohlgenaͤhrter Menſch hat ſein ganzes Leben in Freuden verbracht, alles in Huͤlle und Fuͤlle gehabt, ſelbſt nichts getan und weiß gar nicht, wie ſchwer die Verrichtung jeder Arbeit iſt;
und daher wehe dem, der irgendwie mit rauher Hand feine
fetten Gefuͤhle verletzt: das verzeiht er niemals; das traͤgt er
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dem Betreffenden immer nach und raͤcht ſich dafuͤr mit Genuß. Um alles zuſammenzufaſſen: ein ſolcher Held iſt nicht mehr und nicht weniger als ein rieſiger, zum Platzen aufgeblaſener Sack voll Sentenzen, Modephraſen und Schlagwoͤrtern aller Art.
Indeſſen hatte Herr M*** auch feine Beſonderheit und war ein beachtenswerter Menſch: er war witzig, verſtand ein Geſpraͤch geſchickt zu führen und erzählte intereſſant, und in den Salons ſammelte ſich immer um ihn ein Kreis von Zuhoͤrern. An jenem Abend gelang es ihm beſonders, Senſation zu erregen. Er be— herrſchte die Konverſation; er war gut disponiert, heiter, uͤber irgend etwas vergnuͤgt und zog die Blicke aller auf ſich. Aber Frau M* ** war die ganze Zeit über wie eine Kranke; ihr Фе: ſicht war ſo traurig, daß ich alle Augenblicke glaubte, es wuͤrden gleich wieder wie kurz vorher die Tränen an ihren langen Wim— pern zittern. Alles dies machte auf mich, wie ſchon geſagt, einen ſtarken Eindruck und verſetzte mich in das groͤßte Erſtaunen. Ich ging mit dem Gefuͤhle einer ſeltſamen Neugier fort und traͤumte die ganze Nacht von Herrn M***, während ich doch bisher nur ſelten haͤßliche Träume gehabt hatte.
Am andern Tage wurde ich fruͤh morgens zu einer Probe lebender Bilder gerufen, bei denen auch ich eine Rolle hatte. Lebende Bilder, eine Theaterauffuͤhrung und ein Ball, dieſe Vergnuͤgungen ſollten, alle an einem einzigen Abend, in kurzer Zeit, ſchon in fuͤnf Tagen, aus Anlaß eines haͤuslichen Feſtes ſtattfinden, naͤmlich des Geburtstages der juͤngſten Tochter unſeres Wirtes. Zu dieſem beinahe improviſierten Feſte waren aus Moskau und den umliegenden Landhaͤuſern noch etwa hundert Gaͤſte eingeladen, ſo daß es viel Geſchaͤftigkeit, Unruhe und Wirrwarr gab. Die Probe oder, richtiger geſagt, die Be— ſichtigung der Koſtuͤme war auf eine ungewoͤhnlich fruͤhe Stunde
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angeſetzt, weil unſer Regiſſeur, der namhafte Kuͤnſtler R***, ein |
Freund und бай unſeres Wirtes, der 14 aus Freundſchaft hatte bereit finden laffen, die Kompoſition und das Stellen der leben:
den Bilder und zugleich die Unterweiſung der Mitwirkenden zu
übernehmen, es jetzt eilig hatte, nach der Stadt zu fahren, um die erforderlichen Requiſiten einzukaufen und die definitiven Vorbereitungen zu dem Feſte zu treffen, ſo daß keine Zeit zu
verlieren war. Ich war bei einem Bilde mit Frau M*** zus
ſammen beteiligt. Das Bild ſtellte eine Szene aus dem Leben des Mittelalters vor und hieß: „Die Burgherrin und ihr Page.“
Ich war unſaͤglich befangen, als ich mit Frau M*** bei der Probe zuſammenkam. Es kam mir ſo vor, als werde ſie ſofort aus meinen Augen alle die Gedanken, Zweifel und Vermutun⸗ gen leſen, die ſich ſeit dem vorhergehenden Tage in meinem Kopfe gebildet hatten. Außerdem hatte ich immer die Emp⸗ findung, als hätte ich mir ihr gegenüber dadurch etwas zu: ſchulden kommen laſſen, daß ich ſie tags zuvor in Traͤnen ge— troffen und ſie in ihrem Kummer geſtoͤrt hatte; ich meinte, ſie muͤſſe mich als einen unerwuͤnſchten Zeugen und ungebetenen Mitwiſſer ihres Geheimniſſes unwillkuͤrlich mit feindlichen Blicken betrachten. Aber Gott ſei Dank, die Sache ging ohne groͤßere Schwierigkeiten ab; ſie beachtete mich einfach gar nicht. Sie ſchien uͤberhaupt mit ihren Gedanken weder bei mir noch bei der Probe zu ſein: ſie war zerſtreut, traurig und in ein truͤbes Nachdenken verſunken; es war augenſcheinlich, daß eine große Sorge fie quälte. Als ich mit meiner Rolle fertig war, lief ich weg, um mich umzukleiden, und trat zehn Minuten darauf auf die Terraſſe hinaus, die nach dem Garten zu lag. Faſt gleiche zeitig trat aus einer andern Tür auch Frau M*** hinaus, und uns gegenuͤber erſchien gerade ihr ſelbſtgefaͤlliger Gatte, der aus
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dem Garten zuruͤckkehrte, nachdem er ſoeben einen ganzen Schwarm von Damen dorthin begleitet und ſie dort der Obhut eines gewandten cavalier servant übergeben hatte. Das Зи: ſammentreffen von Mann und Frau war offenbar ein un— erwartetes. Frau M*** wurde aus einem mir unbekannten Grunde auf einmal verlegen, und in ihren haſtigen Bewe⸗ gungen kam ein leichter Arger zum Ausdruck. Der Gatte, der ſorglos eine Arie gepfiffen und auf dem ganzen Wege mit tief— ſinniger Miene ſeinem Backenbarte eine ſchoͤnere Form ver— liehen hatte, machte jetzt, bei der Begegnung mit ſeiner Frau, ein finſteres Geſicht und ſah ſie, wie ich mich jetzt erinnere, mit einem entſchieden inquiſitoriſchen Blicke an.
„Sie gehen in den Garten?“ fragte er, als er den Sonnen⸗ ſchirm und das Buch in den Haͤnden ſeiner Frau bemerkte.
„Nein, in das Waͤldchen,“ antwortete ſie und erroͤtete ein wenig. | |
„Alle in?“ |
„Mit ihm... erwiderte Frau M***, auf mich zeigend. „Ich pflege morgens allein ſpazieren zu gehen,“ fuͤgte ſie mit un⸗ ſicherer Stimme hinzu, ſo wie wenn jemand zum erſtenmal in ſeinem Leben luͤgt.
„Hm. . . Ich meinerſeits habe ſoeben eine ganze Geſellſchaft dorthin begleitet. Es verſammeln ſich da alle bei der Blumen— laube, um Herrn N***oi das Geleit zu geben. Er reift ab, wie Sie willen... Es iſt da bei ihm ein Malheur paſſiert, in Odeſſa ... Ihre Kuſine“ (er ſprach von der Blondine) „lacht und weint beinah, alles zugleich; man wird nicht aus ihr klug. Sie hat mir uͤbrigens geſagt, Sie ſeien aus irgendwelchem Grunde über Herrn N***oi aufgebracht und wollten ihm darum nicht das Geleit geben. Es iſt doch gewiß Unſinn?“
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„Sie macht ſich luſtig,“ antwortete Frau M*** und ſtieg die Stufen der Terraſſe hinab.
„Alſo das iſt Ihr cavalier servant?“ fügte Herr M*** hinzu, indem er den Mund ſchief zog und ſeine Lorgnette auf mich richtete.
„Page!“ rief ich, ärgerlich über die Lorgnette und den ſpoͤtti— ſchen Ton, und ihm gerade ins Geſicht lachend, ſprang ich mit einem Satze die drei Stufen der Terraſſe hinunter.
„Viel Vergnügen!” brummte Herr M*** und ging feines Weges weiter.
Natürlich war ich ſofort zu Frau M*** hingetreten, als fie im Geſpraͤch mit ihrem Manne auf mich zeigte, und hatte ſo getan, als ob ſie mich ſchon eine ganze Stunde vorher aufgefordert haͤtte, und als ob ich ſchon einen ganzen Monat lang mit ihr morgens ſpazieren gegangen waͤre. Aber ich konnte gar nicht daraus klug werden: warum war ſie in ſolche Verwirrung ge— raten, ſo verlegen geworden, und in welcher Abſicht hatte ſie ſich entſchloſſen, zu dieſer kleinen Luͤge zu greifen? Warum hatte ſie nicht einfach geſagt, daß ſie allein gehe? Jetzt wußte ich nicht, wie ich ſie anſehen ſollte; aber in meiner Verwunderung fing ich doch allmaͤhlich hoͤchſt naiv an, ihr ins Geſicht zu ſehen; indes bemerkte ſie ebenſo wie eine Stunde vorher bei der Probe weder meine heimlich forſchenden Blicke noch meine ſtummen Fragen. Auf ihrem Geſichte, in ihrer Erregung, in ihrem Gange praͤgte ſich immer noch ebendieſelbe quälende Sorge aus, nur noch deut— licher, noch ſtaͤrker als damals. Sie hatte es eilig, irgendwohin zu kommen, beſchleunigte ihren Schritt immer mehr und blickte, ſich am Rande des Gartens haltend, in jede Allee, in jede Schneiſe des Waͤldchens hinein. Auch ich erwartete etwas. Auf einmal erſcholl hinter uns Pferdegetrappel. Es war eine ganze
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Kavalkade von Reitern und Reiterinnen, die jenem Herrn N** Koi das Geleite gaben, der unſere Geſellſchaft fo plößlich verließ.
Unter den Damen befand ſich auch meine Blondine, von der Herr M* geſprochen hatte, indem er von ihren Traͤnen er: zählte. Aber nach ihrer Gewohnheit lachte fie wie ein Kind und ſprengte raſch auf einem ſchoͤnen Braunen einher. Als ſie uns eingeholt hatten, nahm Herr N***oi den Hut ab, hielt aber nicht an und ſagte zu Frau M*** kein Wort. Bald war der ganze Schwarm unſeren Blicken entſchwunden. Ich ſah Frau M*** an und haͤtte beinah laut aufgeſchrien vor Erſtaunen: ſie ſtand da, blaß wie Leinwand, und große Traͤnen drangen aus ihren Augen. Zufällig begegneten ſich unſere Blicke: Frau M*** erroͤtete ploͤtzlich, wandte ſich einen Augenblick ab, und ein deut— licher Ausdruck von Beunruhigung und Verdruß huſchte uͤber ihr Geſicht. Ich war hier uͤberfluͤſſig, in noch hoͤherem Grade als tags zuvor; das war ſonnenklar, aber wo ſollte ich hin?
Auf einmal ſchlug Frau M***, wie wenn fie meinen Wunſch erraten haͤtte, das Buch auf, das ſie in der Hand trug; und indem ſie erroͤtete und ſich offenbar Muͤhe gab, mich nicht anzuſehen, ſagte ſie, wie wenn ſie deſſen eben erſt inne wuͤrde:
„Ach! Das iſt der zweite Band; ich habe mich vergriffen; bitte, hole mir doch den erſten!“
Wie haͤtte ich das nicht verſtehen ſollen! Meine Rolle war zu Ende, und es war nicht moͤglich, mich auf einfachere Weiſe fort— zujagen.
Ich lief mit ihrem Buche fort und kehrte nicht wieder zuruͤck. Der erſte Band blieb an dieſem Morgen ruhig auf dem Tiſche liegen.
Aber ich war ganz verſtoͤrt; das Herz klopfte mir heftig wie in beſtaͤndiger Angſt. Ich vermied es aus aller Macht, mit Frau
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M*“ irgendwie zuſammenzutreffen. Dafür betrachtete ich mit ſcheuer Neugier die ſelbſtgefaͤllige Perſon des Herrn M*“, als ob an ihm jetzt unbedingt etwas Beſonderes zu ſehen ſein muͤſſe. Ich begreife abſolut nicht, welchen Grund dieſe komiſche Neugier hatte; ich erinnere mich nur, daß ich in einem fonder: baren Erſtaunen uͤber all das befangen war, was ich an dieſem Morgen zu ſehen bekam. Aber dieſer Tag hatte eben erſt be⸗ gonnen und war fuͤr mich uͤberreich an Erlebniſſen. |
Das Mittageſſen fand diesmal ſehr früh ftatt. Für den Abend N war eine gemeinſame Vergnuͤgungspartie nach einem benach⸗ barten Dorfe geplant, zu einem laͤndlichen Feſte, das dort де: rade begangen wurde, und daher mußte nach dem Mittageſſen noch Zeit bleiben, um alles dazu vorzubereiten. Ich hatte mir ſchon ſeit drei Tagen von dieſer Partie etwas vorphantaſiert, von der ich mir außerordentlich viel Vergnuͤgen verſprach. Zum Kaffeetrinken verſammelten ſich faſt alle auf der Terraſſe. Ich ſchlich vorſichtig hinter den andern her und verbarg mich hinter der dreifachen Reihe von Lehnſtuͤhlen. Es zog mich die Neugier hin, und doch wollte ich um keinen Preis Frau M*** unter die Augen kommen. Aber der Zufall wollte, daß ich nicht weit von meiner Verfolgerin, der Blondine, zu ſitzen kam. Diesmal war mit ihr ein Wunder geſchehen, etwas Unmoͤgliches hatte ſich ereignet: ſie war noch einmal ſo ſchoͤn geworden wie ſonſt. Ich | weiß nicht, wie das geſchieht, und woher es kommt; aber mit Frauen begeben ſich ſolche Wunder gar nicht fo ſelten. Es Бе: fand ſich in jenem Augenblicke ein neuer Gaſt unter uns, ein hochgewachſener junger Mann mit blaſſem Geſichte, ein aus: geſprochener Verehrer unſerer Blondine; er war ſoeben erſt aus Moskau zu uns gekommen, gleichſam expreß um den ab— reiſenden Herrn N* oi zu erſetzen, über den das Gerücht ging,
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daß er in unſere Schoͤne ſterblich verliebt ſei. Was den An— koͤmmling anlangt, ſo ſtand er ſchon lange mit ihr in denſelben Beziehungen wie Benedikt mit Beatrice in Shakeſpeares „Viel Laͤrm um nichts“. Kurz, unſere Schoͤne feierte an dieſem Tage einen großartigen Triumph. Ihre Scherze und ihr Geplauder waren fo anmutig, von einer ſolchen zutraulichen Naivität, von einer ſolchen verzeihlichen Unvorſichtigkeit, und ſie war mit einer ſo anmutigen Zuverſicht davon uͤberzeugt, der Gegenſtand des allgemeinen Entzuͤckens zu ſein, daß ihr tatſaͤchlich die ganze Zeit uͤber eine Art von beſonderer Verehrung dargebracht wurde. Um ſie herum draͤngte ſich ununterbrochen ein dichter Kreis er— ſtaunter, bewundernder Zuhoͤrer, und noch nie war ſie ſo reizend geweſen. Jedes Wort von ihr war verfuͤhreriſch und intereſſant, wurde begierig aufgenommen und in die Runde weitergegeben, und kein einziger ihrer Scherze, keine einzige ihrer mutwilligen Außerungen fiel ins Waſſer. Niemand hatte, wie es ſchien, von ihr ſoviel Geſchmack, Witz und Geiſt erwartet. Alle ihre guten Eigenſchaften lagen für gewoͤhnlich in dem ausgelaſſenſten Ци: ſinn, in dem eigenſinnigſten Übermute vergraben, der beinah bis zur Poſſenreißerei ging; ſelten bemerkte jemand dieſe guten Eigenſchaften, und wenn er ſie bemerkte, ſo glaubte er nicht an ſie, ſo daß jetzt ihr ungewoͤhnlicher Erfolg mit einem allgemeinen begeiſterten Fluͤſtern aufgenommen wurde.
Übrigens wirkte zu dieſem Erfolge noch ein Umſtand mit, ein ziemlich heikler Umſtand, heikel wenigſtens im Hinblick auf die Rolle, die dabei Frau M' Mann ſpielte. Die ſchelmiſche Blondine hatte beſchloſſen (und ich muß hinzufuͤgen: faſt zum allgemeinen Vergnuͤgen, oder wenigſtens zum Vergnuͤgen des geſamten jungen Volkes), eine grimmige Attacke auf ihn aus— zufuͤhren; ſie hatte dazu eine ganze Menge Gruͤnde, die in ihren
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Augen wahrſcheinlich ſehr gewichtig waren. Sie vollfuͤhrte gegen ihn ein ordentliches Schnellfeuer von Witzen, Spoͤttereien und Sarkasmen, und zwar war das Charakteriſtiſche dieſer Angriffe nicht nur ihre unwiderſtehliche Heftigkeit, ſondern auch ihre Ge— wandtheit, Hinterliſt und ſchlangenartige Glaͤtte; ſie gehoͤrten eben zur Gattung derjenigen Angriffe, die direkt ihr Ziel treffen, aber von keiner Seite dem Angegriffenen die Möglichkeit bieten, einzuhaken und ſich zu verteidigen; das arme Opfer erſchoͤpft nur ſeine Kraͤfte in nutzloſen Anſtrengungen und wird zur Raſe— rei und zur komiſchſten Verzweiflung gebracht.
Ich weiß es nicht mit Sicherheit, glaube es aber, daß dieſer extravagante Streich vorher uͤberlegt und nicht etwa improviſiert war. Schon beim Mittageſſen hatte dieſes hartnaͤckige Duell Бе: gonnen. Ich ſage „hartnaͤckig“, weil Herr M*** nicht jo bald die Waffen ſtreckte. Er mußte ſeine ganze Geiſtesgegenwart, ſeinen ganzen Witz, ſeine ganze ſeltene Schlagfertigkeit zuſammen— nehmen, um nicht voͤllig aufs Haupt geſchlagen zu werden und ſich nicht mit Schimpf und Schande zu bedecken. Die Sache ging unter ununterbrochenem, unhemmbarem Gelaͤchter aller Zeugen und Teilnehmer des Kampfes vor ſich. Jedenfalls befand ſich Herr M* ** an dieſem Tage in einer ganz anderen Situation als am vorhergehenden. Man konnte merken, daß Frau M*** mehrere Male den Verſuch machte, ihre unbeſonnene Freundin zuruͤckzuhalten, die ihrerſeits dem eiferſuͤchtigen Gatten durchaus eine Schellenkappe aufſetzen, ihn als Blaubart koſtuͤmieren wollte. So faſſe ich es wenigſtens auf nach dem, was mir da— von im Gedaͤchtnis geblieben iſt, und nach der Rolle, die mir ſelbſt in dieſer Affaͤre zu ſpielen beſchieden war.
Dies geſchah ploͤtzlich, auf die laͤcherlichſte Weiſe und ganz unerwartet; es traf ſich gerade, daß ich in dieſem Augenblicke
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frei ſichtbar daſtand, ohne etwas Schlimmes zu argwoͤhnen; ich hatte ſogar die Vorſichtsmaßregeln von vorhin ganz vergeſſen. Auf einmal wurde ich ganz in den Vordergrund geruͤckt durch
die Behauptung, ich ſei Herrn M's geſchworener Feind und | natürlicher Nebenbuhler; ich fei in feine Frau ganz raſend ver: liebt, bis über die Ohren. Und das verſicherte meine Tyrannin mit ihrem Worte und beſchwor es und ſagte, fie habe dafuͤr Be— weiſe und habe zum Beiſpiel erſt heute im Walde geſehen, daß i
Aber ich ließ ſie den Satz nicht zu Ende ſprechen, ſondern unterbrach ſie in dieſem fuͤr mich ſo entſetzlichen Augenblicke. Dieſer Streich war mit ſo ſchaͤndlicher Berechnung ausgeſonnen, ſo verraͤteriſch gerade fuͤr das Ende, fuͤr einen ſpaßhaften Ab— ſchluß vorbereitet und in einer ſo humoriſtiſchen, komiſchen Weiſe ins Werk geſetzt, daß eine ganze Salve allgemeinen, unhemm— baren Gelächters dieſen letzten tollen Angriff begrüßte. Und obwohl ich gleich damals ahnte, daß nicht ich derjenige war, dem die aͤrgerlichſte Rolle dabei zugefallen war, ſo war ich doch der— maßen verwirrt, gereizt und erſchrocken, daß ich mit weinenden Augen, voll Schmerz und Verzweiflung und faſt erſtickend vor Scham durch zwei Reihen von Stuͤhlen hindurchdrang, vortrat und, zu meiner Tyrannin gewendet, mit einer Stimme, die mir vor Traͤnen und Entruͤſtung faſt verſagte, ausrief:
„Schaͤmen Sie ſich denn nicht... laut... vor den Ohren aller Damen ... eine fo haͤßliche Unwahrheit zu ſagen!? ... Wie ein kleines Mädchen... vor den Ohren aller Maͤnner ... Was werden die davon denken? ... Und Sie find doch ſchon ers wachſen .. . und verheiratet! ...“
Aber ich konnte nicht zu Ende ſprechen; denn es erſcholl ein betaͤubendes Beifallklatſchen. Mein mutiges Auftreten rief LXXV. 8
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einen wahren Sturm der Begeiſterung hervor. Meine naiven Gebaͤrden, meine Traͤnen und namentlich der Umſtand, daß ich gewiſſermaßen als Herrn M***8 Beſchuͤtzer auftrat, alles dies erzeugte ein ſo gewaltiges, herzliches Gelaͤchter, daß mir ſogar jetzt bei der bloßen Erinnerung furchtbar laͤcherlich zumute wird. Ich war außer mir, faſt von Sinnen vor Erregung; und mit brennendem Kopfe, das Geſicht in den Haͤnden verbergend, ſtuͤrzte ich hinaus, ſtieß in der Tuͤr einen hereinkommenden Diener ſo an, daß er ſein Praͤſentierbrett fallen ließ, und lief nach oben, nach meinem Zimmer. Ich riß den Schluͤſſel, der von außen in der Tuͤr ſteckte, heraus und ſchloß von innen zu. Daran hatte ich recht getan; denn ich wurde verfolgt. Es war noch keine Minute vergangen, als ein ganzer Schwarm unſerer huͤbſcheſten Damen meine Tuͤr belagerte. Ich hoͤrte ihr helles Lachen, ihr munteres Reden, ihre wohlklingenden Stimmen; ſie zwitſcherten alle zuſammen wie die Schwalben. Alleſamt baten ſie mich und flehten ſie mich an, ich moͤchte doch wenigſtens fuͤr eine Minute die Tuͤr aufmachen; ſie ſchworen, es werde mir nicht das geringſte Üble widerfahren; fie wollten mich nur tot— kuͤſſen. Aber was konnte es noch Schrecklicheres geben als dieſe neue Drohung? Ich gluͤhte vor Scham hinter meiner Tür, ver: barg das Geſicht im Kopfkiſſen und ſchloß nicht auf; ja, ich ant— wortete nicht einmal. Sie klopften noch lange und baten mich; aber ich war gefuͤhllos und taub, wie es ein Elfjaͤhriger nur ſein kann.
Aber was ſollte ich jetzt tun? Alles war aufgedeckt, alles ent— huͤllt, mein ganzes Geheimnis, das ich ſo eiferſuͤchtig gehuͤtet und verborgen hatte! Ich war fuͤr mein ganzes Leben mit Schimpf und Schande bedeckt! In Wahrheit war ich ſelbſt nicht imſtande, dasjenige zu benennen, worum ich ſo gebangt hatte
Ein kleiner Held 35
und was ich ſo gern geheim gehalten hätte; aber doch hatte ich um etwas gebangt und vor der Enthuͤllung dieſes „Etwas“ wie Eſpenlaub gezittert. Nur eins hatte ich bis auf dieſen Augenblick nicht gewußt: wie beſchaffen dieſes Etwas ſei, ob ſchicklich oder unſchicklich, ruͤhmlich oder ſchimpflich, loͤblich oder tadelnswert. Jetzt aber, in meiner Qual und in meinem ſchrecklichen Leide, erkannte ich, daß es laͤcherlich und ſchimpflich war! Inſtinktiv fuͤhlte ich gleichzeitig, daß dieſes Verdikt unrichtig und unmenſch— lich und roh war; aber ich war zerſchlagen und vernichtet; der Denkprozeß war in meinem Innern gewiſſermaßen in Ver— wirrung geraten und ins Stocken gekommen; ich war nicht im— ſtande, mich gegen dieſes Verdikt aufzulehnen oder auch nur eine ordentliche Kritik an ihm zu uͤben: mein Geiſt war wie in einen Nebel gehuͤllt; ich empfand nur, daß mein Herz in un— menſchlicher, ſchamloſer Weiſe verletzt worden war, und vergoß ohnmaͤchtige Traͤnen. Ich befand mich in heftiger Erregung; in mir kochten Empoͤrung und ein Haß, wie ich ihn bis dahin niemals gekannt hatte, weil ich jetzt zum erſtenmal in meinem Leben ernſtes Leid, tiefe Kraͤnkung und Beleidigung erfahren hatte; und alles dies war tatſaͤchlich fo, ohne alle Übertreibungen. In mir, dem Kinde, war das erſte, noch unerfahrene, erſt keimende Gefuͤhl mit rauher Hand beruͤhrt, das erſte duftige, wirkliche Schamgefuͤhl ſo fruͤh entbloͤßt und beſchimpft und das erſte, viel— leicht ſehr ernſte aͤſthetiſche Empfinden verlacht worden. Aller: dings kannten und ahnten diejenigen, die mich verſpottet hatten, vieles von meinen Qualen nicht. Zur Haͤlfte wirkte dabei auch ein verborgener Umſtand mit, den ich bisher noch nicht hatte klarlegen koͤnnen; ja, ich fuͤrchtete mich gewiſſermaßen, dies zu tun. In Kummer und Verzweiflung blieb ich auf meinem Bette liegen und verbarg mein Geſicht in den Kiſſen; Hitze und Froſt—
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Schauer überliefen mich abwechſelnd. Zwei Fragen waren es, die mich quaͤlten: was hatte die nichtswuͤrdige Blondine heute im Waͤldchen zwiſchen mir und Frau M*** vorgehen ſehen, und was konnte ſie uͤberhaupt geſehen haben? Und dann die zweite Frage: wie und mit welchen Augen und durch welches Mittel konnte ich jetzt Frau M “*** ins Geſicht ſehen, ohne in demſelben Augenblicke auf dem Fleck vor Scham und Verzweiflung zu vergehen? | Ein ungewöhnlicher Lärm auf dem Hofe weckte mich ſchließ— lich aus der halben Bewußtloſigkeit, in der ich mich befand. Ich ſtand auf und trat an das Fenſter. Der ganze Hof war gedraͤngt voll von Equipagen, Reitpferden und geſchaͤftigen Dienern. Es ſchien, daß alle im Aufbruch begriffen waren; mehrere Reiter ſaßen ſchon auf ihren Pferden; andere Gaͤſte nahmen in den Equipagen Platz. Da fiel mir der bevorſtehende Ausflug ein, und allmaͤhlich fuͤllte ſich mein Herz mit einer ſtarken Unruhe; ich hielt auf dem Hofe eifrig Ausſchau nach meinem Pferd— chen; aber dieſes war nicht da; man hatte mich alſo vergeſſen. Ich konnte mich nicht laͤnger beherrſchen und lief Hals uͤber Kopf nach unten, ohne an die Moͤglichkeit unangenehmer Begegnungen oder an die mir ſoeben angetane Schmach zu denken. | Eine ſchreckliche Kunde erwartete mich. Es war diesmal für mich weder ein Reitpferd noch ein Platz in einem Wagen vor handen: alles war vergriffen und mit Beſchlag belegt, und ich mußte hinter anderen zuruͤckſtehen. Bekuͤmmert uͤber dieſes neue Ungluͤck blieb ich auf den Stufen vor der Haustuͤr ſtehen und blickte traurig auf die lange Reihe von Kutſchen, Kabrioletts und Kaleſchwagen hin, in denen fuͤr mich nicht das kleinſte Plaͤtzchen vorhanden war, und auf die дез
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putzten Reiterinnen, unter denen die ungeduldigen Pferde von einem Beine auf das andere traten.
Einer der Reiter verſpaͤtete ſich aus irgendwelchem Grunde. Man wartete nur auf ihn, um aufzubrechen. An der Auffahrt ſtand ſein Pferd, nagte am Gebiß, zerwuͤhlte mit den Hufen die
Erde, zuckte alle Augenblicke ſchreckhaft zuſammen und baͤumte ſich. Zwei Stallknechte hielten es vorſichtig am Zuͤgel, und alle hielten ſich aͤngſtlich in reſpektvoller Entfernung von ihm.
Es hatte in der Tat ein recht unangenehmer Vorfall ſtatt— gefunden, infolgedeſſen ich an der Partie nicht teilnehmen konnte. Abgeſehen davon, daß neue Gaͤſte eingetroffen waren und alle Wagenplaͤtze und Pferde beſchlagnahmt hatten, waren auch noch zwei Reitpferde erkrankt, von denen eines mein Pferd— chen war. Aber ich war nicht der einzige, der durch dieſen Vor— fall zu leiden hatte: es hatte ſich herausgeſtellt, daß fuͤr unſern neuen Gaſt, jenen blaſſen jungen Mann, von dem ich ſchon ge— ſprochen habe, ebenfalls kein Reitpferd da war. Um aus der unangenehmen Lage herauszukommen, hatte ſich unſer Wirt genoͤtigt geſehen, zum letzten Mittel ſeine Zuflucht zu nehmen, naͤmlich ſeinen wilden, nicht zugerittenen Hengſt zur Verfuͤgung zu ſtellen; allerdings hatte er, um fein Gewiſſen nicht zu bes ſchweren, hinzugefuͤgt, es ſei unmoͤglich, auf dem Tiere zu reiten, und er habe es ſchon laͤngſt wegen ſeiner Wildheit ver— kaufen wollen, wenn ſich nur ein Käufer dafür gefunden hätte. Aber der Gaſt hatte dieſer Warnung gegenuͤber erklaͤrt, er ſei ein tuͤchtiger Reiter und jedenfalls bereit, ſich auf jedes beliebige Pferd zu ſetzen, um nur mitzureiten. Der Wirt hatte darauf ge— ſchwiegen ; jetzt aber kam es mir fo vor, als ſpiele ein zweideutiges, ſchlaues Lächeln um feine Lippen. In Erwartung des Reiters, der ſich ſeiner Kunſt geruͤhmt hatte, hatte er ſelbſt ſein Pferd
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noch nicht beſtiegen, rieb ſich ungeduldig die Haͤnde und blickte alle Augenblicke nach der Tuͤr hin. Etwas Ahnliches hatte ſich ſogar den beiden Stallknechten mitgeteilt, die den Hengſt hielten und ſich vor Stolz kaum zu laſſen wußten, da das ganze Publi- kum ſie bei einem Pferde ſah, das jeden Augenblick ohne weiteres einen Menſchen zu Tode bringen konnte. Etwas dem ſchlauen Laͤcheln ihres Herrn Ahnliches ſpiegelte ſich auch in ihren Augen wider, die fie vor geſpannter Erwartung weit aufgeriſſen hatten und ebenfalls auf die Tuͤr gerichtet hielten, durch die der kuͤhne Gaſt erſcheinen mußte. Ja, auch das Pferd benahm ſich ſo, als haͤtte es ſich gleichfalls mit dem Wirte und den Knechten ver— abredet: es betrug ſich ſtolz und hochmuͤtig, als fuͤhle es, daß ein paar Dutzend neugieriger Augen es beobachteten, und als bruͤſte es ſich vor allen Leuten mit ſeinem ſchlechten Rufe, gerade wie mancher unverbeſſerliche Galgenſtrick mit ſeinen uͤblen Streichen prahlt. Der Hengſt ſchien den Wagehals herauszufordern, der fo dreiſt wäre, ein Attentat auf feine Freiheit zu unternehmen.
Endlich erſchien dieſer Wagehals. Sich ſchaͤmend, daß er auf ſich hatte warten laſſen, und ſich eilig die Handſchuhe anziehend, ſchritt er, ohne nach etwas hinzublicken, vorwaͤrts, ſtieg die Stufen vor der Haustuͤr hinab und hob die Augen erſt dann in die Hoͤhe, als er die Hand ausſtrecken wollte, um das ungeduldig wartende Pferd am Riſt zu faſſen, wurde aber ploͤtzlich durch deſſen wuͤtendes Aufbaͤumen und einen warnenden Zuruf der ganzen erſchrockenen Zuſchauerſchaft in Beſtuͤrzung verſetzt. Der junge Mann trat zuruͤck und blickte befremdet das wilde Pferd an, das am ganzen Leibe wie Eſpenlaub zitterte, vor Grimm ſchnaubte, mit den blutunterlaufenen Augen wild um ſich ſah und ſich alle Augenblicke auf die Hinterbeine ſtellte und die Vorderbeine in die Hoͤhe hob, wie wenn es ſich anſchickte, in die
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Luft hinaufzuſtuͤrmen und die beiden haltenden Stallknechte mit ſich fortzufuͤhren. Eine kleine Weile ſtand der junge Mann ganz betroffen da; dann erroͤtete er in leiſer Verwirrung ein wenig, hob die Augen auf, ſchaute rings um ſich und betrachtete die er— ſchrockenen Damen.
„Ein ſehr gutes Pferd!“ ſagte er, wie wenn er zu ſich ſelbſt ſpraͤche; „und meiner Anſicht nach muß es ſehr angenehm ſein, auf ihm zu reiten; aber ... aber wiſſen Sie was? Ich für meine Perſon werde nicht mitreiten,“ ſchloß er, zu unſerm Wirte ge: wendet, mit ſeinem breiten, gutmuͤtigen Laͤcheln, das ſeinem guten, klugen Geſichte ſo gut ſtand.
„Und ich halte Sie dennoch fuͤr einen vorzuͤglichen Reiter; das ſchwoͤre ich Ihnen,“ antwortete der erfreute Beſitzer des unnahbaren Pferdes und druͤckte ſeinem Gaſte warm und ſogar ordentlich dankbar die Hand; „dafür halte ich Sie gerade des— wegen, weil Sie gleich von vornherein gemerkt haben, mit was fuͤr einer Beſtie Sie da zu tun haben,“ fuͤgte er mit wuͤrdevollem Ernſte hinzu. „Werden Sie es mir glauben: ich bin dreiund— zwanzig Jahre Huſar geweſen und habe ſchon dreimal durch die Gnade dieſes Rackers das Vergnuͤgen gehabt, auf der Erde zu liegen, das heißt, gerade ſo oft, wie ich ihn beſtiegen habe, dieſen unnuͤtzen Freſſer ... Tankred, mein Freund, wir taugen hier alle nicht fuͤr dich; der Reiter, der dich zu baͤndigen vermag, iſt offenbar noch nicht geboren. Na, dann fuͤhrt ihn wieder weg! Er hat hier die Menſchen genug erſchreckt! Es iſt zwecklos ge— weſen, daß ihr ihn hergefuͤhrt habt,“ ſchloß er und rieb ſich dabei wohlgefaͤllig die Haͤnde.
Ich muß dabei bemerken, daß Tankred ihm nicht den gering— ſten Nutzen brachte, ſondern nur, ohne etwas zu leiſten, ſein Futter fraß; außerdem hatte der alte Huſar durch ihn ſein ganzes
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früheres Renommee als Remonteoffizier eingebuͤßt, da er einen fabelhaften Preis für einen nutzloſen Freſſer bezahlt hatte, der nur durch ſeine Schoͤnheit imponierte. Aber doch war unſer Wirt jetzt darüber entzüdt, daß fein Tankred feiner Würde nichts ver⸗ geben, ſondern wieder einmal einen Reiter abgeſchreckt und ſich dadurch neue Lorbeeren, wenn auch von ſinnloſer Art, erworben hatte. |
„Wie? Sie reiten nicht mit?“ rief die Blondine, die diesmal ihren cavalier servant unbedingt bei ſich haben wollte. „Haben Sie wirklich Furcht?“
„Ja, die habe ich wahrhaftig!“ antwortete der junge Mann.
„Sagen Sie das im Ernſt?“
„Hoͤren Sie, wuͤnſchen Sie wirklich, daß ich mir den Hals breche?“
„Dann ſetzen Sie ſich ſchnell auf mein Pferd: ſeien Sie un⸗ beſorgt, es iſt ſehr fromm. Wir werden keinen Aufenthalt ver⸗ urſachen; die Sättel laffen ſich in einem Augenblicke vertauſchen! Ich will verſuchen, Ihr Pferd zu nehmen; Tankred wird doch gewiß nicht immer ſo unhoͤflich ſein.“
Geſagt, getan! Der Tollkopf ſprang aus dem Sattel und ſtand bei Beendigung des letzten Satzes ſchon vor uns.
„Da kennen Sie aber Tankred ſchlecht, wenn Sie glauben, er werde ſich Ihren unbequemen Sattel auflegen laſſen! Und ich
werde auch nicht dulden, daß Sie ſich den Hals brechen; das waͤre
doch wirklich ſchade!“ ſagte unſer Wirt, indem er in dieſem Augenblicke innerer Befriedigung ſeiner ſteten Gewohnheit ge— maͤß die auch ohnedies ſchon affektierte und gekuͤnſtelte Derb— heit, ja Grobheit ſeiner Ausdrucksweiſe gefliſſentlich noch mehr ſteigerte, was ihn ſeiner Meinung nach als einen guten Kerl und alten Militaͤr erſcheinen ließ und namentlich den Damen
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gefallen mußte. Es war dies eine fixe Idee von ihm, fein uns allen wohlbekanntes Steckenpferd.
„Nun, und du, du weinerliches Juͤngelchen, willſt du es nicht probieren? Du hatteſt ja ſo große Luſt mitzureiten,“ ſagte die mutige Reiterin, als ſie mich bemerkte, und deutete ſpoͤttiſch mit einer Kopfbewegung auf Tankred hin. Sie ſagte das eigentlich nur, um nicht ganz unverrichteter Sache fortgehen zu muͤſſen, da ſie ſchon vergeblich vom Pferde geſtiegen war, und um mich nicht ohne ein ſpitzes Wort davonzulaſſen, da ich ſelbſt die Ци: achtſamkeit begangen hatte, ihr wieder vor Augen zu kommen.
„Du biſt gewiß nicht fo einer wie... nun, was bedarf es da noch der Worte, du biſt ja als Held bekannt und wirſt dich ſchaͤ— men, dich feige zu zeigen, beſonders wenn alle nach dir hinſehen, du ſchoͤner Page,“ fuͤgte ſie mit einem ſchnellen Seitenblick nach Frau M*** hinzu, deren Equipage am naͤchſten an der Haus— tuͤr ſtand.
Haß und Rachſucht hatten mein Herz geſchwellt, als die ſchoͤne Amazone mit der Abſicht, ſich auf Tankred zu ſetzen, zu uns ge— treten war. Aber ich vermag nicht zu ſchildern, was ich bei dieſer unerwarteten Herausforderung der mutwilligen Dame emp— fand. Es wurde mir ordentlich dunkel vor den Augen, als ich den Blick auffing, den fie auf Frau M*** richtete. In einem Augen: blicke flammte in meinem Kopfe eine Idee auf... ja, es war nur ein Augenblick, noch weniger als ein Augenblick, wie ein Aufblitzen von Schießpulver. Entweder war das Maß uͤbervoll geworden, und ich empoͤrte mich nun ploͤtzlich mit meinem ganzen wiedererwachten Mute, und zwar ſo, daß ich auf einmal Luſt bekam, alle meine Feinde ſchamrot zu machen und mich an ihnen fuͤr alles und vor aller Augen zu raͤchen, indem ich jetzt zeigte, was ich fuͤr ein Menſch ſei; oder aber es unterrichtete mich
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durch eine Art von Wunder jemand in dieſem Augenblicke in der Geſchichte des Mittelalters, von der ich bis dahin noch keine Ahnung gehabt hatte, und in meinem von Schwindel ergriffenen Kopfe blitzten allerlei romantiſche Vorſtellungen auf: Turniere, Paladine, Helden, ſchoͤne Damen, Schwerterklirren, Beifalls— rufen und -klatſchen der Menge, und zwiſchen all dieſem Laͤrm ein ſchuͤchterner Aufſchrei eines angſtvollen Herzens, der dem ſtolzen Geiſte ſuͤßer und teurer iſt als Sieg und Ruhm — ich weiß nicht mehr, ob all dieſer Unſinn damals wirklich in meinem Kopfe vorhanden war oder, wohl richtiger, nur eine Ahnung dieſes Unſinns, den ich ſpaͤter einmal unvermeidlich kennen— lernen mußte: ich war mir nur bewußt, daß meine Stunde ge— ſchlagen hatte. Mein Herz huͤpfte und zitterte, und ich erinnere mich ſelbſt nicht mehr, wie ich mit einem Satze die Stufen hinab⸗ ſprang und nun neben Tankred ſtand. „Glauben Sie, daß ich mich fuͤrchte?“ rief ich dreiſt und ſtolz. Vor fieberhafter Erregung wurde es mir dunkel vor den Augen, der Atem ſtockte mir, und ich erroͤtete ſo, daß mir die Traͤnen auf den Backen brannten. „Da! Sehen Sie her!“ Und Tankred am Riſt faſſend, trat ich mit dem einen Fuße in den Steigbuͤgel, ehe noch jemand die geringſte Bewegung machen konnte, um mich zuruͤckzuhalten; aber in dieſem Augenblicke richtete ſich Tankred auf den Hinterbeinen auf, warf den Kopf in die Hoͤhe, riß ſich mit einem maͤchtigen Sprunge aus den Haͤnden der er— ſtarrt daſtehenden Stallknechte los und flog wie ein Wirbelwind davon, gefolgt von einem allgemeinen Aufſchrei des Schreckens. Gott weiß, wie es mir gelang, im vollen Dahinjagen den andern Fuß in den Steigbuͤgel hineinzubringen; auch iſt es mir unbegreiflich, wie es zuging, daß ich die Zuͤgel nicht verlor. Tankred ſprengte mit mir aus dem Gittertore hinaus, machte
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dann eine ſcharfe Wendung nach rechts und preſchte am Gitter entlang, aufs Geratewohl, ohne ſich um den Weg zu kuͤmmern. Erſt in dieſem Augenblicke hoͤrte ich hinter mir das Geſchrei von fünfzig Stimmen, und dieſes Geſchrei erweckte in meinem er: ſterbenden Herzen ein ſolches Gefuͤhl der Befriedigung und des Stolzes, daß ich dieſen tollen Moment meines Kinderlebens nie vergeſſen werde. Alles Blut ſtroͤmte mir nach dem Kopfe, be— taͤubte mich und uͤberſchwemmte und erſtickte meine Furcht. Ich wußte nicht von mir ſelbſt. Tatſaͤchlich war, wie ich mich jetzt erinnere, in alledem gewiſſermaßen geradezu etwas Ritter— haftes. |
Indeſſen begann und endete mein Rittertum in weniger als einem Augenblicke; ſonſt waͤre es auch dem Ritter uͤbel ergangen. Auch ſo weiß ich nicht, wie ich gerettet wurde. Zu reiten ver— ſtand ich; das hatte ich gelernt. Aber mein Pferdchen hatte mehr Ahnlichkeit mit einem Schafe als mit einem richtigen Reitpferde. Selbſtverſtaͤndlich waͤre ich von Tankred abgeflogen, wenn er nur Zeit gehabt haͤtte, mich abzuwerfen; aber nachdem er etwa fünfzig Schritte galoppiert war, ſcheute er ploͤtzlich vor einem großen Steine, der ihm im Wege lag, und ſtuͤrzte blindlings zuruͤck. Er wendete ſo kurz auf dem Flecke um, daß es mir noch jetzt ein Raͤtſel iſt, wie es zuging, daß ich nicht wie ein Ball zwoͤlf Schritte weit aus dem Sattel flog und zerſchmettert liegen blieb, und daß Tankred ſich bei einer ſo kurzen Schwenkung nicht die Beine verrenkte. Er ſtuͤrmte zum Tore zuruͤck, indem er zornig mit dem Kopfe herumſchlug, von einer Seite zur andern ſprang, ſinnlos vor Wut die Beine, wie es ſich traf, in die Luft ſchleuderte und bei jedem Sprunge mich von ſeinem Ruͤcken ab— zuſchuͤtteln verſuchte, wie wenn ein Tiger auf ihn hinaufge— ſprungen waͤre und die Zaͤhne und die Krallen in ſein Fleiſch
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hineingeſchlagen haͤtte. Noch ein Augenblick, und ich waͤre heruntergeflogen; ich war bereits im Fallen begriffen, aber ſchon kamen einige Reiter zu meiner Rettung herbeigejagt. Zwei von ihnen verſperrten dem Hengſte den Weg ins freie Feld; zwei andere galoppierten auf beiden Seiten dicht neben
ihm her und zwaͤngten ihn mit den Flanken ihrer eigenen Pferde
ſo zuſammen, daß ſie mir faſt die Beine zerquetſchten; beide hielten ihn ſchon an den Zuͤgeln feſt. In wenigen Sekunden waren wir wieder an der Haustür.
Bleich und kaum atmend wurde ich vom Pferde gehoben. Ich zitterte am ganzen Leibe wie ein Grashalm im Winde; Tankred ſtand, ſich mit dem ganzen Koͤrper nach hinten ſtem— mend, da, ohne ſich zu ruͤhren, als ob er mit den Hufen in der Erde feſtgewachſen waͤre, ſtieß heftig den gluͤhenden Atem aus den roten, dampfenden Nuͤſtern, zitterte ebenfalls in kleinen Schauern am ganzen Leibe wie ein Blatt und war gleichſam ſtarr vor Empoͤrung und Wut daruͤber, daß die Dreiſtigkeit des Kindes ungeftraft geblieben war. Um mich herum erſchollen Ausrufe der Beſtuͤrzung, des Erſtaunens und des Schreckens.
In dieſem Augenblicke begegnete mein umherirrender Blick dem Blicke der erregten, ganz blaß gewordenen Frau M***, und ich kann das nie vergeſſen: ploͤtzlich wurde mein Geſicht von dunkler Roͤte uͤbergoſſen und begann wie Feuer zu brennen; ich weiß nicht mehr, was mit mir geſchah; aber verwirrt und er— ſchreckt durch mein eigenes Gefuͤhl ſchlug ich ſchuͤchtern die Augen zu Boden. Jedoch mein Blick war bemerkt, abgefaßt, aufge— fangen worden. Aller Augen wandten ſich zu Frau M*** hin, und überrafcht von der allgemeinen Aufmerkſamkeit, die ſich plotzlich auf fie richtete, erroͤtete fie in einer unwillkuͤrlichen, naiven Empfindung ſelbſt wie ein Kind und bemuͤhte ſich mit
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großer Anſtrengung, aber mit ſehr geringem Erfolge, ihr Er— roͤten durch Lachen zu verdecken.
Alles dies war natuͤrlich vom Standpunkte eines Unbeteilig— ten aus ſehr laͤcherlich; aber in dieſem Augenblicke rettete mich vor dem allgemeinen Gelaͤchter eine ſehr naive, unerwartete Handlung, die dem ganzen Ereigniſſe ein beſonderes Kolorit verlieh. Die Urheberin des ganzen aufregenden Vorfalls, ſie, die bisher meine unverſoͤhnliche Feindin geweſen war, meine ſchoͤne Tyrannin, ſtuͤrzte auf einmal auf mich zu, um mich zu umarmen und zu kuͤſſen. Sie hatte ihren Augen nicht getraut, als ſie ſah, daß ich es wagte, ihre Herausforderung anzunehmen und den Handſchuh aufzuheben, den ſie mir mit einem Seiten— blick auf Frau M*** zuwarf. Sie war vor Angſt um mich und vor Gewiſſensbiſſen beinah geſtorben, als ich auf Tankred dahin— flog; jetzt aber, wo alles zu Ende war, und beſonders wo ſie mit den andern zuſammen meinen Frau M* * zugeworfenen Blick aufgefangen und meine Verwirrung und mein ploͤtzliches Erroͤten geſehen hatte, und wo ſie es fertig gebracht hatte, meiner Handlungsweiſe vermoͤge der romantiſchen Veranlagung ihres leichtſinnigen Koͤpfchens eine neue, geheime, unausge— ſprochene Bedeutung beizulegen, jetzt, nach alledem, geriet ſie über meine „Ritterlichkeit“ in ein ſolches Entzuͤcken, daß fie auf mich zu ſtuͤrzte und voller Ruͤhrung, voller Stolz auf mich und voller Freude mich an ihre Bruſt druͤckte. Einen Augenblick darauf hob ſie ihr Geſichtchen, das einen ſehr naiven, ſehr ernſten Ausdruck trug, und auf dem zwei kleine, kriſtallhelle Traͤnchen zitterten und glaͤnzten, zu allen, die um uns beide herumſtanden, in die Höhe und fagte in einem wuͤrdig⸗ernſten Tone, wie man ihn von ihr noch nie gehoͤrt hatte, indem ſie auf mich zeigte: „Mais c'est tr&s sérieux, messieurs, ne riez pas!“
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ohne zu bemerken, daß alle wie bezaubert vor ihr ſtanden und ſich an dem Anblicke ihres reinen, aufrichtigen Entzuͤckens шей: deten. Dieſe ganze unerwartete, ſchnelle Handlung von ihrer Seite, dieſes ernſte Geſichtchen, dieſe gutherzige Naivitaͤt, dieſe
ernfthaften Traͤnen, die man ihr bisher nicht zugetraut hatte,
und die jetzt ihre ſonſt immer lachenden Augen fuͤllten, dies alles war an ihr ein ſo unerwartetes Wunder, daß alle, die vor ihr ſtanden, von ihrem Blicke und von ihren ſchnellen, lebhaften Worten und Gebaͤrden wie elektriſiert waren. Es ſchien, daß niemand die Augen von ihr abwenden mochte, weil er ſich den ſeltenen Anblick der Begeiſterung auf ihrem Geſichte nicht еп gehen laſſen wollte. Selbſt unſer Wirt wurde rot wie eine Tulpe, und manche verſicherten, nachher aus ſeinem Munde das Ge— ftändnis gehört zu haben, er ſei „zu feiner Schande“ beinah eine ganze Minute lang in ſeinen ſchoͤnen Gaſt verliebt geweſen. Nun, es verſteht ſich von ſelbſt, daß ich nach allem, was vorge— gangen war, als ein Ritter, als ein Held angeſehen wurde.
„Delorges, Toggenburger!“ wurde ringsumher W
Es erſcholl Haͤndeklatſchen.
„Donnerwetter, dieſe heranwachſende Generation!“ fuͤgte unſer Wirt hinzu.
„Aber er ſoll mitkommen, er ſoll unbedingt mit uns mit⸗ kommen!“ rief die Schoͤne. „Wir muͤſſen und werden einen Platz fuͤr ihn finden. Er ſoll neben mir ſitzen, auf meinem Schoße .. . oder nein, nein! Ich habe mich verſprochen!“ ver: beſſerte ſie ſich kichernd; ſie konnte bei der Erinnerung an unſere erſte Bekanntſchaft das Lachen nicht unterdrüden. Aber während ſie lachte, ſtreichelte ſie zaͤrtlich meine Hand und bemuͤhte ſich aus allen Kraͤften, mich zu liebkoſen, damit ich Em nicht be: leidigt fühlen möchte.
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„Unbedingt, unbedingt!“ ſtimmten ihr mehrere bei; „er тиб mitkommen; er hat 14 einen Platz erobert.“
Und die Angelegenheit wurde ſofort in Ordnung gebracht. Eben jene alte Jungfer, die meine Bekanntſchaft mit der Blon— dine herbeigefuͤhrt hatte, wurde ſofort von allen jungen Leuten mit Bitten uͤberhaͤuft, ſie moͤchte doch zu Hauſe bleiben und mir ihren Platz abtreten, und ſie ſah ſich genoͤtigt, einzuwilligen, aͤußerlich laͤchelnd, innerlich vor Wut ziſchend. Ihre Goͤnnerin, um die ſie herum zu ſein pflegte, meine fruͤhere Feindin und neue Freundin, rief ihr, waͤhrend ſie ſchon auf ihrem feurigen Pferde losgaloppierte und wie ein Kind lachte, zu, ſie beneide ſie und wuͤrde ſelbſt gern mit ihr zu Hauſe bleiben, da es gleich regnen werde und wir alle naß werden wuͤrden.
Und den Regen hatte ſie richtig prophezeit. Eine Stunde darauf brach ein gehoͤriger Plaßregen los, und unſere Partie wurde gruͤndlich verdorben. Wir mußten mehrere Stunden lang in Bauernhaͤuſern warten und konnten erſt nach neun Uhr in der noch vom Regen feuchten Luft die Ruͤckfahrt antreten. Ich hatte ein wenig Fieber bekommen. Gerade in dem Augen— blicke, als wir einſteigen und abfahren wollten, trat Frau M*** zu mir und wunderte ſich daruͤber, daß ich nur eine Jacke anhatte und in bloßem Halſe war. Ich antwortete, ich haͤtte keine Zeit gehabt, meinen Mantel mitzunehmen. Sie nahm eine Nadel und ſteckte mir den Umlegekragen meines Hemdes weiter oben zuſammen; dann nahm ſie ein rotes Batiſttuͤchlein von ihrem Halſe und band es mir um, damit ich mir nicht den Hals er— kaͤlten moͤchte. Hierauf entfernte ſie ſich ſo eilig, daß ich nicht einmal Zeit hatte, ihr zu danken.
Als wir aber nach Hauſe gekommen waren, fand ich ſie in dem kleinen Salon mit der Blondine und dem blaſſen jungen
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Manne zufammen, der ſich an dieſem Tage den Ruf eines tuͤch— tigen Reiters dadurch erworben hatte, daß er ſich gefuͤrchtet hatte, Tankred zu beſteigen. Ich trat zu ihr, um mich zu be— danken und ihr das Tuch zuruͤckzugeben. Aber jetzt, nach all meinen Abenteuern, ſchaͤmte ich mich gewiſſermaßen; ich wollte ſo ſchnell wie moͤglich nach oben gehen und dort in Ruhe alles uͤberdenken und mit mir ins klare kommen. Ich war uͤbervoll von Gefuͤhlen. Als ich ihr das Tuch zuruͤckgab, wurde ich wie gewoͤhnlich rot bis uͤber die Ohren.
„Ich wette darauf, daß er das Tuch gern behalten moͤchte,“ ſagte der junge Mann lachend; „man ſieht es ihm an den Augen an, daß es ihm ſchmerzlich ift, ſich von Ihrem Tuche zu trennen.“
„Gewiß, gewiß!“ fiel die Blondine ein. „Nein, ſo einer!“ ſagte ſie kopfſchuͤttelnd mit fingiertem Arger, hielt aber ſchnell vor einem ernſten Blick der Frau M*** inne, die nicht wuͤnſchte, daß der Scherz zu weit getrieben werde.
Ich ging ſo bald wie moͤglich weg.
„Na, aber was biſt du fuͤr ein Menſch!“ ſagte die Schelmin, die mich im anſtoßenden Zimmer einholte und freundſchaftlich meine beiden Haͤnde ergriff. „Du haͤtteſt das Halstuch doch ein— fach nicht zuruͤckgeben ſollen, wenn dir an ſeinem Beſitze ſoviel lag. Du konnteſt ja ſagen, du haͤtteſt es irgendwo verlegt, und die Sache waͤre erledigt geweſen. Was biſt du fuͤr ein Menſch! Haſt ſo etwas nicht zu machen verſtanden! So ein ſchnurriger Kauz!“
Sie gab mir mit dem Finger einen leichten Schlag unter das Kinn und lachte daruͤber, daß ich rot wie eine Mohnblume wurde.
„Ich bin ja doch jetzt deine Freundin, nicht wahr? Unſere Feindſchaft iſt zu Ende, ja?“
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Ich lachte und druͤckte ihr ſchweigend die Hand.
„Na alſo! ... Wovon biſt du denn jetzt jo blaß und zitterſt ſo? Haſt du Fieber?“
„Ja, ich bin nicht wohl.“
„Ach, du Armer! Das kommt von den ſtarken Aufregungen! Weißt du was? Das beſte iſt, wenn du dich ſchlafen legſt, ohne auf das Abendbrot zu warten. Dann vergeht es uͤber Nacht. Komm!“
Sie fuͤhrte mich nach oben und ſchien ſich in ihrer Sorge fuͤr mich gar nicht genug tun zu koͤnnen. Sie verließ mich, damit ich mich auskleiden koͤnne, lief nach unten, beſtellte Tee fuͤr mich und brachte ihn mir ſelbſt, nachdem ich mich ſchon hingelegt hatte. Sie brachte mir auch eine warme Decke. Ich war ganz über: raſcht und geruͤhrt, daß ſie mich in dieſer Weiſe pflegte und wartete; oder war ich auch ſchon durch die Ereigniſſe des ganzen Tages, durch die Ausfahrt und das Fieber in eine ſolche Stim— mung verſetzt: genug, als ich ihr Gute Nacht ſagte, umarmte ich ſie feſt und innig wie den beſten, naͤchſten Freund, und alle Empfindungen, die ich an dieſem Tage durchgemacht hatte, drangen zugleich auf mein ganz matt gewordenes Herz ein; ich ſchmiegte mich an ihre Bruſt und weinte beinahe. Sie bemerkte meine empfindſame Stimmung, und ſie, meine Schelmin, ſchien ſelbſt ein bißchen geruͤhrt zu ſein.
„Du biſt ein ſehr guter Junge,“ fluͤſterte ſie und ſah mich mit ſanften Augen an. „Bitte, ſei mir nicht mehr boͤſe, nein?“
Kurz, wir waren die zaͤrtlichſten, treueſten Freunde geworden.
Es war noch recht fruͤh, als ich erwachte; aber die Sonne durchflutete ſchon das ganze Zimmer mit hellem Lichte. Ich ſprang aus dem Bette und fuͤhlte mich vollſtaͤndig geſund und friſch, als ob ich tags zuvor gar kein Fieber gehabt haͤtte; ſtatt LXXV. 4
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ſeiner empfand ich jetzt eine unausſprechliche Freude. Ich rief mir den vorhergehenden Tag ins Gedaͤchtnis zuruͤck und fuͤhlte, daß ich wer weiß was darum gegeben haͤtte, wenn ich in dieſem Augenblicke meine neue Freundin, die blonde Schoͤne, wie geſtern haͤtte umarmen koͤnnen; aber es war noch ſehr fruͤh, und alle ſchliefen. Eilig zog ich mich an und ging hinunter in den Garten und von da in das Waͤldchen. Ich durchſchritt es bis zu einer Stelle, wo das Gruͤn am dichteſten und der Harz— geruch der Baͤume am kraͤftigſten war, und wohin die Sonnen— ſtrahlen am luſtigſten hineinſchauten, ſich freuend, daß es ihnen hier und da gelang, das neblige Dunkel des Laubwerks zu durch— dringen. Es war ein herrlicher Morgen.
Unvermerkt kam ich immer weiter und weiter und gelangte ſchließlich an das andere Ende des Waͤldchens, an die Moskwa. Sie floß ungefaͤhr zweihundert Schritte vor mir, am Fuße des Berges. Am gegenuͤberliegenden Ufer wurde Gras gemaͤht. Ich konnte mich gar nicht daran ſatt ſehen, wie ganze Reihen ſcharfer Senſen bei jedem Ausholen der Schnitter gleichzeitig aufleuchteten und dann ploͤtzlich wieder verſchwanden, gleich feurigen Schlaͤnglein, die ſich irgendwohin verſteckten, und wie das von der Wurzel abgeſchnittene Gras in dichten, fetten Haͤuf— chen zur Seite flog und ſich in langen, geraden Schwaden lagerte. Ich erinnere mich nicht mehr, wieviel Zeit ich mit dieſem Zuſehen verbracht hatte, als ich ploͤtzlich zur Beſinnung kam, da ich in dem Waͤldchen, etwa zwanzig Schritte von mir entfernt, in einer Schneiſe, die ſich von der Chauſſee nach dem Gutshauſe hinzog, das Schnauben und ungeduldige Stampfen eines Pferdes hoͤrte, das mit dem Hufe die Erde zerwuͤhlte. Ich weiß nicht, ob ich dieſes Pferd jetzt eben erſt hoͤrte und der Reiter ſoeben erſt herbeigekommen war und angehalten hatte,
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oder ob das Geraͤuſch ſchon lange an mein Ohr gedrungen war, dieſes aber nur erfolglos gekitzelt hatte, ohne mich aus meinen Traͤumereien erwecken zu koͤnnen. Neugierig trat ich in das Waͤldchen zuruͤck und vernahm, nachdem ich ein paar Schritte gegangen war, Stimmen, die ſchnell, aber leiſe ſprachen. Ich ging noch naͤher heran, bog behutſam die Zweige der letzten Buͤſche auseinander, die die Schneiſe einſaͤumten, und prallte ſogleich erſtaunt zuruͤck: vor meinen Augen ſchimmerte ein wohlbekanntes weißes Kleid, und eine ſanfte Frauenſtimme widerhallte in meinem Herzen wie Muſik. Es war Frau M***, Sie ſtand neben einem Reiter, der eilig vom Pferde herab zu ihr ſprach, und zu meiner Verwunderung erkannte ich in ihm Herrn N** koi, jenen jungen Mann, der ſchon geſtern morgen von uns weggereiſt war, und mit dem Herrn M***s Gedanken ſo ſehr beſchaͤftigt geweſen waren. Aber damals hatte es ge— heißen, er reife ſehr weit weg, irgendwohin, nach Suͤdrußland, und darum wunderte ich mich ſehr, ihn wieder bei uns zu ſehen, jo früh am Morgen und allein mit Frau M***.
Sie war ſo lebhaft und erregt, wie ich ſie noch nie geſehen hatte, und auf ihren Wangen glitzerten Traͤnen. Der junge Mann hielt ihre Hand gefaßt und kuͤßte ſie, indem er ſich vom Sattel hinabbeugte. Ich hatte den Augenblick getroffen, wo ſie bereits voneinander Abſchied nahmen. Sie ſchienen große Eile zu haben. Zuletzt zog er einen verſiegelten Brief aus der Taſche, reichte ihn ihr hin, umſchlang ſie mit einem Arme, und zwar wie vorher ohne vom Pferde zu ſteigen, und kuͤßte ſie lange und innig. Einen Augenblick darauf verſetzte er ſeinem Pferde einen Schlag mit der Reitpeitſche und jagte wie ein Pfeil an mir vor— über. Frau M*** folgte ihm einige Sekunden lang mit den Augen und ſchlug dann nachdenklich und niedergeſchlagen den
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Weg nach dem Haufe ein. Aber nachdem fie einige Schritte in der Schneiſe gemacht hatte, ſchien fie ſich plotzlich eines anderen zu beſinnen, zerteilte eilig die Buͤſche und ging durch das Waͤldchen.
Ich folgte ihr, verwirrt und erſtaunt über alles, was ich де: ſehen hatte. Mein Herz ſchlug heftig wie vor Schreck. Ich war wie erſtarrt, wie von einem Nebel umfangen; meine Gedanken waren zerſtreut und wie zerſchlagen; aber ich erinnere mich, daß mir furchtbar traurig zumute war. Ab und zu ſchimmerte vor mir ihr weißes Kleid durch die Buͤſche. Mechaniſch folgte ich ihr, ohne ſie aus den Augen zu laſſen; aber ich zitterte bei dem Gedanken, daß ſie mich bemerken koͤnne. Endlich trat ſie auf den Steig hinaus, der in den Garten fuͤhrte. Ich wartete eine halbe Minute und tat dann dasſelbe; aber wie groß war mein Erſtaunen, als ich ploͤtzlich auf dem roten Sande des Steiges einen verſiegelten Brief bemerkte, den ich auf den erſten Blick erkannte: es war jener ſelbe Brief, den Frau M*** zehn Minuten vorher erhalten hatte.
Ich hob ihn auf: er wies auf allen Seiten weißes Papier, ohne Aufſchrift; dem Außern nach war er nicht groß, aber dick und ſchwer, wie wenn drei oder noch mehr Bogen Briefpapier darin waͤren.
Was hatte dieſer Brief zu bedeuten? Ohne Zweifel enthielt er die Erklaͤrung des ganzen Geheimniſſes. Vielleicht war darin das dargelegt, wovon Herr N***oi bei der Kürze des eiligen Rendezvous nicht hatte hoffen koͤnnen, daß er die Möglichkeit haben werde, es auszuſprechen. Er war ja nicht einmal vom Pferde geſtiegen. Hatte er ſo große Eile gehabt, oder hatte er vielleicht gefuͤrchtet, in der Stunde des Abſchieds ſeinem Vor— ſatze untreu zu werden — Gott mochte es wiſſen ...
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Ich blieb ſtehen, ohne auf den Weg hinauszutreten, warf den Brief auf ihn an einer recht ſichtbaren Stelle hin und wandte die Augen nicht von ihm ab, in der Annahme, Frau M*** werde, ſobald ſie den Verluſt bemerke, umkehren und ſuchen. Aber nachdem ich ungefaͤhr vier Minuten lang gewartet hatte, hielt ich es nicht mehr aus, hob meinen Fund wieder auf, ſteckte ihn in die Taſche und machte mich daran, Frau M*** einzuholen. Ich erreichte ſie erſt im Garten, in der großen Allee; ſie ging geradeswegs nach dem Gutshauſe, mit ſchnellen, eiligen Schrit— ten, aber nachdenklich und die Augen auf den Boden geheftet. Ich wußte nicht, was ich tun ſollte. Sollte ich an fie heran— treten und ihr den Brief uͤbergeben? Das haͤtte ſoviel geheißen als ihr ſagen, daß ich alles wiſſe, alles geſehen hätte. Ich hätte mich beim erſten Worte verraten. Und mit welchen Augen haͤtte ich ſie anſehen ſollen? Mit welchen Augen wuͤrde ſie mich an- geſehen haben? Ich erwartete immer noch, daß ſie an den Brief denken, nach ihm greifen, den Verluſt bemerken und denſelben Weg zuruͤckgehen werde. Dann hätte ich unbemerkt den Brief auf den Weg werfen koͤnnen, und fie hätte ihn gefunden. Aber nein! Wir naͤherten uns ſchon dem Hauſe; man hatte ſie ſchon bemerkt
Es traf ſich, daß an dieſem Morgen faſt alle ſehr fruͤh aufge— ſtanden waren, weil ſie ſchon geſtern infolge der verungluͤckten Partie eine neue in Ausſicht genommen hatten, von der ich nichts wußte. Alle machten ſich zum Aufbruch fertig und fruͤh— ſtuͤckten auf der Terraſſe. Ich wartete ungefähr zehn Minuten, um nicht mit Frau M*** zuſammen geſehen zu werden, machte im Garten einen Umweg und kam von einer anderen Seite zum Hauſe, erheblich ſpaͤter als ſie. Sie ging blaß und erregt auf der Terraſſe auf und ab; die Arme hielt fie auf der Bruſt ver:
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ſchraͤnkt, und aus allen Anzeichen war zu erſehen, daß ſie ſich aus aller Kraft bemühte, den quälenden, verzweifelten Kummer in ihrem Innern zu erſticken, der ſich in ihren Augen, in ihrem Gange, in jeder Bewegung deutlich bekundete. Manchmal ſtieg ſie die Stufen hinab und ging einige Schritte zwiſchen den Blumenbeeten in der Richtung nach dem Garten zu; ihre Augen ſuchten haſtig, unruhig, ja unvorſichtig etwas auf dem Sande der Steige und auf dem Fußboden der Terraſſe. Es war kein Zweifel: ſie hatte den Verluſt wahrgenommen und ſchien zu glauben, daß fie den Brief irgendwo dort, in der Nähe des Hauſes, verloren habe; ja, fo war es, fie war davon über- zeugt!
Ihr blaſſes Ausſehen und ihre Aufregung fielen jemandem, und dann auch anderen, auf. Sie wurde mit Fragen nach ihrem Befinden, mit laͤſtigen Ausdruͤcken des Bedauerns uͤberſchuͤttet und mußte ſcherzen, lachen, ſich heiter ſtellen. Ab und zu warf ſie einen Blick nach ihrem Manne hin, der im Geſpraͤche mit zwei Damen am Ende der Terraſſe ſtand, und die arme Frau wurde von demſelben Zittern und derſelben Verwirrung be— fallen wie damals, am erſten Abend ſeiner Ankunft. Ich ſtand, die Hand in der Taſche haltend und den Brief feſt mit ihr um— ſchließend, etwas entfernt von allen da und flehte das Schickſal an, daß Frau M*** mich bemerken möchte. Ich wollte ſie gern ermutigen und beruhigen, wenn auch nur durch einen Blick, ihr fluͤchtig und verſtohlen etwas ſagen. Aber als ſie mich zufällig anſah, fuhr ich zuſammen und ſchlug die Augen nieder. |
Ich ſah ihre Qual und irrte mich nicht. Ich kenne auch heutigen Tages ihr Geheimnis nicht und weiß nichts als das, was ich ſelbſt geſehen und ſoeben erzählt habe. Vielleicht war
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dieſes Verhaͤltnis gar nicht von der Art, wie man es auf den erſten Blick vermuten konnte. Vielleicht war dieſer Kuß ein Abſchiedskuß geweſen; vielleicht war er der letzte ſchwache Lohn für das Opfer geweſen, das Herr N***oi durch feine Abreiſe ihrer Ruhe und ihrer Ehre gebracht hatte. Er war abgereiſt; er hatte ſie verlaſſen, vielleicht fuͤr immer. Und was ſchließlich ſo— gar dieſen Brief betraf, den ich in der Hand hielt, wer wußte, was er enthielt? Wie konnte man daruͤber urteilen, und wer durfte den Stab uͤber ſie brechen? Aber doch (daran war kein Zweifel) waͤre die ploͤtzliche Enthuͤllung des Geheimniſſes ein Donnerſchlag, eine Kataſtrophe in ihrem Leben geweſen. Ich erinnere mich noch deutlich an ihr Geſicht in jenem Augenblicke: es war kein tieferes Leid denkbar. Zu fuͤhlen, zu wiſſen, daß das Ungluͤck herannahte, davon uͤberzeugt zu ſein, wie auf die eigene Hinrichtung darauf zu warten, daß in einer Viertelſtunde, in einer Minute vielleicht alles aufgedeckt werde, indem jemand den Brief finde und aufhebe; er war ohne Aufſchrift; man wuͤrde ihn öffnen, und dann ... was dann? Welche Hinrichtung konnte ſchrecklicher ſein als die, welche ihrer wartete? Sie ging zwiſchen ihren kuͤnftigen Richtern umher. Im naͤchſten Augenblick wuͤrden ihre laͤchelnden, liebenswuͤrdigen Geſichter ſich in finſtere, uner— bittliche verwandeln. Sie wuͤrde Spott, Schadenfreude und eiſige Verachtung auf dieſen Geſichtern leſen, und dann wuͤrde in ihrem Leben eine ſtete Nacht anbrechen ohne einen nachfol— genden Morgen . .. Ja, ich begriff damals alles dies nicht fo, wie ich jetzt daruͤber denke. Ich konnte nur vermuten und ahnen und mich im Herzen wegen ihrer Gefahr graͤmen, die ich nicht einmal ganz zu ermeſſen vermochte. Aber welches auch der In— halt ihres Geheimniſſes ſein mochte, durch die traurigen Mi— nuten, deren Zeuge ich war, und die ich nie vergeſſen werde,
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war vieles geſuͤhnt, wenn uͤberhaupt etwas geſuͤhnt zu werden brauchte.
Aber da erſcholl der froͤhliche Ruf zur Abfahrt; alle gerieten in freudige Bewegung; von allen Seiten erklang munteres Reden und Lachen. Zwei Minuten darauf war die Terraſſe leer geworden. Frau M*** hatte auf die Teilnahme an der Partie verzichtet, indem ſie endlich eingeſtand, daß ſie nicht wohl ſei. Aber zum Gluͤck hatten es alle mit dem Aufbruche ſehr eilig und fanden keine Zeit mehr, ihr mit Ausdruͤcken des Bedauerns, Fragen und Ratſchlaͤgen laͤſtig zu fallen. Nur wenige waren zu Hauſe geblieben. Ihr Mann ſagte ein paar Worte zu ihr; ſie antwortete, ſie werde noch heute wieder geſund werden; er moͤge ſich nicht beunruhigen; ſie habe keinen Grund ſich hinzulegen, ſondern werde in den Garten gehen, allein ... mit mir ... Hier ſah ſie mich an. Nichts konnte ſich gluͤcklicher fuͤgen! Ich erroͤtete vor Freude. Eine Minute darauf waren wir unterwegs.
Sie ging dieſelben Alleen, Steige und Fußpfade, auf denen fie kurz vorher aus dem Waͤldchen zuruͤckgekehrt war. Sie er: innerte ſich inſtinktiv ihres fruͤheren Weges, blickte ſtarr vor ſich hin, ohne die Augen von der Erde wegzuwenden und ſuchte etwas auf ihr; ſie gab mir keine Antworten und hatte vielleicht uͤberhaupt vergeſſen, daß ich mit ihr mitging.
Aber als wir beinahe zu der Stelle gelangt waren, wo ich den Brief aufgehoben hatte, und wo der Steig aufhoͤrte, blieb Frau M' ploͤtzlich ſtehen und ſagte mit ſchwacher, vor Kummer faſt verſagender Stimme, es ſei ihr ſchlechter geworden, und ſie wolle nach dem Hauſe zuruͤckkehren. Als fie jedoch bis an das Gartens gitter gelangt war, blieb ſie wieder ſtehen und dachte ungefaͤhr
eine Minute lang nach; ein Lächeln der Verzweiflung zeigte fich .
auf ihren Lippen, und ganz entkraͤftet und zermartert, zu allem
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entſchloſſen und ſich in alles ergebend, kehrte ſie ſchweigend auf den erſten Weg zuruͤck, wobei ſie diesmal ſogar vergaß, mir ein Wort daruͤber zu ſagen.
Das Herz wollte mir brechen vor Gram, und ich wußte nicht, was ich tun ſollte.
Wir gingen oder, richtiger geſagt, ich fuͤhrte ſie zu jener Stelle, von der aus ich eine Stunde vorher das Stampfen des Pferdes und ihr Geſpraͤch gehoͤrt hatte. Hier befand ſich bei einer dichtbelaubten Ulme eine aus einem gewaltigen Steinblock ge— hauene Bank, mit Efeu umſponnen und von wildem Jasmin und Hundsroſen umwachſen. (Dieſes ganze Waͤldchen war mit Bruͤckchen, Lauben, Grotten und ähnlichen Überraſchungen uͤber— jät.) Frau M*** ſetzte ſich auf die Bank und blickte gedankenlos auf die wundervolle Landſchaft hin, die ſich vor uns ausbreitete. Ein Weilchen darauf oͤffnete ſie das Buch und ſtarrte, ohne ſich zu rühren und ohne die Blätter umzuſchlagen, hinein; fie las nicht und wußte kaum, was ſie tat. Es war ſchon halb zehn. Die Sonne war bereits hoch geſtiegen und ſchwamm glaͤnzend uͤber uns am blauen, tiefen Himmel; es ſchien, als zerſchmoͤlze ſie an ihrem eigenen Feuer. Die Maͤher waren ſchon weit ent— fernt; man konnte ſie von unſerem Ufer aus kaum mehr ſehen. Hinter ihnen zogen ſich endloſe Schwaden friſchgemaͤhten Graſes hin, und ab und zu trug ein kaum merklicher Windhauch den aromatiſchen Duft desſelben zu uns heruͤber. Ringsumher er— tönte das unermuͤdliche Konzert derer, die „nicht ſaͤen und nicht ernten“, ſondern frei ſind wie die Luft, die ſie mit ihren munteren Fluͤgeln durchſchneiden. Es ſchien, als ob in dieſem Augenblicke jedes Bluͤmchen und das geringſte Haͤlmchen, von Opferduft dampfend, zu ſeinem Schoͤpfer ſagte: „Vater, ich bin froh und gluͤcklich!ꝰ “
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Ich blickte nach der armen Frau hin, die inmitten all dieſes frohen Lebens einer Toten glich: an ihren Wimpern hingen un— beweglich zwei große Traͤnen, die der bittere Gram aus ihrem Herzen heraufgetrieben hatte. In meiner Macht ſtand es, dieſes arme, faft vergehende Herz wieder zu beleben und gluͤcklich zu machen, und ich wußte nur nicht, wie ich es angreifen, wie ich den erſten Schritt tun ſollte. Ich zermarterte mein Gehirn. Hundertmal war ich nahe daran, zu ihr hinzutreten, und jedes— mal fing mir das Geſicht wie Feuer zu brennen an, und ich unterließ es.
Auf einmal erhellte mich ein gluͤcklicher Gedanke. Das Mittel war gefunden; ich fuͤhlte mich wie neugeboren.
„Wenn Sie erlauben, werde ich Ihnen ein Bukett pfluͤcken!“ ſagte ich in fo freudigem Tone, daß Frau M*** plößlich den Kopf in die Hoͤhe hob und mich aufmerkſam anſah.
„Tu das!“ ſagte ſie endlich mit ſchwacher Stimme und laͤchelte dabei leiſe; dann aber verſenkte ſie die Augen ſogleich wieder in ihr Buch.
„Sonſt wird auch hier womoͤglich das Gras abgemaͤht, und dann iſt's mit den Blumen vorbei!“ rief ich und machte mich wohlgemut ans Werk.
Bald hatte ich mein Bukett beiſammen; es war ſchlicht und aͤrmlich, und man haͤtte ſich ſchaͤmen muͤſſen, es ins Zimmer zu bringen; aber wie froͤhlich ſchlug mir das Herz, waͤhrend ich es ſammelte und band! Hundsroſen und wilden Jasmin pfluͤckte ich gleich an der Stelle, wo wir waren. Ich wußte, daß nicht weit davon ein Feld mit reifem Roggen war. Dorthin lief ich, um Kornblumen zu holen. Ich untermengte ſie mit langen Roggenaͤhren, wobei ich die goldigſten und vollſten ausſuchte. Ebendort, nicht weit davon, ſtieß ich auf einen ganzen Fleck voll
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Vergißmeinnicht, und mein Bukett begann bereits voll zu werden. Weiterhin auf dem Felde fanden ſich blaue Glockenblumen und Feldnelken, und um gelbe Waſſerlilien zu holen, lief ich an das Ufer des Fluſſes hinab. Endlich, als ich mich ſchon auf dem Ruͤck— wege nach der Bank befand und auf einen Augenblick in den Hain hineinging, um mir einige hellgruͤne, handfoͤrmige Ahorn— blaͤtter zu beſchaffen und mit ihnen das Bukett einzufaſſen, da ſtieß ich zufällig auf eine ganze Kolonie von Stiefmuͤtterchen, und in ihrer Nähe verriet mir zu meiner Freude der aromatiſche Duft eine Menge Veilchen, die in dem ſaftigen, dichten Graſe verborgen und noch ganz mit glaͤnzenden Tautropfen bedeckt waren. Das Bukett war fertig. Ich band es mit langen duͤnnen Grashalmen zuſammen, die ich zu einer Art Schnur zuſammen— drehte, und ſteckte den Brief behutſam hinein; er war in den Blumen verborgen, aber ſo, daß man ihn ſehr gut bemerken konnte, wenn man meinem Bukette auch nur ein wenig т merkſamkeit zuwandte.
Ich trug es zu Frau M*** hin.
Unterwegs ſchien es mir, daß der Brief gar zu ſichtbar ſei, und ich verbarg ihn etwas mehr. Als ich noch naͤher kam, ſchob ich ihn noch tiefer in die Blumen hinein, und endlich, als ich ſchon beinahe bis zur Bank hingelangt war, druͤckte ich ihn auf einmal ſo tief in das Innere des Buketts hinein, daß nun von außen gar nichts mehr davon zu bemerken war. Die Backen brannten mir wie Feuer. Ich haͤtte am liebſten das Geſicht mit den Haͤnden bedeckt und waͤre auf der Stelle davongelaufen; aber ſie ſah meine Blumen ſo an, als ob ſie ganz vergeſſen Бане, daß ich fie ausdruͤcklich für fie gepflüdt hatte. Mechaniſch, faſt ohne hinzublicken, ftredte fie die Hand aus und nahm mein Geſchenk entgegen, legte es aber ſogleich auf die Bank, als haͤtte
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ich es ihr nur zu dieſem Zweck uͤbergeben, und verſenkte, wie felbftvergeffen, die Augen von neuem in ihr Buch. Ich war nahe daran, uͤber das Mißlingen meines Planes in Traͤnen auszu⸗ brechen. „Aber wenn nur mein Bukett in ihrem Beſitze bleibt,“ dachte ich; „wenn ſie es nur nicht vergißt!“ Ich legte mich nicht weit davon auf das Gras, ſchob den rechten Arm unter den Kopf und ſchloß die Augen, als ob mich der Schlaf uͤberkaͤme. Aber ich verwandte keinen Blick von ihr und wartete.
So vergingen etwa zehn Minuten; es kam mir ſo vor, als ob fie immer blaſſer und blaſſer wuͤrde ... Auf einmal kam mir ein geſegneter Zufall zu Hilfe. |
Es war dies eine große, goldfarbene Biene, die ein gütiger Windhauch zu meinem Gluͤcke herfuͤhrte. Sie ſummte zuerſt uͤber meinem Kopfe herum und flog dann zu Frau M*** hin. Diefe ſuchte ſie einmal und noch einmal mit der Hand wegzuſcheuchen; aber die Biene wurde wie mit Abſicht immer zudringlicher. End⸗ lich ergriff Frau M*** mein Bukett und ſchwenkte es vor ihrem Geſichte hin und her. In dieſem Augenblicke flog der Brief aus den Blumen heraus und fiel gerade auf das aufgeſchlagene Buch. Ich fuhr zuſammen. Eine kleine Weile blickte Frau M***, vor Erſtaunen ſprachlos, bald nach dem Briefe, bald nach den Blumen hin, die fie in der Hand hielt; fie ſchien ihren Augen nicht zu trauen. Auf einmal wurde ſie dunkelrot und ſah nach mir hin. Aber ich hatte ihren Blick rechtzeitig bemerkt, machte die Augen feſt zu und ſtellte mich ſchlafend; um keinen Preis der Welt haͤtte ich ihr jetzt gerade ins Geſicht geſehen. Mein Herz wollte vergehen und zuckte wie ein Voͤgelchen, das einem kraus⸗ haarigen Bauernjungen in die derben Haͤnde geraten iſt. Ich erinnere mich nicht, wie lange ich fo mit geſchloſſenen Augen da> lag: es mochten zwei oder drei Minuten ſein. Endlich wagte ich
Ein kleiner Held 61
es, ſie wieder zu öffnen. Frau M*** las begierig den Brief, und aus ihren brennenden Wangen, aus ihrem glaͤnzenden, traͤnenfeuchten Blicke, aus ihrem ſtrahlenden Geſichte, in wel— chem jeder Muskel vor freudiger Ruͤhrung bebte, aus alledem konnte ich entnehmen, daß dieſer Brief ſie gluͤcklich machte und ihr ganzer Gram wie leichter Rauch verflogen war. Ein ſchmerz— lich⸗wonniges Gefuͤhl erfuͤllte mein Herz; es wurde mir ſchwer, meine Verſtellung beizubehalten.
Nie werde ich dieſen Augenblick vergeſſen!
Auf einmal ließen ſich, noch fern von uns, Stimmen ver— nehmen:
„Frau M***! Natalie! Natalie!“
Frau M*** antwortete nicht; aber fie erhob ſich ſchnell von der Bank, trat zu mir und beugte ſich uͤber mich. Ich fuͤhlte, daß ſie mir gerade ins Geſicht blickte. Meine Wimpern zuckten; aber ich beherrſchte mich und oͤffnete die Augen nicht. Ich bemuͤhte mich, moͤglichſt gleichmaͤßig und ruhig zu atmen; aber das auf— geregte Schlagen meines Herzens erſtickte mich faſt. Ihr heißer Atem brannte auf meinen Backen; ſie buͤckte ſich ganz nahe zu meinem Geſichte herab, als ob ſie es pruͤfend betrachtete. End— lich kuͤßte ſie meine Hand, diejenige, die auf meiner Bruſt lag, und ihre Traͤnen fielen darauf. Sie kuͤßte ſie zweimal.
„Natalie! Natalie! Wo biſt du?“ wurde von neuem gerufen, und jetzt ſchon ſehr nahe bei uns.
„Ich komme gleich!“ ſagte Frau M*** mit ihrer ſilberhellen Stimme, die aber von Traͤnen gedaͤmpft war und zitterte, und fo leiſe, daß nur ich allein dieſes „Ich komme gleich!“ Hören konnte.
Aber in dieſem Augenblicke verriet mich mein Herz endlich doch und trieb mir, wie ich glaube, alles Blut ins Geſicht. In
62 Ein kleiner Held
demſelben Augenblicke brannte ein ſchneller, heißer Kuß auf N
meinen Lippen. Ich ſchrie leiſe auf und öffnete die Augen; aber
ſogleich ſenkte ſich das Batiſttuͤchlein von geſtern uͤber ſie herab
— als ob ſie mich damit vor der Sonne ſchuͤtzen wollte. Einen
Augenblick darauf war ſie ſchon nicht mehr da. Ich hoͤrte nur das leiſe Geraͤuſch ſich eilig entfernender Schritte. Ich war allein N
Ich riß ihr Tuͤchlein von meinem Geſichte und kuͤßte es, ganz außer mir vor Entzuͤcken; mehrere Minuten lang war ich wie von Sinnen! Kaum imſtande zu atmen, ſtuͤtzte ich mich mit dem Ellbogen auf das Gras und blickte unbewußt und regungslos vor mich hin: auf die umliegenden, von bunten Wieſen und Feldern bedeckten Huͤgel, auf den Fluß, der ſie in Kruͤmmungen umfloß und in der Ferne, ſoweit das Auge nur reichte, ſich zwiſchen neuen Huͤgeln und Doͤrfern dahinſchlaͤngelte, die wie Puͤnktchen in der ganz von Licht uͤbergoſſenen Ferne ſchimmer— ten, auf die blauen, nur ſchwach ſichtbaren Waͤlder, die am Rande des gluͤhenden Himmels zu dampfen ſchienen, und ein ſuͤßer Friede, den mir die feierliche Stille des Landſchaftsbildes gleichſam zuwehte, beruhigte allmaͤhlich mein aufgeregtes Herz. Es wurde mir leichter zumute, und ich atmete freier. Aber meine ganze Seele war von einer dumpfen, ſuͤßen Pein erfuͤllt, wie in Vorausſicht oder Vorahnung von etwas Kuͤnftigem. Mein erſchrockenes Herz erriet irgend etwas ſchuͤchtern und freudig und zitterte leiſe vor Erwartung. Und auf einmal erbebte meine Bruſt wie von einem ſie durchdringenden Schmerze, und Traͤnen, füße Tränen ſtuͤrzten aus meinen Augen. Ich bedeckte das Фе: ſicht mit den Haͤnden, und am ganzen Leibe zitternd wie ein Grashalm, uͤberließ ich mich widerſtandslos dem erſten Bewußt— ſein und der erſten Offenbarung meines Herzens, der erſten noch
Ein Heiner Held 63
unklaren Erkenntnis meiner Natur. Meine erſte Kindheit endete mit dieſem Augenblicke.
Als ich zwei Stunden darauf nach Hauſe zuruͤckkehrte, fand ich Frau M*** nicht mehr vor. Sie war aus irgendwelchem plößlic eingetretenen Anlaſſe mit ihrem Manne nach Moskau gefahren. Ich bin nie wieder mit ihr zuſammengetroffen.
Onkelchens Traum
(Aus der Chronik der Stadt Mordaſo w)
Erftes Kapitel
Mas Alexandrowna Moſkalewa iſt natürlich die erfte Dame in Mordaſow; daran kann kein Zweifel ſein. Sie benimmt ſich ſo, als habe ſie keinen Menſchen nötig, ſondern vielmehr alle Menſchen ſie. Allerdings kann ſo gut wie niemand ſie leiden, und ſehr viele haſſen ſie ſogar von Herzen; aber dafuͤr fuͤrchten ſie alle, und gerade das iſt's, was fie haben will. Ein ſolches Зе: duͤrfnis ift aber offenbar ein Zeichen hoher Klugheit. Woher kommt es zum Beiſpiel, daß Marja Alexandrowna, die doch Klatſchereien überaus liebt und die ganze Nacht nicht ſchlafen kann, wenn ſie nicht am Abend etwas Neues erfahren hat, — woher kommt es, daß ſie trotzalledem ſich ſo zu benehmen ver⸗ ſteht, daß niemand, der ſie anſieht, auf den Gedanken kommen kann, dieſe wuͤrdige Dame ſei die erſte Klatſchbaſe der Welt oder wenigſtens der Stadt Mordaſow? Im Gegenteil moͤchte man meinen, alle Klatſchereien müßten in ihrer Gegenwart ver— ftummen ; die Klatſchmichel müßten erröten und wie Schulbuben vor dem Herrn Lehrer zittern, und das Geſpraͤch müßte ſich nur um die hoͤchſten Gegenftände drehen. Sie weiß zum Beiſpiel über dieſen und jenen Einwohner von Mordaſow ſo arge, ſkandaloͤſe Dinge, daß, wenn fie fie bei paſſender Gelegenheit vorbraͤchte und fo bewieſe, wie fie fie zu beweiſen verſteht, ſich in Mordaſow eine Art Erdbeben von Liſſabon ereignen wuͤrde. Jedoch iſt fie, was dieſe Geheimniſſe anlangt, überaus ſchweig— ſam und erzaͤhlt ſie hoͤchſtens im aͤußerſten Beduͤrfnisfalle und nur den intimſten Freundinnen. Sie macht den Leuten nur angſt, deutet an, daß ſie etwas weiß, und laͤßt den betreffenden Herrn oder die betreffende Dame lieber in ſteter Furcht ſchweben, als daß ſie ihnen den entſcheidenden Schlag verſetzen ſollte. Das heißt Klugheit, das heißt Taktik! Marja Alexandrowna hat ſich LXXV. 5
68 Onkelchens Traum
bei uns jederzeit durch ihr tadelloſes comme il faut ausgezeich⸗ net, das ſich alle zum Muſter nehmen. Was dieſes comme il kaut anlangt, hat ſie in Mordaſow keine Rivalinnen. Sie ver⸗ ſteht es zum Beiſpiel, eine Rivalin durch ein einziges Wort zu zerfleiſchen, zu toͤten, zu vernichten (davon ſind wir Zeugen ge⸗ weſen), gibt ſich aber dabei den Anſchein, als habe ſie gar nicht bemerkt, daß ſie dieſes Wort ausgeſprochen habe. Es iſt aber bekannt, daß ein derartiges Verhalten eine beſondere Eigen- tuͤmlichkeit der hoͤchſten Geſellſchaftskreiſe iſt. Überhaupt leiſtet ſie in all ſolchen Feinheiten das Menſchenmoͤgliche. Ihre Be— ziehungen ſind außerordentlich weit ausgedehnt. Viele Be— ſucher Mordaſows waren bei der Abreiſe entzuͤckt über den Emp⸗ fang, den ſie bei ihr gefunden hatten, und unterhielten in der Folge mit ihr einen Briefwechſel. Einer verfaßte ſogar ein an ſie gerichtetes Gedicht, das Marja Alexandrowna dann voller Stolz allen Leuten zeigte. Ein von auswaͤrts gekommener Schriftſteller widmete ihr eine ſeiner Novellen und las ſie bei ihr auf einer Abendgeſellſchaft vor, was einen ganz außer— ordentlichen Effekt machte. Ein deutſcher Gelehrter, der expreß von Karlsruhe hergereiſt war, um eine beſondere Art von Wuͤr— mern mit kleinen Hoͤrnern zu unterſuchen, die in unſerm Gouvernement vorkommen, und uͤber dieſe Wuͤrmer vier Quart— baͤnde geſchrieben hat, war von dem liebenswuͤrdigen Empfange bei Marja Alexandrowna ſo begeiſtert, daß er bis jetzt mit ihr von Karlsruhe aus eine hoͤchſt reſpektvolle, wohlanſtaͤndige Korreſpondenz fuͤhrt. Man hat Marja Alexandrowna ſogar in gewiſſer Hinſicht mit Napoleon verglichen. Selbſtverſtaͤndlich haben das ihre Feinde im Scherz getan, mehr im Sinne einer Karikatur als einer wahren Ahnlichkeit. Aber obgleich ich die Seltſamkeit eines ſolchen Vergleiches durchaus zugebe, wage ich
Erſtes Kapitel il
doch eine unſchuldige Frage aufzuwerfen und um ihre Зе: antwortung zu bitten: woher kam es, daß dem Kaiſer Napoleon ſchließlich ſchwindlig wurde, als er zu fo gewaltiger Höhe hinauf: geſtiegen war? Die Anhaͤnger des alten Herrſcherhauſes fuͤhrten dies darauf zuruͤck, daß Napoleon nicht von koͤniglicher Abkunft, ja überhaupt nicht einmal ein gentilhomme von guter Abkunft ſei; daher habe er natuͤrlicherweiſe ſchließlich uͤber ſeine eigene Hoͤhe einen Schreck bekommen und habe ſich daran erinnert, an welchen Platz er eigentlich gehoͤrte. Trotz der evidenten Scharf— ſinnigkeit dieſer Vermutung, die an die glaͤnzendſten Zeiten des alten franzoͤſiſchen Hofes erinnert, wage ich meinerſeits eine Зе: merkung hinzuzufuͤgen: woher kommt es, daß unſerer Marja Alexandrowna niemals und unter keinen Umſtaͤnden ſchwindlig wird und ſie immer die erſte Dame in Mordaſow bleibt? Es ſind zum Beiſpiel Faͤlle vorgekommen, wo alle Leute ſagten: „Na, wie wird ſich nun Marja Alexandrowna in einer ſo ſchwie— rigen Situation verhalten?“ Aber die ſchwierige Situation ging, wie ſie gekommen war, ſo auch wieder voruͤber, und — es war nichts geſchehen! Alles war in guter Ordnung ge— blieben wie fruͤher, ja ſogar noch beſſer geworden. Alle denken zum Beiſpiel noch daran, wie ihr Gemahl, Afanaſi Matwje— jewitſch, ſein Amt verlor, als er durch ſeine Unfaͤhigkeit und Geiſtesſchwaͤche den Zorn eines von außerhalb gekommenen Reviſors erregt hatte. Alle glaubten damals, Marja Alexan— drowna werde kleinmuͤtig werden, ſich demuͤtigen, bitten und flehen, kurz, die Fluͤgel haͤngen laſſen. Nichts derart begab ſich: Marja Alexandrowna, welche einſah, daß durch Bitten nichts mehr zu erreichen war, arrangierte ihre Verhaͤltniſſe ſo, daß ſie ihres Einfluſſes auf die Geſellſchaft in keiner Weiſe verluſtig ging und ihr Haus immer noch fuͤr das erſte in
70 Onkelchens Traum
Mordaſow gilt. Die Frau Staatsanwalt, Anna Nikolajewna Antipowa, Marja Alexandrownas geſchworene Feindin, wie⸗ wohl äußerlich ihre Freundin, ſtieß ſchon in die Siegestrompete. Aber als man ſah, daß Marja Alexandrowna ſich nicht ſo leicht beirren ließ, da merkte man, daß ſie in der Geſellſchaft weit tiefer Wurzel geſchlagen hatte, als man ſich vorher hatte traͤumen laſſen. |
Da wir Marja Alexandrownas Gemahl Afanafi Matwjeje⸗ witſch einmal erwähnt haben, fo wollen wir die Gelegenheit be= nutzen, auch uͤber ihn einige Worte zu ſagen. Erſtens hat er ein ſehr ftattlihes Außeres und ſogar ſehr anftändige Lebensgrund- ſaͤtze; aber in kritiſchen Lagen weiß er ſich nicht zu helfen und ſteht da wie die Kuh vor dem neuen Tore. Er nimmt ſich außerordent⸗ lich wuͤrdevoll aus, namentlich wenn er in ſeiner weißen Hals⸗ binde an Diners zur Feier von Namenstagen teilnimmt. Aber dieſer ganze Eindruck der Wuͤrde und Stattlichkeit dauert nur bis zu dem Augenblicke, wo er zu reden anfaͤngt. Dann moͤchte man ſich (Pardon!) am liebſten die Ohren zuſtopfen. Er iſt es entſchieden nicht wert, Marja Alexandrownas Mann zu ſein; das iſt die allgemeine Meinung. Auch ſeine amtliche Stellung hat er einzig und allein dank der Genialitaͤt ſeiner Gemahlin be⸗ kleidet. Nach meiner vollen Überzeugung waͤre es laͤngſt Zeit geweſen, ihn als Vogelſcheuche in einen Gemuͤſegarten zu ſtellen. Dort, und nur dort, haͤtte er ſeinen Kompatrioten wirklichen, zweifelloſen Nutzen bringen koͤnnen. Und daher war es von Marja Alexandrowna ſehr richtig gehandelt, daß ſie Afanaſi Matwjejewitſch auf ihr drei Werſt von Mordaſow entfernt liegendes Gut ſchickte, wo ſie hundertundzwanzig Seelen beſitzt, beiläufig geſagt ihr geſamtes Beſitztum, mit deſſen Ertrage ſie in fo wuͤrdiger Weiſe die vornehme Stellung ihres Hauſes auf:
Erſtes Kapitel 71
recht erhält. Alle ſahen klar, daß fie Afanaſi Matwjejewitſch lediglich deswegen bei ſich behalten hatte, weil er ein Amt be— kleidete und ein Gehalt bezog und... auch noch andere Ein— nahmen hatte. Sobald aber ſein Gehalt und ſeine anderen Ein— nahmen aufgehoͤrt hatten, da entfernte ſie ihn auch ſogleich wegen ſeiner Unbrauchbarkeit und voͤlligen Nutzloſigkeit. Und alle Leute lobten Marja Alexandrowna wegen der Klarheit ihres Urteils und der Entſchloſſenheit ihres Charakters. Auf dem Gute fuͤhlt ſich Afanaſi Matwjejewitſch wie in Abrahams Schoße. Ich habe ihn dort beſucht und eine ganze Stunde mit ihm ſehr angenehm verlebt. Er probiert ſich weiße Halsbinden um und putzt ſich eigenhaͤndig die Stiefel, nicht weil er es noͤtig haͤtte, ſondern einzig und allein aus Liebe zur Kunſt, da er es gern hat, wenn ſeine Stiefel ſo recht glaͤnzen; dreimal am Tage trinkt er Tee, geht mit großem Vergnuͤgen baden und — iſt zufrieden. Erinnern Sie ſich wohl noch, was fuͤr ein garſtiges Gerede bei uns vor anderthalb Jahren uͤber Sinaida Afanaſjewna, die einzige Tochter Marja Alexandrownas und Afanaſi Matwjeje— witſchs, im Umlauf war? Sinaida iſt unſtreitig eine Schoͤnheit, auch vorzüglich erzogen; aber fie ift ſchon dreiundzwanzig Jahre alt und bis jetzt noch nicht verheiratet. Unter den Urſachen, mit denen man es ſich erklaͤrt, daß Sinaida bis jetzt noch nicht ver— heiratet iſt, betrachtet man als eine der wichtigſten die dunklen Geruͤchte uͤber eine ſonderbare Liaiſon, die ſie vor anderthalb Jahren mit einem Kreisſchullehrer gehabt haben ſoll, Geruͤchte, die auch jetzt noch nicht verſtummt ſind. Man ſpricht noch heute von einem Liebesbriefe, den Sinaida geſchrieben habe, und der in Mordaſow von Hand zu Hand gegangen ſei; aber ſagen Sie mir: wer hat dieſen Brief geſehen? Wenn er von Hand zu Hand gegangen iſt, wo iſt er eigentlich geblieben? Alle Leute haben
72 Onkelchens Traum
von ihm gehoͤrt, aber niemand hat ihn geſehen. Ich wenigſtens habe niemand getroffen, der dieſen Brief mit eigenen Augen ges
ſehen hätte. Wenn jemand im Geſpraͤche mit Marja Alexan— drowna darauf anſpielt, ſo verſteht ſie einen einfach nicht. Nehmen wir nun einmal an, daß tatſaͤchlich etwas ſtattgefunden und Sinaida einen ſolchen Brief geſchrieben hat (ich glaube ſo— gar, daß es beſtimmt ſo geweſen iſt), wie geſchickt iſt dann Marja Alexandrownas Verfahren geweſen! Wie gut hat ſie die haͤß— liche, ſkandaloͤſe Angelegenheit unterdruͤckt und vertuſcht! Voll: ſtaͤndig totgeſchwiegen hat ſie ſie! Marja Alexandrowna ſchenkt jetzt dieſer ganzen gemeinen Klatſchgeſchichte nicht die geringſte Beachtung; und doch hat fie vielleicht Gott weiß wie angeſtrengt gearbeitet, um die Ehre ihrer einzigen Tochter unangetaſtet zu bewahren. Daß aber Sinaida noch unverheiratet iſt, iſt doch ſehr begreiflich: was gibt es denn hier für Bewerber? Ein Maͤd⸗ chen wie Sinaida kann doch nur einen regierenden Fuͤrſten hei— raten. Haben Sie irgendwo eine ſo auserleſene Schoͤnheit ge— ſehen? Allerdings iſt ſie ſtolz, ſehr ſtolz. Man ſagt, daß ſich Moſgljakow um fie bewerbe; aber es wird ſchwerlich zu einer Hochzeit kommen. Was iſt denn Moſgljakow für ein Menſch? Es iſt wahr, er iſt jung, huͤbſch, ein Elegant, Beſitzer von hundert:
fünfzig nicht mit Hypotheken belaſteten Seelen, ein Peters
burger. Aber erſtens iſt mit ſeinem Kopfe nicht viel los. Er iſt ein Windbeutel, ein Schwaͤtzer und hat neuzeitliche Ideen! Und dann, was wollen hundertfuͤnfzig Seelen beſagen, namentlich
wenn einer neuzeitliche Ideen hat! Es wird nicht zu einer Hoch— |
zeit kommen! Alles, was der wohlgeneigte Leſer jetzt geleſen hat, habe ich vor fuͤnf Monaten geſchrieben, lediglich aus meinem warmen
Gefühle heraus. Ich geſtehe von vornherein, ich habe ein ges
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Erſtes Kapitel 73
222 — — ——ͤ wiſſes Tendre für Marja Alexandrowna. Ich hätte am liebſten ſo eine Art von Lobrede auf dieſe praͤchtige Frau geſchrieben und dieſe Lobrede in die Form eines ſcherzhaften Briefes an einen Freund gekleidet, nach dem Muſter der Briefe, die ehe: mals in der guten alten, aber Gott ſei Dank fuͤr immer dahin— geſchwundenen Zeit in der „Nordiſchen Biene“ und anderen | Zeitſchriften gedruckt zu leſen waren. Aber da ich keinen ſolchen Freund beſitze und außerdem in Sachen der Schriftſtellerei an einer gewiſſen angeborenen Schüchternheit leide, fo blieb mein Schriftwerk in meinem Tiſchkaſten liegen, als ſchriftſtelleriſche Federprobe und zur Erinnerung an eine friedliche Zerſtreuung in Stunden vergnuͤglicher Muße. Es vergingen fuͤnf Monate — und auf einmal begab ſich in Mardaſow ein erſtaunliches Ereig⸗ nis: eines Morgens früh kam Fürft K. in die Stadt gefahren und ſtieg in Marja Alexandrownas Hauſe ab. Die Ankunft dieſes Fuͤrſten hatte weitgehende Folgen. Der Fuͤrſt verweilte in Mordaſow nur drei Tage; aber dieſe drei Tage waren verhaͤng— nisvoll und hinterließen eine unausloͤſchliche Erinnerung. Ich will noch mehr ſagen: der Fuͤrſt führte in gewiſſem Sinne ge: radezu eine Umwaͤlzung in unſerer Stadt herbei. Der Bericht über dieſe Umwaͤlzung bildet zweifellos eine der bedeutſamſten Seiten in der Chronik der Stadt Mordaſow. Dieſe Seite lite— rariſch zu bearbeiten und dem Urteile des verehrlichen Publikums zu unterbreiten, habe ich mich nach einigem Schwanken ent: ſchloſſen. Meine Erzählung enthält die vollftändige, те wuͤrdige Geſchichte der Erhöhung, des Ruhmes und des groß: artigen Sturzes unſerer Marja Alexandrowna und ihres ganzen Hauſes in Mordaſow: ein wuͤrdiger, verlockender Stoff fuͤr einen Schriftſteller. Selbftverftändlid muß ich vor allen Dingen aus— einanderſetzen, was denn Erſtaunliches daran war, daß Fuͤrſt K.
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in die Stadt gefahren kam und bei Marja Alexandrowna аб: ſtieg, und zu dieſem Zwecke muß ich natuͤrlich auch uͤber den Fuͤrſten felbft ein paar Worte ſagen. Das will ich denn auch tun. Zudem iſt die Biographie dieſes Fuͤrſten abſolut notwendig zum Verſtaͤndniſſe des ganzen weiteren Ganges unſerer Erzaͤhlung. Alſo, ich fange an.
Zweites Kapitel
Ich beginne mit der Mitteilung, daß Fuͤrſt K. noch nicht ſo uͤber⸗ maͤßig alt war; aber doch kam einem, wenn man ihn anſah, un— willkuͤrlich der Gedanke, er werde im naͤchſten Augenblicke зи: ſammenbrechen: ſo ſtark gealtert oder, richtiger geſagt, ſo ver— lebt war er. In Mordaſow hatte man ſich uͤber dieſen Fuͤrſten hoͤchſt ſonderbare Dinge erzählt, Dinge der phantaſtiſchſten Art. Man hatte ſogar geſagt, der alte Herr ſei verruͤckt geworden. Зе: ſonders ſeltſam kam es allen vor, daß ein Gutsbeſitzer, der vier: tauſend Seelen beſaß, ein Mann mit vornehmer Verwandt: ſchaft, der, wenn er es gewollt hätte, im Gouvernement eine hervorragende Stellung haͤtte einnehmen koͤnnen, ganz allein, wie ein vollftändiger Einſiedler, auf feinem prächtigen Gute lebte. Viele hatten den Fuͤrſten vor ſechs oder ſieben Jahren, zur Zeit ſeines Aufenthaltes in Mordaſow, gekannt und ver— ſicherten, er ſei damals der ausgeſprochene Feind eines zuruͤck— gezogenen Lebens geweſen und habe mit einem Einſiedler nicht die geringſte Ahnlichkeit gehabt.
Ich ſetze jedoch nun alles hierher, was ich uͤber ihn mit einiger Sicherheit habe in Erfahrung bringen koͤnnen: |
Einſtmals, in feinen jungen Jahren (was übrigens ſchon recht weit zuruͤcklag), war der Fuͤrſt in glaͤnzender Weiſe ins Leben eingetreten, hatte gejeut, ſeine Liebſchaften gehabt, ſich mehr—
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mals im Auslande aufgehalten, Lieder geſungen und Witze ge: macht, ohne ſich jedoch jemals durch glaͤnzende geiſtige Faͤhig— keiten auszuzeichnen. Natürlich verſchwendete er ſein ganzes Vermoͤgen und ſah ſich, als er alt geworden war, ploͤtzlich kaum im Beſitze einer Kopeke. Da riet ihm jemand, ſich doch auf ſein Gut zu begeben, das bereits ſubhaſtiert werden ſollte. Er tat dies und kam ſo nach Mordaſow, wo er volle ſechs Monate blieb. Das Leben in der Gouvernementsſtadt gefiel ihm außerordent— lich, und er brachte in dieſen ſechs Monaten alles, was ihm noch geblieben war, bis auf den letzten Reſt durch, indem er zu ſpielen fortfuhr und mit den Damen der Öouvernementsftadt allerlei zarte Beziehungen unterhielt. Dabei war er ein ſehr gutherziger Menſch, wiewohl ſelbſtverſtaͤndlich nicht ohne einige beſonderen fuͤrſtlichen Gewohnheiten, die indes in Mordaſow für eine Eigen— tuͤmlichkeit der hoͤchſten Geſellſchaftskreiſe galten und daher ſtatt Arger zu erregen, ſogar Effekt machten. Beſonders die Damen waren allezeit von ihrem liebenswuͤrdigen Gaſte entzuͤckt. Es haben ſich viele intereſſante Erinnerungen an ihn erhalten. Unter anderm wurde erzaͤhlt, der Fuͤrſt verwende mehr als die Haͤlfte des Tages auf ſeine Toilette und ſcheine ganz aus allerlei kleinen Stuͤcken zuſammengeſetzt zu ſein. Niemand wußte, wann und wo er es fertig gebracht hatte, ſeinen Koͤrper ſo defekt zu machen. Er trug eine Peruͤcke, einen falſchen Schnurrbart, einen falſchen Backenbart und ſogar eine falſche Fliege unter der Unterlippe, - alles bis auf das letzte Haͤrchen war unecht und von praͤchtiger ſchwarzer Farbe; er ſchminkte ſich täglich weiß und rot. Es wurde behauptet, er ziehe mittels kleiner federnder Apparate die Run— zeln auf ſeinem Geſichte glatt, und dieſe Apparate ſeien auf eine beſondere Weiſe in feinen Haaren verſteckt. Ferner wurde Бег hauptet, er trage ein Korſett, weil er bei einem ungeſchickten
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Sprunge aus dem Fenſter anlaͤßlich eines Liebesabenteuers in Italien eine Rippe eingebuͤßt habe. Er hinkte auf dem linken Beine; man behauptete, dieſes Bein ſei ein kuͤnſtliches, das richtige ſei bei einem andern Abenteuer in Paris draufgegangen; dafuͤr habe er ſich ein eigenartiges neues aus Kork machen laſſen. Aber was reden die Menſchen nicht alles! Wahr jedoch war jedenfalls, daß ſein rechtes Auge ein Glasauge war, wiewohl eine aͤußerſt kunſtvolle Imitation. Seine Zaͤhne waren eben— falls unecht. Ganze Tage verbrachte er damit, ſich mit allerlei patentierten Waͤſſern zu waſchen, ſich zu parfuͤmieren und zu pomadiſieren. Man erinnert ſich jedoch, daß der Fuͤrſt damals ſchon merklich anfing hinfällig zu werden und unerträglich viel zu ſchwatzen. Seine Laufbahn ſchien zu Ende zu ſein. Alle Welt wußte, daß er keine Kopeke mehr beſaß. Da auf einmal ſtarb ganz unerwartet eine ſehr nahe Verwandte von ihm, eine ſehr alte Dame, die beſtaͤndig in Paris gelebt hatte, und von der er in keiner Weiſe eine Erbſchaft hatte erwarten koͤnnen; dieſe ſtarb, nachdem ſie einen Monat vor ihrem Tode ihren legitimen Erben begraben hatte. Der Fuͤrſt wurde ganz unerwartet ihr legitimer Erbe. Eine praͤchtige Beſitzung mit viertauſend Seelen, ſechzig Werſt von Mordaſow entfernt, fiel ihm allein ungeteilt zu. Un⸗ verzuͤglich machte er ſich auf nach Petersburg, um ſeine Ge— ſchaͤfte zu ordnen. Ihrem ſcheidenden Gaſte zu Ehren gaben die Damen ein praͤchtiges Diner auf Subſkription. Man erinnert ſich noch, daß der Fuͤrſt bei dieſem letzten Diner in einer be— zaubernden Weiſe aufgeraͤumt war, Witze machte, lachte, die ſonderbarſten Geſchichtchen erzaͤhlte, das Verſprechen gab, ſo bald als moͤglich nach Duchanowo (ſeinem neuerworbenen Gute) zu ziehen, und ſein Wort verpfaͤndete, es wuͤrden dann bei ihm fortwährend Feſte, Picknicks, Bälle und Feuerwerke ftattfinden.
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Ein ganzes Jahr lang nach ſeiner Abreiſe redeten die Damen von dieſen verſprochenen Feſten und warteten mit der groͤßten Ungeduld auf ihren lieben Alten. Waͤhrend dieſer Zeit des Wartens aber wurden ſogar Spazierfahrten nach Duchanowo arrangiert, wo ſich ein altmodiſches Herrenhaus und ein Garten befand, mit Akazienbuͤſchen, die zu Loͤwen zurechtgeſchnitten waren, mit kuͤnſtlich aufgeſchuͤtteten praͤhiſtoriſchen Grabhuͤgeln, mit Teichen, auf denen Kaͤhne ſchwammen, mit hoͤlzernen Tuͤrken, die auf Schalmeien blieſen, mit Lauben, Pavillons, Monplaiſirs und anderen Ergoͤtzlichkeiten.
Endlich kehrte der Fuͤrſt zuruͤck, kam aber zur allgemeinen Verwunderung und Enttaͤuſchung gar nicht nach Mordaſow, ſon— dern ließ ſich in ſeinem Duchanowo nieder und fuͤhrte dort voll— ftändig das Leben eines Einſiedlers. Es verbreiteten ſich ſelt— ſame Geruͤchte, und uͤberhaupt wird die Geſchichte des Fuͤrſten von dieſer Epoche an nebelhaft und phantaſtiſch. Erſtens wurde erzählt, es ſei ihm in Petersburg nicht alles nach Wunſch де: lungen; einige ſeiner Verwandten, ſeine kuͤnftigen Erben, haͤtten wegen der Geiſtesſchwaͤche des Fuͤrſten die Einſetzung einer Art von Vormundſchaft uͤber ihn erwirken wollen, wahrſcheinlich in der Befuͤrchtung, er werde wieder alles verſchwenden. Ja noch mehr: einige fuͤgten hinzu, man habe ihn ſogar ins Irrenhaus bringen wollen; aber einer ſeiner Verwandten, ein hochgeſtellter Herr, ſei fuͤr ihn eingetreten, indem er den uͤbrigen klar bewieſen habe, daß der arme Fuͤrſt, der ſchon zur Haͤlfte tot und unecht ſei, wahrſcheinlich bald ganz ſterben werde, und dann werde das Beſitztum ihnen auch ohne Irrenhaus zufallen. Ich wiederhole noch einmal: was reden die Menſchen nicht alles, beſonders bei uns in Mordaſow! Alles dies habe, ſo wurde erzaͤhlt, den Fuͤrſten furchtbar erſchreckt, dermaßen, daß er feinen Charakter
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vollſtaͤndig geändert und 14 in einen Einſiedler verwandelt
habe. Einige Herrſchaften aus Mordaſow fuhren aus Neugier zu ihm hin, um ihm zu gratulieren; aber ſie wurden entweder gar nicht oder auf eine höchft ſonderbare Weiſe empfangen. Der Fuͤrſt erkannte ſeine fruͤheren Bekannten nicht einmal wieder; man behauptete, er habe ſie nicht wiedererkennen wollen. Auch der Gouverneur beſuchte ihn.
Er kehrte mit der Nachricht zuruͤck, daß ſeiner Meinung nach der Fuͤrſt tatſaͤchlich etwas geiftesgeftört ſei, und machte ſpaͤter immer eine ſaure Miene, wenn man ihn an ſeine Fahrt nach Duchanowo erinnerte. Die Damen aͤußerten laut ihren Un⸗ willen. Endlich erfuhr man einen ſehr wichtigen Umſtand, naͤm⸗ lich, daß den Fuͤrſten eine gewiſſe unbekannte Stepanida Matwjejewna unter ihre Herrſchaft gebracht habe, Gott weiß was fuͤr ein Frauenzimmer, das mit ihm aus Petersburg ge— kommen ſei, eine ſchon bejahrte, dicke Perſon, die in Kattun— kleidern und mit den Schluͤſſeln in der Hand umhergehe; der Fuͤrſt gehorche ihr in allen Stuͤcken wie ein Kind und wage keinen Schritt ohne ihre Erlaubnis zu tun; ſie waſche ihn ſogar eigen— haͤndig, haͤtſchele ihn, trage ihn umher und warte ihn wie ein kleines Kind; fie ſei es auch, die alle Beſucher von ihm fernhalte und namentlich ſeine Verwandten, die nun allmaͤhlich anfingen, nach Duchanowo zu kommen, um Erkundigungen einzuziehen. In Mordaſow wurde uͤber dieſes unbegreifliche Verhaͤltnis viel geredet, namentlich von ſeiten der Damen. Zu alledem wurde noch hinzugefuͤgt, daß Stepanida Matwjejewna das ganze Gut des Fuͤrſten unumſchraͤnkt und nach ihrem Belieben verwalte, Inſpektoren und Dienerſchaft entlaſſe und die Einkuͤnfte in Emp— fang nehme; aber ſie fuͤhre die Verwaltung gut, ſo daß die Bauern ſich wegen ihres Loſes gluͤcklich prieſen. Was aber den
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Fuͤrſten ſelbſt anlangt, ſo erfuhr man, daß er ſeine Tage faſt voll— ſtaͤndig mit ſeiner Toilette ausfuͤlle und ſich Peruͤcken und Fracks anprobiere; die übrige Zeit verbringe er mit Stepanida Matwje⸗ jewna, ſpiele mit ihr „Eigene Truͤmpfe“ und lege ſich Karten; mitunter reite er auch auf einer frommen engliſchen Stute ſpa— zieren, wobei Stepanida Matwjejewna ihn unfehlbar in einem
geſchloſſenen Wagen begleite, fuͤr jeden Fall, da der Fuͤrſt mehr
aus Eitelkeit reite und ſich kaum noch im Sattel halten koͤnne. Man hatte ihn auch manchmal zu Fuß geſehen, im Überzieher und mit einem breitkrempigen Strohhute, um den Hals ein roſa Damentuͤchelchen, das Monokel im Auge, in der linken Hand ein Strohkoͤrbchen zum Sammeln von Pilzen, Kornblumen und
anderen Feldblumen; Stepanida Matwjejewna aber begleitete
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ihn bei ſolchen Gelegenheiten immer; hinter ihnen gingen zwei baumlange Lakaien und fuhr, fuͤr jeden Fall, eine Kutſche. Wenn ihnen dann ein Bauer begegnete, zur Seite trat, ſtehen blieb, die Muͤtze abnahm, ſich tief verbeugte und ſagte: „Guten
Tag, Vaͤterchen Fuͤrſt, Euer Durchlaucht, unſere liebe Sonne!“ dann richtete der Fuͤrſt ſofort feine Lorgnette auf ihn, nickte höf- lich mit dem Kopfe und ſagte freundlich zu ihm: „Bonjour, mon ami, bonjour!“ Und noch viele aͤhnliche Gerüchte waren in
Mordaſow im Umlaufe; man konnte den Fuͤrſten nicht vergeſſen: er wohnte ja in ſo naher Nachbarſchaft! Wie groß war nun das
allgemeine Erſtaunen, als ſich eines ſchoͤnen Morgens das Ge—
ruͤcht verbreitete, der Fuͤrſt, der Einſiedler, der wunderliche Kauz, ſei in eigener Perſon nach Mordaſow gekommen und bei Marja Alexandrowna abgeſtiegen! Alles war in Verwunderung und Aufregung. Alle waren geſpannt auf die Aufklaͤrung; alle frag— ten einander: was hat das zu bedeuten? Manche ſchickten ſich
ſchon an zu Marja Alexandrowna hinzufahren. Allen erſchien
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die Ankunft des Fuͤrſten wie ein reines Wunder. Die Damen
ſchrieben einander Billette, machten ſich Beſuche und ſchickten ihre Zofen und ihre Männer aus, um Erkundigungen einzus ziehen. Beſonders ſeltſam kam es allen vor, warum der Fuͤrſt gerade bei Marja Alexandrowna abgeſtiegen war und nicht bei
ſonſt jemandem. Am meiſten aͤrgerte ſich Darüber Anna Nikola-
jewna Antipowa, weil der Fuͤrſt mit ihr, wenn auch nur ſehr
entfernt, verwandt war. Aber um auf alle dieſe Fragen die Ant—
wort zu finden, muͤſſen wir uns unbedingt zu Marja Alexan⸗
drowna ſelbſt begeben, zu der wir auch den geneigten Leſer ſich hinzubemuͤhen bitten. Es iſt allerdings jetzt erſt zehn Uhr тот:
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gens; aber ich bin davon überzeugt, daß fie es nicht ablehnen wird, gute Bekannte zu empfangen. Uns wenigſtens wird ſie
ſicherlich annehmen.
Drittes Kapitel
Zehn Uhr morgens. Wir befinden uns in Marja Alexandrownas Haufe an der Hauptſtraße, in eben dem Zimmer, das die Haus— frau bei feierlichen Gelegenheiten ihren Salon nennt. Marja Alexandrowna beſitzt auch ein Boudoir. In dieſem Salon iſt der Fußboden gut geſtrichen und die Wände mit huͤbſchen auslaͤndi⸗ ſchen Tapeten beklebt. Bei den ziemlich plumpen Moͤbeln herrſcht die rote Farbe vor. Es iſt ein Kamin da, über dem Ka⸗ min ein Spiegel, vor dem Spiegel eine Bronzeuhr mit einem
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recht geſchmackloſen Amor. An den Fenſterpfeilern befinden fih zwei Spiegel, von denen die Überzüge bereits abgenommen find.
Vor den Spiegeln ſtehen auf kleinen Tiſchchen wieder Uhren. An der hinteren Wand ſteht ein vorzuͤglicher Flügel, der für Sinaida von auswärts bezogen iſt; Sinaida ЦЕ muſikaliſch. Um den geheizten Kamin herum ſind Lehnſtuͤhle aufgeſtellt, nach
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Möglichkeit in maleriſcher Unordnung; zwiſchen ihnen ein kleines Tiſchchen. Am andern Ende des Zimmers ſteht ein anderer Tiſch, mit einem blendend weißen Tiſchtuche bedeckt; auf dem Tiſche ſiedet ein ſilberner Samowar, und daneben iſt ein huͤbſches Teeſervice aufgeſtellt. Über den Samowar und den Tee waltet eine Dame, die als entfernte Verwandte bei Marja Alexan— drowna lebt, namens Naſtaſja Petrowna Sjablowa. Zwei Worte uͤber dieſe Dame. Sie iſt Witwe, etwas uͤber dreißig Jahre alt, bruͤnett, mit friſchem Teint und lebhaften, dunkelbraunen Augen. Überhaupt iſt ſie recht huͤbſch. Sie hat ein heiteres Gemuͤt, lacht viel, iſt recht ſchlau, ſelbſtverſtaͤndlich ein Klatſchmaul und ver—
ſteht ſich auf ihren Vorteil. Sie hat zwei Kinder, die irgendwo die Schule beſuchen. Sie würde ſich ſehr gern wieder verhei- raten. Sie benimmt ſich mit einem ziemlichen Selbſtbewußt— ſein. Ihr Mann iſt Offizier geweſen. — Marja Alexandrowna ſelbſt ſitzt am Kamin, in vorzuͤglicher Stimmung und in einem hellgruͤnen Kleide, das ihr ſehr gut ſteht. Sie freut ſich gewaltig uͤber die Ankunft des Fuͤrſten, der in dieſem Augenblicke im oberen Stockwerke mit ſeiner Toilette beſchaͤftigt iſt. Sie freut ſich dermaßen, daß ſie ſich nicht einmal bemuͤht, ihre Freude zu
verbergen. Vor ihr ſteht in etwas gezierter Haltung ein junger Mann und erzaͤhlt ihr etwas mit beſonderer Lebhaftigkeit. Man kann ihm an den Augen anſehen, daß er feinen Zuhoͤrerinnen ge= fallen moͤchte. Er iſt fuͤnfundzwanzig Jahre alt. Sein Be—
nehmen wuͤrde tadellos ſein, wenn er nicht ſo oft in Entzuͤcken geriete und außerdem nicht fo ſehr danach ſtreben wollte, humo— riſtiſch und witzig zu ſein. Er iſt vorzuͤglich gekleidet, hat blondes Haar und ein huͤbſches Außeres. Aber wir haben ſchon von ihm geſprochen: es iſt Herr Moſgljakow, ein junger Mann, der große Hoffnungen erweckt. Marja Alexandrowna findet im ſtillen, LXXV. 6
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daß ſein Kopf ein bißchen hohl ſei, nimmt ihn aber immer ſehr gut auf. Er bemuͤht ſich um die Hand ihrer Tochter Sinaida, in die er, wie er ſich ausdruͤckt, wahnſinnig verliebt iſt. Er wendet ſich alle Augenblicke an Sinaida und verſucht, durch ſeinen Witz und durch feine Heiterkeit ihren Lippen ein Lächeln zu ent⸗ locken. Die aber benimmt ſich ihm gegenuͤber offenſichtlich kuͤhl und gleichguͤltig. In dieſem Augenblicke ſteht ſie etwas abſeits am Fluͤgel und blaͤttert in einem Kalender. Sie iſt eines der weiblichen Weſen, die allgemeines Erſtaunen und Entzuͤcken her⸗ vorrufen, wenn ſie in einer Geſellſchaft erſcheinen. Sie iſt un- denkbar ſchoͤn: hochgewachſen, bruͤnett, mit wundervollen, faſt ganz ſchwarzen Augen, ſchlank, mit ſtarker, praͤchtiger Bruſt. Ihre Schultern und Arme erinnern an antike Statuen; die Fuͤß— chen ſind verfuͤhreriſch, der Gang der einer Koͤnigin. Sie iſt heute ein bißchen blaß; aber dafür werden Sie von ihren vollen, pur= purnen, wundervoll geſchnittenen Lippen, zwiſchen denen die gleichmaͤßigen kleinen Zaͤhne wie aufgereihte Perlen ſchimmern, drei Nächte hintereinander träumen, wenn Sie fie auch nur ein⸗ mal anſehen. Der Ausdruck ihres Geſichtes iſt ernſt und ſtreng. Monſieur Moſgljakow fuͤrchtet ИФ, wie es ſcheint, vor ihrem feſten Blicke; wenigſtens kruͤmmt er ſich ordentlich zuſammen, wenn er es wagt, ſie anzuſehen. Ihre Bewegungen haben etwas Hochmuͤtiges, Nachlaͤſſiges. Sie traͤgt ein einfaches weißes Muſſelinkleid. Die weiße Farbe ſteht ihr vorzuͤglich; aber ihr ſteht eben alles. An einem ihrer Finger ſteckt ein aus Haar ge— flochtener Ring; nach der Farbe zu urteilen, iſt er nicht aus dem Haare ihrer Mutter geflochten. Moſgljakow hat nie gewagt, fie
zu fragen, weſſen Haar es И. An dieſem Morgen iſt Sinaida ganz beſonders ſchweigſam, ja traurig, als ob ſie von einer Sorge erfuͤllt waͤre. Im Gegenſatz zu ihr moͤchte Marja Alexandrowna
Drittes Kapitel 83
am liebften ohne Unterlaß reden, obwohl fie ebenfalls ab und zu mit einem beſonderen, mißtrauiſchen Blicke nach ihrer Tochter hinſieht; indes tut ſie es nur verſtohlen, als ob auch ſie vor Sinaida Furcht haͤtte.
„Ich bin ſo gluͤcklich, ſo gluͤcklich, Pawel Alexandrowitſch,“ plappert ſie, „daß ich es am liebſten allen Leuten aus dem Fenſter zurufen möchte. Ich rede gar noch nicht einmal von der liebens— wuͤrdigen Überraſchung, die Sie uns, mir und meiner Tochter Sinaida, dadurch bereitet haben, daß Sie zwei Wochen fruͤher wieder hergekommen ſind, als Sie es verſprochen hatten; das verſteht ſich von ſelbſt! Aber ich bin ganz glüdlich darüber, daß Sie dieſen lieben Fuͤrſten hierher gebracht haben. Haben Sie wohl eine Vorſtellung davon, wie ſehr ich dieſen bezaubernden alten Herrn liebe? Aber nein, nein! Sie werden mich nicht verſtehen! Sie, als junger Menſch, werden mein Entzüden nicht begreifen, trotz all meiner Beteuerungen! Wiſſen Sie wohl, was er mir in fruͤherer Zeit geweſen iſt, vor ſechs Jahren, erinnerſt du dich wohl noch, Sinaida? Aber ich vergeſſe ganz: du warſt ja damals bei deiner Tante zu Beſuch ... Sie werden es nicht glauben, Pawel Alexandrowitſch: ich war ſeine Fuͤhrerin, ſeine Schweſter, ſeine Mutter! Er war mir folgſam wie ein Kind! Es lag ſo etwas Naives, Zartes, Edles in unſerem wechſelſeitigen Verhaͤltniſſe; ſogar gewiſſermaßen etwas Idylliſches ... ich weiß nicht recht, wie ich es nennen ſoll! Das iſt der Grund, warum er ſich jetzt einzig und allein an mein Haus dankbar erinnert, ce pauvre prince! Wiſſen Sie wohl, Pawel Alexandrowitſch, daß Sie ihn vielleicht dadurch gerettet haben, daß Sie ihn zu mir brachten? Mit tiefem Weh im Herzen habe ich dieſe ſechs Jahre uͤber an ihn gedacht. Sie werden es nicht glauben: es hat mir ſogar von ihm getraͤumt. Man ſagt, dieſes Ungeheuer
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von einem Weibe habe ihn behext, ihn beinah zugrunde gerichtet. | Aber nun haben Sie ihn ihr endlich aus den Klauen geriſſen! Nein, nun muß man die Gelegenheit benutzen und ihn voll⸗ ſtaͤndig retten! Aber erzaͤhlen Sie mir noch einmal, wie Ihnen das alles gelungen И! Beſchreiben Sie mir auf das eingehendſte Ihr ganzes Zuſammentreffen mit ihm! Vorhin habe ich in der Eile meine Aufmerkſamkeit nur der Hauptſache zugewandt, waͤh⸗ rend doch alle dieſe Details ſozuſagen der Sache erſt den rich- tigen Geſchmack geben. Ich hoͤre außerordentlich gern Details; ſogar bei den wichtigſten Dingen richte ich meine Aufmerkſam⸗ keit in erſter Linie auf die Details... und... ſolange er noch mit feiner Toilette beſchaͤftigt iſt ...“ „Ich kann Ihnen nur wiederholen, was ich Ihnen ſchon er: 4 zaͤhlt habe, Marja Alexandrowna,“ faͤllt Moſgljakow bereitwillig ein; er würde die Geſchichte gern ſelbſt zum zehntenmal er⸗ zaͤhlen, ein ſolches Vergnuͤgen macht es ihm. „Ich fuhr die ganze Nacht hindurch; ſelbſtverſtaͤndlich ſchlief ich die ganze Nacht nicht; Sie koͤnnen es ſich vorſtellen, wie eilig ich es hatte!“ fuͤgt er, zu Sinaida gewendet, hinzu; „kurz, ich forderte auf den Stationen unter Schreien und Schimpfen Pferde und machte ; deswegen ſogar einen Mordsſkandal: wenn man das alles drucken wollte, würde ein ganzes Dichtwerk im modernſten Geſchmack herauskommen! Aber das alles nur beiläufig! Punkt ſechs Uhr
Obwohl ich ganz durchfroren war, wollte ich mich doch nicht erſt aufwaͤrmen, ſondern ſchrie: ‚Pferde!‘ Die Frau des Stations aufſehers, die ein Kind an der Bruſt hatte, bekam daruͤber einen furchtbaren Schreck; ich glaube, es hat ihr die Milch verſchlagen. .. Ein entzuͤckender Sonnenaufgang! Wiſſen Sie, dieſer Froſtſtaub ſchimmert ganz purpurn und ſilbern! Aber ich kuͤmmerte mich
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um nichts; kurz, ich ſuchte [о ſchnell wie irgend möglich weiter: zukommen. Die Pferde erlangte ich nur durch Kampf; ich nahm fie einem Kollegienrate weg und forderte ihn beinah zum Duell. Es wurde mir geſagt, eine Viertelſtunde vorher ſei ein Fuͤrſt von der Station abgefahren; er fahre mit eigenen Pferden und ſei dort uͤber Nacht geblieben. Ich hoͤrte kaum danach hin, ſtieg ein und jagte davon, als haͤtte ich mich von der Kette losgeriſſen. Etwas Ahnliches kommt in einer Elegie bei Fet! vor. Gerade neun Werſt von der Stadt, da wo ſich der Weg nach dem Kloſter Swjetoſerſk abzweigt, ſehe ich, daß ſich ein erſtaunliches Begeb— nis zugetragen hat. Ein Reiſeſchlitten von gewaltiger Groͤße liegt auf der Seite; der Kutſcher und zwei Diener ſtehen ratlos davor, und aus dem auf der Seite liegenden Schlitten dringen herzzerreißende Hilferufe und Schmerzenslaute heraus. Ich wollte zuerſt vorbeifahren, denn ich dachte: „Meinetwegen kannſt du auf der Seite liegen bleiben; du gehoͤrſt nicht zu unſerm Я: ſpiel!' Aber es ſiegte doch die Menſchenliebe, die, wie Heine ſich ausdruͤckt, uͤberall ihre Naſe hineinſteckt. Ich ließ halten. Ich, mein Semjon und der Poſtkutſcher, auch ſo eine echt ruſſiſche Seele, wir eilten zu Hilfe, und auf dieſe Weiſe richteten wir zu ſechſen endlich die Kutſche wieder auf und ſtellten ſie auf die Beine; nun, Beine hatte ſie ja allerdings nicht, ſie war auf Kufen. Auch ein paar Bauern, die mit Holz nach der Stadt fuhren, halfen mit und bekamen von mir dafuͤr ein Trinkgeld. Ich dachte, das iſt gewiß der Fuͤrſt, der vor mir abgefahren iſt! Ich ſehe hin: mein Gott, das iſt ja er ſelbſt, Fuͤrſt Gawrila! Iſt das einmal ein Zuſammentreffen! Ich rufe ihm zu: Fuͤrſt! Onkelchen!' Er erkannte mich allerdings beim erſten Blick bei—
1 Pſeudonym des Lyrikers Schenſchin, 1820 — 1892. Anmerkung des Überſetzers.
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nahe nicht; aber dann erkannte er mich fofort beinahe... beim 5
zweiten Blicke. Ich muß Ihnen jedoch geftehen, daß er auch jetzt kaum weiß, wer ich eigentlich bin, und mich anſcheinend fuͤr einen andern hält und nicht für feinen Verwandten. Ich habe ihn vor ungefähr ſieben Jahren in Petersburg geſehen; nun, da=
mals war ich ſelbſtverſtaͤndlich noch ein ganz junger Burſche. Ich meinerſeits erinnerte mich ſeiner ſehr gut; er hatte einen ſtarken Eindruck auf mich gemacht; na, aber er, wie ſollte er ſich
meiner erinnern! Ich ſtellte mich ihm vor; er war entzuͤckt, um⸗ armte mich, zitterte aber dabei am ganzen Leibe vor Schreck und weinte, bei Gott, er weinte, ich habe es mit meinen eigenen Augen geſehen! Ein Wort gab das andere, und ich uͤberredete ihn ſchließlich, in meinen Schlitten hinuͤberzuſteigen und wenig— - |
ſtens auf einen Tag nach Mordaſow zu fahren, ши ИФ wieder
zu erholen; er war ohne Widerrede damit einverſtanden. Er ſetzte mir auseinander, er ſei auf der Fahrt nach dem Kloſter Swjetoſerſk, zu dem Moͤnchprieſter Miſail, den er ſehr hoch ſchaͤtze und verehre; Stepanida Matwjejewna (wer von uns Зет: wandten haͤtte nicht ſchon von Stepanida Matwjejewna gehoͤrt? mich hat ſie im vorigen Jahre aus Duchanowo mit dem Ofen—
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beſen weggejagt), dieſe Stepanida Matwjejewna habe einen
Brief erhalten, in dem geſtanden habe, daß jemand von ihren Angehoͤrigen in Moskau in den letzten Zuͤgen liege: ihr Vater oder ihre Tochter, ich weiß nicht recht wer, und es intereſſiert mich auch nicht, das zu wiſſen; vielleicht der Vater mitſamt der
Tochter, vielleicht auch noch dazu ein Neffe von ihr, der dort im
Departement der alkoholiſchen Getraͤnke angeſtellt iſt. Tatſache iſt jedenfalls dies: ſie war uͤber dieſe Nachricht ſo beſtuͤrzt, daß ſie ſich dazu entſchloß, ſich auf zehn Tage von ihrem Fuͤrſten zu
trennen, und nach der Hauptſtadt eilte, um ſie durch ihre An-
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weſenheit zu verſchoͤnern. Der Fürft ſaß einen Tag und noch einen Tag zu Hauſe, probierte Peruͤcken an, pomadiſierte ſich, faͤrbte ſich den Bart, legte ſich Karten und befragte vielleicht auch das Bohnenorakel; aber ohne Stepanida Matwjejewna konnte er es auf die Dauer zu Hauſe doch nicht aushalten! Er ließ anſpannen und wollte nach dem Kloſter Swjetoſerſk fahren. Einer von den Hausleuten, der vor Stepanida Matwjejewna auch in ihrer Abweſenheit Angſt hatte, wagte zwar gegen die Fahrt Einwendungen zu machen; aber der Fuͤrſt beharrte auf ſeinem Sinne. Geſtern nach dem Mittageſſen fuhr er von Hauſe ab, blieb in Igiſchewo uͤber Nacht, fuhr dann fruͤh morgens von der Station weiter und waͤre gerade da, wo ſich der Weg zu dem Moͤnchprieſter Miſail abzweigt, beinah mit ſeiner Schlitten— kutſche in eine Schlucht hinabgeſtuͤrzt. Nachdem ich ihn gerettet hatte, redete ich ihm zu, zu unſerer gemeinſamen Freundin, der hoch verehrten Marja Alexandrowna, zu fahren; er ſagte von Ihnen, Sie ſeien die bezauberndſte Dame, die er jemals kennen gelernt habe — und fo find wir denn jetzt hier; der Fuͤrſt aber bringt jetzt oben ſeine Toilette in Ordnung, mit Hilfe ſeines Kammerdieners, den er nicht vergeſſen hat mitzunehmen, und den mitzunehmen er niemals und unter keinen Umſtaͤnden ver— geſſen wird; denn er wuͤrde lieber ſterben als vor Damen ohne gewiſſe Zuruͤſtungen oder, richtiger geſagt, Verbeſſerungen er: ſcheinen. Das iſt der ganze Hergang! Eine allerliebſte Ge⸗ ſchichte!“ | „Aber was er für ein Humoriſt Ш, Sinaida!“ rief Marja Alexandrowna nach Anhoͤrung dieſes Berichtes; „wie huͤbſch er das erzaͤhlt! Aber hoͤren Sie, Pawel Alexandrowitſch, eine Frage: ſetzen Sie mir doch einmal Ihre Verwandtſchaft mit dem Fuͤrſten ordentlich auseinander! Sie nennen ihn Onkel?“
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„Bei Gott, Marja Alexandrowna, ich weiß nicht, wie ich mit ihm verwandt bin: ich glaube, was man fo nennt, um die ſechſte Ecke herum. Ich bin nicht ſchuld daran, daß ich ihn Onkel nenne; \ ſchuld an alledem ИЕ vielmehr meine Tante Aglaja Michailowna. 1 Übrigens hat Tante Aglaja Michailowna weiter nichts zu tun, als Verwandtſchaften an den Fingern herzuzaͤhlen; ſie iſt es auch geweſen, die mich ordentlich mit Gewalt dazu gebracht hat, im vorigen Jahre zu ihm nach Duchanowo zu fahren. Sie haͤtte nur ſelbſt hinfahren ſollen! Ich nenne ihn ganz einfach Onkelchen, und er läßt es ſich gefallen. Da haben Sie unſere ganze Der: wandtſchaft, ſoviel ich wenigſtens heute davon zu ſagen weiß..."
„Aber ich wiederhole doch, daß nur Gott Ihnen den Gedanken eingeben konnte, ihn geradeswegs zu mir zu bringen! Ich zittere, wenn ich mir vorſtelle, was mit dem Armſten geſchehen waͤre, wenn er zu jemand anders hingeraten waͤre als zu mir. Die Leute haͤtten ihn hier geradezu in Stuͤcke zerriſſen und ver⸗ ſchlungen! Sie hätten ſich auf ihn geſtuͤrzt wie auf eine Gold: grube, wie auf ein Diamantenlager — ſie haͤtten ihn womoͤglich einfach beſtohlen! Sie koͤnnen ſich gar nicht vorſtellen, was fuͤr gierige, niedrigdenkende, heimtuͤckiſche Menſchen es hier gibt, Pawel Alexandrowitſch!“ Er
„Ach, mein Gott, aber zu wem hätte er ihn denn überhaupt bringen follen als zu Ihnen? Wie können Sie nur fo reden, Marja Alexandrowna!“ fiel Naſtaſja Petrowna ein, Ме Witwe, die den Tee eingoß. „Zu Anna Nikolajewna haͤtte er ihn ja 3 doch wohl nicht bringen können, was meinen Sie?“ к
„Aber, daß er noch immer nicht herunterkommt! Das ift doch . ſeltſam!“ ſagte Marja Alexandrowna und ftand ungeduldig auf.
„Mein Onkelchen? O, ich glaube, der wird ſich oben noch
fuͤnf Stunden lang anziehen! Und außerdem hat er, da er gar x
Drittes Kapitel 89
kein Gedächtnis beſitzt, vielleicht ſchon vergeſſen, daß er zu Ihnen zu Beſuch gekommen iſt. Er iſt ja ein ganz wunderbarer Menſch, Marja Alexandrowna!“
„Aber ich bitte Sie; was reden Sie! RR Sie doch fo etwas nicht!“
„Ja, Sie ſagen: ‚Was reden Sie!“ Marja Alexandrowna; aber es iſt die reine Wahrheit! Er iſt ja zur Hälfte ein Kunſt⸗ produkt und kein Menſch! Sie haben ihn vor ſechs Jahren ge— ſehen, aber ich vor einer Stunde. Er iſt ja eine halbe Leiche! Er iſt ja nur die Erinnerung an einen Menſchen; man hat ja nur vergeſſen, ihn zu beerdigen! Er hat ja eingeſetzte Augen und Korkbeine und bewegt ſich nur durch ein Federwerk; auch reden tut er nur durch ein Federwerk!“
„Mein Gott, was ſind Sie doch fuͤr ein leichtfertiger Menſch, wenn man Sie ſo reden hoͤrt!“ rief Marja Alexandrowna und nahm eine ſtrenge Miene an. „Sie muͤßten ſich doch ſchaͤmen, als junger Menſch und als Verwandter jo von dieſem ver: ehrungswuͤrdigen alten Manne zu ſprechen! Ganz zu geſchweigen von ſeiner beiſpielloſen Herzensguͤte“ (hier nahm ihre Stimme den Ton der Ruͤhrung an), „fo ſollten Sie doch nicht vergeſſen, daß er ein Überreſt, ſozuſagen ein Truͤmmerſtuͤck unſerer Ariſto— kratie iſt. Mein Freund, mon ami! Ich verſtehe vollkommen, daß Ihr leichtfertiges Benehmen die Folge gewiſſer neuer Ideen iſt, die Sie ſich zu eigen gemacht haben, und von denen Sie fort— während ſprechen. Aber, mein Gott! Ich bin ſelbſt eine An: haͤngerin Ihrer neuen Ideen! Ich verſtehe vollkommen, daß die Grundlage Ihrer neuen Richtung eine edle und ehrenhafte iſt. Ich fuͤhle, daß in dieſen neuen Ideen ſogar etwas Erhabenes liegt; aber alles dies hindert mich nicht, auch die naͤchſtliegende, ſozuſagen die praktiſche Seite der Sache zu ſehen. Ich habe in
90 Onkelchens Traum der Welt gelebt, ich habe mehr geſehen als Sie, und ſchließlich
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bin ich Mutter, Sie aber ſind noch ſehr jung. Er iſt ein alter Mann, und daher erſcheint er uns komiſch! Ja, Sie haben das vorigemal ſogar geſagt, Sie haͤtten die Abſicht, Ihre Bauern frei-
zulaſſen, und man muͤſſe doch auch etwas fuͤr die neue Zeit tun;
und das kommt alles daher, daß Sie uͤbermaͤßig viel in Ihrem
Shakeſpeare geleſen haben! Glauben Sie mir, Pawel Alexan⸗ drowitſch, Ihr Shakeſpeare hat ſein Leben laͤngſt hinter ſich, und wenn er auferſtaͤnde, ſo wuͤrde er mit all ſeinem Verſtande
von unſerem Leben auch nicht das geringſte verſtehen. Wenn
es etwas Ritterliches und Großartiges in unſerer zeitgenoͤſſiſchen Geſellſchaft gibt, ſo iſt das gerade in der hoͤchſten Geſellſchafts— ſchicht zu finden. Ein Fuͤrſt bleibt auch in einem groben Kittel ein Fuͤrſt; ein Fuͤrſt wird auch in einer elenden Huͤtte derſelbe ſein wie in einem Schloſſe! Sehen Sie, da hat ſich der Mann
von Natalja Dmitrijewna ein Haus gebaut, das beinah ein
Schloß zu nennen iſt, und dennoch ift er nur Natalja Dmitri— jewnas Mann und weiter nichts! Und auch Natalja Dmitri— jewna ſelbſt bleibt, mag fie ſich auch fünfzig Krinolinen anziehen, doch immer die fruͤhere Natalja Dmitrijewna und fuͤgt ihrem Werte nichts hinzu. Auch Sie ſind zum Teil ein Repraͤſentant der hoͤchſten Geſellſchaftsſchicht, weil Sie aus ihr hervorgegangen
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ſind. Und ich glaube ihr ebenfalls nicht fernzuſtehen — das iſt aber ein ſchlechter Vogel, der fein eigenes Neſt beſchmutzt! In-
deſſen, Sie werden das alles ſpaͤter noch beſſer einſehen als ich, mon cher Paul, und werden Ihren Shakeſpeare vergeſſen. Das kann ich Ihnen vorherſagen. Ich bin uͤberzeugt, daß Sie ſogar auch jetzt nicht aufrichtig ſind und nur um der Mode willen ſo reden. Aber ich bin ins Plaudern hineingeraten. Bleiben Sie hier unten, mon cher Paul; ich werde nach oben gehen und mich
Drittes Kapitel 91
nach dem Fuͤrſten erkundigen. Vielleicht bedarf er irgend etwas, und mit meinen Dienftboten iſt ja nichts anzufangen ...“
Damit verließ Marja Alexandrowna, in Erinnerung an die Unbrauchbarkeit ihrer Dienſtboten, eilig das Zimmer.
„Marja Alexandrowna ſcheint ſich ſehr daruͤber zu freuen, daß der Beſuch des Fuͤrſten nicht dieſer Modenaͤrrin, der Anna Nikolajewna, zuteil geworden iſt. Die hatte immer behauptet, mit ihm verwandt zu ſein. Da wird ſie gewiß jetzt vor Arger platzen!“ bemerkte Naſtaſja Petrowna. Aber es fiel ihr auf, daß ſie keine Antwort bekam; ſie warf einen Blick nach Sinaida und Pawel Alexandrowitſch hin, erriet ſofort, wie die Sache ſtand, und ging, anſcheinend um etwas zu beſorgen, hinaus. Indeſſen entſchaͤdigte fie ſich dafür auf der Stelle dadurch, daß fie an der Tuͤr ſtehen blieb und horchte.
Pawel Alexandrowitſch wandte ſich ſogleich an Sinaida. Er Без fand ſich in ſchrecklicher Aufregung, und die Stimme zitterte ihm.
„Sinaida Afanaſjewna, Sie ſind mir doch nicht boͤſe?“ le er mit ſchuͤchterner, flehender Miene.
„Ihnen boͤſe? Warum ſollte ich Ihnen boͤſe ſein?“ erwiderte Sinaida, leicht erroͤtend, und hob ihre wundervollen u zu ihm auf.
„Weil ich {о ſchnell wieder hergekommen bin, Sinaida Afa— naſjewna! Ich konnte es nicht laͤnger aushalten; ich konnte nicht noch vierzehn Tage warten . .. Ich habe ſogar von Ihnen ge: träumt. Ich bin hergeeilt, um mein Schickſal zu erfahren ... Aber Sie machen ein finſteres Geſicht; Sie ſind mir boͤſe! Soll ich wirklich auch jetzt nichts Beſtimmtes erfahren?“
Sinaida hatte tatſaͤchlich die Brauen zuſammengezogen.
„Ich habe es erwartet, daß Sie wieder davon zu reden an— fangen wuͤrden,“ antwortete ſie, indem ſie die Augen wieder
92 Onkelchens Traum
niederſchlug; ihre Stimme klang feſt und ernſt; aber man hoͤrte es derſelben doch an, daß fie ſich aͤrgerte. „Und da dieſer Zus ſtand der Erwartung mir ſehr peinlich war, ſo iſt es mir lieb, wenn die Sache ſo ſchnell wie moͤglich erledigt wird. Sie fordern wieder eine Antwort, das heißt, Sie bitten um eine ſolche. Nun gut, ich will ſie Ihnen noch einmal wiederholen; denn meine Antwort iſt ganz dieſelbe wie fruͤher: warten Sie! Ich wieder⸗ hole Ihnen: ich habe mich noch nicht entſchieden und kann Ihnen nicht das Verſprechen geben, Ihre Frau zu werden. Ein ſolches Verſprechen kann man nicht mit Gewalt fordern, Pawel Alexan⸗ drowitſch. Aber zu Ihrer Beruhigung fuͤge ich hinzu, daß ich Ihren Antrag noch nicht endguͤltig ablehne. Beachten Sie auch noch dies: wenn ich Ihnen jetzt die Hoffnung auf eine guͤnſtige Entſcheidung laſſe, ſo tue ich das einzig und allein, weil mir Ihre Ungeduld und Aufregung leid tun. Ich wiederhole Ihnen, daß ich in meiner Entſchließung vollkommen frei bleiben will, und wenn ich Ihnen ſchließlich ſagen ſollte, daß ich Ihren Antrag ablehne, fo dürfen Sie mir keine Vorwuͤrſe machen, als ob ich Ihnen Hoffnung gemacht hätte. Alſo das merken Sie ſich!“ „Aber was beſagt denn das, was beſagt denn das?“ rief Moſgljakow in klaͤglichem Tone. „Iſt denn das wirklich eine Hoffnung? Kann ich aus Ihren Worten irgendwelche Hoffnung entnehmen, Sinaida Afanaſjewna?“ & „Denken Sie an alles, was ich Ihnen gefagt habe, und ent⸗ nehmen Sie daraus alles, was Ihnen beliebt! Das ſteht Ihnen я frei. Aber ich füge nichts weiter hinzu. Ich gebe Ihnen noch keine abfchlägige Antwort; ich ſage nur: warten Sie! Aber ich wiederhole Ihnen: ich behalte mir das volle Recht vor, Ihren | Antrag abzulehnen, wenn mir das gut ſcheinen ſollte. Ich 1 moͤchte noch eines bemerken, Pawel Alexandrowitſch: wenn Sie
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Drittes Kapitel 93
vor dem für die Antwort feſtgeſetzten Termine in der Abſicht hergekommen ſein ſollten, auf Umwegen zu wirken, etwa in der Hoffnung auf fremde Protektion, zum Beiſpiel auf den Einfluß meiner Mutter, ſo haben Sie ſich in Ihrer Spekulation ſehr ge— irrt. Dann werde ich Ihnen geradezu eine Abſage erteilen, hoͤren Sie wohl? Aber jetzt genug davon, und, bitte, erinnern Sie mich bis zur beſtimmten Zeit an dieſe ganze Sache mit keinem Worte!“
Dieſe ganze Rede ſprach ſie in trockenem, feſtem Tone und ſo fließend, als ob ſie ſie vorher auswendig gelernt haͤtte. Pawel Alexandrowitſch fühlte, daß er abgeblitzt war. In dieſem Augen: blicke kehrte Marja Alexandrowna zuruͤck und nach ihr, faſt gleich— zeitig, Frau Sjablowa.
„Ich glaube, er wird ſogleich herunterkommen, Sinaida! Naſtaſja Petrowna, kochen Sie recht ſchnell neuen Tee!“ Marja
Alexandrowna befand ſich ſogar in einiger Aufregung.
„Anna Nikolajewna hat ſchon hergeſchickt, um Erkundigungen einzuziehen. Ihre Anjutka iſt in die Küche gelaufen gekommen und hat dort gefragt. Die wird ſich jetzt boſen!“ berichtete Naſtaſja Petrowna und eilte zum Samowar hin.
„Was geht mich das an?“ erwiderte ihr Marja Alexandrowna uͤber die Schulter weg. „Als ob ich mich dafuͤr intereſſierte, was Ihre Anna Nikolajewna denkt! Sie koͤnnen mir glauben: ich werde niemanden zu ihr in die Kuͤche ſchicken. Und ich wundere mich, wundere mich entſchieden, warum Sie mich immer fuͤr eine Feindin dieſer armen Anna Nikolajewna halten, und nicht Sie allein, ſondern die ganze Stadt. Ich berufe mich auf Sie, Pawel Alexandrowitſch! Sie kennen uns beide; nun, warum ſollte ich ihre Feindin ſein? Wegen des Vorranges? Aber an dieſem Vorrange iſt mir nicht das geringſte gelegen. Mag ſie
94 Onkelchens Traum
doch den erſten Platz einnehmen, mag ſie! Ich werde gern die
erſte ſein, die zu ihr hinfaͤhrt, um ihr zu ihrem Vorrange zu
gratulieren. Und ſchließlich ſind doch alle gegen ſie gerichteten
Beſchuldigungen ungerecht. Ich trete fuͤr ſie ein; es iſt meine Pflicht, für fie einzutreten! Sie wird verleumdet. Warum fallen Sie alle uͤber ſie her? Sie iſt jung und putzt ſich gern; iſt das der Grund? Aber meiner Meinung nach iſt es doch beſſer, ſich zu putzen, als etwas anderes zu tun, wie zum Beiſpiel dieſe Natalja Dmitrijewna, die Dinge treibt, von denen man gar nicht einmal reden kann. Oder weil Anna Nikolajewna fortwaͤhrend Beſuche macht und nicht zu Hauſe bleiben kann? Aber, mein Gott! Sie hat keinerlei Bildung genoſſen, und da faͤllt es ihr
natürlich ſchwer, zum Beiſpiel ein Buch aufzuſchlagen und ſich
mit etwas zwei Minuten lang zu beſchaͤftigen. Sie kokettiert und liebaͤugelt mit jedem, der auf der Straße voruͤbergeht. Aber warum verſichert man ihr denn, daß ſie huͤbſch ſei, waͤhrend ſie doch nur ihr weißes Geſicht hat und weiter nichts? Sie bringt die Zuſchauer beim Tanzen zum Lachen, das gebe ich zu. Aber warum verſichert man ihr denn, ſie tanze wundervoll Polka? Sie traͤgt ſchauderhafte Coiffuͤren und Huͤte; aber was kann ſie dafuͤr, daß ihr Gott keinen Geſchmack, ſondern dafuͤr ein ſolches Quantum von Leichtglaͤubigkeit gegeben hat? Verſichern Sie ihr, daß es huͤbſch ausſieht, wenn man ſich ein Bonbonpapier ins Haar ſteckt, und ſie wird das tun. Sie iſt eine Klatſchbaſe; aber das Ш hier der Brauch: wer klatſcht hier nicht? Herr Suſchilow mit dem ſchoͤnen Backenbarte beſucht ſie morgens und abends und womoͤglich auch noch in der Nacht. Ach, mein Gott! Ihr Mann ſollte nicht bis fuͤnf Uhr morgens Karten ſpielen! Und dazu nehme man noch, daß es hier ſo viele ſchlechte Bei— ſpiele gibt! Schließlich iſt das alles vielleicht auch nur Vers
Viertes Kapitel 95
eng Kurz, ich werde immer, immer r für ſie eintreten! Aber, mein Gott! Da kommt der Fuͤrſt! Er iſt es, er iſt es! Aus Tauſenden erkenne ich ihn heraus! Endlich ſehe ich Sie wieder, mon prince!“ rief Marja Alexandrowna und eilte dem eintretenden Fuͤrſten entgegen. |
Viertes Kapitel
Beim erſten fluͤchtigen Blicke werden Sie dieſen Fuͤrſten ganz und gar nicht fuͤr einen alten Mann halten, und erſt wenn Sie ihn naͤher und genauer anſehen, werden Sie erkennen, daß das eine Art Leiche auf Sprungfedern iſt. Alle Mittel der Kunſt ſind zur Anwendung gebracht, um dieſe Mumie als Juͤngling zu koſtuͤmieren. Die Peruͤcke, der Backenbart, der Schnurrbart und die Fliege, ſaͤmtlich falſch, aber bewundernswert nach— gemacht, zeigen eine prachtvolle ſchwarze Farbe und bedecken das halbe Geſicht. Das Geſicht iſt außerordentlich kunſtvoll weiß und rot geſchminkt und weiſt faft gar keine Runzeln auf. Wo ſind ſie geblieben? Das weiß man nicht. Gekleidet iſt er voll⸗ ftändig nach der Mode, als ob er aus einem Modebilde aus— geſchnitten waͤre. Er traͤgt eine Art von Viſitenanzug oder etwas Ahnliches; ich weiß wahrhaftig nicht, was es eigentlich iſt; aber jedenfalls iſt es etwas hoͤchſt Modernes, Neues, ſpeziell fuͤr Morgenviſiten Geſchaffenes. Die Handſchuhe, die Hals— binde, die Weſte, die Waͤſche und alles übrige iſt von einer blendenden Friſche und zeugt von feinem Geſchmack. Der Fuͤrſt hinkt ein wenig; aber er hinkt ſo geſchickt, als ob auch dies nach den Geſetzen der Mode notwendig waͤre. Im einen Auge traͤgt er ein Monokel, und zwar in eben dem Auge, das ſelbſt von Glas iſt. Der Fuͤrſt iſt von Wohlgeruͤchen durchtraͤnkt. Beim Sprechen zieht er manche Worte in einer beſonderen Weiſe in
96 Onkelchens Traum
die Laͤnge, vielleicht aus Altersſchwaͤche, vielleicht daher, weil
ſeine Zaͤhne ſaͤmtlich falſch ſind, vielleicht auch um des wuͤrde— volleren Eindrucks willen. Gewiſſe Silben ſpricht er mit uͤberaus ſuͤßem Tone aus; beſonders liebt er dabei den Vokal e. „Ja“ klingt bei ihm wie „jje“, aber nur noch etwas ſuͤßer und weicher. In ſeinem ganzen Benehmen liegt eine gewiſſe Laͤſſigkeit, die
er ſich im Laufe ſeines ganzen ſtutzerhaften Lebens angelernt
hat. Aber wenn ſich etwas von dieſem ſeinem fruͤheren ſtutzer—
haften Leben erhalten hat, ſo hat es ſich nur unbewußt erhalten, in Form einer unklaren Erinnerung, in Form einer dahin-
geſtorbenen und begrabenen alten Zeit, die leider keine kosme⸗
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tiſchen Mittel, keine Korſetts, keine Parfümerie handler und keine Peruͤckenmacher wieder ins Leben zuruͤckrufen koͤnnen. und darum werden wir am beſten tun, wenn wir gleich von vorn⸗ herein bekennen, daß der alte Herr infolge ſeines Alters zwar
noch nicht den Verſtand, wohl aber ſchon laͤngſt das Gedaͤchtnis
verloren hat, ſich alle Augenblicke verheddert, ſich wiederholt und ſogar vollſtaͤndigen Unſinn redet. Es bedarf ſogar einer beſon⸗
deren Kunſt, um mit ihm zu reden. Aber Marja Alexandrowna ;
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vertraut auf ihre Geſchicklichkeit und gerät beim Anblick des
Fuͤrſten in unausſprechliches Entzuͤcken.
„Aber Sie haben ſich ja gar nicht, nicht im geringſten ver⸗ aͤndert!“ ruft fie, indem fie beide Hände des Gaſtes ergreift und т ihn auf einen bequemen Lehnſtuhl nötigt. „Setzen Sie ſich, ſetzen Sie ſich, Fuͤrſt! Sechs Jahre lang, ganze ſechs Jahre lang
haben wir uns nicht geſehen, und keinen einzigen Brief, ja nicht eine einzige Zeile habe ich in dieſer ganzen Zeit von Ihnen er⸗
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halten! Oh, wie ſchlecht find Sie gegen mich geweſen, Fuͤrſt!
Und иле Бе war ich auf Sie, mon cher prince! Aber Tee, Tee! Ach mein Gott, Naſtaſja Petrowna, Tee!“
Viertes Kapitel 97
„Ich dan-ke Ihnen, dan-ke Ihnen und bitte um Ver;zei— hung!“ liſpelt der Fuͤrſt (wir haben vergeſſen zu ſagen, daß er ein wenig liſpelt; aber auch das tut er wie nach einer Vorſchrift der Mode). „Ver⸗zei⸗hung! Und denken Sie ſich: noch im vorigen Jahre wollte ich un-be⸗dingt hierher fahren,“ fuͤgt er hinzu, waͤhrend er das Zimmer durch die Lorgnette betrachtet. „Aber man machte mir Этой: es hieß, hier fei die Cho⸗le ra.“
„Nein, Fuͤrſt, bei uns iſt keine Cholera geweſen,“ ſagt Marja Alexandrowna.
„Eine Viehſeuche war hier, Onkelchen!“ wirft Moſgljakow dazwiſchen, der ſich gern bemerklich machen moͤchte. Marja Alexandrowna mißt ihn mit einem ſtrengen Blicke.
„Nun ja, eine Vieh⸗ſeu⸗che oder ſo etwas Ahnliches. So blieb ich denn zu Hauſe. Nun, wie geht es Ihrem Manne, meine liebe Anna Nikolajewna ? Iſt er immer noch als Staats-an-walt tätig?”
„Ich moͤchte darauf wetten, daß Onkelchen eine Verwechſe— lung begeht und Sie fuͤr Anna Nikolajewna Antipowa haͤlt!“ ruft der findige Moſgljakow, hält aber ſofort inne, da er merkt, daß auch ohne dieſe Erklaͤrungen Marja Alexandrowna ſich ſchwer gekraͤnkt fuͤhlt.
„Nun ja, ja, für Anna Nikolajewna . . . ich vergeſſe immer den Familiennamen ... nun ja, Antipowa, richtig, Antipowa,“ bes ftätigt der Fuͤrſt. |
„Nein, nein, Fuͤrſt, Sie irren ſich ſehr,“ ſagt Marja Alexan⸗ drowna mit einem bitteren Laͤcheln. „Ich bin gar nicht Anna Nikolajewna, und ich muß geſtehen, ich haͤtte nicht erwartet, daß Sie mich nicht erkennen wuͤrden! Sie ſetzen mich in Er— ſtaunen, Fuͤrſt! Ich bin Ihre ehemalige Freundin Marja Alexan— drowna Moſkalewa. Erinnern Sie ſich noch an Marja Alexan— drowna, Fuͤrſt?“
XXVI. 7
98 Onkelchens Traum
„Marja Alexandrowna! Nun ſehen Sie einmal an! Und ich dach⸗te gerade, Sie waͤren (wie war doch der Name?) — nun ja! Anna Waſiljewna ... C'est délicieux! Alſo da bin ich nach einer falſchen Stelle hingefahren. Und ich dachte, mein Freund, du braͤch⸗teſt mich gerade zu dieſer Anna Matwjejewna. C'est charmant! Aber das begegnet mir häufig... Ich fahre häufig nach einer falſchen Stelle hin! Ich bin aber immer zufrieden, immer zufrieden, wie es ſich auch treffen mag. Alſo Sie ſind nicht Naſtaſja Waſiljewna? Das iſt intereſſant ...“ |
„Marja Alexandrowna, Fürft, Marja Alexandrowna! Oh, wie weh Sie mir getan haben! Wie konnten Sie nur Ihre beſte Freundin vergeſſen, Ihre beſte Freundin!“
„Nun ja, meine be⸗ſte Freundin ... pardon, pardon!“ liſpelt der Fuͤrſt und betrachtet angelegentlich Sinaida. 4
„Und das ift meine Tochter Sinaida. Sie kennen fie noch nicht, Fuͤrſt. Sie war bei Ihrer vorigen Anweſenheit nicht hier; erinnern Sie ſich noch, vor ſechs Jahren?“ g
„Das iſt Ihre Tochter! Charmante, charmante!“ murmelt der Fuͤrſt, während er Sinaida begehrlich durch die Lorgnette betrachtet. „Mais quelle beauté!“ flüftert er, offenbar ſehr über: raſcht. $ „Bitte, nehmen Sie Tee, Fuͤrſt!“ ſagt Marja Alexandrowna und lenkt die Aufmerkſamkeit des Fuͤrſten auf den Diener, einen : Knaben in Koſakentracht, der mit einem Praͤſentierteller in der Hand vor ihm ſteht. Der Fuͤrſt nimmt eine Taſſe und betrachtet 4 den Knaben, der volle, rote Baͤckchen hat. 5
„A⸗a⸗ah, das ift Ihr Soͤhnchen?“ ſagt er. „Was für ein huͤb— ſcher Kna-be! U-u⸗und gewiß auch ſehr ar-tig, nicht wahr?“
„Aber, Fuͤrſt,“ unterbricht ihn Marja Alexandrowna eilig, „ich habe von dem furchtbaren Ereigniſſe gehoͤrt! Ich muß geſtehen,
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Viertes Kapitel 2)
ich war ganz faſſungslos vor Schreck. .. Haben Sie ſich auch nicht beſchaͤdigt? Nehmen Sie ſich damit nur recht in acht! So etwas darf man nicht vernachlaͤſſigen!“
„Er hat mich umgeworfen! Er hat mich umgeworfen! Mein Kutſcher hat mich umgeworfen!“ ruft der Fuͤrſt mit ungewoͤhn— licher Lebhaftigkeit. „Ich dachte ſchon, es kaͤme der Weltunter— gang oder ſo etwas Ahnliches, und bekam einen ſolchen Schreck, daß ich (die Heiligen moͤgen es mir verzeihen!) den Himmel fuͤr
ein Schaffell anſah! Das hatte ich nicht erwartet, das hatte ich nicht erwartet! Das hatte ich ganz und gar nicht er-war-tet! Und an alledem Ш nur mein Kutſcher Fe⸗o-fil ſchuld! Ich ver— laſſe mich ganz auf dich, mein Freund: nimm du die Sache in die Hand und unterſuche ſie ordentlich! Ich bin davon uͤ-ber— zeugt, daß er es auf mein Leben ab⸗ge-ſe⸗-hen hatte.“
„Schoͤn, ſchoͤn, Onkelchen,“ antwortet Pawel Alexandrowitſch „ich werde alles unterſuchen! Aber wiſſen Sie was, Onkelchen: verzeihen Sie ihm doch, dem heutigen Tage zu Ehren, ja? Was meinen Sie?“
„Unter keinen Um:ſtaͤn⸗den werde ich ihm verzeihen! Ich din davon uͤberzeugt, daß er es auf mein Leben ab-ge⸗-ſe⸗hen hatte! Er und auch noch Lawrenti, den ich zu Hauſe gelaſſen hatte. Denken Sie ſich nur: er hat irgendwelche neuen Ideen gufgeſchnappt, wiſſen Sie! Es iſt bei ihm ſo eine Art von Feindſchaft gegen die beſtehenden Verhaͤltniſſe zum Vorſchein gekommen . .. Kurz, er iſt ein Kommuniſt, im vollen Sinne
des Wortes! Ich fuͤrchte mich ſogar davor, mit ihm zuſammen— zukommen!“ |
„Ach, wie wahr ift das, was Sie da geſagt haben, Fuͤrſt!“ ruft Marja Alexandrowna aus. „Sie glauben gar nicht, wie— viel ich ſelbſt durch die Untauglichkeit der Dienſtboten zu leiden
100 Onkelchens Traum
habe! Stellen Sie ſich das nur vor: ich habe jetzt zwei meiner Leute gewechſelt, und ich muß geſtehen, die neuen ſind ſo dumm, daß ich geradezu vom Morgen bis zum Abend mich mit ihnen herumplagen muß. Sie glauben gar nicht, wie dumm ſie ſind, Fuͤrſt!“
„Nun ja, nun ja! Aber ich muß Ihnen geſtehen, ich habe es ſogar ganz gern, wenn ein Diener ein bißchen dumm Ш,” be: merkt der Fürft, der, wie alle alten Leute, fich freut, wenn man fein Geſchwaͤtz ehrerbietig anhört. „Einem Diener ſteht das gut — und es verleiht ihm fogar eine eigene Würzde, wenn er ет: fältig und dumm iſt. Selbſtverſtaͤndlich nur in gewiſſen Fälzlen. Er macht dadurch einen ſtatt-li-che⸗ren Eindruck; fein Geſicht Бе: kommt etwas Fei⸗er⸗li⸗ches; kurz, die Wohlerzogenheit tritt mehr hervor, und von einem Diener verlange ich vor allen Dingen Wohlerzogenheit. Da iſt zum Beiſpiel mein Te-ren-ti. Du er: innerſt dich wohl noch an Te-ren-ti, mein Freund? Sowie ich den zum erſtenmal anſah, fagte ich ſogleich zu ihm: ‚Du mußt Portier werden!‘ Er iſt von einer phaͤ-no-me-nalen Dummheit! Er macht ein Geſicht wie ein Hammel, der aufs Waſſer blickt! Aber was iſt er fuͤr eine ſtatt-li⸗che, fei⸗er⸗ liche Erſcheinung! Was hat ſein Doppelkinn fuͤr eine friſche, roſige Farbe! Nun, und ſo mit der weißen Halsbinde und in voller Gala, da macht er wirklich Effekt! Ich habe ihn von Herzen liebgewonnen. Manch— mal betrachte ich ihn und kann mich an ihm gar nicht ſattſehen: als wenn er eine Diſſertation verfaßte, eine ſo wichtige Miene macht er. Kurz, er iſt der richtige deutſche Philoſoph Kant oder, noch richtiger geſagt, ein gemaͤſteter, fetter Truthahn. Er beſitzt das vollſtaͤndige comme il faut für einen Diener! ...“
Marja Alexandrowna lacht ganz entzuͤckt und begeiſtert und klatſcht ſogar in die Hände. Pawel Alexandrowitſch ſekundiert
Viertes Kapitel 101
ihr von ganzem Herzen: er amuͤſiert ſich über den Onkel hoͤchlichſt. Auch Naſtaſja Petrowna lacht. Sogar Sinaida laͤchelt.
„Aber wieviel Humor, wieviel Heiterkeit, wieviel Witz be⸗ ſitzen Sie, Fuͤrſt!“ ruft Marja Alexandrowna. „Was fuͤr eine unſchaͤtzbare Fähigkeit, die feinſten, komiſchſten Züge zu Ве: merken! ... Und daß Sie fo aus der Geſellſchaft verſchwunden ſind und ſich ganze fuͤnf Jahre lang von aller Welt abgeſchloſſen haben! Mit einem ſolchen Talente! Aber Sie koͤnnten ja ſchrift— ſtelleriſch tätig fein, Fuͤrſt! Sie koͤnnten ein zweiter Fonwiſin oder Gribojedow oder Gogol werden! ...“
„Nun ja, nun ja!“ ſagt der Fuͤrſt ſehr zufrieden; „das könnte ich .. . und wiſſen Sie, ich bin in früherer Zeit außerordentlich witzig geweſen. Ich habe ſogar ein Vau-de-ville für die Bühne geſchrieben. Es kamen darin ein paar ent;zuͤk-kende Couplets vor! Es iſt übrigens nie geſpielt worden ...“
„Ach, wie nett waͤre es, wenn wir es zu leſen bekaͤmen! Und weißt du, Sinaida, das wuͤrde ſich gerade jetzt ſehr gut treffen! Man beabſichtigt naͤmlich bei uns, eine Theatervorſtellung zu— ſtande zu bringen, zu einem patriotiſchen Zwecke, Fuͤrſt, zum Beſten der Verwundeten ... dazu ſollten Sie uns Ihr Vaude: ville geben!“
„Gewiß! Ich bin ſogar bereit, es noch einmal zu ſchreiben ... aber ich habe es vollſtaͤndig vergeſſen. Ich erinnere mich jedoch, es kamen darin zwei oder drei derartige Witze vor, daß ...“ (der Fuͤrſt kuͤßte feine Fingerſpitzen). „Überhaupt machte ich, als ich im Aus-lan⸗de war, geradezu fu-ro-re. Ich befinne mich noch auf Lord Byron. Wir verkehrten miteinander freundſchaft— lich. Er tanzte auf dem Wiener Kongreß ganz entzuͤckend einen Krakowiak.“
102 Onkelchens Traum
ſagen Sie da?“
„Nun ja, Lord Byron. Aber vielleicht war es auch nicht Lord Byron, ſondern jemand anders. Richtig, es war nicht Lord Byron, ſondern ein Pole! Jetzt erinnere ich mich vollſtaͤndig.
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„Lord Byron, Onkelchen! Ich bitte Sie, Di Onzelchen, was
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Und ein ganz oerisgisneller Menſch war dieſer Pole; er gab ſich
fuͤr einen Grafen aus; aber nachher ergab ſich, daß er ein Speiſe— wirt war. Indes den Krakowiak tanzte er ent-zuͤk-kend, und zu⸗ letzt brach er ſich ein Bein. Ich habe damals auf dieſes Begeb— nis einen Vers gemacht: Unſer Pole tanzte ſchoͤn, So was hab' ich nie geſehn. Aber dann... aber dann, wie es weiterging, daran erinnere ich mich nicht mehr; ich glaube: Doch als er ſich brach das Bein, Ließ er wohl das Tanzen ſein ...“ | „Gewiß wird es [о geweſen fein, Onkelchen!“ ruft Mofgljas kow, der in immer größere Begeiſterung gerät. „Ich glaube, es war jo, mein Freund,“ antwortet Onkelchen,
„oder wenigſtens ſo aͤhnlich. Vielleicht war es uͤbrigens auch
anders; aber jedenfalls waren es ſehr wohlgelungene Verſe ... Überhaupt habe ich jetzt manches, was ich erlebt habe, vergeſſen. Das kommt von meinen vielen Beſchaͤftigungen.“
„Aber ſagen Sie, Fuͤrſt, womit haben Sie ſich denn dieſe ganze Zeit uͤber in Ihrer Einſamkeit beſchaͤftigt?“ fragt Marja Alexandrowna lebhaft intereſſiert. „Ich habe ſo oft an Sie gedacht, mon cher prince, daß ich, wie ich offen geſtehe,
diesmal von Ungeduld brenne, daruͤber Naͤheres zu er— fahren ..
„Womit ich mich beſchaͤftigt habe? Nun, wiſſen Sie, es gib“
Viertes Kapitel 103
überhaupt viele Be⸗ſchaͤf⸗ti⸗zgungen. Manchmal erholt man fich ja auch; aber oft, wiſſen Sie, gehe ich ſo dahin und ſtelle mir allerlei Dinge vor ...“
„Sie haben gewiß ein außerordentlich ſtarkes Vorſtellungs— vermoͤgen, Onkelchen?“
„Ja, ein außerordentlich ſtarkes, mein Lieber. Ich ſtelle mir manchmal ſolche Dinge vor, daß ich ſogar ſelbſt daruͤber nachher ganz er⸗ſtaunt bin. Als ich in Kadujew war .. . А propos! Du biſt ja, glaube ich, Vizegouverneur in Kadujew geweſen?“
„Ich, Onkelchen? Aber ich bitte Sie, was reden Sie!“ ruft Pawel Alexandrowitſch. |
„Nun denk mal an, mein Freund! Und ich habe dich immer für den Vizegouverneur gehalten, und ich dachte noch: der hat ja auf einmal ein ganz anderes Ge-ſicht bekommen? Jener, weißt du, hatte ſo ein recht wuͤr-de-volles, kluges Geſicht. Er war ein au-ßer⸗or⸗dentlich kluger Menſch, und immer machte er Ge⸗dich⸗te, bei allen moͤglichen Gelegenheiten. Von der Seite geſehen hatte er einige Ahnlichkeit mit Karo-Koͤnig ...“
„Nein, Fuͤrſt,“ unterbricht ihn Marja Alexandrowna, „ich kann Ihnen beſtimmt vorherſagen, daß Sie ſich durch ein ſolches Leben zugrunde richten werden! Wie kann man ſich nur fuͤnf Jahre in der Einſamkeit vergraben, ohne einen Menſchen zu ſehen und ohne etwas zu hoͤren! Aber Sie ſind ein verlorener Menſch, Fuͤrſt! Fragen Sie, wen Sie wollen, von denen, die Ihnen treu ergeben ſind: jeder wird Ihnen ſagen, daß Sie ein
verlorener Menſch ſind!“
„Wirklich?“ ruft der Fuͤrſt.
„Ich verſichere Sie; ich rede zu Ihnen als Freundin, wie eine Schweſter! Ich ſage Ihnen das deswegen, weil Sie mir teuer ſind, weil das Andenken der Vergangenheit mir teuer iſt! Was
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hätte ich für Vorteil davon, wenn ich heucheln wollte? Nein, Sie muͤſſen Ihre Lebensweiſe von Grund aus aͤndern; ſonſt werden Sie Ihre Kraft erſchoͤpfen, Sie werden krank werden, Sie werden ſterben ...“
„Ach, mein Gott! Werde ich wirklich ſo bald ſterben?“ ruft der Fuͤrſt erſchrocken. „Und denken Sie nur, Sie haben es er: raten: mich quälen in hohem Grade meine Hämorrhoiden, Бе: ſonders ſeit einiger Zeit. Und wenn ich derartige Anfälle Ве: komme, dann treten dabei überhaupt ganz wun-der-bare Фут: ptome auf; ich werde Sie Ihnen in aller Ausfuͤhrlichkeit be: ſchreiben. Erſtens ...“
„Erzählen Sie das lieber ein andermal, Onkelchen!“ fällt ihm Pawel Alexandrowitſch ins Wort. „Aber jetzt ... Ш es nicht Zeit, daß wir wegfahren?“
„Nun ja, auch gut, ein andermal. Vielleicht iſt es auch nicht beſonders intereſſant, es zu hören. Das ſage ich mir jetzt ſelbſt ... Aber doch iſt es eine hoͤchſt merkwuͤrdige Krankheit. Es kommen dabei allerlei Epiſoden vor. Erinnere mich doch daran, mein Freund, ich werde dir ſpaͤter, am Abend, einen ſolchen Fall aus⸗ fuͤhrlich erzaͤhlen ...“
„Aber hoͤren Sie, Fuͤrſt, Sie ſollten es doch mit einer Kur im Auslande verſuchen,“ unterbricht ihn Marja Alexandrowna noch einmal.
„Im Auslande? Nun ja, nun ja! Ich werde unter allen Umſtaͤnden ins Ausland fahren. Ich erinnere mich, als ich in den zwanziger Jahren im Auslande war, da war es dort au-ßer⸗ or⸗dentlich vergnuͤglich. Ich haͤtte mich beinah verheiratet, mit einer Vikomteſſe, einer Franzoͤſin. Ich war damals ſchrecklich verliebt und wollte ihr mein ganzes Leben weihen. Aber am Ende heiratete nicht ich ſie, ſondern ein anderer. Und was fuͤr
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Viertes Kapitel 105
ein ſonderbarer Zufall: ich hatte mich nur auf zwei Stunden von ihr entfernt, da trug der andere den Sieg davon; es war ein deutſcher Baron; er hat ſpaͤter noch eine Zeitlang im Irren— hauſe geſeſſen.“
„Aber, cher prince, ich habe davon geſprochen, um Sie dar: auf aufmerkſam zu machen, daß Sie ernſtlich auf Ihre Geſund— heit bedacht ſein muͤſſen. Im Auslande gibt es ſo tuͤchtige Arzte .. . und außerdem, wieviel hilft nicht ſchon allein eine Veraͤnderung der Lebensweiſe! Sie muͤſſen entſchieden, wenig— ſtens fuͤr einige Zeit, Ihr Duchanowo verlaſſen.“
„Un⸗be⸗dingt! Ich habe dieſen Entſchluß ſchon laͤngſt gefaßt, und wiſſen Sie, ich beabſichtige, eine hy-dro⸗pa⸗thiſche Kur vor: zunehmen.“
„Eine hydropathiſche Kur?“
„Allerdings. Ich habe mich ſchon früher einmal hy⸗-dro-pa⸗ thiſch behandeln laſſen. Ich war damals in einem Badeorte. Dort war eine Moskauer Dame; ich habe ihren Familiennamen vergeſſen; aber fie war eine hoͤchſt poetiſch veranlagte Dame; ſie mochte etwa ſiebzig Jahre alt ſein. Bei ihr befand ſich noch ihre Tochter, eine ungefähr fünfzigjährige Witwe; auf dem einen Auge hatte ſie den Star. Die redete ebenfalls faſt nur in Verſen. Später hatte fie noch ein unangenehmes Er-leb-nis: ſie ſchlug im Zorn ihr leibeigenes Dienſtmaͤdchen tot und wurde deswegen vor Gericht gezogen. Alſo dieſe beiden Damen kamen auf den Gedanken, mich mit Waſſer zu kurieren. Ich muß ge— ſtehen, ich war damals abſolut nicht krank; na, aber ſie ſetzten mir zu: ‚Unternehmen Sie die Kur, unternehmen Sie die Kur!“ Aus Liebenswuͤrdigkeit und Hoͤflichkeit fing ich auch tatſaͤchlich an, Waſſer zu trinken; ich dachte: vielleicht werde ich mich wirk— lich davon leich⸗ter fühlen. Ich trank und trank, trank und trank;
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ich trank einen ganzen Waſſerfall aus, und wiſſen Sie, ме е \ Hydropathie ift eine ſehr nüßlihe Sache und hat mir außer: ordentlich viel geholfen, ſo daß, wenn ich nicht zuletzt krank ge⸗ worden waͤre, ich vollſtaͤndig geſund ſein wuͤrde, das kann ich Ihnen verſichern ...“
„Das iſt eine durchaus richtige Schlußfolgerung, Onkelchen. Sagen Sie, Onkelchen, haben Sie ſich einmal mit dem Studium der Logik beſchaͤftigt?“
„Mein Gott! Was ſtellen Sie fuͤr Fragen!“ bemerkt Marja Alexandrowna, die ganz empoͤrt iſt, in ſtrengem Tone.
„Jawohl, das habe ich getan, mein Freund; nur iſt es ſchon ſehr lange her. Ich habe auch in Deutſchland Philoſophie ſtudiert und einen ganzen Kurſus durchgemacht; aber ich habe gleich damals alles wieder vollſtaͤndig vergeſſen. Aber... ich muß Ihnen geſtehen ... Sie haben mich durch dieſe Krankheiten {о erſchreckt, daß ich ganz beſtuͤrzt bin. Übrigens, ich komme ſogleich wieder zuruͤck . ..“
„Aber wo wollen Sie denn hin, Fuͤrſt?“ ruft Marja Alexan— drowna erſtaunt.
„Ich komme gleich wieder, gleich .. J will nur einen neuen Gedanken aufſchreiben ... au revoir.
„Nun, wie gefaͤllt er Ihnen?“ ruft Pawel ere und will ſich ausſchuͤtten vor Lachen.
Marja Alexandrowna verliert die Geduld.
„Ich verſtehe nicht, verſtehe abſolut nicht, woruͤber Sie lachen!“ beginnt ſie heftig. „Wie kann man nur uͤber einen achtungswerten alten Herrn, einen Verwandten, lachen, ſich uͤber jedes Wort, das er ſpricht, luſtig machen und ſeine engel— hafte Herzensguͤte ſo mißbrauchen! Ich habe mich uͤber Ihr Benehmen geſchaͤmt, Pawel Alexandrowitſch! Aber ſagen Sie
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doch nur, was denn nach Ihrer 1 an ihm laͤcherlich it! Ich habe nichts Laͤcherliches an ihm gefunden.“ „Was ſagen Sie dazu, daß er keinen Menſchen wieder— erkennt, und daß er manchmal den reinen Unſinn redet?“ „Aber das iſt doch nur eine Folge feiner ſchrecklichen Lebens— weiſe, ſeiner furchtbaren fuͤnfjaͤhrigen Abgeſchloſſenheit unter der Aufſicht dieſes teufliſchen Weibes. Man muß ihn bedauern, aber ſich nicht uͤber ihn luſtig machen. Er hat ſogar mich nicht erkannt; Sie waren ſelbſt Zeuge. Das iſt geradezu ſozuſagen himmelſchreiend! Man muß ihn entſchieden retten! Wenn ich ihm eine Reiſe ins Ausland vorſchlage, ſo tue ich das einzig und allein in der Hoffnung, daß er vielleicht dadurch von Бы gemeinen Weibsbilde loskommt!“ „Wiſſen Sie was? Man muͤßte ihn verheiraten, Dar Alexandrowna!“ ruft Pawel Alexandrowitſch. | Ч „Sie ſpotten ſchon wieder! Sie find wirklich с. Monſieur Moſgljakow!“ „Nein, Marja Alexandrowna, nein! Diesmal rede ich voll— ſtäaͤndig im Ernſt! Warum ſollte man ihn nicht verheiraten? Das iſt doch auch eine Idee! C'est une idee comme une autre! Bitte, ſagen Sie einmal: was kann ihm das ſchaden? Im Gegen: teil befindet er ſich in einer ſolchen Lage, daß eine derartige Maßregel ihn nur retten kann! Nach dem Geſetze kann er noch heiraten. Erſtens wird er von dieſer Hexe (entſchuldigen Sie den Ausdruck!) freikommen. Zweitens, und das iſt die Haupt: ſache: denken Sie ſich einmal, daß er ſich ein liebes, gutherziges, kluges, ſanftes und vor allen Dingen armes Maͤdchen oder noch beſſer eine ſolche Witwe ausſucht, eine weibliche Perſon, die ihn dann wie eine Tochter pflegt und Verſtaͤndnis dafuͤr beſitzt, daß er ihr eine Wohltat erwieſen hat, indem er fie zu ſeiner Frau
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machte. Und was koͤnnte fuͤr ihn beſſer ſein, als daß ein liebes, treues, edles Weſen immer um ihn iſt ſtatt dieſes ... Weibes? Selbſtverſtaͤndlich muß die Betreffende huͤbſch ſein; denn Onkel⸗ chen hat noch immer ſeine Freude an huͤbſchen weiblichen Weſen. Haben Sie wohl bemerkt, wie er ſich an Sinaida Afanaſjewna gar nicht ſattſehen konnte?“
„Aber wo werden Sie eine ſolche Braut fuͤr ihn finden?“ fragt Naſtaſja Petrowna, die ſehr achtſam zugehört hat.
„Da bringen Sie mich auf einen Gedanken: Sie koͤnnten es ja ſelbſt ſein, wenn Sie Luſt dazu haben! Geſtatten Sie die Frage: weshalb ſollten Sie nicht eine paſſende Braut fuͤr den Fuͤrſten ſein? Erſtens ſind Sie huͤbſch; zweitens Witwe; drittens adlig; viertens arm (denn Sie ſind tatſaͤchlich nicht reich); fünf: tens find Sie eine ſehr verſtaͤndige Dame und werden ihn folg: lich lieben, ihm das Leben behaglich machen, jenes Frauen: zimmer mit Schimpf und Schande aus dem Hauſe jagen, ihn ins Ausland bringen, ihn mit Mannabrei und Konfekt fuͤttern, und alles dies bis zu dem Augenblicke, wo er dieſe irdiſche Welt verlaſſen wird, was nach einem Jahre, vielleicht aber auch ſchon nach drittehalb Monaten geſchehen kann. Dann ſind Sie eine Fuͤrſtin, Witwe und reich und heiraten zum Lohn fuͤr Ihren mutvollen Entſchluß einen Marquis oder einen Generalinten— danten! C'est joli, nicht wahr?“
„Weiß der Himmel, ich glaube, ich wuͤrde mich ſchon allein aus Dankbarkeit in ihn verlieben, den guten Menſchen, wenn er mir nur einen Heiratsantrag machen wollte!“ ruft Frau Sjablowa, und ihre dunklen, ausdrucksvollen Augen blitzen auf. „Aber das iſt doch alles nur dummes Zeug!“
„Dummes Zeug? Wenn Sie wollen, wird es Ernſt! Bitten Sie mich mal recht ſchoͤn, und wenn ich es dann nicht noch heute
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fertigbringe, Sie zu feiner Braut zu machen, dann dürfen Sie mir einen Finger abſchneiden! Es ift ja nichts leichter, als Onkel— chen zu etwas zu uͤberreden oder zu verleiten! Er ſagt immer: Nun ja, nun ja!“ Sie haben es ja ſelbſt gehört. Wir wollen ihn verheiraten, ohne daß er es ſelbſt merkt. Verhelfen wir ihm immerhin durch Taͤuſchung zu einer Frau; es iſt ja doch nur zu ſeinem Beſten, ich bitte Sie! . .. Sie ſollten ſich wenigſtens für jeden Fall ein bißchen putzen, Naſtaſja Petrowna!“
Monſieur Moſgljakows Begeiſterung für feine Idee geht in eine Art von Fanatismus uͤber. Und was Frau Sjablowa an— langt, fo waͤſſert ihr, wie verftändig ſie auch iſt, doch der Mund.
„Ich weiß, auch ohne daß Sie es mir ſagen, daß ich heute recht ſchlumpig ausſehe,“ antwortet ſie. „Ich habe ganz auf— gehoͤrt, auf mein Außeres Sorgfalt zu verwenden, und gebe mich ſchon lange keinen Traͤumereien mehr hin ... Ich fehe wohl wirklich wie eine Koͤchin aus?“
Dieſe ganze Zeit uͤber ſaß Marja Alexandrowna mit einem ganz ſeltſamen Geſichtsausdrucke da. Ich irre mich nicht, wenn ich ſage, daß ſie Pawel Alexandrowitſchs ſonderbaren Vorſchlag mit einem gewiſſen Schreck anhoͤrte und ordentlich die Faſſung verlor... Endlich ſammelte fie ihre Gedanken wieder.
„All das iſt ja zwar ſehr ſchoͤn; aber es iſt doch alles toͤricht und abgeſchmackt und vor allen Dingen ganz unpaſſend!“ wandte fie ſich in ſcharfem Tone an Moſgljakow.
„Aber warum, beſte Marja Alexandrowna, warum ſoll denn das toͤricht und unpaſſend ſein?“
„Aus vielen Gruͤnden und beſonders deshalb, weil Sie ſich in meinem Hauſe befinden und der Fuͤrſt mein Gaſt iſt und ich niemandem erlauben werde, den Reſpekt gegen meinen Gaſt außer acht zu laſſen. Ich faſſe Ihre Worte nur als Scherz auf,
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Pawel Alexandrowitſch. Aber Gott fei Dank, da kommt der Fuͤrſt!“ | / „За bin ich wieder!” ruft der Furſt beim Eintritt ins Sie „Es ИЕ erftaunlich, cher ami, wieviel mannigfache Ideen ich heute habe. Zu anderer Zeit (du wirſt es vielleicht gar nicht glauben) kommen mir manchmal uͤberhaupt keine in den Kopf. Ich ſitze dann oft den ganzen Tag ſo fuͤr mich da.“
„Das kommt wahrſcheinlich von dem heutigen Umwerfen mit dem Schlitten her, Onkelchen. Das hat Ihre Nerven erſchuͤttert, und infolgedeſſen ...“ | „Auch ich, mein Freund, führe es auf ebendieſen Umſtand zuruͤck und finde dieſes Begebnis ſogar nuͤtz-lich, fo daß ich Бе: ſchloſſen habe, meinem Fe⸗o⸗fil zu verzeihen. Weißt du was? Es will mir doch ſcheinen, daß er mir nicht nach dem Leben ge— trachtet hat; wie denkſt du daruͤber? Zudem iſt er ohnehin ſchon neulich durch das Abraſieren des Bartes beſtraft worden.“ f „Durch das Abraſieren des Bartes, Onkelchen! Aber er hat ja einen Bart von der Groͤße eines deutſchen Fuͤrſtentumes!“
„Nun ja, von der Groͤße eines deutſchen Fürftentumes. Über: haupt, mein Freund, haft du vollkommen recht mit deinen Schluß: fol⸗ge⸗rungen. Aber das iſt ein kuͤnſtlicher Bart. Denken Sie ſich nur dieſen Zufall: es wird mir auf einmal ein Preiskurant zugeſchickt. Es war aus dem Auslande eine neue Sendung Baͤrte eingegangen, vorzuͤgliche Baͤrte fuͤr Kutſcher und fuͤr Herren: Kinnbaͤrte, ſowie Backenbaͤrte, Fliegen, Schnurrbaͤrte und ſo weiter, und alles von beſter Qualitaͤt und zu ſehr maͤßigen Preiſen. Na, ſchoͤn,“ dachte ich, ‚ich werde mir einen Kinnbart kommen laſſen, um ihn wenigſtens anzuſehen, wie er ſich macht.“ Ich ließ mir alſo einen Kutſcherbart kommen, und wirklich: der Bart nahm ſich ſtattlich aus! Aber es ſtellte ſich heraus, daß
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Feofils eigener Bart faſt noch einmal ſo ой war. Alſo da еп ſtand natürlich die ſchwierige Frage: follte ich ihm feinen eigenen abraſieren laſſen oder den zur Anficht uͤberſandten wieder zuruͤck— ſchicken und ihn feinen natürlichen Bart weitertragen laſſen? Ich dachte lange daruͤber nach und entſchied mich endlich dafuͤr, daß es das beſte ſei, wenn er den kuͤnſtlichen Bart trage.“
„Wahrſcheinlich deswegen, weil die Kunſt uͤber der Natur ſteht, Onkelchen?“
„Eben deswegen. Und was fuͤr ein Seelenſchmerz es fuͤr ihn
war, als ihm der Bart abraſiert wurde! Als ob mit dem Barte
ihm feine ganze Karriere zerſtoͤrt ſei ... Aber iſt es nicht Zeit, daß wir fahren, mein Lieber?“
„Ich bin bereit, Onkelchen.“
„Aber ich hoffe, Fuͤrſt, daß Sie nur zum ое fahren werden!“ ruft Marja Alexandrowna in großer Aufregung. „Sie
gehoͤren jetzt mir, Fuͤrſt, und find den ganzen Tag über ein Mit-
glied meiner Familie. Ich werde Ihnen natürlich nichts über die hieſige Geſellſchaft ſagen. Vielleicht wuͤnſchen Sie, auch bei
Anna Nikolajewna einen Beſuch zu machen, und ich bin nicht berechtigt, Ihnen Ihre guͤnſtigen Vorſtellungen von dieſer Dame
zu nehmen; außerdem bin ich feſt davon uͤberzeugt, daß die Zeit alles ans Licht bringen wird. Aber vergeſſen Sie eines
nicht: daß ich dieſen ganzen Tag uͤber Ihre Wirtin, Ihre Schwe— ſter, Ihr Muͤtterchen, Ihre Waͤrterin bin, und ich muß geſtehen,
ich zittere um Sie, Fuͤrſt! Sie kennen dieſe Menſchen nicht, nein, Sie kennen fie nicht vollſtaͤndig, wenigſtens einſtweilen
noch nicht! ...“ „Verlaſſen Sie ſich auf mich, Marja Alexandrowna! Es wird
alles ſo geſchehen, wie ich es Ihnen verſprochen habe,“ ſagt
Moſgljakow.
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„Ja, Sie! Sie ſind ein Windhund! Auf Sie iſt kein Verlaß! Ich erwarte Sie zum Mittageſſen, Fuͤrſt. Wir ſpeiſen fruͤh. Und wie ſehr bedaure ich, daß mein Mann gerade auf dem Gute iſt! Wie ſehr wuͤrde er ſich freuen, Sie wiederzuſehen! Er verehrt Sie ſo ſehr und liebt Sie von ganzem Herzen!“
„Ihr Mann? Haben Sie denn auch einen Mann?“ fragt der Fuͤrſt.
„Ach, mein Gott! Wie vergeßlich Sie ſind, Fuͤrſt! Aber Sie haben ja alles Fruͤhere vollſtaͤndig vergeſſen, vollſtaͤndig! Mein Mann, Afanaſi Matwjejewitſch, erinnern Sie ſich wirklich nicht an ihn? Er iſt jetzt auf dem Gute; aber Sie haben ihn fruͤher tauſendmal geſehen. Erinnern Sie ſich nur, Fuͤrſt: Afanaſi Matwjejewitſch! ...“
„Afanaſi Matwjejewitſch! Auf dem Gute; nun denken Sie einmal; mais c'est délicieux! Alſo haben Sie auch einen Mann? Was fuͤr ein ſeltſamer Zufall! Das iſt gerade wie in einem Vaudeville: „ЗИ aus der Tür der Eheherr, So fährt die Frau ſogleich nach ... entſchuldigen Sie, ich habe vergeſſen, wie es weiterging! Aber die Frau fuhr auch irgendwohin; ich glaube nach Tula oder nach Jaroſlawl; kurz, es iſt ſehr komiſch.“
„Iſt aus der Tuͤr der Eheherr, So faͤhrt die Frau ſogleich nach Twer“, fo heißt es, Onkelchen,“ hilft Moſgljakow ein.
„Nun ja, nun ja! Ich danke dir, mein Freund; richtig: nach Twer.“ Charmant, charmant! So paßt es auch gut zuſammen. Du findeſt immer den Reim, mein Lieber! Ja, ja, es ſchwebte mir fo vor: ‚nach Jaroflawl' oder ‚nach Koſtroma'; aber jeden— falls fuhr die Frau auch irgendwohin! Charmant, charmant! Übrigens habe ich ein wenig vergeſſen, wovon ich angefangen hatte zu reden... Ja! Alſo dann wollen wir fahren, mein Freund. Au revoir, madame; adieu, ma charmante demoi-
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selle,“ fuͤgte der Fuͤrſt hinzu, indem er ſich an Sinaida wandte und ſeine Fingerſpitzen kuͤßte.
„Kommen Sie alſo zum Mittageſſen, Fuͤrſt, zum Mittag— eſſen! Vergeſſen Sie ja nicht, recht bald zuruͤckzukehren!“ ruft ihm Marja Alexandrowna nach.
Fuͤnftes Kapitel „Sie ſollten einmal in der Kuͤche nach dem Rechten ſehen, Naſtaſja Petrowna!“ ſagt ſie, nachdem ſie den Fuͤrſten hinaus— begleitet hat. „Ich habe ſo eine Ahnung, daß dieſer ent— ſetzliche Nikitka das Mittageſſen beſtimmt verderben wird! Ich glaube ſicher, daß er ſchon betrunken iſt.“
Naſtaſja Petrowna gehorcht. Beim Hinausgehen wirft ſie einen mißtrauiſchen Blick nach Marja Alexandrowna hin und bemerkt an ihr eine ungewoͤhnliche Aufregung. Statt in die Kuͤche zu gehen und den entſetzlichen Nikitka zu beaufſichtigen, geht Naſtaſja Petrowna durch den Saal, von dort auf dem Flur nach ihrem Zimmer und von dort in ein dunkles Zimmerchen, eine Art Rumpelkammer, wo allerlei Kaſten ſtehen, alte Kleider haͤngen und die ſchmutzige Waͤſche des ganzen Hauſes, in Buͤndel gebunden, aufbewahrt wird. Sie ſchleicht auf den Fußſpitzen zu einer verſchloſſenen Tuͤr, haͤlt den Atem an, buͤckt ſich, ſieht
durch das Schluͤſſelloch und horcht. Dieſe Tuͤr iſt eine der drei
Tuͤren eben jenes Zimmers, wo jetzt Sinaida und ihre Mutter zuruͤckgeblieben ſind; ſie iſt immer feſt verſchloſſen und zugenagelt.
Marja Alexandrowna iſt der Anſicht, daß Naſtaſja Petrowna eine ſchlaue, leichtfertige Perſon ſei. Allerdings iſt ihr ſchon manchmal der Gedanke gekommen, daß Naſtaſja Petrowna ſich
wohl auch nicht geniere, zu horchen. Aber im gegenwaͤrtigen
Augenblicke iſt Frau Moſkalewa ſo beſchaͤftigt und aufgeregt, daß LXXV. 8
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fie ganz vergeſſen hat, gewiſſe Vorſichtsmaßregeln zur An-
wendung zu bringen. Sie ſetzt ſich auf einen Lehnſtuhl und a blickt Sinaida bedeutſam an. Sinaida fuͤhlt, daß der Blick ihrer
Mutter auf ſie gerichtet iſt, und ein unangenehmes, peinliches Gefuͤhl zieht ihr das Herz zuſammen. „Sinaida!“
Sinaida wendet ihr blaſſes Geſicht langſam zu ihr hin und
hebt ihre ſchwarzen, melancholiſchen Augen in die Hoͤhe.
„Sinaida, ich beabſichtige, mit dir uͤber eine außerordentlich
wichtige Sache zu reden.“ Sinaida wendet ſich vollſtaͤndig zu ihrer Mutter hin, legt die
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Haͤnde zuſammen und ſteht erwartungsvoll da. Ihr Geſicht
nimmt einen aͤrgerlichen, ſpoͤttiſchen Ausdruck an, was ſie in— deſſen zu verbergen ſucht.
„Ich moͤchte dich fragen, Sinaida, welchen Eindruck heute
dieſer Moſgljakow auf dich gemacht hat.“
„Sie wiſſen doch ſchon laͤngſt, wie ich uͤber ihn denke,“ ant⸗ wortet Sinaida widerwillig.
„Ja, mon enfant; aber mir ſcheint, er wird gar zu zudringlich mit ſeiner Bewerbung.“
„Er ſagt, er ſei in mich verliebt; da iſt ſeine Zudringlichkeit }
entſchuldbar.“
„Sonderbar: früher warſt du nicht ſo gern bereit, ihn zu еп ſchuldigen. Im Gegenteil fielſt du immer uͤber ihn her, wenn ich von ihm zu ſprechen anfing.“
„Ebenſo iſt es ſonderbar, daß Sie ihn immer verteidigt haben und durchaus wollten, ich ſollte ihn heiraten, und jetzt die erſte ſind, die uͤber ihn herfaͤllt.“
„Ja, beinahe iſt es ſo. Ich leugne es nicht, Sinaida: ich haͤtte dich gern als Moſgljakows Frau geſehen. Es war mir ſchmerz⸗
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lich, deinen ſteten Kummer und deine Leiden zu ſehen, die ich zu verſtehen imſtande bin (was du auch immer von mir denken magft!), und die mir den Schlaf meiner Nächte rauben. Ich war ſchließlich zu der Überzeugung gelangt, daß nur eine erheb- liche Veraͤnderung in deinem Leben dich retten kann! Und dieſe Veraͤnderung muß die Ehe ſein. Wir ſind nicht reich und koͤnnen zum Beiſpiel keine Reiſe ins Ausland unternehmen. Die hieſigen Eſel wundern ſich, daß du dreiundzwanzig Jahre alt und noch nicht verheiratet biſt, und erfinden Hiſtoͤrchen daruͤber. Aber kann ich dich denn ſo einem hieſigen Rat oder unſerm Fiskal Iwan Iwanowitſch zur Frau geben? Gibt es etwa hier Maͤnner für dich? Moſgljakow iſt ja freilich ein Hohlkopf, aber doch immer noch beſſer als die andern. Er iſt aus guter Familie, hat eine angeſehene Verwandtſchaft und beſitzt hundertfuͤnfzig Seelen; das iſt doch beſſer als von Raͤnken und Beſtechungsgeldern und Gott weiß was fuͤr Dingen zu leben; deshalb hatte ich denn auch mein Augenmerk auf ihn gerichtet. Aber ich verſichere dich, wirk— liches Gefallen habe ich nie an ihm gefunden. Ich bin uͤberzeugt, daß der Allerhoͤchſte ſelbſt mich gewarnt hat. Und ſollte Gott dir
jetzt etwas Beſſeres ſchicken, oh, wie gut waͤre es dann, daß du
ihm noch nicht dein Wort gegeben haſt! Du haſt ihm doch wohl heute nichts Beſtimmtes geſagt, Sinaida?“
1 „Wozu dieſe gekuͤnſtelten Wendungen, Mama, wenn ſich doch die ganze Sache in wenigen Worten erledigen laͤßt?“ erwiderte Sina gereizt.
„Gekuͤnſtelte Wendungen, Sinaida, gekuͤnſtelte Wendungen! Wie kannſt du ſo etwas zu deiner Mutter ſagen! Aber was wundere ich mich? Du haſt ja ſchon laͤngſt kein Vertrauen mehr zu deiner Mutter! Du haͤltſt mich ſchon laͤngſt nicht fuͤe deine Mutter, ſondern fuͤr deine Feindin.“
116 Onkelchens Traum „Ach, hoͤren Sie doch auf, Mama! Wir werden uns doch nicht
um einen Ausdruck ſtreiten! Verſtehen wir einander denn nicht
mehr? Ich meine, wir haben doch Zeit genug gehabt, um uns verſtehen zu lernen.“
„Aber du kraͤnkſt mich, mein Kind! Du willſt nicht glauben, daß ich gern alles, ſchlechthin alles tue, um dir eine geſicherte Exiſtenz zu ſchaffen.“
Sinaida blickte ihre Mutter ſpoͤttiſch und aͤrgerlich an.
„Wollen Sie mich am Ende dieſem Fuͤrſten zur Frau geben, um mir eine geſicherte Exiſtenz zu ſchaffen?“ fragte ſie mit einem ſonderbaren Laͤcheln.
„Ich habe kein Wort davon geſagt; aber da du es er— waͤhnt haſt, ſo will ich ſagen: wenn es ſich ſo machte, daß du den Fuͤrſten heirateteſt, [о wäre das dein Gluͤck, und nicht etwa eine Torheit.“
„Ich aber finde, daß es geradezu ein Unſinn iſt!“ rief Sinaida heftig. „Ein Unſinn, ein Unſinn! Ich finde auch, Mama, daß Sie ſich gar zu ſehr poetiſchen Schwaͤrmereien hingeben; Sie ſind eine Dichterin, im vollen Sinne dieſes Wortes; ſo nennen die Leute Sie hier ja auch. Sie haben beſtaͤndig allerlei Plaͤne im Kopfe. Die Unmoͤglichkeit und Torheit derſelben ſchreckt Sie nicht ab. Schon als der Fuͤrſt noch hier ſaß, ahnte es mir, daß Ihnen dies durch den Kopf ging. Als Moſgljakow feine Dumm— heiten hinredete und ſagte, man muͤſſe dieſem alten Manne eine Frau geben, da las ich alle Ihre Gedanken auf Ihrem Geſichte. Ich moͤchte darauf wetten, daß Sie daran denken und gerade in dieſer Abſicht das Geſpraͤch mit mir angefangen haben. Aber da Ihre unaufhoͤrlichen Projekte in betreff meiner Perſon an— fangen, mir toͤdlich langweilig zu werden und mich zu peinigen, ſo bitte ich Sie, davon zu mir kein Wort zu reden, hoͤren Sie
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wohl, Mama, kein Wort; und es waͤre mir lieb, wenn Sie das nicht vergeſſen wollten!“ Sie konnte vor Zorn kaum atmen.
„Du biſt ein Kind, Sinaida, ein reizbares, krankes Kind!“ ant⸗ wortete Marja Alexandrowna mit geruͤhrter Stimme, der man die nahen Traͤnen anhoͤrte. „Du ſprichſt mit mir reſpektlos und kraͤnkſt mich. Keine andere Mutter würde das ertragen, was ich von dir taͤglich ertrage! Aber du biſt gereizt, du biſt krank, du leideſt; ich aber bin eine Mutter und vor allen Dingen eine Chriſtin. Es iſt meine Pflicht zu dulden und zu verzeihen. Aber ein Wort, Sinaida: wenn ich nun wirklich an eine ſolche Ver— bindung gedacht haͤtte, warum haͤltſt du denn das fuͤr Unſinn? Meiner Anſicht nach hat Moſgljakow noch nie vernünftiger ge— ſprochen als vorhin, wo er darlegte, daß der Fuͤrſt ſich notwendig verheiraten muͤſſe — natuͤrlich aber nicht mit dieſer Schlumpe Naſtaſja. Was er hiervon ſagte, war Faſelei.“
„Hoͤren Sie mal, Mama! Sagen Sie geradeheraus: fragen Sie mich danach nur ſo aus Neugier oder in ernſter Abſicht?“
„Ich frage nur: warum erſcheint dir das als ſolcher Un— ſinn?“
„Ach, wie graͤßlich! Was iſt mir doch fuͤr ein widerwaͤrtiges Schickſal beſchieden!“ rief Sinaida und ſtampfte vor Empoͤrung mit dem Fuße auf die Erde. „Nun, dann will ich Ihnen ſagen, warum, wenn Sie es noch nicht wiſſen: von allen andern Ab— jurditäten will ich gar nicht einmal reden, aber den Umſtand auszu— nutzen, daß der alte Mann geiſtesſchwach geworden iſt, ihn zu detruͤgen, ihn, den Kruͤppel, zu heiraten, um ihm das Geld ab— zunehmen, und dann taͤglich und ſtuͤndlich ſeinen Tod herbei— zuwuͤnſchen, das iſt meiner Anſicht nach nicht nur Unſinn, ſon— dern uͤberdies ſo gemein, ſo grundgemein, daß ich Sie zu einem ſolchen Gedanken nicht begluͤckwuͤnſchen kann, Mama!“
| ах ва 118 Onkelchens Traum и
Es trat ein Stillſchweigen ein, das etwa eine Minute lang dauerte.
„Sinaida! Denkſt du wohl noch an das, was vor zwei Jahren geſchehen iſt?“ fragte Marja Alexandrowna auf einmal.
Sinaida zuckte zuſammen.
„Mama!“ ſagte ſie in ſtrengem Tone, „Sie haben mir damals feierlich verſprochen, das niemals zu erwaͤhnen.“
„Jetzt aber, mein Kind, bitte ich dich feierlich um die Erlaub— nis, nur ein einziges Mal dieſes Verſprechen außer acht laſſen zu duͤrfen, das ich bisher ſtets gehalten habe. Sinaida! Die Zeit iſt gekommen, wo wir uns miteinander voͤllig ausſprechen muͤſſen. Dieſe zwei Jahre des Schweigens waren ſchrecklich! So kann es nicht weitergehen! . . . Ich bin bereit, dich auf meinen Knien darum zu bitten, daß du mir erlauben moͤchteſt, zu reden.
Hoͤrſt du wohl, Sinaida, deine leibliche Mutter fleht dich auf
ihren Knien an! Und gleichzeitig gebe ich dir mein feierliches Wort, das Wort einer ungluͤcklichen Mutter, die von einer ab— goͤttiſchen Liebe zu ihrer Tochter erfüllt ift, daß ich niemals, unter keiner Bedingung, unter keinen Umſtaͤnden, ſelbſt nicht, wenn es ſich um die Rettung meines Lebens handeln ſollte, ſpaͤter noch einmal davon reden werde. Dies wird das letzte— mal ſein; aber jetzt iſt es unumgaͤnglich notwendig!“
Marja Alexandrowna rechnete auf eine volle Wirkung dieſer Worte.
„So ſprechen Sie denn!“ erwiderte Sinaida, die merklich blaß
geworden war.
„Ich danke dir, Sinaida. Vor zwei Jahren kam zu beinem inzwiſchen verſtorbenen Heinen Bruder Dmitri ein Lehrer...
„Aber wozu dieſe feierliche Einleitung, Mama! Wozu alle dieſe Schoͤnrednerei, alle dieſe Einzelheiten, die doch ganz un—
Fünftes Kapitel 119
find?" unterbrach Sinaida fie voll Ärger und Widerwillen. „Der Grund ift der, mein Kind, daß ich, deine Mutter, mich
jetzt genoͤtigt ſehe, mich dir gegenuͤber zu rechtfertigen! Der
Grund iſt der, daß ich dir dieſe ganze Sache von einem voͤllig anderen Geſichtspunkte aus darſtellen will und nicht von jenem fehlerhaften Geſichtspunkte aus, von dem du ſie anzuſehen ge— wohnt biſt. Der Grund iſt endlich der, daß ich dir ein leichteres Verſtaͤndnis der Schlußfolgerung ermoͤglichen moͤchte, die ich aus alledem zu ziehen beabſichtige. Glaube nicht, mein Kind, daß ich mit deinem Herzen mein Spiel treiben will! Nein, Sinaida, du wirſt an mir eine wahre Mutter finden und wirſt vielleicht, von Traͤnen uͤberſtroͤmt, zu meinen Fuͤßen, zu den Füßen der ‚gemeinen Perfon‘, wie du mich ſoeben genannt haft, ſelbſt um die Verſoͤhnung bitten, die du bisher ſo lange und mit ſolchem Hochmute abgelehnt haſt. Nun weißt du, warum ich alles ausſprechen will, Sinaida, alles, ganz von Anfang an; ſonſt werde ich ſchweigen!“
„So ſprechen Sie denn!“ ſagte Sinaida noch einmal; fie ver: wuͤnſchte von ganzem Herzen das Beduͤrfnis ihrer Mutter, ſchoͤne Reden zu halten.
„Ich fahre fort, Sinaida: dieſer Kreisſchullehrer, faſt noch ein Knabe, macht auf dich einen mir ganz unbegreiflichen Eindruck. Ich rechnete zu ſehr auf deine geſunde Vernunft, auf deinen edlen Stolz und hauptſaͤchlich auf ſeine Geringwertigkeit (denn ich muß doch alles ſagen), als daß ich haͤtte argwoͤhnen ſollen, es koͤnnte ſich zwiſchen euch etwas anſpinnen. Und ploͤtzlich kommſt du zu mir und erklaͤrſt mir mit aller Entſchiedenheit, du haͤtteſt die Abſicht, ihn zu heiraten! Sinaida! Das traf mein Herz wie ein Dolchſtich! Ich ſchrie auf und verlor die Beſinnung.
120 Onkelchens Traum
Aber du haſt das alles ja im Gedaͤchtniſſe! Natuͤrlich hielt ich es fuͤr notwendig, meine ganze Macht anzuwenden, die du Tyrannei nannteſt. Bedenke nur: ein blutjunger Menſch, ein Kuͤſterſohn, der monatlich zwoͤlf Rubel Gehalt bekommt und ein paar elende Gedichte zuſammengeſudelt hat, die aus Mitleid in der „Зее: bibliothek abgedruckt worden find, und der nur von dieſem ver- dammten Shakeſpeare zu reden verſteht, dieſer Knabe ſollte dein Mann werden, Sinaida Moſkalewas Mann! Das war ja ganz im Stile der Hirtinnen in Florians Schaͤferromanen! Ver— zeih mir, Sinaida, aber ſchon die bloße Erinnerung bringt mich ganz außer mir! Ich gebe ihm eine abſchlaͤgige Antwort; aber keine Macht der Erde vermag dich zuruͤckzuhalten. Dein Vater zwinkert natuͤrlich nur mit den Augen und verſteht nicht einmal, was ich ihm auseinanderſetze. Du ſetzt den Verkehr mit dieſem jungen Menſchen fort, haſt ſogar Rendezvous mit ihm, und was das Allerſchrecklichſte iſt, du entſchließt dich ſogar dazu, mit ihm in einen Briefwechſel zu treten. Schon beginnen allerlei Ge— ruͤchte ſich in der Stadt zu verbreiten. Man verſetzt mir Stiche durch Anſpielungen; die Leute freuen ſich ſchon und poſaunen die Sache nach Leibeskraͤften aus, und auf einmal gehen alle meine Prophezeiungen auf das vollkommenſte in Erfüllung. Ihr geratet uͤber irgend etwas in Streit; er erweiſt ſich als ein deiner durchaus unwuͤrdiger Bube (einen Mann kann ich ihn nicht nennen!) und droht dir, deine Briefe in der Stadt bekannt zu machen. Bei dieſer Drohung geraͤtſt du, voller Empoͤrung, außer dir und gibſt ihm eine Ohrfeige. Ja, Sinaida, auch dieſer Umſtand ift mir bekannt! Ich weiß alles, alles! Der Ungluͤck— liche zeigt noch an demſelben Tage einen deiner Briefe dem Taugenichts Sauſchin, und eine Stunde darauf befindet ſich dieſer Brief ſchon in den Haͤnden meiner Todfeindin Natalja
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Fuͤnftes Kapitel 121
Dmitrijewna. Noch an demſelben Abend macht der verruͤckte Menſch, von Reue ergriffen, einen ungeſchickten Verſuch, ſich zu vergiften. Kurz, es entſteht eine graͤßliche Skandalgeſchichte! Dieſe Schlumpe Naſtaſja kommt ganz erſchrocken mit der furcht— baren Nachricht zu mir gelaufen: der Brief befinde ſich ſchon eine ganze Stunde lang in Natalja Dmitrijewnas Haͤnden; in zwei Stunden werde die ganze Stadt von deiner Schande wiſſen! Ich uͤberwinde mich und falle nicht in Ohnmacht; aber wie tief hatteſt du mein Herz verwundet, Sinaida! Dieſes ſchamloſe Frauenzimmer, dieſe graͤßliche Naſtaſja, fordert zweihundert Rubel Silber und verſpricht, dafuͤr den Brief zuruͤckzuverſchaffen. Ich laufe ſelbſt in leichten Schuhen durch den Schnee zu dem Juden Bumſtein und verſetze bei ihm meinen Halsſchmuck, ein Andenken von meiner ſeligen Mutter! Zwei Stunden darauf iſt der Brief in meinen Haͤnden. Naſtaſja hat ihn geſtohlen. Sie hat die Schatulle, in die er eingeſchloſſen war, erbrochen, und deine Ehre iſt gerettet; es ſind keine Beweisſtuͤcke da! Aber in welcher Aufregung habe ich um deinetwillen jenen ſchrecklichen Tag verlebt! Gleich am andern Tage bemerkte ich zum erſten Male in meinem Leben einige graue Haare auf meinem Kopfe, Sinaida! Du ſelbſt haſt jetzt uͤber das Benehmen dieſes jungen
Menſchen ein richtiges Urteil gewonnen. Du gibſt jetzt ſelbſt,
vielleicht mit einem bitteren Laͤcheln, zu, daß es der Gipfel der Unvernunft geweſen waͤre, ihm dein Schickſal anzuvertrauen. Aber ſeitdem quaͤlſt und marterſt du dich, mein Kind; du kannſt ihn nicht vergeſſen oder, richtiger geſagt, nicht ihn (er iſt immer deiner unwuͤrdig geweſen), ſondern das Traumbild deines ver— gangenen Gluͤckes. Dieſer Ungluͤckliche liegt jetzt auf dem Sterbe— bette; man ſagt, er habe die Schwindſucht; aber du mit deiner Engelsguͤte willſt dich, ſolange er noch lebt, nicht verheiraten,
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um ihm nicht das Herz zu zerreißen; denn er quaͤlt ſich immer noch mit Eiferſucht, obgleich ich davon uͤberzeugt bin, daß er dich nie in echter, edler Weiſe geliebt hat! Als er von Moſglja- kows Bewerbung gehoͤrt hatte, da hat er (das weiß ich) Spionage betrieben, hat heimlich hergeſchickt und Erkundigungen einge— zogen. Du haft Mitleid mit ihm, mein Kind; ich habe deine Ge: fuͤhle erraten, und Gott weiß, mit wie bitteren Traͤnen ich mein Kiffen benetzt habe! ...“
„Aber ſo laſſen Sie doch das alles weg, Mama!“ unterbrach Sinaida ſie in unbeſchreiblicher Qual. „Ihr Kiſſen war wohl da— bei ſehr notwendig,“ fügte fie ſpoͤttiſch hinzu. „Geht es denn gar nicht ohne Pathos und Phraſen?“
„Du glaubſt mir nicht, Sinaida! Sei nicht ſo feindlich gegen mich geſinnt, mein Kind! Meine Augen ſind in dieſen zwei Jahren nicht trocken geworden; aber ich habe meine Traͤnen vor dir verborgen und verſichere dir, daß ich ſelbſt mich im Laufe
dieſer Zeit in vielen Stuͤcken umgewandelt habe! Ich habe fuͤr deine Gefuͤhle ſchon vor laͤngerer Zeit Verſtaͤndnis erlangt und geſtehe, daß ich nun erſt die ganze Groͤße deines Kummers be— griffen habe. Kann man mir einen Vorwurf daraus machen, liebes Kind, daß ich dieſe Zuneigung als eine romantiſche Schwaͤrmerei betrachtet habe, hervorgerufen durch dieſen ver— dammten Shakeſpeare, der feine Naſe uͤberall da hineinſtecken muß, wo man ihn nicht braucht? Welche Mutter kann wegen meiner damaligen Angſt, wegen der von mir ergriffenen Maß— regeln, wegen der Strenge meines Urteils den Stab uͤber mich brechen? Aber jetzt, jetzt, wo ich zwei Jahre lang geſehen habe, wie du leideſt, jetzt verſtehe und wuͤrdige ich deine Gefuͤhle. Glaube mir, daß ich dich vielleicht weit beſſer verſtehe, als du dich ſelbſt verſtehſt. Ich bin uͤberzeugt, daß du nicht ihn liebſt, dieſen
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abſonderlichen Knaben, ſondern deine goldenen Zukunfts— traͤumereien, dein verlorenes Gluͤck, deine hohen Ideale. Ich habe ſelbſt geliebt und vielleicht ſtaͤrker als du. Ich habe ſelbſt gelitten; auch ich habe meine hohen Ideale gehabt. Und darum: wer kann mir jetzt einen Vorwurf machen, und vor allen Dingen, kannſt du mir etwa einen Vorwurf deswegen machen, weil ich der Anſicht bin, daß die Verbindung mit dem Fuͤrſten die beſte Rettung, das einzig Notwendige fuͤr dich in deiner jetzigen Lage iſt?“
Sinaida hatte mit Verwunderung dieſe lange Tirade ange— hoͤrt; ſie wußte ganz genau, daß ihre Mama dieſen Ton nie ohne Urſache anſchlug. Aber die letzte, unerwartete Schlußfolgerung verſetzte ſie doch in das groͤßte Erſtaunen.
M Alſo haben Sie wirklich im Ernſte vor, mich dieſem Fuͤrſten zur Frau zu geben?“ rief fie und ſah ihre Mutter erſtaunt, bei- nah erſchrocken an. „Alſo waren das Ihrerſeits nicht bloße Phantaſien, vage Projekte, ſondern Ihre feſte Abſicht? Alſo hatte ich richtig geraten? Und... und... inwiefern iſt denn
dieſe Heirat fuͤr mich eine Rettung und eine Notwendigkeit in meiner jetzigen Lage? Und .. . und ... in welchem Zuſammen— hange ſteht denn das alles mit dem, was Sie jetzt eben erwaͤhnt haben .. mit dieſer ganzen Geſchichte? ... Ich verſtehe Sie abſolut nicht, Mama!“
VD ch aber wundere mich, mon ange, wie du das alles nicht ver:
ſtehen kannſt!“ rief Marja Alexandrowna, die nun ihrerſeits leb—
haft wurde. „Erſtens ſchon allein dies, daß du in eine andere
Geeſellſchaft, in eine andere Welt uͤbergehſt! Du wirft für immer dieſen widerwaͤrtigen Kraͤhwinkel verlaſſen, der fuͤr dich voll ſchrecklicher Erinnerungen iſt, wo du keinen wirklichen Freund haſt, wo man dich verleumdet hat, wo alle dieſe Tratſchweiber
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dich wegen deiner Schoͤnheit haſſen. Du kannſt ſogar noch in dieſem Fruͤhjahr ins Ausland fahren, nach Italien, nach der Schweiz, nach Spanien, Sinaida, nach Spanien, wo die ЭП: hambra iſt und der Guadalquivir, und nicht das hieſige haͤß— liche Fluͤßchen mit dem unanſtaͤndigen Namen ...“
„Aber erlauben Sie, Mama, Sie reden ſo, als ob ich ſchon verheiratet wäre oder wenigſtens der Fuͤrſt mir ſchon einen An— trag gemacht haͤtte!“ |
„Darüber beunruhige dich nicht, mein Engel; ich weiß, was ich rede. Aber erlaube mir fortzufahren! Das erſte habe ich Бе: reits geſagt; jetzt kommt das zweite: ich verſtehe, mein Kind, mit welchem e du dieſem Moſgljakow deine RR geben wuͤrdeſt ..
„Ich weiß auch ohne Ihre Worte, daß ich ihn niemals heiraten werde!“ antwortete Sinaida heftig, und ihre Augen blitzten.
„Und wenn du wuͤßteſt, wie ſehr ich deinen Widerwillen ver: ſtehe, liebes Kind! Es iſt ſchrecklich, vor Gottes Altar einem Manne Liebe zu ſchwoͤren, den man nicht lieben kann! Es iſt ſchrecklich, jemandem anzugehoͤren, den man nicht einmal zu achten imſtande iſt! Er aber verlangt deine Liebe; zu dieſem Zwecke will er dich heiraten; ich merke das an der Art, wie er nach dir hinſieht, wenn du dich abwendeſt. Und wie ſchwer iſt es, ſich zu verſtellen! Ich ſelbſt habe das fuͤnfundzwanzig Jahre lang durchgemacht. Dein Vater hat mich ungluͤcklich gemacht. Er hat mir, das kann ich wohl ſagen, meine ganze Jugend ver— dorben, und wie oft haſt du meine Traͤnen geſehen!“
„Papa iſt auf dem Gute; bitte, ſagen Sie nichts Schlechtes von ihm!“ ſagte Sinaida.
„Ich weiß, du nimmſt ihn immer in Schutz. Ach, Sinaida! Mir hat das Herz geblutet, als ich aus Berechnung deine Ver—
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heiratung mit Moſgljakow wuͤnſchte. Aber bei dem Fuͤrſten brauchſt du dich nicht zu verſtellen. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß du ihn nicht lieben kannſt ... mit wirklicher Liebe, und er ſelbſt iſt auch gar nicht in der Lage, eine ſolche Liebe fordern zu koͤnnen ...“ |
„Mein Gott, was iſt das Ни Unfinn! Aber ich verſichere Ihnen, daß Sie ſich von Anfang an getaͤuſcht haben, gleich von vornherein, in der Hauptſache! So moͤgen Sie denn wiſſen, daß ich uͤberhaupt nicht heiraten will, niemanden; ich will ledig bleiben! Sie haben mir zwei Jahre lang deswegen zugeſetzt, weil ich mich nicht verheirate. Nun, Sie werden ſich damit eben abfinden muͤſſen. Ich will nicht; das genuͤgt. Und dabei wird es bleiben!“
„Aber mein Herzchen, liebſte Sinaida, um Gottes willen, werde nur nicht heftig, bevor du mich zu Ende gehoͤrt haſt! Was бай du nur für ein hitziges Köpfchen, wirklich! Wenn du mir ge— ſtatten willſt, dir die Sache von meinem Geſichtspunkte aus zu zeigen, ſo wirſt du mir ſofort zuſtimmen. Der Fuͤrſt wird noch ein, hoͤchſtens zwei Jahre leben, und meiner Anſicht nach iſt es beſſer, eine junge Witwe als eine alte Jungfer zu ſein, ganz zu geſchweigen davon, daß du nach ſeinem Tode eine Fuͤrſtin, frei, reich und unabhaͤngig ſein wirſt! Mein liebes Kind, du blickſt vielleicht verächtlich auf alle dieſe Spekulationen — Spekula⸗ tionen auf ſeinen Tod! Aber ich bin eine Mutter, und welche Mutter wird mir meine weitblickende Fuͤrſorge zum Vorwurfe machen? Und noch eins: wenn du in deiner engelhaften Guͤte dieſen jungen Menſchen immer noch bemitleideſt, ihn dermaßen bemitleideſt, daß du dich nicht einmal verheiraten willſt, ſolange er noch lebt (wie ich vermute), ſo bedenke doch, daß du durch eine Heirat mit dem Fuͤrſten ihn gleichſam wieder zum Leben
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erweckſt, ihm eine große Freude bereiteft! Wenn er auch nur eine Spur von geſunder Vernunft beſitzt, ſo wird er doch natuͤr— lich begreifen, daß Eiferſucht auf den Fuͤrſten ein Ding der Un— moͤglichkeit, etwas Laͤcherliches ſein wuͤrde; er wird begreifen, daß du aus Berechnung, unter dem Druck der Notwendigkeit geheiratet haft. Schließlich wird er begreifen ... das heißt, ich will einfach ſagen, daß du nach dem Tode des Fuͤrſten dich wieder verheiraten kannſt, mit wem du willſt . ..“ 5
„Alſo ganz einfach: ich ſoll den Fuͤrſten heiraten, ihn aus— plündern und dann auf ſeinen Tod ſpekulieren, um den Ger liebten zu heiraten. Sie ſuchen Ihren Zweck auf eine ſchlaue Weiſe zu erreichen! Sie wollen mich verfuͤhren, indem Sie mir vorſchlagen ... Ich verſtehe Sie, Mama, ich verſtehe Sie оо: kommen! Sie koͤnnen ſich doch ſchlechterdings nicht enthalten, edle Gefuͤhle herauszukehren, ſogar bei einer garſtigen Sache. Hätten Sie doch lieber einfach und geradezu gejagt: ‚Sinaida, es iſt eine Gemeinheit; aber ſie bringt Vorteil; darum willige ein!“ Das wäre wenigſtens aufrichtiger geweſen.“
„Aber, mein Kind, warum willſt du die Sache denn durchaus von dieſem Geſichtspunkte aus anſehen, von dem Geſichtspunkte des Betruges, der Hinterliſt und der Selbſtſucht? Du haͤltſt meine Spekulationen fuͤr eine Gemeinheit und fuͤr einen Be— trug? Aber ich bitte dich bei allem, was heilig iſt, wo ſteckt denn da ein Betrug, was iſt daran fuͤr eine Gemeinheit? Betrachte dich doch nur im Spiegel: du biſt ſo ſchoͤn, daß man gar wohl fuͤr dich ein Koͤnigreich hingeben kann! Und da bringſt du, du, eine ſolche Schönheit, dem alten Manne deine beſten Lebens jahre zum Opfer! Du wirft wie ein ſchoͤner Stern feinen Lebens⸗ abend erleuchten; du wirſt dich wie gruͤner Efeu um ſein Alter ſchlingen, du, und nicht dieſe Brenneſſel, dieſes widerwaͤrtige
Fünftes Kapitel 127
Frauenzimmer, das ihn behext hat und ihm gierig den Lebens— ſaft ausſaugt! Sind etwa ſein Geld und ſein Fuͤrſtentitel mehr wert als du? Wo ſteckt da Betrug und Gemeinheit? Du weißt ſelbſt nicht, was du redeſt, Sinaida!“
„Dieſe Dinge muͤſſen doch wohl viel wert ſein, wenn ich um ihretwillen einen Kruͤppel heiraten ſoll! Betrug bleibt immer Betrug, Mama, mag der Zweck ſein, welcher er will!“
„Nicht doch, liebe Sinaida, nicht doch! Man kann die Sache ſogar von einem hohen, ſogar vom chriſtlichen Geſichtspunkte aus anſehen, mein Kind! Du haſt einmal in einem Augenblicke der Ekſtaſe zu mir geſagt, du wollteſt Barmherzige Schweſter wer— den. Dein Herz hat viel gelitten und ſich verhaͤrtet. Du ſagteſt (ich weiß das noch), dein Herz koͤnne nicht mehr lieben. Wenn du nicht mehr an Liebe glaubſt, ſo wende deine Gefuͤhle einem anderen, höheren Gegenſtande zu, tue das aufrichtig wie ein 5 Kind, mit vollem Glauben und voller Hingebung — und Gott wird dich ſegnen. Dieſer alte Mann hat ebenfalls viel gelitten; er iſt ungluͤcklich; er wird befeindet; ich kenne ihn ſchon mehrere Jahre und habe immer eine beſondere Zuneigung zu ihm emp— funden, eine Art Liebe, gerade als ob mir etwas geahnt haͤtte. > Sei ſeine Freundin, fei feine Tochter, fei nötigenfalls ſogar fein Spielzeug — wenn ſchon alles herausgeſagt werden ſoll! Aber erwaͤrme ſein Herz, und du wirſt das um Gottes und der Tugend willen tun! Er iſt komiſch; beachte das nicht! Er iſt nur ein halber Menſch; habe Mitleid mit ihm: du biſt eine Chriſtin! U'berwinde dich ſelbſt; ſolche Taten erfordern Selbſtuͤberwin— dung. Nach unſerer Auffaffung iſt es eine ſchwere Aufgabe, im Krankenhauſe Wunden zu verbinden, und wir ekeln uns, die verdorbene Lazarettluft einzuatmen. Aber es gibt Engel Gottes, die das ausfuͤhren und Gott fuͤr ihren Beruf preiſen. Das waͤre
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eine Arznei für dein krankes Herz, ein Beruf, eine Großtat — dadurch wuͤrdeſt du deine Wunden heilen. Wo iſt da Egoismus, wo iſt da Gemeinheit? Aber du glaubſt mir nicht! Du denkſt vielleicht, ich verſtelle mich, wenn ich von Pflicht und Großtaten rede. Du kannſt es nicht verſtehen, daß ich, eine eitle Weltdame, ein Herz und Gefuͤhle und moraliſche Grundſaͤtze haben kann. Nun gut, glaube mir nicht, kraͤnke deine Mutter; aber gib zu, daß ihre Worte vernuͤnftig ſind und den Weg zur Rettung zeigen! Stelle dir meinetwegen vor, daß nicht ich zu dir rede, ſondern ein anderer; ſchließe die Augen, drehe dich nach der Ecke zu; bilde dir ein, daß eine unſichtbare Stimme zu dir ſpricht! .. Du nimmſt hauptſaͤchlich daran Anſtoß, daß dies alles um des Geldes willen geſchehen ſoll, als ob es eine Art Verkauf oder Kauf waͤre. So verzichte doch meinetwegen auf das Geld, wenn dir das Geld ſo verhaßt iſt! Behalte nur ſoviel, wie notwendig iſt, für dich und verteile alles übrige unter die Armen! Hilf zum Beiſpiel wenigſtens ihm, dieſem Ungluͤcklichen auf dem Sterbe⸗ bette!“
„Er wird keine Hilfe annehmen,“ ſagte Sinaida leiſe, als ob ſie fuͤr ſich ſpraͤche.
„Er wird fie nicht annehmen; aber feine Mutter wird fie an⸗ nehmen,“ antwortete Marja Alexandrowna triumphierend; „пе wird ſie ohne ſein Wiſſen annehmen. Du haſt vor einem halben Jahre deine Ohrringe verkauft, die deine Tante dir geſchenkt hatte, und ihr geholfen; ich weiß das. Ich weiß, daß die alte Frau Waͤſche fuͤr die Leute waͤſcht, um ihren ungluͤcklichen Sohn zu unterhalten.“
„Er wird bald keiner Hilfe mehr beduͤrfen!“ |
„Ich weiß auch, worauf da damit hindeuteſt,“ fiel Marja Alexandrowna ein und eine Begeiſterung, eine wirkliche Bes
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geiſterung erfaßte fie; „ich weiß, wovon du redeſt. Es heißt, er habe die Schwindſucht und werde bald ſterben. Aber wer ſagt das denn eigentlich? Ich habe neulich Kaliſt Staniſlawitſch er: preß nach ihm gefragt: ich intereſſierte mich für ihn, weil ich ein Herz habe, Sinaida. Kaliſt Staniſlawitſch antwortete mir, die Krankheit ſei allerdings gefaͤhrlich; aber er ſei bis jetzt noch der Überzeugung, daß der Kranke nicht die Schwindſucht, ſondern nur eine andere ziemlich ſtarke Bruſtaffektion habe. Frage ihn ſelbſt! Er ſprach ſich mir gegenuͤber zuverſichtlich dahin aus, daß unter veränderten Verhaͤltniſſen, beſonders bei einem Wechſel des Klimas und der aͤußeren Eindruͤcke, der Kranke geneſen könne. Er ſagte mir, in Spanien (das habe ich auch ſchon früher gehoͤrt und ſogar geleſen), da gebe es eine merkwuͤrdige Inſel, ich glaube, Malaga (jedenfalls hat ſie denſelben Namen wie ein Wein), wo nicht nur Bruſtkranke, ſondern ſogar richtige Schwind— ſuͤchtige bloß durch das Klima vollſtaͤndig wiederhergeſtellt wuͤrden; und es begaͤben ſich viele Leute expreß zur Kur dort— hin, ſelbſtverſtaͤndlich nur hohe Herren oder wohl auch Kauf— leute, aber nur ſehr reiche. Schon allein dieſe zauberhafte Alhambra, dieſe Myrten, dieſe Zitronenbaͤume, dieſe Spanier auf ihren Maultieren! Schon das allein wird auf eine poetiſch veranlagte Natur einen gewaltigen Eindruck machen. Du meinſt, er werde deine Hilfe, dein Geld zu dieſer Reiſe nicht annehmen? So taͤuſche ihn, wenn er dir leid tut! Eine Taͤuſchung zum Zwecke der Rettung eines Menſchenlebens iſt verzeihlich. Mach ihm Hoffnung; verſprich ihm ſelbſt deine Liebe; ſag ihm, du werdeſt ihn heiraten, ſobald du werdeſt Witwe ſein! Man kann alles in der Welt auf eine edle Art ſagen. Deine Mutter wird dich nichts Unedles lehren, Sinaida; du tuſt das zur Rettung ſeines Lebens, und daher iſt alles entſchuldbar! Du wirſt ihn LXXV. 9
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durch die Hoffnung neu beleben; er wird ſelbſt anfangen, auf ſeine Geſundheit zu achten, die Kur innezuhalten, auf die Arzte zu hoͤren. Er wird ſich bemuͤhen, die Geſundheit wiederzuer— langen, um gluͤcklich zu werden. Wenn er geneſen iſt, dann wirſt du, wenn du ihn auch nicht heirateft, ihn doch wenigſtens geſund gemacht, ihn gerettet, ihn ins Leben zuruͤckgerufen haben! Und ſchließlich kann man ihm ja auch eine gewiſſe Sympathie zu— wenden! Vielleicht hat ihn dann das Schickſal belehrt und zum Beſſeren umgewandelt, und wenn er wirklich deiner wuͤrdig ſein wird, dann kannſt du ihn ja meinetwegen auch heiraten, ſo— bald du wirſt Witwe geworden ſein. Du kannſt, wenn du ihn kuriert haſt, ihm eine Stellung in der Welt verſchaffen, ihm eine gute Karriere ermoͤglichen. Deine Verheiratung mit ihm wird dann eher entſchuldbar ſein als jetzt, wo ſie geradezu unmoͤglich iſt. Was wuͤrde euch beide erwarten, wenn ihr euch jetzt zu einem jo unſinnigen Schritte entſchloͤſſet? Allgemeine Verachtung, Ar— mut, Durchpruͤgeln von Schulbuben (denn das iſt mit ſeinem Amte notwendig verbunden), wechſelſeitiges Vorleſen von Shakeſpeare, lebenslaͤngliches Wohnen in Mordaſow und end: lich ſein naher, unvermeidlicher Tod. Wenn du ihm dagegen wieder zur Gefundheit verhilfſt, jo ermoͤglichſt du ihm ein nuͤtz— liches, ſittlich gutes Leben; und wenn du ihm verzeihſt, ſo wird er dich vergoͤttern. Ihn quaͤlt jetzt die Reue uͤber ſeine damalige haͤßliche Handlung; aber wenn du ihm die Möglichkeit zu einem neuen Leben gibſt und ihm verzeihſt, ſo bringſt du ihn dahin, wieder zu hoffen und ſich mit ſich ſelbſt zu verſoͤhnen. Er kann in den Staatsdienſt treten und dort aufruͤcken. Und ſchließlich, ſelbſt wenn er nicht wieder geſund werden ſollte, ſo wird er als ein Gluͤcklicher ſterben, verſoͤhnt mit ſich ſelbſt, in deinen Armen (denn du ſelbſt kannſt in dieſen Augenblicken bei ihm ſein), uͤber⸗
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zeugt davon, daß du ihn liebſt und ihm verziehen haſt, im Schat— ten der Myrten und Zitronenbaͤume, unter dem dunkelblauen exotiſchen Himmel! O Sinaida! Das alles haſt du in der Hand! Alle Vorteile find auf deiner Seite — und alles das dadurch, daß du den Fuͤrſten heirateſt.“
Marja Alexandrowna war zu Ende. Es trat ein ziemlich langes Stillſchweigen ein. Sinaida befand ſich in unbeſchreib— licher Aufregung.
Wir unternehmen es nicht, Sinaidas Gefuͤhle zu ſchildern; wir koͤnnen fie nicht erraten. Aber es ſcheint, daß Marja Aleran: drowna den richtigen Weg zu ihrem Herzen gefunden hatte. Da ſie nicht wußte, in welchem Zuſtande ſich das Herz ihrer Tochter jetzt befand, ро hatte fie alle möglichen Situationen, in denen es ſich befinden konnte, durchprobiert und zuletzt gemerkt, daß fie auf den richtigen Weg gekommen war. Sie hatte die krankſten Stellen an Sinaidas Herzen mit rauher Hand beruͤhrt und natuͤr— lich nach ihrer Gewohnheit nicht umhin gekonnt, edle Gefuͤhle herauszukehren, durch die ſich Sinaida allerdings nicht ver— blenden ließ. „Aber was ſchadet es, daß ſie mir nicht glaubt,“ hatte Marja Alexandrowna gedacht, „wenn ich ſie nur zum eigenen Nachdenken bringen kann! Wenn ich ihr nur recht ge— ſchickt das andeuten kann, wovon ich nicht geradezu ſprechen darf!“ So hatte ſie gedacht und ihr Ziel erreicht. Sie hatte die gewuͤnſchte Wirkung hervorgebracht. Sinaida hatte geſpannt zugehoͤrt. Ihre Wangen gluͤhten, ihre Bruſt wogte.
„Hoͤren Sie, Mama,“ ſagte ſie endlich in entſchloſſenem Tone, obgleich die Blaͤſſe, die ihr Geſicht ploͤtzlich uͤberzog, deutlich zeigte, wieviel ihr dieſer Entſchluß koſtete. „Hören Sie, Mama...”
Aber ein ploͤtzliches Geraͤuſch, das vom Vorzimmer her hoͤr— bar wurde, und eine ſcharfe, kreiſchende Stimme, die nach Marja
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Alexandrowna fragte, zwangen Sinaida innezuhalten. Marja Alexandrowna ſprang auf.
„Ach, mein Gott!“ rief ſie, „da fuͤhrt mir der Teufel dieſe ſchwatzhafte Elſter, die Frau Oberſt, her! Und dabei habe ich ſie vor vierzehn Tagen beinah aus dem Hauſe gejagt!“ fuͤgte ſie faft in Verzweiflung hinzu. „Aber . .. aber es ift unmöglich, fie jetzt abzuweiſen! Unmoͤglich! Sie hat gewiß irgendwelche Neuigkeiten; ſonſt wuͤrde ſie es nicht wagen, ſich bei mir zu zeigen. Das iſt wichtig, Sinaida! Ich muß wiſſen, was ſie bringt. Wir duͤrfen jetzt nichts unbeachtet laſſen! — Aber wie dankbar bin ich Ihnen für Ihren Beſuch!“ rief fie, der Eintreten den entgegeneilend. „Wie lieb von Ihnen, ſich meiner zu erinnern, teuerſte Sofja Petrowna! Welch eine ent-zuͤk⸗ken⸗de Überraſchung!“
Sinaida lief aus dem Zimmer.
Sechſtes Kapitel 1 Die Frau Oberſt Sofja Petrowna Karpuchina glich nur geiftig einer Elſter. Koͤrperlich hatte ſie mehr Ahnlichkeit mit einem Sperling. Sie war eine kleine, fuͤnfzigjaͤhrige Dame mit ſchar⸗ fen, kleinen Augen und mit Sommerſproſſen und gelben Flecken uͤber das ganze Geſicht. Ihr kleines, ausgetrocknetes Koͤrperchen, das auf duͤnnen, aber kraͤftigen Sperlingsbeinchen ruhte, ſteckte in einem dunklen Seidenkleide, das fortwaͤhrend raſchelte, weil die Frau Oberſt auch nicht zwei Sekunden lang ruhig bleiben konnte. Sie war eine hoͤchſt boshafte, rachſuͤchtige Klatſchbaſe und maßlos ſtolz darauf, daß ſie eine Frau Oberſt war. Mit ihrem Manne, einem penſionierten Oberſt, wurde ſie ſehr oft handgemein und zerfraßte ihm das Geſicht. Außerdem trank fie jeden Morgen vier Glaͤſer Schnaps und jeden Abend ebenſoviel
Sechſtes Kapitel 133
und hatte einen wuͤtenden Haß auf Anna Nikolajewna Anti— рота, von der fie in der vorigen Woche aus dem Haufe hinaus: gejagt worden war, und desgleichen auf Natalja Dmitrijewna Paſkudina, die dabei aſſiſtiert hatte.
„Ich bin nur auf ein Augenblickchen zu Ihnen gekommen, mon ange,“ plapperte ſie. „Es hat eigentlich keinen Zweck, daß ich mich hingeſetzt habe. Ich bin nur herangekommen, um Ihnen zu erzaͤhlen, was fuͤr wunderliche Dinge bei uns geſchehen. Die ganze Stadt hat geradezu den Verſtand verloren infolge der Ankunft dieſes Fuͤrſten! Unſere Schlaubergerinnen (vous com— prenez!) machen auf ihn Jagd, ſchleppen ihn um die Wette zu ſich, ſetzen ihm Champagner vor — Sie werden es gar nicht glauben! Sie werden es gar nicht glauben! Wie haben Sie ihn nur von ſich weglaſſen koͤnnen? Wiſſen Sie auch wohl, daß er jetzt bei Natalja Dmitrijewna iſt?“
„Bei Natalja Dmitrijewna?“ rief Marja Alexandrowna und ſprang von ihrem Stuhle ein wenig in die Hoͤhe. „Aber er wollte doch nur zum Gouverneur fahren und dann vielleicht zu Anna Nikolajewna, und zwar nicht auf lange!“
„Na ja, nicht auf lange! Nun koͤnnen Sie ihm nachpfeifen! Den Gouverneur hat er nicht zu Hauſe getroffen; darauf iſt er zu Anna Nikolajewna gefahren und hat ihr ſein Wort gegeben, bei ihr zu Mittag zu ſpeiſen; Natalja Dmitrijewna aber, die jetzt immer bei ihr zu finden iſt, hat ihn zu ſich nach Hauſe geſchleppt, damit er vor dem Mittageſſen bei ihr fruͤhſtuͤcke. So macht es der Fuͤrſt!“
„Aber was tut denn Moſgljakow dabei? Er hatte mir doch verſprochen ...“ ö
„Bleiben Sie mir mit Ihrem geprieſenen Moſgljakow vom Leibe! Der iſt ja auch mit ihnen mitgefahren! Paſſen Sie auf:
134 Onkelchens Traum
wenn man ihn dort an den Kartentiſch ſetzt, verſpielt er wieder alles wie im vorigen Jahre! Und auch den Fuͤrſten werden ſie an den Kartentiſch ſetzen und ratzekahl auspluͤndern. Und was
ſie für Geſchichten erzählt, dieſe Natalja Dmitrijewna! Sie
macht ein großes Geſchrei, als ob Sie den Fuͤrſten an ſich lockten, na, naͤmlich .. . in gewiſſer Abſicht — vous comprenez? Sie ſetzt es ihm ſelbſt auseinander. Er verſteht natuͤrlich nichts von dem, was ſie ihm ſagt, ſondern ſitzt da wie eine naſſe Katze und jagt zu allem: ‚Nun ja, nun ja!“ Und fie ſelbſt, wie macht fie es ſelbſt! Sie hat ihre Sonja hereinkommen laſſen — ſtellen Sie ſich das vor: die iſt doch ſchon fuͤnfzehn Jahre alt, und ſie laͤßt ſie immer noch in kurzen Kleidern gehen! Nur bis ans Knie, denken Sie nur! Und dann hat ſie auch dieſes Waiſenkind, die Maſchka, holen laſſen, ebenfalls in einem kurzen Kleide, das aber noch nicht einmal bis zum Knie herabreichte — ich habe es mir durch meine Lorgnette angeſehen. Auf die Koͤpfe ſetzte ſie den beiden ſo eine Art von roten Muͤtzen mit Federn — ich weiß nicht, was das vorſtellen ſollte! Und dann mußten die beiden Mädchen nach dem Klavier dem Fuͤrſten den Koſakentanz vor— tanzen! Na, Sie kennen wohl die Schwaͤche des Fuͤrſten? Er war ganz hin vor Entzüden: Dieſe Formen, fagte er, dieſe Formen!“ Ich habe mir die Tänzerinnen durch die Lorgnette angeſehen; ſie taten ihr Beſtes, bekamen ganz rote Koͤpfe und renkten ſich die Beine aus — kurz, es war ſchon nicht mehr ſchoͤn! Pfui, ſo ein Tanz! Ich habe ſelbſt den Schaltanz getanzt, als
ich aus dem vornehmen Penſionat von Madame Jarni abging;
aber mein Tanz machte einen wahrhaft vornehmen Eindruck! Sogar Senatoren klatſchten mir Beifall! Das war ein Inſtitut, in dem Fuͤrſten- und Grafentoͤchter erzogen wurden! Aber dies hier war geradezu ein Cancan! Ich gluͤhte vor Scham, ich gluͤhte,
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Sechſtes Kapitel 135
gluͤhte nur ſo! Es war mir einfach unmoͤglich, bis zu Ende dabei zu ſitzen! ...“
„Aber ... find Sie denn ſelbſt bei Natalja Dmitrijewna ge: weſen? Sie find ja doch ...“
„Nun ja, ſie hat mich in der vorigen Woche beleidigt. Ich ſage das allen Leuten ganz offen. Mais, ma cheère, ich wollte doch gar zu gern dieſen Fuͤrſten ſehen, und waͤre es auch nur durch die Tuͤrritze geweſen, und ſo fuhr ich denn hin. Wo haͤtte ich ihn denn auch ſonſt ſehen koͤnnen? Waͤre es nicht um dieſes wider— waͤrtigen Fuͤrſten willen geweſen, ſo wuͤrde ich ganz beſtimmt nicht zu ihr gefahren ſein! Denken Sie ſich: allen wurde Schoko— lade gereicht, nur mir nicht, und die ganze Zeit uͤber hat ſie mit mir auch nicht ein Wort geſprochen. Das war von ihr ent— ſchieden Abſicht ... So ein Trampeltier! Aber ich werde es ihr heimzahlen! Aber nun leben Sie wohl, mon ange; ich bin jetzt eilig, ſehr eilig... Ich muß unbedingt zu Akulina Panfilowna und ihr erzählen... Aber die Hoffnung, den Fuͤrſten wieder: zuſehen, geben Sie nur auf! Der wird jetzt nicht mehr zu Ihnen kommen. Wiſſen Sie, er hat ja kein Gedaͤchtnis, und da wird ihn Anna Nikolajewna ſicherlich zu ſich ſchleppen und bei ſich feſt— halten! Alle fürchten, daß Sie... бт... Sie verſtehen? In bezug auf Sinaida ...“
„Quelle horreur!“
„Ich verſichere Ihnen, daß es ſo iſt! Die ganze Stadt macht davon Geſchrei. Anna Nikolajewna will ihn durchaus zum Mittageſſen bei ſich behalten, und dann fuͤr immer. Das tut ſie, um Sie zu aͤrgern, mon ange. Ich habe bei ihr auf dem Hofe durch den Tuͤrſpalt in die Kuͤche geſehen. Da herrſcht ein eifriges Treiben: ein großartiges Diner wird zugeruͤſtet; es wird mit Meſſern gehackt; es iſt nach Champagner geſchickt worden.
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Beeilen Sie ſich, beeilen Sie ſich, und fangen Sie ihn unter⸗ wegs ab, wenn er zu ihr faͤhrt. Sie ſind ja doch die erſte ges weſen, der er zum Mittageſſen zugeſagt hat! Bei Ihnen iſt er zu Gaſte und nicht bei ihr! Dieſes ſchlaue Weib, dieſe Уп: trigantin, dieſe Rotznaſe ſoll nicht uͤber uns lachen! Sie iſt nicht ſoviel wert wie meine Schuhſohle, wenn ſie auch eine Frau Staatsanwalt iſt! Ich ſelbſt bin eine Frau Oberſt! Ich bin in der vornehmen Penſion der Madame Jarni erzogen worden. Mais adieu, mon ange! Ich habe meinen Schlitten vor der Tuͤr; ſonſt würde ich mit Ihnen mitfahren ...“
Die zweibeinige Zeitung eilte davon; Marja Alexandrowna zitterte vor Aufregung; aber der Rat der Frau Oberſt war ſehr einleuchtend und praktiſch. Es war keine Zeit zu verlieren. Aber es blieb noch die größte Schwierigkeit zu überwinden. Marja Alexandrowna eilte in Sinaidas Zimmer.
Sinaida ging mit verſchraͤnkten Armen und mit geſenktem Kopfe, blaß und verftört, im Zimmer auf und ab. Die Augen ſtan- den ihr voll Tränen; aber in dem Blicke, den fie auf ihre Mutter. richtete, funkelte eine feſte Entſchloſſenheit. Eilig verbarg ſie ihre Traͤnen, und auf ihren Lippen erſchien ein ſpoͤttiſches Lächeln.
„Mama,“ ſagte ſie, ihrer Mutter zuvorkommend, „Sie haben ſoeben viel, gar zu viel Beredſamkeit an mich verſchwendet. Aber Sie haben mich nicht verblendet. Ich bin kein Kind. Mir ſelbſt 1 einzureden, daß ich die Großtat einer Barmherzigen Schweſter
vollbrächte, während ich doch dazu nicht den geringſten Beruf habe, und eine unwuͤrdige, nur aus Egoismus ausgefuͤhrte Handlung mit edlen Zielen zu entſchuldigen, — das alles iſt ein Jeſuitismus, der mich nicht еп konnte. So hören Sie alfo: das hat mich nicht taͤuſchen koͤnnen, und ich will, daß Sie das unter allen Umſtaͤnden wiſſen!“
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„Aber, mon ange! . .. rief Marja Alexandrowna beaͤngſtigt.
„Reden Sie noch nicht, Mama; haben Sie die Geduld, mich bis zu Ende anzuhören. Trotzdem ich mir völlig bewußt bin, daß das alles nur Jeſuitismus iſt, und trotzdem ich die voͤllige Überzeugung habe, daß ein ſolches Verfahren ganz unehrenhaft iſt, nehme ich dennoch Ihren Vorſchlag vollſtaͤndig an, hoͤren Sie: vollſtaͤndig und erklaͤre Ihnen, daß ich bereit bin, den Fuͤrſten zu heiraten, und ſogar bereit bin, alle Ihre Bemuͤhungen zu unterſtuͤtzen, um ihn dahin zu bringen, mir einen Heirats— antrag zu machen. Warum ich das tue, das brauchen Sie nicht zu wiſſen. Es muß Ihnen genuͤgen, daß ich mich dazu ent— ſchloſſen habe. Ich habe mich zu allem entſchloſſen: ich werde ihm die Stiefel reichen, ich werde ſeine Magd ſein, ich werde ihm zu feinem Vergnügen etwas vortanzen, um meine Ge: meinheit in ſeinen Augen wieder gutzumachen; ich werde alles, was nur irgend moͤglich iſt, tun, damit er es nicht bereut, mich geheiratet zu haben! Aber zum Lohn fuͤr meinen Ent— ſchluß verlange ich, daß Sie mir aufrichtig ſagen, auf welche Weiſe Sie das alles zuſtande bringen wollen. Wenn Sie in ſo energiſcher Manier davon zu reden angefangen haben, ſo wer— den Sie (darin kenne ich Sie) das nicht getan haben ohne einen feſten Plan im Kopfe. Seien Sie wenigſtens ein einziges Mal im Leben aufrichtig; Aufrichtigkeit, das iſt die Bedingung, die ich mit aller Beſtimmtheit ſtelle! Ich kann mich nicht entſchließen, wenn ich nicht ſicher weiß, wie Sie das alles ins Werk ſetzen werden.“
Marja Alexandrowna war durch Sinaidas unerwarteten Ent— ſchluß ſo uͤberraſcht, daß ſie eine Weile ſtumm und regungslos vor Erſtaunen ihr gegenuͤberſtand und ſie mit großen Augen anſtarrte. Sie war darauf gefaßt geweſen, mit der hartnaͤckigen
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romantiſchen Anſchauungsweiſe ihrer Tochter, deren ſtrenges Anſtandsgefuͤhl ſie beſtaͤndig fuͤrchtete, einen harten Kampf be— ſtehen zu muͤſſen, und nun hoͤrte ſie auf einmal, daß die Tochter mit ihr vollſtaͤndig einverſtanden und zu allem, ſogar gegen ihre Überzeugung, bereit war! Dadurch wurde alſo die ganze Sache auf feſte Beine geſtellt — und die Freude funkelte ihr aus den Augen.
„Liebſte Sinaida!“ rief fie ganz entzuͤckt, „liebſte Sinaida!
Du biſt mein Fleiſch und Blut!“
Mehr konnte ſie nicht herausbringen; ſie ſtuͤrzte zu ihrer Tochter hin, um ſie zu umarmen.
„Ach, mein Gott! Ich wuͤnſche Ihre Umarmungen nicht, Mama!“ rief Sinaida voll nervoͤſen Widerwillens. „Ich kann ſolche Ausbruͤche Ihres Entzuͤckens nicht leiden! Ich verlange von Ihnen eine Antwort auf meine Frage, weiter nichts.“
„Aber Sinaida, ich liebe dich ja! Ich vergoͤttere dich, und du ſtoͤßt mich zuruͤck . . . ich gebe mir ja alle dieſe Mühe nur um deines Gluͤckes willen ...“
Und in ihren Augen glaͤnzten unverſtellte Traͤnen. Marja Alexandrowna liebte Sinaida wirklich, wenn auch auf ihre be—
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ſondere Art, und diesmal hatten der Erfolg und die Aufregung ſie beſonders gefuͤhlvoll gemacht. Sinaida ſah zwar zur Zeit
die Sache nur mit beſchraͤnkter Zuſtimmung an; aber ſie begriff doch, daß die Mutter ſie liebte, und — fuͤhlte ſich durch dieſe Liebe bedruͤckt. Es waͤre ihr ſogar leichter ums Herz geweſen, wenn die Mutter fie gehaßt hätte... |
„Nun, ſeien Sie mir nicht böfe, Mama; ich bin fo aufgeregt,“ ſagte ſie, um ſie zu beruhigen.
„Ich bin nicht boͤſe, ich bin nicht boͤſe, mein Engelchen!“ fiel Marja Alexandrowna, die ſofort wieder ganz munter wurde,
Sechſtes Kapitel 139
eilig ein; „ich ſehe ja ſelbſt, daß du aufgeregt bift. Siehſt du, liebes Kind, du verlangſt Aufrichtigkeit. Nun gut, ich werde aufrichtig ſein, vollkommen aufrichtig, verſichere ich dich! Nur mußt du mir dann auch glauben! Erſtens alſo muß ich dir ſagen, daß ich einen vollſtaͤndig beſtimmten, das heißt einen in allen Einzelheiten ausgearbeiteten, Plan noch nicht habe, liebe Sinaida, und einen ſolchen auch noch nicht haben kann; du haſt ja ein kluges Koͤpfchen und wirſt den Grund verſtehen. Ich ſehe ſogar einige Schwierigkeiten voraus... Da hat mir zum Beiſpiel dieſe Klatſchbaſe ſoeben allerlei vorgetratſcht ... (Ach, mein Gott! Ich müßte mich ja eigentlich beeilen !). Siehſt du, ich bin vollkommen aufrichtig! Aber ich verſichere dich, ich werde das Ziel erreichen!“ fuͤgte ſie ordentlich begeiſtert hinzu. „Meine Überzeugung hat nicht das geringſte mit poetiſcher Schwaͤrmerei zu ſchaffen, wie du vorhin ſagteſt, mein Engel; ſie gruͤndet ſich auf Tatſachen. Sie gruͤndet ſich auf die vollſtaͤndige Geiſtes— ſchwaͤche des Fuͤrſten; er iſt ſozuſagen ein Kanevas, auf dem man alles Beliebige ſticken kann. Die Hauptſache iſt, daß man uns nicht ſtoͤrt! Aber dieſe dummen Frauenzimmer ſollen mich nicht uͤberliſten!“ rief ſie; ſie ſchlug mit der Hand auf den Tiſch, und ihre Augen funkelten. „Dafuͤr werde ich ſchon ſorgen. Zu dieſem Zwecke aber iſt das Notwendigſte, daß wir die Sache moͤg— lichſt ſchnell in Angriff nehmen; es muß ſogar gleich heute die Hauptſache, wenn irgend moͤglich, ins reine gebracht werden.“
„Gut, Mama; aber hoͤren Sie noch ein offenherziges Ge— ſtaͤndnis: wiſſen Sie wohl, warum ich mich mit ſolchem Intereſſe nach Ihrem Plane erkundige und kein Vertrauen auf ſein Ge— lingen ſetze? Weil ich mich nicht auf mich ſelbſt verlaſſen kann. Ich habe Ihnen ſchon geſagt, daß ich mich zu dieſer unwuͤrdigen Handlungsweiſe entſchloſſen habe; aber wenn die Einzelheiten
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Ihres Planes gar zu abſtoßend, gar zu ſchmutzig ſein ſollten,
dann kuͤndige ich Ihnen an, daß ich das nicht ertragen, ſondern
die ganze Sache wieder hinwerfen werde. Ich weiß, daß das 1
eine neue Schaͤndlichkeit ift: fich zu einer Gemeinheit zu ent⸗
ſchließen und ſich vor dem Schmutze zu fuͤrchten, in dem ſie
ſchwimmt; aber was ſoll ich machen? Ich werde das ganz be— ſtimmt tun! ...“
„Aber, liebſte Sinaida, um was fuͤr eine beſondere Gemein-
heit handelt es ſich denn hier, mon ange?“ erwiderte Marja
Alexandrowna ſchuͤchtern. „Es handelt ſich doch nur um eine | vorteilhafte Heirat, und da verfahren doch alle fo! Man braucht die Sache nur von dieſem Geſichtspunkte aus anzuſehen, dann
erſcheint alles als durchaus anſtaͤndig ...“
„Ach, Mama, ich bitte Sie inftändig, laſſen Sie doch mir gegenuͤber dieſe ſchlauen Manoͤver beiſeite! Sie ſehen, ich bin mit allem einverſtanden, mit allem! Was wollen Sie noch mehr?
Bitte, erſchrecken Sie nicht, wenn ich die Dinge mit ihrem wahren Namen nenne. Vielleicht iſt das jetzt mein einziger Troſt.“
Ein bitteres Laͤcheln ſpielte um ihre Lippen.
„Nun, nun, gut, mein Engelchen, man kann ja verſchiedener Anſicht ſein und einander doch achten. Aber wenn du dich um die Einzelheiten beunruhigſt und fuͤrchteſt, ſie koͤnnten ſchmutzig ſein, ſo uͤberlaß alle dieſe Sorgen mir; ich ſchwoͤre dir, daß auf dich auch nicht ein Troͤpfchen Schmutz ſpritzen wird. Will ich dich etwa vor allen Leuten bloßſtellen? Verlaß du dich nur auf mich, und alles wird in ganz vorzuͤglicher, hoͤchſt anſtaͤndiger Weiſe arrangiert werden; was die Hauptſache iſt: in hoͤchſt an—
ſtaͤndiger Weiſe! Es wird keinen Skandal geben; und wenn es
ja ein kleines, unvermeidliches Skandaͤlchen dabei geben ſollte, nun .. . ſei es drum! Dann find wir ja ſchon weit weg! Wir
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werden ja doch nicht hier bleiben! Moͤgen ſie aus voller Kehle ſchreien; was ſcheren wir uns darum! Sie werden es ja nur tun, weil ſie uns beneiden! Es iſt ja nicht der Muͤhe wert, ſich um dieſe Leute Sorgen zu machen! Ich wundere mich ſogar uͤber dich, liebe Sinaida (aber ſei mir nur nicht böfe!), daß du bei deinem Stolze ſie fuͤrchteſt.“
„Ach, Mama, ich fuͤrchte ſie durchaus nicht! Sie verſtehen mich eben gar nicht!“ antwortete Sinaida gereizt.
„Nun, nun, mein Herzchen, ſei nicht boͤſe! Ich meine nur, daß Пе ſelbſt alle Tage Schaͤndlichkeiten begehen und du es nur ein einziges kleines Mal in deinem Leben tuſt ... aber was rede ich Törin! Es iſt ja überhaupt keine Schaͤndlichkeit dabei! Was iſt dabei fuͤr eine Schaͤndlichkeit? Im Gegenteil, die Sache iſt hoͤchſt anſtaͤndig. Ich werde dir das klar beweiſen, liebe Sinaida. Erſtens wiederhole ich noch einmal: es kommt alles darauf an, von welchem Geſichtspunkte aus man die Sache betrachtet ...“
„So hoͤren Sie doch mit Ihren Beweiſen auf, Mama!“ rief Sinaida zornig und ſtampfte ungeduldig mit dem Fuße.
„Nun, mein Herzchen, ich bin ja ſchon ſtill, ich bin ja ſchon ſtill! Ich war wieder ins Reden hineingekommen ...“
Es trat ein kurzes Stillſchweigen ein. Marja Alexandrowna blickte voller Demut und Unruhe ihrer Tochter nach den Augen, wie ein kleines Huͤndchen, das etwas begangen hat und nun nach den Augen ſeiner Herrin blickt.
„Ich verſtehe gar nicht, wie Sie die Sache angreifen wollen,“ fuhr Sinaida mit einer Miene des Ekels fort. „Ich bin davon überzeugt, daß dabei für Sie nichts weiter als eine Beſchaͤmung herauskommen wird. Ich verachte die Meinung dieſer Leute; aber Sie werden ſich dabei Schande zuziehen.“
„Oh, wenn dich weiter nichts beunruhigt, mein Engel —
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bitte, beunruhige dich nicht! Ich bitte dich, ich flehe dich an! Wenn wir beide nur miteinander einig ſind; um mich brauchſt du dir keine Sorgen zu machen. Ach, wenn du wuͤßteſt, aus was fuͤr Faͤhrlichkeiten ich mir in meinem Leben ſchon mit heiler Haut herausgeholfen habe! Und was habe ich nicht ſchon für Dinge zuſtande gebracht! Na, laß es mich nur wenigſtens pro— bieren! Jedenfalls muͤſſen wir vor allen Dingen dafuͤr ſorgen, daß wir moͤglichſt bald mit dem Fuͤrſten allein zuſammen ſind. Das iſt das allererſte! Alles uͤbrige wird davon abhaͤngen! Aber auch von dem uͤbrigen habe ich ſchon ſo eine Ahnung. Alle
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Weiber in der Stadt werden empört fein; aber das tut nichts
Ich werde ihnen ſchon gehoͤrig dienen! Ein bißchen Sorge macht mir Moſgljakow ...“
„Moſgljakow?“ fragte Sinaida geringſchaͤtzig.
„Nun ja, Moſgljakow; aber habe du keine Bange vor ihm, liebe Sinaida! Ich verſichere dich auf das beſtimmteſte: ich werde es dahin bringen, daß gerade er uns noch helfen wird! Du kennſt mich noch nicht, liebe Sinaida! Du weißt noch nicht, was ich auf praktiſchem Gebiete leiſten kann! Ach, liebe Sinaida, mein Herzchen! Als ich vorhin von der Ankunft dieſes Fuͤrſten hoͤrte, da flammte mir ſogleich ein Gedanke im Kopfe auf! Es kam auf einmal uͤber mich eine Art Erleuchtung von oben. Und wer, wer haͤtte auch erwarten koͤnnen, daß er gerade zu uns kommen werde? Eine ſolche guͤnſtige Gelegenheit wird ja in tauſend Jahren nicht wiederkehren! Liebe Sinaida! Mein Engelchen! Nicht das iſt ehrlos, daß du einen alten Mann und Kruͤppel hei— raten wirſt; ehrlos wäre es, wenn du jemand heirateteſt, den du nicht leiden kannſt, und deſſen Frau du doch in Wirklichkeit ſein wuͤrdeſt! Dem Fuͤrſten aber wirſt du keine wirkliche Frau ſein. Das iſt ja keine richtige Ehe. Das iſt einfach ein haͤuslicher
Sechſtes Kapitel 143
Kontrakt! Er, der Dummkopf, hat den Vorteil davon; ihm, dem Dummkopf, wird ein ſolches unſchaͤtzbares Gluͤck zuteil! Ach, wie ſchoͤn du heute biſt, liebe Sinaida! Geradezu von einer idealen Schoͤnheit! Wenn ich ein Mann waͤre, wuͤrde ich dir ein halbes Königreich verſchaffen, wenn du es verlangteſt! Eſel find fie alle, die Maͤnner! Iſt es nicht ein Genuß, dieſes Haͤndchen zu kuͤſſen?“ Und Marja Alexandrowna druͤckte heiße Kuͤſſe auf die Hand ihrer Tochter. „Das iſt ja mein eigener Leib, mein Fleiſch und Blut! Mit Gewalt muß man ihn noͤtigenfalls verheiraten, den Dummkopf! Und was fuͤr ein ſchoͤnes Leben werde ich dann bei dir fuͤhren, liebe Sinaida! Du wirſt ja doch deine Mutter nicht von dir jagen, wenn du gluͤcklich geworden ſein wirſt? Wenn wir uns auch manchmal geſtritten haben, mein Engelchen, ſo бай du doch keine beſſere Freundin als mich; ich bin doch ...“
„Mama, wenn Sie ſich nun einmal dazu entſchloſſen haben, ſo ſollten Sie nicht zoͤgern, etwas zu tun. Sie verlieren hier nur Ihre Zeit!“ ſagte Sinaida ungeduldig.
„Ja, es iſt Zeit, liebe Sinaida, es iſt Zeit! Ach, ich war ſo ins Reden hineingekommen!“ erwiderte Marja Alexandrowna, zur Beſinnung kommend. „Sie wollen uns dort den Fuͤrſten ganz und gar abſpenſtig machen. Ich werde mich ſogleich in den Schlitten ſetzen und hinfahren! Ich werde vorfahren und Moſgljakow herausrufen laſſen und dann... Noͤtigenfalls werde ich ihn mit Gewalt wegholen! Lebewohl, liebe Sinaida, lebewohl, mein Taͤubchen, habe keine Angſt, zweifle nicht am Gelingen und ſei nicht traurig; vor allen Dingen ſei nicht traurig! Es wird alles auf die ſchoͤnſte, anſtaͤndigſte Weiſe in Ordnung gebracht werden! Die Hauptſache iſt, von welchem Geſichts— punkte aus man die Sache anſieht .. . nun, lebewohl, lebe: wohl!.“ |
144 Onkelchens Traum
Marja Alexandrowna bekreuzte Sinaida, eilte aus dem Zim— р mer, drehte 14 in ihrem eigenen Zimmer einen Augenblick vor
dem Spiegel herum und fuhr ſchon zwei Minuten darauf in
ihrer Schlittenkutſche durch die Straßen von Mordaſow; denn
dieſe Kutſche ſtand alle Tage um dieſe Stunde angeſpannt bereit
fuͤr den Fall, daß Marja Alexandrowna ausfahren wollte. Ja,
Marja Alexandrowna lebte en grand.
„Nein, ihr ſollt mich nicht uͤberliſten!“ dachte fie, während fie fo in ihrer Kutſche ſaß. „Sinaida iſt einverftanden, alſo ift die halbe Arbeit ſchon getan, und euch gegenuͤber ſollte ich den kuͤrzeren ziehen? Unſinn! Nein, dieſe Sinaida! Endlich hat auch fie ſich einverſtanden erklaͤrt! Alſo auch auf dein Koͤpfchen
koͤnnen mancherlei Berechnungen wirken! Ich habe ihr aber
auch eine verlockende Perſpektive hingemalt! Die hat's ge⸗ macht! Aber es iſt zum Erſtaunen, wie ſchoͤn ſie heute iſt! Wenn ich ihre Schoͤnheit beſaͤße, wuͤrde ich halb Europa nach meiner Pfeife tanzen laſſen! Na, warten wir es аб... Der Shakeſpeare | wird ſich ſchon verflüchtigen, wenn fie erſt Fürftin fein und etwas von den Genuͤſſen des Lebens kennen gelernt haben wird. Was
kennt fie denn jetzt? Mordaſow und ihren Lehrer! ... Hm..
Aber was wird ſie auch fuͤr eine Fuͤrſtin ſein! Ich liebe an ihr |
dieſen Stolz, dieſe Kuͤhnheit. Und wie unnahbar fie iſt! Wenn ſie einen anſieht, ſo iſt einem, als ſaͤhe einen eine Koͤnigin an.
Nun, wie ſollte ſie denn ihren Vorteil nicht einſehen? Sie hat ihn ja auch endlich eingeſehen! Sie wird auch das uͤbrige bes greifen ... Ich werde ja doch immer um fie fein. Sie wird ſchließ⸗
lich in allen Punkten mit mir einer Anſicht ſein! Aber ohne mich wird es nicht gehen! Ich werde ſelbſt eine Fuͤrſtin ſein; auch in
Petersburg wird man mich kennen lernen. Lebewohl, du elender Kraͤhwinkel! Dieſer Fuͤrſt wird ſterben, und dieſer junge Men;
Sechſtes Kapitel 145
wird auch ſterben, und dann werde ich ſie einem regierenden Fuͤrſten zur Frau geben! Nur eines macht mich beſorgt: habe ich auch nicht zuviel Vertrauen auf ſie geſetzt? Bin ich nicht zu offenherzig geweſen, bin ich nicht zu gefuͤhlvoll geworden? Sie macht mir Sorgen, ach ja, Sorgen!“
Und Marja Alexandrowna verſank in Gedanken. Es iſt nicht in Abrede zu ſtellen, daß dieſe Gedanken recht ſorgenvoll waren. Man ſagt ja auch mit Recht, daß ein leidenſchaftlicher Wunſch der ſchlimmſte Tyrann ſei.
Als Sinaida allein geblieben war, ging ſie lange mit ver— ſchraͤnkten Armen nachdenklich im Zimmer auf und ab. Sie überlegte vieles. Oft und faſt unbewußt ſagte fie vor ſich hin: „Es iſt Zeit, es iſt Zeit, es iſt hohe Zeit!“ Was bedeutete dieſer kurze Ausruf? Mehrmals blitzten Traͤnen an ihren langen, ſeidigen Wimpern. Sie dachte nicht daran, ſie zu trocknen oder zu hemmen. Aber ohne Not beunruhigte ſich ihre Mutter und ſuchte in die Gedanken ihrer Tochter einzudringen: Sinaida war vollſtaͤndig entſchloſſen und hatte ſich auf alle Folgen gefaßt ge— macht
„Na warte du!“ dachte Naſtaſja Petrowna, als ſie nach der Abfahrt der Frau Oberſt ihre Rumpelkammer wieder verließ. „Und ich wollte mir ſchon um dieſes elenden Fuͤrſten willen eine roſa Schleife anſtecken! Und ich Naͤrrin glaubte, er würde mich heiraten! Da haſt du's mit deiner Schleife! Aber Sie, Marja Alexandrowna! Sie ſagen, ich ſei eine Schlumpe, eine Bettlerin, ich haͤtte fuͤr etwas Unrechtes zweihundert Rubel genommen. Das fehlte auch noch, daß ich fuͤr Sie etwas gratis taͤte, Sie Zierpuppe! Ich habe das Geld auf anſtaͤndige Weiſe bekommen; ich habe es fuͤr die mit der Arbeit verknuͤpften Auslagen er— halten ... Vielleicht habe ich ſelbſt erſt jemand beſtechen muͤſſen! LXXV. 10
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Was geht es Sie an, daß ich es nicht fuͤr unter meiner Wuͤrde gehalten habe, das Schloß eigenhaͤndig zu erbrechen? Fuͤr Sie habe ich gearbeitet, Sie vornehme Muͤßiggaͤngerin! Sie moͤchten am liebſten immer nur auf Kanevas ſticken! Na, warten Sie, ich werde Ihnen das Kanevasſticken zeigen! Ich werde es Ihnen beiden zeigen, was ich fuͤr eine Schlumpe bin! Sie ſollen Naſtaſja Petrowna in ihrer ganzen Sanftmut kennen lernen!“
Siebentes Kapitel
Aber Marja Alexandrowna war von den Eingebungen ihres
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Genies ganz begeiftert. Sie überdachte einen großen, kuͤhnen— Plan. Ihre Tochter an einen ſchwer reichen Mann, einen Fuͤrſten
und Kruͤppel, ohne daß es jemand merkte, unter Benutzung der Geiſtesſchwaͤche und Hilfloſigkeit ihres Gaſtes zu verheiraten, ſie auf diebiſche Weiſe mit ihm zu verheiraten, wie ſich Marja Alexandrownas Feinde ausdruͤcken wuͤrden: das war nicht nur kuͤhn, ſondern geradezu verwegen. Allerdings war das Projekt vorteilhaft; aber im Falle des Mißlingens bedeckte ſich ſeine Er— finderin mit arger Schande. Marja Alexandrowna wußte das; aber ſie ließ den Mut nicht ſinken. „Aus was fuͤr Faͤhrlichkeiten habe ich mir nicht ſchon mit heiler Haut herausgeholfen!“ hatte ſie zu Sinaida geſagt, und das war die Wahrheit. Was waͤre ſie denn auch ſonſt fuͤr eine Heldin geweſen!
Unſtreitig hatte dieſes ganze Unternehmen einige Ähnlich: keit mit Straßenraub; aber Marja Alexandrowna ließ ſich auch das nicht allzuſehr anfechten. In dieſer Beziehung hatte ſie einen erſtaunlich richtigen Gedanken: „Wenn ſie erſt getraut ſind, koͤnnen ſie nicht mehr geſchieden werden,“ ein einfacher Gedanke, der aber durch die Vorſtellung ſo außerordentlicher Vorteile ſo viel Verlockendes fuͤr die Phantaſie hatte, daß Marja
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Alexandrowna bei der bloßen Vorſtellung dieſer Vorteile zu zittern anfing und am ganzen Koͤrper ein Kribbeln wie von Ameiſen verſpuͤrte. Überhaupt befand ſie ſich in gewaltiger Aufregung und ſaß in ihrer Schlittenkutſche wie auf Nadeln. Als geniale Frau mit unzweifelhafter ſchoͤpferiſcher Begabung hatte ſie bereits ihren Aktionsplan entworfen. Aber dieſer Plan war nur ſo in großen Zuͤgen, nur ſo en grand fertig und ſchwebte ihr nur erſt unklar vor. Es waren noch eine Unmenge Einzel— heiten zu erwaͤgen, und ſie mußte ſich auf vielerlei unvorher— geſehene Faͤlle gefaßt machen. Aber Marja Alexandrowna be— ſaß ein ſtarkes Selbſtvertrauen: ſie ließ ſich nicht durch die Furcht vor einem Mißlingen aufregen, o nein! Sie wuͤnſchte weiter nichts als recht bald anzufangen, moͤglichſt ſchnell den Kampf zu beginnen. Ungeduld, eine edle Ungeduld quaͤlte ſie bei dem Ge— danken an die möglichen Hemmniſſe und Verzögerungen. Aber. da wir die Hemmniſſe erwaͤhnt haben, ſo bitten wir um die Er— laubnis, unſern Gedanken ein wenig erlaͤutern zu duͤrfen. Die hauptſaͤchlichſte Gefahr ahnte und erwartete Marja Alexan— drowna von ſeiten ihrer edlen Mitbuͤrger, der Einwohner von Mordaſow, und beſonders von ſeiten derjenigen Mordaſower
Damen, die die vornehme Geſellſchaft bildeten. Sie wußte aus Erfahrung, wie maßlos ſie von dieſen gehaßt wurde. Sie wußte zum Beiſpiel beſtimmt, daß man in der Stadt im gegenwaͤrtigen Augenblicke vielleicht ſchon alle ihre Abſichten kannte, obgleich noch niemand zu jemand etwas daruͤber geſagt hatte. Sie wußte aus wiederholter trauriger Erfahrung, das es kein noch ſo ge— heimes Begebnis in ihrem Hauſe gab, das, wenn es ſich am Morgen zugetragen hatte, nicht ſchon am Abend jedem Markt— weibe und jedem Ladendiener bekannt geweſen waͤre. Aller— dings ahnte Marja Alexandrowna dieſe Gefahr bis jetzt nur;
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aber ſolche Ahnungen hatten fie noch ше getäufcht. Sie taͤuſch— ten ſie auch jetzt nicht. Wir ſetzen dasjenige hierher, was ſich tatfächlich ereignet hatte, und was fie noch nicht mit Beſtimmt— heit wußte. Um Mittag, das heißt genau drei Stunden nach der Ankunft des Fuͤrſten in Mordaſow, hatten ſich in der Stadt ſeltſame Geruͤchte verbreitet. Von wo ſie ihren Ausgang ge— nommen hatten, iſt unbekannt; aber ſie verbreiteten ſich faſt momentan. Alle begannen auf einmal einer dem andern zu verſichern, daß Marja Alexandrowna bereits ihrer Sinaida, trotzdem dieſe keine Mitgift bekomme und ſchon dreiundzwanzig Jahre alt fei, den Fuͤrſten zum Manne verſchafft habe; Mofgljas kow habe den Laufpaß bekommen, und alles ſei ſchon eine voll— ſtaͤndig beſchloſſene und abgemachte Sache. Was war die Urſache dieſer Geruͤchte? Kannten alle Marja Alexandrowna wirklich bis zu dem Grade, daß ſie ſofort auf den Kernpunkt ihrer ge— heimſten Gedanken und Ideale verfielen? Weder der Umftand, daß ein ſolches Geruͤcht mit der gewoͤhnlichen Ordnung der Dinge unvereinbar war, da derartige Angelegenheiten ſich nur ſehr ſelten in Zeit von einer einzigen Stunde abmachen laſſen, noch auch der augenſcheinliche Mangel an einer greifbaren Unter— lage fuͤr eine ſolche Nachricht, da niemand etwas uͤber ihren Ur— ſprung hatte in Erfahrung bringen koͤnnen: nichts vermochte die Mordaſower von ihrer Meinung abzubringen. Das Geruͤcht wuchs mit ungewoͤhnlicher Schnelligkeit heran und ſchlug immer feſtere Wurzeln. Das allererſtaunlichſte war, daß es ſich gerade zu derſelben Zeit zu verbreiten anfing, als Marja Alexandrowna jene (vorhin berichtete) Unterredung mit Sinaida uͤber eben dieſen Gegenſtand erſt begann. Eine ſo feine Naſe haben die Provinzler! Der Inſtinkt der Neuigkeitskraͤmer in der Provinz grenzt manchmal an das Wunderbare, und das hat natuͤrlich
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ſeine Gruͤnde. Es beruht dies darauf, daß ſie einander aus groͤßter Naͤhe, mit dem lebhafteſten Intereſſe und viele Jahre lang ſtudieren. Jeder Provinzler lebt ſozuſagen unter einer Glasglocke. Es iſt ſchlechterdings keine Moͤglichkeit vorhanden, irgend etwas vor den verehrten Mitbuͤrgern geheimzuhalten. Sie kennen einen auswendig und wiſſen ſogar das, was man ſelbſt von ſich nicht weiß. Der Provinzler muͤßte, wie man meinen ſollte, ſchon von Natur ein Pſycholog und Herzenkenner ſein. Dies iſt der Grund, weshalb ich mich manchmal aufrichtig ge— wundert habe, wenn ich in der Provinz ſtatt der Pſychologen und Herzenkenner ſehr haͤufig außerordentlich viele Eſel antraf. Aber dies nur beilaͤufig; das iſt ein Gedanke, der nicht hierher gehört. Die Nachricht wirkte wie ein Donnerſchlag. Eine Ver: heiratung mit dem Fuͤrſten erſchien allen dermaßen vorteilhaft und glaͤnzend, daß nicht einmal jemandem die ſeltſame Seite der Sache auffiel. Wir merken hier noch einen Umſtand an: Sinaida wurde faſt noch mehr gehaßt als Marja Alexandrowna; warum, das ift ſchwer zu jagen. Vielleicht war zum Teil Фики das Schoͤnheit der Grund davon. Vielleicht auch der Umſtand, daß Marja Alexandrowna doch wenigſtens von demſelben Schlage war wie alle Mordaſower, desſelben Geiſtes Kind wie ſie. Haͤtte ſie die Stadt verlaſſen, wer weiß, man wuͤrde das vielleicht be— dauert haben. Durch die Dinge, die ſie fortwaͤhrend anſtellte, brachte ſie Leben in die Geſellſchaft. Ohne fie waͤre es lang= weilig geweſen. Im Gegenſatze zu ihr benahm ſich Sinaida ſo, als ob ſie in den Wolken lebte und nicht in der Stadt Mordaſow. Sie war von anderer Art als dieſe Leute, nicht ihresgleichen und betrug ſich, vielleicht ohne es ſelbſt zu bemerken, ihnen gegenuͤber mit unertraͤglichem Hochmute! Und auf einmal ſollte nun eben dieſe Sinaida, uͤber die ſchon ſkandaloͤſe Geſchichten im Umlauf
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waren, dieſe hochmuͤtige, ſtolze Sinaida, eine Millionärin und Fuͤrſtin werden und in die vornehmſte Geſellſchaft eintreten! In zwei Jahren, wenn ſie wuͤrde Witwe geworden ſein, wuͤrde ſie einen Herzog, vielleicht ſogar einen General heiraten: womoͤg— lich gar einen Gouverneur (und es traf ſich gerade, daß der Gouverneur von Mordaſow Witwer war und ein beſonderes Tendre fuͤr das weibliche Geſchlecht hatte). Dann wuͤrde ſie die vornehmſte Dame in der Gouvernementsſtadt ſein, und ſelbſt— verſtaͤndlich war ſchon allein dieſer Gedanke unertraͤglich, und niemals hatte eine Nachricht eine ſolche Empoͤrung in Mordaſow hervorgerufen wie die Nachricht von Sinaidas Verheiratung mit dem Fuͤrſten. Sofort erhob ſich ein Wutgeſchrei von allen Seiten. Man ſchrie, das ſei eine Suͤnde, ja eine Gemeinheit; der alte Mann habe nicht mehr ſeinen Verſtand; er ſei unter Ausnutzung ſeiner Geiſtesſchwaͤche betrogen, hinters Licht ge— fuͤhrt, uͤbertoͤlpelt worden; man muͤſſe ihn aus dieſen blut— gierigen Krallen retten; das ſei ja geradezu Raͤuberei, eine ganz unmoraliſche Handlung; und ſchließlich, inwiefern ſeien denn andere junge Maͤdchen ſchlechter als Sinaida? Es koͤnnten doch auch andere junge Maͤdchen mit genau demſelben Rechte den Fuͤrſten heiraten. Daß in dieſer erregten Weiſe geredet wurde, konnte Marja Alexandrowna einſtweilen nur vermuten; aber fuͤr fie genügte auch das ſchon. Sie wußte beſtimmt, daß alle, aber auch entſchieden alle, mit dem groͤßten Eifer das Moͤgliche und das Unmoͤgliche tun wuͤrden, um ihr bei der Ausfuͤhrung ihres Planes hinderlich zu ſein. Wollten ſie doch jetzt den Fuͤrſten mit Beſchlag belegen, ſo daß es beinah einen Kampf koſten wuͤrde, ihn wieder zuruͤckzuholen. Und ſchließlich, wenn es ihr auch ge— lang, des Fuͤrſten wieder habhaft zu werden und ihn zuruͤck— zubringen, ſo konnte ſie ihn doch nicht dauernd an der Kette
Siebentes Kapitel 151
halten. Und wer buͤrgte dafuͤr, daß nicht gleich heute, nach zwei Stunden, die ſaͤmtlichen Mordaſower Damen in corpore bei ihr im Salon erſchienen, unter einem derartigen Vorwande, daß man fie nicht zuruͤckweiſen konnte? Und wenn ſie ſie nicht zur Tuͤr hereinließ, ſo war ihnen zuzutrauen, daß ſie durch das Fenſter hereinkamen: das erſcheint faſt als ein Ding der Unmoͤg— lichkeit, war aber doch ſchon in Mordaſow vorgekommen. Kurz, es war keine Stunde, nicht die geringſte Spanne Zeit zu ver— lieren, und dabei war das Werk noch nicht einmal begonnen. Auf einmal blitzte in Marja Alexandrownas Kopfe ein genialer Gedanke auf und reifte ſofort heran. Von dieſer neuen Idee werden wir nicht unterlaſſen am richtigen Platze zu reden. Jetzt wollen wir nur ſagen, daß in dieſem Augenblicke unſere Heldin voll ingrimmiger Begeiſterung durch die Straßen von Mordaſow flog, ſogar zu wirklichem Kampfe entſchloſſen, wenn ſich ein ſolcher zur Wiedergewinnung des Fuͤrſten als notwendig heraus— ſtellen ſollte. Sie wußte noch nicht, wie ſich das geſtalten und wo ſie ihn treffen wuͤrde; aber dafuͤr wußte ſie beſtimmt, daß eher ganz Mordaſow in die Erde verſinken würde, als daß auch nur ein Jota von ihren jetzigen Plaͤnen unausgefuͤhrt bliebe.
Der erſte Schritt gelang auf die denkbar beſte Weiſe. Sie bekam den Fuͤrſten auf der Straße zu faſſen und brachte ihn zu ſich zum Mittageſſen. Wenn jemand fragen ſollte, auf welche Weiſe es ihr trotz aller Raͤnke ihrer Feindinnen gelungen ſei, ihren Willen durchzuſetzen und der boͤſen Anna Nikolajewna das Nachſehen zu laſſen, ſo muß ich erwidern, daß ich eine ſolche Frage geradezu als eine Beleidigung fuͤr Marja Alexandrowna anſehe. Sie ſollte uͤber ſo eine Anna Nikolajewna Antipowa nicht den Sieg davontragen? Sie arretierte den Fuͤrſten ganz einfach, als dieſer bereits bei dem Hauſe ihrer Rivalin vorfuhr,
152 Onkelchens Traum
und ohne ſich um irgend etwas zu kuͤmmern, auch nicht um die Einwendungen Moſgljakows ſelbſt, der einen Skandal ſcheute, zwang ſie den alten Mann, in ihre eigene Kutſche umzuſteigen. Eben dadurch zeichnete ſich Marja Alexandrowna vor ihren Ri— valinnen aus, daß ſie in kritiſchen Augenblicken ſelbſt vor einem Skandal nicht zuruͤckſchrak, indem ſie den Satz, daß der Erfolg alles rechtfertige, als eine unumſtoͤßliche Wahrheit betrachtete. Selbſtverſtaͤndlich leiſtete der Fuͤrſt keinen nennenswerten Wider: ſtand, vergaß nach ſeiner Gewohnheit alles ſehr bald und war dann ſehr zufrieden. Beim Mittagseſſen ſchwatzte er ununter- brochen, war außerordentlich vergnuͤgt, brachte Bonmots vor, machte Witze und erzaͤhlte Anekdoten, die er aber nicht beendete, oder bei denen er von der einen in eine andere hineingeriet, ohne es ſelbſt zu merken. Bei Natalja Dmitrijewna hatte er drei Glaͤſer Champagner getrunken. Beim Mittageſſen trank er weiter und wurde ganz ſchwindlig; hier ſchenkte ihm Marja Alexandrowna immer ſelbſt ein. Das Mittageſſen war ſehr an— ftändig. Der entſetzliche Nikitka hatte es nicht verdorben. Die Hausfrau belebte die Tafelrunde durch ihre bezaubernde Liebens— wuͤrdigkeit. Aber im Gegenſatz dazu waren die uͤbrigen An— weſenden ungewoͤhnlich langweilig. Sinaida war von einer feierlichen Schweigſamkeit. Moſgljakow fuͤhlte ſich offenbar un⸗ behaglich und aß wenig. Er war mit irgendwelchen Gedanken beſchaͤftigt, und da das bei ihm nur ziemlich ſelten vorkam, ſo beunruhigte ſich Marja Alexandrowna ſehr daruͤber. Naſtaſja Pterowna ſaß mit muͤrriſcher Miene da und machte Moſgljakow ſogar heimlich ſonderbare Zeichen, die dieſer aber gar nicht be— merkte. Ohne die bezaubernd liebenswuͤrdige Wirtin haͤtte das Diner mit einem Leichenſchmauſe Ahnlichkeit gehabt.
Aber dabei befand ſich Marja Alexandrowna in einer unaus—
Siebentes Kapitel 153 ſprechlichen Aufregung. Schon allein Sinaida floͤßte ihr durch
ihre traurige Miene und durch ihre verweinten Augen eine ge—
waltige Angſt ein. Und da war noch eine andere Schwierigkeit: es war die groͤßte Eile vonnoͤten; aber dieſer „verdammte Moſ— gljakow“ ſaß wie ein Klotz da, der ſich um nichts kuͤmmert und
nur ſtoͤrt! Man konnte doch eine ſolche Sache wahrhaftig nicht
in ſeiner Gegenwart in Angriff nehmen! Marja Alexandrowna erhob ſich vom Tiſche in ſchrecklicher Unruhe. Wie groß war da—
her ihr Erſtaunen und ihr freudiger Schreck, wenn man ſich ſo ausdruͤcken kann, als Moſgljakow gleich nach Aufhebung der
Tafel ſelbſt zu ihr trat und auf einmal ganz unerwartet erflärte,
er muͤſſe (ſelbſtverſtaͤndlich zu ſeinem groͤßten Bedauern) not— wendigerweiſe ſogleich aufbrechen.
„Wo wollen Sie denn hin?“ fragte ihn, ebenfalls mit außer— ordentlichem Bedauern, Marja Alexandrowna.
„Ja, ſehen Sie, Marja Alexandrowna,“ begann Moſgljakow mit einer gewiſſen Unruhe und ſogar einigermaßen verlegen, „es iſt mir da eine ſehr wunderliche Geſchichte paſſiert. Ich weiß nicht einmal recht, wie ich es Ihnen fagen ſoll ... ich bitte Sie inſtaͤndig, mir einen Rat zu geben!“
„Aber was gibt es denn?“
„Mein Pate Borodujew, Sie kennen ihn ja, der Kaufmann, der begegnete mir heute. Der alte Mann iſt recht boͤſe auf mich;
er macht mir Vorwürfe und ſagt, ich ſei ſtolz geworden. Ich bin jetzt ſchon zum dritten Male in Mordaſow und habe mich bei ihm noch nie blicken laſſen. Komm doch heute zum Tee zu mir!‘
ſagte er. Jetzt iſt es gerade vier Uhr, und ſeinen Tee trinkt er nach alter Mode immer zwiſchen vier und fuͤnf, wenn er von feinem Mittagsſchlaͤfchen aufwacht. Was ſoll ich nun tun? Es
iſt ja freilich keine vornehme Bekanntſchaft, Marja Alexan—
154 Onkelchens Traum
drowna; aber bedenken Sie andrerſeits: er hat ja meinem ver: ſtorbenen Vater aus der Not geholfen, als der ſtaatliches Geld verſpielt hatte. Aus dieſem Anlaß iſt er damals auch mein Pate geworden. Wenn meine Heirat mit Sinaida Afanaſjewna zu— ſtande kommt, ſo habe ich nur hundertfuͤnfzig Seelen. Aber er beſitzt eine Million Rubel oder, wie die Leute ſagen, ſogar noch mehr. Er hat keine Kinder. Wenn er Geſchmack an mir findet, hinterlaͤßt er mir wohl teſtamentariſch ſo ein hundert— tauſend Rubel. Und er iſt ſiebzig Jahre alt, bedenken Sie das nur!“
„Ach, mein Gott, was reden Sie da noch? Warum zaudern Sie?“ rief Marja Alexandrowna, die kaum einen Verſuch machte, ihre Freude zu verbergen. „Fahren Sie hin, fahren Sie hin! Damit iſt nicht zu ſpaßen. Darum ſah ich auch beim Mittag— eſſen, daß Sie ſo ſtill waren! Fahren Sie hin, mon ami, fahren Sie hin! Sie haͤtten ihm ſchon heute vormittag einen Beſuch machen und zeigen ſollen, daß Sie ſeine Freundlichkeit zu ſchaͤtzen, zu wuͤrdigen wiſſen! Aber ach, die heutige Jugend, die heutige Jugend!“
„Aber Sie ſelbſt, Marja Alexandrowna,“ rief Moſgljakow ет: ſtaunt, „Sie ſelbſt haben mir doch wegen dieſer Bekanntſchaft Vorhaltungen gemacht! Sie ſagten ja, er waͤre ein ungebildeter Menſch, ſo ein langbaͤrtiger Kaufmann und ſtehe mit Schank— wirten, Winkeladvokaten und aͤhnlichem Geſindel auf derſelben Stufe?“
„Ach, mon ami! Was redet man nicht alles ſo unbedacht hin! Auch ich kann mich ja doch irren; ich bin keine Heilige. Ich er— innere mich uͤbrigens nicht daran; aber vielleicht war ich damals ſchlecht aufgelegt ... Und dann bewarben Sie ſich damals auch noch nicht um meine liebe Sinaida .. . Das Ш ja freilich von
—_
Siebentes Kapitel 155
meiner Seite Egoismus; aber jetzt muß ich unwillkuͤrlich die Sache von einem anderen Geſichtspunkte aus anſehen und — welche Mutter kann mir in dieſem Falle einen Vorwurf machen?
Fahren Sie hin; zaudern Sie keinen Augenblick! Bringen Sie
auch den Abend bei ihm zu! Und hoͤren Sie: bringen Sie das Geſpraͤch auch auf mich! Sagen Sie ihm, daß ich ihn hoch— ſchaͤtze, ihn liebe, ihn verehre; aber machen Sie das recht де: ſchickt, recht gut! Ach, mein Gott! Daß mir das hat entfallen koͤnnen! Ich haͤtte von ſelbſt darauf kommen muͤſſen, Ihnen dieſen Rat zu geben!“
„Sie geben mir das Leben wieder, Marja Alexandrowna!“ rief Moſgljakow ganz entzuͤckt. „Ich werde jetzt Ihren Rat in ſeinem ganzen Umfange befolgen, das ſchwoͤre ich Ihnen! Und ich hatte geradezu Angſt gehabt, es Ihnen zu ſagen! ... Nun, dann leben Sie wohl; ich will mich auf den Weg machen! Ent— ſchuldigen Sie mich bei Sinaida Afanaſjewna! Ich komme aber jedenfalls wieder her ...“
„Ich ſegne Sie, mon ami! Vergeſſen Sie nur nicht, von mir mit ihm zu reden! Er iſt wirklich ein ſehr liebenswuͤrdiger alter Mann. Ich habe ſchon lange meine Meinung uͤber ihn ge— ändert... Ich habe übrigens immer an ihm dieſes altruſſiſche, unverftellte Weſen gern gemocht ... Au revoir, mon ami, au revoir!“
„Wie gut, daß ihn der Teufel wegfuͤhrt! Oder nein, Gott
ſelbſt ſteht mir bei!“ dachte ſie, ganz außer ſich vor Freude.
Pawel Alexandrowitſch ging in das Vorzimmer und zog ſich ſchon den Pelz an, als ploͤtzlich Naſtaſja Petrowna vor ihm ſtand.
Sie hatte auf ihn gewartet.
„Wo wollen Sie hin?“ ſagte ſie, ihn am Arme feſthaltend. „Zu Borodujew will ich, Naſtaſja Petrowna! Er iſt mein
156 Onkelchens Traum
Pate; er hat mich aus der Taufe gehoben ... Er iſt ein reicher alter Mann und wird mir etwas hinterlaffen; da muß ich ihm ein bißchen um den Bart gehen! ...“
Pawel Alexandrowitſch befand ſich in vorzuͤglicher Laune.
„Zu Borodujew! Na, dann geben Sie nur die Hoffnung auf die Braut auf!“ ſagte Naſtaſja Petrowna in ſcharfem Tone.
„Was ſoll das heißen: die Hoffnung aufgeben?“
„Nun ja! Sie dachten, Sie haͤtten ſie ſchon ſicher! Aber nun ſoll der Fuͤrſt ſie zur Frau bekommen. Ich habe es ſelbſt ge— hoͤrt.“
„Der Fuͤrſt? Erbarmen Sie ſich, Naſtaſja Petrowna!“
„Was Ш da zu erbarmen! Haben Sie Luft, es ſelbſt zu ſehen und zu hoͤren? Legen Sie Ihren Pelz wieder ab, und kommen Sie mit!“
Ganz betaͤubt warf Pawel Alexandrowitſch ſeinen Pelz wie— der hin und ging auf den Fußſpitzen hinter Naſtaſja Petrowna her. Sie fuͤhrte ihn in eben jene Rumpelkammer, wo ſie am Vormittag durch das Schluͤſſelloch geſehen und gehorcht hatte.
„Aber ich bitte Sie, Naſtaſja Petrowna, ich verſtehe 1 dings nicht, was Sie da ſagen! ...“
„Sie werden es ſchon verſtehen, wenn Sie ſich an das Schluͤſſelloch büden und horchen. Die Komoͤdie wird gewiß gleich anfangen.“
„Was fuͤr eine Komoͤdie?“
„Sſſt! Reden Sie nicht ſo laut! Die Komoͤdie beſteht darin, daß man Sie einfach betruͤgt. Vorhin, als Sie mit dem Fuͤrſten weggefahren waren, hat Marja Alexandrowna eine ganze Stunde lang Sinaida beredet, dieſen Fuͤrſten zu heiraten; ſie ſagte, es ſei nichts leichter als ihn zu uͤbertoͤlpeln und zum Heiraten zu bringen, und ſetzte ihrer Tochter dabei ſolche Kniffe und Finten
Siebentes Kapitel 157
auseinander, daß mir ordentlich übel wurde. Ich habe von hier
aus alles mit angehoͤrt. Sinaida hat ſich einverſtanden erllaͤrt.
Und wie ſchlecht die beiden von Ihnen geſprochen haben! In deren Augen ſind Sie einfach ein Dummkopf, und Sinaida hat geradezu geſagt, ſie wuͤrde Sie um keinen Preis heiraten. Und
ich bin auch eine rechte Naͤrrin geweſen! Wollte mir eine rote
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Schleife anſtecken! Aber ſo horchen Sie doch, horchen Sie doch!“
„Aber das iſt ja eine ganz gottloſe Hinterliſt, wenn es ſich ſo verhält!" fluͤſterte Pawel Alexandrowitſch und blickte Naſtaſja Petrowna mit hoͤchſt dummem Geſichte an.
„So horchen Sie doch nur, dann werden Sie noch ganz andere Dinge zu hoͤren bekommen.“
„Wo ſoll ich denn horchen?“
„Buͤcken Sie ſich nur; da durchs Schluͤſſelloch ...“
„Aber, Naſtaſja Petrowna, ich ... ich bin unfähig, jemanden zu behorchen ...“
„Ach, was iſt das fuͤr eine Idee! Laſſen Sie hier mal Ehre Ehre ſein, lieber Freund; Sie ſind einmal hergekommen, nun
horchen Sie auch nur!“
„Aber ich moͤchte doch ...“ „Wenn Sie dazu wirklich nicht faͤhig ſind, dann laſſen Sie ſich in Gottes Namen betruͤgen! Ich habe mit Ihnen Mitleid
gehabt, und nun ſpielen Sie den Stolzen. Was habe ich davon?
Um meinetwillen tue ich es ja doch nicht. Ich bleibe ſowieſo nicht bis zum Abend hier!“ Pawel Alexandrowitſch uͤberwand ſeine Abneigung und buͤckte
ſich zum Schluͤſſelloch hinab. Sein Herz ſchlug heftig; das Blut
pochte ihm in den Schlaͤfen. Er wußte kaum, was mit ihm vor— ging.
158 Onkelchens Traum
Achtes Kapitel „Alſo Sie ſind bei Natalja Dmitrijewna recht vergnuͤgt geweſen, Fuͤrſt?“ fragte Marja Alexandrowna, die mit dem Blicke eines Raubtieres die Staͤtte des bevorſtehenden Kampfes uͤberſchaute und das Geſpraͤch auf eine recht unſchuldige Art zu beginnen wuͤnſchte. Das Herz ſchlug ihr ſtark vor Aufregung und Er— wartung.
Nach dem Mittageſſen war der Fuͤrſt ſogleich in den Salon gefuͤhrt worden, in dem er auch am Vormittag empfangen wor— den war. Alle feierlichen Handlungen und Empfaͤnge gingen bei Marja Alexandrowna in dieſem Salon vor. Sie war auf dieſes Zimmer ſtolz. Der alte Herr war von den getrunkenen ſechs Glaͤſern Champagner ganz benommen und hielt ſich nicht feſt auf den Beinen. Dafuͤr ſchwatzte er unaufhoͤrlich. Seine Schwatzhaftigkeit war ſogar groͤßer geworden, als ſie vorher ge— weſen war. Marja Alexandrowna war ſich daruͤber klar, daß dieſe Lebhaftigkeit nur eine voruͤbergehende ſei und der vom Weine beſchwerte Gaſt bald ſchlaͤfrig werden wuͤrde. Sie mußte den Augenblick benutzen. Bei dem Blicke uͤber den Kampfplatz hatte ſie mit großer Genugtuung bemerkt, daß der ſinnliche alte Mann mit beſonderer Luͤſternheit Sinaida betrachtete, und ihr Mutterherz war vor Freude erzittert.
„Au⸗ßer⸗or⸗dentlich vergnuͤgt,“ antwortete der Fuͤrſt; un wiſſen Sie, пе ift eine ganz vor-treff-liche Frau, dieſe Natalja Dmitrijewna, eine ganz vor⸗-treff-liche Frau!“
Wie ſehr Marja Alexandrowna auch mit ihren großen Plaͤnen beſchaͤftigt war, ſo gab ihr doch ein ſo volltoͤnendes Lob ihrer Rivalin einen Stich mitten ins Herz.
„Aber ich bitte Sie, Fuͤrſt!“ rief ſie mit funkelnden Augen.
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Achtes Kapitel 159
„Wenn bei Ihnen ſchon Natalja Dmitrijewna eine ganz vor: treffliche Frau iſt, dann weiß ich gar nicht, was ich von Ihnen
denken ſoll! Dann kennen Sie eben die hieſige Geſellſchaft gar nicht! Das iſt ja uͤberall nur ein Zurſchauſtellen der eigenen un—
erhoͤrten Vortrefflichkeit, der eigenen edlen Gefuͤhle, nur eine Komoͤdie, nur eine aͤußere vergoldete Schale. Luͤften Sie dieſe Schale ein wenig, und Sie werden eine ganze Hoͤlle unter den Blumen erblicken, ein ganzes Weſpenneſt, wo Sie vollſtaͤndig aufgefreſſen werden, ſo daß kein Knoͤchelchen uͤbrigbleibt!“ „Wahrhaftig?“ rief der Fuͤrſt. „Das ſetzt mich in Erſtaunen!“ „Aber ich ſchwoͤre Ihnen, daß es ſo iſt! Ah, mon prince! Hoͤre einmal, Sinaida, es iſt doch meine Pflicht und Schuldig— keit, dem Fuͤrſten zu erzaͤhlen, wie komiſch und unwuͤrdig ſich dieſe Natalja vor vierzehn Tagen benommen hat, erinnerſt du dich? Ja, Fuͤrſt, das betrifft eben jene Natalja Dmitrijewna, von der Sie ſo entzuͤckt ſind. O mein liebſter Fuͤrſt! Ich ſchwoͤre Ihnen, ich bin keine Klatſchlieſe! Aber ich muß Ihnen das ип: bedingt erzaͤhlen, einzig und allein um Sie zu erheitern, um Ihnen an einem lebendigen Proͤbchen, ſozuſagen unter dem
Mikroſkop, zu zeigen, was das hier für Menſchen find. Vor vier:
zehn Tagen kommt dieſe Natalja Dmitrijewna zu mir. Ich ſetzte
ihr Kaffee vor und verließ aus irgendwelchem Grunde fuͤr kurze
Zeit das Zimmer. Ich erinnere mich ganz genau, wieviel Zucker in der ſilbernen Zuckerdoſe vorhanden war: ſie war ganz voll. Als ich zuruͤckkomme, ſehe ich hin: es liegen nur drei Stuͤckchen auf dem Boden. Außer Natalja Dmitrijewna war niemand im Zimmer geweſen. Was ſagen Sie dazu? Sie beſitzt ein eigenes ſteinernes Haus und eine Menge Geld! Das ift ein laͤcherlicher,
komiſcher Vorfall; aber Sie koͤnnen danach uͤber die Moralitaͤt der hieſigen Geſellſchaft urteilen.“
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160 Onkelchens Traum
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„Wie iſt es mög lich!“ rief der Fürft in ungeheucheltem Er: ſtaunen. „Welch eine unnatuͤrliche Habgier! Hat ſie das wirk— lich alles allein aufgegeſſen?“
„Da ſehen Sie, was ſie fuͤr eine vortreffliche Frau iſt, Fuͤrſt! Die gefällt Ihnen dieſes fchmähliche Benehmen? Ich glaube, ich wuͤrde in demſelben Augenblicke ſterben, in dem ich mich zu einer jo abſcheulichen Handlung entſchloͤſſe!“
„Nun ja, ja ... Aber, wiſſen Sie, fie iſt doch eine ſolche belle femme.“
„Natalja Dmitrijewna! Ich bitte Sie, Fuͤrſt; ſie iſt ja einfach ein Trampeltier! Ach, Fuͤrſt, Fuͤrſt! Was reden Sie da! Ich hatte gemeint, daß Sie einen weit beſſeren Geſchmack beſaͤßen ...“
„Nun ja, ein Trampeltier ... aber, wiſſen Sie, fie hat fo eine Figur... Nun, und dieſes junge Mädchen, das da tanzte, das hatte ebenfalls jo eine Figur ...“
„Sonja? Aber die iſt ja noch ein Kind, Fuͤrſt! Sie iſt erſt vierzehn Jahre alt!“
„Nun ja .. . aber, wiſſen Sie, fie ift ein jo behendes Mädchen, und es entwickeln ſich bei ihr ebenfalls ... ſolche Formen. Ein al⸗ler⸗liebſtes Maͤdchen! Und die andere, die mit ihr zuſammen tanzte .. . die entwickelt ſich ebenfalls . ..“
„Ach, das iſt eine ungluͤckliche Waiſe, Fuͤrſt! Sie laden ſie oft zu ſich ein.“
„Eine Wai⸗ſe! Übrigens war fie ſehr ſchmutzig; fie hätte ſich vorher wenigſtens die Hände waſchen ſollen ... Aber, fie war ebenfalls ver-fuͤh⸗re-riſch ...“
Waͤhrend er das ſagte, betrachtete der Fuͤrſt mit wachſender
Begehrlichkeit Sinaida durch ſeine Lorgnette. „Mais quelle charmante personne!“ murmelte er halblaut, faſt vergehend vor Wonne.
Achtes Kapitel 161
„Sinaida, ſpiele uns etwas vor, oder nein, ſinge lieber! Wie ſchoͤn ſie ſingt, Fuͤrſt! Man kann ſagen, ſie iſt eine Virtuoſin, eine richtige Virtuoſin! Und wenn Sie wuͤßten, Fuͤrſt,“ fuhr Marja Alexandrowna halblaut fort, als Sinaida zum Fluͤgel ging, mit ihrem leiſen, ſchwebenden Gange, bei deſſen Anblick der arme Alte ſich faſt zuſammenkruͤmmte vor Vergnuͤgen, „wenn Sie wuͤßten, was ſie fuͤr eine Tochter iſt! Wie ſie zu lieben ver— ſteht, wie zaͤrtlich ſie gegen mich iſt! Was fuͤr Gefuͤhle, was fuͤr ein Herz!“
„Nun ja ... Gefuͤhle . . . und, wiſſen Sie, ich habe in meinem ganzen Leben nur eine einzige Frau gekannt, die man mit ihr an Schönzheit vergleichen koͤnnte,“ unterbrach fie der Fuͤrſt, den Speichel hinunterſchluckend. „Das war die verſtorbene Graͤfin Nainſkaja; fie iſt vor ungefähr dreißig Jahren geſtorben. Sie war eine ent⸗-zuͤk⸗ken⸗de Frau, von unbeſchreiblicher Schönheit; йе heiratete nachher noch ihren Koch ...“
„Ihren Koch, Fuͤrſt?“
„Nun ja, ihren Koch ... einen Franzoſen, im Auslande. Sie hatte ihm im Aus- lan⸗de den Grafentitel verſchafft. Er war ein ſtattlicher Mann und außerordentlich gebildet, mit ſo einem kleinen Schnurr⸗-baͤrt⸗chen.“
„Und . . . und... wie lebten fie denn miteinander, Fuͤrſt?“
„Nun ja, ſie lebten ganz gut miteinander. Übrigens trennten ſie ſich bald wieder. Er pluͤnderte ſie aus und ging davon. Sie hatten ſich wegen einer Sauce gezankt ...“
„Mama, was ſoll ich ſpielen?“ fragte Sinaida.
„Singe uns lieber etwas, Sinaida! Wie ſchoͤn ſie ſingt, Fuͤrſt! Lieben Sie die Muſik?“
„O ja! Charmant, charmant! Ich liebe die Muſik ſehr. Ich bin im Auslande mit Beethoven bekannt geweſen.“
LXXV. 11
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162 Onkelchens Traum
„Mit Beethoven! Denke dir nur, Sinaida, der Fuͤrſt iſt mit Beethoven bekannt geweſen,“ ruft Marja Alexandrowna ent: zuͤckt. „Ach, Fuͤrſt! Sind Sie wirklich mit Beethoven bekannt geweſen?“
„Nun ja, ich habe mit ihm auf freund-ſchaft-lichem Fuße де: ſtanden. Er hatte immer die Naſe voll Schnupftabak. So ein komiſcher Menſch!“ |
„Beethoven?“
„Nun ja, Beethoven. Übrigens war es vielleicht auch nicht Beet⸗ho⸗-ven, ſondern ein anderer Deutſcher. Es gibt da ſehr viele Зеи фе... Ich glaube, ich begehe eine Ver-wech-ſe⸗ lung.“
„Was ſoll ich denn ſingen, Mama?“ fragte Sinaida.
„Ach, Sinaida! Singe doch das Lied, in dem ſoviel von Rittertum vorkommt, du erinnerſt dich wohl; es handelt von einer Burgherrin und ihrem Troubadour . .. Ach, Fuͤrſt! Wie ich dieſe Ritterzeit liebe! Dieſe Burgen, dieſe Burgen! Dieſes mittelalterliche Leben! Dieſe Troubadours, Herolde, Turniere.. Ich werde dich begleiten, Sinaida. Setzen Sie ſich hierher, Fuͤrſt, naͤher heran! Ach, dieſe Burgen, dieſe Burgen!“
„Nun ja, die Burgen. Ich liebe die Burgen auch,“ murmelte der Fuͤrſt voll Entzuͤcken und ſog ſich mit ſeinem einzigen Auge ordentlich an Sinaida feſt. „Aber .. . mein Gott!“ rief er,, dieſes 4 Lied! ... Aber . .. ich kenne dieſes Lied! Dieſes Lied habe ich ſchon vor langer Zeit gehört... Das erinnert mich [о an ... Ach, mein Gott!“ №
Ich unternehme nicht zu ſchildern, was mit dem Fürften vor- ging, waͤhrend Sinaida ſang. Sie ſang ein altes franzoͤſiſches Lied, das fruͤher einmal ſehr Mode geweſen war. Sinaida ſang es ſehr ſchoͤn. Ihr reiner, klangreicher Alt hatte etwas zum
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Achtes Kapitel 163
Herzen Dringendes. Ihr ſchoͤnes Geficht, die wundervollen Augen, die fein gedrechſelten Finger, mit denen ſie die Noten— blaͤtter umſchlug, das dichte, ſchwarze, glaͤnzende Haar, die wogende Bruſt, die ganze ſtolze, ſchoͤne, edle Geſtalt: alles dies bezauberte den armen Alten endguͤltig. Er ſah ſie, waͤhrend ſie ſang, unverwandt an und wußte ſich vor Aufregung gar nicht zu laſſen. Sein Greiſenherz, erwärmt von dem Champagner, der Muſik und den erwachenden Erinnerungen (und wer haͤtte keine lieben Erinnerungen), klopfte immer ſchneller und ſchnel— ler, fo wie es ſeit langer Zeit nicht geklopft hatte... Er war nahe daran, vor Sinaida niederzuknien, und weinte beinah, als | fie zu fingen aufhoͤrte. „O, ma charmante enfant!“ rief er, indem er ihre Finger: ſpitzen kuͤßte, „vous me ravissez! Ich komme jetzt erſt wieder zu mir, jetzt ей... Aber ... aber... о ma charmante en- nt.
Der Fuͤrſt war nicht imſtande zu Ende zu ſprechen.
Marja Alexandrowna fuͤhlte, daß fuͤr ſie der Augenblick zum Handeln gekommen war. „Warum richten Sie ſich ſelbſt zugrunde, Fuͤrſt?“ rief fie pathetiſch. „Soviel Gefühl, ſoviel Lebenskraft, ſoviel ſeeliſcher Reichtum, und dabei ſich für das ganze Leben in der Einſam— keit zu vergraben! Von den Menſchen, von den Freunden zu fliehen! Das iſt doch unverzeihlich! Kommen Sie zur Beſin— nung, Fuͤrſt! Schauen Sie das Leben mit hellem Blicke an! Rufen Sie in Ihrem Herzen die Erinnerungen an die Vergangen— heit wach, die Erinnerungen an Ihre goldene Jugend, an Ihre goldenen, ſorgloſen Tage; rufen Sie ſie wach, rufen Sie ſie wach! Beginnen Sie wieder in der Geſellſchaft, unter den Men: ſchen zu leben! Fahren Sie ins Ausland, nach Italien, nach
164 Onkelchens Traum
Spanien — nach Spanien, Fuͤrſt! . .. Brauchen Sie einen Fuͤhrer, ein Herz, das Sie liebt, Sie verehrt, mit Ihnen fuͤhlt?
Aber Sie haben doch Freunde! Rufen Sie ſie, rufen Sie ſie,
und ſie werden in Scharen herbeikommen! Ich werde die erſte
ſein, die alles verlaͤßt und ſich auf Ihren Ruf einſtellt. Ich er—
innere mich an unſere Freundſchaft, Fuͤrſt; ich werde meinen
Mann verlaſſen und mit Ihnen mitgehen ... und wenn ich noch
jung waͤre, wenn ich ſo gut und ſchoͤn waͤre wie meine Tochter,
ſo wuͤrde ich Ihre Gefaͤhrtin, Ihre Genoſſin, Ihr Weib werden,
wenn Sie es wollten!“
„Und ich bin davon überzeugt, daß Sie ſeinerzeit une char- mante personne waren,“ ſagte der Fuͤrſt und ſchneuzte ſich in ſein Taſchentuch. Seine Augen waren feucht von Traͤnen.
„Wir leben in unſeren Kindern fort, Fuͤrſt,“ erwiderte Marja Alexandrowna mit tiefer Empfindung. „Auch ich habe meinen Schutzengel! Und das iſt ſie, meine Tochter, die Genoſſin meiner Gedanken, die Freundin meines Herzens, Fuͤrſt! Sie hat ſchon ſieben Heiratsantraͤge abgelehnt, weil ſie ſich nicht don mir trennen wollte.“
„Dann wird ſie alſo wohl mit Ihnen mitkommen, wenn Sie mich ins Ausland be-glei-ten? Wenn es fo iſt, dann werde ich unbedingt ins Ausland reiſen,“ rief der Fuͤrſt begeiſtert. „Un— be⸗dingt werde ich hinreiſen! Und wenn ich mir mit der Hoff- nung ſchmeicheln koͤnnte . . . Aber ſie iſt ein entzuͤckendes, ein ent- zuͤk⸗kendes Kind! O, ma charmante enfant! ...“ Und der Fuͤrſt begann von neuem, ihr die Haͤnde zu kuͤſſen. Der arme Menſch, er wollte ſogar vor ihr niederknien.
„Aber .. . aber, Fürft, Sie ſagen: ob Sie ſich mit der Hoff— nung ſchmeicheln koͤnnen?“ ergriff Marja Alexandrowna wieder das Wort; ſie fuͤhlte, daß ihr neue, ſchoͤne Redewendungen zu—
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ſtroͤmten. „Aber Sie find ſonderbar, Fuͤrſt! Glauben Sie denn wirklich, daß Sie der Beachtung von ſeiten der Frauen bereits unwert ſeien? Nicht Jugend iſt es, was die Schoͤnheit ausmacht. Denken Sie daran, daß Sie ein Mitglied der hoͤchſten Ariſto— kratie ſind! Sie ſind ein Repraͤſentant der feinſten, ritterlichſten Gefühle und . .. Manieren! Hat ſich etwa Marija nicht in den alten Mazeppa verliebt? Ich erinnere mich geleſen zu haben, daß Lauzun, dieſer bezaubernde Marquis am Hofe Ludwigs ... ich habe vergeſſen des wievielten .., noch in vorgeruͤckten Jahren, noch als Greis das Herz einer der erſten Schoͤnheiten des Hofes gewann? ... Und wer hat Ihnen gefagt, daß Sie ein alter Mann ſeien? Wer hat Ihnen das in den Kopf geſetzt? Werden denn Maͤnner wie Sie uͤberhaupt jemals alt? Sie mit einem ſolchen Reichtum an Gefuͤhlen, an Gedanken, an Heiterkeit, an Witz, an Lebenskraft, an glaͤnzenden Manieren! Aber zeigen Sie ſich jetzt einmal irgendwo im Auslande in einem Badeorte mit einer jungen Frau, mit einer ſolchen Schoͤnheit, wie es zum Beiſpiel meine Sinaida iſt (ich rede nicht von ihr, ich ziehe ſie nur zum Vergleiche heran), und Sie werden ſehen, welchen koloſſalen Eindruck Sie beide machen, Sie, ein Mitglied der hoͤchſten Ariſtokratie, und ſie, eine auserleſene Schoͤnheit! Sie fuͤhren fie feierlich am Arme; fie ſingt in der glaͤnzendſten Geſellſchaft, Sie Ihrerſeits werfen mit geiſtreichen Bemerkungen um ſich — alle Kurgaͤſte werden zuſammenlaufen, um Sie beide anzuſehen! Ganz Europa wird einen Ruf der Bewunderung ausſtoßen; denn alle Zeitungen, alle Feuilletons in den Bade— orten werden nur eine Stimme darüber fein... Fuͤrſt, Fuͤrſt! Und da fragen Sie, ob Sie ſich mit der Hoffnung ſchmeicheln koͤnnen?“
„Die Feuilletons . . . nun ja, nun ja! . . . Das Ш in den
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Zeitungen ...“ murmelte der Fürft, der Marja Alexandrownas ь Geſchwaͤtz nur zur Hälfte verſtanden hatte und immer mehr unterlag. „Aber ... mein Kind, wenn Sie nicht er-muͤ⸗det find, ſo ſingen Sie mir doch, bitte, das Lied, das Sie ſoeben geſungen haben, noch einmal!“
„Ach, Fuͤrſt! Aber ſie ſingt ja auch noch andere Lieder, noch ſchoͤnere ... Erinnern Sie ſich noch an L’hirondelle, Fuͤrſt? Sie haben das Lied früher gewiß ſchon gehört?” Ä
„Ja, ich erinnere mich ... oder, richtiger gefagt, ich habe es ver⸗geſſen. Nein, nein, das vorige Lied, dasſelbe, das ſie ſoeben ge⸗ſun⸗gen hat! L'hirondelle will ich nicht! Ich will dieſes Lied .. .“ bat der Fuͤrſt bettelnd, wie ein kleines Kind.
Sinaida ſang das Lied noch einmal. Der Fuͤrſt konnte ſich nicht mehr beherrſchen und ließ ſich vor ihr auf die Knie nieder. Er weinte.
„O, ma belle chätelaine!“ rief er mit feiner vor Alter und Aufregung zitternden Stimme. „O, ma charmante chätelaine! O, mein liebes Kind! Sie haben ſo viele Erinnerungen т. mir wach⸗ge⸗ru⸗fen .. . an Dinge, die laͤngſt vergangen find... Ich dachte damals, alles wuͤrde beſſer werden, als es nachher geworden iſt. Ich fang damals Duette ... mit einer Vikom⸗ | teſſe ... dieſes ſelbe Lied... aber jetzt ... Ich weiß nicht, was a .
Waͤhrend dieſer ganzen Rede ging dem Fuͤrſten mehrmals der
Atem aus, und er verſchluckte ſich zu wiederholten Malen. Eks war zu merken, daß ihm die Zunge ſteif wurde. Einige Worte waren faſt gar nicht zu verſtehen. Man {аб nur, daß er im höch⸗ ſten Grade geruͤhrt war. Marja Alexandrowna goß unverzuͤglich Ol ins Feuer.
„Fuͤrſt! Aber Sie verlieben ſich am Ende gar noch in meine
Achtes Kapitel 167
Sinaida!“ rief fie, da fie fühlte, daß der kritiſche feierliche Augen— blick gekommen war.
Die Antwort des Fuͤrſten uͤbertraf ihre hoͤchſten Erwar— tungen. f
„Ich bin bis zum Wahnſinn in ſie verliebt!“ rief der alte Mann, der ploͤtzlich ganz lebendig wurde; er lag noch immer auf den Knien und zitterte vor Aufregung am ganzen Leibe. „Ich moͤchte mein Leben fuͤr ſie hingeben! Und wenn ich nur hoffen koͤnnte ... Aber heben Sie mich auf; ich bin ein wenig matt ge⸗wor⸗den ... Ich... wenn ich nur hoffen koͤnnte, daß ich ihr mein Herz anbieten darf, fo... ich ... fie wuͤrde mir alle Tage Lieder vor⸗ſin⸗gen, und ich würde fie immerzu anſehen .. . fie immerzu anſehen ... Ach, mein Gott!“
„Fuͤrſt, Fuͤrſt! Sie machen ihr ja einen Heiratsantrag! Sie wollen ſie mir wegnehmen, meine Sinaida, mein teures Kind, meinen Engel, meine Sinaida! Aber ich laſſe dich nicht von mir, Sinaida! Nur mit Gewalt ſoll man ſie aus meinen Armen, aus meinen Mutterarmen reißen!“ Marja Alexandrowna ſtuͤrzte zu ihrer Tochter hin und umſchlang ſie feſt mit den Armen, obgleich ſie fuͤhlte, daß ſie recht ſtark zuruͤckgeſtoßen wurde. Die Mama trug ein bißchen zu ſtark auf. Sinaida empfand das mit ganzer Seele und blickte mit unbeſchreiblichem Ekel auf dieſe ganze Komoͤdie. Indeſſen, fie ſchwieg; und das war alles, was Marja Alexandrowna brauchte.
„Sie hat neun Antraͤge abgewieſen, nur um ſich nicht von ihrer Mutter trennen zu muͤſſen!“ rief ſie. „Aber jetzt ahnt mein Herz, daß die Trennung bevorſteht! Schon vorhin habe ich be— merkt, daß Пе Sie fo eigentuͤmlich anſah ... Sie haben ihr durch Ihr ariſtokratiſches, feines Weſen imponiert, Fuͤrſt! ... Oh, Sie werden uns voneinander trennen; das ahne ich! ...“
2 168 Onkelchens Traum
„Ich ver⸗goͤt⸗tere fie!” murmelte der Fuͤrſt, der immer noch
wie ein Eſpenblatt zitterte.
„Alſo du wirſt deine Mutter verlaſſen!“ rief Marja Alexan⸗ drowna und warf ſich noch einmal ihrer Tochter um den Hals.
Sinaida beeilte ſich, der peinlichen Szene ein Ende zu machen. Sie ſtreckte dem Fuͤrſten ſchweigend ihre ſchoͤne Hand hin und zwang ſich ſogar zu einem Laͤcheln. Der Fuͤrſt ergriff dieſe Hand ehrfurchtsvoll und bedeckte ſie mit Kuͤſſen.
„Ich be⸗gin⸗ ne erſt jetzt zu leben,“ murmelte er; er konnte vor Entzuͤcken kaum reden.
„Sinaida!“ ſagte Marja Alexandrowna feierlich, „ſiehe dieſen Mann an! Das iſt der ehrenhafteſte, edelſte Menſch, den ich kenne! Das iſt ein Ritter des Mittelalters! Aber ſie weiß das, Fuͤrſt; fie weiß es, zum Schmerze meines Herzens ... Oh! warum ſind Sie hergekommen! Ich uͤbergebe Ihnen mein Kleinod, meinen Engel! Behuͤten Sie ihn, Fuͤrſt! Eine Mutter
fleht Sie darum an, und welche Mutter wird mich wegen meines
Schmerzes tadeln?“
„Mama, laſſen Sie es genug ſein!“ fluͤſterte Sinaida.
„Sie werden ſie gegen jede Kraͤnkung verteidigen, Fuͤrſt? Ihr Degen wird dem Verleumder oder dem Frechling entgegen— blitzen, der ſich erdreiſten ſollte, meine Sinaida zu beleidigen?“
„Hoͤren Sie auf, Mama, oder ich ...“
„Nun ja, entgegenblitzen .. .“ murmelte der Fuͤrſt. „Ich Бе: ginne erſt jetzt zu leben ... Ich will, daß die Hochzeit jetzt gleich ſtattfindet, augenblicklich . . . ih... Ich will fofort nach Du— cha-no⸗wo ſchicken. Da habe ich Bril-lan-ten. Die will ich ihr zu Füßen legen ...“
„Welch eine Glut! Welch eine Begeiſterung! Welch ein Adel der Geſinnung!“ rief Marja Alexandrowna. „Und Sie haben
Achtes Kapitel 169
es fertiggebracht, Fuͤrſt, Sie haben es fertiggebracht, ſich von der Welt zuruͤckzuziehen? Das werde ich Ihnen tauſendmal vor— halten! Ich bin außer mir, wenn ich an dieſes teufliſche Weib denke.“ 5
„Was ſollte ich denn tun? Ich hatte ſolche Furcht,“ murmelte der Fuͤrſt, vor Aufregung ſchluchzend. „Sie wollten mich ins Ir⸗ren⸗haus bringen... Da bekam ich ſolche Angſt!“
„Ins Irrenhaus! O dieſe Ungeheuer! O dieſe erbarmungs— loſen Menſchen! O dieſe gemeine Tuͤcke! Fuͤrſt, ich habe davon gehoͤrt! Aber das iſt ja Wahnſinn von ſeiten dieſer Menſchen! Aber weshalb wollten ſie denn das tun, weshalb?“
„Ich weiß ſelbſt nicht weshalb!“ antwortete der alte Mann und ließ ſich vor Schwaͤche in einen Lehnſtuhl ſinken. „Wiſſen Sie, ich war auf einem Bal⸗le und erzählte da eine A-nek⸗do⸗te, und die hat ihnen nicht ge-fal-len. Nun, und daraus entſtand ein großer Skandal!“
„Wirklich nur deshalb, Fuͤrſt?“
„Nein. Ich ſpielte nach-her noch Karten, mit dem Fuͤrſten Peter De⸗ment⸗jitſch, und blieb ohne ſechs. Ich hatte zwei Koͤ⸗ni⸗ge und drei Damen ... oder, richtiger geſagt, drei Damen und zwei Koͤ⸗ni⸗ge ... Nein! einen Koͤ⸗nig! Und dann waren da auch noch Damen ...“
„Und deshalb? Deshalb! O dieſe teufliſche Unmenſchlich— keit! Sie weinen, Fuͤrſt! Aber jetzt wird ſich ſo etwas nicht wiederholen! Jetzt werde ich um Sie ſein, mein Fuͤrſt; ich werde mich nicht von Sinaida trennen, und dann wollen wir einmal ſehen, ob dieſe Menſchen noch wagen werden, auch nur ein Wort zu ſagen! ... Und wiſſen Sie, Fuͤrſt, Ihre Heirat wird ihnen geradezu imponieren. Sie wird ſie beſchaͤmen! Denn ſie wer— den ſehen, daß Sie noch fähig ſind . . . das heißt, fie werden Ве:
170 Onkelchens Traum
— — —
54 Pax *
„
greifen, daß eine ſolche Schoͤnheit nicht einen Irrſinnigen ge— 2
heiratet haben wuͤrde! Jetzt koͤnnen Sie ſtolz das Haupt ет: heben. Sie werden allen gerade ins Geſicht ſehen ...“
„Nun ja, ich werde ihnen ge-ra⸗-de ins Geſicht ſehen,“ тит: melte der Fuͤrſt und ſchloß die Augen.
„Aber er iſt ja ganz benommen,“ dachte Marja Alexandrowna. „Ich verſchwende unnuͤtz meine Worte!“
„Sie ſind aufgeregt, Fuͤrſt, ich ſehe das; Sie muͤſſen ſich un-
bedingt beruhigen, ſich von Ihrer Aufregung erholen,“ ſagte ſie und beugte ſich muͤtterlich zu ihm herab.
„Nun ja, ich möchte mich gern ein wenig hin-le⸗gen,“ ſagte er.
„Ja, ja! Beruhigen Sie ſich, Fuͤrſt! Зее Aufregungen ... Warten Sie, ich werde Sie ſelbſt begleiten . .. Ich werde Sie ſelbſt zu Bett bringen, wenn es noͤtig iſt. — Warum ſehen Sie dieſes Portraͤt ſo an, Fuͤrſt? Es iſt das Portraͤt meiner Mutter; ſie war ein Engel von Frau! Oh, warum iſt ſie jetzt nicht unter uns! Sie war eine Heilige, Fuͤrſt, eine Heilige! Anders kann ich ſie nicht nennen!“
„Eine Hei⸗li⸗ge? c'est joli ... Ich habe auch eine Mutter gehabt... eine princesse . .. und denken Sie ſich: fie war eine außerordentlich kor-pu-len⸗te Frau... Aber ich wollte etwas anderes ſagen . . . Ich bin ein wenig müde geworden. Adieu,
ma charmante enfant! ... Ich werde mit Wonne ... ich werde
heute... oder morgen . . . Nun, ganz gleich! au revoir, au revoir!“ Hier wollte er Sinaida eine Kußhand zuwerfen; aber er ſtrauchelte und waͤre beinahe an der Schwelle gefallen.
„Seien Sie vorſichtiger, Fuͤrſt! Stuͤtzen Sie ſich auf meinen
Arm!“ rief Marja Alexandrowna. „Charmant, charmant!“ murmelte er beim Hinausgehen. „Jetzt beginne ich erſt zu leben ...“
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Neuntes Kapitel 171
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Sinaida blieb allein im Zimmer zuruͤck. Ein unbeſchreiblicher Druck laſtete auf ihrer Seele. Sie fuͤhlte ſich ſo angeekelt, daß ihr ordentlich uͤbel wurde. Sie war nahe daran, ſich ſelbſt zu verachten. Ihre Wangen brannten. Die Haͤnde zuſammen— preſſend, die Zaͤhne aufeinander druͤckend, den Kopf herab— haͤngen laſſend, ſo ſtand ſie da, ohne ſich vom Fleck zu ruͤhren. Tränen der Scham rollten aus ihren Augen... In dieſem Augenblicke öffnete ſich die Tuͤr, und Moſgljakow ſtuͤrzte ins Zimmer herein.
Neuntes Kapitel
Er hatte alles gehoͤrt, alles!
Er trat tatſaͤchlich nicht ins Zimmer, ſondern ſtuͤrzte herein, blaß vor Aufregung und vor Wut. Sinaida ſah ihn erſtaunt an.
„Alſo ſo ſind Sie!“ rief er keuchend. „Endlich habe ich er— fahren, was Sie fuͤr eine ſind!“
„Was ich fuͤr eine bin?“ wiederholte Sinaida, ihn wie einen Irr— ſinnigen anblickend, und ihre Augen begannen vor Zorn zu funkeln.
„Wie koͤnnen Sie es wagen, in dieſer Weiſe mit mir zu reden!“ rief ſie und trat auf ihn zu.
„Ich habe alles gehört!" rief Moſgljakow noch einmal trium— phierend, wich aber unwillkuͤrlich einen Schritt zuruͤck.
„Sie haben es gehoͤrt? Sie haben an der Tuͤr gehorcht?“ fragte Sinaida, ihn veraͤchtlich anblickend.
„Ja, das habe ich getan! Ja, ich habe mich zu einer ſo un— wuͤrdigen Handlungsweiſe entſchloſſen; aber dafuͤr habe ich er— fahren, daß Sie ſelbſt eine hoͤchſt .. . Ich weiß nicht einmal, wie ich mich ausdruͤcken ſoll, um Ihnen zu ſagen . . . als was für eine Sie ſich jetzt herausgeſtellt haben!“ antwortete er; aber er wurde unter Sinaidas Blicke immer zaghafter.
И:
172 Onkelchens Traum
„Aber ſelbſt wenn Sie alles gehoͤrt haben, in welcher Hinſicht koͤnnen Sie mir einen Vorwurf machen? Welches Recht haben Sie, mir Vorwuͤrfe zu machen? Welches Recht haben ши. in diefer dreiſten Art mit mir zu reden?“
„Ich? Welches Recht ich habe? Das fragen Sie noch? Sie wollen den Fuͤrſten heiraten, und ich ſoll kein Recht haben, ſo zu fragen! Und Sie haben mir doch Ihr Wort gegeben; das iſt die Sache!“
„Wann haͤtte ich das getan?“
„Welche Frage!“
„Ich habe Ihnen doch noch heute morgen, als Sie in mich drangen, mit aller Entſchiedenheit geantwortet, daß ich Ihnen nichts Beſtimmtes ſagen koͤnne.“
„Aber Sie haben mich nicht fortgewieſen, meinen Antrag nicht endguͤltig abgelehnt; alſo haben Sie mich als Reſerve zuruͤckbehalten! Alſo haben Sie mich angelockt.“
Auf dem Geſichte der erzuͤrnten Sinaida wurde eine ſchmerz— liche Empfindung ſichtbar, wie von einem ſcharfen, durch— dringenden inneren Schmerze; aber ſie uͤberwand dieſes Ge— fuͤhl.
„Wenn ich Sie nicht fortgewieſen habe,“ antwortete ſie klar und langſam, obgleich ihrer Stimme ein faſt unmerkliches Zittern anzuhoͤren war, „ſo habe ich das nur aus Mitleid unterlaſſen. Sie haben mich ſelbſt darum gebeten, die Entſcheidung noch auf— zuſchieben, Ihnen nicht jetzt gleich nein zu ſagen, ſondern Sie erſt näher kennen zu lernen; Sie fagten: ‚Dann, dann, wenn Sie ſich davon uͤberzeugt haben werden, daß ich ein achtenswerter Menſch bin, dann werden Sie mich vielleicht nicht zuruͤckweiſen.“ Das waren Ihre eigenen Worte gleich beim Beginn Ihrer Be— werbung. Sie koͤnnen dieſe Ihre Worte nicht ableugnen! Sie
Neuntes Kapitel 173
haben gewagt, mir jetzt zu ſagen, ich hätte Sie angelockt. Aber Sie haben ſelbſt meinen Widerwillen geſehen, als ich Sie heute wiederſah, zwei Wochen vor dem Termine, bis zu dem Sie fort— zubleiben verſprochen hatten, und dieſen Widerwillen habe ich Ihnen nicht verheimlicht, ſondern offen an den Tag gelegt. Sie haben das ſelbſt bemerkt; denn Sie haben mich ſelbſt gefragt, ob ich auch nicht boͤſe daruͤber ſei, daß Sie ſchon fruͤher wieder— gekommen waͤren. Sie werden wiſſen, daß man den nicht an— lockt, dem man ſeinen Widerwillen gegen ihn nicht verheim— lichen kann und vor allen Dingen nicht verheimlichen will. Sie haben zu ſagen gewagt, ich haͤtte Sie als Reſerve zuruͤckbehalten. Darauf antworte ich Ihnen, daß ich mir uͤber Sie dieſen Ge— danken zurechtgelegt hatte: Wenn er auch nicht mit ſehr großem Verſtande begabt iſt, ſo iſt er doch vielleicht ein guter Menſch, und man kann ihn darum heiraten.‘ Aber jetzt habe ich mich zu meinem Gluͤcke davon uͤberzeugt, daß Sie ein Dummkopf und obendrein ein Dummkopf mit einem ſchlechten Charakter ſind, und daher bleibt mir nichts anderes uͤbrig, als Ihnen Gluͤck auf den Lebensweg und Gluͤck auf die Reiſe zu wuͤnſchen. Leben Sie wohl!“
Nach dieſen Worten wandte ſich Sinaida von ihm ab und ging langſam zur Tuͤr.
Moſgljakow, welcher merkte, daß für ihn alles verloren war, ſchaͤumte vor Wut.
„Ah, alſo bin ich ein Dummkopf!“ ſchrie er, „alſo bin ich jetzt ſchon ein Dummkopf! Nun gut! Leben Sie wohl! Aber ehe ich abreiſe, werde ich es der ganzen Stadt erzaͤhlen, wie Sie und Ihre Mama den Fuͤrſten betrunken gemacht und uͤbertoͤlpelt haben! Allen Leuten werde ich es erzählen! Sie ſollen Moſglja— kow kennen lernen!“
174 Onkelchens Traum
Sinaida zuckte zuſammen und wollte ſchon ſtehen bleiben, um ihm zu antworten; aber nachdem fie einen Augenblick lang über: legt hatte, zuckte ſie nur veraͤchtlich mit den Achſeln und ſchlug die Tuͤr hinter ſich zu.
In dieſem Augenblicke erſchien Marja Alexandrowna auf der Schwelle. Sie hatte Moſgljakows letzte Worte gehört, erriet in einem Moment, wie die Sache lag, und bekam einen argen Schreck. Moſgljakow war noch nicht weggefahren; Moſgljakow befand ſich noch in der Umgebung des Fuͤrſten; Moſgljakow wollte in der Stadt Laͤrm ſchlagen, und doch war die Geheim— haltung der Sache, wenn auch nur fuͤr ganz kurze Zeit, dringend notwendig! Marja Alexandrowna ſtellte ihre Berechnungen an: in einem einzigen Augenblicke erwog ſie alle Umſtaͤnde, und ſchon war auch der Plan zur Beſaͤnftigung Moſgljakows entworfen.
„Was iſt Ihnen, mon ami?“ ſagte ſie, indem ſie zu ihm heran— trat und ihm freundſchaftlich die Hand entgegenſtreckte.
„Sie ſagen: ‚mon ami'!“ ſchrie er wütend. „Nach allem, was Sie machiniert haben, ſagen Sie noch: ‚mon ami'! Darauf falle ich nicht herein, gnaͤdige Frau! Glauben Sie wirklich, daß ich mich noch einmal von Ihnen werde taͤuſchen laſſen?“
„Es tut mir leid, ſehr leid, daß ich Sie in einer ſo ſeltſamen Stimmung ſehe, Pawel Alexandrowitſch. Was ſind das fuͤr Ausdruͤcke! Sie vermoͤgen ſich nicht einmal einer Dame gegen— uͤber zu beherrſchen.“
„Einer Dame gegenüber! Sie ... Sie find alles, was Sie wollen, aber keine Dame!“ ſchrie Moſgljakow. Ich weiß nicht, was er eigentlich mit dieſem Ausrufe ſagen wollte, aber wahr— ſcheinlich etwas ſehr Grobes.
Marja Alexandrowna ſah ihm mit ſanftem Blicke ins Geſicht.
„Setzen Sie ſich!“ ſagte ſie traurig und wies ihm denſelben
Neuntes Kapitel 175
Lehnſeſſel an, auf dem eine Viertelſtunde vorher der Fuͤrſt ſich ausgeruht hatte.
„Aber hören Sie mal, Marja Alexandrowna!“ rief Moſglja— kow verblüfft. „Sie ſehen mich fo an, als ob nicht Sie ſich gegen mich vergangen haͤtten, ſondern ich mich gegen Sie! Das iſt ja doch unerhoͤrt! . . . Ein ſolcher Ton! ... Das „ doch ſchließlich das Maß der Ki ea Geduld. Wiſſen Sie das wohl?“
„Mein Freund!“ antwortete Marja Alexandrowna, „er— lauben Sie mir, Sie immer noch ſo zu nennen; denn Sie haben keinen beſſeren Freund als mich, mein Freund! Sie leiden, Sie zermartern ſich, Sie ſind im tiefſten Herzen verwundet — und daher iſt es nicht erftaunlich, daß Sie zu mir in dieſem Tone reden. Aber ich bin entſchloſſen, Ihnen alles zu entdecken, Ihnen mein ganzes Herz offenzulegen, um ſo mehr, da ich mich Ihnen gegenuͤber ſelbſt ein bißchen ſchuldig fuͤhle. Setzen Sie ſich hin, und laſſen Sie uns miteinander reden!“
Marja Alexandrownas Stimme klang weich und ſchmerzlich. In ihrem Geſichte praͤgte ſich ein inneres Leid aus. Erſtaunt ſetzte ſich Moſgljakow neben ſie auf einen Lehnſeſſel.
„Sie haben an der Tuͤr gehorcht?“ fuhr ſie fort, ihm vor— wurfsvoll ins Geſicht blickend.
„Ja, das habe ich getan! Und gut, daß ich es getan habe; ſonſt waͤre ich jetzt ein betrogener Toͤlpel! Wenigſtens habe ich alle Ihre gegen mich gerichteten Intrigen erfahren,“ antwortete Moſgljakow grob; durch feinen eigenen Zorn machte er ſich Mut und reizte ſich auf.
„Und Sie, Sie, ein ſo wohlerzogener Mann mit ſo vortreff— lichen Grundſaͤtzen, konnten ſich zu einer ſolchen Handlungsweiſe entſchließen? O mein Gott!“
176 Onkelchens Traum
Moſgljakow war jo empört, daß er ſogar vom Stuhle аш: ſprang.
„Aber, Marja Alexandrowna,“ rief er, „ſo etwas anzuhoͤren, das iſt doch geradezu unertraͤglich! Denken Sie doch daran, wozu Sie ſelbſt ſich mit Ihren vortrefflichen Grundſaͤtzen ent— ſchloſſen haben, und dann verurteilen Sie andere Leute!“
„Noch eine Frage,“ ſagte ſie, ohne auf ſeinen Vorwurf zu
Pr
antworten; „wer hat Sie denn auf den Gedanken zu horchen ge-
bracht, wer hat Ihnen etwas erzaͤhlt, wer hat hier ſpioniert? Das moͤchte ich gern wiſſen.“ „Sie muͤſſen ſchon entſchuldigen — das werde ich nicht ſagen.“ „Gut. Ich kann es auch ſelbſt in Erfahrung bringen. Ich habe geſagt, Pawel Alexandrowitſch, daß ich mich Ihnen gegenüber ſchuldig fuͤhle. Aber wenn Sie alles, alle Umſtaͤnde ſorgſam pruͤfen, ſo werden Sie einſehen, daß, wenn ich mich auch ſchuldig
gemacht habe, dies einzig und allein deswegen geſchehen iſt, weil
ich Ihnen moͤglichſt viel Gutes wuͤnſchte.“
„Mir? Gutes? Das geht denn doch uͤber allen Spaß! Ich kann Ihnen verſichern, daß Sie mich nicht noch einmal hinters Licht fuͤhren werden! Ein ſo dummer Junge bin ich nicht!“
Er warf ſich auf feinem Lehnſtuhl fo heftig herum, daß dieſer
knackte. „Ich bitte Sie, mein Freund, ſeien Sie kaltbluͤtiger, wenn es
Ihnen moͤglich iſt! Hoͤren Sie mich aufmerkſam an, und Sie
werden mir ſelbſt in allen Stuͤcken beiſtimmen. Erſtens: ich wollte Ihnen unverzuͤglich alles auseinanderſetzen, alles, und Sie haͤtten die ganze Sache mit den geringſten Einzelheiten aus meinem Munde erfahren, ohne daß Sie ſich zum Horchen haͤtten zu erniedrigen brauchen. Und wenn ich es Ihnen nicht ſchon fruͤher, ſchon vorhin auseinandergeſetzt habe, fo habe ich das nur
Neuntes Kapitel 177
deswegen unterlaſſen, weil ſich die ganze Sache noch im Stadium
des bloßen Projektes befand. Es war ſehr moͤglich, daß uͤber— haupt nichts zuſtande kam. Sie ſehen: ich bin gegen Sie voll— ſtaͤndig offenherzig. Zweitens: meſſen Sie meiner Tochter keine Schuld bei! Sie liebt Sie wahnſinnig, und es hat mir unglaub— liche Anſtrengungen gekoſtet, ſie Ihnen abwendig zu machen und ſie dahin zu bringen, daß ſie einwilligte, den Antrag des Fuͤrſten anzunehmen.“
„Ich hatte ſoeben das Vergnuͤgen, den vollſten Beweis dieſer wahnſinnigen Liebe zu hören,” bemerkte Moſgljakow ironiſch.
„Gut. Aber wie haben Sie zu ihr geſprochen? Darf ein Ver— liebter in dieſem Tone ſprechen? Spricht denn ein Mann von Lebensart uͤberhaupt in dieſer Weiſe? Sie haben ſie beleidigt und gereizt!“
„Na, um den Ton handelt es ſich jetzt nicht, Marja Alexan— drowna! Aber heute vormittag, nachdem Sie beide mir ſo freundliche Geſichter gemacht hatten, da haben Sie, als ich mit dem Fuͤrſten weggefahren war, in netten Ausdruͤcken von mir geredet! Sie haben mich ſchlecht gemacht, das will ich Ihnen nur ſagen. Ich weiß alles, alles!“
„Und gewiß aus ebenderſelben ſchmutzigen Quelle?“ be— merkte Marja Alexandrowna mit einem veraͤchtlichen Laͤcheln. „Ja, Pawel Alexandrowitſch, ich habe ſchlecht von Ihnen ge— ſprochen, Übles von Ihnen geredet und, wie ich geſtehen muß, mir damit nicht wenig Muͤhe gegeben. Aber ſchon allein der Umſtand, daß ich mich genoͤtigt ſah, ihr erſt Schlechtes uͤber Sie zu ſagen, Sie vielleicht ſogar zu verleumden, ſchon allein dieſer Umſtand beweiſt, wie ſchwer es fuͤr mich war, ihr die Einwilli— gung zur Losſage von Ihnen abzuringen! O Sie kurzſichtiger Menſch! Wenn fie Sie nicht liebte, hätte ich dann erſt nötig де: LXXYV. 12
178 Onkelchens Traum
a. | 2 * * Le .
habt, Schlechtes von Ihnen zu reden, Sie in einem laͤcherlichen, unwuͤrdigen Lichte darzuſtellen, zu ſolchen extremen Mitteln meine Zuflucht zu nehmen? Und Sie wiſſen noch nicht alles! Ich mußte erſt von meiner muͤtterlichen Autoritaͤt Gebrauch machen, um Sie ihr aus dem Herzen zu reißen, und erreichte erſt nach unglaublichen Anſtrengungen ihre nur aͤußerliche Ein- willigung. Wenn Sie uns jetzt behorcht haben, ſo muͤſſen Sie doch bemerkt haben, daß ſie mit keinem Worte, mit keiner Ge— baͤrde mich dem Fuͤrſten gegenuͤber unterſtuͤtzt hat. Waͤhrend dieſer ganzen Szene hat ſie kaum ein Wort geſprochen, und ge— ſungen hat ſie wie ein Automat. Ihre ganze Seele war voll Gram und Leid, und aus Mitleid mit ihr fuͤhrte ich endlich den Fuͤrſten von hier fort. Ich bin uͤberzeugt, daß ſie geweint hat, ſobald ſie allein geblieben war. Als Sie hier hereinkamen, muͤſſen Sie ihre Tränen bemerkt haben ...“
Moſgljakow erinnerte ſich tatſaͤchlich, daß er beim Herein— ſtuͤrzen in das Zimmer Sinaida in Traͤnen gefunden hatte.
„Aber Sie, Sie, warum ſind Sie ſo gegen mich geweſen, Marja Alexandrowna?“ rief er. „Warum haben Sie Schlechtes von mir geredet und mich verleumdet, wie Sie das jetzt ſelbſt zugeben?“ „Ah, das iſt eine andere Sache! Sehen Sie, wenn Sie dieſe vernuͤnftige Frage gleich zu Anfang geſtellt haͤtten, ſo wuͤrden Sie ſchon laͤngſt eine Antwort darauf erhalten haben. Ja, Sie haben recht! Das alles habe ich getan, ich allein. Miſchen Sie Sinaida da nicht mit hinein! Und warum ich es getan habe? Darauf antworte ich: erſtens um Sinaidas willen. Der Fürft iſt reich, ſteht in hohem Anſehen und beſitzt bedeutende Vers bindungen; wenn Sinaida ihn heiratet, macht ſie alſo eine glaͤnzende Partie. Und wenn er ſterben ſollte (was ſich vielleicht
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ſehr bald ereignet, denn wir muͤſſen alle früher oder ſpaͤter ſterben), dann iſt Sinaida eine junge Witwe, eine Fuͤrſtin, ein Mitglied der hoͤchſten Geſellſchaft und vielleicht ſehr reich. Dann kann ſie heiraten, wen ſie will, und vielleicht eine ſehr reiche Partie machen. Aber ſelbſtverſtaͤndlich wird ſie denjenigen hei— raten, den ſie liebt, denjenigen, den ſie fruͤher geliebt hat, dem ſie durch ihre Heirat mit dem Fuͤrſten das Herz zerriſſen hat. Schon allein die Reue wuͤrde ſie dahin bringen, ihr Verſchulden dem fruͤheren Geliebten gegenuͤber wieder gutzumachen.“
„Hm!“ brummte Moſgljakow, der nachdenklich feine Stiefel betrachtete.
„Zweitens, und das will ich nur in aller Kürze erwähnen,“ fuhr Marja Alexandrowna fort; „denn Sie werden dafuͤr viel— leicht überhaupt kein Verſtaͤndnis haben. Sie еп Ihren Shakeſpeare und ſchoͤpfen aus ihm alle Ihre edlen Empfin— dungen; aber im praktiſchen Leben find Sie, wenn auch ein herzensguter Menſch, ſo doch noch ſehr jung; ich aber bin eine Mutter, Pawel Alexandrowitſch! So hoͤren Sie denn: ich gebe Sinaida dem Fuͤrſten teilweiſe auch um ſeiner ſelbſt willen zur Frau; denn ich will ihn durch dieſe Ehe retten. Ich habe dieſen edlen, ſeelenguten, ritterlich-ehrenhaften Mann auch früher ſchon geliebt. Wir waren Freunde. Er iſt ungluͤcklich in den Krallen dieſes teufliſchen Weibes. Sie wird ihn noch ins Grab bringen. Gott weiß es, daß ich Sinaida nur dadurch zur Einwilligung in eine Heirat mit ihm gebracht habe, daß ich ihr die ganze Heilig— keit einer ſolchen Tat der Selbſtverleugnung vor Augen geſtellt habe. Ihr edles Empfinden, der Zauber, den die Großtat aus— übte, das war's, wovon fie ſich hinreißen ließ. Es ſteckt in ihr ſelbſt ſo etwas Ritterliches. Ich habe ihr vorgeſtellt, daß es ein im hoͤchſten Sinne chriſtliches Werk iſt, die Stuͤtze, der Troſt, die
180 Onkelchens Traum
Freundin, das Kind, das Schoͤnheitsideal, der Abgott eines Mannes zu ſein, der vielleicht nur noch ein Jahr zu leben hat. Nicht jenes graͤßliche Weib, nicht Angſt und Mutloſigkeit, ſondern Licht, Freundſchaft, Liebe wuͤrden ihn in den letzten Tagen ſeines Lebens umgeben. Er wuͤrde an ſeinem Lebensabende die Emp— findung haben, daß er im Paradieſe ſei! Wo ſteckt da Egoismus, ſagen Sie, bitte ſelbſt! Das iſt eher das edle Werk einer Barm— herzigen Schweſter, aber kein Egoismus!“
„Alſo haben Sie es nur um des Fuͤrſten willen getan, nur als das edle Werk einer Barmherzigen Schweſter?“ brummte Moſgljakow ſpoͤttiſch.
„Auch dieſe Frage verſtehe ich, Pawel Alexandrowitſch; ſie iſt deutlich genug. Sie glauben vielleicht, daß ich hier den Vor: teil des Fuͤrſten in jeſuitiſcher Weiſe mit meinem eigenen Bor: teile verquickt habe? Nun, vielleicht hat in meinem Kopfe auch dieſe Berechnung ſtattgefunden; nur iſt ſie dann eben keine jeſuitiſche, ſondern eine unwillkuͤrliche geweſen. Ich weiß, daß Sie uͤber ein ſo offenherziges Bekenntnis erſtaunt ſind; aber um eines bitte ich Sie, Pawel Alexandrowitſch: miſchen Sie Sinaida in dieſe Sache nicht mit hinein! Sie iſt rein wie eine Taube; alle Berechnungen ſind ihr fremd; ſie verſteht nur zu lieben — das liebe, liebe Kind! Wenn wirklich jemand Berechnungen ange— ſtellt hat, ſo bin ich es geweſen, ich allein! Aber erſtens, fragen Sie einmal ſtreng Ihr Gewiſſen, und ſagen Sie: wer hätte an meiner Stelle in einem aͤhnlichen Falle keine Berechnungen an— geſtellt? Wir berechnen unſern Vorteil ſogar bei unſern hoch— herzigſten, uneigennuͤtzigſten Handlungen; wir tun das, ohne uns deſſen ſelbſt bewußt zu werden, ganz unwillkuͤrlich! Aller— dings betruͤgen dabei faſt alle Menſchen ſich ſelbſt, indem ſie ſich einreden, daß ſie nur aus Edelmut handeln. Ich aber will mich
Pe I tn
Neuntes Kapitel 181
nicht betrügen: ich bin mir bewußt, daß ich, wie edel auch meine Ziele find, doch auch rechne. Aber überlegen Sie einmal, ob ich wohl in meinem eigenen Intereſſe rechne! Ich brauche nichts mehr, Pawel Alexandrowitſch! Ich habe mein Leben hinter mir. Ich habe fuͤr ſie gerechnet, fuͤr meinen Engel, fuͤr mein Kind, und — welche Mutter kann mir in dieſem Falle einen Vor: wurf machen?“
In Marja Alexandrownas Augen blitzten Traͤnen. Pawel Alexandrowitſch hörte dieſe offenherzige Beichte voller Er: ſtaunen und blinzelte verſtaͤndnislos mit den Augen.
„Nun ja, welche Mutter ...“ ſagte er ſchließlich. „Was Sie da ſagen, klingt alles ſehr ſchoͤn, Marja Alexandrowna; aber... aber Sie hatten mir doch Ihr Wort gegeben! Sie hatten mir Hoffnung gemacht ... Überlegen Sie nur, wie mir jetzt zumute ſein muß! Sehen Sie, ich kann ja jetzt mit langer Naſe abziehen!“
„Aber glauben Sie denn, daß ich nicht auch an Sie gedacht habe, mon cher Paul? Vielmehr handelte es ſich bei all dieſen Berechnungen um einen ſo gewaltigen Vorteil fuͤr Sie, daß gerade der mich hauptſaͤchlich dazu veranlaßt hat, mich auf dieſes ganze Unternehmen einzulaſſen.“
„Mein Vorteil!“ rief Moſgljakow, der diesmal wie vor den Kopf geſchlagen war. „Wieſo?“
„Mein Gott, kann jemand wirklich ſo ſchwer von Begriffen und ſo kurzſichtig ſein?“ rief Marja Alexandrowna, gen Himmel blickend. „Ja, die heutige Jugend, die heutige Jugend! Da ſieht man, was dabei herauskommt, wenn man ſich in dieſen Sphakeſpeare vertieft und ſich Traͤumereien uͤberlaͤßt und ſich ein= bildet, ein eigenes Leben zu fuͤhren, waͤhrend man doch nur einem fremden Verſtande folgt und fremde Gedanken wieder— holt! Sie fragen, mein guter, lieber Pawel Alexandrowitſch,
182 Onkelchens Traum
wo da Ihr Vorteil ſteckt? Erlauben Sie mir der Deutlichkeit halber eine Heine Abſchweifung: Sinaida liebt Sie — das ift zweifellos! Aber ich habe bemerkt, daß trotz ihrer offenbaren Liebe ſich in ihrer Seele ein gewiſſes Mißtrauen gegen Sie, gegen die Beſtaͤndigkeit Ihrer Gefuͤhle und Ihrer Zuneigung
verbirgt. Ich habe bemerkt, daß ſie mitunter wie abſichtlich ſich
Zwang auferlegt und ſich gegen Sie kuͤhl benimmt, eine Folge ihres Zweifels und Mißtrauens. Haben Sie das nicht ſelbſt be⸗
merkt, Pawel Ale xandrowitſch?“
„Be- merkt ha-be ich es; ſogar heute noch ... Aber was wollen
Sie damit ſagen, Marja Alexandrowna?“
„Nun ſehen Sie, alſo Sie haben es ſelbſt bemerkt. Mithin N
habe ich mich nicht getaͤuſcht. Es ftedt in ihr ein ſeltſames Miß—
trauen gegen die Beſtaͤndigkeit Ihrer Zuneigung. Ich bin die |
Mutter und follte das Herz meines Kindes nicht verftehen? Stellen Sie ſich nun vor, daß Sie, ſtatt mit Vorwuͤrfen, ja mit Schimpfworten ins Zimmer zu ſtuͤrzen und ſie, die Reine,
Schöne, Stolze, zu reizen, zu kraͤnken, zu beleidigen und fie das
durch unwillkuͤrlich in ihrem Mißtrauen betreffs Ihrer uͤblen Eigenſchaften zu beſtaͤrken — ſtellen Sie ſich vor, daß Sie dieſe
Nachricht mit Sanftmut, mit Tränen des Bedauerns oder viel-
leicht auch der Verzweiflung, aber mit hohem Edelmute des Herzens aufgenommen haͤtten ...“ m!
„Nein, unterbrechen Sie mich nicht, Pawel Alexandrowitſch!
Ich will Ihnen dieſes ganze Bild vor Augen ſtellen, das fuͤr Ihre Einbildungskraft etwas Imponierendes haben wird. Stellen Sie ſich vor, daß Sie zu ihr gekommen waͤren und geſagt haͤtten: ‚Sinaida! Ich liebe dich mehr als mein Leben; aber Gründe,
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die in den Familienverhaͤltniſſen liegen, trennen uns. Ich habe
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fuͤr dieſe Gruͤnde Verſtaͤndnis. Sie zielen auf de in Gluͤck ab, und ich wage nicht mehr, gegen fie anzukaͤmpfen, Sinaida! Ich ver: zeihe dir. Sei gluͤcklich, wenn du es kannſt!“' und dann hätten Sie einen Blick auf ſie gerichtet, den Blick eines Opferlammes, wenn man ſich fo ausdruͤcken kann — ſtellen Sie ſich das alles vor, und uͤberlegen Sie, welchen Eindruck dieſe Worte auf ihr Herz ge— macht haͤtten!“
„Ja, Marja Alexandrowna, nehmen wir an, daß ſich das alles то verhält; ich verſtehe das alles ... aber wenn ich das nun auch geſagt hätte, fo wäre ich doch leer ausgegangen ...“
„Nein, nein, nein, mein Freund! Unterbrechen Sie mich nicht! Ich will unbedingt Ihnen das ganze Bild vor Augen ſtellen, mit allen Folgen, damit es eine edle, imponierende Wir— kung auf Sie ausuͤbe. Stellen Sie ſich vor, daß Sie ihr ſpaͤter, nach einiger Zeit, in der hoͤchſten Geſellſchaft wiederbegegnen, auf einem Balle, bei glaͤnzender Beleuchtung, bei berauſchender Muſik, inmitten der herrlichſten Frauen; und inmitten all dieſes Feſtgetuͤmmels ſind Sie allein einſam, traurig, melancholiſch, blaß, ſtehen an eine Saͤule gelehnt da (aber ſo, daß man Sie ſehen kann) und folgen ihr in dem Gewoge des Balles mit Ihren Blicken. Sie tanzt. Die berauſchenden Klaͤnge eines
Straußſchen Walzers umfluten Sie; die geiſtreichen Geſpraͤche
der hoͤchſten Geſellſchaft ſchwirren umher — aber Sie ſind ein— ſam, blaß, von Ihrer Leidenſchaft zerſchmettert! Was meinen Sie, welchen Eindruck wird das auf Sinaida machen? Mit was
für Augen wird fie Sie anſehen? „Und ich,‘ wird fie denken, zich konnte an dieſem Menſchen zweifeln, der mir alles, alles zum Opfer gebracht und fein Herz um meinetwillen zermartert hat!“ Natuͤrlich wird die fruͤhere Liebe in ihrem Herzen mit Е unwider⸗ ſtehlicher Kraft wieder hervorbrechen!“
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Marja Alexandrowna hielt inne, um Atem zu ſchoͤpfen. Moſgljakow drehte ſich auf dem Lehnſtuhl fo heftig herum, daß dieſer wieder knackte. Marja Alexandrowna fuhr fort:
„Mit Ruͤckſicht auf die Geſundheit des Fuͤrſten faͤhrt Sinaida mit ihm ins Ausland, nach Italien, nach Spanien — nach Spanien, wo Myrten und Zitronen ſind und blauer Himmel und der Guadalquivir, in das Land der Liebe, wo man nicht leben kann ohne zu lieben, wo Roſen und Kuͤſſe ſozuſagen in der Luft umherfliegen! Sie fahren ebendorthin, ihr nach; Sie laſſen Ihr Amt, Ihre Konnexionen, alles um ihretwillen im Stich! Dort beginnt eure Liebe mit unwiderſtehlicher Gewalt; Liebe, Jugend, Spanien — o Gott! Natuͤrlich iſt eure Liebe eine makelloſe, heilige; aber freilich wird es euch ſchließlich eine Qual ſein, einander ſo anzuſehen. Sie verſtehen mich, mon ami! Allerdings werden ſich gemeine, boshafte Menſchen fin— den, Kanaillen, die da behaupten werden, es ſei uͤberhaupt nicht verwandtſchaftliche Zuneigung zu dem leidenden alten Manne geweſen, was Sie ins Ausland gelockt habe. Ich habe abſichtlich eure Liebe eine makelloſe genannt, weil dieſe Menſchen ihr am Ende eine ganz andere Bedeutung beilegen werden. Aber ich bin eine Mutter, Pawel Alexandrowitſch; wie ſollte ich Sie etwas Schlechtes lehren? Freilich wird der Fuͤrſt nicht imſtande ſein, euch beide zu beaufſichtigen; aber das tut nichts zur Sache! Kann man etwa darauf eine ſo ſchmaͤhliche Verleumdung gruͤn— den? Schließlich wird er ſterben und ſich noch auf dem Sterbe— bette wegen ſeines Geſchickes gluͤcklich preiſen. Nun ſagen Sie, bitte: wen anders als Sie wird Sinaida dann heiraten? Und Ihre Verwandtſchaft mit dem Fuͤrſten iſt ſo weitlaͤufig, daß ſie in keiner Weiſe ein Ehehindernis bilden kann. Sie heiraten die junge, reiche, vornehme Witwe, und zu welcher Zeit? Zu einer
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Zeit, wo die Vornehmſten der Vornehmen auf eine Heirat mit ihr ſtolz fein koͤnnten! Durch fie werden Sie in den hoͤchſten Ge: ſellſchaftskreiſen Aufnahme finden; durch ſie werden Sie auf einmal ein hohes Amt und alle damit verbundenen Ehren und Wuͤrden erhalten. Jetzt beſitzen Sie nur hundertfuͤnfzig Seelen; aber dann werden Sie reich ſein; der Fuͤrſt wird in ſeinem Teſtamente alles in dieſem Sinne ordnen; das nehme ich auf mich. Und ſchließlich die Hauptſache: ſie wird dann den feſten Glauben an Sie, an Ihr Herz, an Ihre Gefuͤhle gewonnen haben, und Sie werden auf einmal fuͤr ſie ein Held der Tugend und der Selbſtverleugnung geworden fein! ... Und da fragen Sie noch, worin der Vorteil fuͤr Sie beſteht? Aber man muß ja geradezu blind ſein, um dieſen Vorteil nicht zu bemerken, ihn ſich nicht mit der Denkkraft vorzuſtellen, ihn ſich nicht auszurechnen, wenn ſie zwei Schritte vor Ihnen ſteht, Sie anſieht, Sie anlaͤchelt und ſelbſt ſagt: Da bin ich, dein Vorteil!‘ Pawel Alexandrowitſch, ich bitte Sie um alles in der Welt!“
„Marja Alexandrowna!“ rief Moſgljakow in größter Auf: regung; „jetzt habe ich alles verſtanden! Ich habe mich roh, un— wuͤrdig und gemein benommen!“
Er ſprang vom Stuhle auf und griff ſich in die Haare.
„Und außerdem haben Sie keine Berechnungen fuͤr die Zu— kunft angeſtellt,“ fuͤgte Marja Alexandrowna hinzu. „Das iſt die Hauptſache: keine Berechnungen fuͤr die Zukunft!“
„Ich bin ein Eſel, Marja Alexandrowna!“ ſchrie er ganz ver— zweifelt. „Jetzt iſt alles verloren; denn ich habe ſie wahnſinnig geliebt!“
„Vielleicht ift noch nicht alles verloren,“ ſagte Frau Moſka— lewa leiſe, wie wenn ſie uͤber etwas nachdaͤchte.
186 Onkelchens Traum
„Oh, wenn das möglich wäre! Helfen Sie mir! Belehren Sie mich! Retten Sie mich!“ | |
Moſgljakow brach in Tränen aus. |
„Mein Freund!“ ſagte Marja Alexandrowna mitleidsvoll, indem fie ihm die Hand reichte; „Sie haben das in der Hitze der Erregung getan, in aufwallender Leidenſchaft, alſo gerade aus Liebe zu ihr! Sie waren in Verzweiflung, Sie wußten von ſich ſelbſt nicht! Das alles muß fie ja doch einſehen ...“
„Ich liebe ſie wahnſinnig und bin bereit, alles fuͤr ſie hin- zugeben!“ rief Moſgljakow.
„Hoͤren Sie, ich werde Sie bei ihr entſchuldigen ...“
„Marja Alexandrowna!“
„Ja, ich nehme das auf mich! Ich werde Sie mit ihr zuſam— menfuͤhren. Legen Sie ihr alles ſo dar, wie ich es Ihnen ſoeben auseinandergeſetzt habe!“
„O Gott! Wie gut Sie find, Marja Alexandrowna! ... Aber ... koͤnnten wir das nicht jetzt gleich tun?“
„Gott behuͤte! Oh, wie unerfahren Sie ſind, mein Freund! Sie iſt ſo ſtolz! Sie wird das als eine neue Grobheit, als eine Frechheit auffaſſen! Gleich morgen werde ich alles arrangieren; aber jetzt gehen Sie fort, irgendwohin, zum Beiſpiel zu dieſem Kaufmann ... kommen Sie meinetwegen am Abend wieder her; aber raten kann ich Ihnen auch dazu nicht!“
„Ich werde fortgehen, ich werde fortgehen! O Gott, Sie geben mir das Leben wieder! Aber noch eine Frage: wie, wenn nun der Fuͤrſt nicht ſo bald ſtirbt?“ |
„Ach, mein Gott, wie naiv Sie find, mon cher Paul! Im Gegenteil, wir muͤſſen fuͤr ſeine Geſundheit beten. Wir muͤſſen dieſem lieben, dieſem guten, dieſem ritterlich ehrenhaften alten Manne von ganzem Herzen ein langes Leben wuͤnſchen! Und
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Neuntes Kapitel 187
ich vor allen werde Tag und Nacht fuͤr das Gluͤck meiner Tochter beten. Aber leider ſcheint es, daß der Geſundheitszuſtand des Fuͤrſten hoffnungslos iſt! Außerdem muß er jetzt in die Reſidenz fahren und Sinaida in die vornehme Geſellſchaft einfuͤhren. Ich fuͤrchte, ach, ich fuͤrchte, daß ihm das voͤllig den Garaus macht! Aber — wir werden beten, cher Paul; das uͤbrige ſteht in Gottes Hand! . .. Sie gehen ſchon? Ich ſegne Sie, mon ami! Hoffen Sie, dulden Sie, zeigen Sie ſich als Mann; vor allen Dingen: zeigen Sie ſich als zen). Ich habe nie an dem Adel Ihrer Ge⸗ ſinnung gezweifelt .. Sie druͤckte ihm fest die Hand, und Moſgljakow verließ ou den Fußſpitzen das Zimmer.
„Na, den einen Dummkopf haͤtte 156 betört!" ſagte ſie trium⸗
phierend. „Nun noch die uͤbrigen ..
Die Tuͤr oͤffnete ſich, und Sinaida trat herein. Sie war un: gewoͤhnlich blaß. Ihre Augen blitzten.
„Mama,“ ſagte ſie, „bringen Sie die Sache ſchnell zu ende, oder ich halte es nicht mehr aus! All das iſt ſo ſchmutzig und ge— mein, daß ich am liebſten aus dem Hauſe laufen moͤchte. Quaͤlen Sie mich nicht, reizen Sie mich nicht! Es wird mir uͤbel, hoͤren
Sie wohl? es wird mir uͤbel von all dieſem Schmutz!“
„Sinaida, was Ш dir, mein Engel? Du... du haft an der
Tuͤr gehorcht!“ rief Marja Alexandrowna und blickte Sinaida pruͤfend und beunruhigt an.
„Ja, das habe ich getan. Wollen Sie mir etwa daruͤber Vor— haltungen machen wie dieſem Dummkopfe? Hoͤren Sie, ich ſchwoͤre Ihnen: wenn Sie mich noch länger fo quälen und mir in dieſer gemeinen Komoͤdie allerlei gemeine Rollen zuweiſen, ſo werde ich alles hinwerfen und der ganzen Geſchichte mit einem Schlage ein Ende machen. Es iſt genug daran, daß ich mich zu
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der Hauptgemeinheit entſchloſſen habe! Aber ... ich kannte mich ſelbſt nicht! Ich erſticke in dieſem uͤblen Geruche! ...“
Sie ging hinaus und ſchlug die Tuͤr heftig hinter ſich zu.
Marja Alexandrowna ſah ihr ſtarr nach und wurde ſehr nach— denklich.
„Ich muß mich beeilen, ich muß mich beeilen!“ rief ſie, ſich ploͤtzlich aufraffend. „Sie iſt das Haupthindernis, die groͤßte Gefahr, und wenn alle dieſe nichtswuͤrdigen Menſchen uns nicht die Sache allein unter uns zu Ende bringen laſſen, ſondern ſie in der ganzen Stadt auspoſaunen (was ſicherlich ſchon geſchehen iſt), ſo iſt alles verloren! Sie wird dieſen ganzen Wirrwarr nicht ertragen koͤnnen und ſich weigern. Um jeden Preis und ohne Verzug muß ich den Fuͤrſten auf unſer Gut bringen! Ich werde ſelbſt zuerſt ſchnell hinfahren und meinen Toͤlpel von dort hier— her ſchleppen; er muß doch wenigſtens zu etwas zu gebrauchen ſein! Unterdeſſen wird ſich der Fuͤrſt ausſchlafen — und dann fahren wir alle zuſammen hin!“
Sie klingelte.
„Iſt der Schlitten bereit?“ fragte ſie den eintretenden Diener.
„Schon lange,“ antwortete dieſer.
Die Pferde waren in dem Augenblicke angeſpannt worden, als Marja Alexandrowna den Fuͤrſten nach oben geleitete.
Sie zog ſich an, lief aber vor der Abfahrt noch zu Sinaida, um ihr ihren Plan in den Hauptzuͤgen mitzuteilen und ihr einige Inſtruktionen zu geben. Aber Sinaida war nicht imſtande, ſie anzuhoͤren. Sie lag auf dem Bette, mit dem Geſichte in den Kiſſen. Sie vergoß heiße Traͤnen und raufte ſich ihr langes, wundervolles Haar; ihre weißen Arme waren bis zum Ellbogen entbloͤßt. Mitunter zuckte ſie zuſammen, wie wenn ein kurzer Froſtſchauder durch alle ihre Glieder liefe. Marja Alexandrowna
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Zehntes Kapitel 189
begann zu ihr zu ſprechen; aber Sinaida hob nicht einmal den Kopf in die Hoͤhe.
Nachdem Marja Alexandrowna einige Zeit neben der Da— liegenden geſtanden hatte, ging ſie in ſtarker Unruhe hinaus, und um ſich nach einer anderen Seite hin ſchadlos zu halten, ſtieg ſie in den Schlitten und befahl dem Kutſcher, ſo ſchnell wie nur moͤglich zu fahren.
„Recht verdrießlich iſt, daß Sinaida mein Geſpraͤch mit Moſgljakow behorcht hat!“ dachte fie, während fie im Schlitten ſaß. „Ich habe ihn faſt mit denſelben Worten beredet, deren ich mich ihr gegenuͤber bedient habe. Sie iſt ſtolz und fuͤhlt ſich viel— leicht beleidigt... Hm! Aber die Hauptſache, die Hauptſache iſt, alles ſchnell zu erledigen, bevor meine Widerſacherinnen es ausſchnuͤffeln! Das waͤre ein Malheur! Na, wenn nun das Un— gluͤck wollte, daß mein Dummkopf nicht zu Hauſe waͤre; was dann?“
Bei dieſem bloßen Gedanken bemaͤchtigte ſich ihrer eine Wut, die dem armen Afanaſi Matwjejewitſch nichts Gutes verhieß; ſie drehte ſich auf ihrem Platze hin und her vor Ungeduld. Die Pferde jagten dahin, ſo ſchnell ſie laufen konnten.
Zehntes Kapitel Der Schlitten flog nur ſo. Wir haben bereits geſagt, daß in Marja Alexandrownas Kopfe bereits am Vormittage, waͤhrend ſie in der Stadt auf den Fuͤrſten Jagd machte, ein genialer Ge— danke aufblitzte. Wir verſprachen, auf dieſen Gedanken am ge— hoͤrigen Orte zuruͤckzukommen. Aber der Leſer kennt ihn jetzt bereits. Dieſer Gedanke war: ſich ihrerſeits des Fuͤrſten zu Ве: maͤchtigen und ihn moͤglichſt ſchnell nach ihrem in der Naͤhe der Stadt gelegenen Gute zu bringen, wo der geiſtig beſchraͤnkte
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Afanaſi Matwjejewitſch in aller Harmloſigkeit vegetierte. Wir verheimlichen nicht, daß Marja Alexandrowna je laͤnger je mehr von einer unerklaͤrlichen Unruhe befallen wurde. Das kommt ſelbſt bei wirklichen Helden vor, namentlich zu der Zeit, wo ſie ihr Ziel nahezu erreicht haben. Eine Art von Inſtinkt ſagte ihr, daß es gefaͤhrlich ſei, in Mordaſow zu bleiben. „Wenn wir aber erſt einmal auf dem Gute ſind,“ meinte ſie, „dann kann ſich meinetwegen die ganze Stadt auf den Kopf ſtellen!“ Allerdings war auch auf dem Gute keine Zeit zu verlieren. Es konnte alles moͤgliche paſſieren, alles moͤgliche, geradezu alles, wenn wir auch den nachher über meine Heldin von Übelwollenden ver: breiteten Gerüchten keinen Glauben ſchenken, daß fie in dieſem Augenblicke ſogar vor der Polizei Bange gehabt habe. Kurz, ſie ſah ein, daß Sinaidas Trauung mit dem Fuͤrſten moͤglichſt beſchleunigt werden muͤſſe. Die Mittel dazu hatte ſie an der Hand. Auf dem Gute konnte die beiden auch der Dorfgeiſtliche trauen. Man konnte die Trauung ſogar ſchon uͤbermorgen ſtatt— finden laſſen, noͤtigenfalls ſogar ſchon morgen. Hatte es doch ſchon Eheſchließungen gegeben, die nach zwei Stunden vollzogen worden waren! Dem Fürften mußte man dieſe Eile, dieſen Fort: fall aller Feſte, Verlobungsfeiern, Polterabende als das not⸗ wendige comme il faut bezeichnen; man mußte ihn nachdruͤcklich belehren, daß dies vornehmer, grandioſer ſei. Auch konnte man ihm alles als ein romantiſches Abenteuer darſtellen und auf dieſe Weiſe die empfindſamſte Saite in ſeinem Herzen anſchlagen. Schlimmſtenfalls konnte man ihn ja auch durch Wein zu allem Erforderlichen anregen oder, noch beſſer, ihn in einem dauern— den Zuſtande von Trunkenheit erhalten. Und mochte dann nach- her paſſieren, was da wollte, Sinaida wuͤrde doch eine Fuͤrſtin ſein! Wenn es aber nachher nicht ohne einen Skandal abgehen
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Zehntes Kapitel 191
ſollte, zum Beiſpiel in Petersburg oder in Moskau, wo der Fuͤrſt Verwandte hatte, ſo gab es da einen Troſt. Erſtens lag das alles noch in ziemlicher Ferne; und zweitens glaubte Marja Alexan— drowna, daß es in der hoͤchſten Geſellſchaft faſt nie ohne Skandal abgehe, namentlich bei Heiratsſachen, und daß das ſogar zum guten Tone gehoͤre, wiewohl Skandale in der hoͤheren Geſell— ſchaft nach ihrer Vorſtellung immer etwas Beſonderes, Gran— dioſes haben mußten, ſo etwas in der Art des Grafen von Monte— criſto oder der Mémoires du Diable. Und endlich, meinte fie, brauche Sinaida nur in der hoͤchſten Geſellſchaft zu erſcheinen und ihre Mama ſie zu unterſtuͤtzen, dann wuͤrden alle, abſolut alle im ſelben Augenblicke beſiegt ſein, und keine von all dieſen Graͤfinnen und Fuͤrſtinnen wuͤrde imſtande ſein, ſo eine echt Mordaſower Kopfwaͤſche auszuhalten, wie ſie, Marja Alexan⸗ drowna, ſie ihnen zu verabfolgen befaͤhigt ſei, entweder allen zuſammen oder einer jeden einzeln. Infolge aller dieſer Er— waͤgungen jagte Marja Alexandrowna jetzt nach ihrem Gute, um Afanaſi Matwjejewitſch zu holen, deſſen Anweſenheit nach ihrem Urteile jetzt unumgaͤnglich notwendig war. In der Tat: den Fuͤrſten nach dem Gute bringen, das bedeutete ihn zu Afanaſi Matwjejewitſch bringen, mit dem der Fuͤrſt vielleicht gar nicht bekannt zu werden wuͤnſchte. Wenn aber Afanaſi Matwjejewitſch ſelbſt die Einladung ausſprach, ſo nahm die Sache ein ganz an— deres Geſicht an. Zudem konnte das Erſcheinen des bejahrten, wuͤrdigen Familienvaters, in Frack und weißer Binde, mit dem Hute in der Hand, der auf die erſte Nachricht von der Ankunft des Fuͤrſten erpreß aus der Ferne herbeigekommen war, einen ſehr angenehmen Eindruck machen und ſogar der Eitelkeit des Fuͤrſten ſchmeicheln. Eine ſo dringliche, feierliche Einladung würde ſich auch ſchwer ablehnen laſſen, dachte Marja Ale xan—
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drowna. Endlich hatte der Schlitten die drei Werſt lange Strecke durchflogen, und der Kutſcher Sofron brachte ſeine Pferde vor der Anfahrt eines langgeſtreckten, einſtoͤckigen, hoͤlzernen Ge— baͤudes zum Stehen, das ſchon recht alt und von der Zeit ge— ſchwaͤrzt ausſah, eine lange Reihe von Fenſtern aufwies und ringsum von alten Linden umſtanden war. Das war Marja Alexandrownas Gutshaus und Sommerreſidenz. Im Hauſe brannte bereits Licht.
„Wo iſt der Toͤlpel?“ ſchrie Marja Alexandrowna, die wie ein Sturmwind in die Wohnung hereinbrach. „Warum liegt dieſes Handtuch hier? Ach, du haſt dich abgetrocknet! Haſt du wieder gebadet? Und immer ſchluͤrft er ſeinen Tee! Na, was reißt du die Augen auf, du unverbeſſerlicher Dummkopf? War— um iſt dein Haar nicht geſchnitten? Griſchka! Griſchka! Griſchka! Warum haſt du dem Herrn nicht das Haar geſchnitten, wie ich es dir in der vorigen Woche befohlen habe?“
Als Marja Alexandrowna die Wohnung betrat, hatte ſie Afanaſi Matwjejewitſch viel freundlicher zu begruͤßen beabſich— tigt; aber als ſie ſah, daß er aus dem Bade gekommen war und nun mit Genuß Tee trank, geriet ſie in eine heftige Entruͤſtung, die ſie nicht unterdruͤcken konnte. In der Tat: ſoviel Muͤhe und Sorge auf ihrer Seite und ſoviel ruhige Behaglichkeit auf ſeiten des zu keinem vernuͤnftigen Werke tauglichen und verwendbaren Afanaſi Matwjejewitſch: ein ſolcher Kontraſt verſetzte ihr ſofort einen Stich mitten ins Herz. Unterdeſſen ſaß der Toͤlpel oder, wenn wir uns hoͤflicher ausdruͤcken wollen, derjenige, den ſie Toͤlpel genannt hatte, beim Samowar und ſtarrte, vor Angſt ſinnlos, Mund und Augen weit aufreißend, ſeine Gattin an, die ihn durch ihr Erſcheinen faſt in Stein verwandelt hatte. Aus dem Vorzimmer kam die plumpe Geſtalt des verſchlafenen
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Griſchka herein; mit den Augen blinzelnd betrachtete er dieſe ganze Szene.
„Er erlaubt ja nicht, daß ich ihm das Haar ſchneide; darum habe ich es nicht getan,“ ſagte er muͤrriſch mit heiſerer Stimme. „Zehnmal bin ich mit der Schere zu ihm gekommen und habe geſagt: ‚Die gnaͤdige Frau wird herkommen, und dann kriegen wir es beide; was fangen wir dann an?' Aber der Herr ſagte: ‚Nein, warte noch damit; ich will mir zum Sonntag Locken brennen; dazu muß das Haar lang ſein.“
„Was? Er brennt ſich Locken! Alſo du laͤßt dir beikommen, dir ohne mein Wiſſen Locken zu brennen? Was find tag für Faxen? Ja, ſteht dir denn das zu deiner dummen Viſage? Mein Gott, was iſt hier fuͤr eine Unordnung! Wonach riecht es? Ich frage dich, du Greuſal, wonach es hier riecht!“ ſchrie die Gattin, die immer heftiger auf den unſchuldigen, ſchon ganz be— taͤubten Afanaſi Matwjejewitſch eindrang.
„У... Muͤtterchen!“ murmelte der erſchrockene Gatte, ohne von ſeinem Platze aufzuſtehen, und blickte ſeine Gebieterin mit flehenden Augen an; „Хи... Muͤtterchen! ...“
„Wie oft habe ich es dir ſchon in deinen dummen Kopf eingepaukt, daß ich überhaupt nicht dein Muͤtterchen“ bin? Wie koͤnnte ich dein Muͤtterchen ſein, du geiſtiger Zwerg! Wie kannſt du es wagen, dieſe Benennung einer vornehmen Dame beizulegen, die ihren Platz in der hoͤchſten Geſellſchaft hat und nicht neben einen ſolchen Eſel hingehoͤrt, wie du einer biſt!“ |
„За... ja, aber, Marja Alexandrowna, du bift doch meine angetraute Ehefrau, und darum, ſiehſt du wohl, ſage ich ſo zu dir .. . wie der Mann zu feiner Frau zu ſagen pflegt ...“ ver⸗ ſuchte Afanaſi Matwjejewitſch einzuwenden und hob gleichzeitig LXXV. 18
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beide Haͤnde zu ſeinem Kopfe in die Hoͤhe, um ſein Haar zu ſchuͤtzen. | „Ach, du Fratze! Ach, du Holzkopf! Hat man wohl je eine duͤmmere Antwort gehoͤrt? Angetraute Ehefrau! Was gibt es denn jetzt noch für ‚angetraute Ehefrauen“? Bedient ſich denn jetzt noch ein Menſch in den hoͤchſten Geſellſchaftskreiſen dieſes dummen, pfäffifchen, widerwaͤrtig gemeinen Ausdrucks ange- traut‘? Und wie kannſt du es wagen, mich daran zu erinnern, daß ich deine Frau bin, wo ich mich doch mit aller Anſtrengung, mit aller Kraft meiner Seele bemuͤhe, es zu vergeſſen? Warum bedeckſt du deinen Kopf mit den Haͤnden? Nun ſehe mal einer, wie ſein Haar ausſieht! Quatſchnaß, quatſchnaß! Das wird in drei Stunden nicht wieder trocken! Wie ſoll ich ihn nun hin— bringen? Wie ſoll ich ihn nun den Leuten zeigen? Was ſoll ich jetzt anfangen?“ 5 Marja Alexandrowna rang die Haͤnde vor Wut und lief im Zimmer hin und her. Das Ungluͤck war ja allerdings nicht groß und ließ ſich wieder gutmachen; aber die Sache war die, daß Marja Alexandrowna ihren herrſchſuͤchtigen, ſich alles unter- taͤnig machenden Фей nicht zuͤgeln konnte. Es war ihr ein Be⸗ duͤrfnis, unaufhoͤrlich ihren Zorn uͤber Afanaſi Matwjejewitſch auszuſchuͤtten; denn die Tyrannei iſt eben eine Gewohnheit, die zum Beduͤrfnis wird. Und dann iſt es ja auch allgemein bekannt, daß manche feinen Damen einer gewiſſen Geſellſchaftsſphaͤre bei ſich zu Hauſe hinter den Kuliſſen zu einem Benehmen faͤhig ſind, ; das mit demjenigen, das fie in der Öffentlichkeit beobachten, einen außerordentlichen Kontraft bildet, und gerade dieſen Kon traſt wollte ich zur Anſchauung bringen. Afanaſi Matwjejewitſch verfolgte angſtvoll alle Bewegungen ſeiner Gattin, und es drang 1 ihm dabei fogar der Schweiß aus den Poren.
Zehntes Kapitel 195
„Griſchka!“ ſchrie fie endlich; „zieh den Herrn ſofort an! Frack, Beinkleider, weiße Binde, weiße Weſte — ſchnell! Und wo iſt ſeine Kopfbuͤrſte, wo iſt ſeine Kopfbuͤrſte?“
„Muͤtterchen! Aber ich komme ja aus dem Schwitzbade: ich kann mich ja erkaͤlten, wenn ich jetzt nach der Stadt fahre ...“
„Du wirft dich nicht erkaͤlten!“
„Aber mein Haar iſt ja noch ganz naß ...“
„Das werden wir gleich trocken bekommen! Griſchka, nimm die Kopfbuͤrſte und buͤrſte ihn trocken; feſter, feſter, feſter! So
iſt's recht, ſo iſt's recht!“
unter dieſem Kommando begann der eifrige, treue Griſchka das Haar ſeines Herrn aus Leibeskraͤften zu buͤrſten, wobei er ihn zu groͤßerer Bequemlichkeit an der Schulter faßte und gegen das Sofa druͤckte. Afanaſi Matwjejewitſch runzelte die Stirn und fing beinah an zu weinen.
„Jetzt komm hierher! Heb ihn in die Hoͤhe, Griſchka! Wo iſt
die Pomade? Buͤck dich, buͤck dich, du Taugenichts; buͤck dich, du Muͤßiggaͤnger!“ Und Marja Alexandrowna machte ſich daran, ihren Gatten eigenhaͤndig zu pomadiſieren, und zerzauſte dabei erbarmungs— los ſein dichtes, graumeliertes Haar, das er ſich zu ſeinem Un— gluͤck nicht hatte kurz ſchneiden laſſen. Afanaſi Matwjejewitſch raͤuſperte ſich und ſeufzte; aber er ſchrie nicht und hielt die ganze Operation demutsvoll aus.
„Alle meine Kraft haſt du mir ausgeſogen, du Schmutz— fink!“ ſchalt Marja Alexandrowna. „Buͤck dich noch mehr, buͤck dich!“ 0
„Wieſo habe ich dir denn die Kraft ausgeſogen, Muͤtterchen?“ ſtammelte der Gatte, waͤhrend er den Kopf herunterbog, ſoweit er nur konnte.
196 Onkelchens Traum
„Toͤlpel! Verſtehſt nicht einmal einen bildlichen Ausdruck! Jetzt kaͤmme dich; und du zieh ihn an, aber ſchnell!“
Unſere Heldin ſetzte ſich auf einen Lehnſtuhl und verfolgte mit dem Blicke eines Inquiſitors die ganze Prozedur, wie Afanaſi Matwjejewitſch angekleidet wurde. Inzwiſchen hatte er ſich ſchon wieder ein bißchen erholt und Mut geſchoͤpft, und als es zum Umbinden der weißen Krawatte kam, erkuͤhnte er ſich ſogar, ſo etwas wie eine eigene Meinung uͤber die Form und Schoͤnheit des Knotens laut werden zu laſſen. Und als der ehrenwerte Mann zuletzt den Frack anzog, war er ſchon wieder ganz fura= giert geworden und betrachtete ſich im Spiegel mit einer gewiſſen Selbſtachtung.
„Wo willſt du mich denn hinbringen, Marja ехали fragte er, ПФ zurechtputzend.
Marja Alexandrowna traute ihren Ohren nicht.
„Na, nun hoͤre mal einer an! Ach, du Vogelſcheuche! Wie kannſt du dich erdreiſten zu fragen, wo ich dich hinbringen will!“
„Aber ich muß das doch wiſſen, Muͤtterchen ...“
„Halt den Mund! Und wenn du mich noch ein einziges Mal Muͤtterchen nennſt, beſonders dort, wo wir jetzt hinfahren, dann ſollſt du einen ganzen Monat lang keinen Schluck Tee zu trinken bekommen!“
Ganz erſchrocken ſchwieg der Gatte.
„Nun ſeh einer, keinen einzigen Orden hat er in ſeiner Dienſt— zeit bekommen, ſo eine Vogelſcheuche!“ fuhr ſie mit einem ver— aͤchtlichen Blick auf Afanaſi Matwjejewitſchs ſchwarzen Frack fort. |
Afanaſi Matwjejewitſch fühlte ſich nun ſchließlich doch де: krankt.
„Die Orden verleiht die АЕ Behörde, Muͤtterchen; ich
Zehntes Kapitel 197
aber bin ein Rat und keine Vogelſcheuche!“ ſagte er mit ап: ſtaͤndigem Unwillen.
„Was, was, was? Haſt du hier raͤſonieren gelernt? Ach du Bauer! Ach, du Rotznaſe! Schade nur, daß ich jetzt keine Zeit habe, mich mit dir abzugeben; ſonſt würde ich ... Na, ich werde ſpaͤter daran denken! Gib ihm den Hut, Griſchka! Gib ihm den Pelz! Hier muͤſſen, waͤhrend ich weg bin, alle dieſe drei Zimmer ſauber gemacht und aufgeraͤumt werden; auch das gruͤne Eck— zimmer. Nimm ſofort die Buͤrſte und den Beſen zur Hand! Von den Spiegeln muͤſſen die Uberzuͤge abgenommen werden; ebenfo von den Uhren; in einer Stunde muß alles fertig ſein. Und du zieh ſelbſt den Frack an und gib den Leuten Handſchuhe; haſt du gehoͤrt, Griſchka, haſt du gehoͤrt?“
Sie ſetzten ſich in den Schlitten. Afanaſi Matwjejewitſch wunderte ſich verſtaͤndnislos. Unterdeſſen uͤberlegte Marja Alexandrowna im ſtillen, wie fie ihrem Gatten gemilfe für fein weiteres Verhalten notwendige Inſtruktionen am beſten ver— ſtaͤndlich machen und einpraͤgen koͤnne. Aber der Gatte kam ihr zuvor und fing zuerſt an zu reden.
„Weißt du, Marja Alexandrowna, ich habe heute einen ganz originellen Traum gehabt,“ mit dieſer Mitteilung unterbrach er ganz unerwartet das beiderſeitige Stillſchweigen.
„Schaͤme dich was, du verdammte Vogelſcheuche! Ich dachte wunder was du ſagen wollteſt! Einen Traum hat er gehabt! Wie kannſt du es wagen, mich mit deinen baͤueriſchen Traͤumen zu behelligen! Einen originellen Traum! Verſtehſt du denn uͤberhaupt noch, was das bedeutet: originell? Hoͤr mal, ich ſage es dir zum letztenmal: wenn du dich heute bei mir unterſtehſt, auch nur ein Wort von deinem Traume zu erwaͤhnen oder von irgend etwas anderem, dann werde ih... ich weiß gar nicht,
198 Onkelchens Traum
was ich dann mit dir machen werde! Paß mal recht auf: Fuͤrſt K iſt zu mir zu Beſuch gekommen. Beſinnſt du dich noch auf "Ч Fuͤrſten K.?“
„Ja, ich beſinne mich auf ihn, Mütterchen, ich beſinne 8 auf ihn. Warum ift er denn zu dir gekommen?“
„Halt den Mund! Das geht dich nichts an! Du mußt ihn als | Hausherr mit befonderer Liebenswuͤrdigkeit ſogleich zu uns auf das Gut einladen. Zu dieſem Zwecke hole ich dich eben. Wir werden uns gleich heute in den Schlitten ſetzen und aus der Stadt 1 wegfahren. Aber wenn du dich erdreiſten ſollteſt, auch nur ein Wort den ganzen Abend über zu ſagen oder morgen oder übers morgen oder zu irgendwelcher anderen Zeit, dann laſſe ich dich ein ganzes Jahr lang die Gaͤnſe hüten! Rede nichts, kein eins ziges Wort! Das iſt deine ganze Obliegenheit. Verſtanden?“
„Na, aber wenn mich nun jemand fragt?“
„Ganz egal; ſchweig du nur ſtill!“ b
„Aber das geht doch nicht, daß ich immer ſtillſchweige, Marja Alexandrowna!“
„Im Notfalle gib eine einſilbige Antwort; ſage zum Beiſpiel: „Hm!“ oder etwas Ahnliches, um zu zeigen, daß du ein kluger Menſch biſt und nachdenkſt, bevor du antworteſt.“
„Hm!“
„Verſteh mich recht! Ich werde dich hinbringen und ſagen, du haͤtteſt von der Ankunft des Fuͤrſten gehoͤrt und ſeieſt, ganz Е entzüdt über feinen Beſuch, fofort herbeigeeilt, um ihm deinen |
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Reſpekt зи bezeigen und ihn auf das Gut einzuladen; haft du verſtanden?“ „Hm!“ | 7 „Jetzt ſollſt du nicht m' ſagen, Dummkopf! Mir ſollſt du antworten.“
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Zehntes Kapitel 199
„Gut, Muͤtterchen; es wird alles nach deinem Willen ge: ſchehen; aber warum ſoll ich denn den Fuͤrſten einladen?“
„Was, was? Willſt du ſchon wieder ſelbſt denken? Was geht es dich an, warum du das tun ſollſt? Wie kannſt du dich unter— ſtehen, danach zu fragen?“
„Aber ich muß darauf zuruͤckkommen, Marja Alexandrowna: wie ſoll ich ihn denn einladen, wenn du mir befiehlft zu ſchweigen?“
„Ich werde fuͤr dich reden; du brauchſt dich nur zu verbeugen, hoͤrſt du wohl? nur zu verbeugen und den Hut in der Hand zu halten. Haſt du verſtanden?“
„Ja, ich habe es verſtanden, Muͤt . .. Marja Alexandrowna.“
„Der Fuͤrſt iſt ſehr geiſtreich. Wenn er etwas ſagt (mag er es auch nicht zu dir ſagen), ſo antworte auf alles mit einem gutmuͤtigen, heiteren Laͤcheln, hoͤrſt du?“
„Hm!“ „„Schon wieder fagt er ‚hm‘! Wenn du mit mir ſprichſt, ſollſt du nicht ‚hm‘ ſagen. Antworte einfach und geradezu: haft du gehoͤrt oder nicht?“
„Ich habe es gehoͤrt, Marja Alexandrowna, ich habe es ge— hoͤrt; wie ſollte ich es nicht gehoͤrt haben! Ich ſage nur zur Übung ‚hm‘, wie du befohlen haft. Aber ich komme immer dar: auf zuruͤck, Muͤtterchen: wie ſoll ich das machen: wenn der Fuͤrſt etwas ſagt, dann ſoll ich ihn nach deinem Befehle anſehen und lücheln; aber wenn er mich nun etwas fragt, was dann?“
„Nein, was iſt dieſer Holzkopf ſchwer von Begriffen! Ich habe dir ſchon geſagt: halte den Mund! Ich werde an deiner
Stelle antworten; du brauchſt ihn nur anzuſehen und zu laͤcheln.“ | „Aber da wird er ja denken, daß ich ſtumm bin,“ brummte Afanaſi Matwjejewitſch.
200 Onkelchens Traum
—
„Das waͤre ja noch kein Ungluͤck! Mag er das denken; dafuͤr verbirgſt du es vor ihm, daß du ein Dummkopf biſt.“
„Om... Na, aber wenn mich nun andere nach etwas fragen?“
„Es wird dich niemand fragen; es wird weiter niemand da fein. Sollte aber doch (was Gott verhüte!) jemand kommen und dich nach etwas fragen oder etwas zu dir ſagen, dann antworte ſofort mit einem ſarkaſtiſchen Laͤcheln. Weißt du denn auch, was das iſt: ein ſarkaſtiſches Laͤcheln?“
„Das iſt ein geiſtreiches Lächeln, nicht wahr, Muͤtterchen?“
„Schwatz keinen Unſinn, Toͤlpel; ein geiſtreiches Laͤcheln! Wer wird von dir Dummrian ein geiſtreiches Laͤcheln verlangen? Ein ſpoͤttiſches Lächeln, verſtehſt du? ein ſpoͤttiſches, geringſchaͤtziges Laͤcheln.“
„Hm!“
„Ach, dieſer Toͤlpel macht mir rechte Sorge!“ fluͤſterte Marja Alexandrowna vor ſich hin. „Er legt es entſchieden darauf an, mich muͤrbe zu machen! Es waͤre wahrhaftig das beſte, ihn gar nicht hinzubringen!“
Mit ſolchen Gedanken beſchaͤftigt, ſteckte Marja Alexandrowna voll Unruhe und Unzufriedenheit fortwaͤhrend den Kopf aus dem Fenſter der Schlittenkutſche hinaus und trieb den Kutſcher zur Eile an. Die Pferde flogen nur ſo dahin; aber ihr erſchien die Fahrt doch noch zu langſam. Afanaſi Matwjejewitſch ſaß ſchweigend in ſeiner Ecke und wiederholte in Gedanken ſeine Aufgaben. Endlich fuhr der Schlitten in die Stadt ein und hielt vor Marja Alexandrownas Hauſe. Aber kaum war unſere Hel— din auf die Stufen vor der Haustuͤr hinausgeſprungen, als ſie ploͤtzlich ſah, daß ein zweiſpaͤnniger, zweiſitziger Verdeckſchlitten bei dem Hauſe vorfuhr, eben der Schlitten, in welchem Anna
Elftes Kapitel 201
Nikolajewna Antipowa auszufahren pflegte. In dem Schlitten ſaßen zwei Damen. Die eine von ihnen war natuͤrlich Anna Nikolajewna ſelbſt und die andere Natalja Dmitrijewna, ſeit kurzem ihre intime Freundin und Anhaͤngerin. Marja Alexan— drowna bekam einen Todesſchreck. Aber ſie hatte noch nicht Zeit gehabt, einen Schrei auszuſtoßen, als noch ein anderer Schlitten vorfuhr, in dem offenbar noch mehr Beſucherinnen ſaßen. Es erſchollen freudige Ausrufe:
„Da ſind Sie ja, Marja Alexandrowna! Und mit Aanafi Matwjejewitſch zufammen! Sie find wohl eben angekommen? Von wo denn? Wie gut ſich das trifft! Wir wollten zu Ihnen, auf den ganzen Abend! Welch eine Überraſchung!“
Die Beſucherinnen huͤpften aus den Schlitten und zwitſcher— ten wie die Schwalben. Marja Alexandrowna traute BR Augen und Ohren nicht.
„Hol euch der Teufel!“ dachte ſie bei ſich. „Das ſieht wie eine Verſchwoͤrung aus! Das muß ich feſtſtellen! Aber ihr ſollt mich nicht uͤberliſten, ihr Klatſchbaſen ... Wartet nur! ...“
Elftes Kapitel
Als Moſgljakow aus Marja Alexandrownas Haufe trat, war er anſcheinend ganz getroͤſtet. Sie hatte ihn vollſtaͤndig enthuſias— miert. Zu Borodujew ging er nicht, da er das Beduͤrfnis hatte, allein zu ſein. Die heroiſchen, romantiſchen Zukunftstraͤumereien, die ſeine Seele uͤberfluteten, ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Es ſchwebte ihm eine feierliche Ausſprache mit Sinaida vor, dann die edlen Traͤnen ſeines allesverzeihenden Herzens, ſeine Blaͤſſe und Verzweiflung auf dem glaͤnzenden Petersburger Balle, Spanien, der Guadalquivir, ſeine Liebe und der ſterbende Fuͤrſt, der ihre Haͤnde vor ſeiner Todesſtunde vereinigte. Dann
202 Onkelchens Traum
eh,
feine wunderſchoͤne Frau, die ihm treu ergeben war und ihn
beſtaͤndig wegen feines Heroismus und feiner erhabenen Ge— fuͤhle bewunderte; beilaͤufig im ſtillen auch das entgegenkom— mende Benehmen irgendwelcher Graͤfin aus den hoͤchſten Gefell: ſchaftskreiſen, in die er durch ſeine Verheiratung mit Sinaida, der Witwe des Fuͤrſten K., unfehlbar wuͤrde aufgenommen werden; der Poſten eines Vizegouverneurs, eine Menge Geld — kurz, alles, was ihm Marja Alexandrowna mit ſo beredten Wor— ten ausgemalt hatte, zog noch einmal vor ſeiner hoͤchſt zufrie— denen Seele voruͤber, reizte und lockte ihn und ſchmeichelte vor allen Dingen ſeiner Eitelkeit. Aber ſiehe da (und ich weiß wirk— lich nicht, wie ich das erklaͤren ſoll), als er ſchon von all ſeinem
Entzuͤcken müde zu werden anfing, da kam ihm plößlich ein recht
verdrießlicher Gedanke: naͤmlich daß alles dies jedenfalls erſt in der Zukunft lag, er jetzt aber doch mit langer Naſe abzog. Als ihm dieſer Gedanke kam, bemerkte er, daß er beim Umherwandern in eine ſehr abgelegene Gegend, in eine einſame, ihm unbekannte Vorſtadt von Mordaſow, geraten war. Es wurde dunkel. Auf den Straßen, an denen zu beiden Seiten kleine, halb in die Erde geſunkene Haͤuschen ſtanden, bellten wuͤtend die Hunde, die ſich in den Provinzſtaͤdten namentlich in denjenigen Stadtteilen in ſchrecklicher Menge vermehren, wo nichts zu bewachen und nichts zu ſtehlen iſt. Feuchte Schneeflocken begannen herabzufallen.
Nur ſelten begegnete ihm ein verſpaͤteter Kleinbuͤrger oder ein Weib in Schafpelz und Stiefeln. Über alles dies begann ſich Pawel Alexandrowitſch aus nicht recht verſtaͤndlichem Grunde zu aͤrgern — ein recht uͤbles Zeichen, da uns doch vielmehr, wenn die Dinge eine gute Wendung genommen haben, alles in freund- lichem, roſigem Lichte erſcheint. Pawel Alexandrowitſch er: innerte ſich unwillkuͤrlich daran, daß er bisher beſtaͤndig in Mor⸗
Я wi
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Elftes Kapitel 203
daſow den Ton angegeben hatte; es hatte ihm Vergnügen ge: macht, wenn man ihm in allen Häufern zu verſtehen gegeben hatte, daß er ein willkommener Heiratskandidat fei, und ihn zu dieſer Wuͤrde begluͤckwuͤnſcht hatte. Er war ſogar ſtolz darauf geweſen, daß er fuͤr eine gute Partie galt. Und nun ſtand er auf einmal vor aller Augen als ein Abgewieſener da! Es war zu
erwarten, daß daruͤber ſehr gelacht wurde. Und er konnte doch
wirklich nicht allen Leuten auseinanderſetzen, daß die Sache ſich ganz anders verhielt, konnte ihnen nicht von den Petersburger Baͤllen mit den Saͤulen und vom Guadalquivir erzaͤhlen! Bei dieſen truͤben, verdrießlichen Überlegungen geriet er ſchließlich auf einen Gedanken, der ſchon ſeit laͤngerer Zeit, ohne daß er ſich deſſen recht bewußt geworden waͤre, an ſeinem Herzen ge— nagt hatte: „Aber iſt das auch alles wahr? Wird das auch alles ſo in Erfuͤllung gehen, wie Marja Alexandrowna es ausgemalt hat?“ Dabei erinnerte er ſich, daß Marja Alexandrowna eine ſehr ſchlaue Dame war, und daß ſie, wie ſehr ſie auch der all— gemeinen Hochachtung wuͤrdig war, doch vom Morgen bis zum Abend Klatſchgeſchichten erzählte und log. Er ſagte ſich, daß fie,
wenn ſie ihn jetzt aus dem Hauſe entfernt habe, wahrſcheinlich
ihre beſonderen Gruͤnde dafuͤr gehabt habe, und daß Zukunfts—
| bilder auszumalen ſchließlich eine Kunſt ſei, die jeder verſtehe. Er dachte auch an Sinaida und erinnerte ſich an ihren Abſchieds— blick, der ganz und gar keine verborgene, leidenſchaftliche Liebe
ausgedruͤckt hatte; und gleichzeitig fiel ihm ein, daß er doch vor einer Stunde von ihr ein Dummkopf genannt worden war. Bei
dieſer Erinnerung blieb Pawel Alexandrowitſch auf einmal wie
angenagelt ſtehen und erroͤtete vor Beſchaͤmung ſo ſtark, daß ihm
beinah die Traͤnen kamen. Und es traf ſich uͤbel, daß ihm gerade
im naͤchſten Augenblicke etwas Unangenehmes paſſierte: er ſtol—
204 Onkelchens Traum
perte und fiel von dem hölzernen Trottoir in eine Schneewehe.
Waͤhrend er in dem Schnee zappelte, kam eine Schar Hunde, die ihn ſchon lange mit ihrem Gebell verfolgt hatte, von allen Seiten auf ihn losgeſtuͤrzt. Einer von dieſen Koͤtern, ein ganz kleines, boshaftes Tier, haͤngte ſich ſogar an ihn, indem er mit den Zaͤhnen den Schoß ſeines Pelzes packte. Nachdem er ſich von den Hunden losgemacht hatte, ſchleppte ſich Pawel Alexan— drowitſch endlich, laut ſchimpfend und ſein Schickſal verfluchend, mit zerriſſenem Pelzſchoße und mit unertraͤglichem Kummer im Herzen bis zur naͤchſten Straßenecke und bemerkte erſt jetzt, daß er ſich verirrt hatte. Bekanntlich kann jemand, der ſich in einem unbekannten Stadtteil verirrt hat, und beſonders bei Nacht, ab: ſolut nicht eine Straße gerade entlanggehen: alle Augenblicke iſt es, als gebe ihm eine unſichtbare Kraft einen Stoß und ver: anlaſſe ihn, in allerlei Straßen und Gaſſen, die ihm auf ſeinem Wege vorkommen, einzubiegen. Nach dieſer Methode verirrte ſich denn auch Moſgljakow gruͤndlich. „Hole der Teufel all dieſe hohen Ideen!“ ſagte er bei ſich und ſpuckte vor Arger aus. „Und hole euch alle der Teufel mit euren hohen Gefuͤhlen und Guadal⸗ quiviren!“ Ich ſage nicht, daß Moſgljakow in dieſem Augenblicke ein reizender junger Mann geweſen waͤre. Endlich gelangte er nach zweiſtuͤndigem Umherirren muͤde und matt wieder zu Marja Alexandrownas Haustuͤr. Beim Anblick der vielen dort halten— den Schlitten wunderte er ſich. „Iſt denn wirklich Beſuch da?
U
Hat ſie wirklich Gaͤſte zum Abend eingeladen?“ fragte er ſich.
„Was hat ſie dabei fuͤr eine Abſicht?“ Er erkundigte ſich bei einem Diener, der ihm begegnete, und erfuhr, daß Marja Alexan— drowna auf dem Gute geweſen ſei und Afanaſi Matwjejewitſch, in weißer Binde, von dort mitgebracht habe; der Fuͤrſt ſei ſchon aufgewacht, aber noch nicht zu den Gaͤſten heruntergekommen.
Elftes Kapitel 205
Ohne ein Wort zu fagen ging Pawel Alexandrowitſch nach oben zu ſeinem Onkel. In dieſem Augenblicke befand er ſich gerade in jener Gemuͤtsverfaſſung, wo ein Menſch von ſchwachem Cha— rakter imſtande iſt, ſich aus Rachſucht zu einer ſchrecklichen, ſchaͤnd— lichen Gemeinheit zu entſchließen, ohne daran zu denken, daß er ſie vielleicht ſein ganzes Leben lang wird bereuen muͤſſen.
Als er nach oben kam, fand er den Fuͤrſten vor ſeinem Reiſe— neceſſaire auf einem Lehnſtuhl ſitzend, mit vollſtaͤndig kahlem Kopfe, aber ſchon mit der Fliege und dem Backenbarte. Seine Peruͤcke befand ſich in den Haͤnden ſeines alten, graukoͤpfigen Kammerdieners und Lieblings Iwan Pachomytſch; dieſer kaͤmmte fie mit tiefſinniger, reſpektvoller Miene zurecht. Was den Fuͤrſten anlangt, ſo bot er ein ſehr klaͤgliches Bild, da er ſich von dem vorher genoſſenen Weine noch nicht recht erholt hatte. Er ſaß ganz zuſammengeſunken, matt und ſchlaff da, blinzelte mit den Augen und {аб Moſgljakow an, als ob er ihn nicht er— kenne.
„Wie befinden Sie ſich, Onkelchen?“ fragte dieſer.
„Wie... Ach, du biſt es,“ erwiderte Onkelchen endlich. „Ich war ein bißchen eingeſchlafen, mein Lieber. Ach, mein Gott!“ rief er, plotzlich lebhaft werdend, „ich habe ja ... keine Peruͤcke auf!“
„Beunruhigen Sie ſich darum nicht, Onkelchen! Ich ... ich werde Ihnen behilflich ſein, wenn es Ihnen recht iſt.“
„Siehſt du, da haſt du nun mein Geheimnis erfahren! Ich habe doch gejagt, die Tür müßte zu-ge-ſchloſ-ſen werden. Nun, mein Freund, du mußt mir un-ver-zuͤg-lich dein Ehrenwort dar: auf geben, daß du von meinem Geheimnis keinen Gebrauch machen und niemandem ſagen wirſt, daß ich falſches Haar trage.“
|
„Aber ich bitte Sie, Onkelchen! Halten Sie mich denn einer fo gemeinen Handlungsweiſe fuͤr fähig?" rief Moſgljakow, der ſich den Fuͤrſten gern geneigt machen wollte ... im Hinblick auf ſeine weiteren Abſichten.
„Nun ja, nun ja! Und da ich ſehe, daß du ein anſtaͤndig den— kender Menſch biſt, ſo werde ich dich in Gottes Namen einmal in Erſtaunen verſetzen ... und dir alle meine Geheimniſſe еп huͤllen. Wie gefaͤllt dir mein Schnurr-bart, lieber Freund?“
„Er ſieht ausgezeichnet aus, Onkelchen! Ganz wundervoll! Wie haben Sie es nur fertiggebracht, ihn ſich ſo lange zu erhalten?“
„Da biſt du im Irrtume, mein Freund; er iſt nach-ge-macht!“ erwiderte der Fuͤrſt und ſah Pawel Alexandrowitſch trium— phierend an.
„Wirklich? Das iſt ſchwer zu glauben! Na, aber der Backen— bart? Geſtehen Sie es nur, Onkelchen, den faͤrben Sie ſich gewiß?“
„Ob ich ihn faͤrbe? Nein, das tue ich nicht; aber er iſt voll— ſtaͤndig kuͤnſtlich.“
„Kuͤnſtlich? Nein, Onkelchen, da moͤgen Sie ſagen, was Sie wollen, das glaube ich nicht. Sie machen ſich uͤber mich luſtig!“
„Parole d'honneur, mon ami!“ rief der Fuͤrſt triumphierend, „und ſtel⸗le dir das vor: alle, ab⸗ſo-lut alle, laſſen ſich ebenſo wie du taͤu⸗ſchen. Sogar Stepanida Matwjejewna glaubt es nicht, obgleich fie ihn mir ſelbſt manchmal an-macht. Aber ich bin Фа: von uͤberzeugt, mein Freund, daß du mein Geheimnis bewahren wirft. Gib mir dein Ehrenwort ...“
„Mein Ehrenwort, Onkelchen; ich werde es bewahren. Ich wiederhole Ihnen noch einmal: halten Sie mich denn einer ſolchen Gemeinheit fuͤr faͤhig?“ Ä
„Ach, mein Freund, was habe ich heute, während du fort
206 Onkelchens Traum
1 С * 1
Elftes Kapitel 207
warſt, fuͤr einen ſchweren Fall getan! Feofil hat mich wieder
mit dem Schlitten um⸗-ge-wor-fen.“
„Wieder umgeworfen! Wann denn?“
„Wir waren ſchon nahe beim Kloſter ...“
„Ich weiß, Onkelchen, heute fruͤh.“
„Nein, nein, vor zwei Stunden; länger ift es noch nicht her. Ich fuhr nach dem Kloſter, und er warf mich ohne weiteres mit
| dem Schlitten um; ich habe einen ſolchen Schreck be-kom-men;
mein Herz hat ſich noch immer nicht beruhigt.“
„Aber, Onkelchen, Sie haben ja doch geſchlafen!“ ſagte
р Moſgljakow erftaunt.
„Nun ja, ich habe geſchlafen ... aber dann bin ich gefahren.
| Indeſſen habe ich ... indeſſen habe ich das vielleicht ... ach, wie ſeltſam das iſt!“
„Ich verſichere Ihnen, Onkelchen, daß Sie das nur getraͤumt
haben! ER haben ganz ruhig geſchlafen, gleich vom Mittag: eſſen an.“
n
„Wirklich?“ Der Furſt dachte nach.
„Nun ja, ich habe es in der Tat vielleicht nur getraͤumt. Aber ich erinnere mich genau an alles, was mir getraͤumt hat. Zuerſt traͤumte mir von einem ſchrecklichen Ochſen mit Hoͤrnern; und
2 dann träumte mir von einem Staats-an⸗walt, ebenfalls mit Hoͤr nern..“
„Das war gewiß Nikolai Waſiljewitſch Antipow, Onkelchen?“ „Nun ja, vielleicht war es der. Und dann traͤumte mir von
Napoleon Bonaparte. Weißt du, mein Freund, alle Leute ſagen
mir, ich hätte mit Napoleon Bonaparte Ahnlichkeit ... und im Profil ſoll ich genau ſo ausſehen wie ein alter Papſt! Wie
urteilſt du darüber, mein Lieber: habe ich mit einem Papſte Ahnlichkeit?“
208 Onkelchens Traum
„Ich glaube, daß Sie mehr wie Napoleon ausſehen, Onkel⸗
chen!“
„Nun ja, en face. Übrigens glaube ich das auch ſelbſt, mein Lie: ber. Und es traͤumte mir von ihm, wie er ſchon auf der Inſel ſaß, und weißt du, er war ein ſo geſpraͤchiger, ſchlagfertiger, luſtiger Patron, daß ich mich außer⸗ordentlich über ihn amuͤſierte ...“
„Sie ſprechen von Napoleon, Onkelchen?“ ſagte Pawel Alexandrowitſch, indem er den Onkel nachdenklich anblickte. Ein ſonderbarer Gedanke begann in ſeinem Kopfe zu daͤmmern, ein Gedanke, von dem er ſich ſelbſt noch nicht ordentlich Rechenſchaft geben konnte.
„Nun ja, von Na⸗-po-leon. Ich ſprach mit ihm von Philo— ſophie. Aber weißt du, mein Freund, es tat mir ſogar leid, daß fie mit ihm fo ſtreng verfahren find... die Eng-laͤn-der. Ge⸗ wiß, haͤtte man ihn nicht an die Kette gelegt gehabt, ſo wuͤrde er ſich ſogleich wieder auf die Menſchen geſtuͤrzt haben. Ich haͤtte ihn anders „ Ich haͤtte ihn auf eine un-be-wohnte Inſel geſetzt ..
„Warum 51 auf eine unbewohnte?“ RR Moſgljakow zerſtreut.
„Nun, meinetwegen auch auf eine be-wohn-te; aber ſie muͤßte nur von vernuͤnftigen Menſchen bewohnt ſein. Nun, und dann hätte ich allerlei Zer-ſtreu-ungen für ihn eingerichtet: Theater, Muſik, Ballett, und alles auf Staatskoſten. Spazieren zu gehen haͤtte ich ihm natuͤrlich nur unter Aufſicht erlaubt; denn ſonſt hätte er ſich ſogleich wieder da-von-ge-macht. Er aß eine де: wiſſe Sorte von Paſteten ſehr gern. Nun, da haͤtte ich ihm auch dieſe Paſteten alle Tage zubereiten laſſen. Ich haͤtte ihn ſozu— ſagen vaͤ⸗ter-lich behandelt. Er würde bei meiner Behandlung auch {ст fruͤheres Tun bereut haben ...“
H
Elftes Kapitel 209
Moſgljakow hörte das Geſchwaͤtz des erſt halb wachen alten Mannes zerſtreut mit an und biß ſich vor Ungeduld auf die Naͤgel. Er wollte gern das Geſpraͤch auf die Heirat bringen; er wußte ſelbſt noch nicht warum, aber in ſeinem Herzen kochte eine grenzenloſe Wut. Auf einmal ſchrie der Alte vor Erſtaunen auf.
„Ach, mon ami! Das habe ich ja ganz vergeſſen, dir zu
ſagen! Denke dir nur, ich habe ja heute einen Hei-rats⸗an⸗trag
gemacht!“
„Einen Heiratsantrag, Onkelchen!“ rief Moſgljakow, der plotzlich lebendig wurde. „Nun ja, einen Hei-rats⸗an⸗trag. Pachomytſch, gehſt du ſchon? Nun gut. C'est une charmante personne. Aber
ich muß dir geſtehen, mein Lieber, ich habe da un-be-dacht ge⸗
handelt. Ich komme erſt jetzt zu dieſer Erzfenntenis. Ach, mein Gott!“
„Aber erlauben Sie, Onkelchen, wann haben Sie denn dieſen Heiratsantrag gemacht?“ „Ich muß dir geſtehen, mein Freund, ich weiß ſelbſt nicht genau wann. Ob ich auch das nur getraͤumt habe? Ach, wie
ſon⸗der⸗bar das doch alles iſt!“
Moſgljakow zitterte vor Entzuͤcken. Ein neuer Gedanke blitzte in ſeinem Kopfe auf.
„Aber wem und wann haben Sie denn den Heiratsantrag gemacht, Onkelchen?“ fragte er noch einmal ungeduldig.
„Der Tochter vom Haufe, mon ami, .. . à cette belle per- sonne... übrigens habe ich vergeſſen, wie fie heißt. Aber,
ſiehſt du, mon ami, ich kann ja doch gar nicht hei-ra-ten. Was
ſoll ich nun machen?“
„Ja, Sie werden ſich allerdings zugrunde richten, wenn Sie heiraten. Aber erlauben Sie mir, Ihnen noch eine Frage vor— LXXV. 14
210 Onkelchens Traum
Be
zulegen, Onkelchen! Sind Sie feſt davon überzeugt, daß Sie wirklich einen Heiratsantrag gemacht haben?“
„Ja, ich ... ich bin davon uͤberzeugt.“
„Aber wenn Ihnen nun das alles nur getraͤumt hat, ebenſo wie das, daß Sie zum zweitenmal mit dem Schlitten um— geworfen ſeien?“
„Ach, mein Gott! In der Tat, vielleicht habe ich auch das nur getraͤumt! Daher weiß ich jetzt gar nicht, wie ich mich dort blik⸗ken laſ⸗ſen ſoll. Könnte man wohl zu- ver⸗laͤſ⸗ſig in Ст: fahrung bringen, mein Freund, auf irgendwelchem in-di-rek-ten Wege, ob ich einen Heiratsantrag gemacht habe oder nicht? Denn in welcher Lage befinde ich mich ſonſt, denke doch nur!“
„Wiſſen Sie was, Onkelchen? Ich glaube, es iſt da uͤberhaupt nichts in Erfahrung zu bringen.“
„Wieſo?“
„Ich glaube ſicher, daß Sie es nur getraͤumt haben.“
„Ich ſelbſt glaube es ebenfalls, mein Lie-ber, um {о mehr, da ich oft Ahnliches traͤume.“
„Nun ſehen Sie wohl, Onkelchen! Bedenken Sie, daß Sie beim Fruͤhſtuͤck ein bißchen getrunken haben, und dann beim Mittageſſen, und ſchließlich ...“ |
„Nun ja, mein Freund, vielleicht kommt es gerade da-her.“
„Ich glaube das um ſo mehr, Onkelchen, da Sie, wenn Sie auch noch ſo enthuſiasmiert waren, doch unter keinen Umſtaͤnden einen ſo unvernuͤnftigen Heiratsantrag in wachem Zuſtande machen konnten. Soweit ich Sie kenne, Onkelchen, ſind Sie ein im hoͤchſten Grade vernünftiger Menſch und ...“ |
„Nun ja, nun ja.“ 4
„Erwaͤgen Sie nur das eine: wenn das Ihre Verwandten er⸗
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Elftes Kapitel 211
fuͤhren, die ſowieſo ſchon ſchlecht auf Sie zu ſprechen ſind, was
wuͤrde dann wohl geſchehen?“
„Ach, mein Gott!“ rief der Fuͤrſt erſchrocken; „ja, was wuͤrde dann geſchehen?“
„Ich bitte Sie! Ihre Verwandten wuͤrden alle wie aus einem Munde ſchreien, Sie haͤtten das nicht bei vollem Ver— ſtande getan; Sie ſeien irrſinnig; man muͤſſe Sie unter Kuratel ſtellen; Sie ſeien betrogen worden. Und am Ende wuͤrden ſie Sie irgendwo unter Aufſicht einſperren.“
Moſgljakow wußte, wodurch man den alten Mann in Angſt ſetzen konnte.
„Ach, mein Gott!“ rief der Fuͤrſt, wie Eſpenlaub zitternd. „Wuͤrden ſie mich wirklich einſperren?“
„Überlegen Sie daher ſelbſt, Onkelchen: haͤtten Sie wohl einen ſo unvernuͤnftigen Heiratsantrag in wachem Zuſtande machen koͤnnen? Sie verſtehen ſich doch ſelbſt auf Ihren Vorteil.
Ich bin in vollem Ernſte davon uͤberzeugt, daß Sie das alles
nur getraͤumt haben.“
„Sicherlich habe ich es nur geträumt, ſi-cher-lich habe ich es
nur geträumt!" ſtimmte ihm der Fuͤrſt ganz erſchrocken bei. „Ach,
wie verſtaͤndig du das alles auseinandergeſetzt haſt, mein Lie—
[
ber! Ich bin dir von Herzen dankbar, daß du mich darüber auf:
ge⸗klaͤrt haſt.“
„Und ich freue mich außerordentlich, Onkelchen, daß ich heute
noch einmal mit Ihnen zuſammengekommen bin. Stellen Sie
ſich das nur vor: ohne mich haͤtten Sie ſich tatſaͤchlich irren und
denken koͤnnen, Sie ſeien ein Braͤutigam; und dann waͤren Sie
als Braͤutigam hinuntergegangen. Stellen Sie ſich das nur vor, wie gefaͤhrlich das geweſen waͤre!“ „Nun ja... ja, gefaͤhrlich!“
212 Onkelchens Traum
„Denken Sie nur daran, daß dieſes Maͤdchen dreiundzwanzig Jahre alt iſt; niemand will ſie zur Frau nehmen, und auf ein— Я mal erfcheinen Sie, ein reicher, vornehmer Mann, und glauben ihr Bräutigam zu fein! Da würden dieſe Leute dieſen Ge- danken fofort aufgreifen, Ihnen verfichern, daß Sie in der Tat ihr Braͤutigam ſeien, und Sie mit ihr, vielleicht ſogar mit Ge— walt, verheiraten. Und dann wuͤrden ſie darauf ſpekulieren, daß Sie vielleicht bald ſterben werden.“
„Wirklich?“
„Und ſchließlich ſollten Sie nicht vergeſſen, RN, daß ein Mann mit Ihren vortrefflichen Eigenſchaften ... |
„Nun ja, mit meinen vortrefflichen Eigenſchaften ...“
„Mit Ihrem Verſtande, mit Ihrer Liebenswuͤrdigkeit ...“
„Nun ja, mit meinem Verſtande, ja! ...“
„Und ſchließlich, Sie ſind ein Fuͤrſt. Wuͤrden Sie ſich wohl eine ſolche Partie ausſuchen, wenn Sie wirklich aus irgend— welchem Grunde ſich genoͤtigt ſaͤhen zu heiraten? Bedenken Sie nur: was wuͤrden Ihre Verwandten dazu ſagen?“ |
„Ach, mein Freund, fie würden mich in Stüde reißen! Ich habe von ihnen ſchon ſoviel Tuͤcke und Bosheit erfahren .. Denke nur, ich vermute, daß ſie mich ins Ir-ren-haus ſperren wollten. Nun, ich bitte dich, mein Freund, hat das einen Sinn? Nun, was ſollte ich denn da machen ... im Ir-ren-hau⸗ſe?!“
„Selbſtverſtaͤndlich, Onkelchen, und darum werde ich jetzt nicht von Ihrer Seite weichen, wenn Sie nach unten gehen. Es ſind jetzt Gaͤſte dort.“
„Gaͤſte? Ach, mein Gott!“
„Beunruhigen Sie ſich nicht, Onkelchen; ich werde bei Ihnen - fein.“ % „Aber wie dank; bar bin ich dir, mein Lieber; du БШ geradezu
Elftes Kapitel 213
mein Retter! Aber weißt du was? Ich werde lieber weg— fahren.“
„Morgen, Onkelchen, morgen fruͤh um ſieben Uhr. Heute aber muͤſſen Sie ſich allen empfehlen und ſagen, daß Sie weg— fahren werden.“
„Ganz beſtimmt werde ich wegfahren ... zu Vater Miſail ... Aber, mein Freund — wenn ſie mich nun dort zum Braͤutigam machen?“ |
„Seien Sie unbeſorgt, Onkelchen; ich werde bei Ihnen fein. Und ſchließlich: moͤgen die Leute Ihnen andeuten und zu Ihnen ſagen, was ſie wollen, ſagen Sie nur geradeheraus, daß Sie das alles nur geträumt hätten... wie es ja auch wirklich der Fall geweſen iſt ...“
„Nun ja, ich habe es be-ſtimmt nur geträumt! Aber, weißt du, mein Freund, es war doch ein ent-zuͤk-ken⸗der Traum! Sie
iſt wunderbar ſchoͤn, und, weißt du, ſolche Formen ...“ „Na, adieu, Onkelchen; ich gehe nach unten, und Sie ...“
„Wie! Du willſt mich allein laſſen!“ rief der Fuͤrſt erſchrocken.
„Nein, Onkelchen; wir wollen nach unten gehen, aber ge— trennt; zuerſt ich und dann Sie. Das wird das beſte ſein.“
„Nun gut. Ich muß noch einen Gedanken niederſchreiben.“
„Schoͤn, Onkelchen; ſchreiben Sie Ihren Gedanken nieder, und kommen Sie dann ohne Verzug herunter. Morgen fruͤh aber“
„Morgen fruͤh fahre ich zum Moͤnchprieſter, unbedingt zum Moͤnch⸗prie⸗ſter! Charmant, charmant! Aber, weißt du, mein Freund, fie ift wun⸗der⸗bar ſchoͤn ... ſolche Formen... und wenn ich einmal durchaus heiraten müßte, fo würde ich ...“
„Gott moͤge Sie davor bewahren, Onkelchen!“
„Nun ja, Gott möge mich davor bewahren! . .. Nun, dann
214 Onkelchens Traum 2
adieu, mein Lieber; ich werde ſogleich .. . ich will das nur erſt nie⸗der⸗ſchrei-ben. A pro- pos, ich wollte dich ſchon laͤngſt fragen: haſt du die Memoiren von Caſanova geleſen?“
„Ja, ich habe ſie geleſen, Onkelchen; wieſo?“
„Nun ja... Siehſt du, ich habe jetzt wieder ver-geſ-ſen, was ich dich fragen wollte ...“
„Es wird Ihnen ſchon ſpaͤter einfallen, Onkelchen. Auf Wiederſehen!“ Ч
„Auf Wiederſehen, mein Freund, auf Wiederfehen! Aber es war doch ein entzüdender Traum, ein ent⸗-zuͤk⸗ken⸗der Traum!“ |
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Zwoͤlftes Kapitel | „Wir kommen alle zu Ihnen, alle! Auch Praſkowja Iljinitſchna wird kommen, und Luiſa Karlowna wollte ebenfalls kommen,“ zwitſcherte Anna Nikolajewna beim Eintritt in den Salon und ſah ſich neugierig nach allen Seiten um. f
Sie war ein recht huͤbſches kleines Daͤmchen, bunt, aber reich gekleidet, und ſie wußte auch ſelbſt recht wohl, daß ſie huͤbſch war. Sie hatte erwartet, den Fuͤrſten mit Sinaida in irgend: einer Ecke verſteckt zu erblicken. |
„Auch Katerina Petrowna wird kommen, und Feliſata Michailowna wollte gleichfalls hier ſein,“ fuͤgte Natalja Dmitri⸗ $ jewna hinzu, eine Dame von koloſſalem Körperbau, deren Formen dem Fuͤrſten ſo gefallen hatten, und die auffallend einem Grenadier glich.
Sie trug ein winziges roſa Huͤtchen, das ganz auf dem Hinter- kopfe ſaß. Schon {ей drei Wochen war fie Anna Nikolajewnas intimſte Freundin, nachdem fie ſchon lange um fie herum ſcherwenzelt und ihr den Hof gemacht hatte. Dem aͤußeren An-
19055 = Zwoͤlftes Kapitel 215
ſehen nach zu urteilen konnte man glauben, daß fie imſtande war, ihre Freundin auf einen Schluck zu verſchlingen, mitſamt allen Knoͤchelchen.
„Ich will gar nicht von dem (ich kann wohl ſagen) Entzuͤcken
reden, das ich daruͤber empfinde, Sie beide bei mir zu ſehen, und noch dazu fuͤr einen Abend,“ ließ ſich Marja Alexandrowna in verbindlichſter Manier vernehmen, nachdem ſie von dem erſten Erſtaunen wieder zu ſich gekommen war; „aber ſagen Sie mir, bitte, welches Wunder Sie heute zu mir gefuͤhrt hat, nachdem ich ſchon ganz daran verzweifelt war, dieſe Ehre zu haben.“ „50 mein Gott, Marja Alexandrowna, wie Sie aber auch find!" ſagte Natalja Dmitrijewna in einem affektierten, ſuͤß⸗ lichen, piepigen Tone, der einen merkwuͤrdigen Gegenſatz zu ihrem Außeren bildete.
„Mais, ma charmante, zwitſcherte Anna Nikolajewna, „es iſt ja doch notwendig, unbedingt notwendig, daß wir endlich ein— mal mit unſeren Vorbereitungen zu dieſer Theatervorſtellung fertig werden. Noch heute ſagte Peter Michailowitſch zu Kaliſt Staniflawitſch, er bedauere ſehr, daß dieſe unſere Angelegenheit nicht vom Fleck komme und wir uns immer nur miteinander ſtritten. Da find nun heute wir vier zuſammengekommen und haben gedacht: wir wollen zu Marja Alexandrowna fahren und alles mit einemmal in Ordnung bringen! Natalja Dmitrijewna hat auch den andern davon Mitteilung gemacht. Sie werden ſaͤmtlich kommen. Da können wir uns nun über alles einigen, und die Sache wird gut gelingen. Man ſoll nicht ſagen, daß wir g uns immer nur ſtritten, nicht wahr, mon ange?“ fuͤgte ſie neckiſch hinzu und kuͤßte Marja Alexandrowna. — „Ach, mein Gott! Sinaida Afanaſjewna! Aber Sie werden ja von einem Tage
zum andern immer ſchoͤner!“
216 Onkelchens Traum
Anna Nikolajewna eilte auf Sinaida zu, um ſie zu kuͤſſen.
„Sie hat ja auch weiter nichts zu tun, als ſchoͤner zu werden,“ fuͤgte Natalja Dmitrijewna ſuͤßlich hinzu und rieb ſich die großen, plumpen Haͤnde.
„Ach, hole dieſe Bande der Teufel! An die Theatervorſtellung habe ich ja gar nicht gedacht! Das haben ſie ſchlau gemacht, dieſe nichtswuͤrdigen Weiber!“ ſagte Marja Alexandrowna im ſtillen für ſich; fie war außer ſich vor Wut.
„Und zu unſerem Entſchluſſe, herzukommen, mein Engel,“ fuͤgte Anna Nikolajewna noch hinzu „hat auch noch der Umſtand weſentlich mitgewirkt, daß Sie jetzt dieſen lieben Fuͤrſten bei ſich im Hauſe haben. Sie wiſſen ja, in Duchanowo war unter den fruͤheren Beſitzern ein Theater. Wir haben uns ſchon erkundigt und haben erfahren, daß da all dieſe alten Dekorationen, ein Vorhang und ſogar Koſtuͤme noch irgendwo aufbewahrt wer— den. Der Fuͤrſt war heute bei mir; aber ich war von ſeiner An— kunft ſo uͤberraſcht, daß ich ganz vergeſſen habe, von dieſen Dingen mit ihm zu reden. Jetzt wollen wir die Rede abſichtlich auf das Theater bringen; Sie werden uns dabei helfen, und der Fuͤrſt wird Befehl geben, uns dieſen ganzen alten Kram her— zuſchicken. Bei wem koͤnnte man denn auch hier ſo etwas wie eine Dekoration machen laſſen? Die Hauptſache iſt aber: wir wollen auch den Fuͤrſten ſelbſt fuͤr unſere Theatervorſtellung intereſſieren. Er muß unbedingt ſubſkribieren; es iſt ja zum Beſten der Armen. Vielleicht uͤbernimmt er ſogar eine Rolle; er iſt ja ſo liebenswuͤrdig und mit allem einverſtanden. Dann wird ſich alles wunderſchoͤn machen!“ | |
„Gewiß wird er eine Rolle übernehmen. Man kann ihn ja jede beliebige Rolle ſpielen laſſen,“ fügte Natalja Dmitrijewna mehrdeutig hinzu.
Zwoͤlftes Kapitel 217
Anna Nikolajewna hatte zu Marja Alexandrowna nicht die Unwahrheit geſagt: alle Augenblicke kamen noch mehr Damen angefahren. Marja Alexandrowna fand kaum Zeit, ſie zu be— gruͤßen und diejenigen Ausrufe zu tun, die in ſolchen Fällen von dem Anſtande und dem feinen Tone verlangt werden.
Ich unternehme es nicht, alle Beſucherinnen zu ſchildern. Ich ſage nur, daß in dem Blicke einer jeden eine ganz beſondere Tuͤcke lag. Allen ſtand eine ſtarke Spannung und eine lebhafte Un— geduld auf dem Geſichte geſchrieben. Einige der Damen waren mit der entſchiedenen Abſicht gekommen, Zeuginnen eines un— gewoͤhnlichen Skandals zu werden, und wuͤrden ſich ſehr ge— ärgert haben, wenn fie hätten wieder auseinandergehen muͤſſen, ohne einen ſolchen mitangeſehen zu haben. Außerlich benahmen ſich alle aͤußerſt liebenswuͤrdig; aber Marja Alexandrowna Ве: reitete ſich feſten Mutes darauf vor, von ihnen angegriffen zu werden. Sie wurde mit Fragen nach dem Fuͤrſten uͤberſchuͤttet, die durchaus harmlos zu ſein ſchienen; aber doch ſteckte in einer jeden eine Andeutung, ein geheimer Nebenſinn. Es wurde Tee gebracht, und alle nahmen Platz. Eine Gruppe okkupierte den Fluͤgel. Sinaida antwortete auf die Aufforderung zu ſpielen und zu ſingen in trockenem Tone, ſie fuͤhle ſich nicht ganz wohl. Die Blaͤſſe ihres Geſichtes beſtaͤtigte das. Sogleich regnete es bedauernde Fragen, und ſogar dabei fand ſich die Moͤglichkeit, ſich nach dieſem und jenem zu erkundigen und Anſpielungen zu machen. Manche fragten auch nach Moſgljakow und wandten ſich mit dieſen Fragen ſpeziell an Sinaida. Marja Alexandrowna verzehnfachte ſich in dieſer kritiſchen Zeit; ſie ſah alles, was in jeder Ecke des Zimmers vorging, hoͤrte, was jede der Beſuche— rinnen ſagte, obgleich ihrer etwa zehn waren, und antwortete ſofort auf alle Fragen, wobei ſie ſelbſtverſtaͤndlich bewies, daß
218 Onkelchens Traum 3
fie nicht auf den Mund gefallen war. Sie aͤngſtigte ſich um Sinaida und wunderte ſich daruͤber, daß dieſe nicht hinausging, wie ſie es bisher immer bei ſo zahlreichem Beſuche getan hatte. Auch Afanaſi Matwjejewitſch erregte die Aufmerkſamkeit der Damen. Sie pflegten ſich ſonſt immer alle uͤber ihn luſtig zu machen, um Marja Alexandrowna durch den Spott uͤber ihren Gatten zu kraͤnken. Jetzt aber hielten ſie es fuͤr moͤglich, von dem beſchraͤnkten und offenherzigen Afanaſi Matwjejewitſch einiges in Erfahrung zu bringen. Marja Alexandrowna beobachtete mit Unruhe, wie ihr Gatte von den Damen umlagert wurde. Zu— dem gab er auf alle Fragen ſein „Hm“ mit einer ſo ungluͤcklichen, gezwungenen Miene zur Antwort, daß ſie allen Grund hatte, wuͤtend zu werden.
„Marja Alexandrowna! Afanaſi Matwjejewitſch will uͤber— haupt nicht mit uns reden!“ rief ein keckes Daͤmchen mit ſcharfen Augen, das ſich entſchieden vor niemand fuͤrchtete und nie ver: legen wurde. „Befehlen Sie ihm doch, gegen Damen hoͤflicher zu ſein!“
„Ich weiß wirklich ſelbſt nicht, was mit ihm heute iſt,“ апё wortete Marja Alexandrowna heiter laͤchelnd, indem fie ihr Ge: ſpraͤch mit Anna Nikolajewna und Natalja Dmitrijewna unter⸗ brach; „er iſt ſo wortkarg! Auch mit mir hat er kaum ein Wort geredet. Warum antworteſt du denn Feliſata Michailowna nicht, Athanase? Wonach haben Sie ihn denn gefragt?“ f
„Aber . .. aber... Muͤtterchen, du Бай doch ſelbſt ...“ murmelte Afanaſi Matwjejewitſch ganz erſtaunt und verwirrt. Er ſtand in dieſem Augenblicke gerade an dem geheizten Kamin, 5 hatte die eine Hand in einer maleriſchen Poſe, die er ſich ſelbſt erſonnen hatte, in die Weſte geſteckt und hielt in der andern die Teetaſſe. Die Fragen der Damen hatten ihn ſo verlegen ge— A
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Zwoͤlftes Kapitel 219
macht, daß er rot geworden war wie ein junges Maͤdchen. Als er ſeine Rechtfertigung begann, begegnete er einem ſo furcht— baren Blicke ſeiner erzuͤrnten Gattin, daß er vor Schreck beinahe das Bewußtſein verlor. Da er nicht wußte, was er tun ſollte, ſich aber zunaͤchſt einigermaßen zu erholen und ſich dann in der Achtung zu reſtituieren wuͤnſchte, ſo wollte er ſeinen Tee ſchluͤr— fen, aber der Tee war ſehr heiß. Weil er den Schluck nicht richtig bemeſſen hatte, verbrannte er ſich furchtbar, ließ die Taſſe fallen, verſchluckte ſich und huſtete ſo heftig, daß er ſich genoͤtigt ſah, das Zimmer auf eine Weile zu verlaſſen, was bei allen Anweſenden Erſtaunen hervorrief. Kurz, fuͤr Marja Alexandrowna war alles klar: ſie merkte, daß ihre Gaͤſte ſchon alles wußten und mit den | ſchlimmſten Abſichten bei ihr zufammengelommen waren. Die Lage war gefaͤhrlich. Sie konnten den geiſtesſchwachen alten Fuͤrſten in ſeinem Vorhaben, Sinaida zu heiraten, irre machen, ihm in ihrer eigenen Gegenwart davon abraten. Sie konnten ihn ſogar noch an dieſem ſelben Abend mit ihr veruneinigen, ihn ihr abs 5 ſpenſtig machen und mit ſich fortlocken. Es war von ihnen alles zu erwarten. Aber das Schickſal hielt fuͤr ſie noch eine andere Prüfung bereit: die Tür öffnete ſich, und es erſchien Moſgljakow, den ſie bei Borodujew glaubte, und den ſie an dieſem Abend j abſolut nicht erwartete bei ſich zu ſehen. Sie fuhr zufammen, wie wenn ihr jemand einen Stich verſetzt haͤtte.
Moſgljakow blieb in der Tür ſtehen und ließ, etwas verlegen, feinen Blick bei allen Anweſenden herumgehen. Er war nicht imſtande, ſeine Aufregung zu unterdruͤcken, die ſich deutlich auf ſeinem Geſichte auspraͤgte.
„Ach, mein Gott! Pawel Alexandrowitſch!“ riefen mehrere Damen. „Ach, mein Gott! Da iſt ja Pawel Alexandrowitſch! Und Sie
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ſagten doch, Marja Alexandrowna, er Indy zu асы ge: gangen? Es wurde uns gefagt, Sie hätten ſich bei Borodujew verſteckt, Pawel Alexandrowitſch!“ ſagte Natalja Dmitrijewna mit ihrer piepigen Stimme.
„Verſteckt?“ erwiderte Moſgljakow mit einem ſchiefen Lächeln. „Ein ſonderbarer Ausdruck! Entſchuldigen Sie, Natalja Dmitrijewna! Ich verberge mich vor niemand und be— abſichtige niemand zu verbergen,“ fügte er mit einem bebeut= ſamen Blick auf Marja Alexandrowna hinzu.
Marja Alexandrowna begann plotzlich zu zittern.
„Wie? Sollte auch dieſer Toͤlpel rebelliſch werden?“ dachte ſie und ſah ee forſchend an. „Das waͤre das Schlimmſte von allem. |
„Iſt das wäh, Pawel Alexandrowitſch, daß Sie den Abſchied bekommen haben .. . ich meine natürlich im Dienſte?“ erlaubte ſich die dreiſte Feliſata Michailowna zu fragen und ſah ihm ſpoͤttiſch gerade ins Geſicht.
„Den Abſchied? Wieſo den Abſchied? Ich laſſe mich einfach verſetzen. Ich bekomme eine Stelle in Petersburg,“ antwortete Moſgljakow trocken.
„Nun, dann wuͤnſche ich Ihnen Gluͤck,“ fuhr Feliſata Michai— lowna fort. „Und wir bekamen ſchon einen Schreck, als wir hörten, daß Sie es auf eine Stelle bei uns hier in Mordaſow abgeſehen haͤtten. Hier bieten die Stellen keine Sicherheit, Pawel Alexandrowitſch; man wird im Handumdrehen abge— halftert.“
„Hoͤchſtens noch die Lehrerſtellen an der Kreisſchule; da iſt es noch moͤglich, eine Vakanz zu finden,“ bemerkte Natalja Dmitrijewna.
Die Anſpielung war ſo plump und deutlich, daß Anna Nitolar
Zwoͤlftes Kapitel 221
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jewna verlegen wurde und ihre he Freundin heimlich mit dem Fuße ſtieß.
„Glauben Sie wirklich, daß Pawel Alexandrowitſch ſich dazu entſchließen wuͤrde, eine Lehrerſtelle anzunehmen?“ warf Feli— ſata Michailowna dazwiſchen.
Aber Pawel Alexandrowitſch fand darauf keine rechte Ant— wort. Er drehte ſich um und ſtieß auf Afanaſi Matwjejewitſch, der ihm die Hand entgegenſtreckte. Moſgljakow aber nahm hoͤchſt dummerweiſe dieſe Hand nicht, ſondern machte ihm ſpoͤttiſch eine tiefe Verbeugung. Im hoͤchſten Grade gereizt ging er geradeswegs zu Sinaida hin und fluͤſterte, indem er ihr wuͤtend ins Geſicht ſah:
„Das alles habe eich Ihnen zu verdanken. Warten Sie, ich werde Ihnen noch heute abend zeigen, ob ich ein Dummkopf bin oder nicht.“
„Wozu wollen Sie das aufſchieben? Das ſieht man ja auch jetzt,“ antwortete Sinaida laut und maß voller Widerwillen ihren fruͤheren Bewerber mit den Augen.
Erſchrocken darüber, daß fie jo laut geſprochen hatte, wandte ſich Moſgljakow eilig von ihr ab.
„Kommen Sie von Borodujew?“ еп ов ſich Marja Alexan— drowna endlich zu fragen.
„Nein, ich komme von meinem Onkel.“
„Von Ihrem Onkel? Alſo ſind Sie jetzt beim Fuͤrſten ge— weſen?“
„Ach, mein Gott! Alſo iſt der Fuͤrſt chen aufgewacht? Und uns wurde geſagt, er ſchliefe noch!“ fuͤgte Natalja Dmitrijewna mit einem boshaften Blick auf Marja Alexandrowna hinzu.
„Beunruhigen Sie ſich nicht wegen des Fuͤrſten, Natalja Dmitrijewna!“ antwortete Moſgljakow; „er iſt aufgewacht und
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222 a Onkelchens Traum
Gott ſei Dank jetzt wieder bei vollem Verſtande. Vorher war er betrunken gemacht worden, zuerſt bei Ihnen und dann hier vollends, ſo daß er ganz den Gebrauch der Denkkraft verloren hatte, die bei ihm ſowieſo nicht die ſtaͤrkſte iſt. Aber jetzt haben wir, Gott ſei Dank, uns miteinander ausgeſprochen, und er hat wieder angefangen vernünftig zu denken. Er wird fogleich Бет: kommen, um ſich von Ihnen, Marja Alexandrowna, zu verab— ſchieden und Ihnen fuͤr all Ihre Gaſtfreundſchaft zu danken. Morgen aber werden wir bei Tagesanbruch zuſammen nach dem Kloſter fahren, und ich werde ihn dann unfehlbar ſelbſt nach Duchanowo begleiten, um ein nochmaliges Umwerfen mit dem Schlitten, wie es ſich heute ereignet hat, zu verhuͤten; dort aber wird ihn aus meinen Händen Stepanida Matwjejewna in Emp= fang nehmen, die dann gewiß ſchon aus Moskau zuruͤckgekehrt ſein wird und ihn kuͤnftig um keinen Preis noch einmal wird wegreiſen laſſen — dafuͤr uͤbernehme ich jede Garantie.“
Waͤhrend Moſgljakow das ſagte, blickte er Marja Alexandrowna grimmig an. Dieſe ſaß da, als ob ſie vor Überraſchung die Sprache verloren haͤtte. Mit Betruͤbnis geſtehe ich, daß meine Heldin, vielleicht zum erſtenmal in ihrem Leben, es mit der Angſt bekam.
„Alſo morgen bei Tagesanbruch wird er wegfahren? Wie geht das zu?“ fragte Natalja Dmitrijewna, ſich an Marja Alexandrowna wendend.
„Wie geht das zu?“ wurde unter den Beſucherinnen in naivem Tone gefragt. „Und wir hatten gehört, daß... Nein, das iſt doch wirklich ſonderbar!“ ^
Aber die Hausfrau wußte nicht mehr, was fie antworten ſollte. Auf einmal wurde die allgemeine Aufmerkſamkeit in einer hoͤchſt ungewoͤhnlichen, exzentriſchen Weiſe hiervon ab⸗
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Zwoͤlftes Kapitel 223
gelenkt. Aus dem anſtoßenden Zimmer wurde ein auffallender
Laͤrm und eine ſcharfe, laute Stimme vernehmbar, und ploͤtz—
lich kam völlig unerwartet Sofja Petrowna Karpuchina in
Marja Alexandrownas Salon hereingeſtuͤrzt. Sofja Petrowna
war unſtreitig die exzentriſchſte Dame in ganz Mordaſow, ſo ex— zentriſch, daß ſogar unlaͤngſt in Mordaſow der Beſchluß gefaßt worden war, ſie in Geſellſchaft nicht mehr zu empfangen. Ich muß noch bemerken, daß ſie regelmaͤßig jeden Abend Punkt ſieben Uhr etwas Likoͤr genoß (um des Magens willen, wie fie ſagte) und ſich nachher jedesmal in einem hoͤchſt emanzipierten Geiſteszuſtande befand, um keinen ſtaͤrkeren Ausdruck zu ge— brauchen. Gerade jetzt, wo fie fo unerwartet zu Marja Alexan— drowna hereingeſtuͤrzt kam, befand ſie ſich wieder in dieſem Geiſteszuſtande.
„Ah, alſo ſo machen Sie es, Marja Alexandrowna,“ ſchrie ſie ſo laut, daß es alle im Zimmer Anweſenden hörten, „alſo fo be— 5 handeln Sie mich! Laſſen Sie ſich nicht ſtoͤren; ich bin nur auf
ein Augenblickchen herangekommen; ich werde mich bei Ihnen nicht hinſetzen. Ich bin expreß hergefahren, um zu hoͤren, ob das wahr iſt, was man mir geſagt hat. Ah! alſo bei Ihnen finden Baͤlle, Bankette und Verlobungsfeiern ſtatt; aber Sofja 5 Petrowna kann bei ſich zu Hauſe ſitzen und Struͤmpfe ſtricken! Die ganze Stadt haben Sie eingeladen, aber mich nicht! Und vorhin, als ich hergekommen war, um Ihnen zu erzaͤhlen, was Natalja Dmitrijewna bei ſich zu Haufe mit dem Fürften ап: ſtellte, da nannten Sie mich Ihre liebe Freundin und mon ange. Und jetzt ſitzt dieſe ſelbe Natalja Dmitrijewna, auf die Sie vorhin mit den ſtaͤrkſten Ausdruͤcken geſchimpft haben, und die ſelbſt auf Sie geſchimpft hat, die ſitzt jetzt bei Ihnen als Gaſt. Beunruhigen Sie ſich nicht, Natalja Dmitrijewna! Ich brauche
224 Onkelchens Traum
Ihre Schokolade à la santé nicht, die Tafel zu zehn Kopeken. i Ich trinke bei mir zu Haufe öfter als Sie welche!“ ö „Auch anderes; das ſieht man!“ bemerkte Natalja Dmitri—
jewna.
„Aber, ich bitte Sie, Sofja Petrowna,“ rief Marja Alexan— drowna, die vor Arger ganz rot geworden war, „was iſt denn mit Ihnen? So kommen Sie doch zur Beſinnung!“
„Beunruhigen Sie ſich nicht um mich, Marja Alexandrowna; ich weiß alles, alles; ich habe alles erfahren!“ ſchrie Sofja Petrowna mit ihrer ſcharfen, kreiſchenden Stimme, umringt von allen Beſucherinnen, die ſich, wie es ſchien, an dieſer un— erwarteten Szene hoͤchlichſt ergoͤtzten. „Ich habe alles erfahren! Ihre Naſtaſja iſt zu mir gelaufen gekommen und hat mir alles erzaͤhlt. Sie haben dieſen Fuͤrſten geangelt, ihn betrunken ge— macht und ihn dazu veranlaßt, Ihrer Tochter einen Heirats— antrag zu machen, die ſchon kein Mann mehr heiraten mag; und nun hoffen Sie auch ſelbſt ein großes Tier zu werden, eine Herzogin in einem Spitzenkleide, pfui Teufel! Beunruhigen Sie ſich nicht; ich bin ſelbſt eine Frau Oberſt! Wenn Sie mich nicht zu der Verlobungsfeier eingeladen haben, ſo ſpucke ich darauf! Ich habe mit feineren Leuten verkehrt, als Sie ſind. Ich habe bei der Graͤfin Salichwatſkaja diniert, und der Oberkommiſſar Kurotſchkin hat ſich um meine Hand be— worben! Da habe ich wohl Ihre Einladung ſehr nötig; pfui Teufel!“
„Hören Sie, Sofja Petrowna,“ antwortete Marja Alexan-⸗ drowna, die ganz außer ſich war; „ich muß Sie darauf aufmerk— ſam machen, daß man nicht in dieſer Weiſe in ein anſtaͤndiges Haus eindringt, und noch dazu in ſolchem Zuſtande, und daß, wenn Sie mich nicht ſofort von Ihrer Gegenwart und von
Zwoͤlftes Kapitel 225
Ihrem Wortſchwall befreien, ich unverzuͤglich meine Maßregeln ergreifen werde.“
„Ich weiß, Sie werden Ihren Domeſtiken Befehl geben, mich hinauszufuͤhren! Seien Sie unbeſorgt, ich werde den Weg auch
allein finden. Leben Sie wohl; bringen Sie unter die Haube,
wen Sie wollen; Sie aber, Natalja Dmitrijewna, brauchen nicht uͤber mich zu lachen; ich ſpucke auf Ihre Schokolade! Wenn ich hier auch nicht eingeladen worden bin, ſo habe ich doch auch vor keinem Fuͤrſten den Koſakentanz getanzt. Und Sie, Anna Nikolajewna, warum lachen Sie? Suſchilow hat ſich das Bein gebrochen; jetzt eben hat man ihn nach Hauſe gebracht! Und
wenn Sie, Feliſata Michailowna, Ihrer barfuͤßigen Matroſchka
nicht befehlen, Ihre Kuh rechtzeitig hereinzulaſſen, damit ſie nicht jeden Tag vor meinen Fenſtern bruͤllt, ſo werde ich Ihrer Matroſchka die Beine entzweiſchlagen. Leben Sie wohl, Marja
Alexandrowna; laſſen Sie es ſich gut gehen! Pfui Teufel!“
Sofja Petrowna verſchwand. Die Damen lachten. Marja Alexandrowna war aͤußerſt verlegen.
„Ich glaube, ſie hatte getrunken,“ aͤußerte Natalja Dmitri— jewna in ſuͤßem Tone.
„Aber trotzdem, welche Dreiſtigkeit!“
„Quelle abominable femme!“
„Na, Sie hat uns wieder einmal zum Lachen gebracht!“
„Ach, was fuͤr unpaſſende Dinge ſie geredet hat!“
„Aber was hat ſie da von einer Verlobungsfeier geſagt? Was iſt das fuͤr eine Verlobungsfeier?“ fragte Feliſata Michailowna ſpoͤttiſch.
„Aber das iſt ja entſetzlich!“ brach endlich Marja Alexandrowna los. „Dieſe Ungeheuer ſind es, die mit vollen Haͤnden die ab— ſurdeſten Gerüchte ausſaͤen! Das Erftaunliche, Feliſata Michai— LXXV. 15
ВАЗА К, Го.
226 Onkelchens Traum
lowna, iſt nicht, daß ſich ſolche Damen in unſerer Geſellſchaft be⸗ finden; nein, das Allererſtaunlichſte iſt, daß man die Dienſte dieſer Damen annimmt, ſie anhoͤrt, ſie unterſtuͤtzt, ihnen glaubt, 3 era. „Der Fuͤrſt, der Fuͤrſt!“ riefen auf einmal alle Beſucherinnen. „Ach, mein Gott! Ce cher prince!“ | „Na, Gott ſei Dank! Jetzt werden wir das ganze Geheimnis | erfahren!“ flüfterte Feliſata Michailowna ihrer Nachbarin zu.
Dreizehntes Kapitel
Der Fuͤrſt trat ein und laͤchelte anmutig. Die ganze Unruhe, in die Moſgljakow eine Viertelſtunde vorher fein Haſenherz ver: у ſetzt hatte, verſchwand beim Anblicke der Damen. Er zerſchmolz gewiſſermaßen ſogleich wie ein Stüdchen Konfekt. Die Damen begruͤßten ihn mit hellem Freudengeſchrei. Überhaupt muß man ſagen, daß die Damen unſern alten Herrn immer ſehr freundlich behandelten und ſich gegen ihn außerordentlich familiaͤr benahmen. Er beſaß die Eigenſchaft, ihnen durch ſeine Perſon unglaublich viel Vergnuͤgen zu bereiten. Feliſata Michailowna hatte ſogar am Vormittag beteuert (natuͤrlich nicht im Ernſt), ſie ſei bereit, ſich auf ſeine Knie zu ſetzen, wenn ihm das angenehm waͤre; denn er ſei ein gar zu lieber, lieber alter Herr, unendlich lieb und nett! Marja Alexandrowna heftete ihre Augen feſt auf ihn; ſie wuͤnſchte, wenigſtens etwas auf ſeinem Geſichte zu leſen, um daraus ſchließen zu koͤnnen, welchen Aus: gang ihre kritiſche Lage haben werde. Soviel war klar, daß Moſgljakow etwas Schlimmes angerichtet hatte, und daß ihr ganzes Unternehmen ſtark ins Wanken gekommen war. Aber auf dem Geſichte des Fuͤrſten war nichts zu leſen. Er war eben wie vorher, ebenſo wie immer.
Dreizehntes Kapitel 227
„Ach, mein Gott! Da iſt ja der Fuͤrſt! Wir haben ſchon jo auf Sie gewartet!“ riefen mehrere Damen.
„Mit ſolcher Ungeduld, Fuͤrſt, mit ſolcher Ungeduld!“ zwitſcher⸗ ten andere.
„Das iſt mir außerordentlich ſchmei-chel-haft,“ liſpelte der Fuͤrſt und ſetzte ſich an den Tiſch, auf dem der Samowar ſiedete. Die Damen umringten ihn ſogleich. Bei Marja Alexandrowna blieben nur Anna Nikolajewna und Natalja Dmitrijewna zuruͤck. Afanaſi Matwjejewitſch lächelte reſpektvoll. Moſgljakow lächelte ebenfalls und blickte Sinaida mit herausfordernder Miene an; dieſe aber wandte ihm nicht die geringſte Aufmerkſamkeit zu, ſondern ging zu ihrem Vater und ſetzte ſich neben ihm auf einen Lehnſeſſel am Kamin.
„Ach, Fuͤrſt, iſt es wahr, was da geſagt wird, daß Sie von uns wegfahren wollen?“ zirpte Feliſata Michailowna.
„Nun ja, mesdames, ich will wegfahren. Ich will un-ver⸗ zuͤg⸗lich ins Ausland fahren.“
„Ins Ausland, Fuͤrſt, ins Ausland!“ riefen alle im Chor. „Wie ſind Sie nur auf dieſen Einfall gekommen?“
„Nun ja, ins Ausland,“ erwiderte der Fuͤrſt mit einem ge— wiſſen Stolze. „Und wiſſen Sie, ich will beſonders wegen der neuen IJ⸗dee⸗en hinfahren.“
„Wieſo wegen der neuen Ideen? Was ſind das fuͤr neue Ideen?“ ſagten die Damen und ſahen ſich untereinander an.
„Nun ja, wegen der neuen Ideen,“ wiederholte der Fuͤrſt im Tone groͤßter Sicherheit. „Alle fahren jetzt wegen der neuen I⸗dee⸗en hin. Sehen Sie, da möchte ich mir auch neu-e I⸗dee⸗en zulegen.“
„Sie wollen doch nicht etwa in eine Freimaurerloge ein— treten, liebſtes Onkelchen?“ warf Moſgljakow dazwiſchen, der
298 Onkelchens Traum
augenſcheinlich vor den Damen mit feinem Eſprit und mit feiner —
Ungeniertheit paradieren wollte. „Nun ja, mein Freund, du haſt dich nicht geirrt,“ antwortete
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der Onkel zur allgemeinen Überraſchung. „Ich habe tat-ſaͤch-lich
vor vielen Jahren im Auslande einer Freimaurerloge an-ge—
hört und hatte ſogar perſoͤnlich ſehr viele hochherzige Ideen. Ich hatte damals ſogar vor, vieles für die mo-der-ne Auf-klaͤ rung zu tun, und war in Frankfurt ſchon ganz entſchloſſen, meinen Sidor, den ich ins Ausland mitgenommen hatte, frei-zu⸗
Та еп. Aber zu meiner Verwunderung lief er von ſelbſt von
mir fort. Er war ein hoͤchſt ſon-der-ba-rer Menſch. Spaͤter
begegnete ich ihm einmal in Pa-ris; er ſah wie ein Stutzer aus, trug einen Backenbart und ging mit einer Mamſell auf dem Boulevard. Er ſah mich an und nickte mir mit dem Kopfe zu. Und die Mamſell, die er bei ſich hatte, war ſo ein
keckes Ding, mit munteren Augen, ein versfühsresrifches Per:
ſoͤnchen ...“
„Na, Onkelchen! Da werden Sie wohl, wenn Sie diesmal
ins Ausland reifen, alle Ihre Bauern freilaſſen!“ rief Moſglja-
kow und lachte aus vollem Halſe.
„Du haft meine Abſicht vollkommen er-ra-ten, mein Lieber,“ antwortete der Fuͤrſt, ohne ſich bedenken. „Eben das habe ich vor, ſie alle freizulaſſen.“
„Aber ich bitte Sie, Fuͤrſt, die werden ja dann alle ſofort von Ihnen weglaufen, und wer wird Ihnen dann den Pachtzins
bezahlen?“ rief Feliſata Michailorona
„Gewiß, ſie werden alle auseinanderlaufen,“ ſtimmte Anna Nikolajewna ihr aufgeregt bei.
„Ach, mein Gott! Werden ſie denn wirklich weg-lau— fen e rief der Fuͤrſt erſtaunt.
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Dreizehntes Kapitel 229
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„Sie werden weglaufen; ſofort werden ſie alle weglaufen und Sie allein laſſen,“ verſicherte Natalja Dmitrijewna.
„Ach, mein Gott! Nun, dann werde ich fie nicht freislaf-fen. Übrigens war das nur fo ein Gedanke von mir.“
„Das iſt auch das beſte, Onkelchen!“ bekraͤftigte Mofgl- jakow.
Bis dahin hatte Marja Alexandrowna ſchweigend zugehoͤrt und beobachtet. Es ſchien ihr, daß der Fuͤrſt ſie vollſtaͤndig ver— geſſen habe, und daß das ſehr auffallend ſei.
„Geſtatten Sie, Fuͤrſt,“ begann ſie laut und wuͤrdevoll, „daß ich Ihnen meinen Mann, Afanaſi Matwjejewitſch, vorſtelle. Er ЦЕ erpreß vom Gute hergefahren, ſobald er hörte, daß Sie in meinem Hauſe abgeſtiegen ſeien.“
Afanaſi Matwjejewitſch laͤchelte und nahm eine wichtige Miene an. Er hatte die Vorſtellung, daß er gelobt worden ſei.
„Ach, ich freue mich ſehr,“ ſagte der Fuͤrſt. „A-fa-naſi Matwjejewitſch! Erlauben Sie, da kommt mir eine Er-in-ne⸗ rung. A⸗fa⸗naſi Mat⸗wje⸗jewitſch. Nun ja, das iſt der, der auf dem Gute wohnt. Charmant, charmant; ich freue mich ſehr. Mein Freund,“ rief der Fuͤrſt, ſich zu Moſgljakow wendend, „das iſt ja ebenderſelbe, du erinnerſt dich wohl, der vorhin in dem Verſe vor⸗kam. Wie war es doch nur? ‚ЭЙ aus der Tuͤr der Eheherr, So fährt die Frau ſogleich nach ... nun ja, die Frau fuhr ebenfalls nach ir-gend-ei⸗ner Stadt.“
„Ach, Fuͤrſt, ganz richtig: ‚„Iſt aus der Tuͤr der Eheherr, So fährt die Frau ſogleich nach Twer; ' das iſt ja aus dem Vaudeville, das die Schauſpieler bei uns im vorigen Jahre geſpielt haben,“ fiel Feliſata Michailowna ein. |
„Nun ja, richtig: nach Twer; ich ver-geſ⸗ſe es immer. Char- mant, charmant! Alſo eben der ſind Sie? Ich freue mich
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außerordentlich, Ihre Be-kannt-ſchaſt zu machen,“ ſagte der Fuͤrſt und ftredte, ohne vom Lehnſtuhl aufzuftehen, dem lächeln den Afanaſi Matwjejewitſch die Hand hin. „Nun, wie ſteht es mit Ihrer Geſundheit?“ n 4 „Er ift geſund, Fuͤrſt, ganz geſund,“ antwortete Marja Alex androwna eilig. | 1 „Nun ja, das ſieht man auch, daß er ge-ſund ift. Und Sie wohnen immer auf dem Gute? Nun, ich freue mich ſehr. Aber wie rot⸗bak⸗kig er ausfieht, und immer lacht er ...“ Afanaſi Matwjejewitſch hatte fortwaͤhrend geläͤchelt, ſich ver- beugt und ſogar Scharrfuͤße gemacht. Aber bei der legten Be: merkung des Fuͤrſten konnte er ſich nicht halten und pruſtete auf einmal ohne rechten Anlaß in der duͤmmſten Weiſe vor Lachen los. Alle lachten. Die Damen kreiſchten vor Vergnuͤgen. Sinaida wurde dunkelrot und ſah mit funkelnden Augen ihre Mutter an, die ihrerſeits vor Arger beinah platzte. Es war Zeit, das Geſpraͤchsthema zu wechſeln. F „Wie haben Sie geſchlafen, Fuͤrſt?“ fragte fie mit honigſuͤßer ö Stimme und gab gleichzeitig durch einen drohenden Blick ihrem 3 Manne zu verſtehen, daß er fich ſofort an feinen Platz zu ſcheren habe. | 2 „Ach, ich habe ſehr gut geſchlafen,“ erwiderte der Fuͤrſt; „und wiſſen Sie, ich habe einen entzuͤk-kenden Traum gehabt, einen ent⸗zuͤk⸗ken⸗Den Traum!“ 3 „Einen Traum! Ich hoͤre ſchrecklich gern Träume erzählen!" " rief Feliſata Michailowna. | „Ich auch, ich höre es auch ſehr gern!“ fügte Natalja Dmitri⸗ iewna hinzu. Е „Einen ent-zuͤk⸗ken-den Traum!“ wiederholte der Fürft mit
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Dreizehntes Kapitel 231
einem ſeligen Lächeln. „Aber dafür ift dieſer Traum auch das tiefſte Geheimnis!“
„Wie, Fuͤrſt? Laͤßt er ſich wirklich nicht erzählen? Das ift де: wiß ein ganz wunderbarer Traum?“ bemerkte Anna Nikola— jewna.
„Das tief⸗ſte Ge⸗heim-nis,“ wiederholte der Fuͤrſt, dem es
ein Genuß war, die Neugier der Damen zu reizen.
„Dann iſt es gewiß furchtbar intereſſant!“ riefen die Damen.
„Ich moͤchte darauf wetten, daß der Fuͤrſt im Traum vor irgendeiner ſchoͤnen weiblichen Perſon auf den Knien gelegen und ihr eine Liebeserklaͤrung gemacht hat!“ rief Feliſata Michailowna. „Nun, geſtehen Sie nur, Fuͤrſt, daß es ſo iſt!
Liebſter Fuͤrſt, geſtehen Sie es!“
„Geſtehen Sie es, Fuͤrſt, geſtehen Sie es!“ wurde von allen Seiten gerufen.
Der Fuͤrſt hoͤrte dieſes ganze Geſchrei mit einem wonnevollen Gefühle des Triumphes. Die Vermutung der Damen ſchmei- chelte ſeiner Eitelkeit außerordentlich, ſo daß er ſich beinah die Lippen leckte.
„Obgleich ich geſagt habe, daß mein Traum des tiefſte Ge— heimnis iſt,“ antwortete er endlich, „ſo ſehe ich mich doch ge— noͤtigt einzugeſtehen, daß Sie, gnaͤdige Frau, ihn zu meinem Erſtaunen faſt vollsftändig er-raten haben.“
„Ich habe es erraten!“ rief Feliſata Michailowna ganz ent— züdt. „Nun, Fuͤrſt! Jetzt mögen Sie machen, was Sie wollen,
aber Sie muͤſſen es uns entdecken, wer dieſe Ihre ſchoͤne weib— liche Perſon iſt!“
„Das muͤſſen Sie uns unbedingt entdecken!“
„Iſt es eine Hieſige oder eine Auswaͤrtige?“
„Liebſter Fuͤrſt, entdecken Sie es uns!“
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232 Onkelchens Traum
„Liebes Seelchen, beſter Fuͤrſt, entdecken Sie es uns! Und
wenn es Ihnen das Leben koſtet, aber entdecken Sie es uns!“
rief man von allen Seiten. „Mesdames, шездалиез!.., Wenn Sie denn fo hart⸗naͤk⸗kig
darauf beſtehen, es zu erfahren, fo kann ich Ihnen nur eines ent⸗
decken: daß es das ent-zuͤk-kendſte und, ich kann wohl fagen,
ma⸗kel⸗lo⸗ſeſte junge Mädchen iſt, das ich kenne,“ ſagte, vor
Seligkeit faſt vergehend, der Fuͤrſt unter Kaubewegungen. „Das entzuͤckendſte junge Mädchen! Und... eine Hieſige!
Wer koͤnnte das ſein?“ fragten die Damen, indem ſie einander
bedeutſam anſahen und ſich wechſelſeitig zublinzelten. „Selbſtverſtaͤndlich wird es diejenige ſein, die hier fuͤr die
erſte Schoͤnheit gilt,“ ſagte Natalja Dmitrijewna; ſie rieb ihre
großen, roten Haͤnde und blickte mit ihren Katzenaugen nach
Sinaida hin. Mit ihr gleichzeitig richteten auch alle andern ihre
Blicke auf Sinaida.
„Aber wenn Sie ſo etwas traͤumen, Fuͤrſt, warum ſollten
Sie dann nicht auch in Wirklichkeit heiraten?“ fragte Feliſata Michailowna und ließ einen bedeutſamen Blick bei allen herum— gehen.
„Und eine wie gute Braut wir Ihnen verſchaffen wuͤrden!“
fiel eine andere Dame ein.
„Liebſter Fuͤrſt, heiraten Sie doch!“ winſelte eine dritte.
„Heiraten Sie doch, heiraten Sie doch!“ ertönte es von über: all her. „Warum ſollten Sie nicht heiraten?“
„Nun ja... warum ſollte ich nicht heiraten?“ ſtimmte ihnen der Fuͤrſt bei, der durch all dieſes Geſchrei ganz wirr geworden war.
„Onkelchen!“ rief Moſgljakow.
„Nun ja, mein Freund, ich ver-ſte-he dich! Ich wollte Ihnen
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Dreizehntes Kapitel 233
eigentlich jagen, mesdames, daß ich nicht mehr imſtande bin zu heiraten und, nachdem ich einen entzuͤckenden Abend bei unſerer liebenswuͤrdigen Wirtin werde verlebt haben, mich gleich morgen zu dem Moͤnchprieſter Miſail in das Kloſter begeben und dann geradeswegs ins Ausland reifen werde, um dort die eu-xro— paͤiſche Aufklaͤrung bequemer verfolgen zu koͤnnen.“
Sinaida wurde blaß und ſah mit einem unausſprechlichen Ausdrucke von Leid ihre Mutter an. Aber Marja Alexandrowna hatte bereits ihren Entſchluß gefaßt. Bis dahin hatte ſie nur abgewartet und ſondiert, obwohl ſie merkte, daß die Sache arg verdorben war, und daß ihre Feinde ihr einen großen Vor— ſprung abgewonnen hatten. Jetzt endlich begriff ſie alles und beſchloß, auf einmal, mit einem Schlage, die hundertkoͤpfige Hydra zu vernichten. Wuͤrdevoll erhob ſie ſich von ihrem Lehn— ſeſſel, naͤherte ſich feſten Schrittes dem Tiſche und maß mit einem ſtolzen Blicke ihre zwerghaften Feinde. In dieſem Blicke leuchtete das Feuer einer hoͤheren Eingebung. Sie hatte ſich vorgenommen, alle dieſe boshaften Klatſchbaſen in Erſtaunen zu verſetzen und aus der Faſſung zu bringen, den nichtswuͤrdigen Moſgljakow wie eine Schabe zu zerquetſchen und durch einen einzigen entſchloſſenen, kuͤhnen Schlag ihren ganzen verlorenen Einfluß auf den idiotiſchen Fuͤrſten wieder zuruͤckzuerobern. Selbſtverſtaͤndlich war dazu eine außerordentliche Dreiſtigkeit erforderlich; aber dieſe Eigenſchaft beſaß Marja Alexandrowna in hohem Maße!
„Mesdames,“ begann ſie feierlich und wuͤrdevoll (Marja Alexandrowna war uͤberhaupt eine große Freundin feierlichen Weſens), „mesdames, ich habe Ihr Geſpraͤch und Ihre munte— ren, geiſtreichen Scherze lange mit angehoͤrt und finde, daß es fuͤr mich Zeit iſt, auch meinerſeits ein Wort zu ſagen. Sie wiſſen,
234 Onkelchens Traum
wir haben uns hier alle ganz zufällig zuſammengefunden (und ich freue mich fo, freue mich fo ſehr daruͤber) ... Niemals würde ich mich dazu entſchloſſen haben, ein wichtiges Familiengeheim⸗ nis als erſte auszuſprechen und es fruͤher zu verlautbaren, als | dies das gewöhnliche Gefühl für Anſtand verlangt. Im bez ſonderen bitte ich meinen lieben Gaſt um Verzeihung; aber es ſchien mir, daß er ſelbſt durch entfernte Anſpielungen auf dieſen ſelben Umſtand mir zu verſtehen geben will, daß eine foͤrmliche, feierliche Enthuͤllung unſeres Familiengeheimniſſes ihm nicht unangenehm fein werde, ja daß er dieſe Enthuͤllung ſogar wuͤnſche . . . Nicht wahr, Fuͤrſt, ich habe mich nicht geirrt?“
„Nun ja, Sie haben ſich nicht geirrt ... und ich freue mich ſehr, ſehr .. .“ antwortete der Fuͤrſt, der abſolut nicht begriff, 2 um was es ſich handelte. 3
Marja Alexandrowna hielt des größeren effettes halber einen Augenblick inne, um Atem zu ſchoͤpfen, und ließ ihren Blick uͤber die ganze Geſellſchaft hinſchweifen. Alle Beſucherinnen horch- ten in hoͤchſter Aufregung und Neugier auf ihre Worte. Moſglja- kow fuhr zuſammen; Sinaida errötete und erhob ſich von ihrem Lehnſtuhl. Afanaſi Matwjejewitſch ſchnob ſich, in Erwartung von etwas Ungewoͤhnlichem, fuͤr jeden Fall die Naſe. 1
„Ja, mesdames, ich bin mit Freuden bereit, Ihnen mein | Familiengeheimnis anzuvertrauen. Heute nach Tiſche hat der Fuͤrſt, hingeriſſen von der Schönheit und... den vortrefflichen Eigenſchaften meiner Tochter, ihr die Ehre eines Heirats- antrages erwieſen. Fuͤrſt!“ ſchloß fie, und ihre Stimme zitterte vor Tränen und Aufregung, „lieber Fuͤrſt, Sie dürfen, Sie koͤnnen mir nicht zuͤrnen wegen meiner Indiskretion! Nur die außerordentliche Freude uͤber dieſes Familienereignis hat mei- nem Herzen dieſes liebe Geheimnis vor der Zeit entreißen
Dreizehntes Kapitel 235
koͤnnen, und... welche Mutter kann mir in dieſem Falle einen Vorwurf machen?“
Ich finde keine Worte, um die Wirkung zu ſchildern, die dieſer unerwartete Schritt Marja Alexandrownas hervorbrachte. Alle waren ſtarr vor Staunen. Die treuloſen Beſucherinnen hatten beabſichtigt, Marja Alexandrowna dadurch zu erſchrecken, daß ſie ihr Geheimnis ſchon wuͤßten; ſie hatten beabſichtigt, ſie durch die vorzeitige Aufdeckung dieſes Geheimniſſes niederzuſchmet— tern; ſie hatten beabſichtigt, ſie vorlaͤufig nur durch bloße An— ſpielungen zu peinigen: und nun waren ſie durch eine ſolche kuͤhne Offenherzigkeit wie vor den Kopf geſchlagen. Eine fo furchtloſe Offenherzigkeit ließ auf innere Staͤrke ſchließen. „Alſo wird der Fuͤrſt tatſaͤchlich nach feinem eigenen Willen Sinaida heiraten? Alſo iſt er nicht angelockt, betrunken gemacht und ge— taͤuſcht worden? Alſo wird er nicht heimlicher, ſpitzbuͤbiſcher Weiſe zur Heirat gezwungen? Alſo fuͤrchtet Marja Alexan— drowna niemanden? Alſo iſt es nicht mehr möglich, dieſe Heirat zu hintertreiben, wenn der Fuͤrſt, ohne gezwungen zu ſein, heiratet?“ Ein ganz kurzes Gefluͤſter wurde vernehmbar, das ſich auf einmal in helle Freudenrufe verwandelte. Als erſte . ſtuͤrzte Natalja Dmitrijewna auf Marja Alexandrowna zu, um ſie zu umarmen; nach ihr Anna Nikolajewna und nach dieſer Feliſata Michailowna. Alle ſprangen von ihren Plaͤtzen in die Hoͤhe und rannten bunt durcheinander; viele der Damen waren blaß vor Wut. Sie begannen die verlegene Sinaida zu beglüd: wuͤnſchen; fie klammerten ſich ſogar an Afanaſi Matwjejewitſch. Marja Alexandrowna breitete maleriſch die Arme aus und druͤckte beinahe mit Gewalt ihre Tochter an ihre Bruſt. Nur der Fuͤrſt blickte auf dieſe Szene mit einem ſonderbaren Erſtaunen, ob— gleich er wie vorher laͤchelte. Übrigens gefiel ihm die Szene
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236 Onkelchens Traum
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zum Teil. Als er ſah, wie die Mutter ihre Tochter umarmte, zog er ſein Taſchentuch heraus und wiſchte ſich ſein Auge, in welches ein Traͤnchen getreten war. Natürlich ftürmten fie auch auf ihn mit Gluͤckwuͤnſchen ein.
„Wir gratulieren, Fuͤrſt! Wir gratulieren!“ wurde von allen Seiten gerufen.
„Alſo Sie heiraten?“
„Alſo heiraten Sie wirklich?“
„Liebſter Fuͤrſt, alſo Sie heiraten!“
„Nun ja, nun ja,“ antwortete der Fuͤrſt, der mit den Glüd: wuͤnſchen und dem allgemeinen Entzüden ſehr zufrieden war, „und ich geſtehe Ihnen, daß mir am allermeiſten Ihre liebens-⸗ wuͤrdige Anteilnahme gefällt, die ich nie-mals vergeſſen werde, nie-mals ver-geſ-ſen werde. Charmant! Charmant! Sie haben mich ſogar bis zu Traͤ-⸗nen ge-ruͤhrt ...“
„Geben Sie mir einen Kuß, Fuͤrſt!“ rief Feliſata Michailowna alle uͤbertoͤnend. $
„Und ich muß Ihnen geſtehen,“ fuhr der Fürft, häufig durch Ausrufe von allen Seiten unterbrochen, fort, „ich wundere mich am allermeiſten darüber, daß Marja Iwa-now-na, unſere ver- ehrte Wirtin, meinen Traum mit ſo außerordentlichem Scharf— ſinn erraten hat. Gerade als ob ſie ſtatt meiner dieſen Traum gehabt hätte. Ein au-ßer⸗or⸗dent⸗licher Scharfſinn! Ein au-ßer⸗ or⸗dent-licher Scharfſinn!“
„Ach, Fuͤrſt, reden Sie wieder von einem Traume?“
„Geſtehen Sie es doch ein, Fuͤrſt, geſtehen Sie es doch ein!“ riefen alle Damen, ihn umringend.
„Ja, Fuͤrſt, es iſt kein Grund mehr, es zu verheimlichen; es iſt Zeit, dieſes Geheimnis offenzulegen!“ ſagte Marja Alexan— drowna in entſchiedenem, ernſtem Tone. „Ich habe Ihre feine
Dreizehntes Kapitel 237
bildliche Ausdrucksweiſe verſtanden und weiß das bezaubernde Zartgefuͤhl zu wuͤrdigen, mit dem Sie mir angedeutet haben, daß Sie eine Veroͤffentlichung Ihrer Verlobung wuͤnſchten. Ja, mesdames, das iſt die Wahrheit: der Fuͤrſt iſt heute vor meiner Tochter niedergekniet und hat ihr in wachem Zuſtande, und nicht im Traum, einen feierlichen Heiratsantrag gemacht.“
„Es war vollſtaͤndig wie in wachem Zuſtande, und ſogar die naͤ⸗he-ren Um:ſtaͤnde waren dieſelben,“ beſtaͤtigte der Fuͤrſt. „Mademoiſelle,“ fuhr er mit außerordentlicher Hoͤflichkeit fort, indem er ſich an Sinaida wandte, die von ihrem Erſtaunen immer noch nicht wieder zu ſich gekommen war, „Mademoiſelle! Ich ſchwoͤre Ihnen, daß ich nie gewagt haben wuͤrde, Ihren Namen auszuſprechen, wenn ihn nicht andere vor mir ausöge— ſpro⸗chen hätten. Es war ein entzuͤckender Traum, ein entzuͤk— kender Traum, und ich bin doppelt gluͤcklich, daß es mir vergoͤnnt iſt, Ihnen dies jetzt aus-zu⸗ſprechen. Charmant! Charmant !...“
„Aber ich bitte Sie, was ſtellt denn das vor? Er redet ja immer von einem Traume!“ fluͤſterte Anna Nikolajewna der aufgeregten und etwas blaß gewordenen Marja Alexan— drowna zu.
Ach, Marja Alexandrownas Herz empfand auch ohne ſolche unheilverkuͤndenden Bemerkungen ſchon laͤngſt einen dumpfen Schmerz und bebte angftvoll.
„Wie haͤngt das zuſammen?“ fluͤſterten die Damen und tauſchten bedeutſame Blicke aus.
„Aber ich bitte Sie, Fuͤrſt,“ begann Marja Alexandrowna mit einem ſchmerzlich verzerrten Laͤcheln, „ich verſichere Ihnen, daß Sie mich in Erſtaunen verſetzen. Was iſt das bei Ihnen fuͤr eine ſonderbare Idee, daß Sie das nur getraͤumt haͤtten? Ich muß Ihnen geſtehen, ich habe bis jetzt geglaubt, daß Sie einen
238 Onkelchens Traum
Scherz machten; aber... Wenn es ein Scherz ift, fo iſt es ein ſehr übel angebrachter Scherz ... 1 will es gern auf Rede nung Ihrer Zerſtreutheit ſetzen, aber. к
„Es iſt bei ihm vielleicht tatfächlich eine he von Zeritreufsg ; heit,“ liſpelte Natalja Dmitrijewna. N
„Nun ja... vielleicht ift es eine Folge von Zerſtreutheit,“ ſtimmte ihr der Fuͤrſt bei, der immer noch nicht ganz verſtand, was man von ihm verlangte. „Und denken Sie ſich, da will ich Ihnen gleich ein Gezjchichtschen erzählen. Ich wurde in Peters: burg zu einer Be-erdigungsfeier eingeladen, in einer gewiſſen Familie, maison bourgeoise, mais honnéte, und ich glaubte irr⸗ tuͤmlich, zur Feier eines Namenstages eingeladen zu ſein. Aber | die Feier des Namenstages hatte ſchon in der vorhergehenden Wosche ſtatt⸗ge⸗funden. Ich beſtellte ein Kamelienbukett für die Dame, die, wie ich glaubte, ihren Namenstag beging. Ich trete ein, und was ſehe ich? Ein achtungswerter, aͤlterer Mann liegt als Leiche auf dem Tiſche, fo daß ich ganz erzftaunt war. Ich wußte gar nicht, wo ich mit dem Bu⸗kett blei⸗ben ſollte.“ 3
„Aber, Fuͤrſt, um Geſchichtchen handelt es ſich hier nicht!“ unterbrach ihn Marja Alexandrowna aͤrgerlich. „Meine Tochter hat es wahrhaftig nicht noͤtig, auf Bewerber Jagd zu machen; aber heute nach Tiſche haben Sie ſelbſt hier an dieſem Flügel ihr einen Heiratsantrag gemacht. Ich habe Sie nicht dazu an- geregt ... Dieſer Antrag hat mich, ich kann wohl ſagen, frappiert ... Selbſtverſtaͤndlich ging mir damals ein Gedanke durch den Kopf; aber ich verſchob das alles bis zu Ihrem Erz wachen. Indes, ich bin eine Mutter, und fie iſt meine Tochter ... Sie ſelbſt haben ſoeben von einem Traume geſprochen, und ich glaubte, daß Sie in dieſer bildlichen Einkleidung von Ihrer Ver- lobung Mitteilung machen wollten. Ich weiß ſehr wohl, 5 Er
N
Dreizehntes Kapitel 239
man Sie vielleicht irre macht ... ich habe f ogar eine Vermutung darüber, wer das tut... aber ... geben Sie jetzt recht ſchnell eine befriedigende Erklaͤrung ab, Fuͤrſt! In dieſer Weiſe darf man mit einer anſtaͤndigen Familie nicht Scherz treiben ...“
„Nun ja, in dieſer Weiſe darf man mit einer anſtaͤndigen Familie nicht Scherz treiben,“ pflichtete ihr der Fuͤrſt verſtaͤnd— nislos bei; indes begann er ſchon allmaͤhlich unruhig zu werden.
„Aber das iſt keine Antwort auf meine Frage, Fuͤrſt. Ich bitte Sie, mir eine buͤndige Antwort zu geben; beſtaͤtigen Sie, beſtaͤtigen Sie hier ſogleich in Gegenwart aller, daß Sie vorhin
meiner Tochter einen Heiratsantrag gemacht haben!“
„Nun ja, ich will es gern beſtaͤtigen. Übrigens habe ich das alles bereits erzaͤhlt, und Feliſata Jakowlewna hat meinen Traum ganz richtig erraten.“
„Es war kein Traum! Es war kein Traum!“ rief Marja Alexandrowna aufgebracht. „Es war kein Traum, ſondern Sie befanden ſich in wachem Zuſtande, Fuͤrſt, in wachem Zuſtande, hoͤren Sie wohl, in wachem Zuſtande!“
| „In wachen Zuſtande!“ rief der Fürft und erhob ſich er—
ſtaunt von ſeinem Lehnſeſſel. „Nun, mein Freund, wie du es vorhin prophezeit haſt, ſo iſt es wirklich eingetroffen!“ fuͤgte er, zu Moſgljakow gewendet, hinzu. „Aber ich verſichere Ihnen, verehrte Marja Stepanowna, daß Sie ſich irren! Ich bin voll—
kommen davon uͤberzeugt, daß ich das nur getraͤumt habe!“
5 O Gott, erbarme dich!“ rief Marja Alexandrowna.
„Regen Sie ſich nicht auf, Marja Alexandrowna!“ miſchte
ſich Natalja Dmitrijewna ein. „Der Fuͤrſt hat es vielleicht ver— geſſen . . . Er wird ſich wieder daran erinnern.“
„Ich bin erſtaunt uͤber Sie, Natalja Dmitrijewna,“ erwiderte Marja Alexandrowna empoͤrt; „kann man denn ſolche Dinge
240 Onkelchens Traum
vergeſſen? Iſt denn das menſchenmoͤglich? Ich bitte Sie, Fuͤrſt! Machen Sie ſich uͤber uns luſtig? Oder ahmen Sie vielleicht einen der von Dumas geſchilderten leichtfertigen Patrone aus
der Zeit der Regentſchaft nach? So einen Fairelacour oder
Lauzun? Aber abgeſehen davon, daß das nicht zu Ihren Jahren paßt, verſichere ich Ihnen, daß Ihnen das nicht gelingen wird!
Meine Tochter iſt keine franzoͤſiſche Vikomteſſe. Vorhin hat ſie
hier, ſehen Sie, hier an dieſer Stelle Ihnen ein Lied geſungen,
und entzuͤckt von ihrem Geſange ſind Sie vor ihr auf die Knie
gefallen und haben ihr einen Heiratsantrag gemacht. Phan—
tafiere ich denn etwa? Schlafe ich denn? Reden Sie, Fuͤrſt:
ſchlafe ich oder nicht?“ „Nun ja... übrigens vielleicht nicht ...“ antwortete der
Fuͤrſt, der ganz verwirrt war. „Ich will nur ſagen, daß ich jetzt,
wie ich glaube, nicht ſchlafe. Sehen Sie, vorhin habe ich ge— ſchlafen und habe geträumt, weil ich eben ſchlief ...“
„Mein Gott, was heißt das: nicht ſchlafen, ſchlafen, ſchlafen, nicht ſchlafen! Weiß der Teufel, was das heißen ſoll! Reden Sie im Fieber, Fuͤrſt?“
„Nun ja, weiß der Teufel... übrigens bin ich jetzt ſchon ganz
konfus geworden, glaube ich .. .“ verſetzte der Fuͤrſt und ließ
ſeine unruhigen Blicke rings umhergehen. „Aber wie koͤnnen Sie denn das getraͤumt haben,“ rief Marja
Alexandrowna aufgeregt, „wenn ich doch Ihnen ſelbſt Ihren
eigenen Traum mit ſolchen Einzelheiten erzaͤhle, obgleich Sie
ihn noch niemandem von uns erzaͤhlt haben?“ | „Aber vielleicht hat ihn der Fürft doch ſchon jemandem er: zaͤhlt,“ meinte Natalja Dmitrijewna.
"Ч 9 - А = 3 er * *
„Nun ja, vielleicht habe ich ihn wirklich jemandem erzaͤhlt,“
ſtimmte ihr der Fuͤrſt, ganz faſſungslos, bei.
dal Bad,
a
Dreizehntes Kapitel 241
„Iſt das einmal eine Komödie!” flüsterte Feliſata Michai⸗ lowna ihrer Nachbarin zu.
„Ach, du mein Gott! Aber da hoͤrt doch wirklich alle Geduld auf!“ rief Marja Alexandrowna und rang ganz außer ſich die Haͤnde. „Sie hat Ihnen doch ein Lied geſungen, ein Lied ge—
ſungen! Haben Sie denn auch das nur getraͤumt?“
„Nun ja, es iſt mir wirklich, als ob ſie ein Lied geſungen haͤtte,“ murmelte der Fuͤrſt nachdenklich.
Und auf einmal belebte eine Erinnerung ſein Geſicht.
W Mein Freund,“ rief er, ſich zu Moſgljakow wendend, „ich vergaß vorhin dir zu ſagen, daß da wirklich ſo ein Lied geſungen wurde, und in dieſem Liede kamen immer Burgen vor, eine
ganze Menge Burgen; und dann war da auch fo ein Troubadour! Nun ja, an alles das erinnere ich mich ... es war fo ruͤhrend, daß ich ſogar weinte ... Aber jetzt, ſiehſt du, bin ich wirklich bedenklich geworden und moͤchte glauben, daß ſich das in Wahrheit zugetragen hat und ich es nicht bloß getraͤumt habe.“
„Ich muß Ihnen geftehen, Onkelchen,“ antwortete Moſglja— kow mit moͤglichſter Ruhe, obgleich ihm die Stimme vor Auf—
regung zitterte, „ich muß Ihnen geſtehen, es ſcheint mir, daß
es ſehr leicht iſt, dieſe ganze Sache in befriedigender Weiſe zu erklaͤren. Ich glaube, Sie haben tatſaͤchlich Geſang gehoͤrt. Sinaida Afanaſjewna ſingt vorzuͤglich. Nach dem Mittageſſen ſind Sie hierhergefuͤhrt worden, und Sinaida Afanaſjewna hat Ihnen ein Lied vorgeſungen. Ich war damals nicht hier; aber Sie ſind wahrſcheinlich geruͤhrt geworden und haben ſich an alte Zeiten erinnert; vielleicht haben Sie ſich an eben jene Vikomteſſe erinnert, mit der Sie ſelbſt einmal Lieder geſungen haben, und von der Sie ſelbſt uns am Vormittag erzaͤhlt hatten. Nun, und LXXV. 16
242 Onkelchens Traum
als Sie ſich dann fchlafen gelegt hatten, da hat Ihnen infolge der angenehmen Empfindungen getraͤumt, daß Sie verliebt waͤren und einen Heiratsantrag machten ...“
Marja Alexandrowna war geradezu ſtarr über eine ſolche Frechheit. .
„Ach, mein Freund, ſo wird es auch tatſaͤchlich geweſen ſein!“ rief der Fuͤrſt ganz entzuͤckt. „Eben infolge der angenehmen Empfindungen! Ich erinnere mich wirklich, daß mir ein Lied vorgeſungen wurde und ich deswegen im Traume heiraten wollte. Und die Erinnerung an die Vikomteſſe war mir eben- falls lebendig geworden... Ach, wie klug du das entraͤtſelt бай, mein Lieber! Nun, ich bin jetzt vollſtaͤndig davon uͤber- zeugt, daß ich das alles nur getraͤumt habe! Marja Waſiljewna! Ich verſichere Ihnen, daß Sie ſich geirrt haben! Es war ein Traum. Ich würde mir ja auch nicht erlauben, mit Ihren edel⸗ ſten Empfindungen mein Spiel zu treiben ...“
„Ah, jetzt ſehe ich deutlich, wer die ganze Sache verdorben hat!“ rief Marja Alexandrowna außer ſich vor Wut, indem fie ſich zu Moſgljakow wandte. „Sie, mein Herr, Sie ehrloſer
Menſch, haben das alles angeſtiftet! Um ſich dafuͤr zu raͤchen, daß Sie ſelbſt einen Korb erhalten hatten, haben Sie мет 1 ungluͤcklichen Idioten den Kopf wirr gemacht! Aber dieſen ſchaͤndlichen Streich ſollen Sie mir buͤßen, Sie nichtsmürdige: Menſch! Den ſollen Sie mir buͤßen, buͤßen, buͤßen!“
„Marja Alexandrowna!“ rief ſeinerſeits Moſgljakow, der rot wie ein Krebs geworden war. „Ihre Worte find dermaßen .. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihre Worte bezeichnen ſoll . Keine feine Dame wird ſich erlauben... wenigſtens trete ich fuͤr meinen Verwandten ein. Sie muͤſſen doch ſelbſt ſagen, ih ſo zu verlocken ...“
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Dreizehntes Kapitel 243
„Nun ja, ſo zu verlocken .. .“ echote der Fuͤrſt, der ſich hinter Moſgljakow zu verſtecken ſuchte.
„Afanaſi Matwjejewitſch!“ kreiſchte Marja Alexandrowna mit einer Stimme, die gar nicht wie ihre eigene klang. „Hoͤren Sie denn nicht, wie man uns beſchimpft und entehrt? Oder haben Sie ſich ſchon vollſtaͤndig von all Ihren Pflichten losgeſagt? Sind Sie wirklich nicht ein Familienvater, ſondern ein haͤßlicher Holzklotz? Warum blinzeln Sie mit den Augen? Ein anderer Mann haͤtte ſchon laͤngſt die ſeiner Familie zugefuͤgte Be⸗ leidigung mit Blut abgewaſchen! ...“
„Liebe Frau!“ begann Afanaſi Matwjejewitſch mit wichtiger Miene, ſtolz darauf, daß man auch ſeiner zu benoͤtigen anfing. „Liebe Frau! Haſt du nicht wirklich das alles getraͤumt und dann beim Erwachen alles auf deine Art durcheinander gewirrt ...“
Aber es war ihm nicht beſchieden, ſeine ſcharfſinnige Ver— mutung vollſtaͤndig auszuſprechen. Bis dahin hatten die Gaͤſte ſich noch beherrſcht und ſich heimtuͤckiſcherweiſe den Anſchein wohlanſtaͤndiger Ehrbarkeit gegeben. Aber nun erfüllte eine laute Salve des unbaͤndigſten Gelaͤchters das ganze Zimmer. Marja Alexandrowna vergaß alle Regeln des Anſtandes und machte Miene, auf ihren Gatten loszuſtuͤrzen, wahrſcheinlich um ihm ſofort die Augen auszukratzen. Aber man hielt ſie mit Ge— walt feſt. Natalja Dmitrijewna benutzte die Umſtaͤnde und traͤufelte wenigſtens noch ein Troͤpfchen Gift hinzu.
„Ach, Marja Alexandrowna, vielleicht iſt es auch wirklich ſo zugegangen; aber Sie regen ſich ſo auf,“ ſagte ſie in honigſuͤßem Tone.
„Wie ſoll es zugegangen ſein? Was ſoll geſchehen ſein?“ ſchrie Marja Alexandrowna, die noch nicht recht verſtanden hatte.
244 Onkelchens Traum
„Ach, Marja Alexandrowna, ſo etwas kommt doch manchmal Bor „Was kommt denn vor? Wollen Sie mich foltern?“ „Vielleicht haben Sie es wirklich nur getraͤumt.“ | „Getraͤumt? Ich geträumt? Und Sie wagen es, mir das gerade ins Geſicht zu ſagen?“ „Nun, vielleicht iſt es doch wirklich ſo geweſen,“ miſchte ſich Feliſata Michailowna hinein. N „Nun ja, vielleicht ift es doch wirklich fo geweſen,“ eme auch der Fuͤrſt. „Auch er, auch er haut wieder in denſelben Kerb! Herr du mein Gott!“ rief Marja Alexandrowna und ſchlug die Haͤnde | zufammen. „Wie Sie fich aufregen, Marja Alexandrowna! Denken Sie doch daran, daß Traͤume von Gott kommen. Und wenn Gott etwas will, ſo kann Ihn niemand hindern, und alles geſchieht nach Seinem heiligen Willen. Sich daruͤber zu erzuͤrnen, iſt zwecklos.“ „Nun ja, ſich daruͤber zu erzuͤrnen, iſt zwecklos,“ wiederholte der Fuͤrſt. | „Aber halten Sie mich denn für eine Wahnſinnige, wie?“ brachte Marja Alexandrowna nur mit Muͤhe hervor, da die Wut ihr den Atem verſetzte. Das ging ſchon uͤber menſchliche Kraft hinaus. Sie ſuchte eilig einen Stuhl und fiel in Ohnmacht. Es entſtand ein wildes Durcheinander. „Sie ift doch nur aus Anſtand in Ohnmacht gefallen,“ fluͤſterte Natalja Dmitrijewna ihrer Freundin Anna Nikolajewna ins Ohr. Aber in dieſem Augenblicke, in dem Augenblicke, wo die ver⸗ ſtaͤndnisloſe Verwunderung der Anweſenden ihren Gipfelpunkt erreicht hatte und die Spannung dieſer ganzen Szene auf den
Vierzehntes Kapitel 245
hoͤchſten Grad geftiegen war, trat plößlich eine bis dahin ſtumme Perſon hervor — und ſofort aͤnderte ſich der ganze Charakter der Szene...
Vierzehntes Kapitel
Sinaida Afanaſjewna hatte in ihrem ganzen Weſen eine ſehr romantiſche Anſchauungsweiſe. Wir wiſſen nicht, ob dies, wie Marja Alexandrowna ſelbſt behauptete, daher kam, daß ſie „dieſen dummen“ Shakeſpeare mit „ihrem jaͤmmerlichen Schul: meiſter“ zuviel geleſen hatte; aber noch nie waͤhrend ihres ganzen Lebens in Mordaſow hatte ſich Sinaida eine ſo ungewoͤhnlich romantiſche oder, richtiger geſagt, heroiſche Handlung erlaubt, wie die, welche wir jetzt ſogleich ſchildern werden.
Blaß, mit entſchloſſenem Blicke, aber faſt zitternd vor Auf— regung, wunderbar ſchoͤn in ihrer Empoͤrung, trat ſie vor. Nach— dem ſie einen langen, herausfordernden Blick uͤber alle An— weſenden hatte hingleiten laſſen, wandte ſie ſich, inmitten des ploͤtzlich eintretenden Stillſchweigens an ihre Mutter, die bei der erſten Bewegung der Tochter ſogleich wieder aus ihrer Ohn— macht zu ſich gekommen war und die Augen geoͤffnet hatte.
„Mama,“ ſagte Sinaida, „wozu die Betruͤgerei? Wozu ſollen wir uns noch durch Luͤge beflecken? Alles iſt ſchon jetzt dermaßen ſchmutzig, daß es wirklich nicht die erniedrigende Muͤhe lohnt, dieſen Schmutz zu verbergen!“
„Sinaida! Sinaida! Was iſt mit dir? Komm zur Beſin— nung!“ rief Marja Alexandrowna erſchrocken und ſprang von ihrem Lehnſtuhl auf.
„Ich habe Ihnen geſagt, ich habe Ihnen von vornherein ge— ſagt, Mama, daß ich all dieſe Schmach nicht ertragen werde,“ fuhr Sinaida fort. „Iſt es denn unumgänglich nötig, daß wir
246 Onkelchens Traum
uns noch mehr erniedrigen, uns noch mehr beſchmutzen? Wiſſen Sie aber, Mama, daß ich alles auf mich nehmen werde, weil ich die groͤßte Schuld trage. Ich, ich habe durch meine Einwilligung dieſe garſtige Intrige ermöglicht! Sie find eine Mutter; Sie lieben mich; Sie wollten auf Ihre Art und nach Ihren Be⸗ griffen mein Gluͤck zimmern. Ihnen kann man noch verzeihen, aber mir, mir niemals!“ i „Sinaida, willſt du denn wirklich alles erzählen?... O Gott, | ich ahnte es, daß dieſer Dolchſtoß meinem Herzen nicht erfpart bleiben würde!” „Ja, Mama, ich werde alles erzählen! Ich bin beſchimpft; Sie und wir alle ſind beſchimpft!“ : „Du uͤbertreibſt, Sinaida! Du bift außer dir und weißt nicht, was du redeſt! Und wozu willſt du alles erzaͤhlen? Das hat ja keinen Sinn ... Wir brauchen uns nicht zu ſchaͤmen. Ich werde ſofort nachweiſen, daß wir uns nicht zu ſchaͤmen brauchen ...“ „Nein, Mama!“ rief Sinaida mit einer Stimme, die vor Zorn zitterte, „ich will nicht länger vor dieſen Leuten ſchweigen, deren Meinung ich verachte, und die nur hergekommen ſind, um ſich über uns luſtig zu machen! Ich will keine Beleidigungen von ihnen ertragen; keine von dieſen Damen hat das Recht, mich mit Schmutz zu bewerfen. Sie wuͤrden alle auf der Stelle bereit ſein, Dinge zu tun, die dreißigmal ſchlimmer waͤren als das, was ich und Sie getan haben! Dürfen fie es wagen, find fie dazu ges eignet, unſere Richterinnen zu ſein?“ „Nun, das iſt ja nett! Höre mal einer, in welchem Tone die redet! Was ſoll das vorſtellen? Wir werden hier beleidigt!“ wurde von allen Seiten gerufen. „Sie weiß ofſenbar ſelbſt nicht, was ſie redet,“ ſagte Natalja Dmitrijewna. 3
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an: u 33
Vierzehntes Kapitel 247
Wir bemerken in Parentheſe, daß Natalja Dmitrijewna recht
hatte. Wenn Sinaida dieſe Damen nicht fuͤr wuͤrdig hielt, ſie
zu richten, welchen Zweck hatte es dann, ihnen ſolche Ent— huͤllungen und Bekenntniſſe zu machen? Überhaupt uͤbereilte ſich Sinaida Afanaſjewna gar zu ſehr. Das war in der Folge auch die Meinung der beſten Koͤpfe in Mordaſow. Alles haͤtte
ſich noch zurechtſchieben und in Ordnung bringen laſſen! Aller—
dings hatte auch Marja Alexandrowna an dieſem Abende durch
ihre Eilfertigkeit und durch ihren Hochmut ſich ſelbſt geſchadet.
Sie haͤtte ſich nur uͤber den idiotiſchen alten Mann luſtig zu
machen und ihn aus dem Hauſe zu jagen brauchen! Aber Sinaida
wandte ſich, als ob ſie abſichtlich gegen alle geſunde Vernunft
und gegen die Mordaſower Weisheitsregeln handeln wollte, an
den Fuͤrſten.
„Fuͤrſt,“ ſagte fie zu dem alten Manne, der ſich ſogar reſpekt— voll von feinem Stuhle erhob, fo imponierte fie ihm in dieſem Augenblicke. „Fuͤrſt! Verzeihen Sie mir, verzeihen Sie uns! Wir haben Sie getaͤuſcht, wir haben Sie verlockt ...“
„Willſt du wohl ſchweigen, Ungluͤckliche!“ rief Marja Alexan— drowna außer ſich.
„Gnaͤdige Frau, gnaͤdige Frau! Ma charmante enfant.“ murmelte der konſternierte Fuͤrſt.
Aber Sinaidas ſtolzer, impulſiver und im hoͤchſten Grade
phantaſtiſcher Charakter riß fie in dieſem Augenblicke fort, gegen
alle von dem realen Leben geforderten Anſtandsruͤckſichten. Sie vergaß ſogar ihre Mutter, die infolge dieſer Geſtaͤndniſſe geradezu von Kraͤmpfen befallen wurde.
„Ja, wir haben Sie beide getaͤuſcht, Fuͤrſt: meine Mutter dadurch, daß ſie Sie dahin brachte, mir einen Heiratsantrag zu
machen, und ich dadurch, daß ich meine Zuſtimmung dazu gab.
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248 Onkelchens Traum
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Sie wurden mit Wein halb trunken gemacht; ich willigte ein, Ihnen etwas vorzuſingen und mich Ihnen gegenüber zu ver ſtellen. Wir haben Sie, den Schwachen, Schutzloſen, über: tölpelt, wie ſich Pawel Alexandrowitſch ausgedruͤckt hat; wir haben Sie uͤbertoͤlpelt wegen Ihres Reichtums und wegen Ihres Fuͤrſtentitels. Alles das war furchtbar gemein, und ich bereue es tief. Aber ich ſchwoͤre Ihnen, Fuͤrſt, daß ich mich zu dieſer Gemeinheit nicht aus gemeinen Motiven entſchloſſen hatte. Ich wollte... Aber was rede ich! Es iſt eine doppelte Gemeinheit, ſich in einer ſolchen Sache rechtfertigen zu wollen! Aber ich verſichere Ihnen, Fuͤrſt, daß ich, wenn ich etwas von Ihnen er: halten haͤtte, dafuͤr Ihr Spielzeug, Ihre Magd, Ihre Taͤnzerin, Ihre Sklavin geweſen wäre... das hatte ich mir geſchworen, und ich wuͤrde meinen Schwur gewiſſenhaft gehalten haben!“ Ein heftiger Krampf in der Kehle zwang ſie in dieſem Augen— blicke innezuhalten. Alle Gaͤſte waren geradezu ſtarr geworden und hörten mit weit geöffneten Augen zu. Das uͤberraſchende und ihnen ganz unbegreifliche Auftreten Sinaidas hatte ſie voll— ſtaͤndig verbluͤfft. Nur der Fuͤrſt war bis zu Traͤnen geruͤhrt, obwohl er kaum die Haͤlfte von dem verſtanden hatte, was Sinaida geſagt hatte. „Aber ich werde Sie heiraten, ma belle enfant, wenn Sie es wirklich wuͤn-⸗ſchen,“ murmelte er „und das wird für mich eine große Ehre fein! Nur verſichere ich Ihnen, daß es tat⸗-ſaͤch- lich wie ein Traum war... Nun, was träume ich nicht alles zu- ſammen? Wozu regen Sie ſich alſo fo auf? Ich habe ſogar eigentlich noch nichts begriffen, mon ami,“ fuhr er, zu Moſglja- kow gewendet, fort; „bitte, mach wenigſtens du mir dir Sache 9 3 „Und Sie, Pawel Alexandrowitſch,“ unterbrach ihn Sinaida,
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Vierzehntes Kapitel f 249
ſich ebenfalls an Moſgljakow wendend, „Sie, den ich eine Zeit⸗ lang ſchon beinahe als meinen kuͤnftigen Gatten betrachtete,
} Sie, der ſich jetzt ſo grauſam an mir gerächt hat, konnten auch
Sie ſich auf die Seite dieſer Leute ſchlagen, um mich zu de— muͤtigen? Und Sie ſagten, daß Sie mich liebten! Aber es ſteht mir nicht zu, Sie moraliſches Verhalten zu lehren! Ich bin ſchuldiger als Sie. Ich habe Ihnen Übles getan; denn ich habe Sie tatſaͤchlich durch Verſprechungen hingehalten, und meine heutigen Außerungen waren Luͤge und Hinterliſt! Ich habe Sie nie geliebt, und wenn ich mich entſchloſſen haͤtte, Sie zu heiraten, ſo haͤtte ich es einzig und allein getan, um von hier irgendwohin wegzukommen, weg aus dieſer verdammten Stadt, und um all dieſen Schmutz einmal loszuwerden. Aber ich ſchwoͤre Ihnen: wenn ich Sie geheiratet haͤtte, ſo waͤre ich Ihnen eine gute, treue Frau geweſen ... Sie haben ſich grauſam an mir geraͤcht, und wenn das Ihrem Stolze ſchmeichelt ...“
„Sinaida Afanaſjewna!“ rief Moſgljakow.
„Wenn Sie immer noch einen Haß gegen mich hegen ...“
„Sinaida Afanaſjewna!!“
„Wenn Sie mich jemals,“ fuhr Sinaida, ihre Traͤnen nieder— kaͤmpfend, fort, „wenn Sie mich jemals geliebt haben ...“
„Sinaida Afanaſjewna!!!“
„Sinaida, Sinaida, meine Tochter!“ rief Marja 1 drowna klaͤglich.
„Ich bin ein Schurke, Sinaida Afanaſjewna, ich bin ein Schurke und weiter nichts!“ verſicherte Moſgljakow, und alle gerieten in eine gewaltige Aufregung. Ausrufe des Erſtaunens und der Entruͤſtung ließen ſich vernehmen; aber Moſgljakow ſtand wie angeſchmiedet auf ſeinem Flecke, unfaͤhig zu denken und ratlos...
250 Onkelchens Traum
Zür ſchwache, hohle Charaktere, die an beſtaͤndige Unter ordnung gewoͤhnt ſind und endlich einmal den Entſchluß faſſen, ſich aufzulehnen und zu empoͤren und feſt und konſequent zu . fein, gibt es immer eine nicht fo ferne Grenzlinie ihrer Feſtig⸗ keit und Konſequenz. Ihre Auflehnung iſt anfangs gewoͤhnlich recht energiſch. Ihre Energie geht ſogar bis zur Raſerei. Sie ſtuͤrzen gleichſam mit zugekniffenen Augen auf die Hinderniſſe 1 los und laden ſich immer eine ihre Kräfte faft überfteigende Laſt auf die Schultern. Aber wenn der Raſende bis zu einem be: ſtimmten Punkte gelangt iſt, ſo macht er ploͤtzlich, als ob er vor ſich ſelbſt einen Schreck bekaͤme, wie betäubt halt und legt ſich die ſchreckliche Frage vor: „Was habe ich da angerichtet?“ Dann wird er ſofort matt, ſchluchzt, verlangt eine Ausſprache, faͤllt auß die Knie, bittet um Verzeihung und fleht, es moͤge alles beim Alten belaffen werden; aber nur ſchnell, fo ſchnell wie irgend möglich, möchte er feine Bitte erhoͤrt ſehen! ... Faſt dasſelbe begab ſich jetzt mit Moſgljakow. Nachdem er außer ſich geraten und wuͤtend geworden war, nachdem er ein Unheil angerichtet hatte, das er jetzt in feinem ganzen Umfange nur ſich allein zus ſchrieb, nachdem er feiner Entruͤſtung und feinem verletzten Ehr⸗ gefühl Genuͤge getan und wegen feiner Handlungsweiſe einen J Haß auf ſich ſelbſt geworfen hatte: da machte er auf einmal, von Gewiſſensbiſſen gequält, vor Sinaidas unerwartetem, kuͤhnem Schritte halt. Ihre letzten Worte ſchlugen ihn voͤllig zu Boden. Der Übergang von einem Extrem in das andere war das Werk eines Augenblickes. 5
„Ich bin ein Eſel, Sinaida Afanaſjewna!“ rief er in einem Anfall wuͤtender Reue. „Nein, was fage ich: cin Eſel'?? Das ift noch gar nichts gefagt! Ich bin unvergleichlich viel ſchlechter
als ein Eſel! Aber ich werde es Ihnen beweiſen, Sinaida
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Vierzehntes Kapitel 251
Afanaſjewna, ich werde es Ihnen beweiſen, daß auch ein Eſel
ein anftändiger Menſch fein kann!... Onkelchen! Ich habe
Sie betrogen! Ich, ich, ich habe Sie betrogen! Sie haben es
nicht getraͤumt; Sie haben wirklich, in wachem Zuſtande, einen
Heiratsantrag gemacht, und ich, ich Schurke, habe aus Rach—
ſucht, weil ich einen Korb bekommen hatte, Ihnen eingeredet, daß Sie das alles nur getraͤumt haͤtten.“
„Da kommen ja erſtaunlich merkwuͤrdige Dinge zutage,“ ziſchelte Natalja Dmitrijewna ihrer Freundin Anna Nikolajewna ins Ohr.
„Mein Freund,“ antwortete der Fuͤrſt, „bitste, be⸗ru⸗hi⸗ge dich; du haſt mich wirklich durch dein Schreien erſchreckt. Ich ver⸗ſi⸗che⸗re dir, daß du dich irrſt ... Ich bin ja meinetwegen bereit zu heiraten, wenn es nun einmal nöstig iſt; aber du ſelbſt бай mich ja davon uͤberzeugt, daß es nur ein Traum war ...“
„Oh, wie ſoll ich Sie nun vom Gegenteil uͤberzeugen! Wer gibt mir an, wie ich ihn jetzt vom Gegenteil uͤberzeugen kann? Onkelchen, Onkelchen! Das iſt ja doch eine wichtige Sache, eine hoͤchſt wichtige Familienangelegenheit! Sammeln Sie doch Ihre Gedanken! Denken Sie nach!“
„Nun gut, mein Freund, ich werde nach-den-ken. Warte mal; geſtatte, daß ich mir alles nach der Reihe ins Gedaͤchtnis zuruͤck— rufe. Zuerſt traͤumte mir von meinem Kutſcher Fe⸗o-fil ...“
„Ach! Um Feofil handelt es ſich jetzt doch nicht, Onkelchen!“
„Nun ja, nehmen wir an, daß es ſich jetzt nicht um ihn han— delt. Dann war da Na-po⸗-le-on; und dann war mir, als ob wir Tee traͤnken und eine Dame kaͤme und uns allen Zucker weg— aße
„Aber Onkelchen,“ platzte Moſgljakow in einer temporären Verdunkelung ſeines Verſtandes heraus, „das hat Ihnen ja Marja
252 Onkelchens Traum
Alexandrowna ſelbſt heute uͤber Natalja Dmitrijewna erzaͤhlt! Ich bin ja dabei geweſen und habe es ſelbſt gehoͤrt! Ich hatte mich verſteckt und belauſchte Sie durch das Schluͤſſelloch ...“
„Wie, Marja Alexandrowna!“ unterbrach ihn Natalja Dmitri⸗ jewna, „alſo haben Sie auch ſchon dem Fuͤrſten erzaͤhlt, daß ich bei Ihnen Zucker aus der Doſe geſtohlen haͤtte! Alſo komme ich zu Ihnen, um Zucker zu ſtehlen!“
„Hinaus! Machen Sie, daß Sie aus meinem Hauſe kom— men!“ ſchrie Marja Alexandrowna, die nun ganz in Verzweif— lung geraten war.
„Nein, nicht ‚hinaus‘, Marja Alexandrowna; erlauben Sie ſich nicht, fo zu mir zu reden! . . . alſo ich ſtehle bei Ihnen Zucker? Ich habe ſchon laͤngſt gehoͤrt, daß Sie ſolche Schaͤndlichkeiten uͤber mich in Umlauf bringen. Sofja Petrowna hat es mir aus— fuͤhrlich erzaͤhlt ... Alſo ich ſtehle bei Ihnen Zucker? ...“
„Aber, mesdames,“ rief der Fuͤrſt, „das habe ich ja doch nur geträumt! Was träume ich nicht alles zuſammen? ...“
„So ein verdammtes Trampeltier!“ murmelte Marja Alexan— drowna halblaut.
„Was? Ich bin ein Trampeltier?“ kreiſchte Natalja Dmitri⸗ jewna. „Aber Sie, was ſind Sie denn fuͤr eine? Ich weiß laͤngſt, daß Sie mich ein Trampeltier nennen! Ich habe wenig— ſtens einen richtigen Ehemann; aber Sie, Sie haben einen Dummkopf zum Manne ...“ |
„Nun ja, ich erinnere mich, es war auch ein Златгре Нет
da,“ murmelte der Fuͤrſt unbewußt vor ſich hin, in Erinnerung м
an das Geſpraͤch, das er nach Tiſche mit Marja Alexandrowna gehabt hatte.
„Wie? Auch Sie erdreiſten ſich, eine adlige Dame mit Schimpfworten zu belegen? Wie koͤnnen Sie ſich unterſtehen,
Vierzehntes Kapitel 253
Fuͤrſt, fo etwas zu einer adligen Dame zu ſagen? Wenn ich ein Trampeltier bin, dann find Sie ein einbeiniger Kruͤppel ...“
„Wer? Ich ein einbeiniger Kruͤppel?“
„Na ja, ein einbeiniger Kruͤppel; und Zaͤhne haben Sie auch nicht. Nun haben Sie es gehoͤrt, was Sie fuͤr einer ſind!“
„Und dazu iſt er auch noch einaͤugig!“ rief Marja Alexan— drowna. |
„Sie tragen ein Korfett ftatt der Rippen!” fügte Natalja Dmitrijewna hinzu.
„Die Geſichtshaut iſt durch Sprungfedern geſpannt!“
„Eigenes Haar hat er auch nicht! ...“
„Und der Schnurrbart des Dummrians iſt ebenfalls falſch!“ verſicherte Marja Alexandrowna.
„Aber meine Naſe werden Sie doch wenigſtens echt ſein laſſen, Marja Stepanowna!“ rief der Fuͤrſt, ganz betaͤubt durch dieſe ploͤtzlichen Offenherzigkeiten. „Mein Freund! Daran biſt du ſchuld; du haſt mich verraten; du haſt erzaͤhlt, daß ich falſches Haar trage ...“
„Onkelchen!“
„Nein, mein Freund, ich kann hier nicht laͤnger bleiben! Bringe mich irgendwo anders hin... Quelle société! Wohin haſt du mich hier gebracht, mein Gott!“
„Sie Idiot, Sie Schuft!“ ſchrie Marja Alexandrowna.
„Mein Gott!“ ſagte der Fuͤrſt, der ganz blaß geworden war, „ich habe nur ein we-nig ver:gef-fen, warum ich eigentlich Мет: her gekommen bin; aber ich werde mich ſo-gleich darauf Бег ſin⸗nen. Bringe mich fort, lieber Freund, irgendwohin; ſonſt zer⸗rei⸗ßen fie mich hier noch! Und außerdem... muß ich un: ver⸗zuͤglich einen neuen Gedanken niederſchreiben ...“
„Kommen Sie, Onkelchen, es iſt noch nicht ſpaͤt; ich werde
254 Onkelchens Traum
Sie ſogleich in ein e bringen und I ſelbſt mit рлел | dort einquartieren.
„Nun ja, in ein Saft: haus. Adieu, ma а enfant. Sie allein .. . nur Sie allein ... find tugendhaft. Sie find ein
ed⸗les Maͤd⸗chen! Laß uns gehen, mein Lieber! O mein Gott!“
Aber ich werde nicht ſchildern, wie dieſe unangenehme Szene nach dem Fortgange des Fuͤrſten endete. Die Gaͤſte fuhren | unter Geſchrei und Schimpfworten ab. Marja Alexandrowna blieb endlich allein zuruͤck, inmitten der Ruinen und Truͤmmer ihres fruͤheren Ruhmes. O weh! Ihre Macht, ihr Ruhm, ihr Anſehen, alles war an dieſem einen Abend dahingegangen. Marja Alexandrowna ſah ein, daß ſie ſich nie wieder zu ihrer fruͤheren Hoͤhe wuͤrde erheben koͤnnen. Der langjaͤhrige Deſpo⸗ tismus, den ſie uͤber die ganze Geſellſchaft ausgeuͤbt hatte, war unwiederbringlich vernichtet. Was blieb ihr jetzt uͤbrig zu tun? Sich philoſophiſch zu tröften? Aber das lag nicht in ihrem Weſen. Sie wuͤtete die ganze Nacht hindurch. Sinaida war entehrt; es wuͤrde einen endloſen Klatſch geben! Schauderhaft!
Als wahrheitsliebender Hiſtoriker muß ich erwaͤhnen, daß der— jenige, der bei Marja Alexandrownas katzenjaͤmmerlicher Stim— mung die meiſte Schelte abbekam, Afanaſi Matwjejewitſch war. Er verkroch ſich ſchließlich in eine Rumpelkammer, wo er bis zum Morgen arg fror. Endlich brach auch der Morgen an; aber auch der brachte nichts Gutes. Ein Ungluͤck kommt nie allein. |
Fuͤnfzehntes Kapitel Wenn das Schickſal einmal jemanden mit Ungluͤck heimſucht, fo folgt auch Schlag auf Schlag ohne Ende. Das iſt ſchon laͤngſt beobachtet worden. An der Schmach und Schande, von der Marja Alexandrowna am vorhergehenden Tage betroffen wor⸗
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Fuͤnfzehntes Kapitel 255
den war, war es noch nicht genug! Nein! Das Schickſal hatte noch Argeres, Schlimmeres für fie in Bereitſchaft.
Schon vor zehn Uhr morgens verbreitete ſich auf einmal in der ganzen Stadt ein ſeltſames und faſt unglaubliches Geruͤcht, das von allen mit der boshafteſten Schadenfreude aufgenommen wurde, das heißt in der Weiſe, wie wir gewoͤhnlich jede außer— ordentliche Skandalgeſchichte aufnehmen, die ſich mit einem von unſeren Bekannten zutraͤgt. „Bis zu einem ſolchen Grade ſich von Scham und Gewiſſen loszuſagen!“ wurde von allen Seiten gerufen; „bis zu einem ſolchen Grade ſich zu erniedrigen; bis zu einem ſolchen Grade alle Bande zu zerreißen!“ und ſo weiter, und ſo weiter. Was ſich aber zugetragen hatte, war folgendes. Fruͤh morgens, es war eben erſt ſieben Uhr, kam ein armes, klaͤgliches altes Weib in Verzweiflung und Traͤnen in Marja Alexandrownas Haus gelaufen und bat das Stubenmaͤdchen, ſo ſchnell wie moͤglich das gnaͤdige Fraͤulein zu wecken, nur das gnaͤdige Fraͤulein, und zwar heimlich, damit Marja Alexan— drowna es ja nicht merke. Sinaida kam, blaß und erſchrocken, ſogleich zu der Alten herausgelaufen. Dieſe fiel vor ihr nieder, kuͤßte ihr die Fuͤße, benetzte ſie mit Traͤnen und flehte ſie an, ohne Verzug mit ihr zu ihrem kranken Waſili zu kommen, der die ganze Nacht uͤber ſo krank, ſo krank geweſen ſei, daß er dieſen Tag nicht mehr uͤberleben werde. Die Alte ſagte ſchluchzend zu Sinaida, Waſili ſelbſt ließe ſie zu ſich rufen, um in ſeiner Todes— ſtunde von ihr Abſchied zu nehmen; er beſchwoͤre ſie bei allen heiligen Engeln, bei allem, was fruͤher geweſen ſei; und wenn ſie nicht komme, ſo werde er in Verzweiflung ſterben. Sinaida entſchloß ſich ſogleich dazu, mitzugehen, obwohl die Erfuͤllung einer ſolchen Bitte offenbar allen fruͤheren boshaften Geruͤchten über eine zutage gekommene Korreſpondanz, Über ihr ſkanda—
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lojes Benehmen und fo weiter zur Beſtaͤtigung dienen mußte. |
Ohne ihrer Mutter etwas davon zu ſagen, warf fie einen Mantel
um und lief ſogleich mit der alten Frau durch die ganze Stadt
nach einer der aͤrmlichſten Vorſtaͤdte Mordaſows, nach einer ganz einſamen Straße, wo ein altes, ſchief gewordenes, halb in die Erde geſunkenes Haͤuschen ſtand, mit einer Art von Ritzen ſtatt der Fenſter und rings von hohen Schneewehen umgeben.
In dieſem Haͤuschen, in einem kleinen, niedrigen, dumpfigen Stuͤbchen, in dem der gewaltige Ofen die Haͤlfte des ganzen Raumes einnahm, lag auf einem aus unangeſtrichenen Brettern zuſammengeſchlagenen Bette, auf einer Matratze, die ſo duͤnn war wie ein Eierkuchen, ein junger Mann, mit einem alten Mantel zugedeckt. Sein Geſicht war blaß und ausgemergelt; die Augen glaͤnzten krankhaft; die Arme waren duͤnn und hart wie Stoͤcke; er atmete muͤhſam und heiſer. Es war ihm anzu— ſehen, daß er einmal ſchoͤn geweſen ſein mußte; aber die Krank— heit hatte die feinen Zuͤge ſeines huͤbſchen Geſichtes zerſtoͤrt, welches ſchrecklich und klaͤglich anzuſchauen war, wie das Geſicht eines jeden Schwindſuͤchtigen oder, richtiger geſagt, Sterbenden. Seine alte Mutter, die ein ganzes Jahr lang, beinah bis zur letzten Stunde, auf die Geneſung ihres Waſili gewartet hatte, ſah nun endlich ein, daß er nicht mehr lange leben werde. Sie ſtand jetzt neben ſeinem Bette, von Gram gebeugt, mit ge— falteten Haͤnden, ohne Traͤnen, ſah ihn an und konnte ſich an ihm nicht ſattſehen und vermochte, obgleich ſie es wußte, dennoch nicht zu begreifen, daß nach einigen Tagen ihren Waſili, ihr Goldkind, dort auf dem Armenkirchhof die gefrorene Erde unter den Schneewehen bedecken werde. Aber Waſili blickte in dieſem Augenblicke nicht nach ihr hin. Sein ganzes abgemagertes Maͤrtyrergeſicht atmete jetzt Seligkeit. Er ſah endlich diejenige
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Fuͤnfzehntes Kapitel 257
vor ſich, von der er ganze zwei Jahre lang getraͤumt hatte, im Wachen und im Schlafe, in den langen, ſchmerzerfuͤllten Naͤchten ſeiner Krankheit. Er verſtand, daß ſie ihm verziehen hatte, da ſie wie ein Engel Gottes in ſeiner Todesſtunde bei ihm erſchienen war. Sich uͤber ihn beugend druͤckte ſie ihm die Haͤnde, weinte, laͤchelte ihm zu, blickte ihn wieder mit ihren wunder— vollen Augen an, und — und alles Fruͤhere, unwiederbringlich Verlorene, erſtand in der Seele des Sterbenden von neuem. Das Leben flammte noch einmal in ſeinem Herzen auf, und es ſchien, als wollte es in dem Augenblicke, wo es ihn verließ, den Dulder empfinden laſſen, wie ſchwer es ſei, von ihm zu ſcheiden.
„Sinaida,“ ſagte er, „liebe Sinaida! Weine nicht uͤber mich, graͤme dich nicht, ſei nicht traurig, erinnere mich nicht daran, daß ich bald ſterben werde. Ich werde dich anſehen, ſo wie ich dich jetzt anſehe, und werde fuͤhlen, daß unſere Seelen wieder ver— einigt ſind, daß du mir verziehen haſt; ich werde wieder deine Haͤnde kuͤſſen wie fruͤher und werde vielleicht ſterben, ohne den Tod zu merken! Du biſt mager geworden, liebe Sinaida! Du mein Engel, mit welcher Herzensguͤte du mich jetzt anſiehſt! Erinnerſt du dich wohl noch, wie du fruͤher gelacht haſt? Er— innerſt du dich wohl noch ... Ach, Sinaida, ich bitte dich nicht um Verzeihung; ich will das Geſchehene nicht einmal erwaͤhnen; denn, liebe Sinaida, wenn auch du mir vielleicht verziehen haſt, ſo werde doch ich ſelbſt mir niemals verzeihen. Es hat lange Nächte gegeben, Sinaida, ſchlafloſe, ſchreckliche Nächte, und in dieſen Naͤchten habe ich hier auf dieſem Bette gelegen und nach— gedacht, lange und viel hin und her gedacht, und ich bin ſchon laͤngſt zu der Erkenntnis gelangt, daß es fuͤr mich das beſte iſt, wenn ich ſterbe, weiß Gott, das beſte! ... Ich tauge nicht zum Leben, liebe Sinaida!“ IRA LXXV. 17
258 Onkelchens Traum
Sinaida weinte und druͤckte ſtumm feine Hände, als wollte ſie ihm dadurch das Weiterreden wehren. 4 „Warum weinſt du, mein Engel?“ fuhr der Kranke fort. „Weinſt du deswegen, weil ich ſterbe, nur deswegen? Aber alles uͤbrige iſt ja ſchon laͤngſt geſtorben, ſchon laͤngſt begraben! Du biſt kluͤger als ich, du haft ein reineres Herz, und daher weißt du ſchon laͤngſt, daß ich ein ſchlechter Menſch bin. Kannſt du mich denn noch lieben? Und wie ſchwer ift es mir geworden, den Ge⸗ danken zu ertragen, daß du es weißt, daß ich ein ſchlechter, hohler Menſch bin! Aber wieviel Eigenliebe dabei war, vielleicht auch Eigenliebe von edler Art... ich weiß es nicht! Ach, meine Teure, mein ganzes Leben war eine phantaſtiſche Traͤumerei. Ich habe mich immer meinen phantaſtiſchen Traͤumereien übers laſſen, aber ich habe nicht gelebt; ich bin ſtolz geweſen und habe den großen Haufen verachtet; aber worauf bin ich den Menſchen gegenuͤber ſtolz geweſen? Ich weiß es ſelbſt nicht. Auf meine Herzensreinheit, auf den Adel meiner Gefuͤhle? Aber das wa ja alles nur in meinen Traͤumereien vorhanden, Sinaida, wenn wir Shakeſpeare laſen; aber wenn es zum Handeln kam, dann zeigte ich, wie es mit meiner Herzensreinheit und mit dem Ade meiner Gefuͤhle ſtand ...“ | „Hoͤr auf!“ ſagte Sinaida, „Hör auf! ... Das ift alles un- richtig; du marterſt dich ohne Grund!“ | „Warum willſt du, daß ich aufhöre, Sinaida? Ich weiß, du haſt mir verziehen, mir vielleicht ſchon laͤngſt verziehen; aber du haſt uͤber mich zu Gericht geſeſſen und erkannt, was ich fuͤr ein Menſch bin; das iſt es, was mich quaͤlt. Ich bin deiner Liebe unwuͤrdig, Sinaida! Du biſt auch im Handeln ehrenhaft 15 hochherzig geweſen; du bift vor deine Mutter hingetreten und haſt ihr geſagt, du werdeſt mich heiraten und keinen andern, und
Fuͤnfzehntes Kapitel 259
du haͤtteſt dein Wort gehalten; denn bei dir ſtehen die Taten
nicht im Widerſpruch zu den Worten. Aber ich, ich! Als es zum Handeln kam ... Weißt du wohl, Sinaida, daß ich damals
nicht einmal begriff, was du mir für ein Opfer braͤchteſt, wenn
du mich heirateteſt! Nicht einmal dafuͤr hatte ich Verſtaͤndnis, daß du, wenn du mich heirateteſt, vielleicht Hungers ſterben wuͤrdeſt. Ja, dieſer Gedanke kam mir uͤberhaupt nicht! Ich dachte nur, du wuͤrdeſt mich, den großen Dichter (natuͤrlich den großen Dichter, der ich zu werden hoffte), heiraten, und wollte die Gruͤnde nicht gelten laſſen, die du zur Unterſtuͤtzung deiner Bitte um Aufſchub der Hochzeit anfuͤhrteſt; ich quaͤlte dich, tyranniſierte dich, machte dir Vorwuͤrfe, verachtete dich, und es kam ſchließlich dahin, daß ich dir mit einer Veröffentlichung jenes Briefes drohte. Ich war in dieſem Augenblicke nicht einmal ein richtiger Schurke. Ich war einfach ein jaͤmmerlicher Kerl! Oh, wie mußteſt du mich verachten! Nein, es iſt gut, daß ich ſterbe!
Es iſt gut, daß du mich nicht geheiratet haſt! Ich haͤtte nichts von deinem Opfer begriffen; ich haͤtte dich gequaͤlt, dich wegen
unſerer Armut gepeinigt; ja, nach einer Reihe von Jahren haͤtte ich dich vielleicht ſogar als ein Hemmnis meines Lebens gehaßt. Aber jetzt iſt es beſſer! Jetzt haben wenigſtens meine bitteren Traͤnen mein Herz gereinigt. Ach, liebe Sinaida! Liebe mich, wenn auch nur ein klein bißchen, ſo wie du mich fruͤher liebteſt! Wenn auch nur in dieſer letzten Stunde... Ich weiß ja, daß ich deiner Liebe nicht würdig bin, aber... aber... o du mein Engel!“ Waͤhrend dieſer ganzen Rede hatte Sinaida, die ſelbſt ſchluchzte, ihn mehrmals am Weiterreden zu hindern verſucht. Aber er hatte nicht auf ſie gehoͤrt; es quaͤlte ihn das Verlangen, ſich ganz auszuſprechen, und er hatte fortgefahren zu reden, wiewohl nur muͤhſam, keuchend, mit heiſerer, faſt verſagender Stimme. |
260 Onkelchens Traum
„Wenn du mir nicht begegnet waͤreſt und mich nicht lieb ge-
wonnen haͤtteſt, ſo waͤreſt du am Leben geblieben!“ ſagte | Sinaida. „Ach, warum, warum find wir zuſammengekommen!“
„Nein, meine Teure, nein, mache dir keine Vorwuͤrfe des- wegen, weil ich ſterbe,“ fuhr der Kranke fort. „Ich allein bin an allem ſchuld! Und wieviel Eitelkeit und Romantik war dabei! Hat man dir das Naͤhere uͤber die Dummheit erzaͤhlt, die ich da— mals beging, Sinaida? Siehſt du, es war hier vor etwa drei Jahren ein Unterſuchungsgefangener, ein Boͤſewicht und Moͤr⸗ der; aber als er nun verurteilt war und koͤrperlich gezüchtigt werden ſollte, da erwies er ſich als der kleinmuͤtigſte Menſch. Da er wußte, daß an einem Kranken die Züchtigung nicht voll⸗ ſtreckt wird, fo verſchaffte er ſich Branntwein, ſchuͤttete Schnupf⸗ tabak hinein und trank es aus. Er bekam davon ein ſo heftiges, ſo andauerndes Bluterbrechen, daß es ihm die Lungen ruinierte. | Er wurde ins Lazarett gebracht und ſtarb nach einigen Monaten an der Schwindſucht. Nun, ſiehſt du, mein Engel, an dieſen Ge: fangenen erinnerte ich mich gleich an jenem Tage... nun, du weißt ſchon, nach der Geſchichte mit dem Briefe... und ich be⸗ ſchloß, mich ebenſo umzubringen: aber was meinſt du wohl, weshalb ich gerade die Schwindſucht waͤhlte? Warum erhaͤngte oder ertraͤnkte ich mich nicht? Hatte ich Furcht vor einem ſchnellen Tode? Vielleicht auch das, — aber ich habe immer die Vorſtellung, liebe Sinaida, als ob es bei mir auch damals nicht ohne ſuͤße romantiſche Dummheiten abging! Ich hatte immer den Gedanken: wie ſchoͤn wird es fein, wenn ich als Schwind ſuͤchtiger ſterbend auf meinem Bette liegen werde und du dich quälen und martern wirft, weil du an meiner Schwindſucht ſchuld ſeieſt; du wirſt ſelbſt mit dem Bekenntnis deiner Schuld zu mir kommen und vor mir auf die Knie fallen. Ich werde dir
Fuͤnfzehntes Kapitel 261
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verzeihen und in deinen Armen ſterben ... Das Ш dumm, liebe Sinaida, ſehr dumm; nicht wahr?“
„Denke nicht an dieſe Dinge!“ ſagte Sinaida. „Sprich nicht davon! Ein ſolcher Menſch biſt du nicht ... laß uns lieber an anderes zuruͤckdenken, an unſere ſchoͤne, gluͤckliche Zeit!“
„Es iſt mir ein bitterer Schmerz, meine Teure; darum rede ich davon. Zwei Jahre lang habe ich dich nicht geſehen! Jetzt moͤchte ich meine ganze Seele offen vor dich hinlegen! Dieſe ganze Zeit uͤber, von damals an, bin ich ja voͤllig allein geweſen, und ich glaube, es iſt keine Minute geweſen, wo ich nicht an dich gedacht haͤtte, mein Engel, mein Augapfel! Und weißt du was, liebe Sinaida? Wie gern haͤtte ich etwas getan, mich irgendwie ſo verdient gemacht, daß ich dich gezwungen haͤtte, deine Mei— nung uͤber mich zu aͤndern. Bis auf die letzte Zeit hatte ich nicht geglaubt, daß ich ſterben würde; ich war ja nicht ſogleich Вен: laͤgerig geworden, ich ging noch lange mit kranker Bruſt umher. Und wie viele laͤcherliche Plaͤne ich hatte! Ich phantaſierte zum Beiſpiel davon, auf einmal ein großer Dichter zu werden, in den ‚Vaterlaͤndiſchen Aufzeichnungen‘ ein ſolches Gedicht ет ſcheinen zu laſſen, wie bisher noch keines auf der Welt exiſtiert hat. Ich gedachte, in dieſem Gedichte alle meine Gefuͤhle auszu— ſtroͤmen, meine ganze Seele, ſo daß, wo du auch ſein moͤchteſt, ich immer bei dir waͤre und dich unaufhoͤrlich durch meine Verſe an mich erinnerte; und meine ſchoͤnſte Traͤumerei war die: du wuͤrdeſt endlich nachdenklich werden und ſagen: ‚Nein, er iſt doch kein fo ſchlechter Menſch, wie ich gedacht habe!“ Das war dumm, liebe Sinaida, ſehr dumm, nicht wahr?“
„Nein, nein, Waſili, nein!“ ſagte Sinaida. Sie warf ſich an ſeine Bruſt und kuͤßte ſeine Haͤnde. „Und wie eiferſuͤchtig ich die ganze Zeit uͤber geweſen bin!
262 Onkelchens Traum
Ich glaube, ich waͤre geſtorben, wenn ich von deiner Hochzeit gehoͤrt haͤtte! Ich habe heimlich zu dir geſchickt und ausſpionieren u laſſen, was du tateſt ... Пе" (er wies durch eine Kopfbewegung auf ſeine Mutter hin) „hat das immer beſorgt. Du haſt dieſen Moſgljakow doch nicht geliebt, liebe Sinaida? O mein Engel! Wirſt du auch an mich denken, wenn ich werde geſtorben ſein? Ich weiß, daß du es tun wirſt; aber die Jahre werden vergehen, und dein Herz wird erkalten, und es wird Winter in deiner Seele werden, und du wirſt mich vergeſſen, liebe Sinagida!“ ö „Nein, nein, niemals! Ich werde auch nicht heiraten... Du bift der erſte, den ich liebgewonnen habe; ich werde dich lebens- länglich lieben ...“ | „Alles ftirbt, liebe Sinaida, alles, ſogar die Erinnerungen. Auch unſere edlen Gefuͤhle ſterben. An ihre Stelle tritt die Ver⸗ nunft. Daruͤber darf man nicht murren! Genieße das Leben, Sinaida, lebe lange, lebe gluͤcklich! Liebe auch einen andern, wenn er dir gefaͤllt; einen Toten kannſt du ja doch nicht lieben! Nur vergiß mich nicht; denke wenigſtens mitunter an mich; an das Schlechte denke nicht zuruͤck, verzeihe das Schlechte; es hat ja in unſerer Liebe doch auch Gutes gegeben, liebe Sinaida! O die goldenen, unwiederbringlichen Tage! ... Höre, mein Engel, ich habe immer die Abendzeit, die Stunde des Sonnen- unterganges geliebt. Erinnere dich meiner ab und zu in dieſer Stunde! O nein, nein! Warum muß ich ſterben? O wie gern moͤchte ich jetzt ein neues Leben beginnen! Gedenke, meine Teure, gedenke, gedenke jener Zeit! Damals war Fruͤhling, und die Sonne ſchien ſo hell, die Blumen bluͤhten, rings um uns war gleichſam ein Feiertag ... Aber jetzt! Sieh hin, ſieh hin!“ Und der Arme wies mit ſeiner abgezehrten Hand nach dem befrorenen trüben Fenſter. Dann ergriff er Sinaidas Hände,
wg
Fuͤnfzehntes Kapitel 263 druͤckte fie an feine Augen und ſchluchzte bitterlich. aa Schluch⸗
zen ſprengte faſt ſeine gequaͤlte Bruſt.
Den ganzen Tag über litt er, haͤrmte ſich und weinte. Sinaida tröftete ihn, fo gut fie konnte; aber fie ſelbſt war vor Seelen— ſchmerz dem Tode nahe. Sie ſagte, ſie werde ihn nie vergeſſen und nie einen andern ſo lieben, wie ſie ihn geliebt habe. Er glaubte es ihr, lächelte und kuͤßte ihr die Hände; aber die Er— innerungen an die Vergangenheit hatten nur die Wirkung, ſeine Seele zu quälen und zu martern. So verging der ganze Tag. Unterdeſſen hatte die erſchrockene Marja Alexandrowna wohl zehnmal zu Sinaida geſchickt und ſie bitten laſſen, ſie moͤchte doch nach Hauſe zuruͤckkehren und ihr Renommee bei der Geſellſchaft
nicht vollſtäͤndig verderben. Endlich, als es ſchon dunkel wurde,
entſchloß fie ſich, vor Angſt faſt kopflos, ſelbſt zu Sinaida Вт: zugehen. Sie ließ ihre Tochter in die andere Stube rufen und
flehte ſie beinah fußfaͤllig an, „ihrem Herzen doch dieſen letzten, ſchlimmſten Dolchſtoß zu erſparen“. Sinaida, ganz krank, mit
gluͤhendem Kopfe, hörte die Bitten ihrer Mutter an, ohne fie zu verſtehen. Marja Alexandrowna ging endlich wieder fort, voller Verzweiflung, da Sinaida ſich vorgenommen hatte, in dem Hauſe des Sterbenden zu uͤbernachten. Die ganze Nacht uͤber wich ſie nicht von ſeinem Bette. Aber der Zuſtand des Kranken verſchlimmerte ſich immer mehr. Ein neuer Tag brach
an; aber es war keine Hoffnung mehr, daß der Dulder ihn bis
zu Ende erleben werde. Die alte Mutter war wie eine Irr⸗ ſinnige; ſie ging umher, als ob ſie nichts begriffe, und reichte ihrem Sohne die Arzneien; dieſer wollte ſie jedoch nicht mehr nehmen. Sein Todeskampf dauerte lange. Er konnte nicht mehr reden, und nur unzuſammenhaͤngende, heiſere Laute brachen aus ſeiner Bruſt hervor. Bis zum letzten Momente ſah er immer
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nach Sinaida hin, ſuchte ſie immer mit ſeinen Blicken, und als es ihm ſchon dunkel um die Augen wurde, taſtete er immer noch mit unſicherer, irrender Hand nach der ihrigen, um ſie in der ſeinigen zu druͤcken. Unterdeſſen verging der kurze Wintertag. Und als endlich der letzte ſcheidende Strahl der Sonne das Бе: frorene einzige Fenſterchen der kleinen Stube vergoldete, da flog die Seele des Dulders aus dem entkraͤfteten Koͤrper dieſem Strahle nach. Als die Mutter den Leichnam ihres heißgeliebten Waſili vor ſich liegen ſah, ſchlug ſie die Haͤnde zuſammen, ſchrie auf und warf ſich an die Bruſt des Toten. 4
„Du argliftige Schlange, du bift es geweſen, die ihn behext hat!“ ſchrie ſie in ihrer Verzweiflung Sinaida zu. „Du haſt ihn mir entriſſen, du Verfluchte; du haſt ihn zugrunde gerichtet, du Übeltaͤterin!“ |
Aber Sinaida hörte nichts mehr. Sie ſtand wie denkunfaͤhig neben dem Toten. Endlich beugte ſie ſich uͤber ihn, bekreuzte ihn, kuͤßte ihn und ging mechaniſch aus der Stube hinaus. Ihre Augen brannten, der Kopf war ihr ſchwindlig. Die qualvollen Empfindungen und die zwei faſt ſchlafloſen Naͤchte hatten ſie beinahe des Verſtandes beraubt. Sie hatte das unklare Gefühl, daß ihre ganze Vergangenheit ſich gewiſſermaßen von ihrem Herzen losriß und ein neues, finſteres, unheildrohendes Leben begann. Aber ſie war noch nicht zehn Schritte gegangen, als Moſgljakow wie aus der Erde gewachſen vor ihr ſtand; er ſchien abſichtlich an dieſer Stelle auf ſie gewartet zu haben. |
„Sinaida Afanaſjewna,“ begann er fluͤſternd; er ſchien ſich vor etwas zu fürchten und blickte ſich eilig nach allen Seiten um; denn es war noch ziemlich hell; „Sinaida Afanaſjewna, ich bin allerdings ein Eſel! Das heißt, eigentlich bin ich jetzt kein Eſel mehr; denn, ſehen Sie, ich habe mich doch anſtaͤndig benommen.
Fuͤnfzehntes Kapitel 265
Aber doch bereue ich, daß ich ein Eſel war... Ich bin, glaube ich, etwas verwirrt, Sinaida Afanaſjewna; aber . . . Sie werden es entſchuldigen; das hat verſchiedene Gründe..."
Sinaida ſah ihn an, faſt ohne ſich deſſen bewußt zu ſein, und ſetzte ſchweigend ihren Weg fort. Da auf dem hohen Holz— trottoir zwei Perſonen nebeneinander nur knapp Platz hatten, Sinaida aber nicht aus der Mitte wegtrat, ſo ſprang Pawel Alexandrowitſch vom Trottoir hinunter und lief unten neben ihr her, wobei er ihr fortwaͤhrend ins Geſicht blickte.
„Sinaida Afanaſjewna,“ fuhr er fort, „ich habe uͤber die Sache nachgedacht, und wenn Sie ſelbſt wollen, ſo moͤchte ich meinen Heiratsantrag erneuern. Ich bin ſogar bereit, alles zu vergeſſen, Sinaida Afanaſjewna, den ganzen ſchmaͤhlichen Vorgang zu vergeſſen und zu verzeihen, aber nur unter einer Bedingung: ſolange wir noch hier ſind, muß alles geheim bleiben. Sie fahren von hier moͤglichſt bald weg, und ich heimlich Ihnen nach; wir laſſen uns irgendwo an einem abgelegenen Orte trauen, ſo daß kein Menſch etwas davon erfaͤhrt, und reiſen dann ſofort nach Petersburg, meinetwegen mit Relaispferden; Sie koͤnnen alſo nur einen kleinen Koffer mitnehmen ... was meinen Sie dazu? Sind Sie einverſtanden, Sinaida Afanaſjewna? Antworten Sie ſo ſchnell wie moͤglich! Ich kann nicht warten; man koͤnnte uns zuſammen ſehen.“
Sinaida gab ihm keine Antwort und ſah ihn nur an, aber mit einem ſolchen Blicke, daß er ſogleich alles verſtand, den Hut ab— nahm, ſich verbeugte und bei der erſten Straßenkreuzung ſeit— waͤrts abbog.
„Wie geht das zu?“ dachte er. „Vorgeſtern abend war ſie noch ſo geruͤhrt und legte ſich die Schuld an allem bei? Da ſieht man, daß ein Tag nicht wie der andere iſt!“
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Unterdeſſen jagten in Mordaſow die Ereigniſſe einander nur fo. Es begab ſich etwas recht Tragiſches. Der Fuͤrſt, der von Moſgljakow in ein Gaſthaus gebracht worden war, erkrankte noch in derſelben Nacht, und zwar recht gefährlich. Die Ein- wohner von Mordaſow erfuhren dies am naͤchſten Morgen. Kaliſt Staniſlawitſch wich faſt nicht vom Bette des Kranken. Am Abend wurde ein Konſilium aller Mordaſower Arzte ver⸗ anſtaltet. Die Einladungen dazu waren an ſie in lateinifher Sprache ergangen. Aber trotz des Lateins verlor der Fuͤrſt ſchon р ganz dag Gedächtnis, phantaſierte, bat Kalift Staniſlawitſch, ihm | ein gewiſſes Lied zu fingen, und redete von irgendwelchen 3 Peruͤcken; manchmal ſchien er über etwas zu erſchrecken und fing an zu ſchreien. Die Arzte ſprachen ihre Anſicht dahin aus, Е der Fuͤrſt habe von der Mordaſower Gaſtfreundſchaft eine Magenentzuͤndung bekommen, die auf irgendeine Weiſe (wahr⸗ ſcheinlich ſo en passant) auch in den Kopf gelangt ſei. Auch eine gewiſſe ſeeliſche Erſchuͤtterung ſtellten ſie nicht in Abrede. Sie ſchloſſen ihr Gutachten mit der Bemerkung, der Fuͤrſt ſei ſchen ſeit laͤngerer Zeit zum Sterben disponiert geweſen und werde a daher unfehlbar ſterben. In dem letzten Punkte hatten ſie ſich nicht geirrt; denn der arme alte Mann ſtarb wirklich am folgen⸗ den Tage im Gaſthauſe. Das verſetzte die Einwohner von Mordaſow in Aufregung. Niemand hatte erwartet, daß die . Sache eine ſo ernſte Wendung nehmen werde. Sie ſtuͤrzten in Scharen nach dem Gaſthofe hin, wo der noch nicht zurecht⸗ gemachte Leichnam lag, erörterten den Fall, disputierten mit⸗ einander, ſchuͤttelten die Köpfe und fällten ſchließlich ein ſcharfes Verdammungsurteil uͤber „die Moͤrderinnen des ungluͤcklichen Fuͤrſten“, worunter ſie natuͤrlich Marja Alexandrowna und ihre Tochter verſtanden. Alle hatten die Empfindung, daß dieſer Vor⸗
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Fuͤnfzehntes Kapitel 267
fall, ſchon allein wegen feines ſkandaloͤſen Charakters, eine uns angenehme Publizitaͤt gewinnen koͤnne, vielleicht ſogar in ferne= ren Gegenden bekannt werden wuͤrde, und was nicht ſonſt noch alles geredet und geſchwatzt wurde. Waͤhrend dieſer ganzen Zeit war Moſgljakow in geſchaͤftiger Taͤtigkeit, rannte haſtig nach allen Seiten und wurde zuletzt ganz ſchwindlig. In dieſem Seelenzuſtande hatte er ſich befunden, als er mit Sinaida zu— ſammentraf. In der Tat war ſeine Lage eine ſchwierige. Er ſelbſt hatte den Fuͤrſten in die Stadt gebracht; er ſelbſt hatte ihn dann in das Gaſthaus transportiert; aber jetzt wußte er nicht, was er mit der Leiche anfangen, wie und wo er ſie begraben laſſen und wem er Mitteilung machen ſollte. Sollte er die Leiche nach Duchanowo ſchaffen? Überdies galt er als Neffe. Die Be— fuͤrchtung, man koͤnnte ihm die Schuld an dem Tode des ver— ehrten alten Herrn beimeſſen, brachte ihn zum Zittern. „Am Ende wird die Geſchichte gar noch in Petersburg bekannt, in den Kreiſen der hoͤchſten Geſellſchaft!“ dachte er, vor Schreck zu— ſammenfahrend. Von den Mordaſowern konnte er keinerlei Rat erhalten; alle hatten auf einmal vor irgend etwas Bange be— kommen, zogen ſich von der Leiche zuruͤck und ließen Moſgljakow in trauriger Vereinſamung zuruͤck. Aber auf einmal aͤnderte ſich die ganze Szene. Am naͤchſten Tage kam fruͤh morgens ein Fremder in die Stadt gefahren. Von dieſem Fremden ſprach ſofort ganz Mordaſow, aber nur heimlich und fluͤſternd, und als er durch die Hauptſtraße zum Gouverneur fuhr, da beobachtete man ihn durch alle Ritzen und Fenſter. Sogar Peter Michailo— witſch ſelbſt ſchien es mit der Angſt zu bekommen und nicht zu wiſſen, wie er ſich dem Ankoͤmmling gegenuͤber zu verhalten habe. Der Fremde war der ziemlich bekannte Fuͤrſt Schtſchepetilow, ein Verwandter des Verſtorbenen, faſt noch ein junger Menſch,
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etwa fuͤnfunddreißig Jahre alt, mit Oberſtenepauletts und Achſelſchnuͤren. Alle Beamten ergriff eine ganz beſondere Furcht vor dieſen Achſelſchnuͤren. Der Polizeimeiſter zum Bei- ſpiel verlor vollftändig die Faſſung; er erſchien zwar perſoͤnlih, um feine Aufwartung zu machen, aber mit ſehr aͤngſtlichem Ge⸗ ſichte. Es wurde ſogleich bekannt, daß Fuͤrſt Schtſchepetilow aus Petersburg kam und unterwegs nach Duchanowo herangefahren war. Da er in Duchanowo niemanden vorgefunden hatte, war er ſeinem Onkel nach Mordaſow nachgefahren, wo er bei der Nachricht von dem Tode des alten Mannes und bei all den Ge: ruͤchten uͤber die naͤheren Umſtaͤnde ſeines Todes wie vom Donner gerührt war. Peter Michailowitſch war ſogar einiger maßen verlegen, als er ihm die notwendigen Mitteilungen machte, und auch alle Leute in Mordaſow machten gewiſſer⸗ maßen ſchuldbewußte Geſichter. Überdies hatte der Ankoͤmm⸗ ling eine recht ſtrenge, unzufriedene Miene, obgleich man haͤtte meinen ſollen, daß die Erbſchaft keinen Grund zur Unzufrieden⸗ heit bot. Er nahm die Sache ſofort ſelbſt und perſoͤnlich in die Hand; Moſgljakow aber räumte unverzüglich in ſchmaͤhlicher Weiſe das Feld vor dem richtigen und ſich nicht nur ſelbſt ſo nennenden Neffen und verſchwand, niemand wußte wohin. Der Ankoͤmmling ordnete an, es folle die Leiche des Verſtorbenen ſofort nach dem Kloſter geſchafft und dort auch das Totenamt abgehalten werden. Alle feine Befehle gab er in kurzer, trodes ner, ſtrenger, aber durchaus taktvoller, anſtaͤndiger Form. Am folgenden Tage verſammelte ſich die ganze Einwohnerſchaft der Stadt im Kloſter, um dem Totenamte beizuwohnen. Unter den Damen hatte ſich das ſinnloſe Geruͤcht verbreitet, Marja Alexan⸗ drowna werde perſoͤnlich in der Kirche erſcheinen, vor dem Sarge niederknien und laut um Verzeihung bitten; all das müffe nach
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dem Geſetze fo fein. Selbſtverſtaͤndlich ftellte ſich das alles als Unſinn heraus, und Marja Alexandrowna erſchien nicht in der Kirche. Wir haben vergeſſen zu ſagen, daß, gleich nachdem Sinaida nach Hauſe zuruͤckgekehrt war, ihre Mama ſich noch an demſelben Abend entſchloſſen hatte, mit ihr nach dem Gute zu fahren, da ſie es fuͤr unmoͤglich erachtete, laͤnger in der Stadt zu bleiben. Dort horchte ſie unruhig von ihrem abgelegenen Winkel aus auf die in der Stadt umlaufenden Geruͤchte, ſchickte Leute aus, um uͤber den Ankoͤmmling Erkundigungen einzu— ziehen, und befand ſich die ganze Zeit uͤber in fieberhafter Auf— regung. Der Weg von dem Kloſter nach Duchanowo fuͤhrte in einer Entfernung von weniger als einer Werft an Marja Alexan— drownas laͤndlichem Hauſe vorbei, und daher konnte ſie bequem die lange Prozeſſion beobachten, die ſich nach dem Totenamte vom Kloſter nach Duchanowo hinbewegte. Der Sarg wurde auf einem hohen Leichenwagen gefahren; hinter ihm zog ſich die lange Reihe der Equipagen hin, die dem Verſtorbenen das Ge— leite bis dahin gaben, wo der Weg zur Stadt abbog. Und noch lange blieb auf dem weißbeſchneiten Felde der ſchwarze, duͤſtere Leichenwagen ſichtbar, wie er ſich langſam, mit geziemender Wuͤrde dahinbewegte. Aber Marja Alexandrowna mochte dieſes Schauſpiel nicht lange betrachten und trat vom Fenſter zuruͤck. Eine Woche darauf ſiedelte ſie mit ihrer Tochter und mit Afanaſi Matwjejewitſch nach Moskau uͤber, und einen Monat ſpaͤter erfuhr man in Mordaſow, daß Marja Ale xandrownas bei der Stadt gelegenes Gut und ihr Stadthaus verkauft wuͤrden. So verlor Mordaſow für alle Zeit eine Dame mit dem hoͤchſten comme il faut! Auch bei dieſer Gelegenheit ging es nicht ohne uͤble Nachrede ab. Zum Beiſpiel wurde behauptet, das Gut werde mitſamt Afanaſi Matwjejewitſch verkauft ... Es ver:
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ging ein Jahr und noch ein Jahr, und man vergaß Marja Alexandrowna faſt vollſtaͤndig. Leider geht es in der Welt immer ſo zu! Es wurde uͤbrigens erzählt, fie habe ſich ein anderes Gut gekauft und ſei in eine andere Gouvernementsſtadt ge— 4 zogen, wo fie felbftverftändlich auch ſchon alle unter ihre Herr— 4 ſchaft gebracht Бабе; Sinaida ſei immer noch unverheiratet, und Afanaſi Matwjejewitſch ... Aber es hat keinen Zweck, dieſe Gerüchte wiederzugeben; all das ЦЕ ſehr unzuverlaͤſſig.
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Drei Jahre ſind vergangen, ſeit ich die letzte Zeile der erſten Abteilung der Mordaſower Chronik niedergeſchrieben habe, und wer haͤtte gedacht, daß ich noch einmal Anlaß haben wuͤrde, mein Manufkript wieder aufzuſchlagen und zu meiner Erzählung noch eine Mitteilung hinzuzufuͤgen. Aber zur Sache! Ich beginne mit Pawel Alexandrowitſch Moſgljakow. Nachdem er aus Mor: daſow verſchwunden war, hatte er ſich direkt nach Petersburg begeben, wo er denn auch gluͤcklich das Amt erhielt, das man ihm ſchon lange verſprochen gehabt hatte. Bald hatte er alle Morda-⸗ ſower Ereigniſſe vergeſſen, ſich auf der Waſili-Inſel und am Galeerenhafen in den Strudel des lebemaͤnniſchen Treibens ge⸗ ſtuͤrzt, dem Jeu gefroͤnt, geflirtet, war nicht „hinter ſeiner Zeit zuruͤckgeblieben“, hatte einen Heiratsantrag gemacht, noch ein⸗ mal eine abſchlaͤgige Antwort hinunterſchlucken muͤſſen und, noch ehe er ſie recht verdaut hatte, infolge der Leichtfertigkeit ſeines Charakters und aus Langerweile ſich um eine Stelle bei einer Expedition bemuͤht, die nach einem der fernſten Gebiete unſeres weitausgedehnten Vaterlandes abgehen ſollte, um dort eine Nez viſion vorzunehmen, oder zu irgendwelchem andern Zwecke, genau weiß ich das nicht. Die Expedition durchquerte gluͤcklich 3
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alle Wälder und Einoͤden und erſchien endlich nach langer Reife in der Hauptſtadt jenes fernen Gebietes bei dem General— gouverneur. Dies war ein hochgewachſener, hagerer, ernſt— blickender General, ein alter, in Schlachten verwundeter Krieger, mit zwei Ordensſternen auf der Bruſt und mit einem weißen Ordenskreuze am Halſe. Er empfing die Expedition zere— 1101158 und wuͤrdevoll und lud alle Mitglieder derſelben zu ſich zu einem Balle ein, der bei ihm gerade an dieſem Abende an— laͤßlich des Namenstages der Frau Generalgouverneur ſtatt— fand. Pawel Alexandrowitſch war daruͤber ſehr erfreut. Ange— tan mit ſeinem eleganten Petersburger Koſtuͤm, in dem er einen großen Effekt zu machen hoffte, trat er ungeniert in den großen Saal, wurde aber ſogleich beim Anblicke der vielen dicken Epauletts und der ordengeſchmuͤckten Beamtenuniformen etwas beſcheidener. Es war erforderlich, daß er der Frau General— gouverneur, uͤber die er ſchon gehoͤrt hatte, daß ſie jung und ſehr ſchoͤn ſei, ſeine Verbeugung machte. In ſtutzerhafter Manier trat er zu ihr hin und wurde ploͤtzlich ſtarr vor Staunen. Vor ihm ſtand Sinaida, in einem prachtvollen Ballkleide, mit Bril— lanten geſchmuͤckt, ſtolz und hochmuͤtig. Sie erkannte Pawel Alexandrowitſch gar nicht. Ihr Blick glitt nachlaͤſſig uͤber ſein Geſicht hin und wandte ſich ſofort einem andern Herrn zu. Ver— blüfft trat Moſgljakow zur Seite und ſtieß in dem Schwarme auf
einen ſchuͤchternen jungen Beamten, der zum erſtenmal auf
einen Ball beim Generalgouverneur geraten war und ſich dort
ſehr unbehaglich fühlte. Pawel Alexandrowitſch machte ſich un—
verzuͤglich daran, ihn auszufragen, und erfuhr von ihm hoͤchſt intereſſante Dinge. Er erfuhr, daß der Generalgouverneur ſchon vor zwei Jahren geheiratet habe, als er aus dem „fernen Ge— biete“ nach Moskau gereiſt ſei, und daß er ein ſehr reiches Maͤd—
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chen aus einem vornehmen Hauſe zur Frau genommen habe. Die Generalin ſei ſehr ſchoͤn, ja man koͤnne ſagen eine Schoͤnheit allererſten Ranges; aber ſie benehme ſich ſehr ſtolz und tanze nur mit Generaͤlen; auf dieſem Balle ſeien im ganzen neun teils ortsangehoͤrige, teils von auswaͤrts zugereiſte Generäle an= weſend, mit Einſchluß der Wirklichen Staatsraͤte; die Generalin habe auch eine Mutter, die mit ihr zuſammen lebe; dieſe Mutter habe in Moskau vor ihrer Überſiedelung zu den hoͤchſten Ge— ſellſchaftskreiſen gehoͤrt und ſei ſehr klug; aber auch ſie ordne ſich bedingungslos dem Willen ihrer Tochter unter, und der Generalgouverneur ſelbſt koͤnne ſich an ſeiner Gemahlin gar nicht ſatt ſehen. Moſgljakow ließ ein Wort über Afanaſi Matwje⸗ jewitſch fallen; aber von dem hatte man in dieſem „fernen Ge— biete“ keinerlei Kenntnis. Nachdem Moſgljakow wieder etwas Mut gefaßt hatte, wanderte er durch die Zimmer und erblickte bald auch Marja Alexandrowna, welche, praͤchtig geputzt, ſich mit einem teuren Faͤcher Luft zufaͤchelte und mit einem hohen Beamten in lebhaftem Geſpraͤche begriffen war. Um ſie herum drängte ſich eine Anzahl von Damen, die ſich um ihre Gunſt Бе: muͤhten, und Marja Alexandrowna ſchien gegen alle aͤußerſt liebenswuͤrdig zu fein. Moſgljakow wagte es, ſich vorzuſtellen. Marja Alexandrowna zuckte anſcheinend ein wenig zuſammen, faßte ſich aber ſofort wieder, faſt in demſelben Augenblicke. Sie geruhte in liebenswuͤrdiger Weiſe, Pawel Alexandrowitſch wiederzuerkennen, fragte ihn, was er in Petersburg fuͤr Be— kanntſchaften gemacht habe, und warum er nicht im Auslande ſei. Von Mordaſow ſagte ſie keine Silbe, als ob dieſer Ort uͤber— haupt nicht auf der Welt waͤre. Schließlich nannte ſie noch den Namen eines hochangeſehenen Petersburger Fuͤrſten und erkun— digte ſich nach deſſen Geſundheit, obgleich Moſgljakow von dieſem
Fuͤnfzehntes Kapitel 273
Fuͤrſten keine Ahnung hatte; dann aber wandte fie fich fachte zu einem herantretenden hohen Wuͤrdentraͤger mit parfuͤmiertem, grauem Haare und hatte einen Augenblick darauf den vor ihr ſtehenden Pawel Alexandrowitſch vollſtaͤndig vergeſſen. Mit einem ſarkaſtiſchen Laͤcheln und mit dem Hute in der Hand kehrte Moſgljakow in den großen Saal zuruͤck. Da er ſich aus irgend— welchem Grunde fuͤr gekraͤnkt, ja fuͤr beleidigt hielt, ſo beſchloß er nicht zu tanzen. Eine grimmige, zerſtreute Miene und ein beißendes, mephiſtopheliſches Laͤcheln wichen den ganzen Abend uͤber nicht von ſeinem Geſichte. Er lehnte ſich maleriſch an eine Saͤule (eine beſondere Fuͤgung hatte es gewollt, daß der Saal mit Saͤulen ausgeſtattet war), ſtand waͤhrend des ganzen Balles, mehrere Stunden lang, auf einem Fleck und verfolgte Sinaida mit ſeinen Blicken. Aber ach, alle ſeine Kunſtſtuͤcke, alle ſeine beſonderen Poſen, ſeine enttaͤuſchte Miene und ſo weiter und ſo weiter, alles war vergeblich. Sinaida bemerkte ihn ſchlechter— dings nicht. Raſend vor Ingrimm, mit ſchmerzenden Fuͤßen vom langen Stehen und hungrig, da er in ſeiner Eigenſchaft als Verliebter und Dulder nicht zum Souper bleiben konnte, kehrte er endlich in fein Logis zuruͤck, ganz abgemattet und mit einem Gefuͤhle, als haͤtte ihn jemand durchgepruͤgelt. Lange Zeit mochte er ſich nicht ſchlafen legen, ſondern dachte an laͤngſt vergeſſene Dinge. Am andern Morgen bot ſich fuͤr eines der Expeditionsmitglieder die Moͤglichkeit, ſich mit einem beſonderen Auftrage abkommandieren zu laſſen, und Moſgljakow erbat ſich mit großem Genuſſe dieſen Auftrag. Er wurde ſeeliſch wieder ordentlich friſch, als er aus der Stadt hinausfuhr. Auf der grenzenloſen, einſamen Flaͤche lag der Schnee wie ein blendend weißes Tuch. Nur ganz am aͤußerſten Horizonte waren dunkle Waͤlder wahrnehmbar.
LXXV. 18
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Die . Pferde jagten dahin und warfen mit den Sufen den Schneeſtaub in die Höhe. Das Gloͤckchen Hang hell. Pawel Alexandrowitſch wurde nachdenklich und verſank dann in Traͤume⸗ Е reien; dann aber ſchlummerte er ein und fchlief recht ruhig. Er erwachte erſt auf der dritten Station, friſch und gefund und mit ganz anderen Gedanken. 8
Ein Heiner Held Onkelchens Traum
Inhalt
6.— 10. Tauſend *
Druck der Roßberg'ſchen Buchdruckerei in Leipzig
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