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JOH. FRIEDR. HERBART's

SÄMTLICHE WERKE.

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JOH. FR. HERBARTS

SÄMTLICHE WERKE.

IN CHRONOLOGISCHER REIHENFOLGE

HERAUSGEGEBEN

KARL KEHRBACH.

NEUNTER BAND.

MICROFORMED BY

PI ÄTION

SERVICES

DAT2 N0V 2 2 1990

LANGENSALZA,

VERLAG von HERMANN BEYER & SÖHNE, Herzogl. Sachs. Hofblchhandler.

1897.

VORREDE

des Herausgebers zu den Schriften des neunten Bandes.

Citierte Ausgaben:

-KlSch = J. F. Herbart's Kleinere philosophische Schriften, herausgegeben von G.

Hartenstein.

R = J. F. Herbart's Pädagogische Schriften, herausgegeben von Karl Rjchter.

SW = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke, herausgegeben von G. Hartenstein.

W = J. F. Herbart's Pädagogische Schriften, in chronologischer Reihenfolge

herausgegeben von Otto Willmann.

I.

Ueber die Unmöglichkeit, persönliches Vertrauen im Staate durch künstliche Formen entbehrlich zu machen 1831. (S. 1 15.)

Die Rede ist, was vergessen worden war, auf S. 1 der vor- liegenden Ausgabe anzugeben, bereits vor Hartenstein 1831 in einem von F. W. Schubert herausgegebenen Bändchen abge- druckt worden, das den Titel führt:

Das Krönungsfest des Preufsischen Staates gefeiert in der Königlichen Deutschen Gesellschaft zu Königsberg in den Jahren 1830 und 1831 durch drei Vorträge von F. W. Schubert und J. F. Herbart. Königsberg 183 1. Bei Aug. Wilh. Unger. kl. 8°. 134 S.

Nach Schuberts Mitteilung im Vorworte geschah die Her- ausgabe ,,weil vielfach der Wunsch von höchst achtbaren Stimmen geäufsert" worden war, „unsere Abhandlungen recht bald gedruckt zu sehen". „Dieser Aufforderung", die auch „in einer hiesigen Zei- tung wiederholt" worden war, „länger zu widerstehen oder derselben uns ganz zu entziehen, schien Mangel an Theilnahme für die uns ehrende öffentliche Meinung zu verrathen, und konnte uns auch als Verstofs gegen den gelehrten Verein ausgelegt werden, in dessen Xamen wir diese Festreden gesprochen hatten. Dieselben für den zweiten Band der historisch -literarischen Abhandlungen unsrer Gesellschaft zurückzubehalten . . . blieb mifslich, weil diese Vor- träge gerade ein zeitgemäfses Interesse haben, und ihre spätere Bekanntmachung den in ihnen bemerkbaren Eindruck der Gegen- wart verdunkeln und dadurch ihnen selbst schaden mufste. Und so geben wir gerne dem Wunsche nach, unsre Festreden an diesen beiden aufeinander folgenden Krönungsfesten ohne alle wesent- liche Veränderungen und Zusätze . . . dem gröfseren Publikum zu überliefern".

VIII Vorrede des Herausgebers zum IX. Bande.

Eine nachträgliche Vergleichung des Textes der Schubert- schen Ausgabe mit unserem Abdrucke, dem die Ausgabe SW zu Grunde gelegt werden mufste, weil das Schubert sehe Werk erst nach Abschlufs des vorliegenden Bandes zu erlangen gewesen war, hat folgende Abweichungen ergeben. (Hartensteins Ab- weichungen in der Orthographie sind dabei nicht berücksichtigt.)

S. i (Titel) Sch[ubert]: Eine Rede, gesprochen . . . statt . . . Rede, gehalten. S. 5, Z. 3 v. o. Seh.: Berühmte Namen von Männern . . . statt . . . berühmte Männer. S. 5. Z. 6 v. o. Seh.: anstellten, um Blut zu machen . . . statt . . . anstellten, um Blut zu machen. S. 5, Z. 13 des Textes v. u. Seh.: Einem . . . statt . . . einem. S. 5, Z. 8 v. o. Sch.: zu Hülfe . . . statt ... zur Hülfe. - S. 5, Z. 5 v. u. Seh.: kleinern Angelegenheiten, in ihren . . . statt . . . kleinen Angelegenheiten, bei ihren . .

IL

Kurze Encyklopädie der Philosophie 1831. (S. 17 338.)

Über Entstehung und Zweck des Werkes unterrichtet Her- bart in der Vorrede. Hieraus ist ersichtlich, dafs er eine Ency- klopädie im gewöhnlichen Sinne des Wortes nicht hat schreiben wollen. Vgl. auch S. 201.

Während Hartenstein, der den Text der II. Ausgabe (1841) zu Grunde legt, eine Anzahl von längeren Abweichungen der ersten Ausgabe (1 83 1) in einem Anhange vereinigt hat, sind in vorliegender Ausgabe auch die gröfseren Abweichungen, hier also, da der Wortlaut der I. Ausgabe den Grundtext bildet, die Ab- weichungen der IL Ausgabe, sogleich an Ort und Stelle eingefügt und die nötigen Orientierungsmafsregeln beigegeben worden.

Die innerhalb des Textes vorhandenen Verweisungsziffern be- ziehen sich nicht auf die Seiten der vorliegenden Ausgabe, son- dern je nachdem der Text Wiederabdruck der ersten oder zweiten Originalausgabe ist, auf die Seiten dieser Originalausgaben. Da aber im vorliegenden Abdrucke, bei dem übrigens immer die Seiten- zählung des Grundtextes in [ ] eingefügt ist, die Abschnittsziffern der II. Ausgabe, da wo sie von der ersten abweicht, beigegeben worden sind, so ist ein Auffinden der Stellen, auf die verwiesen ist, leicht zu ermöglichen.

Es seien hier noch einzelne, unbedeutende Abweichungen der zweiten Ausgabe, die im Texte selbst nicht angegeben wurden, nachgetragen: S. 27, Z. 14 v. o. ist mit der II. Ausg. gesetzt worden: Wem (Druckfehler) . . . statt . . . Wenn (I. Ausg.).

II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. IX

S. 34, Z. 7 v. o. „nicht gleichgültig-' II. Ausg. (Druckfehler) . . . statt „nicht gleich- zeitig". Auch die Abweichungen hinsichtlich des Verbums ,, fordern" und seiner Kompo- sita und Derivata sind nicht besonders im Texte angemerkt werden. Die I. Ausgabe schreibt „fordern", die zweite dagegen „fodern". Es ist in vorliegender Ausgabe immei genau nach dem jeweiligen Grundtexte gedruckt worden. S. 62, Z. 1 1 v. u. setzt die I. Ausg. „wann'1 ... die II. aber „wenn-. Wo die I. Ausg. „anderer" druckt, selbst die II. Ausg. andrer; aber nicht consequent. Verbindungen wie „nichts anderes" (I. Ausg.) druckt die II. Ausg. „nichts Andres-. Einmal druckt die I. Ausg. das zum Substantiv erhobene Zahlwort, „erste", ,,zweyte" mit kleinen Anfangsbuchstaben, wo die II. Ausg. einen grofsen Anfangsbuchstaben setzt u. s. w.

Ebenso sind eine Anzahl von Abweichungen, Druckfehler und kleinere Abweichungen im Sprachgebrauch und die Ab- weichungen in der Orthographie, die SW gegenüber den Ori- ginalen aufweist, im Texte selbst nicht verzeichnet worden.

So druckt SW S. 48 Z. löfst . . . statt . . . löset. S. 105, Z. 16. v. o. . . . bleiben . . . statt . . . bleibt S. 168, Z. 3 v. o. Zusätze . . . statt . . . Zustände. S. 312, Z. 21 v. u. . . . jede ihren eignen . . . statt . . . jede ihre eignen. Die zum Substantiv erhobenen Infinitive „Seyn", „Werden" hat SW dekliniert, also ..des Seyns", „des Werdens'', während die Originale „des Seyn", „des Werden" schreiben. SW druckt: „Ahnung", „derenwillen", wo die Originale setzen: „Ahndung", „derent- willen" u. s. w. Auch in der Deklination der Eigennamen weicht SW von den Originalen ab, so lautet der Genetiv von Leibnitz in SW Leibnitz's, aber in O. Leibnitzens u. s. w. SW druckt Wolff, wo die Originale Wolf (sc. der Philosoph Christian Wolf) setzen.

Berichtigung. Beim Umbrechen des Satzes eines Revisionsbogen ist aus Ver- sehen die Angabe einer kleinen Abweichung ausgefallen. SW, S. 131, 4 v. druckt „seiner Natur nach" . . . statt . . . „seiner wahren Natur nach".

Es sei hier noch darauf hingewiesen, dafs O. Willmann in seiner Ausgabe der Pädagogischen Schriften Herbarts (Bd. II, S. 419—478) alle Abschnitte der Kurzen Encyklopädie, die sich auf Pädagogik beziehen, mit Anmerkungen ediert und dem Ganzen eine erläuternde Vorrede vorausgeschickt hat.

III.

Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik [1831].

(S. 339—462.)

Die Handschrift zu den Briefen, die Herbart unvollendet hinterlassen hat, wurde zuerst von G. HARTENSTEIN in Kl Seh II veröffentlicht. Als Vorläufer des Werkes sind, was auch Harten- stein, Richter und Willmann hervorheben (Kl Seh I, lxxxvii, SW X, s. xv. R II, s. xiv und W II, s. 279) die beiden in Band III vorliegender Ausgabe abgedruckten Abhandlungen: „Psychologische Untersuchung über die Stärke einer gegebenen

v Vorrede des Verfassers zum IX. Bande.

Vorstellung als Funktion ihrer Dauer betrachtet" und „Über die dunkle Seite der Pädagogik anzusehen.

Die Aufschrift „Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik" rührt nicht von Herbart, der das Manuskript ohne Überschrift hinterliefs, sondern von Hartenstein her. Da dieser Titel auch in die Ausgaben des Werkes von Richter und WlLLMANN übergegangen und allgemein üblich geworden ist, so ist er auch in vorliegender Ausgabe beibehalten worden, obwohl sich statt Hartensteins Titel die Aufschrift „Briefe über psycho- logische Pädagogik" eher empfohlen haben würde. Wahrschein- lich würde Herbart, der die Bezeichnung: „Psychologische Päda- gogik" für das Gebiet, das die Briefe bearbeiten, geschaffen hat, diesen Titel ebenfalls gewählt haben.

Auch die Zeitangabe [183 1], die im Manuskript ebenfalls fehlt, ist in vorliegender Ausgabe von Hartenstein übernommen wor- den, da sie wohl richtig sein dürfte. Es mufs als sicher ange- nommen werden, dafs Herbart als er an die Bearbeitung des Stoffes ging, die „Psychologie als Wissenschaft" (1825) bereits hinter sich hatte, denn die Rechnungen der Briefe bringen neue Versuche. Das Werk wird in den Jahren 1826— 183 1 entstanden sein und zwar aus der Herbartschen Lehrpraxis heraus in der letzten Periode seines Königsberger Aufenthalts und sicher vor der Zeit der Uebersiedelung nach Göttingen, wo bei Herbart die pädagogischen Studien wohl in Ermangelung praktisch - päda- gogischer Uebungen zurückgetreten sind. Warum Herbart das Werk nicht vollendet hat? Darüber lassen sich nur Vermutungen anstellen. Hartenstein deutet zwei Möglichkeiten an: „Ob er diese Untersuchung, die freilich in eine Tiefe blicken läfst, von welcher die gewöhnliche pädagogische Praxis schwerlich eine Ahnung hat, abgebrochen hat, weil er dazu noch weiter fort- gesetzter psychologischer Untersuchungen zu bedürfen glaubte, wenn man die mathematisch psychologischen Beilagen dieser Briefe mit den psychologischen l 'ntersuchungen vergleicht, möchte man dies für wahrscheinlich halten, oder ob der Umzug nach Göt- tingen ihn von der Fortsetzung und Vollendung dieser Arbeit abgezogen hat, mufs unentschieden bleiben" (SW X, s. XV und xvi); vgl. auch Kl Seh I, s. LXXXVIH und LXXXIX.

III. Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik. XI

Dafs Herbart, der nie an die Niederschrift seiner Arbeiten ging ohne bis ins Einzelne alles zuvor im Kopfe erwogen zu haben und der sich immer vollständig klar war über den Umfang des Rüstzeuges, das er brauchte, „noch weiter fortgesetzter psy- chologischer Untersuchungen" für den Abschlufs des Werkes be- durft hätte, scheint nicht wahrscheinlich, viel eher kann man an- nehmen, dafs ein äufserer Grund und zwar seine Berufung nach Göttingen oder wahrscheinlicher schon vorher die an den Tod Hegels (14. November 1831) geknüpften Hoffnungen auf eine Berufung nach Berlin, den Fortgang des Werkes unterbrochen haben. Das sorgfältig gearbeitete Manuskript macht den Ein- druck als wenn es in einem stetigen Flusse geschrieben worden wäre. Man kann daher annehmen, dafs Herbart, nachdem er in den Jahren vorher während seiner Seminarpraxis die Materialien gesammelt und gesichtet, im Jahre 1831 die Niederschrift be- wirkt hat.

Die „Briefe" sind, obwohl auch hierüber eine Angabe im Manuskript fehlt, an Herbarts Freund den Prof. Dr. Griepen- kerl in Braunschweig gerichtet. Hartenstein, der in Kl Seh als den Adressaten „jedenfalls Herrn Prof. Griepenkerl" be- zeichnet, unterläfst in SW eine hierauf bezügliche Mitteilung. Für Richter und Willmann (R II, S 1 und W 11, S. 291) ist es mit Recht unzweifelhaft, dafs die Briefe für Griepenkerl (geb. 1782 in Peine, gest. 1849 als Professor des Karolinums zu Braunschweig) bestimmt gewesen sind.

Griepenkerl wurde von Herbart, wie aus der oben erwähn- ten Abhandlung über die dunkle Seite der Pädagogik, die als ein Vorläufer der Briefe gelten kann, hervorgeht, sehr hoch geschätzt. Herbart hofft von ihm „verbesserte und erweiterte pädagogische Einsichten" zu erhalten (vgl. Vorliegende Ausgabe Bd. III, S. 153, Anmerk.). Dafs die Briefe an Griepenkerl, dessen Briefwechsel mit Herbart leider verloren gegangen zu sein scheint, gerichtet sind, darf geschlossen werden aus der Bemerkung des zweiten Briefes , „noch ehe Sie in die Schweiz gingen'' denn Griepen- kerl war längere Zeit bei Fellenberg in Hofwyl als Lehrer thätig und als in Hofwyl befindlich wird er auch von Herbart in der Abhandlung über die dunkle Seite genannt. Auch Her-

XII Vorrede des Verfassers zum IX. Baude.

barts häufige Bezugnahme auf Ästhetik führt ebenfalls auf Griepenkerl als den Adressaten, denn Herbart verehrte in ihm, dem Verfasser eines Lehrbuchs der Ästhetik, eine Autorität in Fragen der Ästhetik. (Siehe unten S. 1 1 8 Anmerkung.) Dafs auch nach 1831 innige wissenschaftliche Beziehungen zwischen Herbart und Griepenkerl bestanden haben, beweist der Umstand, dafs Her- bart seine 1836 erschienenen Briefe „Zur Lehre von der Freiheit des menschlichen Willens" Griepenkerl gewidmet hat.

Dem vorliegenden Abdrucke hat die von Herbarts Hand her- rührende sorgfältige Niederschrift zu Grunde gelegen. Das Manu- skript (Nr. 2054) besteht aus 274 Quartseiten. Geändert wurde nur S. 369, Z. 21 Untersuchungen . . . statt . . . des Singulars „Unter- suchung". Die Abweichungen der Hartenstein sehen Ausgabe (SW), deren Text von Richter und Willmann übernommen wurde, sind im Texte angegeben worden.

Nur einige offenbare Druckfehler und kleinere Abweichungen im Sprachgebrauch, Orthographie und Interpunktion der Ausgabe SW wurden im Texte nicht angegeben; z. B. S. 343, S. 1 v. o. SW der Weiterkommens . . . statt . . . des Weiterkommens . . SW druckt etwa . . . statt . . . etwan, . . . Piaton . . . statt . . . Plato, . . . darein, worein . . . statt . . . darin, worin, . . . Gränzen . . . statt . . . Grenzen, . . . Mis . . . statt . . . Mifs. SW läfst das e aus, setzt „weitern" . . . statt . . . „weiteren", ,,äufsern'< . . . statt . . . ,,äufseren". „Eingehn" . . . statt . . . „Eingehen11 u. s. w. Das h läfst SW aus in „hohlen'1, „Willkühr", „allmählig" u. s. w. Zusammengesetzte Substantive schreibt SW in einem Worte, wo das Original 2 Worte bildet, also: Anschauungs- übungen . . . statt . . . Anschauungs-Übungen u. s. w. u. s. w.

Berlin, im Mai 1897.

Prof. Dr. Karl Kehrbach.

Inhalt des neunten Bandes.

Seite

Vorrede des Herausgebers 2U den Schriften des neunten Bandes . V— XII

I. Über die Unmöglichkeit, persönliches Vertrauen im Staate durch

künstliche Formen entbehrlich zu machen. Rede gehalten in der Königlichen Deutschen Gesellschaft zu Königsberg am Krönungstage

den 18. Januar 1831 r *5

II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831 i"— 338

Erster Abschnitt. Elementarlehre 24—200

Erstes Kapitel. Vom praktischen Bedürfnisse der Philosophie . . 24—46 Zweites Kapitel. Vom Menschen in seiner Gebundenheit an die Natur,

den Staat und die Kirche 46_ 57

Drittes Kapitel. Von den Begriffen der Güter, Tugenden und Pflichten 57—^5

Viertes Kapitel. Vom Bedürfnisse der Religion 66 78

Fünftes Kapitel. Vom Unterschiede des moralischen und ästhetischen

Urteils 78—84

Sechstes Kapitel. Vom Unterschiede der ästhetischen und theoretischen 85—92

Siebentes Kapitel. Von der Kunst und dem Künstler 92 98

Achtes Kapitel. Von der nützlichen Kunst 98 104

Neuntes Kapitel. Von der schönen Kunst io5 IX°

Zehntes Kapitel. Von der gelehrten Kunst IJ8 125

Elftes Kapitel. Von der Staatskunst 125 136

Zwölftes Kapitel. Von der Erziehungskunst x37 I5I

Dreizehntes Kapitel. Von der geistigen Regsamkeit 15 l *59

Zusatz 159-163

Vierzehntes Kapitel. Vom Leben . . I^i I72

Fünfzehntes Kapitel. Von der Materie x73 x8i

Sechzehntes Kapitel. Von der Seele und vom Ich 193 2°°

Zweiter Abschritt. Methodenlehre 2QI 338

Erstes Kapitel. Von der Logik 201 215

Zweites Kapitel. Von der Vernunftkritik 2ID 225

Drittes Kapitel. Von der Fundamental-Philosophie 225 233

Viertes Kapitel. Vom System der Philosophie im Allgemeinen . . 233—244

1 In der II. Ausgabe entspricht dem 16. Kapitel das 18. Kapitel . 193—200 Die Überschriften zu den eingeschobenen Kapiteln 16 und 17 der II. Ausgabe lauten

Sechzehntes Kapitel. Von den Imponderabilien . 182—185

Siebzehntes Kapitel. Von der geistigen Ausbildung 185 193

XIV

Inhalt des neunten Bandes.

Seite

Fünftes Kapitel. Von der allgemeinen Metaphysik 244 254

Sechstes Kapitel. Von dem Verhältnisse der Metaphysik zu andern

philosophischen Wissenschaften 25c 268

Siebentes Capitel. Von der Psychologie 269 280

Anmerkung. Vom Uebergange aus der Mataphysik in die Psychologie 281 282

Achtes Capitel. Von der praktischen Philosophie 283 304

Neuntes Capitel. Rückblicke, und Bemerkungen über die Form der

Philosophie 304—338

III. Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik.

[l83i] 339-462

1- Brief 341-343

2- Brief 343-346

3- Brief 346—350

4- Brief 350-357

5- Brief 357-359

6- Briet 359-363

7- Brief 363-365

8. Brief 365—366

9- Brief 366—369

10. Brief 369—372

11 Brief ' 372-374

I2- Brief 374-376

J3- Brief 376-377

r4- Brief 378—381

J5. Brief 381—383

l6- Brief 383—386

»7- Brief 386—389

l8- Brief 389 392

x9- Brief 393~394

20. Brief 394—396

21- Brief 396—400

22- Brief 401—403

Beilage. Ueber die zugleich steigenden Vorstellungen .... 403—407

23- Brief 407—410

24- Brief 410—412

25- Brief 412—415

26- Brief 415—417

Beylage 417—422

27- Brief 422—427

28- Brief 427—430

29- Brief 430-433

3°- Brief 433-436

3'- Bricf 436-437

Beilage. Ueber freies Steigen verschmolzener Vorstellungen . . 437—453

32' Brief 453-455

"• Brief 455-459

34- Bnef 459-461

35- Brief 461—462

I.

ÜBER DIE

UNMÖGLICHKEIT, PERSÖNLICHES VERTRAUEN IM

STAATE DURCH KÜNSTLICHE FORMEN

ENTBEHRLICH ZU MACHEN.

REDE

gehalten in der Königlichen Deutschen Gesellschaft zu Königsberg am

Krönungstage den 18. Januar

l83I.

[Text nach SW, Bd. IX. S. 221—240.]

Bereits gedruckt:

KlSch = J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. II), herausgegeben von G. Harten- stein.

Herbart's Werke. IX. I

Vorwort.

Jedes Volk mufs an seine Obrigkeit glauben, so lange es kann; denn es bedarf ihrer. Der Glaube ist ein praktisches Postulat, das heifst, er geht dem Beweise voran; ja er braucht keinen eigentlichen Beweis, sondern nur Bestätigung. Die Obrigkeit wird ihn bestätigen, indem sie, ohne Vorgunst, alle vernünftigen Bestrebungen des Volkes als eine Gesamt- heit auffafst, ordnet und sich denselben in fortwährender Fürsorge hilf- reich beweiset.

Macht und Ansehen, die notwendigen Grundlagen der Obrigkeit, sind allemal für den Staat etwas Vorgefundenes, das, wenn schlecht gehütet, zwar bald zerstört, aber niemals nach Willkür wieder geschaffen werden kann. Wieviel Willkür sich einmischt, soviel ist an der Macht verdorben. Dasjenige Volk, welches damit experimentiert, giebt sich einer gebieterischen Notwendigkeit preis, die nicht lange auszubleiben pflegt.

Die Erkenntnisbegriffe der allgemeinen Staatslehre sind sehr ver- schieden von den Musterbegriffen. Jene führen auf allgemeine theoretische Untersuchungen über die Naturgesetze, nach denen streitende geistige Kräfte (teils in einzelnen Personen, teils in der Gesellschaft,) sich all- mählich ins Gleichgewicht setzen. Dafs die mathematische Psychologie in die Staatslehre eingreift, ist am gehörigen Orte gezeigt worden.1 Völlig unabhängig davon bestehen die Musterbegriffe, oder, wie man gewöhnlich sagt, die praktischen Ideen; ja sie haben den Vorzug, die Zzuecke zu ver- deutlichen, während jene theoretischen, oder Erkenntnisbegriffe nur dienen, um in Verbindung mit der Geschichte und Erfahrung die Mittel zu den Zwecken leichter aufzufinden, und den Hindernissen zu begegnen. Aber auch unter einander müssen die praktischen Ideen genau abgeson[2 24]dert werden,* bevor alsdann, nicht durch Vermengung, und ebensowenig mit einseitiger Betrachtung (gemäfs den gewöhnlichen Fehlern), sondern durch Zusammenfassung aller Ideen, das eigentlich moralische Urteil über Personen und Staaten gewonnen wird.

Diese allgemeinen Sätze können zur Vorbereitung genügen. Wenn der Leser schärfer prüft, als vom blofsen Hörer zu erwarten stand: so wird ihm auch nicht entgehen, dafs der nachstehende Aufsatz manches enthält, was vielleicht nur unter der Regierung unseres Königs, Friedrich

* Allgemeine praktische Philosophie, Göttingen, 1808. Der Verfasser schrieb das Buch, ehe er noch daran denken konnte, in den preufsischen Staatsdienst zu treten.

1 Psychologie als Wissenschaft, Teil 2, Einleitung. Bd. VI vorl. Ausgabe. Anmerkung d. Herausgebers.

T *

I. Über die Unmöglichkeit, persönliches Vertrauen im Staate etc. 183 1.

Wilhelm des Dritten, so gedacht, so gefühlt und darum so geschrieben und ausgesprochen werden konnte.

Hohe, Höchstgeehrte Anwesende!

Zurückschauend auf zwanzig verflossene Jahre, in welchen mir nicht ganz selten die Ehre des öffentlichen Wortes an unsern beiden Festtagen übertragen wurde, erinnere ich mich den Glanz der preufsischen Krone meistens wie vom heitern Sonnenlichte verstärkt, doch zuweilen auch wie aus einem mehr oder weniger dunkeln Hintergrunde hervorschimmernd erblickt zu haben. Heute aber scheint sie mir zu leuchten mit einer Kraft des eigenen, reinen Lichtes, wie niemals zuvor. Zwar bemerken wir etwas von mehr als gewohnter Bewegung unserer Truppen ; aber wir wissen, wir fahlen es tief: der Grund dieser Bewegung ist nicht bei uns ein- heimisch. Zwar berichtet uns die Zeitung eine unsinnige Fabel, deren Gegenstand unsre Stadt soll geworden sein; aber es scheint, man habe uns das Vergnügen schaffen wollen, unsre Ruhe doppelt angenehm zu empfinden. Wem verdanken wir diese Ruhe? Etwa einer künstlichen Maschine, dergleichen man in andern Staaten zu erbauen versucht hat, um aus getrennten Gewalten ein Gleichgewicht zusammenzusetzen, das um desto ängstlicher bewacht wird, weil die Maschine sich unaufhörlich bewegen, und stets verän[225]derten Umständen entsprechen mufs? Solche Kunst kennen wir wohl in der Theorie, aber die Praxis würde uns neu sein; und ich zweifle, ob sie uns erfreuen könnte. Es mag gewagt, dreist, un- zeitig scheinen, wenn ich heute gerade diesem Zweifel einen unvollkommenen mündlichen Ausdruck zu geben versuche; allein ich hatte nicht lange Zeit, meinen Gegenstand zu wählen, und der nächste schien mir der beste. Oder kann uns etwas näher liegen, als die Dankbarkeit, womit wir unseres Königs ehrfurchtsvoll gedenken? Eine lebendige Person ist's, die uns schützt; ein lebendiger Geist, der entfernte Provinzen mit uns vereint; ja ein langes fleckenloses Leben, eine lange wohlthätige Regierung war nötig, wenn das öffentliche Vertrauen den hohen Grad erreichen sollte, durch welchen in unsrer prüfenden Zeit die preufsische Monarchie zusammengehalten wird. Diese, schon durch frühere grofse Herrscher vorbereitete, also keinesweges von selbst vorhandene, sondern während einer langen Jahres- reihe allmählich geschaffene Wirklichkeit ist's, die mir vorschweben wird, auch wann ich in abgezogenen Begriffen das Vertrauen als einen Gegen- stand des Denkens zu betrachten, und die künstlichen Formen ihm ent- gegenzustellen unternehme. Theoriker werden mir einwenden, persönliches Vertrauen setze Personen voraus, denen man trauen könne; das Vor- handensein solcher Personen aber sei ein Glück, dessen man sich erfreuen möge, wenn man es besitze; hingegen der Staat sei stets da, und stets notwendig, nun aber könne man das Notwendige nicht dem Glücke anvertrauen; daher sei die Aufgabe zur Sprache gekommen, ob nicht eine so künstliche Form des Staates könne erdacht werden, dafs auch wo das Vertrauen fehle, dennoch durch Aufhebung der streitenden Interessen mitten aus den Gesinnungen des Eigennutzes eine Gesamtwirkung hervor-

I. Über die Unmöglichkeit, persönliches Vertrauen im Staate etc. 183 1.

gehe, ähnlich der eines Staates, in welchem das Vertrauen herrscht und das Ganze belebt. Von solcher Theorie darf ich nicht wegwerfend reden; denn es lassen sich berühmte Männer angeben, die sich mehr oder weniger ernstlich damit beschäftigten. Doch gestehe ich, dafs nicht erst jetzt, sondern schon in meinen Jüngern Jahren, mir immer die Chemiker dabei einfielen, die allerlei Versuche anstellten, um Blut zu machen! Eine künstliche Mischung, von Menschenhänden bereitet, wie man jetzt Mineral- wässer bereitet, sollte Blut darstellen! Was für Blut? ich weifs es nicht, aber soviel ist bekannt, dafs zu [226] jeder Art desselben ein eigner animalisch lebender Leib gehört, und dafs keine Gattung von Tieren ohne die höchste Gefahr die Transfusion des Tierblutes von einer fremden Gattung ertragen kann. Das künstliche Blut also, gesetzt auch, dessen Verfertigung wäre gelungen, hätte nur einem künstlichen Tiere angehören können; allen unsern wirklich lebenden Wesen wäre es Gift geworden. Wo aber ist der Staat, wo ist das Volk, dem man infolge blofser Theorie eine künstliche Einrichtung geben könnte, ohne sich um das wirkliche, lebendige, gerade jetzt vorhandene Vertrauen, das die Menschen unter sich verknüpft, zu bekümmern? Ich weifs es nicht. Die fremde Kunst, so fürchte ich, möchte sich in fremdes Gift verwandeln, das dem wirklichen Staate wäre in seine Adern eingespritzt worden.

Erlauben Sie jetzt, höchstgeehrte Herren ! dafs ich mir den Gegen- stand der Betrachtung mehr in seine Teile zerlegt vergegenwärtige. Zu- erst auf den Staat sollen meine Gedanken sich richten. Im wohlgeordneten Staate finden wir unstreitig allemal künstliche Formen; denn seinen Be- we<mno-en, mannigfaltig wie sie sind, ist überall Mafs und Ziel vorgeschrieben, durch Gesetze, deren Zusammenhang nicht ohne grofse Kunst zu er- reichen steht, und durch Sitten, welche in den Familien während eines langen Laufes der Zeit unter Mitwirkung der Kirche und der Schulen sich bildeten. Die Gesetze jedoch machen nicht überall durch militärischen Zwang sich gelten; sondern im starken Kontraste gegen das Kriegsheer sehen wir die Wirksamkeit der Geistlichen und der Arzte sehr abhängig vom Vertrauen; und auch die Gerichtshöfe und die Männer der Ver- waltung erblicken wir umgeben von einem Vertrauen, das, wo es in irgend einem Punkte wanken möchte, gleich mit bitterem Schmerze würde ver- mifst werden. Je höher wir nun von unten herauf die Stufen des Staats hinansteigen, desto weniger mögen wir den Gedanken ertragen, dafs irgend- wo das Vertrauen aufhören könnte, uns von dem minder Wichtigen zu dem mehr Entscheidenden und weiter Umhergreifenden zu begleiten; und dafs wohl irgendwo ein Surrogat zur Hilfe kommen müfste, um das Fehlende zu ersetzen. Dort oben kreuzen sich alle Gesichtslinien; denn nach oben hin schauen alle, nach oben rufen alle, welchen drunten, bei ihren kleinen Angelegenheiten, bei ihren ] engern geselligen Kreisen, etwas fehlt, so dafs ihnen Rat und Hilfe nötig wird.

[227] Hier habe ich einen Punkt berührt, aufweichen nötig sein möchte, die Aufmerksamkeit für einen Augenblick zu heften. Familien, Gemeinden, Dörfer, Städte, Provinzen, entstehen nicht aus dem Staate, sondern er ent-

1 kleinern Angelegenheiten, in ihren ... Kl Seh.

1. Über die Unmöglichkeit, persönliches Vertrauen im Staate etc. 1831.

steht aus ihnen, und sie würden bleiben, sie müfsten ihren innern Zu- sammenhang behalten, selbst wenn die Staatsform sich änderte. Es giebt eine irrige Ansicht der Staatslehre, welche das umzukehren scheint, so, als ob sich von oben her nach unten hin der Staat bildete und in solcher Ordnung sich beschreiben liefse. Es giebt einen falschen Gebrauch der allgemeinen Begriffe, welchen man der Logik nachahmen will, die freilich das Allgemeinste voranzustellen pflegt, um demselben ein Merkmal nach dem andern, stets näher und näher bestimmend, beizufügen. In der An- gewöhnung, das Reale mit dem Allgemeinen zu verwechseln, und die Be- trachtung des Realen von den obersten Begriffen anzufangen, liegt ein Hauptgrund der Klagen, dafs vielfältig die Theorie nicht zur Praxis passen wolle. So hat man unter andern die Lehre von der menschlichen Seele bei dem Ich angefangen, in der Meinung, man könne dieses Ich allmählich mit allerlei Vermögen begaben, und weiter und weiter bestimmend und spaltend den Vermögen, als wären sie allgemeine Begriffe, andre unter- ordnen; z. B. dem Erkenntnisvermögen die Vernunft und die Sinnlich- keit, der Vernunft die theoretische und praktische, der Sinnlichkeit den äufsern und innern Sinn, und so fort. Dem ähnlich ist man auch mit der Materie verfahren, als gäbe es erst Materie überhaupt, woraus dann weiter starre und flüssige Körper hervorgingen. So nun erscheint auch der Staat wohl manchem, als könnte er ihn aus einem sogenannten all- gemeinen Willen construieren, alsdann die Macht ihm einpflanzen, darauf Gesetze geben, und nun gleichsam aus den Gesetzen die verschiedenen Stände, aus den Ständen die Menschen erzeugen, welche nur dazu da wären, um den solchergestalt ausgesonnenen Staat zu realisieren. In der wirklichen Ordnung der Dinge ist das alles umgekehrt. Wir haben früher einzelne Vorstellungen, und ein Zusammenwirken derselben, ehe und be- vor aus diesem Zusammenwirken dasjenige entsteht, was man, unter dem Namen des Anschauens und Denkens, unrichtig genug der Sinnlichkeit und der Vernunft beilegt, und vollends ehe unser Selbstbewufstsein, unser Ich möglich ist; es giebt früher starre Körper, ehe sich um dieselben eine Atmosphäre [228] von Luftarten und von Dämpfen sammeln kann, aus welchen letztern erst der Druck entsteht, der die Flüssigkeiten zusammenhält. So auch fängt in der Wirklichkeit der Staat nicht an beim allgemeinen, auf ihn gerichteten Willen, sondern die Menschen haben früher Privatverhält- nisse, ehe sie an öffentliche Angelegenheiten denken können, und es mufs früher eine Macht, oder mindestens eine Auktorität da sein, ehe es den Menschen einfallen kann, die Macht zu Hilfe zu rufen, wo ihnen in ihren kleinern Kreisen etwas fehlt. Wäre dies nicht: was sollten wir von einer Provinz denken, die so häufig ein Staat dem andern bei Friedenschlüssen überläfst, mit der Anweisung an die Unterthanen, fortan dem neuen Herrn, der sie zu schützen nunmehr übernommen habe, Gehorsam und Treue zu beweisen? Ein Blick auf die preufsische Monarchie zeigt sogleich, dafs solche neue Glieder allerdings dem Ganzen anwachsen können," sobald sie, was freilich die Bedingung war, einen Herrn finden, zu welchem sie Verträum fassen, um bei ihm Trost und Hilfe zu suchen. Nur in solchen Fällen, wo das Vertrauen nicht übertragen, nicht gewonnen, vielleicht selbst nicht ernstlich gesucht, oder auch um alter

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Erinnerungen willen verweigert wird, sehen wir Unglück über Unglück aus mifslungener Verschmelzung verschiedenartiger Provinzen entstehen.

Nach diesen Vorerinnerungen lassen Sie uns die Hauptfrage wieder ins Auge fassen: ist es möglich, dafs künstliche Formen Ersatz leisten, wenn im Staate das persönliche Vertrauen fehlt? Mit der entschiedensten Überzeugung spreche ich: Nein. Vielmehr gerade umgekehrt, wo die Formen weniger ausgebildet sind, da vermag persönliches Vertrauen sie zu ersetzen. Diesen letztern Satz wollen wir nun zunächst überlegen; er wird dann Licht auf den entgegenstehenden werfen.

Die Bewegung im Staate geht, wie vorhin bemerkt, ursprünglich von unten nach oben, und wo sie von oben herab kommt, ist sie als eine rückkehrende, erwiedernde zu betrachten. Die Menschen bilden zuerst und zunächst kleinere Kreise; in Familien, Dörfern, Städten brauchen sie Ordnung und Schutz; sie brauchen Richter, Geistliche, Ärzte, und für den Notfall Bewaffnete; darum werden ihnen geprüfte und tüchtige Männer hingestellt, die allenthalben, in den kleinsten Teilen des Staats, das rechte Leben erhalten, welches alsdann von selbst mit einigem Glänze leuchtend in den höhern Gesellschaftskreisen hervor[2 29]tritt. Von einem verschwenderischen, nur für seine Üppigkeit das Land aussaugenden Hofe wissen wir nichts; giebt es und gab es anderwärts dergleichen, so ist das uns fremd, wie es dem Begriffe des Staats fremd ist. Ist nun jene auf- und wieder absteigende Bewegung im gehörigen Gange, und wird sie be- seelt vom Vertrauen, so äufsern sich die Wünsche, darauf folgen die Er- kundigungen, Berichte werden gefordert und erstattet, der aufmerksamen Frage entspricht die offene Antwort; aus der Sammlung aller eingelaufenen Antworten entspringt die Kenntnis der Bedürfnisse, nämlich der wahren, sowohl sittlichen als natürlichen Lebensbedürfnisse, wovon die launen- haften Wünsche, die eigensinnigen Forderungen, an denen es niemals fehlt, wo einmal die Willkür Spielraum findet, sorgfältig zu unterscheiden sind. Nun wird überlegt, welche Hilfsmittel der Boden, der Fleifs, der Handel darbieten mögen, und wie sie am schicklichsten können verteilt werden. Ist die Natur karg, (und die unsrige spendet ihre Gaben nicht eben frei- gebig!) ist das Bedürfnis grofs, (und die militärische Stellung unsres Staats gebietet Spannung!) so kann nicht ohne Mühe, nicht ohne An- strengung, nicht ohne Versagungen das Wünschenswerte herbeikommen und sich wieder verteilen. Wäre aber die Herrschaft schwach, müfste sie für sich selbst besorgt sein, könnte sie als ein Geschöpf der Willkih auch willkürlich verdrängt zu werden Gefahr laufen: dann würde eine solche Herrschaft ihre wahren Bemühungen nicht der bürgerlichen Gesellschaft zuwenden, sondern nur scheinbar etwas thun, um auf dem kürzesten Wege die Meinung für sich zu gewinnen. Ein Herrscherstamm mufs stehen wie ein Baum, den Jahrhunderte ernährten, prüften und be- festigten. Er mufs stehen wie der unsrige, welchen, wenn das Glück ihn nicht gegeben hätte, keine menschliche Weisheit erfinden, keine Gewalt erzeugen könnte. Auf einen solchen Herrn aber, wie unser König ist, richtet sich das Vertrauen, und es empfängt alsdann soviel Hilfe, als der Vorrat gestattet.

Wieviel nun die vorhandenen Formen dazu mögen beigetragen haben,

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dafs eine so wohlthätige auf- und absteigende Bewegung sich bilden konnte, dies mafse ich mir nicht an, genau zu durchschauen. Nur soviel glaube ich zu erkennen, dafs hiebei auf die Zusammenwirkung aller Beamten, durch welche Bericht von den Bedürfnissen des Volks eingezogen [230] wird, das Meiste ankommt. Sie sind die vermittelnden Organe des Verkehrs zwischen dem Herrn und dem Volke. Über sie werden in fremden Ländern Klagen genug vernommen; ihre Verantwortlichkeit sucht man auf alle Weise zu schärfen; die Minister, so redet man, haben das verschul- det, was man dem Herrn nicht zur Last legen will. Der König, so sagen die Fremden, kann nicht Unrecht thun. Aber um solche Reden führen zu können, binden diese Fremden ihren Königen die Hände, und möchten sie am liebsten gar nicht handeln lassen. So stark ist das Bedürfnis des Vertrauens, dafs man den Schein noch sucht zu retten, wo man schon die Wirklichkeit verloren giebt, und sie vielleicht kaum jemals vollständig so kannte, wie wir sie kennen. Aus solchem Boden kommen die ausländi- schen, spitzfindig ersonnenen, künstlich unterhaltenen, niemals zuverlässigen Formen, in welche sich Minister fügen, die nicht wissen, ob sie ein Jahr lang ihren Platz behaupten werden, und keinem ihrer untergebenen Be- amten eine längere Dauer seiner Stellung, ja nicht einmal dem einzelnen unternehmenden Bürger die Lage der Dinge versichern können, worauf rechnend er seine Einrichtungen getroffen hat. Doch wir wollen für jetzt wenigstens unsre Augen von einer fernen, traurigen Wirklichkeit abwenden.

Dürfte man sich ein ideales Bild von der Zusammenwirkung aller Beamten entwerfen, so wäre hiemit, unter Voraussetzung des allgemeinen und gegenseitigen Vertrauens, wenn nicht die bequemste, so doch die einfachste Form des Staatslebens gefunden. Denn was will man mehr, als treuen und vollständigen Bericht an den Herrn von den sämtlichen wahren Bedürfnissen des Volks? Und geschickte Ausführung der auf solchen Bericht erfolgenden Befehle? Was will man mehr? Man wird ja doch den Herrn nicht zzvifigen wollen ; welches die Ungereimtheit selbst wäre; denn gesetzt, der Zwang sei auch nur denkbar, so hebt schon der blofse Gedanke die Zuverlässigkeit der Herrschaft auf, und der feste Punkt verschwindet, woran alles im Staate soll angelehnt und angeheftet werden. Zwar hört man in Theorien von einer Teilung der Gewalt; aber giebt es je ein wunderliches Mifsverständnis, so ist es dies. Ge- teilte, in sich selbst mifshellige Gewalt wäre gar keine; in jedem ge- ordneten Staate aber ist notwendig die wahre Gewalt irgendwo, gesetzt auch sie wäre nicht da zu [231] finden, wo man sie dem Namen nach sucht. Oder ist sie nirgends gesichert, so ist der Staat nicht geordnet, und führt selbst seinen Namen mit Unrecht; denn das Wort Staat verkündet einen festen Stand der Gesellschaft, und dazu gehört Macht.

Weit treffender könnte man sagen, zum Ideale des vollkommenen Beamtenstandes gehöre etwas viel Höheres, als blofs die Fähigkeit und der Wille, Berichte zu erstatten und die darauf erlassenen Befehle aus- zuführen. Vielleicht sollte der Herr nicht nötig haben, sich um das Kleinere der Geschäfte zu bekümmern; vielleicht sollte er darauf rechnen können, es gehe von selbst unter den Händen der Beamten seinen not- wendigen Gang infolge der einmal vorhandenen Gesetze. Und da sich

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zwischen dem Kleinern und dem Gröfseren keine feste Grenze ziehen läfst, so käme man durch Erweiterung jenes Gedankens endlich dahin, dafs dem Herrn nur noch eine bald da bald dort eindringende Aufsicht übrig bliebe, um sich zu überzeugen, dafs alles noch fortwährend im rechten Gange sei und verharre. Oft genug hört man ja auch von solchen Ländern, in welchen ohne besondere Energie des Regenten die Regierung ruhig und richtig fortgeht, weil eben die Beamten es im Stillen übernommen haben, die Geschäfte zu führen, und die Mängel der Herr- schaft zu decken.

Ohne nun die Sprache des Mifstrauens zu erheben, ohne dadurch die natürliche Wechselwirkung des Volks, des Herrn und der Beamten zu stören, könnte man vielleicht bemerken, es sei den Geschäften der Beamten, ja selbst ihrer unmittelbar abhängigen Stellung nicht ganz an- gemessen, auf sie allein wegen der Berichte zu rechnen, durch welche es dem Herrn stets möglich sein soll, die genaueste Kenntnis von den Be- dürfnissen des Volks vor Augen zu haben. Die Beamten, könnte man sagen, geben in der Regel nur Antwort, nachdem sie gefragt wurden; und nur die dringendste Not, welcher zu helfen vielleicht viel zu spät ist, wird sie dahin bringen, auch das Ungefragte da vorzutragen, wo es gehört werden sollte. Dies erinnert an die uns wohlbekannte Institution der Stände und der Landtage; und die schuldige Ehrerbietung fordert anzunehmen, dafs hierin ein bequemeres und vollständigeres Mittel sei gefunden worden, um eben dasselbe zu erreichen, was zuvor einem idealen Beamtenstande zugeschrieben wurde. Ein solcher Gegenstand liegt aufser dem Kreise meiner jetzigen [232] Betrachtung; und ich erwähne dessen nur, um das Folgende gegen eine unerwünschte Auslegung su sichern. Für jetzt wird es genug sein, die Stände und Landtage als die mehr ausgebildete Form zu bezeichnen, durch welche bequemer und würde- voller das nämliche geschieht, was sonst unscheinbarer, doch der Haupt- sache nach durch die Berichte der Beamten, sofern eben sowohl das Volk als der Regent ihnen vertrauet 'e, war geleistet worden.

Ganz anders aber gestaltet sich diese Betrachtung, sobald das Mifs- trauen sich einmischt; das Mifstrauen, dessen furchtbare Stimme unser Ohr nicht erreicht, jedoch unsre Augen durch die stummen Zeichen er- müdet, wodurch die öffentlichen Blätter zu uns reden. Wen verschont das Mifstrauen? Schont es den Herrn? Schont es die Beamten? Schont es auch nur die, welche durch Volkswahlen als öffentliche Sprecher her- vorgehoben wurden? Nur einen Teil verschont es, nämlich den, welchem es schmeicheln mufs, um doch irgendwo Gehör zu finden; das Volk. Und wer horcht lieber auf die Reden der Schmeichler, als das Volk? Wenn schon sehr viel moralische Bildung dazu gehört, damit ein König sich taub zeige gegen alle Schmeichelei, was für eine Volksbildung wäre nötig, um ein Volk taub zu machen gegen die süfse Rede von seinem souveränen Willen ? Wenn ein König spricht : der Staat, das bin ich ! so erwacht irgend einmal der lebhafteste Widerspruch; aber wo ist die öffentliche Meinung, welche Lust hätte, sich mit Nachdruck gegen den gefährlichen Satz zu erheben, das Volk sei der wahie Souverän? Und doch ist dieser Satz gefährlich; er kann nur auf einem niedern, blofs

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juristischen Standpunkte, für das Gebiet der Abstraktion mit einigem Grunde verteidigt werden ; aber man hat sich noch nicht der rollen, zur Praxis nötigen Wahrheit bemächtigt, so lange man etwa jenen Satz als Bollwerk gegen die bekannten Meinungen der Stuarte aufstellt, welche das Volk als einen Gegenstand beti achteten, der ihrer Willkür untergeben sei. Nirgends soll Willkür sein; überall soll die Pflicht herrschen. Weder unten noch oben in der Gesellschaft hört das Sollen auf; wir alle, ohne Ausnahme, sollen auf unsern Posten stehn, und es ist durchaus nicht er- laubt, den Staat als Werk eines beliebigen Kontrakts zu beschreiben. Rousseau mag für seine Person Entschuldigung finden; aber für seine Lehre giebt es keine halt[233]bare Verteidigung. Es heifst die wahre Natur des Staates auf den Kopf stellen, wenn man ihn nach Art einer Handelsgesellschaft betrachtet, die auf gröfsten gemeinsamen Gewinn aus- geht, und die sich wohl nach Belieben auflösen könnte, wenn andre Hoffnung auf gröfsern Vortheil sich ihr eröffnete. Man wird sich, wenn das eben Gesagte Befremden erregt, nur nötig haben zu erinnern, dafs Frankreich seine Verirrung einst so weit trieb, auch die Ehe für einen blofsen bürgerlichen Kontrakt zu erklären. Dagegen hat sich längst der gesunde Verstand empört, und begriffen, dafs Verbindungen, woran die Natur den ordnungsmäfsigen Zuwachs des menschlichen Geschlechts ge- knüpft hat, sich einer strengen Überlegung aller Pflichten unterworfen finden, welche aus solcher Naturordnung entspringen. Nicht minder ver- pflichtet ist jedes Volk. Es soll seine Geschichte fortsetzen. Es soll in jedem Moment die nächsthöhere Stufe seiner sittlichen Veredelung er- streben, wenn es kann; wo nicht, wenigstens die jetzige als feste Basis den Nachkommen überliefern. Hier ist nichts von Willkür eines Kontrakts, sondern der Verein des Volks in Sprache, Kirche, Gesetz und Sitte ist ein gegebenes Werk der Natur, und das Gebot der Pflicht schreibt die Bewegung vor, zu welcher man vereinigt ist.

Kennt das Volk die wahre und volltönende Stimme der Pflicht, dann nur, und lediglich unter dieser Bedingung, vermag es eine öffentliche Meinung zu bilden, welche im stände ist, dem Regenten Achtung ein- zuflöfsen. Nicht Furcht, wohl aber Achtung, kann und darf dem Herrscher, so mächtig er ist, Rücksichten auf die Wünsche des Volkes abgewinnen, die noch über das Gesetzliche und offenbar Pflichtmäfsige hinausgehen. Verdient das Volk, dafs man es achte, versteht es ein wahres, gerechtes, kluges Urteil zu fällen, verschmähet es die Vorspiegelungen der Schmeichler, durchschaut es die Künste der Lüge, sucht es in regelmäfsiger Arbeit die Quelle seines Wohlstandes, weifs es zu schätzen, was eine väterliche Regierung ihm leistet, hütet es sich, die Person wegen solcher Übel an- zuklagen, die aus unabwendbaren Umständen entspringen, ist es beharrlich in seinem Vertrauen für geprüfte Männer, tapfer in der Abwehr un- gerechter Angriffe, mäfsig und behutsam in seinem Streben nach Ver- besserung: dann allerdings hängt Ehre und Schande an seinem Urteil; und mit der Ehre setzen sich von selbst [234] die Handlungen des klugen, des vernünftigen, vollends des zartfühlenden Machthabers in Ein- stimmung. Aber auch der nur leidlich verständige wird sich lenken lassen; abgerechnet von unseligen Ausnahmen, dergleichen allerdings die

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Zeitgeschichte uns nicht hätte aufdringen sollen. Freilich aufserhalb der preufsischen Grenzen erblicken wir solche Ausnahmen. Freilich wo das Mifstrauen in klare, unwiderlegliche Überzeugung sich verwandelt, da ist's kein Wunder, wenn auf künstliche Formen gesonnen wird, die ein Anker in der Not sein sollen. Wer den Schiflbruch zu fürchten hat, der sucht sich zu helfen; er mag froh sein, wenn er nicht untergeht im Sturme. Aber gesetzt, sein nacktes Leben sei gerettet durch seine Vor- kehrungen: vermag er damit auch die heitere Sonne am Himmel herauf- zuführen? Das Mifstrauen sucht Bürgschaften; gesetzt, es habe sie er- langt, so ist die äufserste Not freilich abgewendet; man fürchtet nun keinen Nero, keinen Caligula. Dals ein Napoleon dennoch zu fürchten wäre, weil einem solchen alle Formen nur Spielwerk sind, mag ich kaum erwähnen. Dafs es eine Arglist giebt, die sich aus jeder Form eine Maske bereitet, will ich nicht auseinandersetzen. Nur die einfache Frage will ich hinstellen: ist derjenige schon reich, schon im Wohlstande, der nicht mehr die bitterste Armut fürchtet?

Die Geschichte führt nicht alle Völker auf gleichem Wege. Einigen hat sie wirklich so harte Prüfungen auferlegt, dafs die öffentliche Meinung, stark durch bittere Wahrheit, strafend eingreifen konnte in offenbaren Mifsbrauch der Macht. War diese bittere Wahrheit die ganze und volle Wahrheit? Nachdem England die Stuarte vertrieben hatte, wufste es sich zu hüten vor dem Ungeheuer seiner Nationalschuld? Vor dem Druck einer stets wachsenden Armentaxe? Wufste es der Bestechung, der Unordnung bei Volkswahlen zu entgehen? Erlangten bei ihm die Wissenschaften einen gleichmäfsigen Fortgang, oder auch nur eine uneigen- nützige Achtung? Verbreitete sich wahre Bildung unter dem niedern Volke? War man sicher vor dem Tumult, welchen Arbeiter zu erregen gewohnt sind, sobald ihr Fleifs nicht mehr den Unterhalt des Lebens gewinnt? Warum erträgt London keine regelmäfsige Polizei? Warum hat es Diebesschulen für die niedrigen, warum Spielhäuser, Höllen genannt, für sehr hohe Personen? [235] Warum duldet England die Schmach, dafs Irland bleibt wie es ist? Warum, bei so offenkundigen Übeln, die uns unleidlich, ja in solchem Grade unmöglich vorkommen, warum greift der König nicht durch? Warum donnern nicht die Kabinettsordren, wie sie bei uns den königlichen Unwillen aussprechen würden? Den Königen von England hat das Mifstrauen die Hände gebunden. Es über- hebt sie der Verantwortung selbst in ihrem Gewissen. Warum finden die Ratschläge, die Klagen der weisesten Männer kein Gehör? Weil die öffentliche Meinung sich teilt, und weil alte Gewohnheiten nicht gestört sein wollen.

In der That, in frühem Zeiten wurde England durch harte Prüfungen geführt. Die politische Weisheit, welche daraus entstand, pafste zum Teil auf Frankreich, und wurde dort benutzt. Man versetze doch einmal in Gedanken den preufsischen Regentenstamm nach England oder nach Frankreich; wer kann sich einbilden, dafs jene, uns fremde, politische Weisheit die nämliche geworden wäre, wie jetzt? Eine andere Geschichte hätte andere Resultate gegeben. Statt der Klugheit des Mifstrauen s besäfse man dort die reinen Gefühle der Treue, der Dankbarkeit, der

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Ehrfurcht. Dann würden wir jetzt andre Zeitungen lesen, andre Ein- drücke verarbeiten; und jene grofsen, mächtigen, von der Natur so aus- gezeichnet begünstigten Länder würden dann vielleicht verdienen, Vor- bilder genannt zu werden, denen man füglich und mit Ehre nachahmen könne. Aber wie sie nun einmal sind, quälen sich die dortigen Nationen mit einer Kunst der Staatsformen, deren erste unglückliche Voraussetzung darin liegt, die Regierung sei Partei, und man müsse stets bereit sein, Gegenparteien zu bilden. Wäre die Regierung etwa nicht Partei, durch solche Formen, denen nur das Mifstrauen Leben giebt, müfste sie es werden, aber freilich auch dann noch würde sie klüglich, so viel als möglich den Schein vermeiden !

Ein musterhafter Staat kann nirgends aufblühen, wo einmal die Spuren der Furcht vor den Mächtigen sich der Verfassung eingedrückt haben. Die Länder, wo das geschah, tragen die Narben früherer Wunden ; man mag sie bedauern; die Nationen, welche das veranstalteten, mögen nach ihrer Lage nicht besser gekonnt haben, aber sie sind nicht Muster zur Nachahmung. Glücklich ist nur das Volk, bei welchem die Mächtigsten in der [236] Mehrzahl zugleich die Besten sind. Wovor soll ein solches Volk sich hüten? Hüten soll sich der Gesunde vor dem Arzte, der ihm Präservative gegen mögliche Krankheiten eingiebt, das heifst, ihn krank macht, damit er nicht krank werde. Sind wir nicht alle von un- zähligen Gefahren umgeben? Können wir nicht auf der Strafse von einem Dachziegel erschlagen werden? Kann man nicht im Studierzimmer das Bein brechen? Wer Lust hat, der setze sein Leben aus lauter Vor- sichtsmafsregeln zusammen ; alsdann ist ihm ein sorgenvolles, kümmerliches Dasein gewifs. So kümmerlich lebt eine Nation, die, weit entfernt ihrem Könige zu trauen, sich lieber den Wechsel der Minister gefallen läfst, weil, nachdem man mit der Zunge und der Feder den einen vertrieb, leider die Notwendigkeit sich meldet, einen andern und wieder andern statt seiner eintreten, das heifst, wählen und nochmals wählen zu lassen ; eine Nation, die sich zwar repräsentieren läfst, aber hintennach sogar an ihren eignen Erwählten, und an den Wahlformen mäkelt; eine Nation, die zwar ein Kriegsheer besoldet, aber hintennach einer Nationalgarde bedarf, deren Oberhaupt sie mit Sorge betrachtet, und es veranlafst, lieber zurückzutreten; kurz, eine Nation, die vom Mifstrauen ausgehend, mit dem Mifstrauen endigt, ganz ähnlich jenen Königen, die zwar eine Polizei aufstellen, aber mit einer zweiten Polizei dahinter, um von der ersten nicht betrogen zu werden. Wahrlich, wenn einmal der Gesunde an mögliche Krankheit denken will, so mag er überlegen, dafs einfache Krankheiten, wenn auch heftig, doch meistens heilbar, die komplizierten aber die gefährlichsten sind.

Es ist eine bekannte Sache, dafs oftmals die Bedächtigsten, nach langer Überlegung noch unschlüssig, sich zum Handeln durch einen augenblicklichen Zufall oder Einfall bestimmen lassen. So zeigt sich auch das politische Mifstrauen blind gegen die dringendste Gefahr. In den Ländern der Freiheit giebt es herrschende Städte. Eine solche war schon Athen, und vollends Rom; eine solche ist offenbar Paris, dessen Be- wegungen Frankreich beherrschen, eine solche ist teilweise selbst London,

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wohin manche grofse Städte des Reichs, vollends die Kolonialländer, nicht einmal Deputierte schicken dürfen; so ist es sehr wahrscheinlich auch in Nordamerika, obgleich dort der Föderatismus eine gröfsere Zahl von herrschenden Städten aufstellt, und was die Hauptsache ist, die kurze Geschichte [237] jenes Landes uns von der Wirkung der Leidenschaften und der stets allmählich zunehmenden Ungleichheit noch keinen Bericht er- statten konnte. Ein System des Mifstrauens aber sollte wenigstens kon- sequent sein. Herrschende Städte sind noch weit gefährlicher als herrschende Personen. Steht eine solche allein in einem weiten Kreise, so unterjocht sie diesen Kreis je länger desto mehr, anfangs durch Ge- wöhnung, dann systematisch und durch Kunst. Giebt es mehrere herrschende Städte, die einander zu erreichen vermögen, so erhitzen sie sich gegenseitig bis zu Vertilgungskriegen, wie zwischen Athen und Sparta, Rom und Karthago. Zwar die Schweiz stellt uns ein entgegengesetztes Beispiel dar; aber sie steht nicht allein, sie hat Rücksichten auf äufsere Gefahr zu nehmen; daher ein festerer Bund, und wegen der Natur- beschaffenheit des Landes ein solcher, worin ein sehr kräftiges Landvolk den Städten das Gleichgewicht hält.

Anderwärts sind die Städte, verglichen mit dem Lande, Aristokraten im grofsen, und eine Hauptstadt ist gern ein Monarch. Welche künst- liche Formen will man ersinnen, wenn hier das Vertrauen fehlt? Die Städte herrschen durch Macht und durch Verführung zugleich; denn ihr Wohlleben lockt an, und ihre Bequemlichkeiten sind für eine beratende Versammlung fast unentbehrlich. Gegen grofse Städte aber ist das Mifs- trauen gerecht, denn ihre Bevölkerung weifs sich selten rein zu halten von dem Zusätze eines zahlreichen, unter Umständen höchst gefährlichen Pöbels. Schon aus diesem Grunde kann man so ganz volles Vertrauen zu einer Stadt, wie zu einem würdigen Manne, niemals fassen. Aber noch mehr! Uneigennütziges Wohlwollen ist in persönlichen Charakteren nichts Seltenes, hingegen in dem Charakter einer Korporation, oder mifs- bräuchlich sogenannten moralischen Person, fast unmöglich. Denn dieser Charakter entwickelt sich in gemeinsamen Beratungen, worin zwar jeder Einzelne dem Ganzen seinen Privatvorteil unterordnen soll, aber gerade nachdem dies geschehen, der Vorteil des Ganzen zum Gegenstande des allgemeinen Willens erhoben wird, so dafs dieser, aus lauter uneigen- nützigen Individuen entsprungene, Gemeinwille dennoch ein vollkommen eigennütziger Wille des Ganzen sein wird. Jede Stadt nun ist ein solches Ganzes; ihr Gemeinwille ist eigennützig gegen das Land und gegen andre Städte, oder wenigstens würde eine bes[2 38]sere, eine edlere Gesinnung hier sehr viel schwerer zu erreichen, sehr viel weniger zu vermuten sein, als da, wo zwischen Person und Person, zwischen Mensch und Mensch ein Verhältnifs der Gesinnung in Frage kommt. Dies ist offenbar eine von den Ursachen, weshalb das Bedürfnis monarchischer Formen sich oftmals mitten im Streben des Republikanismus so dringend meldet, und so entschieden gelten macht. Soll aus vielen Städten, Flecken, Dörfern, ein Staat werden, und hat noch keine Hauptstadt sich zu entschiedener Oberherrschaft erhoben : so mufs am Ende der Korporationsgeist sich bequemen, einer wahren, lebenden Person das allgemeine Heil wenigstens

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teilweise anzuvertrauen, weil aus den vielen eigennützigen Gemeinwillen sich wohl ein Kontrakt, aber keine Obhut über den Kontrakt zusammen- setzen läfst. Das ist die bekannte Schwäche des Föderatismus, der nur insofern etwas leistet, als entweder Gefahr von aufsen droht, oder die minder mächtigen Glieder des Bundes sich in einem hohen Grade das Mifsfallen des Ganzen zuziehen.

Ganz Europa würde durch die zahllosen Verträge seiner einzelnen Staaten längst ein Föderativstaat im grofsen geworden sein, wenn nicht die offen erklärte Maxime, jeder sorge nur für sein eigenes Interesse, alle engere Verbindung unmöglich gemacht hätte. Hier liegt die Wirkung des Eigennutzes, die Unmöglichkeit des Vertrauens, und darum auch die Unmöglichkeit, durch künstliche Formen eine wahre Totalität hervorzu- bringen, unverhüllt vor Augen. Nun schliefse man vom Grofsen aufs Kleinere und endlich aufs Kleinste. Der Föderatismus in einzelnen Ländern ist schwach aus demselben Grunde; wenn er jedoch hie und da wenigstens etwas schafft, und etwas Mehr als Hilfe in dringender ge- meinsamer Gefahr: dann verdankt er dieses Mehr dem einzigen Umstände, dafs ein Band der Zuneigung und folglich des Zutrauens durch Gemein- schaft der Sprache, der Sitten, der Bildung vorhanden ist, vermöge dessen der Deutsche mit dem Deutschen, der Schweizer mit dem Schweizer, noch jenseits der Privatvorteile sich verbrüdert fühlt. Der Kontrakt aber, den sie einst geschlossen haben, ist grofsentheils ein Register von Streit- punkten, die man niederschrieb, weil man es schwer fand, sich zu ver- einigen, und über die man wegen der Auslegung stets von neuem Ge- fahr läuft sich zu entzweien und zu erzürnen. Wird nun endlich dieser Be[2 3Q]griff des Kontrakts auf den Staat selbst übertragen, als wären in ihm die einzelnen Bürger nicht vermöge der Notwendigkeit, nicht ver- möge ererbter Gesetze und Verhältnisse, nicht vermöge der gemeinsamen Pflicht, eine frühere geschichtliche Reihe von Entwicklungen fortzusetzen, sondern in Folge einer vereinigten Willkür verbunden: so findet jeder seinen Anteil an diesem Kontrakte zu klein, jeder überlegt nur seine Vorteile, man lebt in der Zukunft, welche vermeintlich bevorsteht und niemals kommt; die Summe der geträumten möglichen Vorteile über- steigt bei weitem die Summe der wirklich erreichbaren; unterdessen ziehen einzelne kluge und glückliche Spekulanten den baren Gewinn an Reich- tum und Macht; die Ungleichheit wächst, indem sie sich verändert und verlarvt, die Menschen passen weniger zu den Formen als zuvor, sie schaffen neue und wieder neue Formen, bis sie den Formen wie den Menschen mifstrauen; dann tragen sie den Druck der Notwendigkeit, die härter geworden ist als zuvor. So lernte Rom Geduld unter den Imperatoren, so lernte Frankreich Geduld unter Napoleon, und würde ihn wahrscheinlich noch heute dulden, wenn nicht glücklicherweise sein Streben nach europäischer Herrschaft ihn gestürzt hätte.

Wohl wissend, dafs man niemals den Begriff des bürgerlichen Kon- trakts ganz aus den Abstraktionen der Staatslehre wird entfernen können, glaube ich dennoch durch das zuvor Entwickelte genugsam daran erinnert zu haben, dafs diese Abstraktion, bis zu ivelchen künstlichen Formen sie immer möchte ausgesponnen werden, nicht diejenige volle Wahrheit ent-

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hält, welche das eigentliche Fundament der allgemeinen Wohlfahrt be- zeichnet. Wir haben eine ganz andre Wahrheit; das allgemeine Ver- trauen zu unserm Könige, in welchem wir eine Gabe des Himmels ver- ehren müssen. Wir haben Ursache den Einflufs solcher Lehren fern zu halten, die, wenn auch nicht ganz falsch, doch zu einseitig sind, um uns eine Verbesserung darbieten zu können. Als den Schulmännern Lancaster's Methode des wechselseitigen Unterrichts angepriesen wurde, da fand sich bei unbefangener Prüfung, dafs sie in Ländern, wo der öffentliche Unter- richt vernachlässigt ist, heilsam sein möge, aber in unsem Elementar- schulen nicht die schon vorhandene weit bessere Lehrart verdrängen dürfe. Dies kleine Beispiel kann, auch im grofsen benutzt, uns warnen, nicht dem Glänze des Frem[2 4o]den nachgehend das Einheimische unter seinem Werte zu schätzen. Das Einheimische! Es kostet mich Überwindung, mich in diesem Augenblicke jeder Lobrede zu enthalten. Aber das zuvor Gesagte verträgt keinen solchen Schlufs, der einen falschen Schein darauf werfen könnte. Das einzige einfache Wort mufs genügen: Gott erhalte den König!

II.

KURZE

ENCYKLOPAEDIE der PHILOSOPHIE.

1831.

[Text der I. Ausgabe, Halle, C. A. Schwetschke, 183 i.]

Bereits gedruckt in:

I. Ausg. = Erste Ausgabe, Halle, C. A. Schwetschke 183 i, X u. 410. S. 8°. II. Ausg. = Zweyte, vermehrte und verbesserte Ausgabe, Halle, C. A. Schwetschke 1841, VI u. 405 S. 8 0. SW = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. II), herausgegeben von G. Harten- stein.

Herbart's Werke. IX. 2

Vollständiger Titel der Originalausgaben : a) der I. Ausg.

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Vorrede

[zur I. Ausgabe 183 1].

Encyklopädische Darstellung der Philosophie ist ein sehr allgemeines Bedürfnifs; zwar nicht für Jünglinge, denen Vorlesungen zur Einleitung in die Wissenschaft 1 offen stehn, aber desto mehr für Männer, die nicht von vorn an ihre Schule machen, jedoch auch die Philosophie nicht aus den Augen verlieren wollen. Ob indessen eine streng geformte Encyklopädie, vollends wenn sie nur abgekürzten Vortrag des Systems enthält, dem Be- dürfnisse hinreichend entgegenkomme? mag bezweifelt werden. Ueber künstliche Formen läfst sich viel streiten; sie gelten den praktisch ge- bildeten Männern für Systemfesseln; und den Gegenständen selbst wird dadurch ein Theil der Aufmerksamkeit entzogen. Man wird sich also nicht sehr wundern, wenn hier eine Encyklopädie erscheint, die von der Sache ausgeht, zur Form nur allmählig fortschreitet, auf frühere syste- matische Schriften sich stützt, und soviel möglich dem praktischen Interesse zu entsprechen beabsichtigt.

[iv] Um jedoch dem Plane dieses Buches mehr Licht zu geben, mufs angezeigt werden, dafs mancherley Aufforderungen vorausgingen, die sich im Wesentlichen auf zwey Richtungen zurückführen lassen. Theils nämlich verlangte man einen populären Vortrag; theils erleichterte Ueber- sicht der Art, wie die ethischen, metaphysischen, naturphilosophischen, psychologischen Untersuchungen ineinander greifen. Jenes Begehren konnte zur Erweiterung früherer Darstellungen veranlassen; dieses im Gegentheil schien engeres Zusammenziehen nöthig zu machen.

Beides auf einmal zu leisten ist innerhalb gewisser Grenzen wohl möglich, wenn man bedenkt, dafs jede philosophische Schrift für den Leser das wird, was er sich daraus macht.

Denjenigen, welche Uebersicht verlangen, liegen ohne Zweifel die häufig citirten frühern Werke vor Augen. Sie werden also nachschlagen. Ihnen genügen Winke; und es mag ihnen nicht beschwerlich seyn, die- selben noch mehr in den spätem, als in den vordem Capiteln aufzusuchen.

Andere, für welche der Vortrag populär seyn soll, lieben darum gleichwohl nicht die Weitläuftigkeit; sie lassen sich Abkürzungen bey solchen Gegenständen gefallen, die mehr Schwierigkeit als allgemeines Interesse haben. So durfte manches beynahe ganz wegbleiben, was am gehörigen Orte schon früher seine völlig hinreichende Ausführung erhalten hatte.

[v] Elementar- Unterricht ist hier nicht zu suchen.* Die gewöhn-

5 Wissenschaften 1I. Ausg.,a die im Uebrigen den ersten Abschnitt der Vor- rede d. I. Ausgabe wörtlich abdruckt (vergl. S. 21 22 vorl. Ausg.).

* Ungeachtet des Kunstworts : Elementarlehre, dessen auch Kant in der Kritik der reinen Vernunft sich zur Ueberschrift bediente.

a SW. haben die Abweichung nicht vermerkt.

2Q II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

liehen Kenntnisse des Gelehrten jeden Faches, der mit der Zeit fortschreitet auch nach der Philosophie sich zuweilen umsieht, werden hier voraus- gesetzt. Auch die folgenden vier Hauptsätze:

die Grundbegriffe der praktischen Philosophie sind ästhetisch;

die Grundbegriffe der Metaphysik sind widersprechend;

die Grundbegriffe der Psychologie sind mathematisch;

zur Begründung der Naturphilosophie gehört Synechologie, sollen wenigstens historisch bekannt, und das Befremden, welches sie wohl pflegen den Kantianern und den modernen Spinozisten beym ersten Hören zu verursachen, soll vorüber seyn.

Zu dem ersten dieser Sätze, der zahllose Anhänger hat, wenn gleich sie ihn nicht auszusprechen verstehen, wird man den Beweis, und mancher- ley Erläuterung im Buche finden. Er deutet auf das wohlbekannte honest um et turpe, dessen stoische Entwicklung zwar beym Cicero wie ein gerollter Kiesel erscheint, doch für geübte Augen fast so kenntlich, wie die wahre Logik beym Aristoteles. Für den [vi] zweyten Satz mag einstweilen Hegel als Gewährsmann gelten. Zwar, wem die Widersprüche unter den Füfsen brennen, der sollte sich aufmachen, und herausschreiten. Hegel besitzt eine, nicht eben beneidenswerthe, Uebung sie zu ertragen: doch hat er sie erblickt, anerkannt, laut ausgesprochen, mit allem Nach- druck darauf hingewiesen; ein Verdienst, das weit höher anzuschlagen ist, als seine Gegner ihm einzuräumen pflegen. Was den dritten Satz an- langt, so findet man in diesem Buche Psychologie fast überall, aber ohne Mathematik. Die Früchte sind abgepflückt. Das Aehnliche gilt von dem vierten Satze in Ansehung der kurzen Capitel vom Leben und von der Materie. Synechologie ist zu schwer für den encyklopädischen Vortrag. In Vorreden pflegt von Recensionen die Rede zu seyn. Durch solche haben neuerlich einige treffliche Männer sich im hohen Grade um den Verfasser verdient gemacht. Diejenigen unter ihnen, welche Philo- sophie öffentlich lehren, werden sich vermuthlich noch weiter äufsern; daher Alles, was vorgreifend scheinen könnte, hier vermieden wird. Von Andern wird wenigstens Herr Professor Drobisch erlauben, hier genannt zu werden, da die Feder, welche die Recension der Metaphysik im August- hefte der Jenaischen Literaturzeitung von 1830 schreiben konnte, Allen denen kenntlich seyn wird, welche die Stücke der Leipziger Literatur- zeitung vom ioten und 1 1 ten November 1828 nicht übersehen haben. Wer nun jene Metaphysik lesen will, der beraube sich nicht der Ueber- sicht, welche ihm für einen grof[vn]sen, und vielleicht für den schwersten Theil des Buches, in lichtvoller Kürze, ausgestattet mit belehrenden Be- merkungen, durch die angeführte Recension dargeboten wird. Wer aber die Metaphysik von Seiten ihrer Verständlichkeit möchte angreifen wollen, dem würde sich die nämliche Recension in eine warnende Thatsache ver- wandeln; gerade so, wie es früher in Ansehung der mathematisch-psycho- logischen Untersuchungen der Fall war. Denn von der Psychologie aus- gehend hat sich die gütige Aufmerksamkeit des Herrn Professor Drobisch ausgedehnt bis auf die Metaphysik; so, dafs schon der blofse Aufwand der Zeit, welche bekanntlich die Mathematiker gar sehr zu schätzen wissen, ein Geschenk ist, welches dem Lehrer eines fremden Faches nicht genug-

Vorrede. Vorwort. 2 1

sam kann verdankt werden. Sollte indessen Jemand Lust haben, aus der Mücke den Elephanten zu machen; so fände ein solcher vielleicht Stoff dazu in einigen kleinen Differenzen; über welche beispielsweise (jedoch nicht, um mit dem Mathematiker über Darstellung mathematischer Gegen- stände zu streiten,) hier ein Wort mufs beygefügt werden. Nach richtiger Darstellung der Methode der Beziehungen findet Hr. D. ganz am Ende noch eine unklare Stelle. Natürlich müfste man erwarten, dals nun bald umgekehrt, wo es zur Anwendung der Methode auf das Problem der Inhärenz horarat, der Verfasser einen unklaren Bericht finden würde. Das Mifsverständnifs müfste wachsen bey der darauf gebauten Untersuchung der Hauptsache, nämlich des Unterschiedes zwischen wirklichem und scheinbarem Geschehen. Vollends aber bey der hievon abhängenden Lehre von der [viii] Materie würde durch Anhäufung der Fehler die Finsternifs so arg werden, dafs in dieser Gegend die Recension nun endlich wohl so aussehn könnte, wie manche frühere Recensionen der Psychologie (um nicht noch weiter zurückzugehen) wirklich aussahen. Nichts von dem Allen! Der Bericht bleibt treu; der Faden vestgehalten ; die Auswahl treffend; die Präcision so ausgezeichnet, dafs man fragen möchte, ob jemals ein metaphysisches Buch zuvor das Glück gehabt habe, von seinem Beurtheiler so dargestellt zu werden? Aber das Urtheil überläfst Herr Professor Drobisch den Männern vom Fache. Er will nicht eine Lehre darum, weil er sie verstanden hat, auch schon für wahr halten. Nur um dieselbe zu weiterer Prüfung zu empfehlen, hat er so sorgfältig darüber Bericht erstattet. Dafs durch solche Behutsamkeit das Gewicht der Recension nur konnte vermehrt werden, wird unmittelbar ein- leuchten. Möge die allgemeine Anerkennung so schöne Bemühungen lohnen ! Dieser Wunsch darf hier ausgesprochen werden ; denn der Scharf- sinn des trefflichen Mannes gehört rücksichtslos der Wissenschaft, und wenn sein Beyspiel auf andre Mathematiker wirkt, so hat die Metaphysik viel Licht, aber keine Partheygunst zu erwarten.

Vorwort

[zur IL Ausgabe 1841].

Encyklopädische Darstellung der Philosophie ist ein sehr allgemeines Bedürfnifs; zwar nicht für Jünglinge, denen Vorlesungen zur Einleitung in die Wissenschaften i offen stehn, aber desto mehr für Männer, die nicht von vorn an ihre Schule machen, jedoch auch die Philosophie nicht aus den Augen verlieren wollen. Ob indessen eine streng geformte Ency- klopädie, vollends wenn sie nur abgekürzten Vortrag des Systems enthält, dem Bedürfnisse hinreichend entgegenkomme? mag bezweifelt werden.

1 Vergl. S. 19, Anmerk. 1.

2 2 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

Ueber künstliche Formen läfst sich viel streiten; sie gelten den praktisch gebildeten Männern für Systemfesseln; und den Gegenständen selbst wird dadurch ein Theil der Aufmerksamkeit entzogen. Man wird sich also nicht sehr wundern, wenn hier eine Encyklopädie erscheint, die von der Sache ausgeht, zur Form nur allmählig fortschreitet, auf frühere systematische Schriften sich stützt, und so viel möglich dem praktischen Interesse zu ent- sprechen beabsichtigt.

Soviel aus der Vorrede zur ersten Ausgabe. Mancherley neue Zu- sätze sind jetzt hinzugekommen, die jedoch nicht bestimmt seyn konnten, den leichten, fast populären Vortrag schwerfällig zu machen. Die Grundlage bilden immer die angeführten Schriften; auf diese zu verweisen, war schon in der frühern Ausgabe unvermeidlich, und ist durch die jetzige Er-[iv] Weiterung noch nöthiger geworden. Zunächst soll, nach der Absicht des Verfassers, mit dieser Encyklopädie das (in der vierten Ausgabe gleich- falls erweiterte) Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie verbunden werden. Denjenigen aber, die sich mit dem System beschäfftigen wollen, sey (um nur das Neueste zu nennen) die Vergleichung zweyer vor Kurzem erschienener Bücher empfohlen, die beide den Titel Religionsphilosophie tragen; eins von Drobisch, das andre von Taute. Vom letztgenannten ist zwar bis jetzt nur der erste Theil herausgekommen; aber dieser bildet, schon für sich allein, ein ausführliches historisch -kritisch es, sehr ernstes, strenges, inhaltschweres Werk; worin man vieles finden wird, was dem ersten Bande der Metaphysik zur Vervollständigung dienen kann.

Inhalt.

Erster Abschnitt. Elementarlehre.

Erstes Capitel. Vom praktischen Bedürfnisse der Philosophie.

Zweytes. Vom Menschen in seiner Gebundenheit an Natur, Staat und Kirche.

Drittes. Von den Begriffen der Güter, Tugenden und Pflichten.

Viertes. Vom Bedürfnisse der Religion.

Fünftes. Vom Unterschiede des moralischen und ästhetischen Urtheils.

Sechstes. Vom Unterschiede der ästhetischen und theoretischen Ansicht der Dinge.

Siebentes. Von der Kunst und dem Künstler.

Achtes. Von der nützlichen Kunst.

Neuntes. Von der schönen Kunst.

Zehntes. Von der gelehrten Kunst.

Eilftes. Von der Staatskunst.

Zwölftes. Von der Erziehungskunst.

Dreyzehntes. Von der geistigen Regsamkeit.

Vierzehntes. Vom Leben

Fünfzehntes. Von der Materie.

1 Sechzehntes. Von der Seele und vom Ich. Zweyter Abschnitt. Methodcnlehre.

Erstes. Von der Logik. Zweytes. Von der Vernunftkritik. Drittes. Von der Fundamentalphilosophie. Viertes. Vom System der Philosophie im Allgemeinen. Fünftes. Von der allgemeinen Metaphysik.

Sechstes. Vom Verhältnisse der Metaphysik zu andern philosophischen Wissen- schaften. Siebentes. Von der Psychologie. Achtes. Von der praktischen Philosophie.

2 Neuntes. Rückblicke, und Bemerkungen über die Form der Philosophie.

1 II. Ausg.: Sechzehntes. Von den Imponderabilien.

Siebzehntes. Von der geistigen Ausbildung. Achtzehntes. Von der Seele und vom Ich.

2 II. Ausg.: Neuntes. Vom Verhältnisse der allgemeinen praktischen Philosophie

zu andern philosphischen Wissenschaften. Zehntes. Rückblicke, und Bemerkungen über die Form der Philosophie.

Erster Abschnitt.

Elementarlehre.

Erstes Capitel.

Vom praktischen Bedürfnisse der Philosophie.

i. Wie den Naturforscher jede Erweiterung seines Wissens durch 's Erfahren und Beobachten erfreut: so giebt es auch für den Denker ein Interesse an der blofsen Zusammenordnung und vollendeten Bestimmung seiner Begriffe. Aus diesem Interesse quillt das speculative Bedürfnifs der Philosophie. Aber oftmals ereignet sich's, dafs die Befriedigung eines Bedürfnisses um etwas abweicht von den Erwartungen, mit denen es Anfangs verbunden war. Das speculative Bedürfnifs des Denkers ver- anlafst gewöhnlich die Meinung, aus der Zusammenordnung aller Haupt- begriffe werde ein ungetheiltes Ganzes hervorgehn; dieses Ganze wird unter dem Namen Philosophie gesucht. Hingegen findet man nach ge- höriger Arbeit anstatt des gesuchten Ganzen drey völlig verschiedene Wissenschaften. Nur eine derselben, die Metaphysik, welche, das Wort im weitesten Sinne genommen, die Betrachtung über uns selbst, über die Aufsenwelt, und über das höchste Wesen in sich fafst, gewährt, theilweise wenigstens, ein Wissen. Es sondert sich aber von ihr, unter dem Namen der Logik, eine Reihe von Bestimmungen über Begriffe als solche, über deren Verhältnifs und Verknüpfung, ohne Rücksicht auf die Frage, welche Gültigkeit die Begriffe haben mögen. Es sondern sich ferner mancherley Klassen von solchen Bestimmungen, die blofs einen Werth oder Unwerth anzeigen, ohne Rücksicht auf zufällige Neigung und Liebhaberey; die wichtigsten dieser Werthbestimmungen beziehen sich auf das Wollen und Handeln; das System derselben heifst Ethik [2] oder praktische Philosophie, und begreift J das Naturrecht sowohl als die Politik in sich. Will man aber alle Werthbestimmungen, ohne Rücksicht auf den Unterschied der Klassen und Gegenstände, zusammenfassen, so findet sich für die hieraus entspringende Gesammtheit kein andrer Name, als der, der Aestheiik, welcher im wissenschaftlichen Sinne auch die praktische Philosophie

1 und begreift, wenn man seine Anwendungen hinzunimmt, das Naturrecht ... II. Ausg.*

a SW. drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung in der I. Ausg.

i. Abschnitt. Elementarlehre, i. Capitel. Vom praktischen Bedürfnisse etc. 2$

angehört. Schon die Alten, indem sie Logik, Physik und Ethik unter- schieden, hatten die drey Theile der Philosophie gefunden; und die Sonderung mufs bleiben, weil sonst die verschiedenen Methoden der Unter- suchung sich vermischen und verwirren.

2. In so fern man aber die Untersuchung als schon geschehen voraussetzt, ist die Sonderung, wodurch die genannten drey Wissenschaften die Form von drey getrennten Lehrgebäuden annehmen, nicht weiter nöthig. Für jeden willkürlichen Zweck pflegt man die verschiedensten Mittel und Werkzeuge an Einen Ort zusammenzubringen ; dasselbe können auch die verschiedenen Lehren der Philosophie, sobald jede an ihrem Orte fertig geworden ist, sich gefallen lassen; wobei sich jedoch die Be- dingung von selbst versteht, dafs, wenn man irgend eine dieser Lehren einer neuen Prüfung unterwerfen will, sie zuvor an ihren rechten, wissen- schaftlichen Ort zurückgetragen, und dort im gehörigen Zusammenhange untersucht werden mufs.

3. Nicht blofs können verschiedene philosophische Lehren in eine Verbindung gebracht werden, die von ihrer systematischen Stellung ab- weicht: sondern es giebt Motive, um derentwillen dieses geschehen soll; und die praktische Philosophie selbst zeigt die Motive bestimmt an, indem sich an mehrern Stellen im Laufe ihrer Untersuchungen ein praktisches Bedürfnifs der gesammten Philosophie zu erkennen giebt, welches durch blofs systematische Kenntnifs derselben nicht würde befriedigt werden.

4. Zuvörderst findet sich in der Ethik die Idee eines allgemeinen Cultnrsystems, zu welchem alle Arten von Kraft[3]äufserung gesellig ver- einigt seyn sollen.* „Wie ein einziges, durchaus vielseitig ausgebildetes Vernunftwesen sich in diesen oder jenen Gegenstand vertiefen, wie es aber auch aus einer und der andern Vertiefung zurückkommend sich be- sinnen, und seine mannigfaltigen Begriffe, auf welche Weise sie es nur immer gestatten, von einander durchdringen lassen würde : so sollen auch die Mehrern einander geistig durchdringen können, ohne durch die Ge- schiedenheit der Individualitäten daran gehindert zu werden. Es mufs also Jeder den Gedankenkreis jedes Andern in sich aufzunehmen, und in denselben hinüberzutreten fähig seyn.'- Man erkennt auf den ersten Blick, dafs Gemeinschaft der Sprache die erste Bedingung eines solchen Cultursystems ist; daher auch für die sogenannte Gelehrten-Republik, welche bey uns die kenntlichsten Spuren des Cultursystems in der Wirklichkeit darbietet, die Sprachstudien als Grundlage aller Gelehrsam- keit betrachtet werden, indem ohne sie keine Verbindung derer, welche durch Ort und Zeit getrennt sind, möglich wäre. Allein gerade aus dem nämlichen Grunde mufs die Philosophie noch zu den Sprachen hinzu- kommen. Denn in ihr werden die Hauptbegriffe aller Wissenschaften und die Mittelpuncte aller Meinungskreise zur Untersuchung gezogen; daher auch die Sprachen selbst grofsentheils durch Philosophen sind ausgebildet worden. Die Worte sind nichts anderes als Zeichen von Gedanken; die Gemeinschaft der Gedanken, und die Leichtigkeit in der Mittheilung derselben, ist es, welche eigentlich gesucht wird. Wie nun bis jetzt die

* Praktische Philosophie, im elften Capitel des ersten Buchs. [Bd. II 3. 40 1 ff. vorl. Ausg.]

26 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

unerwünschte Mehrheit der Sprachen zwar ein Uebel ist, dennoch aber keineswegs das Sprachstudium aufgegeben, sondern vielmehr erweitert wird: so ist auch die Mehrheit und der Streit der philosophischen Systeme zwar ein grofses Ungemach 1 ; aber eben diese Systeme bezeichnen die Haupt- puncte, um welche auch der Streit der Meinungen in der menschlichen Gesellschaft sich dreht; und so gewifs der gesellige Mensch sich in diesem Meinungsstreite mufs orientiren lernen, eben so nöthig ist das [4] Studium der Philosophie. Offenbar jedoch können hier die vesten Lehrgebäude nicht allein ausreichen. Geläufigkeit im philosophischen Denken (so wie im Sprechen) mufs hinzukommen; auf jede philosophische Lehre mufs man sich schnell zu besinnen wissen; darauf gründet sich das erste praktische Bedürfnifs einer solchen Darstellung der Philosophie, wobey die systematischen Verknüpfungen aufgelöset werden, um eine grofse Mannigfaltigkeit anderer Verbindungen unter den einzelnen Lehren zu veranlassen.

Man kann hiebey bemerken, dals, wenn bey einer gebildeten Nation die Philosophie in Verfall geräth, dies ein Zeichen ist, sie betrachte den Streit der Meinungen als unbedeutend, und lasse den bösartigen Streit der Factionen an die Stelle treten. Vor solcher Schlechtigkeit ist hoffentlich Deutschland noch sicher!

5. Während nun das gesellige Bedürfnifs, wie eben gezeigt, zwar auf Philosophie, aber nicht auf deren systematische Gestalt gerichtet ist: läfst sich ein ganz ähnliches Bedürfnifs auch für den einzelnen Menschen, sofern er mitten im Laufe des Lebens und der Geschaffte begriffen ist, leicht nachweisen. An der Stelle der Ethik, wo dieselbe den Begriff der Tugend erklärt,* erblickt man als erste Grundlage der Tugend ein Verhältnifs zwischen Einsicht und Wille, welche beide Glieder des Verhältnisses in Einer Person nicht blofs beysammen seyn, sondern auch im Laufe des Handelns und Leidens stets verbunden und einstimmend bleiben müssen. Aber der Wille wird von der Welt mannigfaltig umhergelenkt; und jeder moralische Mensch wird aus eigner Erfahrung wissen, wie schwer es ist, sich im Gedränge der Umstände stets der ursprünglichen Vorsätze und Grundsätze dergestalt bewufst zu bleiben, dafs man über den ganzen Zu- sammenhang seines Thuns und Lassens sich eine genügende Rechenschaft geben könne. Diejenige Einsicht, welche dem Willen vorleuchten soll, besteht zwar zu [5] nächst aus Bestimmungen des Werths und Unwerths, des Edeln und Unedeln, des Erlaubten und der Schuldigkeit, wornach der Wille sich richten mufs, um innerhalb der Gränzen der Pflicht sich an- ständig zu bewegen; aber bey den einzelnen Handlungen kommt noch das Zweckmäfsige, es kommen die Mittel und Hindernisse, es kommt die Kenntnifs der Welt und der Natur in Anschlag, damit nicht ein thörichtes Verfahren die besten Absichten entstelle. Hier braucht man die theo-

1 zwar ein Ungemach II. Ausg. („grofses" fehlt.)

* Praktische Philosophie, im ersten Capitel des zweiten Buchs ; man vergleiche auch die beiden folgenden Capitel. [Bd. II, S. 409 ff. vorl. Ausg.]

1 SW. drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

i . Abschnitt. Elementarlehre, i . Capitel. Vom praktischen Bedürfnisse etc. 2 7

retische und praktische Philosophie fortdauernd zugleich; und wer in Einem Buche Ethik, im andern aber Metaphysik gelernt hat, dem wird manch- mal der Wunsch rege werden, die einzelnen Lehren dieser Wissen- schaften möchten aus ihrem Gefüge heraustreten, um eine ganz andere Verbindung einzugehen, welche mehr für den Dienst des Tages, um nicht zu sagen des Augenblicks, eingerichtet wäre.

6. Mit wenigen Worten gedenken wir schon hier der Religion und der Geschichte, weil von diesen beiden hauptsächlich die Bildung des praktischen Menschen pflegt erwartet zu werden. Beide bedürfen der Auslegung; und die Erfahrung selbst kann lehren, wie sehr mit dem Wechsel der philosophischen Systeme sich diese Auslegung zu ändern pflegt. Uebrigens ist Philosophie nicht für unruhige Köpfe, noch auch für unruhige Gemüther. Jene mögen sich an Geschichte und Erfahrung halten; diese müssen sich der Kirche darbieten. Wem die Rede von der Sünde einen solchen Eindruck macht, dafs sich im Gemüthe ein wunder Fleck durch einen stechenden Schmerz verräth: der mufs sich bessern, und um es zu können, durch die Bufse hindurchgehen. Theorien können ihm nicht helfen, welche Gestalt sie auch annehmen.

7. Das Vorstehende läfst schon erkennen, das praktische Bedürfnifs der Philosophie werde nicht einfach seyn, sondern aus verschiedenen Be- dürfnissen zusammengesetzt. Um es zergliedern zu können, müssen wir zuerst den praktischen Menschen mehr anschaulich vergegenwärtigen.

Jeder Mensch in reifen Jahren hat zuvörderst eine gewisse Weise der täglichen Beschäfftigung angenommen. Er findet [6] sich ferner durch Andre, mit denen er lebt, theils angezogen, theils abgestofsen; daher ent- stehen für ihn mancherley Verhältnisse der Gesinnungen. Dazu kommen noch Verhältnisse der Familie und des Dienstes. Die weitern Unterab- theilungen, welche zu diesen vier Hauptpuncten gehören, zeigt folgende Tafel :

Die Lebensweise wird bestimmt durch

Besch äfft ign n ge v :

Arbeit,

erhebende Erhohlung,

abspannende Erhohlung.

Gestn n u ngen F a m ilienverhält nifs

des Verkehrs, 1 , ~ der Ehegatten,

. , sammt den Gegen- , _,. b

des Beyfalls, > , .. ö der Eltern,

der Liebe, der Seitenverwandten.

Dienstverhältn ifs :

Zwangsdienst,

Lohndienst,

Ehrendienst.

Diese Hauptquellen der Motive für den praktischen Menschen sind all- gemein; in besondern Fällen verlängert sich die Reihe.* Hier ist das Nöthigste, zu bemerken, dafs die vier Hauptpuncte sich gegenseitig bestimmen.

* Praktische Philosophie, 2. Buch, 7. Cap. u. folgt, wo das Verhältnifs der auf- gestellten Begriffe und ihre sittliche Bedeutsamkeit erklärt ist. [Bd. II, S. 435 ff. vorl. Ausg.]

2 8 II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

Meistentheils sind die Arbeiten vorgeschrieben durch den Dienst, es sey nun Staatsdienst oder Lohndienst der Gewerbetreibenden; wobey der Unterschied nur darin liegt, dafs der Staatsdiener gebunden ist an Be- fehle, der Gewerbsmann hingegen an die Natur der Waare und des Geschäffts. Nun folgt zwar auf Arbeit Erhohlung, und hiemit freye Wahl; aber die Wahl ist gewöhnlich bald entschieden. Die Menschen mögen gar selten allein seyn; sie überliefern sich dem Strome [7] des Umgangs, sammt allen den Aufmerksamkeiten und Rücksichten, die er fordert. Hier fangen die Gesinnungen der Personen gegen einander ihre Einwirkung an. Nicht Alle passen in einerley Conversation. Es giebt Gesinnungen des Verkehrs; nach diesen ordnen sich die Gruppen; hiernach richtet sich die gemeinsame Erhohlung. Rückwärts wird der Umgang gewählt, um besondere Arten der Erhohlung, bestimmte Vergnügungen mit einander zu theilen. Allein es tritt nun ein grofser Unterschied der Gesinnungs- verhältnisse hervor. Es giebt etwas Höheres als den Verkehr. Wo Achtung, und vollends wo Liebe die Menschen zusammenführt, oder um- gekehrt, wo Geringschätzung, Widerwille, Hafs, sie auseinanderhält: da wird nach blofser Beschäfftigung und geselliger Erhohlung nicht viel ge- fragt. Die Liebhabereyen an solchen oder andern Hülfsmitteln der Ab- spannung (etwa Spielkarten oder Zeitungen) treten von selbst in den Hintergrund, wo ächte Freundschaft statt der Abspannung ihre erhebende Erhohlung darbietet. Aber nicht alle Gesinnungsverhältnisse sind so mächtig; auch ist ihr Unterschied oftmals undeutlich und verwischt. Der- jenige, welcher sich die Frage, ob in seitie?n geselligen Leben die Gesinnung gegen Personen oder das Bedürfjiifs nach Erhohlung mehr vorherrsche? genau beantworten will, wird Mühe haben, sich darüber Rechenschaft zu geben. Dies ist aber nur der Anfang einer Betrachtung, welche viel weiter geht. Denn eben so fragt sich wohl Mancher, ob er den Dienst gewählt habe,1 weil ihm die damit verbundene Arbeit behagte? oder ob er umgekehrt sich die Arbeit gefallen läfst, weil der Dienst Lohn und Ehre einbringt? Und in dies Alles greifen nun noch die mancherley Familienverhältnisse so tief ein, dafs oft alles Andre nur ihrentwegen und durch sie vorhanden zu seyn scheint.

Es ist zwar anzunehmen, dafs jeder verständige und wohldenkende Mann2 nicht blofs für sich selbst, sondern auch für Andere, die ihn an- gehn, die mancherley Rücksichten, welche das Amt, die Familie, der Umgang, das Geschick zur Arbeit, das Bedürfnifs der Erhohlung, unter gegebenen Umständen [8] erfordern, erwäge und in das ihnen gebührende Gleichgewicht zu bringen suche; wiewohl oft genug dabey zu sehr nach Aufsen geschaut, und die Rückwirkung des Aeufsern auf die Person, welche sich im Gedränge aller dieser Rücksichten befindet, meist vergessen oder vernachlässigt wird; so lange wenigstens, bis irgend ein bedeutendes Uebel in ihr selbst hervortritt, welchem zu helfen vielleicht schon zu spät

2 Die folgenden Worte „nicht blofs . . . ihn angehn" setzt die II. Ausg. in Parenthese. a

1 „habe" fehlt in SW.

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

i. Abschnitt. Elementarlehre, i. Capitel. Vom praktischen Bedürfnisse etc. 29

ist. Jedenfalls aber wird man bekennen müssen, dafs es Mühe koste, zu einer vollständigen Ueberlegung hierüber zu gelangen; und abermals Mühe, das Leben selbst nach den Ergebnissen der Ueberlegung einzurichten. Wer dies vollbringt: von dem darf man rühmen, er habe sich über sich selbst erhoben. Wer es nicht vollbringt: der wird den Grund, warum es mislingt, zum Theil in sich, sehr oft aber auch grofsentheils aufser sich finden. 8. Wir denken uns zuvörderst einen Mann, der für seine Lebensweise die angegebenen vier Puncte (sammt den dazu gehörigen Unterabtheilungen) vollkommen an die rechte Stelle gesetzt hat. In den Arbeitsstunden steht ihm das Ganze der Arbeit und deren Zweck stets unverrückt vor Augen; wäh- rend er von den Einzelnheiten seines Geschaffte in jedem Augenblick gerade nur diejenige in Gedanken hat, welche so eben sein Thun und Denken erfordert. Dagegen vergifst er alle Arbeit zu der Zeit, welche der Er- hohlung gewidmet ist; es ist ihm leicht, sich zum Höhern aufzuschwingen in dem edlern Theil e der Erhohlung, welche der Sabbath fever entspricht; es kostet ihn auch keine Ueberwindung, zum Geringfügigen sich herab- zulassen; und er hütet sich wohl, in Gesellschaft etwa nur heiter zu scheinen, weil alsdann die Scherze eines muntern Gesprächs im Grunde nur eine neue Arbeit wären; vielweniger gestattet er den Sorgen, hinter dem Reiter zu sitzen. Uebeidies pafst sein Umgang, sofern nicht gerade eine hohe Achtung, eine innige Liebe ihn beseelen, ganz zu denjenigen Erhohlungen, die ihm die liebsten und erquickendsten sind; und dabey ist das Glück so grofs, (denn wir wagen nicht, es ein Verdienst zu nennen!) dafs hiemit auch kein solcher Umgang, welchen einerseits der Dienst, andrerseits die Familienlage vorschreibt, [9] vernachlässigt wird. Sollen wir ihm nicht auch noch einige edle Freunde und eine würdige Geliebte zugesellen? Warum nicht? Er verdient sie; er lebt für sie; !und was sich von selbst versteht sie gehören zu seinem Hause. Mag dieses Haus nach allen Richtungen, in auf- und absteigender Linie, auch nach den Seitenlinien hin, so grofs gedacht werden wie man will: unsre ideale Person trägt aufs genaueste den Stempel dieser Familie in deren würdevollster Art, und repräsentirt mithin die Ehre des Stammes; nicht blofs- durch geistige Fähigkeit, um alle ruhmvollen Erzählungen, die von den Ahnen überliefert worden, auf gegebenen Anlafs von neuem zu ver- wirklichen, sondern (was dabey sehr wesentlich ist) auch durch Wuchs und Haltung und Kraft des Leibes; denn der ganze Mensch ist keine blofse Seele! Endlich aber kommen noch Dienste hinzu, welche eben so viele Verdienste sind: um die Stadt, die Provinz, den Staat, die Menschheit; und diese Dienste (wiederum ein sehr wesentlicher Punct) finden nicht blofs Anerkennung, sondern auch Lohn, und zwar solchen Lohn, dafs für die Familie nicht weiter nöthig ist, zu sorgen; dafs also die Pflichten gegen das Haus und die gegen den Staat einander keinen Abbruch thun! Dürften wir etwa diese Grundzüge zur fernem Ausmalung einem Roman- schriftsteller empfehlen? Wohl schwerlich! Denn selbst die Dichtung

1 Die folgenden Worte „und was sich von selbst versteht " fehlen in der II. Ausg. a

a S\V. drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung in der I. Ausg.

20 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1,

sucht sich dem wirklichen Leben näher zu stellen. Wir aber können von unsrer idealen Person noch Eins rühmen: für sie giebt es zwar wohl ein speculatives, aber kein praktisches Bedürfnifs der Philosophie; denn was man ihr bieten könnte, das hat sie schon.

9. Um das praktische Bedürfnifs der Philosophie zu finden, werden wir uns den praktischen Menschen etwas bedürftiger denken müssen. Schon längst hat man durch das Wort Philosophie eine Kunst bezeichnen wollen, mit Ruhe und Anstand zu entbehren. Eine gewisse Stärke des Geistes soll wie ein Gewicht in die Wagschale gelegt werden, um bey der Unstetigkeit des Lebens den Gleichmuth zu erhalten. Wer [10] so etwas Philosophie des Lebens nennen will, dem steht die Wahl des Ausdrucks frey ; nur mufs er, um l mit den Worten einen Sinn zu verbinden, auch das Leben sammt dessen Verwickelungen dabey vor Augen haben; sonst fehlt die Wagschale, in welche ein neues Gewicht deswegen soll gelegt werden, weil schon andere Gewichte vorhanden sind und wirken, indem sie das gesuchte Gleichgewicht stören. Es wäre freylich hier viel zu weit- läufig, alle möglichen und selbst gewöhnlichen Abweichungen von jenem idealen Bilde des vollständig geordneten Lebens, welche bey einiger Er- fahrung und Lebensklugheit nicht weit zu suchen sind, anzugeben; 2wenn aber der Leser, sich aus eignem Vorrathe nur einigermafsen die Gegensätze zu jenem Bilde als bekannte Thatsachen vergegenwärtigen will,3 so wird er bereit seyn einzuräumen: fast jeder Mensch, der sich über den Zu- sammenhang seiner Beschäfftigungen, seines Dienstes, seiner Familienlage, seiner Zuneigungen und Abneigungen gegen Andre, ernstlich Rechenschaft gebe, der finde auch Ursache zu bekennen, dafs ihn etwas drücke; und dieser Druck werde durch eine gewisse Anstrengung des Denkens zwar erträglicher, aber nicht gehoben; indem vielmehr ein fehlerhafter Cirkel dabey zum Grunde liege, worin (weil die angegebenen vier Puncte sich immer gegenseitig bestimmen) mehrere Uebel sich dergestalt herumdrehen, dafs jedes derselben sich allenfalls heilen liefse, wenn nur erst das andre weggeschafft wäre, in der That aber keins zum Weichen zu bringen sey, weil4 keins das erste sey, was man angreifen könne. Oder wäre ja Einer, der sich selbst in jenem idealen Bilde zu erkennen meinte, so würde sein Glück durch die Frage nach der Dauer desselben gestört werden, weil hiebey zuviel von äufsem, veränderlichen Umständen abhängt. Und endlich : was er für sie nicht zu fürchten hätte, das würde er für Andre besorgen müssen. Theils schon für Einzelne, besonders aber für das Ganze der Gesellschaft; an deren Zustand zu erinnern um desto nöthiger ist, je öfter auch das, was den Einzelnen klemmt, von der Gesellschaft her- rührt und durch sie unüberwindlich vestgehalten wird.

[11] 10. Bekanntlich läfst sich jede Gesellschaft als eine Person be-

2 3 wer aber sich aus einzelnen . . . vergegenwärtigen will, wird bereit sein . . II. Ausg. * 4 wenn . . II. Ausg. b

1 um den Worten einen Sinn . . . SW. („mit" fehlt).

a u. b SW. drucken nach der II. Ausg. ohne die Abweichung der I. Ausg. anzumerken.

i. Abschnitt. Elementarlehre, i. Capitel. Vom praktischen Bedürfnisse etc. 31

trachten, und desto besser, je enger ihr Band geknüpft ist. Ohne aber hier mehrere Staaten als Personen gegen einander zu stellen, welches zu weit führen würde, können wir im einzelnen Staate sehr leicht die er- wähnte Verwickelung wieder erkennen, und zwar nach vergröfsertem Mafs- stabe. Die Grundlage jedes Staats macht das System von Beschäfftigungen seiner Glieder. Die Fähigkeit einer Nation bestimmt ihre Arbeiten; der Geschmack der Nation zeigt sich in der Art, wie sie ihre Feyertage theils zur Erhebung, theils zur Abspannung benutzt. Gesinnungen des Um- gangs oder der Entfernung, der Ehrerbietung oder Geringschätzung, der Liebe oder des Hasses finden sich nicht blofs unter Einzelnen, sondern unter ganzen Massen und Ständen; worauf Unterschiede der ursprüng- lichen Volksstämme, der Sprache, des Cultus, des Vermögens, der Lebens- gewohnheiten, der Studien, also auch der Beschäfftigungen, bedeutenden Einflufs haben. Familienverhältnisse werden ein mächtiges Band, das, indem es ganze Klassen enger verknüpft, dagegen andre durch den Be- griff der Misheirathen trennt; die Gesetzgebung selbst thut das Ihrige,, um die Eigenheiten der Sitte in diesem Puncte recht merklich zu machen l und zu bevestigen. Dienstverhältnisse bilden im Staate ein grofses Ge- bäude, wodurch den Einzelnen die Wahl des Platzes in der Gesellschaft bezeichnet und beschränkt wird.

Für jeden Zeitpunct in der Geschichte einer jeden Nation soll uns zwar der Historiker nicht blofs von der Lage dieser vier Puncte, sondern auch von deren gegenseitiger Wirkung auf einander, ein deutliches Bild vor Augen stellen. Aber gesetzt, dies wäre geschehen : wo ist der Gesetz- geber, der es wagte, aus solchem Unterricht der Geschichte den praktischen Nutzen zu ziehen? Hier zeigt sich bey der Vergleichung des öffent- lichen mit dem Privatleben ein merkwürdiger Unterschied. Der Einzelne ordnet mit aller Kraft2 die vier Puncte so, dafs sie möglichst in Harmonie treten; darin beweiset er, wieviel er von praktischer Lebensweisheit und wieviel von den wichtigsten [12] Geschenken des Glücks besitzt. Was er nicht erreichen kann, wird bey ihm Gegenstand einer Resignation, deren Ausbildung zu seinen wesentlichen Charakterzügen gehört. Die Gesellschaft dagegen möchte umfassende Betrachtungen dieser Art wohl eher scheuen, als für brauchbar halten. Sie bleibt in ihrem Geleise, und nimmt die fernere Entwicklung ihres Zustandes für eine Art von Natur- Nothwendigkeit, über welche viel zu grübeln nicht helfen könne. Fehlt es ihr vielleicht an einer hinreichend sichern, hinreichend anerkannten^ acht praktischen Philosophie? Zu verwundern wäre das nicht; denn die Speculationen der neuern Zeit, so ernst gemeint sie auch waren, hatten wesentlich nur speculative Triebfedern; und selbst diese gelangten in ihnen noch nicht zur vollen Wirksamkeit.3

1 in diesem Puncte merklich zu machen ... II. Ausg. *

2 ordnet vielleicht mit aller Kraft so . . , II. Ausg.b

3 nach den Worten: „zur vollen Wirksamkeit" hat die II. Ausg. folgenden Zusatz :

Wie dem auch seyn möge, und ob man die Verlegenheiten des-

a u. b SW. drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

i2 IL Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

11. Wer sich an die Form der jetzt gangbaren philosophischen Systeme gewöhnt hat, der wird sich wundern, wie man darauf komme, in der engen Sphäre des täglichen Lebens die Anlage zu solchen Unter- suchungen zu machen, welche das Ganze der Welt und die Tiefe des Bewufstseyns betreffen. Handeln denn nicht die Systeme vom Seyn und Werden; construiren sie nicht Natur und Geist aus einem gemeinsamen Mittelpuncte; beginnen sie nicht mit der Frage nach der Möglichkeit alles Wissens überhaupt; ist nicht die Einheit und der Gegensatz der Objecte und des Subjects ihr erstes Thema? Wer vernimmt denn da etwas von der Philosophie als einer allgemeinen Sprache zur Verständigung verschiedener Gelehrten? (4.) Wer kümmert sich um die kleinen Motive der einzelnen Handlungen, in welchen Klugheit und Sittlichkeit durch einander laufen? (5.) Was für Hoffnung geben uns Betrachtungen über Arbeit und Erhohlung, Gespräch und Verkehr, Haus und Dienst (7, 8 u. s. w.), von den grofsen Gesetzen, wornach * Natur und Geschichte sich entfalten, etwas verstehen zu lernen? In der That: das Nächste, was wir von Stunde zu Stunde thun oder leiden, ist das Letzte, Unterste für den, welcher von den höchsten Abstractionen auszugehn sich geübt hat. Aber die abstractesten Begriffe sind an sich die leersten; und die Kunst, durch, 'sie das Bestimmte, [13] das Untergeordnete, das Wirkliche des Lebens zu erkennen, ist weit seltener, als die in den Systemen ver- tieften Philosophen glauben mögen. Das übliche Beginnen von den ab- stractesten Begriffen setzt die Schüler in Gefahr, Hohlköpfe zu werden; und wer auch in der Gefahr nicht gerade umkommt, der leidet dennoch oft einen beträchtlichen Schaden, dessen Gröfse zu schätzen ihm selbst schwerer ist, als seinen Beobachtern. Unsre Absicht ist nun in diesem Buche, die Sache umzukehren; und recht2 geflissentlich haben wir in der Niederung des täglichen Lebens einen breiten Boden erwählt, ohne uns um entfernte Bergspitzen, die freylich weite Aussichten für scharfe Augen gewähren, für's erste zu bekümmern. Indem wir anscheinend ganz ge- mächlich fortschlendern, wird uns der Zusammenhang der Gegenstände allmählich höher und höher hinaufführen; man wird sehen, dafs sich die Philosophie von dem übrigen Wissen nicht trennen läfst. Von künst- lichen Systemen ermüdet, sucht man das natürliche, und mit Recht ; denn

Einzelnen, oder die der Gesellschaft vorzugsweise ins Auge fasse, immer melden sich die Fragen: was läfst sich ändern, und wo sollen die Ver- änderungen beginnen? Was läfst sich nicht ändern, und wie lange mufs man es geduldig ertragen? Immer setzen solche Fragen das Nach- denken in Bewegung und wofern dies Nachdenken nach den vesten Puncten strebt, die unabhängig von der Verschiedenheit der Zeiten und Umstände sich überall gleich bleiben, von denen man überall ausgehen mufs, um nicht die Richtung zu verfehlen: dann hat das praktische Be- dürfnifs der Philosophie sich fühlbar gemacht. 2 „recht" fehlt in der II. Ausg.»

1 wodurch . . . SW.

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne die Abweichung der I. Ausgabe anzugeben.

i. Abschnitt. Elementarlehre, i. Capitel. Vom praktischen Bedürfnisse etc. 33

jene verdunkeln, was sie nicht erhellen; sie beschatten das Gewebe, indem sie einzelne Fäden desselben in ein blendendes Licht hervorheben. Aber es werden bald einige auffallende Gegenstände wie aus einem Nebel auf- tauchen; man hüte sich alsdann, sie sogleich als Bekannte zu begrüfsen. Einige Naturphilosophen haben die schlimme Gewohnheit,1 alles, was sie in Begriffen als ein solches oder anderes vestgestellt glauben, nun sogleich für dies oder jenes zu erklären, welches in der Erfahrung vorkomme, und von der Sprache schon mit Namen belegt sey; dabev gehen arge Verwechselungen2 vor; und am Ende findet sich Misdeutung der Er- fahrung sowohl als der Sprache, ja sogar eine seltsame Misdeutung3 der eignen Theorie. Wenn also gleich weiterhin bald Etwas, das man durch Kant, bald Anderes, das man durch Fichte schon zu kennen meint, auf- gefunden werden sollte: so mufs verhütet werden, darauf die Kantischen oder Fichteschen Begriffe zu übertragen. In der Geschichte der Philosophie zeigt sich eine fehlerhafte Vegetation; dem Wuchern derselben mufs ein selbstständiges Denken vorbeugen.4

1 die Gewohnheit, alles ... II. Ausg. *

2 dabev gehen Verwechselungen ... II. Ausg. b

3 ja sogar Mifsdeutung . . , II. Ausg.c

4 nach „vorbeugen" hat die II. Ausg. folgenden Zusatz:

Um sich zuvörderst den Unterschied des theoretischen und praktischen Interesse zu vergegenwärtigen, kann man Jenem, der für Geschafft, Ge- sinnung, Familie, Dienst, die richtige Anordnung sucht, in Gedanken einen kalten, aber einsichtsvollen Zuschauer gegenüberstellen, der sich um menschliche Angelegenheiten, die ihn selbst nicht berühren, nur in so fern bekümmert, als sie ihm Stoff zum Denken geben. Dieser Zuschauer erblickt da, wo Jener Zwecke verfolgt, nur Wirkungen, welche eintreten können, wo Jener Mittel anwendet, und Hindernissen begegnet, nur solche Ursachen, woraus jene Wirkungen oder deren Gegentheile hervor- gehn müssen. Durchschaut er den Zusammenhang der Ursachen und Wirkungen, so besitzt er Kenntnisse, die Jenem nützlich seyn können. Solche Kenntnisse mufsten aber längst früher erworben werden, ehe sie auf gegenwärtige Fälle Anwendung finden; man sieht hier den Unter- schied zwischen der Allgemeinheit des an keine Zeit gebundenen Wissens, und dem besondern Bedürfnifs des zeitigen Gebrauchs. Um dem Ver- hältnis der Philosophie zum praktischen Bedürfnifs noch näher zu kommen, wollen wir annehmen: jener Erste ziehe den Zuschauer wirklich zu Rathe: wird nun der Rathgeber sogleich seine [16] Vorschriften ausschütten? Vielmehr, zuerst wird er wissen wollen, wozu die Vorschriften denn eigentlich gesucht werden? Wozu sie dienen sollen? Was man damit erlangen wolle? Er wird fordern, dafs man erst die Zwecke, deren verschiedene oft genug zugleich und vermengt beabsichtigt werden, gehörig sondere und überlege, bevor man nach Mittsln fragt. Bey solcher Sonderung trennt sich bekanntlich die Sittlichkeit von der blofsen Welt- klugheit.

a b u. c SW drucken nach der II. Ausg. ohne die Abweichung der I. Ausgabe anzugeben.

Herbart's Werke. IX 3

9i II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1 .

[14] 12. 1 Unter den besondern Arten des praktischen, auf Philosophie gerichteten, Bedürfnisses, die wir jetzt näher zu bestimmen haben, ist die erste Art ohne Frage dasjenige Bedürinifs, welches der moralische Mensch unmittelbar empfindet. Mitten unter Geschafften und Erhohlungen nimmt der sittliche Mensch eine Stellung gegen sich selbst an, die ihm bey näherer Betrachtung zum Räthsel wird; und zwar zu einem solchen Räthsel, dessen Auflösung ihm nicht gleichgiltig seyn kann und darf. Sein eigenes Ich spaltet sich vor seinen Augen (denn Er selbst beschaut dieses Ich) in zwey Theile, deren einen man das Object, den andern das Subject nennt. Er findet, dafs er sich über sich selbst erhoben hat (7,), indem er Ordnung hält und wacht, damit in der gegenseitigen Be- stimmung seiner Beschäfftigungen, Gesinnungen, Familien- und Dienst- Verhältnisse so wenig Mishelliges als möglich vorkomme. Aber es kommt dennoch vor; er tadelt nun bald seinen Mangel an Klugheit, bald die Einseitigkeit seines Strebens, bald sogar seine Gemüths-Regungen und deren verborgene Keime. Woher kommt (so fragt er sich) dieser Wider- wille, diese Schlaffheit, diese Lüsternheit, diese Selbstsucht? Indem er mit solchen Fragen in die Falten seines Herzens eindringen will: hört er die Kirche reden von der Sünde mit Sündern. Redet sie auch zu ihm ? Wer mag es läugnen? Wer wird nicht fürchten, dafs hinter dem Ge- meinen noch mehr Schlechtes lauere, als dem gewöhnlichen Bewufstseyn sich offen darlegt? Aber die Kirche redet weiter von der Vergebung der Sünden. Wenn nun Gott vergiebt: kann ich darum mir selbst ver- geben? — Gesetzt, darauf erfolge die Antwort: Was Gott verzeiht, sollst Du auch verzeihen! so mag wohl der Fromme gehorchen, aber das Andenken an wirklich begangene Fehler ist damit nicht ausgelöscht, die Sorge wegen der fortdauernden Schwäche ist noch nicht gehoben. Soll man im Voraus wegen künftiger Sünden sich damit trösten: sündige nur! Du wirst auch in der Zukunft abermals, und immer von neuem Ver- gebung erlangen? Ein schlechter Trost in jeder Hinsicht. Die Reue wegen des Vergangenen mufs blei[i5]ben; sie ist noch am ersten fähig, gegen künftige Fehltritte, ja gegen tieferes Versinken der Sitten und Gesinnungen einige, wiewohl unzuverlässige, Bürgschaft zu leisten.

Hier tritt Spinoza hervor, mit mancher seltsamen Rede. Reue, sagt er, ist keine Tagend, stammt nicht aus der Vernunft; wer bereut, ist doppelt elend, doppelt ohnmächtig. Nur darum, weil die Menschen selten nach der Vernunft leben, bringen Demuth und Reue mehr Nutzen als Schaden. Daher freylich : qaandoqitidcm peccandnm est, in istam partem potius peccandwn ! * Aber Demuth ist Traurigkeit , welche daher rührt, dafs der Mensch seine Ohnmacht betrachtet. Wiefern hingegen der Mensch sich selbst der Wahrheit gemäfs erkennt, in so fern erkennt er sein Wesen, das ist, seine Macht. Wenn also der Mensch irgend etwas Kraftloses an sich bemerkt, so kommt das nicht daher, dafs er sich selbst erkenne*

1 die Worte „Unter den besondern Arten . . . Erhohlungen*' (z. 4 v. o.) fehlen in der II. Ausg., die mit dem darauffolgenden, etwas veränderten, Satze so beginnt: „Der sittliche Mensch nimmt eine Stellung gegen sich . . .

* Ethicae Pars IV, propos. 54.

i. Abschnitt. Elementarlehre, i. Capitel. Vom praktischen Bedürfnisse etc. ? r

Wiewohl wir nun hier auf den Zusammenhang der Lehre des Spinoza nicht eingehn können, so erinnert doch dieser ermunternde Zuruf an die eben vorhin bemerkte Spaltung im Ich. Das objcctive Ich, dasjenige, als welches der Mensch sich findet, und was ihm als Gegenstand vor- schwebt, mag schwach und schlecht seyn; aber ist denn dies das ganze

ist dies vorgestellte Ich das wahre Wesen des Ich? Der Mensch wird ja nicht blofs gefunden, sondern Er selbst findet sich. Der Ge- fundene erscheint schwach ; darum tadelt ihn der Findende; dieser Tadler ist also der Herr und Meister, welcher stark zum Meistern nur auch stark genug seyn sollte zum Handeln! Ist er denn das, oder nicht?

Neue, und gar viele Stimmen lassen sich hören. Der Mensch ist frey (so rufen sie), er kann was er will. Aber weder Spinoza noch die Kirche stimmen damit überein.

Spinoza redet zwar auch von Freyheit; er meint aber nicht Freyheit zum Handeln, sondern Befreyung von Affecten. Auch hier noch bleibt, seinem eignen Geständnisse zufolge, eine [16] Schwäche zurück; wir haben keine volle Herrschaft über die Affecten*). Der Weise gewinnt nur Ruhe, indem er die ewige Notwendigkeit der Dinge betrachtet**), das heifst, indem er aufhört, ein praktischer Mensch zu seyn.

Die Kirche rechnet gar wenig auf die Freyheit; sie rechnet über- haupt nicht auf die Werke des Menschen, sondern auf den Glauben. Durch diesen, spricht sie, sollt ihr selig werden.

Lassen wir nun den moralischen Menschen in sich selbst einkehren. Was diesen beschäfftigt, das ist nicht zunächst, und nicht ganz, die Sorge um Ruhe und Trost; sey es auch die Ruhe des weltbeschauenden Weisen, oder sey es der Trost des Glaubens, Er sucht zu allererst die Richtig- keit seiner Lebensführung; und hiezu findet er sich schwach and stark zugleich. Fortwährend erzeugt er aus dem Tadel des Mangelhaften in seinem Thun eine neue Stärke des Entschlusses, es besser zu machen; und wiederum leistet die also gewonnene Kraft niemals voll- ständig was sie sollte. So hat also das subjective und das objective Ich sich zwar getrennt, aber stets läuft über die Scheidungslinie zwischen beiden ein Thun und Leiden hin und her; eine geistige Wechselwirkung in und mit uns selbst. Etwas derselben 1 Aehnliches kommt auch in sehr aus- gebildeten Staaten vor, wo unablässig die Regierung beobachtet, tadelt und bessert, indem sie Befehle und Erinnerungen und Strafen nicht spart.

2 Das erste besondere Bedürfnifs, welches den praktischen Menschen zur Philosophie hintreibt, liegt nun vor Augen. Es kommt darauf an, von jener Wechselwirkung richtige und deutliche Begriffe zu fassen. Aber

* Spinozae ethica, in praefatione partis V. ** 1. c. propos, 42 Schol.

1 „etwas derselben" fehlt in der II. Ausg.*

2 Der Abschnitt: „Das erste besondere Bedürfnils . . . zum Grunde." weicht in der II. Ausg. folgendermafsen ab: Von jener Wechselwirkung richtige und deutliche Begriffe zu fassen: dies ist die grofse, die innerste Ange-

a SW drucken nach der II. Ausgabe ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

*

II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

dies Bedürfnifs ist noch nicht einfach; vielmehr liegen ihm zwey Fragen

zum Grunde:

Erstlich: Was tadelt oder lobt eigentlich das betrachtende, subjective

Ich an dem ocjectiven?

Zweytens: Welche Möglichkeit des Wirkens und Leidens verknüpft die beiden Theile des Ich dergestalt, dafs, wenn [17] man dieselbe genau genug kennte, alsdann mit Absicht und Kunst dieser Wechsel- wirkung die gehörige Richtung könnte gegeben werden?

Drittens darf1 nicht vergessen werden, dafs beide Fragen auch nach vergröfsertem Maafstabe auf die Gesellschaft, die sich selbst beobachtet und leitet, können übertragen werden.

13. Die so eben aufgestellten Fragen sind nur zu sehr geeignet,2 den Menschen in die Betrachtung seiner Selbst zu versenken; 3hiemit aber durch gewöhnliche Fehler das Nachdenken in leere Abstractionen zu verleiten; um dies zu vermeiden, betreten wir von neuem den be- kannten Grund und Boden des praktischen Lebens. Da steht nun keines- weges blofs ein subjectives Ich oben und ein objectives unten; nicht einmal den Staat würde man durch4 das Verhältnifs zwischen der Re- cüerung und den Unterthanen richtig auffassen: sondern was unten steht, das ist ein Mannigfaltiges, nach vielerley Seitenrichtungen sich Ausbreitendes. Beschäfftigungen, Gesinnungen, Familien, Dienste, für den Einzelnen und in der Gesellschaft! Hier liegen die Schwierigkeiten, die Verwickelungen. Eine tüchtige Regierung begnügt sich nicht, zu befehlen und zu strafen, sondern sie hilft, sie erleichtert, sie ordnet, sie schafft durch neue Einrichtungen neue Hülfsmittel. Und der einzelne Mensch, wenn er nichts Aehnliches thut, wird sich selbst allemal schlecht regieren, wie sehr moralisch er auch seyn mag. Wer nun dies einsieht: wird er nicht, vom stärksten praktischen Bedürfnisse getrieben, sich an die Philosophie um Belehrung wenden?0

Es ist zwar schon oben (7 und 9.) anerkannt, dafs wir verständigen und wohldenkenden Männern im Allgemeinen die Voraussetzung schuldig sind, sie werden theils ihre Lebensverhältnisse ins Gleichgewicht zu bringen, anderntheils, was daran fehlt, durch eine Resignation, die wenigstens den Gleichmuth sichert, zu ersetzen suchen. Allein wenn wir auf das Privat- leben der Menschen genauer hinblicken: so sehn wir zuerst dafs

legenheit, womit der sittliche Mensch sich an die Wissenschaft wendet, damit sie ihm Aufschlufs ertheile. Aber dies Bedürfnifs ist noch nicht einfach; vielmehr liegen ihm zwey sehr verschiedene Fragen zum Grunde:

1 Es darf ... II. Ausg. *

2 sind sehr geeignet ... II. Ausg.b

3 Der folgende Satz lautet in der II. Ausg: hiebey aber können gewöhnliche Fehler das Nachdenken in leere Abstractionen verleiten; um dies . . . c

4 würde man blofs durch II. Ausg.

5 Nach „wenden" hat die II. Ausg. noch folgenden Satz: „Man könnte es erwarten; aber die Erfahrung zeigt sich solchen Erwartungen eben nicht günstig. Es ist zwar . . .

a b u. c SW drucken nach der II. Ausg. ohne die Angabe der Abweichung der I. Ausg.

i. Abschnitt. Elementarlehre, i. Capitel. Vom praktischen Bedürfnisse etc. 37

Niemand gern ein Sonderling heilsen mag. [18] Jeder fügt sich den Sitten,

also vollends den Umständen, die ihn zwischen Gewinn und Verlust stellen, wenn sie nicht ganz unmittelbar das Gewissen rege machen. Der Einzelne wird demnach gar selten die Philosophie um Rath fragen, wie er den Tag und das Jahr eintheilen solle, um für sich und Andre auf's zweckmäfsigste zu leben. Erst wenn in gröfsem Kreisen irgend ein Motiv auf die Mehrzahl wirkt: dann pflegt sich das Löbliche und das Bequeme gelten zu machen; doch auch nur in Form einzeln stehender Reflexionen. Und wieviel wirken denn diese Reflexionen? Was haben denn, um nur Ein Beyspiel anzuführen, die Betrachtungen der Philosophen über das Theater vermocht? Ist darum eins mehr oder weniger errichtet; hat man sich irgendwo entschlossen, den kostbaren Opern-Pomp zu entbehren. um für den ächten dramatischen Dichter und Schauspieler Platz zu ge- winnen? Oder, >um aus des Verfassers Erfahrung etwas zu erwähnen, was hat es geholfen, dafs seit einem Vierteljahrhundert öfter die einfache Bemerkung ausgesprochen wurde, der anerkannte Vorzug der griechischen Auetoren vor den römischen, und schon die historische Priorität der Griechen müsse im Tugendunterricht Latein und Griechisch in umgekehrte Reihenfolge stellen; weil die jetzt übliche Folge an sich die verkehrte ist, und der frühern Jugend gerade die besten Eindrücke, welche das Alter- thum den empfänglichen Gemüthern darbieten kann, unzugänglich macht ? Und doch ist der Jugendunterricht noch bey weitem leichter abzuändern, als dies in den Lebens-Verhältnissen des reifen Alters möglich ist. Vom Duell dem sogar die Gesetze entgegentreten, - wollen wir lieber schweigen. Die einzelnen Fehler haben ihre vesten Wurzeln im Ganzen der Sitten und Gewohnheiten.

Wenn nun die Frage, was eigentlich in Ansehung der wichtigsten Lebens-Verhältnisse die Philosophie dem praktischen Bedürfnisse zu leisten habe, und wirklich leiste? noch nicht im Zusammenhange kann beant- wortet werden; wenn z. B. die Tauglichkeit zum Staatsdienst noch blofs durch Prü[i9]fung der Kenntnisse ausgemittelt, die Wirkung der vorge- schriebenen Arbeit auf den Arbeiter selbst aber nicht überlegt, sondern ihm soviel als möglich aufgebürdet, und sein Geschafft dabey so einseitig, wie es der blofse Begriff desselben mit sich bringt, zugeschnitten wird; wenn die Staatsdiener auch selbst, ohne viel dabey nachzudenken, so viel Last übernehmen, als bezahlt wird, und daneben Erhohlung suchen, wo sie zunächst Gelegenheit finden; wenn der Ton und die Form des geselligen Umgangs zwar überall in Reiseberichten und Journalen, wenn die mancherley Motive bey Schliefsung der Ehen zwar überall in Ro- manen und Novellen, wenn das wichtige Capitel von der Freundschaft zwar in der Regel bey den alten Philosophen zur Sprache kommt, die neuern philosophischen Werke aber davon wenig oder nichts zu wissen scheinen;

wenn höchst selten einer von den grofsen Denkern sich um die, in alle Lebensverhältnisse so tief eingreifende National-Oekonomie bekümmert

1 Der folgende Satz „um aus des Verfassers Erfahrung etwas zu er- wähnen" fehlt in der II. Ausg.

■2$ II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

hat, wenn die damit so eng verbundene Lehre von den Erbschaften und Testamenten fast ganz den Juristen überlassen wird ; so darf man aus dieser Unreife der Philosophie nicht auf Unvermögen schliefsen, sondern die Philosophie hat sich zurückgezogen, weil man auf sie nicht hören wollte; sie hat diejenigen Untersuchungen liegen lassen, von denen für die Praxis nichts zu erwarten war; sie hat dem Reize des theoretischen Denkens nachgegeben, weil sie diesem Interesse ungestört folgen konnte. *Man wird aber wohl nicht glauben, das Bisherige gebe den Maafsstab fürs Künftige. Vieles wird Europa von Nord-Amerika lernen, sobald dort die Philosophie zur Blüthe gelangt. Vieles wird sich in Deutschland selbst verändern, sobald man erst einsehn wird, dafs die Speculationen, die im engen Kreise der allgemeinsten metaphysischen Grundbegriffe möglich waren, jetzt durchlaufen sind, und die Wahl zwischen den gemachten Versuchen sich bald entscheiden mufs ; daher auch der Streit der Systeme nicht gar lange mehr so wie bisher, zum Nachtheil der Auctorität, welche der Philosophie gebührt, unentschieden schweben kann. Gesetzt aber, man wolle das Gegentheil glauben: so [20] weifs man wenigstens, dafs manche Ereignisse, welche in neuerer Zeit auf die Philosophie gewirkt haben, sich nicht leicht in ähnlicher Art wiederhohlen können. Jener Taumel der Völker, da man von papiernen Constitutionen Heil er- wartete, ist vorüber. Auch die Philosophen werden nun nicht mehr die Frage von der Staatsverfassung herausreifsen aus dem Zusammenhange, wohin sie gehört. Sie werden einsehn, dafs einzelne Fragepuncte über eine grofse Verkettung von Ursachen und Wirkungen nicht einmal richtig beurtheilt, vielweniger einzelne Uebel in der Wirklichkeit mit Erfolg be- kämpft werden können. Als Resultat der Betrachtung können wir wenigstens dies veststellen:

Das praktische Bedürfnifs der Philosophie in Ansehung der Lebens- verhältnisse geht dahin, die einzelnen Reflexionen darüber, welche für sich eben so unwirksam als unbestimmt und schwankend bleiben würden, zu einem System zu verknüpfen, welches dem wirklichen Ineinandergreifen dieser Lebensverhältnisse entspreche, und sie so voll- ständig als möglich beleuchte.

14. 2Es wird scheinen, hier geschehe ein Sprung im Schliefsen; welches andeutet, dafs die Betrachtung mufs fortgesetzt werden.

1 Der folgende Text bis zum Schlufs von 13 ist in der II. Ausg. weggeblieben.

- Statt der folgenden 4 Absätze: „Es wird scheinen ... in welche sie dadurch geräth" hat die II. Ausg folgenden Text:

14. Um den Unterschied der theoretischen und praktischen Philosophie anzudeuten, haben wir oben dem um die richtige Anordnung seiner Lebens- weise besorgten Menschen einen kalten Zuschauer gegenüber gestellt. Die Kälte mag nun verschwinden; der gleichgültige Zuschauer mag sich in den theilnehmenden verwandeln. Die Theilnahme mag nicht blofs die äufseren Lebensverhältnisse (7 u. f.), sondern auch das Innere, die Wechselwirkung des Menschen mit sich selbst (12.) umfassen. Aber es schwell in Frage, wie viel oder wie wenig diese Theilnahme helfe? Sie soll sich nicht aufdringen, wo sie nicht gesucht, vollends wo ihr wider- strebt wird. Vorausgesetzt nun, die Philosophie ziehe sich zurück vor

i. Abschnitt. Elementarlehre, i. Capitel. Vom praktischen Bedürfnisse etc. 30,

Die Unwirksamkeit einzelner Reflexionen über praktisch-wichtige Lebensverhältnisse zeigt zwar ihre Schwäche; der Schlufs, welcher sich zunächst darbot, war alsdann dieser: man mufs die Ueberzeugungskraft der nämlichen Reflexionen verstärken, indem man sie verknüpft, und gegenseitig durch einander bewährt oder berichtigt. Der Sprung im Schliefsen aber scheint sich zu verrathen, indem an den Widerstand ge- dacht wird, den die philosophischen Anweisungen finden. Es ist nämlich die Kraft des Widerstandes keine bestimmte Größe, die man zu übenvinden hätte, sondern sie wächst, je meh) sie gespannt wird* [21] Jemehr An- sprüche, desto stärker die Zurückweisung. Wenn die Argumente systematisch anrücken, so wird der Sturm des wirklichen Lebens sie desto sicherer fassen und zerstreuen. Wollen die Philosophen sich noch lauter als bisher gelten machen, und zwar aufserhalb ihrer Schulen: so wird nur desto sicherer von dem Geschrey, das sich erhebt, ihre Stimme übertönt werden. Es wäre vergeblich, und es heifst blofs die Weit nicht kennen, von einem Systeme gröfsere Ueberzeugungskraft zu erwarten, als von einzelnen Reflexionen.

In der That also bedarf das vorhin Vestgestellte einer nähern Be- stimmung, von der es sich mufs beschränken lassen.

Obgleich die Philosophie ihren Beruf, dem praktischen Menschen zu dienen, anerkennt: so zieht sie dennoch sich vor einem Widerstände, den sie nicht überwinden kann, zurück, und überlegt nun weiter die Stellung, in welche sie dadurch geräth.

Praktisches Bedürfnifs nach Lehre und Warnung würde für uns vor- handen seyn, wenn wir Theil hätten an den Ereignissen fremder Länder; während wir aber etwa in der Zeitung die Erzählung lesen von Dingen, bey denen wir nichts thun können, gerathen wir in einen Mittelzustand zwischen Bedürfnifs und Gleichgültigkeit; wir bleiben aufmerksame Zu- schauer, unser Interesse hat noch immer einen praktischen Grund, denn wir denken uns in die fremden Angelegenheiten hinein, jedoch dies Interesse läfst sich von einem theoretischen nicht mehr scharf unter- scheiden. Und wie die Natur uns weniger im Einzelnen, mehr durch ihren grofsen Zusammenhang interessirt: so auch lassen wir bey Angelegen- heiten des Lebens, die wir nicht lenken können, los von dem Augen- blicklichen, und fragen nur: was wird daraus werden? Wie konnte es werden? Unser Denken richtet sich auf Zukunft, auf Vergangenheit, auf die Verbindung zwischen beiden.

Mit Einem Worte: das praktische Bedürfnifs der Philosophie geht über in das Interesse für die Philosophie der Geschichte. Müssen wir uns abwenden von den Lebensverhält[2 2]nissen, die sich keine Ab- änderung durch guten Rath wollen gefallen lassen; kann es wenigstens

einem mannigfaltigen Widerstände, den sie überwinden weder kann noch will: so leitet uns eben diese Voraussetzung dahin, die Gränzen der bis- herigen Betrachtung zu erweitern; denn wir sind hier keinesweges auf das Gebiet einer unmittelbaren praktischen Wirksamkeit beschränkt.

* Der Leser beliebe, sich diesen Satz vest einzuprägen. Es ist mannigfaltiger Gebrauch davon in höhern Untersuchungen zu machen.

4Q II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

für jetzt nicht lohnen, in Ansehung ihrer ein eigentliches System der Wissenschaft aufzustellen; sind vielleicht im Gebiete des Wissens selbst manche Gedanken noch nicht reif genug dazu; mufs vielleicht die Philosophie selbst ihre Würdigkeit, als öffentliche Rathgeberin geehrt zu werden, voll- ständiger darthun; mufs sie die Streitigkeiten ihrer Schulen erst zu Ende bringen, bevor sie nach Aufsen wirken kann : so verschwindet zwar darum ihre Theilnahme an den menschlichen Angelegenheiten nicht; aber die- selbe dehnt sich weiter aus, kümmert sich weniger um den Augenblick, betrachtet das Ganze mehr aus der Ferne, umfafst einen gröfseren Ge- sichtskreis, sucht die Gesetze des Fortgangs und Rückgangs der mensch- lichen Dinge im Allgemeinen aufzufassen; und benutzt dazu die That- sachen, welche die Geschichte ihr darbietet.

15. Die Geschichte hat das Eigne, dafs sie die Handlungen der Menschen, welche einzeln genommen für frey gelten, als Tropfen in einem Strome darstellt, der ihnen seine Bewegung ertheilt und sie mit sich fort zieht. Diejenigen z. B., welche der Philosophie den Zutritt zu praktischen Dingen versperren, machen eben dadurch ihrer Freyheit Bahn ; sie wollen nur gehorchen wo sie müssen, nicht aber den machtlosen Ansprüchen ungebetener Rathgeber sich fügen. Indem sie nun frey handeln, ^ um möglichst frey zu bleiben: sieht der Philosoph in ihrem Thun nichts anderes, als einen bleibenden Widerstand der lorurt heile, die zu einem gröfsern Kreise von Meinungen, Partheyungen, Privat-Interessen gehören, wie man dergleichen überall in der Geschichte wiederfindet. An den Ausspruch : Sie wissen nicht was sie thun ! wird man oft genug auch von Solchen erinnert, welche meinen, sehr genau zu wissen was sie thun.

Es zeio-t sich aber hier ein merkwürdiger Unterschied der Ansicht bey verschiedenen grofsen Denkern. Kant überliefs alles Zeitliche, mithin auch das Treiben der Menschen, so fern [23] es in jenem Strome schwimmt, der Natur-Nothwendigkeit ; er fand die Freyheit, worauf die menschlichen Handlungen Anspruch machen, nicht in dem Handeln, sondern im Willen; nicht im Sinnlichen, sondern im Uebersinnlichen. Die Zeit selbst war in seinen Augen blofse Erscheinungsform; das wahr- haft-Seyende, unerreichbar nicht blofs unsern Sinnen, sondern auch unserm Verstände, sollte als der Sitz der Freyheit von allem Grübeln unange- tastet bleiben, damit die Begriffe von Schuld und Verdienst, die Voraus- setzungen der Zurechnung, nicht von der Natur-Nothwendigkeit möchten verschlungen werden.

Was Kant zum Obersten machte, das stellt Hegel in den untern Rang. Bey ihm giebt es vier welthistorische Reiche: das orientalische, griechische, römische und germanische; es giebt ein Heroenrecht zur Stiftung von Staaten; dies ist das absolute Recht der Idee, die sich verwirklicht, sey es nun, dafs die Form dieser Verwirklichung als göttliche Gesetzgebung und Wohlthat, oder als Geivalt und Unrecht erscheine. Die Völkergeister haben ihre Wahrheit und Bestimmung in dem Weltgciste, um dessen Thron sie als Vollbringer und als Zeugen seiner Herrlichkeit stehen. Staaten, Völker und Individuen haben zwar ihre Art von Wirklichkeit, deren sie sich bewufst, und in deren Interesse sie vertieft sind; allein zugleich sind sie unbewufste Werkzeuge des innern Geschäffts, wodurch der

i. Abschnitt. Elementarlehre, i. Capitel. Vom praktischen Bedürfnisse etc. u

Weltgeist fortschreitet, indem er bey jedem Uebergange sich seine nächst höhere Stufe vorbereitet und erarbeitet. Wo bleiben denn hier Ver- dienst und Schuld? „Gerechtigkeit und Tugend, Unrecht, Gewalt und Laster, Talente und ihre Thaten, die kleinen und die grofsen Leiden- schaften, Schuld und Unschuld, Herrlichkeit des individuellen und des Volkslebens, Selbstständigkeit, Glück und Unglück der Staaten und der Einzelnen, haben in der Sphäre der bewufsten Wirklichkeit l ihre Be- deutung und ihren Werth, und finden darin ihr Urtheil und ihre, jedoch unvollkommene Gerechtigkeit. Die Weltgeschichte fällt aufser diesen Gesichtspuncten; in ihr erhält dasjenige nothwendige [24] Moment der Idee des Weltgeistes, welches gegenwärtig seine Stufe ist, sein absolutes Recht; und das darin lebende Volk und dessen Thaten erhalten ihre Vollführung, und Glück und Ruhm."*

Man sieht, Freyheit der Einzelnen, Zurechnung der Handlungen, wird hier untergeordnet, die Naturnothwendigkeit aber, welcher die Menschen dienen ohne es zu wissen, ist zum Weltgeiste verklärt.

Wir haben nun zwar hier nicht nöthig, uns für Hegel oder für Kant zu erklären ; allein wir erblicken hier Versuche, Freyheit und Xatur zu vereinigen; diese Versuche entstehen, indem die menschlichen Handlungen als historische Gegenstände sollen betrachtet werden; denn dadurch ver- wandelt sich vor unsern Augen das Freye ins Natürliche; und das Be- wufstseyn, worin der Wille sich selbst anschaut und bestimmt, wird ein Gegenstand, der sich und seinen Platz nicht kennt, nicht weifs wie ihm geschieht, wem er dient, was er bedeutet und werth ist. Gerade wie Menschen, die, ohne es zu merken, von unsichtbaren Obern gelenkt werden.

So hat sich demnach unser voriger Gesichtskreis sehr verändert und erweitert. Das praktische Bedürfhifs der Philosophie wollten wir zergliedern. In dem Augenblick, wo auf dem Schauplatze des menschlichen Lebens die Philosophie sich recht thätig zeigen sollte, fanden wir, sie habe sich zurückgezogen. Warum ? weil sie Widerstand erleidet. Hiedurch trat an die Stelle des Bedürfnisses ein blofses Interesse, es fand sich ein Schauen statt des Wirkens; zugleich aber erweitert sich der Blick; er dehnt sein Gesichtsfeld so aus, dafs die Natur mit hinein gehört.

Hier geschieht ein Schritt, der sich nicht halb thun läfst. Es gehört zu den Abstractionen, die als nächste Anlässe zu mancherley Irrthum sollen gemieden werden, wenn man das Zeitliche losreifsen will vom Räumlichen. Alle Geschichte hat \_2^\ ihren Schauplatz; alles menschliche Leben ist leiblich und geistig zugleich; Familien- und Dienstverhältnisse könnten ohne den Leib, und ohne den Boden, auf dem er wandelt, nicht einmal gedacht werden. Mag also immerhin die Naturphilosophie dem praktischen Bedürfnisse fremdartig scheinen: wer keine zerrissene Philosophie will, der mufs auch dahinein schauen.

16. Die naturphilosophischen Fragen hängen nun wieder unter sich

* Hegels Xaturrecht, § 344, 345, 352 u. s. w.

1 haben in der bewufsten Wirklichkeit SW. („der Sphäre" fehlt).

12 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

zusammen. Man kann von dem menschlichen Leibe nichts Gründliches wissen, wenn man nicht zuvor weiis, was ein starrer Körper ist, und was in ihm vorgeht, wenn er flüssig wird; man kann die Flüssigkeit nicht er- klären, wenn nicht die Begriffe von der Wärme gehörig bestimmt, und die Streitigkeiten hierüber wenigstens mit Wahrscheinlichkeit entschieden sind, u. s. w. Allein hiemit soll nicht gesagt seyn, dafs alle Puncte der Naturphilosophie für das praktische Interesse in den gleichen Rang treten könnten, *Sie stehn vielmehr demselben theils näher theils ferner, und müssen in dieser Stellung gehalten bleiben, wenn nicht der Zweck dieses Buches soll verrückt werden.

Das leibliche Leben des Menschen ist der Punct, von wo aus das praktische Interesse (um nicht mehr zu sagen: das praktische Bedürfnifs,) 2 in die Naturlehre hinübergreift. Schon dann geschieht eine beträchtliche Erweiterung dieses Anfangs, wenn wir den menschlichen Leib als einen Thierleib im Allgemeinen, und wiederum das Thier neben der Pflanze als Organismus überhaupt ins Auge fassen. Damit jedoch bis hieher wenigstens das praktische Interesse willig folge, dazu wirkt ein starker Grund, der nur braucht genannt zu werden: die Ziveckmäfsigkeit der Organismen, und die Aehnlichkeit in ihrem Bau, worin Jedermann sogleich auf den Gedanken Eines Schöpfers würde geführt werden, wenn ihm auch von Gott nie etwas gesagt wäre. Allein die Philosophie hat in dieser Sphäre, wo sie vor dem Unbegreiflichen still steht, mehr ein negatives, als ein positives Geschafft. Sie mufs Irrthümer falscher Systeme ab- wehren. 3

[26] 17. Bisher hatten wir das allgemeine praktische Bedürf- nifs der Philosophie im Auge (7.); welches Statt finden wird, wo irgend Menschen zusammen ein geordnetes Leben führen wollen. Wir hielten uns auf einem Standpuncte der Abstraction von den besondren Ver- hältnissen der jetzigen Zeit, und dem daraus entspringenden Bedürfnisse. Allein das Besondere enthält neue, oft stärkere, oft auch entgegengesetzte Motive, als das Allgemeine. Das am meisten Besondere, nämlich das Individuelle, enthält die stärksten von allen. Ob philosophisches Talent bey Diesem oder Jenem in hohem Grade vorhanden ist oder fehlt: darin liegt für den Einen und den Andern der stärkste Antrieb und die stärkste Abmahnung.

Hievon schweigend, heben wir aus dem Besondern des heutigen wissenschaftlichen Zustandes das Nöthigste heraus; indem wir die Philo- sophie als Facultätswissenschaft neben andern betrachten, mit Rücksicht auf die sogenannten obern Facultäten, der Theologie, Jurisprudenz, und Medicin, und mit Erinnerung an den, in der That sehr besondern Um- stand, dafs die Philosophie meist von den Kathedern ausgeht.

1 Die folgenden Worte „Sie stehn vielmehr . . . soll verrückt -werden" fehlen in der II. Ausg.

- Die Parenthese: „(um nicht mehr zu sagen: das praktische Bedürf- nifs,)" fehlt in der II. Ausg.

ä falscher Systeme abwehren; ein Umstand, auf den wir späterhin zu- rückkommen. II. Ausg.

i. Abschnitt. Elementarlehre, i. Capitel. Vom praktischen Bedürfnisse etc. 43

Jünglinge werden ermahnt, in die philosophischen Hörsäle zu gehen. Was ist der ursprüngliche Zweck? Sollen sie etwa dort Theologie, Juris- prudenz, und Medicin lernen? Gewifs nicht; und wenn irgend ein philo- sophischer Vortrag sich davon die Miene giebt, so entfernt er die Zu- hörer von ihrem Zwecke. Aber ein gewisses Geschick, eine gewisse Vor- übung für jene Studien sollen sie dort erlangen; ein allgemeines Geschick für alle, und zwar zunächst ohne Rücksicht auf den Unterschied und auf die Verbindung derselben unter einander. Welches Geschick? Das des abstracten Denkens auf dessen verschiedenen, höhern und niedern Stufen. Begriffe als solche sollen sie behandeln lernen: sonst kommen sie in die Hörsäle der obern Facultäten mit dem rohen psychologischen l Mechanismus, welcher, vom Einzelnen nicht loslassend, überall das Bedeutende ins Zufällige versinken läfst, und an Beyspielen klebend, die Hauptpuncte nicht vestzuhalten ver[2 7]mag. Gesetzt einmal, die Theologen, Juristen, Aerzte, führten unter sich keine gelehrten Streitigkeiten, und zerfielen nicht in Partheyen: dann möchte das Bedürfnifs der Philosophie weniger merk- lich seyn; um aber diese Streitigkeiten auch nur zu verstehen, dazu ist nöthio-, die Puncte, worauf es ankommt, herausheben zu können; anderes aber bey Seite zu setzen; die verschiedenen Meinungen in gehörige Ent- fernung gegen einander zu stellen; und nun den Spielraum, welcher für eine jede noch übrig bleibt, ja die Bewegungen, welche innerhalb dieses Spielraums noch möglich sind, zu bestimmen; damit man sehe, ob die Partheyen sich, ohne etwas Wesentliches aufopfern zu müssen, vereinigen lassen, oder auch, welche Aufopferungen des zuvor Behaupteten die die kleinsten seyen, damit die Vereinigung mit dem geringsten Verluste zu Stande komme. Dies ist die Ansicht der Philosophie, welche sich den obern Facultäten stets von neuem aufdringen wird, wenn sie ja aus übler Laune versuchen sollten, die Philosophie für entbehrlich zu erklären.

Aber, möchte man sagen, warum sollen die Schüler der Theologen, Juristen, und Medianer, alle aus einer gemeinsamen Vorschule kommen? Mag doch jede Facultät sich selbst ihre Vorschule einrichten; und, weil alsdann drey Philosophien neben einander entstehen würden, so mag zur Vermeidung des zu besorgenden Streites der philosophische Boden im Voraus getheilt werden ! Dann bekommen die Theologen das Uebersinnliche, die Juristen die Gesellschaft, die Aerzte die Materie und das irdische Leben. Offenbar hätten solchergestalt die Aerzte nicht blofs den reich- haltigsten Stoff, sondern auch das Uebergewicht. Denn über Materie und leibliches Leben, mit Inbegriff des zeitlichen Seelenlebens, lassen sich die weitläufigsten Untersuchungen, gegründet auf Erfahrung, und eben durch sie auch zu unsinnlichen Dingen fortgeführt, anstellen; während die Juristen lediglich unter Voraussetzung des leiblichen Lebens eine Gesellschaft vor sich sehn. Diese Voraussetzung, sammt den zu ihr gehörigen Kenntnissen und Nachforschungen müfsten also die Juristen [28] von den Aerzten entlehnen; der Weg zu ihrem Grundstück ginge dann durch einen fremden Garten. Die Theologen vollends sprechen nur von dem Verhältnifs zwischen

1 psychischen n- Ausg.a

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne die Abweichung der I. Ausg. anzugeben.

, , II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

Gott und den Menschen; die Menschen aber wohnen auf der Erde; die Erde aber ist ein Planet, der früher da war, als die Menschen; das Planetensystem unserer Sonne aber gehört zum Fixsternhimmel; welche Anordnungen aber die Gottheit auf ander 71 Sternen getroffen habe, das wissen die Theologen nicht; ihr Wissen von dem Wirken Gottes ist demnach so aufserordentlich beschränkt, dafs,1 wenn sie die Seele des Menschen im zeitlichen Leben an die Aerzte, und überdies die geselligen Verhält- nisse der Menschen an die Juristen zur Betrachtung abgeben wollten, ihre Philosophie in jedem Betracht zu kurz kommen dürfte! Die Theilung des Bodens der Philosophie gelingt also nicht; und wer die Schwierig- keiten, diesen Boden zu bearbeiten, nur einigermafsen aus der Geschichte der Philosophie kennt, dem kann es nicht einfallen, solche Arbeit als ein Nebengeschäflt denen anheim zu stellen, die ohnehin genug zu thun haben.

18. Aus diesen Gründen würde von einer Übeln Laune der obern Facultäten gegen die Philosophie gar kein Gedanke entstehen können, wenn nicht die Philosophen Manches verschuldet hätten, was aus ihrer Stellung leichter zu erklären, als zu entschuldigen ist. Beschäftigung mit abstracten Begriffen macht dieselben zu Objekten des Denkens. Durch die Vertiefung des Denkens gerathen nun diese Objekte scheinbar in Eine Reihe mit den gegebenen Objecten. Die ganze Geschichte der Philosophie bezeugt, welche eingebildete Erkenntnifs daraus entspringt, dafs man die Beziehung des Abstracten auf das Gegebene aus den Augen verliert. So bekamen Platons Ideen den Schein von Realität; so gerieth Aristoteles auf die Frage, welche Stelle den mathematischen Gegenständen neben den Ideen und den Sinnendingen gebühre; so kam eine reine Vernunft und ein reines Ich zum Vorschein, und so mufste ein berühmtes Buch, die Kritik der reinen Ver[2g]nunft, geschrieben werden, um zu zeigen, das Seelen-Vermögen, genannt reine Vernunft, sey kein Erkenntnifs- Vermögen; anstatt zu sagen, die eingebildete reine Vernunft sey nichts anderes, als ein Abstractum, dessen Beziehungen die Psychologie vergessen habe. Friedrich Schlegel, der zwar die ganze Philosophie für eine Art von angewandter Theologie hielt,* machte gegen das Abstractum, welches man das Absolute nennt, die sehr richtige Bemerkung: „Ich wäre begierig zu sehen, wie man aus dem metaphysischen Lieblings-i&or/^" des Absoluten irgend eine positive Eigenschaft Gottes, z. B. die Geduld oder Langmuth herleiten wollte. Wir dürfen hoffen, dafs seine Gerechtigkeit, die erste aller seiner2 Eigenschaften, nicht unbedingt ist, sondern ganz überaus be- dingt, durch seine Vaterliebe, Nachsicht und Güte."**

Aus dem Vergessen der Beziehungen, wodurch das Abstracte allein

1 dafs, wenn sie den Menschen im zeitlichen Leben mit Leib und Seele, so wie die Physiologen es wohl verlangen möchten, an die Aerzte . . .

II. Ausf,'.»

* Fr. Schlegels Philosophie des Lebens, neunte Vorlesung, S. 263. ** Ebendaselbst, dritte Vorlesung, S. "8.

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg. 2 die erste aller Eigenschaften SW. („seiner" fehlt).

I.Abschnitt. Elementarlehre. 2. Capitel. Vom Menschen in seiner Gebundenh. etc ^e

Bedeutung hat, entsteht nun eine Losreifsung des vermeintlich selbstständig- zulänglichen philosophischen Wissens, wie wenn die nähern Bestimmungen, welche von den obern Facultäten hinzu gethan werden sollten, nicht mehr nöthig wären. Daher eine Vorspiegelung von einstiger Herrschaft der Philosophie; und auch eine Furcht vor solcher Herrschaft, und ein Widerstreben gegen dieselbe. Aber die Theologen werden ihre Scheu, sie möchten über der Philosophie ihre Theologie, die Juristen, sie möchten das positive Recht und dessen historische Entwicklung, die Aerzte, sie möchten die empirische Kenntnifs der Heilmittel aus den Augen verlieren, von selbst aufgeben, sobald die Philosophie die mancherley Irrthümer berichtigt, welche dem Allgemeinen einen Werth beylegen, der ihm nicht zu- kommt.

ig. Man würde zwar von einem philosophischen Vortrage aus prak- tischen Gesichtspuncten wohl erwarten, dals der [30] selbe mit den allgemeinsten Principien der praktischen Philosophie beginnen solle, um von diesen all- mählich herabsteigend die menschlichen Angelegenheiten ihnen unterzu- ordnen, und daran die nothwendigsten Naturbegriffe zu knüpfen. Allein theils liegt selbst bey den allgemeinste// Principien der Werth nicht in der Allgemeinheit; theils ist es die schon erklärte Absicht dieses Buchs, der Gewöhnung an Abstractionen entgegenzuarbeiten, ^eberdies redet in diesem Buche nicht die Wissenschaft, sondern mit dem gelehrten Publicum spricht der Verfasser über die Wissenschaft; und der geneigte Leser, welchem Fache er auch angehören möge, wolle gefälligst bemerken, dafs Er es ist, zu welchem geredet wird. Wir stellen daher die Philosophie den Wissenschaften der sämmtlichen drey obern Facultäten zugleich da- durch gegenüber, dafs wir den Menschen in einer dreyfachen Abhängig- keit betrachten; hiebey aber werden uns die Zielpuncte vorschweben, welche wir nach den obigen Entwickelungen (12 16.) im Auge behalten sollen. 2Es ist zu wünschen, dafs man zum nächsten Capitel einige Ge- duld mitbringe, denn wir müssen auf einen Augenblick ins Dunkel führen ; blofs um einige Versuche, sich herauszufinden, und einige Anspannung des eignen Denkens zu veranlassen. Auf blofses gemächliches Lesen wird ja doch Keiner, der ein philosophisches Buch in die Hand nimmt, sich verlassen wollen.

1 Die Worte: „Ueberdies redet ... zu welchem geredet wird." fehlen in der II. Ausg.

2 Das Folgende bis zum Schluss fehlt ist in der II. Ausg.

4 6 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1 .

Zweytes Capitel. Vom Menschen in seiner Gebundenheit an die Natur, den Staat

und die Kirche.

^o. Es wäre sehr2 unzeitig, hier das bekannte Gemälde der Ab- hängigkeit des Menschen von der Natur aufzustellen. 3 Jeder Staatsbürger hat im Staate einen, theil weise wenigstens, bequemen Platz, und findet Schutz gegen die Natur, welche vor alter Zeit der Gesellschaft noch nicht so dienstbar geworden war, wie heute. Nur freylich, Mangel, Krankheit und Tod bedrohen aus der Ferne, der letztere gewifs auch den Glücklichen; und wer ist denn glücklich, so lange es neben ihm Leidende

1 Der folgende Abschnitt 20 wird in der II. Ausg. Abschnitt 21. Die II. Ausg. hat als Abschnitt 20 folgenden Text:

20. Die erste der zuvor unterschiedenen Fragen (12.) lautete so: Was tadelt oder lobt eigentlich der Mensch an sich selbst, indem er sich zum Gegenstande seiner Betrachtung macht? Mit dem Vorbehalt, auf diese Frage im nächsten Capitel zurückzukommen, (über die zweyte jener Fragen wird sich nur allmählig etwas Licht verbreiten), verweilen wir für jetzt noch bey einer vorbereitenden Ueberlegung.

Nicht ein roher und sorgloser Mensch ist Derjenige, der seine Lebens- weise in Ansehung der Geschaffte, Gesinnungen, der Familie und des Dienstes auf's beste zu ordnen sucht, (7—9.); sondern nur als einen sehr gebildeten konnten wir ihn auffassen. Aber ein solcher sieht Andre nebem sich; und nicht blofs Solche, die ihm gleichstehn, sondern eine Mehrzahl von Personen, welche entweder an Bildung oder an ernstem Streben zum Bessern hinter ihm zurückbleiben. Was diese theils absichtlich treiben, theils ohne oder wider ihre Absicht bewirken, und wie davon der Gang der Dinge, der Zustand der Gesellschaft abhängt, ist für ihn ein Schauspiel, wodurch das praktische Bedürfnifs der Philosophie aufs neue fühlbar wird.

[3 1 ] Die Mehrzahl der Menschen fügt und schickt sich in enge Ver- hältnisse so gut sie kann ; horcht aber dabey auf das Wort Freyheit, zum Zeichen des innern Widerstrebens gegen jede Gebundenheit. Ist nun einmal der Gegensatz zwischen Gebundenheit und Freyheit ein herrschen- der Gedanke geworden, so vermischt sich damit alles Vorziehn und Ver- werfen. Zunächst erscheint alles Löbliche als ein Ausdruck von Freyheit, alles Tadelhafte als ein Beschränktes, mit Verneinungen Behaftetes. Da- neben aber verräth sich bald, wie wenig die blofse Freyheit aus sich das Löbliche erzeugt; die Handlungen der Menschen, wenn der Zügel fehlt, zeigen zu oft, wie wenig sie die Freyheit zu gebrauchen wissen. Nicht blofs die Forderung wird laut, dafs der Mensch sich selbst be- herrschen solle, wenn er nicht schon beherrscht ist, sondern auch die Art der Selbstbeherrschung ist nicht willkührlich, vielmehr wird sie angesehen als eine vorgeschriebene, gebotene, der man sich nicht entziehen solle.

2 „sehr" fehlt in der II. Ausg.*

3 Hier schiebt die IL Ausg. folgenden Satz ein: Wir leben nicht mehr im Naturstande; die künstlichen Einrichtungen haben gar manches daran ver- ändert. [Jeder . . .

■<■ s\V drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

I.Abschnitt. Elementarlehre. 2. Capitel. Vom Menschen in seiner Gebundenh. etc. 17

giebt? Die Abhängigkeit von der Natur bleibt also, jedoch schon sehr gemildert durch eine andre, in gewöhnlichen Fällen weit eher erträgliche Abhängigkeit, nämlich die von der Gesellschaft.

Es könnte nöthig scheinen, diese1 zweyte Abhängigkeit mehr hervor- zuheben; denn sie pflegt, wie gelinde sie auch seyn mag, weit unwilliger geduldet zu werden, als jene erste. Doch hier genügt eine kurze Er- innerung: erstlich an die Lehre, die Staaten seyen auf einen Vertrag ge- gründet; zweytens daran, dafs eben hiegegcn neuerlich stark protestirt wird, und dafs die Jurisprudenz sich von der Philosophie hinweg, zur Geschichte gewendet hat. Man sieht nämlich auf den ersten Blick, dafs die Not- wendigkeit, sich in die Ordnung und den Zwang des Staats zu fügen, zuerst durch die Vorstellung eines willkührlichen Vertrags sollte entfernt oder doch verhüllt werden; dafs sie aber nackt wieder hervortrat, weil man durch [32] ein verkehrtes Streben nach Freyheit nicht freyer geworden war. Bey historischer Betrachtung verwandelt sich das Freye ins Natür- liche (15.)) und die historische Jurisprudenz hat gerade2 die nämliche Richtung, wie die Philosophie, wenn das Nothiv endige , der Widerstand der Welt, ihr entgegenwirkt; daher man jene Jurisprudenz im Grunde3 wohl als Philosophie, die sich zurückzieht, betrachten könnte. In der wirk- lichen Welt aber ist ungeachtet aller veränderten Staatslehre doch ein trauriges Denkzeichen von der Ansicht, ein Vertrag sey der Grund des Staats, und dieser Vertrag könne mit beiderseitiger Genehmigung auf- gehoben werden, übriggeblieben, oder vielmehr erst neuerlich recht zum Vorschein gekommen: nämlich die häufigen Auswanderungen , gegen welche selbst die ungünstigsten Nachrichten von dem, was man in fernen Ländern zu erwarten habe, nicht viel vermögen. Der Auswanderer ver- läfst nicht blols den Boden, wo er wohnte; er löset auch das gesellschaftliche Band auf, durch welches seine Person4 mit andern Personen verknüpft war.

Fast eben so verhält sich's mit den kirchlichen Auswanderungen, den Uebertritten aus einer Confession in eine5 andere. Die Kirche wird zwar

So verdunkelt sich die Vorstellung des Löblichen. Kant legte das Sollen in die Freyheit, und die Freyheit in das Sollen; aber nicht ihm allein gehört diese Ansicht. ' Anerkennung des Notwendigen, Ergebung in das Not- wendige gilt im Leben für Klugheit, in den Schulen für Weisheit. Der stoische Weise ist allein frey; aber was soll dieser Weise? Der Natur gemäfs leben, also in der Natur die Regel suchen, welcher er sich zu unterwerfen hat.

Die Natur ist es nicht allein, was uns bindet, sondern auch der Staat und mehr oder minder die Kirche. Und mit der medicinischen Facultät vereinigen sich die juristische und theologische, um an diese dreyfache Gebundenheit zu mahnen.

1 die . . . 11. Ausg. *

2 „gerade" fehlt in der II. Ausgabe. b

3 im Grunde ... fehlt in der II. Ausg.c

4 durch welches auch seine Person mit ... 11. Ausg. d

5 II. Ausg. „die" statt „eine"e

a e SW, welche nach der II. Ausg. drucken, geben die jedesmaligen Abweichungen der I. Ausg. nicht an.

4 g II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

eben so wenig, als der Staat, einräumen: sie sey das Werk eines Vertrages; im Gegen theil, sie allein wagt, was selbst dem Staate nicht einfällt, jedem einzelnen Menschen nicht etwa mit dem Satze: quilibet praesumitur bonus, donec probetur contrarium, sondern mit dem harten Vorwurfe: du bist ein Sünder, entgegenzutreten. Sie setzt also eine unläugbare Nothwendigkeit voraus, vermöge deren der Mensch sich eine solche Rede müsse ge- fallen lassen. Noch mehr: wer seine Kirche verläfst, um in eine andre einzutreten, der entweicht damit keineswegs der Demüthigung durch jenen Vorwurf; vielmehr alle Kirchen rufen mit einer Stimme: du bist ein Sünder/ Nur die eine verzeiht leichter, als die andre. Allein abgesehen hievon, bleibt es immer merkwürdig, dafs die Natur eines Vertrags sich selbst bey der kirchlichen Gemeinschaft, die das Ein- und Austreten erlaubt, nicht ganz verläugnen läfst, wo es doch so deutlich hervorspringt, dafs, [33] wer von dem Begriffe eines Vertrags ausgehn wollte, dieser nimmermehr auf den Gedanken einer Kirche würde kommen können. Bekanntlich ist bey der Ehe ein ähnlicher Fall; der Versuch, sie als blofsen1 Vertrag zu behandeln, ergab Unsinn und Schande; gleichwohl ist sie ganz ohne Ver- trag eben so wenig zu verstehn.

2 An welcher Stelle in der Philosophie soll nun die Lehre vom Staate,

1 als einen blofsen ... 11. Ausg.a

- Alles Folgende bis zum § 24 ist in der II. Ausg. weggeblieben, welche dafür nur Folgendes hat:

22. Nicht die Verträge sind es allein, bey welchen manchmal das Befremdliche begegnet, dafs sich das Freye in ein Notwendiges, oder das Nothwendige in ein Frey es zu verkehren scheint; man kann auch andre Beyspiele anführen. Man betrachtet es als Sache des freyen Be- liebens, ein Almosen zu geben oder zu verweigern; und doch leuchtet Jedem, der gröfsere gesellige Verhältnisse zu durchschauen im Stande ist, die dringende Nothwendigkeit ein, für die Dürftigen sogar noch weit voll- ständiger zu sorgen, als dies durch zerstreute Almosen geschehn kann. Wo bleibt nun hier das Löbliche? Will man das Freye loben, weil es frey ist, während sich bei näherer Ansicht findet, es sei nothwendig? Oder will man das Nothwendige loben, weil es nothwendig ist, während man doch weifs, wie ganz überflüssig das Lob da hinzutritt, wo das Müssen schon die kategorische Entscheidung giebt?

23. Durch den Ausdruck Sollen, welchen Kant für sein Sitten- gesetz einführte, hat man geglaubt der Verlegenheit abzuhelfen; und das schien um desto leichter, wenn zugleich be[34]hauptet wurde, der Mensch könne eigentlich nie mehr thun als seine Pflicht. Wer nicht thut, was er soll, wird getadelt; aber die Erfüllung der Pflicht, (so meinte man) hat auf Lob keinen Anspruch. Unter dieser Voraussetzung wäre nun nicht mehr nöthig, das Löbliche zu erklären und zu bestimmen.

Allein was heifst Sollen? Etwan ein freyes Müssen? Also ein Müssen, was doch kein rechtes Müssen wäre?

Nicht blofs in den philosophischen Schulen braucht man das Wort Sollen. Auch der Arzt befiehlt; die Obrigkeit befiehlt; die Kirche be-

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausgabe.

I.Abschnitt. Elementarlehre. 2. Capitel. Vom Menschen in seiner Gebundenh. etc. 40

von der Kirche, von der Ehe, abgehandelt werden? Im Naturrechte? Da würde der Begriff des Vertrags vorherrschen. In der Sittenlehre? Da fehlt noch immer die Naturnothwendigkeit, welche den ersten Grund ent- hält, dafs der Mensch in bindende Verhältnisse sich einlassen und fügen mufs; es fehlt das Geschichtliche, wodurch jene Naturnothwendigkeit ge- rade auf die heutigen Menschen ihre bestimmte Wirkung erlangt hat. Für einen richtigen Vorblick jedoch wird schon Etwas gewonnen sevn, wenn in Ansehung der Verträge soviel klar ist, dafs in den Fällen, wo sie vorkommen, noch lange kein Raum für eine bloße Willkühr geöffnet wird. Darum weisen wir hin auf die dreyfache Abhängigkeit des Menschen von der Natur, dem Staate, und der Kirche.

21. Noch ein andrer Grund veranlafst uns, jene dreyfache Ab- hängigkeit ins Auge zu fassen. Wir stellen dadurch die Philosophie den drey obern Facultäten, den Lehrern von der Kirche, dem Staate, und der Natur, gegenüber. Sie mag deren Dienerin wohl in so fern seyn, als sie ihnen die Hauptbegriffe vorarbeitet (4 und 17.); und sie wird sich ihnen desto besser anschliefsen, je sorgfältiger sie vermeidet, das Abstracte als zum Gebrauche schon hinlänglich bestimmt darzustellen (18.); allein dieses ihr Anschliefsen mufs auch von der andern Seite gehörig benutzt werden, wenn es zu etwas dienen soll; ja es hätte sollen gefordert werden; dann wäre die Philosophie an ihre Schuldigkeit erinnert worden.

Auf den ersten Blick nun dringt sich hier eine Bemerkung in An- sehung der akademischen Studien auf, die seltsam lauten [34] mag, und doch schwerlich kann geläugnet werden. Die Natur scheint am meisten, der Staat aber am wenigsten Gewalt zu haben oder doch zu üben, um den Fleils der Menschen zu spannen. Denn am längsten dauern die Studien der künftigen Aerzte; am kürzesten und leichtesten scheinen juristische Studien abgethan. Der Staat bietet aber den Aerzten am wenigsten Lohn, hingegen für Juristen hat er hohe Ehrenstellen in Bereitschaft.

Und welche Facultät führt die allgemeinen Begriffe der Philosophie am weitesten im Einzelnen aus; welche benutzt sie am vollständigsten? Auch hier sehen wir die Aerzte vorantreten. Bey ihnen wird nicht nach leeren Allgemein -Begriffen von Krankheiten und Heilmitteln überhaupt verfahren: sondern der Kranke und die Krankheit ist für sie ein Indi- viduum, das jedesmal nach allen Rücksichten zugleich behandelt werden mufs; der Heilplan ist nicht eine allgemeine Formel, sondern ein bestimmt abgemessenes Wirken, das nach den Umständen abgeändert wird. Und dabey ist es die ganze, jedesmalige Abhängigkeit des Kranken von der Natur, so weit sie auf ihn wirkt, was berücksichtigt wird; und um diese Rücksicht vollständig finden zu können, werden Studien der Natur- wissenschaften nach allen Richtungen hin, so weit sich das erreichen läfst, verlangt. Ob die gerichtlichen Verhandlungen auch so sorgfältig nach den Eigenheiten der einzelnen Fälle abgemessen zu werden pflegen? das mögen die Juristen wissen. Aufffallend aber ist, dafs, während in der

fiehlt. Alle diese sorgen dafür, dafs man sie richtig verstehe, denn zum

Befehl fügen sie die Drohung. Du sollst heifst nun: Du mufst wollen, detin die Strafe thut zvelt.

Hbrb4Rt's Werke. IX. 4

cg II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1.

Arzneykunst die ganze Abhängigkeit des Menschen von der Natur, so weit sie Ein Hufs haben kann, durchforscht wird, dagegen keinesweges das ganze Verhältnifs des Menschen zum Staate durch die juristischen Studien zu Tage kommt, sondern diese und jene einzelnen Verhältnisse, die sich etwa zufällig hier oder dort ereignen mögen. Vielleicht läfst der Grund davon sich finden. Römisches Recht steht im Mittelpuncte der juristischen Studien, und giebt dafür den Ton an. Aber vom römischen Rechte ist das Personenrecht gröfstentheils Antiquität geworden; während vom Sachen- recht und vom Rechte der Forderungen das [35] Meiste stehen blieb. Gleichwohl mufs gerade durch das Personenrecht klar werden, welche Stellung der Staat dem Einzelnen giebt oder gestattet. Bleibt dieser Fragepunct im Dunkeln: so fällt das Sachenrecht gleichsam aus der Luft; und das Recht der Forderungen erscheint als Folge von ganz zufälligen Handlungen, deren Ursprung in der Willkühr lag. Kann man erwarten, dafs ein solches Studium philosophischen Geist belebe? Diesen Mangel soll nun wohl der Vortrag des Naturrechts decken. Aber das Naturrecht war zu sehr Liebhabeiey der Revolutionszeit; eine anerkannte, wissen- schaftliche Haltbarkeit hat seine Begründung weder damals, noch früher- hin, noch seitdem gewonnen. Weshalb es in seiner Abgerissenheit dazu nicht gelangte, wird bald ins Licht treten, wenn wir die Verbindung, in der es hätte behandelt werden sollen, nachweisen.

22. Durch die Theologie soll die Abhängigkeit des Menschen von der Kirche offenbar werden. Hier kann man nicht, wie bey den Juristen, das Treffen des Hauptpuncts vermissen; sogar mit der gröfsten Energie halten die Theologen dem Menschen seine moralische Schwäche vor; auch sind die Stufen der Heilsordnung genau bestimmt. Aber dürfen sie sich den Aerzten vergleichen? Um die Vergleichung bequemer zu machen, nehmen wir an, es gäbe statt vieler Heilmittel nur ein Einziges für alle Krankheiten. Dann würden die Aerzte erwägen, dafs dies Eine Mittel sich der Wirkung nach in so viele1 verschiedene verwandeln müsse, als wie vielfach die Mittel seyen; demnach würden sie' nicht einerley An- eignung des Uebels einem Jeden für möglich halten ; vielmehr würden sie in die Art, es darzureichen, die gröfste Verschiedenheit der Formen hinein- legen, zwar nicht nach dem Geschmacke eines Jeden, sondern nach den Eigenheiten jedes Uebels; und die Mannigfaltigkeit der Krankheiten, ihrer Stufen und Verbindungen, bliebe so wie jetzt das Hauptstudium der Aerzte. Wenn dagegen die Theologen mit stets gleicher Donnerstimme, stets einerley Posaunenschall den singularis der Sünde und der Gnade ver[3ö]kündigen, so ist nicht zu läugnen, dafs sie dadurch einen, in vielen Fällen sehr heilsamen Schrecken erregen. Die Aerzte thun ja zuweilen dasselbe; nur freilich nicht bey allen Kranken, sondern bey Wahnsinnigen. Wie man aber dazu kommen könne, von dem Bösen absichtlich mit Ruhe und Gelassenheit zu reden, und es von verschiedenen Seiten zu be- sehen, das scheinen gerade die Theologen, denen es am nöthigsten wäre, am wenigsten zu begreifen. Mit einigen psychologischen Fabeln von der Sinnlichkeit, dem Verstände und der Vernunft, ist, ihrer Meinung nach,

1 in so viele verwandeln müsse SW („verschiedene" Jehlt).

I.Abschnitt. Elementarlehre. 2. Capitel. Vom Menschen in seiner Gebundenh. etc. er

die Sache abgethan, so weit die Philosophie sich drein zu mischen hat; höchstes nehmen sie noch die Phantasie zu Hülfe. Friedrich Schlegel ist auf das merkwürdige Resultat gekommen, dafs Vernunft und Phantasie, in ihrem jetzigen feindlichen Gegensatze, nicht als ursprüngliche Vermögen des menschlichen Bewufstseyns betrachtet werden können.* In der That ein Schritt zur Wahrheit!

Von allen Stufen der Heilsordnung aber wird wohl immer die Besse- rung diejenige bleiben, welche am schwersten zu erklimmen ist. Hören wir Kant und Fichte; so wird sie durch einen Sprung erreicht, nämlich durch eine Anstrengung, die man der Freyheit zuschreibt. Die Einförmigkeit dieser Theorie mag wohl nicht gerade geeignet seyn, dem verwickelten Gegenstande hinlängliches Licht zu geben ; indessen wo eine grofse Mannig- faltigkeit von Ansichten nöthig ist und fehlt, da können zwey verschiedene Einförmigkeiten neben einander schon besser seyn, als eine allein.**

[37] 23- Wenn nun die Philosophie den höhern Facultäten zwar als eine Dienerin, aber als eine viel zu geschäfftige und deshalb unwill- kommene Dienerin erscheint: so liegt von der Schuld ein grofser Theil an der Zudringlichkeit mancher Philosophen, die sich das Ansehen gaben, als müfsten sie die Religion, das Recht, und die Natur erst erfinden; jedoch ein anderer Theil liegt auch in mangelhafter Benutzung dessen, was die Philosophie vorzuarbeiten nicht umhin konnte.

Möchten für's erste doch die Theologen und Juristen unter einander in nähere Gemeinschaft treten; die Gründe dazu liegen ihnen nicht fern. Die Kirche ist zwar höher, ausgedehnter, dauerhafter, als der Staat; sie vereinigt in sich Bürger der verschiedenen Staaten; allein bestehen kann sie doch nur in jedem einzelnen Bezirk, worin alle Individuen, also auch alle Gemeinden, die Regierung des Staats anerkennen müssen. (Von einem Kirchenstaate wird man uns zu reden wohl erlassen, denn Nie- mand wird ihn als Muster eines Staats betrachten.) Der Staat hin- wiederum ist zwar mächtiger als die Kirche; aber seine ganze Würde, seine sittliche Vollendung kann er ohne sie nicht erreichen. Wenn nun diese, Jedem bekannten, Verhältnisse dennoch weder auf die Juristen, noch auf die Theologen einen starken Eindruck machen: so kommt die Be- schränktheit auf beiden Seiten zum Vorschein. Der Jurist sieht im Staate nur ein System von Rechtsverhältnissen; der Theologe betrachtet die Kirche nur als Heils-Anstalt für Individuen; die ganze Gesellschaft, von welcher die Individuen Bestandtheile, die Rechtsverhältnisse einzelne Be- stinwiungen sind, die Gesellschaft als Ganzes hat keiner von beiden im Auge. Soll denn etwa darum auch die Philosophie die Augen zu- drücken? Hofft man, sie werde es jemals thun?

* Fr. Schlegels Philos. des Lebens, S. 307. Die kleine Zahl von Theologen, welche sich zum Spinozismus hinneigt, verräth mehr Scharfsinn, und ein rühmliches Streben; aber Spinoza ist unfähig, es zu belohnen. Man vergleiche den ersten Band der Metaphysik. [Bd. VII vorl. Ausg.]

** In den Gesprächen über das Böse findet man die Lehren des Spinoza, Kant und Fichte über diesen Punct einander gegenüber gestellt. Und diese Gegenüber- stellung ist der eigentliche Zweck jener Gespräche. [Bd. IV vorl. Ausg.] Es mufs wohl endlich einmal ausdrücklich gesagt werden, dafs die Gesprächsform keine Lehrforra ist; sondern dient, vielseitige Ueberlegung zu veranlassen.

c i II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1 .

[38] Man hofft es gewifs nicht; denn man hat sogar Politik, Statistik, Staatswirthschaft, als besondre Fächer der philosophischen Facultät zuge- wiesen. Aber eben dies erinnert an den Gegensatz zwischen der facultas artium, und den obern Facultäten, die Alles, was nicht unmittelbar praktisch ist, von sich abgesondert haben. Wenn sie freylich dafür sorgen, das Gesonderte dennoch in gehöriger Gemeinschaft mit sich zu erhalten, dann wird daraus kein Fehler entstehn. Diese Gemeinschaft ist der Punct, wor- auf es ankommt.

24. Angenommen nun, die obern Facultäten seyen wirklich unter sich und mit der philosophischen darüber einverstanden, dafs es ihnen ge- meinschaftlich zukomme, den Menschen seine ganze Gebundenheit an Natur, Staat, Kirche, vollständig empfinden zu lassen: dann würden nicht nur solche Meinungen, wie jene: Staat, und Kirche, und Ehe, seyen Werke von willkührlichen, auf gröfsern Vortheil berechneten Verträgen, von selbst verschwinden; sondern es würde jeder Art von Leichtsinn der stärkste Damm entgegengesetzt seyn, den die Wissenschaften hervorbringen können. Auch den Schwärmereyen, den übergrofsen Empfindsamkeiten, den genialen Verirrungen würde der Raum gar sehr beengt; denn in jeder Lage, in jedem Augenblicke würden dem Menschen die sämmtlichen Motive seines Handelns mit' einer so dringenden Bestimmtheit vorschweben, dafs er ihnen auszuweichen kaum noch wagen möchte.

Wenn nun auch die ächte Wirkung einer vollständigen Besinnung an alle Motive zugleich, nicht mehr Einförmigkeit hervorbringen würde, als durch die Gleichheit wiederkehrender Verhältnisse, bedingt wäre, wenn also auch die Verschiedenheit der Umstände und der Naturen immer noch ihr Recht behielte: so würde doch jedes vergebliche Widerstreben gegen die gezogenen Gränzen verschwinden; und ein Jeder würde sich in den möglichst treuen Ausdruck der gesammten Nothwendigkeit verwandeln, die auf ihn zvirkte. Er würde nicht blofs [39] seinen Platz unter den Zeitgenossen sehr genau kennen, sondern sich auch die Zeit selbst historisch erklären; ja wir mögen wohl freygebig seyn mit der Annahme, dafs ihm die ferneren Zeiten schon jetzt richtig vorschweben können. Demnach würde er nichts übereilen, sondern das nothwendig Kommende ruhig erwarten, das langsam Werdende nicht ungeduldig herbeywünschen, aufs Unerreichbare aber verzichten. Sollte wohl Jemand einen solchen Zustand der Dinge für langweilig erklären? Unmöglich; denn selbst die Nothwendigkeit, der Langenweile zuvorzukommen (welche man bey genauer Kenntnifs der menschlichen Natur voraussähe), würde sich unter den Motiven des Handelns einen angemessenen Platz schaffen. Oder sollte wohl Jemand über ein maschinetimäfsiges Daseyn klagen, worin kein Lüftchen der Freyheit mehr wehete? Eben so unmöglich; denn die Handlungen würden nur von dem Willen ausgehn; der Wille würde durch die Einsicht, es müsse so seyn, gelenkt werden; demnach wäre blofs die zügellose Willkühr, welche durch richtig erkannte Motive soll beschränkt werden, eben durch diese Motive auch beschränkt worden. Wer etwas Anderes an die Stelle zu setzen Lust hätte, der würde eben damit etwas Unvernünftiges wollen. Am wenigsten dürfte Jemand behaupten, es fehle bey aller Klugheit, die Sittlich- keit, es fehle den Motiven die Reinheit. Denn unsre Voraussetzung ist,

i. Abschnitt. Elementarlehre. 2. Capitel. Vom Menschen in seiner Gebundenh. etc. c-i

der Mensch empfinde (unter Mitwirkung und Zusammenwirkung aller vier Facultäten) keineswegs blofs seine Abhängigkeit von den Naturkräften, sondern auch eben so seine Gebundenheit an Staat und Kirche.

25. Gleichwohl ist zu erwarten, man werde mit unserer1 Darstellung unzufrieden seyn; und das ist sehr gut; denn der Zweck derselben liegt'darin, etwas Künftiges vorzubereiten, welches, wenn man es geradezu ausspricht, nicht richtig pflegt verstanden, zum mindesten nicht seiner wahren Be- deutung nach gewürdigt zu werden. 2Wir wollen demnach verschiedene mögliche Meinungen über den vorliegenden Punct hervortreten lassen, je- doch nicht in der Ausführlichkeit, wozu der Gegenstand [40] einladet, denn dazu ist hier kein Raum; sondern in solcher Kürze, dafs es dem Leser überlassen bleibe, sich jede einzelne Ansicht weiter auszumalen.3

Kenntnifs der Nothzvendigkeit, so nahmen wir an, sey das treibende Princip, wonach der seiner Abhängigkeit sich völlig bevvufste, 4 und darüber gehörig unterrichtete Mensch, sich in seinem Thun und Lassen richte. Die Frage ist, ob das so recht und gut, oder was daran auszusetzen sey?

Um die Frage deutlich hervortreten zu machen, wollen wir die ge- wöhnlichen Schranken wegnehmen, und ein Ideal zeichnen. Die Noth- wendigkeit der Natur ist unter allen Notwendigkeiten die, welche sich am umittelbarsten aufdringt; jeder Mensch weifs, dafs er nicht durch die Mauer gehn, nicht nach Belieben aus Krankheit in Gesundheit überspringen könne, u. dergl. m. Darum wollen wir den Menschen in Gedanken zuerst mit der genauesten Naturkenntnifs begaben. Von der Astronomie bis zur Physiologie soll ihm alles Wissen zu Gebote stehn; seinen eignen Leib völlig durchschauend, und alle möglichen äufsern Einflüsse darauf richtig voraussehend, soll er keines Arztes bedürfen, sondern aus eignem Wissen seine Diät auf's allerzweckmäfsigste einrichten. Ist man nun zufrieden?

Unnütze Mühe! werden die Staatsmänner sprechen. Diejenige Noth- wendigkeit, welche das bürgerliche Leben beherrscht, sollte er kennen. Will man schon idealisiren, so begäbe man den Menschen mit der genauen Kenntnifs aller Gewerbe, aller Stände, aller Behörden; damit ihm die Lust vergehe, sich zu fragen, ob er in einem solchen Staate leben wolle oder nicht. Uebrigens genügt schon tüchtige Kenntnifs der Geschichte.

5 Audiatur et altera pars! Die Vertheidiger des Staatsvertrages werden an die Verschiedenheit der Staaten erinnern. In Berlin, werden sie sagen, merkt man den Staatsvertrag nicht, denn da macht er sich stillschweigend von selbst, und wird durch schuldige Gesinnungen der Ehrfurcht und Dankbar[4i]keit völlig bedeckt; anderwärts würde er schon in Frage kommen, wo der Staat in der Mitte der Partheyen nicht so leicht zu er-

1 mit dieser ... n. Ausg.a

2 Das Folgende : „Wir wollen ... weiter auszumalen." ist in der II. Ausg. weggeblieben.

4 sich bewufste ... 11. Ausg.

5 Der ganze Abschnitt: „Audiatur et altera pars . . . vestgehalten be- harren" (S. 54, Z. 7 v. o.) ist in der II. Ausg. weggeblieben.

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

3 sich jede einzelne Aussicht weiter ausmalen. SW.

- , II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1 .

kennen ist; in Lissabon ist freylich an keinen Staatsvertrag zu denken. Was aber die Belehrung durch Geschichte anlangt: ist es denn unter allen Umständen ein Unglück, wenn Einer seinem Zeitalter vorauseilt? Will man nicht etwan auch die Erfindungen und die Künste auf die langsame Gleichförmigkeit des gewöhnlichen Zeitverlaufs beschränken? Will man das Genie verbieten? Soll die Menge, um ja nicht lebhaft angeregt zu werden, in einem chinesischen Stillstande vestgehalten beharren?

Hinweg mit der Eitelkeit Eures irdischen Wissens, spricht etwa ein Theologe. Keine andre Nothwendigkeit, einzig die Furcht des Herrn soll Euch regieren.

1 Durch Furcht und Liebe und Glauben spricht etwa ein Stoiker regiert man die Kinder. Die Kunst aber, den Erwachsenen im buch- stäblichen Sinne des Worts wieder zum Kinde zu machen, ist noch nicht erfunden. Naturkenn tnifs ist das Rechte; denn man soll der Natur ge- treu leben.

So verschiedene Meinungen waren schon vorhanden, als Kant auf- trat. Vor ihm unser aufgestelltes Princip zu rechtfertigen, wäre schein- bar schwer; in der That aber leicht, und nun gar zu leicht. Zuerst würde er uns fragen : Wo bleibt der gute Wille, der einzig und allein einen Werth hat? Wo das Handeln aus Pflicht, welches durch ein blofs pfhchtmälsiges Handeln niemals zu ersetzen ist? Wo bleibt die schon von den Stoikern und von Platon geforderte Hinwegsetzung über Nutzen und Schaden? Die kluge Nachgiebigkeit gegen ein Gewebe aus allerley Notwendigkeiten ist davon das gerade Widerspiel. Was bleibt überhaupt vom Menschen noch übrig, wenn ihm der frische Muth des Willens gebrochen ist? Nichts, als ein Schatten, bleibt übrig, von dessen Werth oder Unwerth zu reden, keinen Sinn haben würde. Nehmt den Willen hinweg, so verschwindet allo- dings das Böse; zugleich aber mit ihm das Gute. Erstickt [42] den Geist durch den Druck der Notwendigkeit: so habt ihr keinen '_ Willen, kein Böses, kein Gutes.

Wenn nun Kant sich mit diesen Worten unwillig abwendete: so möchten weder Aerzte, noch Staatsmänner, noch Theologen, im Stande seyn, ihn zurückzurufen. Keine der drey obern Facultäten, welches Ge- wicht sie wohl sonst ihren Worten zu geben verstehn, möchte für jenen zürnenden Geist die rechte Beschwörungsformel finden.

Aber er selbst redet fort; er selbst giebt uns die Formel. „Handle so, dafs du wollen könnest, die Maxime deines Handelns sey ein allge- meines Gesetz."

Und woher, fragen wir nun unsererseits, nehmen wir denn wohl die Maximen? Denn die Maximen sind hier vorausgesetzt; ihre Bestimmung ist, den Willen zu lenken; auf Gegenstände ohne Zweifel, denn ohne Gegenstände giebt es kein Wollen. Ehe nun an Maximen konnte ge- dacht werden, hatten schon die Gegenstände dieser Welt den Geist zu mancherley Neigungen und Abneigungen aufgeregt; als die Maximen ent- standen, da war von der mannigfaltigen Noth, die den Menschen drückt,

1 Der Abschnitt '„Durch Furcht ... soll der Natur getreu leben" fehlt in der II. Ausg.

i. Abschnitt. Elementarlehre. 2. Capitel. Vom Menschen in seiner Gebundenh. etc. c^

schon Vieles bekannt; und man hatte versucht, sie zu bekämpfen, zu er- tragen, sich über sie hinwegzusetzen. Die Motive des Willens nun, welche, sofern sie gleichförmig wiederkehren, in Maximen ausgesprochen werden, diese Motive waren nicht durch den blofsen Willen, sondern durch sein Verhälnifs zur mannigfaltigen Nothivendigkeit^ solche und keine andern ge- worden. Und jetzt, da ihr Werth soll bestimmt werden, welches ist das angegebene Kennzeichen dieses ihres Werths ? Die mögliche Allgemein- heit? — In welchem Sinne? Doch nicht so, dafs Alle ohne Unterschied der Lage einerley Lebensweise annehmen ! Auch nicht so, dafs Jeder dem Andern unter Voraussetzung de; gleichen Lage Gleiches, wie sich selbst, erlaube? Denn mit seiner Lage entschuldigt sich Jeder, und die Schlechten setzen ohnehin voraus, Andre seyen nicht besser wie sie; darum gerade [43] möge nun l Jeder sein Glück versuchen. Die Allgemeinheit kann also nur allgemeine Ordnung bezeichnen. Nun mufs man bekennen, dafs eine genaue Kenntnifs der ganzen Abhängigkeit des Menschen ihn vor ge- wagten Schritten, durch die er mit Andern zusammenstofsen könnte, am besten hüten wird; und dafs mit eben dieser Kenntnifs, wenn sie nur vollständig wäre, auch der innere Widerstreit der Motive gedämpft seyn würde, indem für das Unthunliche kein Platz in den Gedanken, also auch nicht im Wollen und Wünschen übrig bliebe. Solche allgemeine Ordnung suchen nun auch der geordnete Staat und die geordnete Kirche, indem sie eben dafür die individuellen Aufopferungen fordern. Freylich wenn aus dem Staate und der Kirche die Ordnung2 entweicht: dann wider- sprechen sich die Antriebe, welche auf einzelne wirken; doch möchte auch hier noch Einsicht in das Nothwendige zuerst und am sichersten die Ordnung herstellen.

Wir haben bey dieser KANTischen Allgemeinheit etwas länger als nöthig verweilt, weil das Vorurtheil für dieselbe neuerlich noch in ver- schiedenen Gestalten wieder auftaucht; so sichtbar es auch ist, dafs hinter ihr, da sie gar nichts mit Vestigkeit zu bestimmen vermag, mancherley andre Voraussetzungen und Forderungen verborgen liegen, welche ans Licht zu ziehn nicht ganz leicht seyn mufs; an mislungenen Versuchen dazu hat es nicht gefehlt. Der Geist Kants ist ganz ein andrer, als dies blofse Bestreben, das ganze Leben zu einer flachen Ebene zu machen. Er suchte den Werth des Willens ; aber dieser Werth ist nicht einfach, sondern vielfach; und liegt eben so wenig in der Allgemeinheit, als in der Kennt- nifs des Nothwendigen.

26. Aller Gebundenheit stellt der Mensch, so lange er sich von ihr nicht völlig eingeschlossen fühlt, seinen Muth entgegen; wäre es auch nur der Muth, womit die Maus entschlüpft, oder womit der Gefangene an seinen Ketten feilt. Der volle Muth der Jugend, welcher dem Alter fehlt, beruht auf Gewandtheit und Kraft. Die muthige That entspringt im [44] Augenblicke, wo sie geschieht, aus dem Hervorstreben einer Vorstellung von dem, was als Ausweg aus einer Verlegenheit dienen wird. Wo keine

1 möge nur ... II. Ausg.a

2 Die feste Ordnung ... n. Ausg.

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

c5 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1.

solche Vorstellung ist, etwa in ganz neuen und unbekannten Verhältnissen, oder wo sie am Hervortreten gehindert ist, in Anspannung und Krank- heit, da fehlt der Muth. Die natürliche Muthlosigkeit der Kinder ist Furcht im Dunkeln; ihr ähnlich ist die Deisidämonie der Alten.

Jeder Muth will Freyheit gewinnen oder behaupten; wäre es auch nur freyes Bewufstseyn, freyes Spiel der Gedanken."

Es giebt nun auch einen moralischen Muth, welcher sich gegen die Vorstellung sträubt, man könne den Willen durch blofse Kenntnifs des Nothwendigen einengen, ja wohl gar ihn durch die hieraus entspringenden Motive völlig bestimmen. Dieser Muth ist es hauptsächlich, welcher die Freyheit des Willens mit einem Nachdruck vertheidigt, zu welcher die Lehre von der Zurechnung mehr den Vorwand als den wahren Grund hergiebt.

Der moralische Muth ist sehr achtungswerth ; die Vorstellungen von der Freyheit führen leicht in gefährliche Misdeutung; aus beiden Gründen ist es wichtig, den eigentlichen Ursprung des moralischen Muthes zu er- kennen, und hiemit zugleich zu erklären, worin das Anstöfsige unserer obigen Darstellung (24.) liegen möge?

Dafs im Menschen Etwas lebe, was über alle Furcht sich erheben könne, was alle Motive, sofern sie von aufsen kommen, verschmähe, und sie nur gelten lasse, wenn im Innern die Bestätigung erfolge: diese un- endlich oft gepriesene und nie genug zu preisende Eigenschaft des Menschen kann nur daher rühren, dafs er sich selbst Motive schafft, die keinem fremden Motive nachgeben, und sich kein Stillschweigen auferlegen lassen. Hierauf gestützt, erklärt sich der Mensch für frey, das heifst, für einen solchen, den man niemals ganz binden, ganz einschliefsen könne, wie deutlich man ihm auch seine [45] ganze Abhängigkeit von der Natur, vom Staate, von der Kirc/ie, vor Augen stelle. Hiegegen beruft man sich vergeblich darauf, dafs vom schlechten Staate und von der falschen Kirche nicht die Rede sey; denn auch der wahren Kirche und dem besten Staate räumt der Mensch nur unter Vorbehalt seines eignen Anerkennens die Herrschaft ein. Dafs nun, wenn kein Misverständnifs dazwischen tritt, hiemit der vollkommene Gehorsam gegen Staat und Kirche bestehen könne, liegt am Tage, da sogar die noch strengere Herrschaft der Natur das Freyheitsgefühl in dem Verständigen nicht bis zum Ungehorsam gegen sich aufreizt. Aber der Mensch will erst gewonnen seyn; dann will er folgen.

iWir sollten nun, im geraden Gegensatze gegen das Vorige, von den Motiven reden, welche der Mensch sich selber schafft. Wären diese von jeher deutlich ausgesprochen, verstanden und beobachtet worden, so hätte

1 Statt des Abschnittes: »Wir sollten nun . . . gegen einander brachte" hat die II. Ausg. folgenden kürzeren: Was ist nun Dasjenige, was den Menschen dergestalt gewinnen kann, dafs er willig ist zu bekennen : er solle, auch wo er nicht mufs? Um dies zu finden, setzen wir einstweilen Natur und Staat und Kirche bey Seite; erst weit später mag sich Gelegenheit finden, über diese grofsen Gegenstände etwas Weniges zu sagen.3

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne die Abweichung der I. Ausg. anzumerken.

i. Abschnitt. Elementarlehre. 3. Capitel. Von den Begriffen der Güter etc. 37

die Lehre von der Freyheit des Willens eben so wenig im Dunkeln ge- legen, als die Anerkennung des wahren Staats und der wahren Kirche Bedenken erregt. Und alsdann möchte wohl auch die innige Verbindung der obern Facultäten mit der philosophischen weniger zweifelhaft geworden seyn. Aber die praktische Philosophie stellt sich gewöhnlich unter der Form einer Lehre von Gütern, Tugenden und Pflichten dar; hiemit ver- dunkelt sie ihren eignen Ursprung; daher sind wir genöthigt, einigen Begriffen nachzugehn, die man durch leere Abstraction verdarb, indem man ihre Beziehungen zerrifs, und sie in eine falsche Stellung gegen einander brachte.

[46] Drittes Capitel.

Von den Begriffen der Güter, Tugenden, und Pflichten.

27. l Schleiermacher bemerkte, dafs man die Tugend als Anfangs- punct, die Güter als Zielpuncte, die Pflichten als vorgeschriebene Wege zum Ziel betrachten könne; er glaubte, dafs jeder dieser Begriffe ganz

1 Die II. Ausg. hat von diesen Anfang noch folgenden Text eingeschoben: 27. Praktische Ideen oder Musterbegriffe nennen wir die ersten Be- stimmungen durch Lob oder vermiedenen Tadel in Ansehung des wollenden Menschen. Hieher zielt die obige Frage (20.). Dem Einzelnen gelten die ursprünglichen Ideen; der Gesellschaft die abgeleiteten in folgender Zusammenstellung * :

Ursprüngliche Ideen. Abgeleitete Ideen.

Innere Freyheit Beseelte Gesellschaft.

Vollkommenheit Cultursystem.

Wohlwollen Verwaltungssystem.

Recht Rechtsgesellschaft.

Billigkeit Lohnsystem.

Man nehme die Worte einstweilen im Sinne des gewöhnlichen Sprach- gebrauchs; nur das Wort Vollkommenheit nicht unbestimmt für Rühm- liches jeder Art, sondern etymologisch bestimmt als das Kommen zum Vollen, d. h. Gelangen zur Vollständigkeit. (Hievon unten, 44.)

[42] Man fasse die ursprünglichen Ideen zusammen als bestimmend die Sinnesart Einer Person, und denke diese Person zugleich als Mitglied einer Gesellschaft gemäfs den sämmtlichen abgeleiteten Ideen: so ergiebt sich der Begriff der Tugend. Man denke die Tugend handelnd: so kommt man auf den Begriff der Pflicht. Die Werke, welche solches-

* Mit der ausiührlichen Darstellung dieser Musterbegriffe beschäfftigt sich die all- gemeine praktische Philosophie. (Man vergleiche dort das ganze erste Buch.) [Bd. II vorl. Ausg.]

-g II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1 .

andre Weise zur Uebersicht und Abtheilung desselben diene ; wie wenn ein Geometer eineiley Kreisfläche bald in concentrische Kreise, bald in Sectoren theile.* Auf diese Weise würde die ganze Ethik in drey ver- schiedenen Formen erscheinen können; nämlich als Güterlehre, als Pflichten- lehre, und als Tugendlehre; zu ihrer vollständigen Kenntnifs aber würde nun eine „Reduction der Forme/u" nöthig seyn, um die Ausdrücke jener drey Lehren gegenseitig in einander zu übersetzen.

Dieser Gedanke ist nicht blofs scheinbar, sondern es ist auch soviel wahr, dafs zum praktischen Gebrauche jede dieser Formen theils oftmals versucht, theils der Ausbildung, so weit sie gelingen kann, würdig ist. *Aber allen diesen Formen liegt etwas zum Grunde, das man durch keine von ihnen, auch eben so wenig durch den Begriff der Freyheit, der blofs die leere Negation der obigen Abhängigkeit enthält, oder durch jenen KANTischen Imperativ, oder durch irgend ein anderes einfaches Princip darstellen kann. Es ist die Reihe der zehn [47) praktischen Ideen, die wir von jetzt an wenigstens als oberflächlich bekannt voraus- setzen müssen, ohne uns um die Art, wie diese Reihe gefunden, noch wie deren Vollständigkeit verbürgt wird, hier schon zu bekümmern. Wir stellen sie für's erste absichtlich ganz nackt hin.

&-

Ursprüngliche Idee?i. Abgeleitete Ideen.

Innere Freyheit, Beseelte Gesellschaft,

Vollkommenheit, Cultursystem,

Wohlwollen, Verwaltungssystem,

Recht, Rechtsgesellschaft,

Billigkeit. Lohnsystem.

2Ueber den Begriff der Güter bemerke man nun zunächst, dafs er ein Verhältnifs zwischen Sachen und Personen, über den Pflichtbegriff, dals er ein Band zwischen einer Person und einer andern, über den Tugendbegriff, dafs er eine innere Beschaffenheit3 einer einzigen Person ursprünglich anzeigt; wobey jedoch Uebertragungen nicht ausgeschlossen sind. Denn wir nennen als Güter, die wir besitzen oder wünschen,

Handeln vollbringt, mögen sittliche Güter heifsen. Auf diesem Wege wird die Leerheit solcher Abstractionen vermieden, wie wenn nach Aristoteles die Tugend ein Mittleres zwischen zwey Extremen, nach Kant das all- gemeine Pflichtgebot blofse Gesetzlichkeit seyn sollte. (Doch sind die Begriffe der Pflicht und der Güter nicht ganz auf diese Ableitung zu beschränken; wovon weiterhin.)

1 Der bis zur Verweisungsziffer 2 reichende Abschnitt: „Aber allen diesen Formen . . . Lohnsystem" welcher zum Theil schon in dem obigen Abschnitt („Praktische Ideen u. s. w.) enthalten ist, ist in der II. Ausg. weggeblieben.

2 Ueber den Begriff der Güter ist zu erinnern, dafs . . . II. Ausg.

3 dafs er eine inwohnende Beschaffenheit ... II. Ausg.a SCHLEIERMACHER's Kritik der Sittenlehre, gleich vorn im ersten Abschnitte des

zweyten Buchs.

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Anmerkung der Abweichung der I. Ausg.

i. Abschnitt. L-lementarlehre. 3. Capitel. Von den Begriffen der Güter etc. 50.

nicht blofs Sachen, sondern auch Geld, Zeit, Kenntnifs, Geschick; wir reden überdies von Pflichten gegen uns selbst; ja das Wort Tugend be- zeichnet eigentlich ein Taugen, eine Tüchtigkeit, die selbst bey einem Werkzeuge, einem Heilmittel vorkommen könnte. Ferner bietet sich hier überall der Betriff des Mittelbaren und Unmittelbaren dar. Geld und Mufse sind nicht an sich, sondern nur als brauchbare Mittel, hingegen Geniefsungen sind unmittelbare Güter. Die Pflicht, eine Schuld zu be- zahlen, ist unmittelbar da; aber mittelbar ist es Pflicht, durch Arbeit zu erwerben was man zahlen soll. Kraft und Milde gehören unmittelbar zur Tugend ; hingegen Mäfsigkeit und Sparsamkeit dienen ihr als Mittel.

!Ein Blick auf die praktischen Ideen wird erinnern, dafs die Sachen, welche man Güter nennt, in der Rechtsgesellschaft sich getheilt zeigen, und zwar sehr ungleich getheilt. In Perioden der politischen Gährung erhebt sich dagegen die Stimme der Billigkeit, welche gleiche Theilung fordert. [48] Aber die wohlwollende Verwaltung zeigt ein andres Ziel, nämlich das Gemeinwohl, welchem man, unter Voraussetzung allgemein verbreiteten Wohlwollens das heifst, einer acht christlichen Gesinnung, sich nähert, so weit die Berechtigten es gestatten.

Ferner werde sogleich von der Pflicht bemerkt, dafs der Verpflichtete allemal als untergeordnet einem Höhern erscheint ; daher Staat und Kirche uns an unsre Pflichten mahnen, jener als Rechtsgesellschaft, diese als die weiteste und höchste beseelte Gesellschaft. Inwiefern aber der Mensch den Anspruch macht, durch eigne Zustimmung jene Mahnung erst an- zuerkennen (26.), erscheint er im Verhältnifs zu sich selbst als ein höheres Ich (12.), nämlich als sein eigner Gebieter.

2 Von der Tugend ist sichtbar genug, dafs zu ihr, als Beschaffenheit einer Person, alle fünf ursprünglichen Ideen gehören, inwiefern sie die Gesinnung dieser Person zusammengenommen bezeichnen.

Schon diese vorläufigen Betrachtungen, die man leicht fortsetzen kann, werden den Verdacht erregen, dafs wohl schwerlich die drey Lehren von Gütern, Tugenden, und Pflichten, einander nebengeordnet werden, und sich gegenseitig genau entsprechen dürften.

28. Der praktische Mensch, den wir überall im Auge behalten müssen, ist beschäftigt mit den Angelegenheiten des Lebens; er ist nicht, wie der Denker, vertieft in die Betrachtung seiner eignen Person. Die Folge hie- von ergiebt sich in Ansehung dessen, wohin wir zuerst uns zu wenden haben, sehr leicht. Nicht die Tugend ist unser nächster Gegenstand ; diese legen wir zurück, um später, wo es nöthig seyn wird, von ihr zu reden; denn sie ist Eigenschaft der Person. Hingegen Pflichten und Güter schweben dem handelnden Menschen 3 stets vor Augen; da wir nun hier nicht Beruf empfinden zu predigen: so setzen wir lieber als be-

1 Der folgende Abschnitt: „Ein Blick auf die praktischen Ideen ... so weit die Berechtigten es gestatten" ist in der II. Ausg. weggeblieben.

2 Die beiden folgenden Abschnitte: „Von der Tugend . . . genau ent- sprechen dürften" fehlen in der II. Ausg.

3 der folgende Satz lautet in der II. Ausg. stets vor Augen;] als bekannt und zugestanden darf man voraussetzen, dafs die Betrachtungen ... II. Ausg.

^O II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

kannt und zugestanden voraus, dafs die Bestrebungen nach Gütern unter- geordnet seyn sollen der Beobachtung der Pflicht; dafs aber auch die Pflicht kein leerer [49] Begriff, sondern eine Nöthigung ist, die sich mitten im Verkehr mit Gütern am dringendsten zu erkennen und zu fühlen giebt; daher wir, um stets vesten Boden unter den Füfsen zu behalten, und schwärmerische Abstraction zu entfernen, von der Güterlehre zuerst sprechen. Und zwar 1'm vollem Ernste! Nicht umschaflen wollen wir den Besrriff der Güter, als ob es etwa nur Werke des Weisen wären, die einen solchen Namen verdienten; denn wir würden uns dadurch nur in eine philosophische Gedankenwelt verlieren, ohne die wirkliche Welt um- schaflen zu können, und das nützt dem praktischen Menschen zu nichts. Er bedarf allerdings einer Güterlehre, die mit ihm auf dem Grunde und Boden des täglichen Lebens steht, und weil er ihrer bedarf, so schafft er sie sich jeden Augenblick, und bildet sie sich aus, so gut er kann. - Wenn man ihm nun Theorien vorträgt, die damit in keinem Zusammen- hange stehn : so stiftet man durch die Einseitigkeit der Lehre blofs Mis- helligkeit zwischen seinem Thun und Denken; das ist aber gerade der Punct, der vermieden werden mufs. Der Mensch soll wissen und fühlen, dafs er der Einsicht gemäfs handelt ; hierin besteht das Wesen der innern Freyheit. Es ist nun auch nicht3 unsre Sache, einen Epiktet zu lehren, dafs er in Fesseln frey seyn könne; wer das kann, der braucht kein Buch. Dem gewöhnlichen Menschen aber müssen wir es ausdrücklich einräumen und zugestehen, dafs er innerhalb gewisser Gränzen wohl dran thue, für sich zu sorgen. Dazu ist gar keine künstliche Ueberlegung von höherer Art nöthig; er weifs, dafs, wenn er in Noth geriethe, er Andern zur Last fallen, und von ihnen nur kärgliche Hülfe erlangen, also stets elend und schwach bleiben würde. Wir brauchen ihm nicht zu sagen, dafs er das nicht solle, es ist genug, dafs er es nicht will. Der Staats- mann freut sich mit Recht, wenn er nur Menschen vor sich hat, die soviel Thätigkeit, Rüstigkeit und Ueberlegung besitzen, um sich aus dem Elend herauszuarbeiten; er bedauert, wenn er ihnen Lasten auflegen mufs; lieber giebt er ihnen Unterstützung, und solche Lehren, wodurch sie leichter zum Ziele kommen können.

[50] Dafs Kant der Glückseligkeitslehre entgegentrat, war ein grofses Verdienst um seine Zeit; denn damals dünkte man sich klug, wenn man der Betrachtung der Pflichten und Tugenden auswich, und sie, mit exem-

1 in vollem Ernste!] Will man den Begriff der Güter umschaffen, als ob es etwa nur Werke des Weisen wären, die einen solchen Namen verdienten; so läuft man Gefahr, sich in eine philosophische Gedanken- welt zu verlieren, ohne die wirkliche . . . II. Ausg.

2 Die Worte: „Wenn man ihm nun . . . der braucht kein Buch" fehlen in der II. Ausg., welche fortfährt: Dem gewöhnlichen Menschen mag man statt unbestimmter Aufforderung zu höheren Dingen, die er nicht hinreichend kennt, vielmehr ausdrücklich einräumen und zugestehen, dafs er . . .

8 Es ist nun nicht SW („auch" fehlt).

i. Abschnitt. Elementarlehre. 3. Capitel. Von den Begriffen der Güter etc. 61

plarischem Unsinne, auf Eigennutz reducirte. Zu unserm Heil sind diese Zeiten vorüber; wir können also nun die Sache ruhig überlegen, und uns besinnen, dafs bey wilden und rohen Menschen, welche sich von augen- blicklich aufgeregten Begierden dahin und dorthin treiben lassen, die erste Entwilderung darin bestehen mufs, sie zu lehren auf entferntere Folgen ihres Thuns hinausschauen, den Genufs dem Vortheile aufopfern, die Rache dem Richter anheimstellen. Sie müssen an Ordnung gewöhnt werden; ihre Beschäfftigung muls sich in Arbeit und Erhohlung zerlegen; die Arbeit aber setzt Fleifs, der Fleifs setzt Gewinn voraus; dieser Ge- winn darf nicht verachtet, nicht für leicht entbehrlich gehalten werden, sonst schwächt man die Triebfeder, welche dem Fleifse zum Grunde liegt. Aber lassen sich, möchte Jemand fragen, nicht auch schon im rohen Menschen edlere Gefühle rege machen? Daran ist gar kein Zweifel. Noch mehr: es ist höchst nöthig, dafs dies geschehe. Aber es reicht nicht aus. Dem Sklaven des Augenblicks fliegen die schönsten Momente, die reinsten und zartesten Auffassungen vorüber, und wechseln mit Thorheit, ja mit Bosheit, ohne Entscheidung, - oder auch oftmals mit sehr schlimmer Entscheidung; nämlich damit, dafs der Mensch später- hin ausdrücklich dem Bösen den Vorrang giebt vor dem Guten! Ihm wäre besser, er hätte das Gute nie gekannt. So geht's, wo man erhabene Lehren predigt, ohne den Boden zu beachten, wohin sie fallen. Mäfsiger Eigennutz, wenn er besonnen ist, schadet zum Anfange weit weniger; denn man kann ihn beschämen; und die Beschämung haftet besser! Fleifs ist die Grundlage der guten Sitten; darüber frage man die Erfahrung und die Geschichte.

Niemand aber wolle dies so misdeuten, als ob hiemit der Lehre von Gütern oder vom Glück dergestalt das Wort solle geredet werden, wie wenn der Mensch sich ohne Schaden in [51] sie vertiefen könnte. Das ist ganz unmöglich. Und nichts Traurigeres könnte begegnen, als wenn etwa irgend ein angesehener Denker es nach Kant noch einmal, aller Warnungen uneingedenk, versuchen würde, der Güterlehre den Glanz einer vollständigen Sittenlehre zu geben.

Was würde man da versuchen? Etwa die Heiligkeit der Pflicht läugnen? die Erhabenheit der Tugend verspotten? Gewifs nicht! denn das macht die Geschichte der Philosophie geradezu unmöglich. Vielmehr würde man, wie schon im Vorbeygehn erwähnt wurde, den Begriff der Güter so hoch zu steigern versuchen, dafs er jenen gleich käme. Nur die Werke und das Material, worin Pflicht und Tugend sich zeigen und darstellen könnten, würde man Güter nennen. Aber wir fragen: welche Werke? zvelches Material? Beginnt nun die Antwort, wie es natürlich ist, von der Pflicht und der Tugend, damit diese den Maafsstab der Tauglich- keit des Materials, den Maafsstab des Werths der Werke ergeben; so ver- fehlt man die Absicht; alsdann nämlich sind die Güter nicht Prinzipien, sondern sie werden gefolgert aus der zuvor bekannten Natur des Maafs- stabes. Man mufs also den Werken und Materialien einen ursprünglichen Werth beylegen. Diese gleichgültigen Sachen, meint man, seyen nicht blofs da. sondern ihr Daseyn habe einen Werth! Gewifs haben sie den; nämlich für den Willen, der die Werke machte, und der die Materialien

02 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1 .

noch zu neuen Werken bestimmte. Hat denn dieser Wille auch einen Werth? !Er hat keinen. Denn hätte er einen solchen: so würde er hiemit als pflichtmäfsig, oder als tugendhaft, oder durch irgend eine von denjenigen Werthbestimmungen bezeichnet seyn, auf denen der Begriff vom Werthe einer Person, das heifst, der Tugend, beruht. Dieses aber wollte man vermeiden! Der Wille bleibt also völlig werthlos. Hingegen die Dinge, oder Gegenstände irgend einer Art, welche man Güter nennt, weil sie für den Willen einen Werth haben, diese unternimmt man zu bestimmen. Gesetzt, das sey geschehen: so wird man hieraus weiter ab- leiten müssen, was Tugend und was Pflicht sey. Wie wird man das [52] bewerkstelligen? „Pflichten" (wird man sagen) „sind solche Be- stimmungen des Verfahrens, welche der Wille klüglich befolgen mufs, damit er zu den von ihm erwählten Gütern gelange und sie beschütze. Tugend ist diejenige Uebung und Haltung des Geistes, welche für die eben beschriebenen Pflichten geschickt macht.'1 Sollen wir das Unwürdige einer solchen Lehre noch erst zeigen? Gewifs nicht. Es ist genug zu sagen, dals man die Frage nach der ersten und ursprünglichen Werth- bestimmung gar nicht erwogen, 2 sondern diesen Werth in der Gesammtheit der Dinge und des Wollens slillschzveigend vorausgesetzt hatte, weil man ihn eben nicht genauer kannte.

29. Wir wenden uns zum Begriff der Pflicht, und erinnern daran, dafs die Pflicht den werthlosen, aber auch schuldlosen Willen, welcher dem Fleifse zum Grunde liegt, nicht ohne Noth stören soll ; denn obgleich die Werke des Fleifses nur Geniefsungen oder Schutz vor Uebeln und Schmerzen seyn mögen, und dann gerade so werthlos sind als der Wille selbst, der sie hervorbringt: so hat doch die Besonnenheit und Ordnung des Fleifses einen sehr hohen Platz im Gebiete der mittelbaren Tugend (27.); und das darf zwar bey blofser Speculation, niemals aber in Bezug auf den praktischen Menschen vergessen werden, dem man keine gröfsere Last der Gedanken auflegen soll, als ihm heilsam ist.

Unstreitig aber stört die Pflicht oft genug den Fleifsigen, wie den Unfleifsigen ; und das thut sie am gewöhnlichsten dann, wann sie die Rechte Anderer betrifft; wobey sie sich gerade so wenig um die Tugend des Verpflichteten, als um seine Wünsche und Werke bekümmert. Eine Schuld mufs bezahlt, ein versprochener Dienst mufs geleistet werden; wer darin aus Rücksicht auf seine eigne Person ein Mehr oder Weniger anbringt, der kann froh seyn, wenn die Pflicht unverletzt bleibt; selbst wenn er dies oder jenes System der Moral hinzudächte, so wäre dies eine Auslegung der Pflicht, worin er mit sich und seinen eignen Ge- danken beschäfftigt, also mehr oder weniger [53J tugendhaft wäre, ohne hiedurch auch nur das Allergeringste an der Pflicht selbst zu ändern. Wer dies nicht einsieht, der hat noch nicht gelernt, seine Gedanken in

1 Vor „Er" hat die II. Ausg. den Satz: Man wird genöthigt seyn zu antworten:

2 Wertbestimmung nicht hinreichend erwogen ... II. Ausg.a

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne die Abweichung der 1. Ausg. anzugeben.

I. Abschnitt. Elementarlehre. 3. Capitel. Von den Begriffen der Güter etc. 63

einer bestimmten Sphäre vestzuhalten ; und besonders fehlt es in solchem Falle an Kenntnils der allerdings etwas eigensinnigen Natur des Rechts, aus welchem die Pflichten schlechthin ohne alle Rücksicht auf Tugend hervorgehn. Wir berufen uns hierüber auf die Thatsache, dafs längst, und mit sehr allgemeiner Beystimmung, die Rechtspflichten mit dem Namen der vollkojnmenen Pflichten sind bezeichnet worden; welches zeigt, dafs an denselben nichts fehlt, am wenigsten eine systematische Art, sie abzuleiten oder zu beweisen. Sie bestehen vollkommen für sich. Aber neben ihnen finden sich unvollkoimnene Pflichten; das heifst, der Begriff der Pflicht ist über seinen ursprünglichen Sinn hinausgetragen und er- weitert worden, dergestalt, dafs die Rücksichtslosigkeit und Strenge, womit in jenem ersten Falle ohne allen Zusatz die Pflicht an sich klar ist, in der weitem Bedeutung des Worts nicht mehr kann vestgehalten werden. Unvollkommene Pflichten sind näher zu überlegen; der Verpflichtete mag dabey seine eigne Person, seine Ansicht, und, wenn er will, sein System in Betracht ziehn.

Schon aus der Unterscheidung der vollkommenen und unvollkommenen Pflichten läfst sich schliefsen, wie mifslich es sey, die ganze Sittenlehre auf den Begriff der Pflicht zu gründen. Ein solcher Begriff, der zuvor in einem engern Bezirke einheimisch war, dann in einer gewagten Er Weiterung zu einem gröfsern Gebiete gelangte, besitzt nicht mehr die ur- sprüngliche Klarheit eines Princips. Das bestätigt sich, sobald man ge- nauer nachforscht. Wo ist der Gebieter, der überlegene Wille, welchem ein anderer verpflichtet seyn soll zu gehorchen ? Welches ist das Band der Nöthigung, das auch da noch Respect fordert, wo die Gewalt fehlt? Auf welchen Punct trifft die Achtung zuerst, welche man für die Pflicht ver- langt? Denn Pflicht, als Gebundenheit, zeigt den Gebundenen als unter- geordnet; Er selbst also, der Untergeordnete, kann nicht der Gegenstand der Achtung gerade in so fern [54] seyn, als man sie von ihm selbst für die Pflicht, die er erfüllen soll, zu fordern hat. - Kein Wunder, wenn hier Minder-Geübte den Staat oder die Gottheit zu Hülfe rufen. Aber damit verfehlen sie gerade den Fragepunct. Der Mächtige kann hier gar nichts helfen; seine Macht steht ihm im Wege; denn wir fragen nicht nach irgend einer Unterwürfigkeit des Schwachen unter dem Starken, sondern nach einem Respect ohne alle Rücksicht auf Macht. Dafs nun auch Kant. der diesen Fragepunct vollkommen inne hatte, und ihn besser als irgend ein Neuerer hervorhob, dennoch die Antwort nicht traf, lag blofs an dem Vorurtheil, dafs ein einziges Princip, und zwar in Form eines Satzes, ge- sucht wurde, während mehrere Ideen zusammengenommen den Platz ein- nehmen, aus welchem in die Geschaffte des Lebens die störende Gewalt hervordringt, der sich der Fleifs des Eigemiutzes ebensowohl als der Trotz der Wildheit beugen soll. Das Recht ist eine von den Ideen, aber nicht die einzige. Der Berechtigte stellt sich seinem Verpflichteten als die Person dar, welche zu fordern hat; aber eine äufsere Persönlichkeit ist, was das Fordern anlangt, weder hier, noch für die andern Ideen nöthig; denn sie erzeugen sich in jeder Person, auch in dem eignen Ich; und hierauf gerade beruhet jener moralische Muth, welcher es empfindet, dafs es eine Auto- nomie giebt; dafs nicht alle Motive von aufsen kommen (26.). Damit ist

(3^1 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

aber keinesweges die KANTische Autonomie des Willens gerechtfertigt. Man setze einen Willen A, welcher gebietet einem andern Willen B; gleichviel ob A und B beide in Einer Person vereinigt vorkommen, oder in verschiedenen Personen. Welches ist nun die Auctorität des A, und weshalb ist B ihr untergeordnet? Worin liegt die Verpflichtung des B gegen A? Ein Unterschied ist hier vorhanden, und nicht blofs ein starker, sondern gerade derjenige Unterschied, auf welchem der Begriff der Pflicht beruht; so dafs, wenn Pflicht das erste Princip der Sittenlehre seyn soll, dann eben dieser Unterschied ursprünglich klar und gewifs seyn mufs, Aber wenn man auch von der Er[55]zeugung der praktischen Ideen noch nichts weils, welche dem gebietenden Willen A die Auctorität geben, so kann man wenigstens auf der Stelle folgenden, höchst leichten negativen Schlufs machen: Ein Grund des Unterschiedes zwischen A und B zvird ge- sucht; darin aber, dafs A ein Wille ist, liegt vielmehr die Gleichheit des A mit B; denn B ist auch ein Wille. Nun kann der Unterschied nicht aus der Gleichheit folgen, also kann A nicht deshalb die Auctorität, welcher B sich fügen soll, besitzen, weil A ein Wille ist; sondern wenn A in der That solchen Vorzug hat: so ist der Grund des Vorzugs kein Wille; er ist willenlos.

Und allerdings ist die Auctorität der praktischen Ideen eine eben so willenlose als machtlose; darum wird auch Niemand sagen, man sey den Ideen verpflichtet. Wohl aber, durch die Ideen erlangt ein solcher Wille, der sich ihnen widmet, eine Auctorität, welche ihn unterscheidet von jedem andern Willen. Und wenn jener gebietet, dann soll dieser andre folgen; das ist Pflicht. Aber eben deshalb ist Pflicht nicht der Grundgedanke der Sittenlehre, sondern sie gehört zu den abgeleiteten; sie entspringt aus den Ideen.

Gesetzt nun, es wolle Jemand, der dies Alles nicht einsieht, unter- nehmen, die Pflicht zum Princip zu machen: was wird dann aus der Tugend und aus den Gütern?

Denken wir uns doch einmal das Ideal eines Menschen, der blofs gehorchender Wille wäre; der sich begnügte, lediglich als Verpflichteter zu existieren. Woher käme bey einem solchen noch der Stolz der Tugend, und der Wunsch nach Gütern? Er würde nichts davon begreifen. „Sagt mir nur (würde er sprechen) was soll ich thun? Gern wird es geschehn; nur bitte ich: plagt mich nicht mit den Gründen Eurer Forderungen; die verlange ich gar nicht zu wissen."

Dürften wir aber dennoch dem rein Gehorchenden mit Tugend be- schwerlich fallen: so wäre sie eine Art von innerem Werkzeuge; eine Vorbereitung zu den geforderten Leistungen. [56] Nichts anderes bleibt übrig, wenn die Pflicht des Thuns und Lassens an die Spitze gestellt ist. Fällt auf sie die ursprüngliche Werthbestimmung : so behält die Tugend nur einen mittelbaren Werth.

Den Gütern würde auf solchem Wege nur übrig bleiben, als erlaubte Lückenbüfser, oder etwa als Ermunterungen und Belohnungen sich hie und da einzuschalten. Einen breitern Platz möchten wohl die Uebel bekommen, nämlich als Strafen für Uebertretung der Pflichten; wogegen wir jedoch sehr protestiren müssen; denn für eine so leichtsinnige Behandlung, als ob

i. Abschnitt. Elementarlehre. 3. Capitel. Von den Begriffen der Güter etc. 65

Strafe jeder Uebertretung der Pflicht angemessen wäre, ist der Begriff der- selben zu wichtig.*

30. Da im Vorhergehenden einmal Schulfragen mufsten berührt werden, so ist es auch nöthig, eine populäre Erläuterung beyzufügen. Dem praktischen Menschen insbesondre dem gebildeten Geschäffts- und Kriegsmanne sind die Begriffe von Rechten und von der Ehre ge- läufiger, als die von Pflicht und Tugend; und das ist ganz natürlich, denn der Geschäfftsmann lebt gesellig, er sondert sein Privaturtheil nicht leicht ab von dem Gesammturtheil der Gesellschaftskreise, denen er angehört. Anstatt also seine Pflicht blofs mit sich selbst zu überlegen, anstatt der Tugend im Stillen nachzustreben, hört er auf das, was Andre von ihm fordern. Es läfst sich eine entfernte Möglichkeit denken, dafs die Vor- stellung des Mannes von Ehre sich erhöhen könnte zum Ideal des Weisen oder des Tugendhaften; dann nämlich, wenn die Gesellschaft, von welcher die Stimme der Ehre ausgeht, sich so weit veredelte, dafs ihr Urtheil nicht blofs genau richtig, sondern auch ohne Ansehn der Person völlig laut würde. Aber schon jetzt kann man die Frage aufwerfen: Erkennst du deine Ehre aus deinen Pflichten? oder die Pflichten aus der Ehre? Hierauf möchte wohl ziemlich einstimmig die Antwort erfolgen: Wer kein richtiges Ehr[5 7]gefühl hat, dem wird es durch Aufzählung der Pflichten Nie- mand beybringen. Oder soll man die Dienstverhältnisse einzeln durch- mustern, den Familienverhältnissen nachgehn, die Gesinnungen des Um- gangs beschreiben, die Arbeiten und Erhohlungen verzeichnen (nach 7.), um anzugeben, was Einer zu thun und zu lassen habe, damit er seine Ehre kennen lerne? Umgekehrt, wenn er wahres Ehrgefühl hat, so breitet sich dieses allmählis; von selbst durch die verschiedenen Lebensverhältnisse aus, um sie, so gut es gehen will, zu ordnen; wenn aber dabey Fehler im Einzelnen vorfallen, so sind das Schwächen, die wenigstens nicht das Ehrgefühl überhaupt und als Ganzes in Gefahr setzen, wie sehr sie auch für sich allein dem Tadel unterliegen möchten. So nun auch wird man von der Tugend sagen können: ist sie einmal richtig erkannt, so werden sich die einzelnen Vorschriften für den Gebrauch, also die Pflichten, eher finden, als wenn rückwärts aus den Pflichten sollte auf die vorauszusetzende Gesinnung und Gemüthsbeschaffenheit geschlossen werden.

Damit ist nicht gesagt, dafs alle Pflichten vollständig aus der Ehre können hergeleitet werden. Denn die Verhältnisse ändern sich, und ins- besondre die Rechtsverhältnisse, welche in der Gesellschaft besser und schlechter geordnet werden können, ohne dafs die Einsicht in das, was als Verbesserung oder Verschlechterung anzusehen ist, sich aus den Be- griffen von der Ehre entnehmen liefse. Nach den Rechtsverhältnissen aber bestimmen sich diejenigen Pflichten, welche man vollkommen nennt. Der Mann von Ehre, und eben so der Tugendhafte, bewegt sich zwar in diesen Verhältnissen, aber sie hängen nicht von ihm ab, und würden selbst bey dem vollkommensten Zustande der menschlichen Dinge doch noch keineswegs ganz allein dazu dienen, dafs sich in ihnen die Tugend

* Man vergleiche in der praktischen Philosophie das fünfte und neunte Capitel des ersten Buchs. [Bd. II vorl. Ausg.]

Herbart's Werke. IX. 5

66 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1 .

darstellen solle, sondern aus mancherley andern Gesichtspuncten zu be- urtheilen seyn; wenigstens so lange Tugend als Eigenschaft einzelner Personen betrachtet wird.

[58] 31. Es bleibt also dabey, dafs sowohl eine Güterlehre, als eine Pflichtenlehre, als eine Tugendlehre nüthig ist; nicht aber deshalb, weil einerlev Lehre in allen ihren möglichen Gestalten erscheinen soll, sondern umgekehrt darum, weil eine genaue Reduction der drey Lehren auf ein- ander nicht möglich, und jede derselben nur unter Voraussetzung eines gemeinsamen Grundes, nämlich der Ideenlehre, zur Ausbildung gelangen kann. Da wir aber im Vorhergehenden den Begriff" des Mannes von Ehre berührt haben, so darf auch dieser nicht als eine leere Abstraction im Dunkeln liegen bleiben, sondern es ist nöthig, ganz kurz die Merk- male des Begriffs anzuzeigen, und bey dieser Gelegenheit einiges Licht auf die praktischen Ideen selbst zu werfen. Der Mann von Ehre ist

nach der Idee der Vollkommenheit: nicht feige.

nach der Idee des Rechts: unbescholten in Hinsicht auf Gewalt- that und Betrug.

nach der Idee der Billigkeit: nicht befleckt durch verdiente Strafe doloser Handlungen oder schwerer Nachlässigkeiten.

nach der Idee des Wohlwollens: nicht verdächtig der Hartherzig- keit, des Neides und der Schadenfreude.

nach der Idee der innem Freyheit: beharrlich in seinen Vorsätzen, und consequent in seinen Handlungen. Diese kurze Beschreibung kann hier genügen, und mufs unmittelbar ein- leuchten. Auf mögliche Künsteleyen, die gegebenen Merkmale aus ein- ander abzuleiten, können wir uns eben so wenig einlassen, als auf einige nähere Bestimmungen, die sich ohne Weitläufigkeit nicht würden ent- wickeln lassen.

[59] Viertes Capitel. Vom Bedürfnisse der Religion.

32. Die Lehren von Gütern, Pflichten, und von der Tugend ver- wandeln sich im Gebrauche des Lebens nur zu leicht in Lehren von Uebeln, von begangenen Fehlern, und von Lastern.

Der Mensch sucht umher unter Gütern; sie geben ihm da und dort eine Freude; aber sie sind nie so beysammen, dafs er fände, was er eigentlich sucht, nämlich dauerndes Glück. Man räth ihm, seine Empfind- lichkeit zu mäfsigen, seine Ansprüche zu beschränken, seine Kräfte zu schonen, das Nothwendige zu erwerben, es vorsichtig zu hüten; den Egois- mus Anderer, der zum Theil unvermeidlich ist, nicht gegen sich zu reizen, vielmehr sich neben ihnen eine ruhige aber veste Stellung in der Gesell- schaft zu suchen; Erfahrungen zu sammeln und fremde Erfahrungen zu

i. Abschnitt. Elementarlebre. 4. Capitel. Vom Bedürfnisse der Religion. 67

benutzen. Diese und andre Rathschläge hört der Jüngling vom Greise; sie helfen Etwas, aber sie bringen keine volle Zufriedenheit.

Der Mensch fragt nach seinen Pflichten; er findet deren allenthalben, weit über die Gränzen der vollkommenen Pflichten hinaus; das freye Leben der Jugend ist für den reifen Mann vorbey; er ist umgarnt von allen jenen Verhältnissen der Gesinnungen, der Familie und des Dienstes; die Zeit reicht nicht hin für die Arbeiten; die Erhohlungen geben die erschöpfte Kraft nicht zurück. Pünctliche Ordnung soll helfen; sie wird pedantisch. Strenge Selbstbeobachtung wird versucht; sie lehrt nicht viel Neues, aber sie macht ängstlich. Dennoch zeigen die Folgen unbewachter Augen- blicke, wie noth wendig sie war; denn Fehltritte sind geschehen, ehe man es merkte. [60] Diese Fehler verrücken die Lebensverhältnisse; man be- müht sich umsonst, sie wieder zu ordnen. Aus den Schritten, die man gethan hat und nicht zurückthun kann, ergeben sich andre, welche nun auch noch, als nothwendige Fortsetzungen, gethan werden müssen; die freye Wahl ist verloren. Ringsum ist ein Wald aufgeschossen, aus dessen Irrgängen der Ausgang vergeblich gesucht wird.

Der Mensch strebt nach Lob und Ruhm; er fühlt das Edle, er übt sich, Beschwerden zu ertragen; was ihm gelingt, erhebt seinen Muth; was ihn drückt, reizt seine Kraft, sich dagegen zu stemmen. Die Bildungs- stufe der Zeit und der Umgebung ergiebt nach den Umständen eine spartanische, oder eine römische, oder eine Räuber-Tugend. Falscher Heroismus, von welcher Art er auch sey, führt nicht blofs zu fanatischen Unthaten, sondern er verödet auch das Gemüth, und erstickt die Stimme s des Gewissens. Dem gewöhnlichen Menschen drohen andre Gefahren. Der Sorglose wird leichtsinnig, der Unschuldige wird verführt; der Um- sichtige wird zum Nachahmer dessen was Andre thun, und weifs die Motive seiner eignen Handlungen nicht anzugeben. So fehlt der noth- wendige Widerstand gegen Sinnenlust und geselliges Misbehagen; es erzeugen sich einerseits die Laster der Unmäfsigkeit und des Eigennutzes, andrer- seits die des Grolls und des Unmuths; wird nun diesen Lastern endlich mit vollem Bewufstseyn die Herrschaft eingeräumt, so steht die Sünde in voller Blüthe, und schnell reift ihre böse Aussaat.

33. Gesetzt, diese leicht fortzusetzenden Beschreibungen wären all- gemein richtig, und so fände die Religion den Menschen: was hätte sie zu thun? Dreyerley ohne Zweifel: den Leidenden zu trösten, den Verirrten zurechtzuweisen, den Sünder zu bessern und dann zu beruhigen.

Hiemit ist ihre dreyfache Stellung angezeigt; denn man wird ohne Mühe bemerken, dafs zur Güterlehre, zur Pflichtenlehre, und zur Tugend- lehre, eine Ergänzung gehört, weil keine Lehre in der Welt im Stande ist, den Menschen vor [61] Leiden, vor Uebertretungen, und vor innerm Verderben zu sichern. Das Bedürfnifs der Religion liegt am Tage; der Mensch kann sich selbst nicht helfen; er braucht höhere Hülfe!

Die Religion setzt das Ewige dem Zeitlichen entgegen. So schneidet sie die Sorgen ab, und bringt ganz andre Gefühle hervor, als die des irdischen Leidens. Sie vermindert das Gewicht der einzelnen Handlungen des Menschen, indem sie eine höhere Ordnung der Dinge zeigt : Die Ordnung der Vorsehung, welche mitten unter menschlichen Fehltritten

5*

58 IL Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1 .

dennoch das Gute fördert. Sie stellt allem falschen Heroismus das Ideal eines göttlichen Leidens (wenn man sich so ausdrücken darf) gegenüber, welches aus Dulden und Wirken dergestalt zusammengesetzt ist, dafs jede menschliche Tugend, damit verglichen, als eine ohnmächtige Ueber- spannung erscheinen würde. Hiedurch demüthigt sie nicht blofs den Tugendhaften, sondern sie beschämt auch die Sünde in ihrem Innersten, indem sie dem lüsternen Eigennutz die Aufopferung, dem Groll die Liebe zeigt. Wird es ihr auch gelingen, die Sünde zu erdrücken, zu zerstören, zu vertilgen? Das weifs kein Mensch, denn dazu müfste Einer dem Andern ins Herz schauen können, und zwar ohne Vergleich tiefer, als irgend Einer bey der genauesten Selbstbeobachtung in sich selbst ein- zudringen vermag. Erlösung auf Bedingung der Besserung läfst sie wohl verkündigen; aber die Frage, ob auch Dieser und Jener die Bedingung erfülle, mufs man Gott anheimstellen.

Selbst die Religion also vermag das irdische Dunkel nicht ganz zu erhellen. Dennoch ist das, was sie schafft, unschätzbar, und auf keine andre Weise zu ersetzen. Zwar kann man das Ideal der Tugend durch Hülfe der praktischen Ideen sehr bestimmt zeichnen; ja es ist leicht zu erkennen, dafs-, indem wir die Gottheit selbst als heilig, allmächtig, gütig, gerecht, und vergeltend denken, hiebey unser Begriff die nämlichen Ideen zusammenfalst, welche der Sittenlehre das Daseyn geben. Allein dies Alles richtet den gesunkenen Menschen nicht empor; ihm mufs sich eine neue Welt eröffnen, denn [62] seine Welt ist ihm verdorben; seine Schuldbriefe müssen zerrissen werden, denn er kann sie nicht bezahlen; er mufs wieder anfangen, denn er ist unfähig fortzusetzen.

34. Die Verkündiger der Religion sind Menschen; sie selbst bedürfen der Religion. Ihr Geschäflt ist schwer; es ist nicht damit gethan, dafs sie Griechisch und Hebräisch ins Deutsche übersetzen; sondern was in historischer Ferne schwebt, das sollen sie heute als Nahrung und Heilung austheilen. Das Erstaunen, welches der Blick in die höhere Ordnung zu erregen vermag, wirkt auf sie zuerst; und man darf sich nicht wundern, wenn ihnen etwas Aehnliches, wie den Philosophen so häufig, ebenfalls begegnet; nämlich die Beziehungen ihrer Lehren aus den Augen zu ver- lieren, oder wenigstens nicht scharf genug zu beachten.

Man wird wohl einräumen, dafs die Religion zu den Lehren von Gütern, Tugenden, Pflichten, eine Ergänzung bildet; diese Beziehung liegt gar zu offen am Tage, um geläugnet zu werden. Aber es ist nicht genug, dies nur im Allgemeinen einzuräumen, sondern die Unterschiede der besondern Fälle müssen bey jeder Anwendung beachtet werden. Er- gänzung setzt einen Mangel voraus. Wer eine Bildsäule ergänzen will, der fängt nicht etwa damit an, den Mangel zu vergröfsern; er schlägt nicht den zweyten Arm oder den zweyten Fufs ab, sondern er restaurirt gerade denjenigen Arm und Fufs, dessen Mangel er vorfindet. Eben so weifs der besonnene Geistliche, dafs er mit dem redlichen Leidenden nicht die nämliche Sprache zu führen hat, wie mit dem übermüthigen, frechen Sünder. Noch mehr: wir haben angenommen, der nach Gütern, Pflicht- erfüllungen, und nach der Tugend strebende Mensch sey in Verwickelungen und Irrwege gerathen. Aber nicht jeder verirrt sich auf gleiche Weise;

i Abschnitt. Elementarlehre. 4. Capitel. Vom Bedürfnisse der Religion. 69

nicht jeder gleich weit; nicht jeder ist gleich kraftlos in sich selbst; nicht jeder gleich unfähig, sich die Sittenlehre in einer von jenen drey Formen, die gerade für ihn passen mag, wirksam anzueignen. Dafs durch die Sittenlehre vieles bewirkt werden kann, zeigen [63] die That- sachen; es zeigt es ihre fortdauernde Existenz; hülfe sie nichts, so wäre sie längst verschollen. Konnte sie etwas wirken, so fragt sich in jedem einzelnen Falle, ob ihre Wirkung schon am Ende sey? oder ob sie noch fortdauere, oder sich noch erneuern und verstärken lasse? Der besonnene Geistliche hütet sich, diese Fragen zu überspringen; er hält die religiöse Hülfe bereit, ohne sie aufzudringen; und er vermeidet alle Zudringlich- keit um desto mehr, da vielleicht seine Person gar nicht mehr nöthig ist. Denn die Sprache der Religion ist allgemein bekannt; jeder Gebildete hat sie vernommen; und Jeder macht gerade hier seinen eignen Geschmack gelten, indem die Art des Vortrags ihm gar nicht gleichgültig, sondern nur auf bestimmte Weise für ihn ansprechend ist. Hierüber mit den Menschen zu hadern, nützt gar nichts; die Hülfe wirkt nur für den, welcher gerade diese Hülfe sich aneignet.

35. Die verschiedenen Religions-Partheyen, welche seit Jahrhunderten neben einander leben, und mit Eifer sich bis ins Einzelne ihrer Ge- bräuche gegen jede fremdartige Zumuthung behaupten, zeigen deutlich, wie vest die religiöse Ergänzung mit demjenigen verwächst, was durch sie ergänzt wird. Noth lehrt beten! Wo ein munteres Genufsleben lange Zeit hindurch ungestört blieb, da erschlafft der Eifer für die Ge- bräuche des Cultus. Umgekehrt: wo die Geistlichen gern Ablafs ver- kaufen, wo es ihnen also nicht Ernst ist, die Gemüther durch Reue zu erschüttern, wo die Sünde sogar begünstigt wird, damit sie oft vergeben werden könne, da wächst und gedeiht der Ceremoniendienst; denn mit seinen erkünstelten Pflichten täuscht man die Menschen über ihre wahren Pflichten; sein Gepränge befriedigt die Schaulust, und das Gewissen findet nicht Zeit zum Reden. Wie ist solche Verkehrtheit möglich? Die Heilig- thümer sind älter als die Sittenlehre; eine dumpfe Erfurcht für dieselben, ein Staunen ohne eigentlichen Gegenstand wuchs mit den Menschen auf, ehe die moralischen Begriffe sich entwickelten ; es war also etwas vor- han[Ö4]den, das man Religion nannte, ehe der Beziehungspunct für die- selbe veststand. Und wie kann solches Uebel gebessert werden? Da- durch, dafs man die verfehlte Beziehung wieder herstellt. Die Religion reinigt sich, sobald die Gesinnungen sich veredeln; sie steht mit ihnen in Wechselwirkung. Wird Jemand, der die Geschichte kennt, daran zweifeln ?

36. Aber hier müssen ein paar Fehler bemerkt werden, welche von philosophischen Systemen zuweilen veranlafst sind. Man hat erstlich zuweilen der Sittenlehre die besondere Ehre erwiesen, sie selbst als den Kern der Religion zu betrachten; man hat verlangt, Moral solle den vornehmsten Inhalt der Predigt ausmachen, das heifst, den Beziehungs- punct mit der Ergänzung, die sich auf ihn bezieht, zusammenwerfen, folglich die ganze Beziehung aufheben. Wer dies rechtfertigen wollte, der müfste jene Unzulänglichkeit der Sittenlehre abläugnen, von welcher wir ausgingen (32.). Allein sie liegt offenbar am Tage; darum konnte

7o

11. Ivurze iincyKiopaaie aer r-imusopme. ioji.

das Moralpredigen nicht genügen. Der leidende, verirrte, verdorbene Mensch mufs in eine andre Gegend versetzt werden; die Moral aber hält ihn auf seinem Standpuncte vest; sie gebietet ihm, sich in seinem Kreise, nur mit veränderter Richtung fortzubewegen; und das gerade ist's, was der schon zerrüttete Mensch nicht mehr vermag. Anders verhält es sich mit dem geistig Gesunden; diesen kann die Religion nur warnen, dafs er nicht erkranke; sie wird ihn stärken und noch mehr erheitern; aber das ist nicht ihr eigentlicher Charakter; es erklärt nicht den ernsten Ton, in welchem sie gewohnt ist zu reden. Und wo fände sie den Ge- sunden im strengen Sinne? Die Aerzte, des Geistes sowohl als die des Leibes, wissen, dafs vollkommene Gesundheit ein Ideal ist, dem wir uns

nur annähern.

37. Der zweyte Fehler entspringt aus unrichtigen, wiewohl nicht übel o-emeinten Speculationen. Man will die Gottheit recht eigentlich erkennen, ja sogar aus ihr die Natur erklären. Oder vielmehr: man glaubt diese Erkenntnifs zu besitzen; man freut und rühmt sich, den Glauben in ein Wissen [65] verwandelt zu haben; nachdem zuvor durch andre, ebenfalls nicht ganz richtige Lehren, der Glaube selbst schwach geworden und als eine Sache des blofsen reinen Herzens dargestellt war. Aber die Verbesserung bringt ein neues Uebel herbey. Läge das höchste Wesen im Kreise unseres Wissens als ein erreichbarer Gegenstand: so könnte eben so wenig die Religion den zerrütteten Menschen in ein neues, besseres Land einführen, als im vorigen Falle. Und selbst dem geistig Gesunden wird der Gedankenkreis beengt, die Aussicht benommen, wenn er die höchste aller Vorstellungen, wozu er sich erheben kann, als abge- schlossen, oder auch nur der Hauptsache nach als fertig und sattsam bestimmt, betrachten soll. Wir reden hier nicht von Widerlegung eines Irrthums. Wer einmal ein unrichtiges System für wahr hält, der gewöhnt sich daran, und fühlt nicht mehr die Fessel, wogegen Andre, denen er sie anlegen will, sich sträuben. Aber dann mufs er wenigstens der Ein- rede Gehör geben; er mufs sich sagen lassen, dafs er schlechten Dank verdienen würde, wenn er Andre, deren Religion ins Unermefsliche und durch keine Erkennlnifsbegriffe Erreichbare hinausschaut, die nämliche Be- gränzung aufdringen könnte, in welche sich sein Meinen und Fühlen nun einmal gefügt hat. Uebrigens sorgt die Natur, dafs der Fehler nie zu grofs und zu gefährlich werden könne. Sie bleibt immer unbegriffen in dem, was sie sichtbar Zweckmäfsiges hat; und der Urheber dieser Zweckmäfsigkeit bleibt für unsere Augen immer ein Fixstern, welchen man stets weiter in die Ferne zu setzen genöthigt ist, so oft eine Meinung, wie viele Millionen oder Billionen von Meilen er wohl von uns abstehen könnte, war gewagt worden.

38. Der eben genannte veste Punct schien wankend zu werden, als beym Wiederaufleben der metaphysischen Speculation die Bemerkung ge- macht wurde, Raum und Zeit seyen Formen unseres Vorstellens,. welche nicht unmittelbar sinnlich empfunden werden können, sondern sich in uns selbst ausbilden müssen. Das Zweckmäfsige in der Natur zeigt sich aber [66] gerade in Bestimmungen des Räumlichen und Zeitlichen; wie nun, wenn unser Wahrgenommenes kein Zcugnifs von Aufsen, sondern in-

i. Abschnitt. Elementarlehre. 4. Capitel. Vom Bedürfnisse der Religion. 71

wendig, bewufstlos von uns selbst, erzeugt ist? Die Frage hätte selbst bey jener, höchst unreifen^ Betrachtung über Raum und Zeit (wobey weder Psychologie noch Metaphysik ihre Schuldigkeit gethan hatten) dennoch in ihre Schranken können zurückgewiesen werden, sobald man nur über- legt hätte, dafs man die Formen der Dinge nicht in der Gewalt hat, sondern sie nehmen mufs wie man sie findet. Man findet also das Zweckmäßige2 der Natur; es läfst sich nicht erfinde?i. Aus dem Mangel dieser Bemerkung, die in einem Strome des Irrthums fortgerissen wurde, mufs man sich Manches erklären. Sobald aber die teleogische Natur- betrachtung ihren Standpunct wieder einnimmt, wird es offenbar, dafs Religion nicht vom Herzen ausgehend nach dem Herzen könne gemodelt werden; und dafs, wie freundlich auch der Fixstern uns überall hin auf unsern Wegen und Stegen begleitet, es doch Thorheit ist, ihn ans Herz drücken zu wollen. Er dringt zwar dem Auge seine Entfernung nicht auf; er wird zwar mit der unläugbarsten Bestimmtheit gesehen; aber greifen könnt Ihr ihn doch nicht. Glauben müfst Ihr, dafs er eine Sonne ist, und nicht blofs ein leuchtendes Pünctchen; aber auch dieser Glaube steht nicht in Eurem Belieben, sondern alles Andre, was Jemand ver- suchen möchte lieber zu glauben, ist ungereimt. Diese vest bestimmte Einsicht nun ist der Religion nicht gleichgültig, sondern sie gehört zum Bedürfnifs derselben. Denn jene Tröstung, Ermahnung, Erhebung, mufs einen Punct haben, von wo sie ausgeht. Freylich aber mufs sie auch zum Herzen gelangen; sie mufs innerlich zugeeignet werden. Das Ent- fernteste mufs ein völlig Gegenwärtiges seyn. Hierin liegt der Zauber der Religion, der manchen trüben Kopf veranlaßt, sie mit ungereimten Be- griffen zu belasten, und sich am Ende gar einzubilden, der gröfste Un- sinn sey die gröfste Frömmigkeit.

[67] 39- Mit den vorstehenden Andeutungen vom Eingreifen der philosophischen Ansichten in die religiösen, verbinde man die obigen Be- merkungen über die Verschiedenheit der Menschen (34.): so leuchtet ein, dafs sich das Religions-Bedürfnifs schon aus diesen Gründen sehr ver- schieden gestalten werde. In der That finden sich selten zwey Personen, die, wenn sie ihre Meinungen über Religion völlig austauschen, sich ganz in Uebereinstimmung setzen können. Unter diesen Umständen möchte man es fast bedauern, dafs gleichwohl das Keligions-Bedürfnifs in so hohem Grade gesellig ist. Jeder klagt gern laut, was sein Herz drückt; und wollte er davon schweigen, dennoch würde das, was ihm an Glück und innerer Ruhe fehlt, sich selten ganz verbergen lassen. Dazu kommt nun die offenbare Notwendigkeit, dafs Geistliche vorhanden seyn müssen, welche den Trost, die Zurechtweisung, die Ermahnung überall austheilen. Solche Männer müssen gebildet, angestellt, unterhalten, vielfach unter- stützt werden. Dazu ist ein grofser Verein nöthig, oder mehrere Vereine ; also zwar ein Vertrag, denn jede Vereinigung der Personen durch ihren Willen ist ein solcher, aber nicht ein beliebiger Vertrag, sondern ein un-

1 bei jener Betrachtung n. Ausg. („höchst unreifen" ist weggelassen.)

' also das Zweckmäfsigste der Natur SW.

•j2 II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

vermeidlicher, den das allgemeine Bedürfnifs herbey führt (20.). * Es ent- stehen also Kirchen, indem die Menge sich in solche Gruppen sondert, deren jede es möglich findet, sich für einverstanden in den Hauptpuncten der Religion zu erklären. Diese Kirchen fordern von keinem ihrer Mit- glieder, dafs es sich ganz vollständig, und ganz laut, über alle seine Meinungen ausspreche; im Gegentheil, es liegt ihnen daran, dafs die Aeufserungen der Mishelligkeit, des Schwankens und Zweifeins von Einzelnen möglichst zurückgehalten werden, um Andre nicht irre zu machen, und dadurch das Geschafft der Geistlichen nicht2 zu erschweren.

Die Kirche nun bezieht sich auf die Schule, aber sie beherrscht sie nicht. Denn sie sorgt für die Ergänzung dessen, was in der Schule von Gütern, Pflichten, Tugenden gelehrt wird; die Ergänzung aber setzt das zu Ergänzende voraus. Daher kann es der Kirche begegnen, von der Schule aus re[68]formirt, und durch die Reform gespalten zu werden; wie solches dem Christenthum begegnete, als in der Kirche die nöthige Gelehrsamkeit war vernachlässigt worden, und diese sich aus eigner Kraft wiederherstellte. Ein trauriger Umstand, der jedoch nicht zu vermeiden steht, wenn das Uebel einmal da ist.

Die Kirche ferner bedarf des Staats; denn sein ist die Macht, welche auf jedem gegebenen Boden Ordnung hält; und zwey oder mehrere wahrhaft regierende, sich thätig äufsernde Mächte können nicht auf Einem Boden neben einander bestehen. Gedenken wir daneben der Rechtsgesellschaft, des Cultursystems u. s. w. (27.); nehmen wir noch die Nothwendigkeit hinzu, dafs dieselbe Macht, welche im Innern Ordnung hält, auch gegen äufsere Feinde sich vertheidige: so haben wir hier an der Kirche, die von keiner jener Gesellschaften ausgeht, sondern un- mittelbar und selbständig aus dem religiösen Bedürfnifs entspringt, das erste, höchstwichtige Bey spiel, dafs die Frage vom Zwecke des Staats keine einfache Antwort zuläfst, sondern mehrere Gesellschaftskreise, sofern sie sich auf einerley Boden befinden, mithin nur durch einerley Macht Schutz erlangen, zusammengenommen den Zweck des Staats bestimmen.*

40. Aber wird denn auch der Staat den von ihm verlangten Schutz der Kirchen, soweit sie sich auf seinem Boden befinden, übernehmen ?

Die bejahende Antwort kann nicht zweifelhaft seyn, wofern nur die Kirche ihrer Bestimmung entspricht. Denn die furchtbarste, aller Macht einer menschlichen Regierung überlegene Spannung würde entstehn, wenn die Gemüther ohne Trost, Zurechtweisung, Erhebung, der natür- lichen Unruhe (32.) überlassen blieben. Aller Zunder, welchen diese Un- ruhe in Flammen setzen kann, liegt auf dem Boden des Staats. Hier sind die Güter, welche, indem sie den Fleifs [69] beschäfftigen, zugleich die Begierden reizen; hier sind Gesinnungen nicht blofs der Achtung, sondern auch der Geringschätzung, nicht blofs der Liebe, sondern auch

1 In der II. Ausg.: (21); da der Abschnitt 21 in der II. Ausg. den Abschnitt 20 in der I. Ausg. entspricht.

2 „nicht" fehlt in der II. Ausg.a

* Praktische Philosophie, im fünften Capitel des zweyten Buchs. [Bd. II vorl. Ausg.]

a S\V drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

i. Abschnitt. Elementarlehre. 4. Capitel. Vom Bedürfnisse der Religion. n\

des Hasses; hier sind die Familien mit allen ihren Ansprüchen, hier ist das Gebäude der Dienstverhältnisse, worin zahllose Diener (nicht blofs Officianten) den Lohn ihrer Leistungen fordern, nachdem sie nicht Alle den nöthigen Dienst geleistet haben. Hier drängen Alle wider einander, wenn nicht Jeder, seiner Pflicht sich bewufst, in seinen Schranken bleibt. Hier regt sich die wahre Tugend, aber auch der fanatische und ge- heuchelte Heroismus. Geschieht Unrecht in diesem Gedränge, so ist in sehr vielen Fällen gar kein Ersatz möglich. Obendrein ist es ein grund- falsches Prinzip, als führe die Idee des Rechts schon an sich die Be- fugnifs des Zwanges herbey, welcher genüge zur Abwehr des Unrechts.* De.r Zwang hat Schranken der Billigkeit, welche zu beobachten nicht leicht ist. Diese Schranken lassen sich erweitern ; aber nur unter Be- dingung der Volksbildung, welche höher und höher mufs gesteigert werden, wenn sich der Staat, wie es sein Beruf ist, zum Verwaltungs- und Cultur- system entfalten will. Es ist das verkehrteste aller Vorurtheile, zu meinen, aus den ersten besten, gleichviel wie rohen und schlechten Menschen, lasse sich, wie aus Steinen ein Gebäude, so der wahre Staat zusammen- setzen. Ihm sind christlich gesinnte Bürger, ihm sind wahrhaft aufge- klärte und besonnene Männer nöthig; sonst kann seine eigne Macht ihn erdrücken; oder seine Ohnmacht läfst ihn zerfallen.

Die Kirche ist das Band, welches die Menschen auch da noch zusammen- hält, wo durch irgend ein Unglück die Fugen des Staats anfangen zu klaffen, oder gar der Staat selbst zu Grunde geht. Man betrachte das Judenthum !

Und was wäre im Napoleonischen Zeitalter aus den europäischen Staaten geworden, ohne das Christenthum? Europa wäre in der That ge- wesen, wofür man es ausgab: ein alternder Welttheil.

[70] Aber alle Begriffe vom Nutzen der Kirche können die Kirche selbst nicht schaffen. Dem Staate ist sie eine Wohlthat, die er vorfindet, wie er die Güter des Bodens findet, auf dem er ruhet.

41. Hier abbrechend kehren wir zurück zum einzelnen Menschen. Oben (36. 37.) ist ein Unterschied zwischen dem Zerrütteten und dem geistig Gesunden in Ansehung der Religion bemerklich geworden. Den letztern stärkt, warnt, erheitert sie; jenen aber heilt sie, oder sucht sie zu heilen. Ist denn dieses Heilen wirklich ihr Hauptgeschäft! ? So scheint es nicht blofs nach unsrer obigen Darstellung, sondern nach dem überall sichtbaren Benehmen der Geistlichen, welche zu klagen pflegen, dafs sie bey Menschen, die sich wohl befinden, ihre Rede nicht so gut anbringen können, als bey Kranken, Trauernden, Sterbenden; und denen es beson- ders darum zu thun ist, das Bekenntnifs der Sünden hervorzuhohlen, wel- ches nicht etwa vorzugsweise den im Leben vielfach Umhergeworfenen, sondern den still und schuldlos Dahinlebenden schwer abzugewinnen ist, und im letztern Falle wirklich zuweilen an die abgeprefsten Bekenntnisse der Gefolterten erinnert. So sehr wir uns nun aufgefordert finden könn- ten, das Benehmen der Mystiker und der Eiferer dieser Zeit hier näher zu beleuchten: so liegt das doch nicht in unserm Plane. Aber glauben können wir es leicht, dafs wirklich das Hauptgeschäfft der Geistlichen,

Praktische Philosophie, im vierten Capitel des ersten Buchs. [Bd. II vorl. Ausg.]

j, II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

auch derer, die nicht darauf ausgehn sich wichtig zu machen, im Heilen bestehe; und Heilen setzt ja Krankheit voraus \ Es ist nun schon eingestanden worden, dafs Gesundheit ein idealer Zustand sey; dies Ge- ständnifs wollen wir jetzt, wo nicht vollständiger machen, so doch näher bestimmen. An dem Ideale derjenigen geistigen Gesundheit selbst, wo- von jetzt die Rede ist, läfst sich nachweisen: diese Gesundheit schivebe not- wendig in Gefahr \ woraus dann folgt, dafs es auch für sie gut sey, das Heilmittel stets in der Nähe zu haben.

Es ist zweckmäfsig, vorauszusagen, dals die jetzige Betrachtung uns in die Psychologie hinüberzuschauen nöthigt. [71] Dort nämlich findet sich eine Lehre vom Zusammenwirken mehrerer Vor Stellungsmassen ; * sie ist von nicht geringer Wichtigkeit; die gewöhnlichen Reden von der Vernunft und dem innern Sinne müssen darauf zurückgeführt werden.*

Wie denken wir, nach früherer Entwicklung, den geistig Gesunden? Zuvörderst als denjenigen, dem das Ganze der Güter, worauf sein Streben gerichtet ist, in gehöriger Unterordnung nicht blofs, sondern auch nach gegenseitiger Abhängigkeit derselben, vollständig vor Augen steht, so, dafs es seinen Fleifs regelmäfsig beschäfftigt. Und wo finden wir diese Güter? Der Kürze wegen kann es genügen, an jene Verhältnisse des Dienstes, der Familie, der Gesinnungen, an Arbeit und Erhohlung zu erinnern; nur damit sich ein Mannigfaltiges, von sehr verschiedener Art, vor uns aus- breite. Wir nehmen jetzt an, dafs dem Besitzer der Güter hieraus wirk- liche Zufriedenheit erwachse, natürlich nur, weil er sie mit aller Klugheit verwaltet; sonst wäre die Zufriedenheit unmöglich. Das Wort Klugheit nun zwar ist einfach; aber die klugen Gedanken sind vielfach, und lassen sich nicht in jedem einzelnen Augenblicke alle zusammenhalten, sondern auch der Klügste mufs unter diesen Gedanken gleichsam hin und wieder laufen, damit jeder Theil derselben ihm im rechten Augenblicke zu Ge- bote stehe. Warum denn kann er sie nicht alle auf einmal, gleichsam stehend^ im Bewufstseyn beysammen halten? Darauf antwortet die Psycho- logie: weil die Vorstellungen sich unter einander hemmen, sich aus dem Bewufstseyn verdrängen. Dennoch hängen die Vorstellungen des klugen Mannes sehr vest und sehr bestimmt, reihenmäfsig geordnet, unter sich zu- sammen; sonst könnten sie nicht auf den Wink in Ordnung hervortreten. Diese sämmtlichen Vorstellungen nun, welehe sich auf die Güter und deren Verwaltung beziehn, ergeben schon eine, sehr reiche und mannig- faltig verwebte, [72] Vorstellungsmasse. Sie ist die Güterlehra selbst, in ihrer bestimmten Anwendung auf die Verhältnisse des einzelnen klugen Mannes.

Bedenkt man zweytens, dafs dem geistig Gesunden auch die Pflichten- lehre nicht fremd sein darf, sondern vollkommen geläufig sein mufs; und

1 Der folgende Satz: „sie ist von nicht geringer Wichtigkeit" fehlt in der II. Ausg. a

* Psychologie II. § 126, und § 150— 152. [Bd. VI vorl. Ausg.]

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

I. Abschnitt. Elementarlehre. 4. Capitel. Vom Bedürfnisse der Religion. je

dafs die Pflichten gerade in der Sphäre der Güter vorzukommen pflegen, dafs jene vier Puncte, sammt ihren Unterabtheilungen von der Arbeit bis zum Lohn und Ehren- Dienste, zugleich die gewöhnlichsten Angelpuncte unsrer Pflichten sind: so ergiebt sich eine ganz anders gegliederte Vor- stellungsmasse, die nicht blofs an sich schwerer zu trafen und zu bewegen ist, wie die vorige, sondern (worauf es hier eigentlich ankommt) mit ihr zusammengenommen in Einem Geiste bestehen soll, obgleich sie derselben vielfach entgegengesetzt ist; so, dafs ein gewöhnlicher Mensch oftmals, wie man zu sagen pflegt, den Kopf verliert im Gedränge seiner Vortheile und Pflichten.

Unserm geistig Gesunden müssen wir zu jenen beiden noch eine dritte Vorstellungsmasse zu tragen geben, nämlich die der Tugendlehre. Denn er soll auch das Auge auf sich selbst gerichtet haben, auf Erhaltung und Stärkung seiner Kraft, auf seine wahren Gefühle, damit sie sich nicht verunreinigen; kurz, auf das ganze Innere seiner Persönlichkeit. Sein eignes Ich darf ihm nicht verloren gehn im Strudel der Geschaffte; die alke- meinen Grundsätze, welche ihn leiten, soll er als die seinigen stets wieder- erkennen in seinem Handeln; dazu gehört ein volles, kräftiges, aber zugleich ein 1 scrupulöses Selbstbewufstseyn, welchem stets an der Reinheit seiner Motive mehr als an seinem Thun selbst gelegen ist.

Aber in der wirklichen Welt sieht man die Menschen nicht blofs die Pflicht über dem Vortheil, und ein andermal den Vortheil über der Pflicht, vergessen: sondern man bemerkt auch, dafs Menschen, die viel über sich selbst nachdenken, weniger in die geschäfftige Welt passen, als Andre, die sich in das vertiefen, was sie eben zu thun haben.

[7$] Hier machen nun zwar die Moralisten es sich sehr leicht. Sie sagen, man solle eben nicht das Eine über dem Andern vergessen. Aber wenn sie auch bekennen, es sey schiuer, so vielerley zusammenzuhalten, so fällt ihnen doch nicht ein, den psychologischen Grund der Schwierigkeit zu erforschen.

42. Der Schluls aus dem Vorgetragenen ist zwar leicht genug zu finden; um ihn aber vollständig zu überdenken, wolle man das vor Augen haben, was oben (24. 25.) von der Kenntnifs des Nothwendigen, von der Gesammtheit aller Motive, desgleichen von dem moralischen Muthe ist gesagt worden, der sich die Vorschriften selbst des Staats und der Kirche nur in so fern will gefallen lassen, als er darin solche Motive wieder- erkennt, die er sich selbst geschaffen hatte. Wir setzen voraus, dafs hier nicht von schulmäfsigen Maximen, sondern von wirklichen, aus dem Leben entsprungenen Motiven die Rede ist; demnach liegen die Beschäfftigungen, Gesinnungen, Familien, Dienste, und was noch in besondern Fällen diese bekannte Reihe verlängern mag, dabey zum Grunde. Werden nun alle Motive gehörig geordnet, so bekommt jedes derselben seinen Plafz theils in der Güterlehre, theils in der Pflichtenlehre, theils (um das Oberste zu- letzt zu nennen) in der Tugendlehre. Keine von diesen Lehren wird entbehrlich durch die andre; wenn sie auch theilweise sich auf ein-

1 „ein" fehlt in der II. Ausg.*

a SW drucken nach der II, Ausg. ohne die Abweichung der I. Ausg. anzumerken.

y5 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

ander zurückführen lassen. Aber aus ihnen allen zusammen, wenn jede so weit als möglich ausgeführt gedacht wird, entsteht für Denjenigen, in dessen Bewufstseyn sie stets gehörig zusammenwirken sollen, eine so grofse Last, dafs selbst der stärkste Geist sie nur mit Mühe wird tragen können. Die volle geistige Gesundheit läuft Gefahr, bey der ersten äufsern Hem- mung der Gedanken, z. B. bey Kränklichkeit, beym übermäfsigen An- dränge von Geschafften, bey plötzlichem Wechsel der Lage, wodurch Pflich- ten und Vortheile zugleich verrückt, und die auf sie bezüglichen Gewohn- heiten gestört werden, bey heftiger Aufregung von Affecten, wogegen nie- mals ein Mensch gesichert ist, dergestalt zu erliegen, dafs der nun- mehr Leidende die Zuversicht verliert, welche dem un[74]gebrochenen Muthe eigen war. In solchen Zeitpuncten, ja schon bey der ersten Ahn- dung, dafs sie wohl eintreten könnten, gewinnen plötzlich die religiösen Jugend-Eindrücke, wie flach sie ursprünglich seyn mochten, eine neue, bis dahin unbekannte Energie. Und ohne Verwunderung wird man oft- mals an Männern von strengen Grundsätzen und von geordneter Lebens- führung, die keinesweges Religion auf den Lippen zu tragen gewohnt sind, bey näherer Bekanntschaft entdecken, dafs sie sich stillschweigend in ihrem Innern sehr vest an die Stütze der Religion anlehnen; man wird hören, wenn sie siph eröffnen, dafs sie dieselbe als ganz unentbehrlich betrachten, und man hat hier nicht im geringsten Grund, an ihrer Aufrichtigkeit zu zweifeln; denn es ist ganz natürlich, dafs sie eben darum, weil Güter und Pflich- ten und Tugend ihnen theuer sind, zu den Lehren davon die wesentliche Ergänzung suchten, fanden, schätzen lernten, und sich so vollständig als möglich aneigneten. Das Aneignen aber geschieht in mancherley indivi- duellen Formen, die Keiner giofse Ursache hat dem Andern zu benei- den, Keiner ein Recht, dem Andern zu rauben oder zu entstellen.

Da nun dieses sich so verhält, so wird Derjenige, der das weifs, der es an sich selbst erfuhr, und vielfältig an tüchtigen Männern, ja gerade an den Besten am bestimmtesten und klarsten beobachtete, zwar allerdings vollkommen zustimmen, wenn er ein aufrichtiges und verständiges Bestre- ben sieht, die Wohlthat der Religion auch leichtern, alltäglichen Naturen der Menschen unter Voraussetzung eines guten moralischen Unterrichts mitzutheilen und zu sichern. Aber nicht einstimmen wird er in die Aengstlichkeit Derer, die da meinen, die Religion könnte wohl irgend ein- mal verloren gehn; der Atheismus möge wohl irgend einmal nicht blofs in Worten, sondern in der That zur Sitte werden ! Solche Aengst- lichkeit ist Schwäche, und verräth, zum mindesten, Mangel an wahrer Menschenkenntnifs. Giebt es ja eine solche Gefahr : so wird sie herbey- geführt durch Priesterbetrug und durch das Ketzergeschrey der Zeloten; denn hierdurch wird die [75] Würde der Religion unkenntlich gemacht; durch Anmafsung und Bosheit kann sie nicht empfohlen werden.

43. Mit solcher Darstellung der Religion, dafs sie Ergänzung des Fehlenden, Unterstützung des Gebrechlichen, des Strauchelnden, des zum mindesten Sorglichen und Bekümmerten sey, wird Mancher sich noch immer unzufrieden bezeigen. Lafst den Trübsinn fahren, (wird man uns sagen,) wenn ihr die Religion wollt kennen lernen. Sie leistet noch mehr, als Hülfe, um Lasten besser tragen zu können; sie befreyt euch von eurer

i. Abschnitt. Elementarlehre. 5. Capitel. Vom Unterschiede des moralischen etc. n-j

Last. Sie erheitert unmittelbar. An den Feyertagen sollt ihr euch er- hohlen, und dazu ist nicht nüthig zu seufzen. Das Evangelium heifst in gutem Deutsch freudige Botschaft. Die Bibel ist nicht blofs aus Sprüchen und Sentenzen zusammengesetzt; sie erzählt Geschichten, sie giebt an- schauliche Bilder. Schauet hin; vergefst euch im Schauen; fragt nicht so ängstlich, wer ihr selber seyd. Die Vorfahren haben nicht umsonst hohe Kirchen gebaut, und sie mit noch höhern Thürmen geschmückt, und die schönsten Bilder darin angebracht. Eure Augen wollten sie öffnen. Nicht umsonst ertönt die mächtige Orgel, nicht umsonst schallen Glocken und Posaunen; nicht umsonst hat man zum Predigen den geübten Redner auserkohren. Eure Ohren sollen sich öffnen, das heifst, eure stillen Be- trachtungen sollen aufhören; ihr sollt nicht mehr grübeln. Nehmen sollt ihr, was man euch giebt. Hättet ihr, was ihr braucht: dann freylich wäre nicht nöthig euch zu beschenken. Aber ihr bekennt eure Armuth; darum schämt euch nicht, das Geschenk zu empfangen. Die Gnade wird euch geschenkt ; ihr sollt sie und könnt sie nicht verdienen ; nach euren Werken wird nicht gefragt, sondern nach der Bereitwilligkeit eures Glaubens. Nur den Stolz sollt ihr verabschieden zugleich mit den Sorgen.

Ja freylich, antworten Andre, wir wissen nur zu gut, dafs man den Menschen unthätig und unterwürfig zu machen gedenkt, indem man ihm die Zeit vertreibt. Wir bemerken wohl, dafs zu den Erzählungen der Bibel noch eine Menge von [7 6] Legenden sind hinzugefügt vvorden, da- mit die Unterhaltung recht bunt und abwechselnd seyn möchte. Wir sehen die schönen Bilder, welche den Sinnen das zeigen sollen, was nur das «reistüre Au<re sehen kann. Wir merken wohl, wie die Sinnlichkeit das Erhabene in dem Raum, das Ewige in die Zeit herabzieht; wie ge- legentlich die Lüste sich mitten im Heiligthum das erlauern, was die ge- meine Welt ihnen versagt. Fort mit diesen bunten Teppichen, hinter denen die Arglist sich verbirgt! Hinweg mit Geschenken, die für den Sünder gemacht sind, damit sein Gewissen sich vor der Bufse in Ruhe setze! Das wahre Geschenk der Gnade ist freylich nicht käuflich, dennoch will es erworben seyn; zwar vermag die Hand des Arbeiters kein Werk zu schaffen, das Lohn verdiente: aber sie soll sich reinigen, und wäre glücklich, wenn sie nur dieses wenigstens vermöchte, was nothwendig ist, damit das reine Geschenk rein bleibe.

Sollen wir versuchen, zwischen diesen Partheyen Frieden zu stiften? Nein! Wir bekennen uns zur zweiten Parthey.

Aber bey der ersten vermengen sich ganz verschiedenartige Dinge. Etwas Wahres liegt zum Grunde. Dies x Wahre wird sich ohne grofse Mühe hervorheben lassen, und zwar am besten gelegentlich, indem wir von dem daran geknüpften Irrthum ganz schweigen.

1 „Das" statt „Dies" II. Ausg. a

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausgabe.

7 8 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1 .

[77J Fünftes Capitel.

Vom Unterschiede des moralischen und ästhetischen Urtheils,

44. Oben sind die praktischen Ideen aufgestellt worden (27.). Das konnte füglieh ohne besondere Vorbereitung geschehen ; l denn es ist daran wenig Neues. Man kann diese Ideen sehr leicht, beynahe in der näm- lichen Ordnung und Sonderung in einem alten, sehr bekannten, nicht ge- rade bewunderten, aber stets gebilligten und iverth geschätzten Buche nach- weisen: in dem ersten Buche des Cicero de officiis. An diesem Buche ist der Titel das Verkehrteste, 2 denn es handelt nicht von Pflichten, (aufser in den Unterabtheilungen und Anwendungen,) sondern von Tugenden,, und zwar, wie Jeder weifs nach Anleitung eines Stoikers. Die vier so- genannten Cardinaltugenden, welche bey den Alten als stehende Namen für sehr verschiedene Begriffe vorkommen, sind dort so erklärt, dafs die prudentia, als Einsicht, welche durch Wollen und Handeln soll befolgt werden, der innern Freyheü entspricht; die iustitia verbindet sich sogleich mit der betieficientia, wöbe}' nur in so fern die rechte Ordnung gestört ist,, dafs hier das Wohlwollen nicht als Idee (welche einen reinpersönlichen Werth bestimmt), sondern als thätig im Leben, als wohlthuend, erscheint; welches freylich im Gebiet der Abstractionen ein arger und sehr schäd- licher Fehler3 seyn würde, nämlich deshalb, weil sich daran der Irrthum zu knüpfen pflegt, der Werth des Wohlwollens hänge ab von dem dadurch zu bewirkenden Wohlseyn; woran, so lange man auf dem Standpuncte der Ideen steht, gar nicht erlaubt ist zu denken. [78] Allein dem Vater, der für seinen Sohn schrieb, dem Römer, der in Rom die griechische Philosophie bekannt machen wollte, mufs man so etwas nicht übel nehmen. Auf die Ideen des Wohlwollens und des Rechts folgt nun die fort '1 tu do, das heilst, die Idee der Vollkommenheit in ihrer Beschränkung auf intensive Gröfse, also auf Stärke, wobey freylich die andern Arten der Fülle und Gröfse, zu denen das Wollen des Menschen kommen soll, ausgelassen sind; auch ist die Stellung fehlerhaft, denn diese Idee bestimmt, gleich denen der innern Freyheit und des Wohlwollens, unmittelbar einen per- sönlichen Werth, und hat zwischen beiden ihren rechten Platz.* Auf

1 zu „geschehen" hat die II. Ausg. folgende Anmerkung: „Wenigstens möchte hier nicht der Ort sein für wissenschaftliche Pünctlichkeit. Doch sehe man unten (171).

2 Statt „das Verkehrteste" nicht recht treffend gewählt hat die II. Aus- gabe, a

3 „ein schädlicher Fehler" ... H. Ausgabe, b

4 In der II. Ausg. folgt hier: Platz] den man ihr lassen mufs,- um sie richtig zu verstehen.*

* Die Idee der Vollkommenheit wird leicht unrichtig gedeutet, wenn irgend eine andre Idee ihr vorangestellt ist. Sie erscheint nämlich alsdann als vergröfsernd, was an sich schon löblich oder unlöblich ist. Ihren eigentlichen Sinn aber findet man da,

a u. b SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichungen der I. Ausg.

i. Abschnitt. Elementarlehre. 5. Capitel. Vom Unterschiede des moralischen etc. -q

diese drey aber sollte jetzt erst die Idee des Rechts folgen, deren Gegen- stand unmittelbar keine Person, sondern zunächst nur ein Verhältnifs zwischen mehrern Personen ist. Zum Schlufs bleibt nach diesen vieren noch eine übrig, welche die Neuern zu kennen vorgeben, möchte man sagen, denn sie kennen sie gar wohl, und verstecken sie nur, 1 als ob sie dieselbe nicht sehen wollten, so entschieden auch das Criminell -Recht, zvelches von allen den andern Rechten wesentlich verschieden ist, daran mahnt, weil die Rechts- Idee gar nicht sein Grund und Boden ist. Denn die Rechts- Idee weifs für sich allein nicht das Geringste vom Lohn, und statt der Straß kennt sie nur den Ersatz; aber dieser ersetzt nicht den so höchst nothwendigen 2 Begriff der Strafe, welcher seinerseits vom Begriffe des Lohns der unzertrennliche Zwillingsbruder ist. Wie nennt denn Cicero die fünfte Idee, nämlich die der Billigheil oder Vergeltung, womit Lohn und Strafe zugleich ausgesprochen sind ? Verecundia, et quasi quidam ornatus vitae, temperaniia, et modestia? Ist das Vergeltung; ist es Lohn und Strafe? Er fährt fort: Hoc loco conlinetur id, quod dici latine decorum polest: Graece enitn ngenov dicitur* Und hier öffnet sich ihm ein weites Feld, [79] worin er, wenn auch nicht von der Tugend, so doch von eigentlicher Pflicht, dergestalt abschweift, dafs man glauben möchte, die fünfte prak- tische Idee sey auch bey ihm nicht zu finden. Gelegentlich entfällt ihm ein Wort, das hieher gedeutet werden könnte: Obiurgationes nonmimquam ineidunt necessariae; sed, ut ad urendu?n, et secandum, sie et ad hoc genus castiga?idi, raro invitique venic?nus.*'- Auch hier noch bleibt es zweifelhaft, ob ihn die Schicklichkeit der Strafe an sich, oder nur die andre Schick- lichkeit, welche der Strafende zu beobachten hat, allein beschäfftigt. Jedoch von seinem Vortrage ist die Spur nicht zu verkennen, welche, durch den frühern Gang deutlich genug bezeichnet, jetzt das Billige als ein Schick- liches erreichend, nur deshalb fast verschwindet, weil hiemit ein sehr all- gemeiner Begriff den Blick auf einmal in mancherley Richtungen hinaus- lenkt, welche früherhin nicht offen lagen, in welche hinauszuschauen wir uns aber jetzt ebenfalls erlauben wollen.

45. Es mag wohl seyn, dafs die Hinweisung auf Cicero bequemer und deshalb willkommner ist, als jeder mehr schulmäfsige Vortrag; allein um einen bestimmten Ausdruck zu gewinnen, mufs doch damit noch eine Rückweisung verbunden werden. Bey Gelegenheit des Pflichtbegriffes ^chon (29.) kam ein kurzer Beweis des Satzes vor, dafs die erste Auctori-

wo das Qualitative noch gänzlich unbestimmt ist; das heifst, in demjenigen, was an sich gleichgültig seyn würde; also da, wo blofs Kraft, Geschick, Tüchtigkeit, Besonnenheit, Geistesgegenwart gelobt wird, im ganzen weiten Umfange der Wirksamkeit des Menschen auf die äufsere Natur, ohne irgend eine Rücksicht auf gesellige Verhältnisse. Diese ursprüngliche Rührigkeit und Rüstigkeit im Wollen und Wirken ist zugleich die Grund- bedingung der Tugend, welche man einem schwachen Stamme nicht einimpfen kann. Etwas scheinbar Abweichendes liegt in der Idee des Cultursystems, wovon unten (52.).

1 Der folgende Satz: „als ob sie dieselbe nicht sehen wollten" fehlt in, der II. Ausg.

2 „so höchst nothwendigen" fehlt in der II. Ausg.*

* Cicero de ofßciis I. c. 27. ** Cicero de offieiis I. c. 38.

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne die Abweichung der I. Ausg. anzumerken.

8o II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

tat, welche aller Pflicht zum Grunde liege, etwas Willenloses seyn müsse. Da an diesem Beweise viel gelegen ist, so setzen wir ihn in logischer Form hieher:

Was in zwey Begriften das gemeinsame und gleiche Merkmal ist,

das kann nicht den Grund ihres Unterschiedes enthalten. Nun ist in den beiden Begriffen des pflichtmäfsig gehorchenden und des ihm gebietenden Willens das Merkmal des Wollens gleich und gemeinsam; [80] Also kann das Wollen nicht den Grund des Unterschiedes zwischen dem pflichtmäfsigen Gehorsam und dem Gebote ent- halten. Der Schlufssatz sagt mit andern Worten: die ersten Bestimmungen dessen, was pflichtmäfsig zu thun und zu lassen sey, sind keine Werke der Willkühr; sondern den Thaten und den darin sich äufsernden Ge- sinnungen kommt ihr Werth oder Unwerth, das heifst, die Festsetzung ihres Vorzugs oder ihrer Verwerflichkeit, ursprünglich aus einem unwill- kührlichen, willenlosen Vorziehn oder Verwerfen.

Nun setzt aber alles Vorziehn und Verwerfen zuerst voraus, die Gegenstände desselben seyen wahrgenommen, oder wenigstens durch irgend eine Vorstellung, wenn auch nur in der Einbildung, aufgefafst worden. Die blofse Vorstellung, ohne den Zusatz des Vorziehns oder Verwerfens, heifst eine theoretische ; bleibt es dabey allein, so wird der Gegenstand als ein gleichgültige)- vorgestellt. Hingegen der Zusatz: vorzüglich oder ver- werflich, giebt dem Gegenstande, als dem logischen Subjecte, ein Prädicat. Die Verbindung zwischen Subject und Prädicat heifst nun bekanntlich allemal ein Urtheil. Diejenige Art von Urtheilen aber, welche das Prädicat der Vorzüglichkeit oder Verwerflichkeit unmittelbar und unwillkürlich, also ohne Beweis und ohne Vorliebe oder Abneigung, den Gegenständen bey- legt, heifst ästhetisches Urtheil.

Wenn aus den ersten, willenlosen Werthbestimmungen, welche un- mittelbar in dem Gedanken irgend eines möglichen Wollens entstehen, ein wirklicher Vorsatz sich erzeugt hat, fernerhin keiner unlöblichen Willens- regung Raum zu lassen: alsdann geben die nunmehr folgenden Begierden und Handlungen Anlafs, sie mit jenem Vorsatze zu vergleichen. Indem sie nun demselben mehr oder weniger angemessen gefunden werden, ent- steht ein moralisches Urtheil. Jener Vorsatz nämlich ist ein gebietender Wille ; es fragt sich, ob demselben gehorcht 1 werde ; und das Maafs dieses Gehorsams ist das Maafs des sittlichen Werths. Demnach geht das ästhe- tische [81] Urtheil voran; bey dem moralischen aber wird jenes im Stillen vorausgesetzt, meistens ohne abgesondert betrachtet zu werden.

Jedermann weifs, dafs die Sphäre der ästhetischen Urtheile sehr viel gröfser ist, als die der moralischen. In der That giebt es solcher Ur- theile, die ein unwillkürliches Vorziehen und Verwerfen ausdrücken, sehr viele und von ganz verschiedener Art in den mancherley Künsten. Ihnen

1 ob demselben gefolgt werde. II, Ausg.

a SW. drucken nach der II. Ausg. ohne die Abweichung der I. Ausg. anzugeben.

i. Abschnitt. Elementarlehre. 5. Capitel. Vom Unterschiede des moralischen etc. 8l

unterwirft sich der Künstler; und daraus entsteht für ihn eine eigne Art des Gewissens, welches ihm Zeugnifs giebt von dem Grade der angewandten Sorgfalt in Ausübung der Kunst. Aber wer nicht Künstler ist, bekümmert sich nicht darum; denn aus seinen ästhetischen Urtheilen über vorkom- mende Gegenstände wurden keine Vorsätze, daher auch kein Gewissen. Noch mehr: der Künstler selbst klebt nicht an der Kunst; er läfst sie, wenn es ihm beliebt, und ihn sonst nichts treibt, ruhen, oder giebt sie ganz auf. Dafs es sich mit den Bestimmungen über den Werth des Willens ganz anders verhält, liegt am Tage; denn das Wollen kann man nicht aufgeben; es ist der Sitz des geistigen Lebens.

Dennoch hat man, wie es scheint, nicht gewufst, dafs ästhetische Urtheile unter andern auch den moralischen zum Grunde liegen. Im gemeinen Leben braucht man es nicht zu wissen*; aber wenn die Schulen es auch nicht wissen, so gerathen die Systeme in Verwirrungen, 1 die man wohl kennt.

46. Wir kehren zurück zum Cicero, und zu seinem decorum, welches das ngenov der Griechen seyn soll, und dessen Beobachtung bey ihm die Reihe der Tugenden gerade da abschliefst, wo in der That die fünfte praktische Idee, nämlich die Idee der Vergeltung, stellen sollte, nachdem zuvor unter [82] dem Namen der Tugenden, ja gar unter der Ueberschrift: von den Pflichten, eigentlich die vier ersten praktischen Ideen waren ab- gehandelt worden. Wie kommt Cicero zu einem solchen Verfahren? Welcher Zusammenhang der Gedanken lag den Stoikern, denen er hier nachfolgt, eigentlich im Sinne?

Zuerst sieht man gleich soviel: das decorum ist Gegenstand ästhetischer Urtheile. Wenn es hier einen natürlichen Platz findeji konnte, so mufs die ganze Reihe, die es beschliefst, selbst voji ästhetischer Art gewesen seyn, wie ohnehin aus dem Obigen erhellet, und hier nur bestätigt wird.

Aber das decorum liegt in der äufsern Erscheinung des Menschen. Wie kommt denn das Acufsere hier in Eine Reihe mit den Werthbestim- mungen des Willens, welche das Innerste betreffen? Darin liegt offenbar ein Abgleiten vom anfänglichen Gegenstande. Jedoch auch solches Ab- gleiten pflegt bey geübten Logikern, wie die Stoiker meistens waren, seinen Anlafs im Gegenstande selbst zu haben.

Die natürlichste Conjectur nun ist diese: da die Idee der Vergeltung am bezeichneten Orte zu erwarten war, denn sie allein fehlte noch in der Reihe der Ideen, so mufs das decorum, oder eigentlich das tiqstioi', wovon jenes nur die mangelhafte Uebersetzung ist, wenigstens zum Theil mit der Vergeltung zusammenfallen.

Das bestätigt sich, indem man genauer im Einzelnen nachsieht. Zwar noch nicht auf den Satz wollen wir uns berufen: iustitiae partes sunt, non violare homines ; vereeundiae, non offendere. Denn das offendere ist noch sehr unbestimmt. Anstofs geben ist vielfach die Folge von Vernach-

* Hiebey noch eine Bemerkung. Oftmals werden moralische Forderungen als ein Druck von aufsen empfunden. Das liegt daran, dafs die ästhetischen Urtheile nicht als eigne innerlich reif, sondern als fremde Urtheile und Vorschriften gelernt wurden.

l Die folgenden Worte: „die man wohl kennt" fehlen in der II. Ausg. a

a SW, welche nach der II. Ausg. drucken, geben die Abweichung der I. Ausg. nicht an. Hbrbart's Werke. IX. 6

32 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

lässigung des Aeufsern, und das trifft den Punct nicht, auf den es an- kommt. Allein in folgender Stelle ist derselbe zu erkennen: Eos, quorum vita perspecta in rebus honestis atque magnis est, be?ie de repiiblica sentientes, ac bene meritos, aut merentes, sicut aliquo honore, aut imperio ajfectos, observare ei colere debemus ; tribuere etiam [83] multum senectuti ; cedere iis, qui magist rat um habebunt: habere delectum civis et peregrini ; in ipsoque peregrino, privatimne an publice venerit: ad summam, ?ie agam de singulis, communem totius generis hominum conciliationem et consociationem colere, tueri, servare debemus* Hier zeigen diese Schlufsworte deutlich, dafs nicht mehr vom Aeufserlich-Anständigen, sondern vom innern Werthe die Rede ist. Denn wer den Cicero einigermafsen l kennt, der wird ihm sicher 2 nicht zur Last legen, er habe die allgemeine Gesellung der Menschen mit den Augen des schlauen Politikers angesehn; im Gegentheil, hier, in dieser allgemeinen Gesellung, ist für ihn, wie für uns, Alles, was auf Erden einen Werth hat, beysammen. Worin wird nun die Pflicht gesetzt? Zuerst darin, dafs einem Jeden nach Verdienst begegnet werde. Das ist das Billige im eigentlichen Sinne, und hier findet sich also die vermifste praktische Idee. Ferner sollen die Achtungsbezeugungen gehörig vertheilt werden. Der Begriff der gewöhnlich sogenannten iustitia distributiva ist aber gar kein' Rechtsbegriff; denn wo das Recht zum Austheilen gelangt, da giebt es (wie bey3 Erbtheilungen) Jedem zwar das Seine, keinesweges aber Jedem das Verdiente; ein Unterschied, der so leicht zu fassen ist, und in der Welt oft so grell hervortritt, dafs man ihn nie würde verfehlt haben, wenn nicht die Ansprüche der Billigkeit mit den sogenannten Urrechten verwechselt würden, so leicht es ist auch zu begreifen, dafs, wenn und wiefern es Urrechte giebt, diese nicht darauf warten können, bis Jemand sie erwerbe, um sie zu verdienen.4

Wir haben nun gezeigt, dafs die fünfte Idee dort, wo sie vermifst wurde, allerdings wohl zu erkennen ist; nur hält sie sich beym Cicero tief versteckt in einem Walde, von dem man nicht sogleich begreift, wie sie habe hineingerathen können? Und dennoch ist bey einiger logischen Aufmerksamkeit nicht eben [84] schwer zu bemerken, wie das Billige auf

* Cicero de officis I. cap. 41.

1 u. 2 „einigermafsen, u. „sicher'' (sicherlich SW) lehlen in der II. Ausg.

3 („wie bey den Erbtheilungen") ... II. Ausg.a

4 zu: „verdienen" hat die II. Ausg. folgende Anmerkung:

Die Idee der Billigkeit ist unter allen praktischen Ideen am schwersten richtig zu fassen: nicht blofs weil von ihr die entgegengesetzten Begriffe des Lohns und der Strafe zugleich abhängen, und dann noch die Strafe sich nach der Verschiedenheit des dolus und der culpa zu theilen scheint: sondern auch besonders, weil sie zur Strafe zwar die begränzende Bestimmung, nicht aber das Motiv liefert, und hiebey mit ver- schiedenen rechtlichen Erwägungen in Verbindung tritt. Indessen kann man sich bey diesem eben so schwierigen als vielfach hin und her geworfenen Gegenstande -auf einen Schriftsteller beziehen, der in mehr als einer Hinsicht klassisch zu heifsen verdient, nämlich auf Grotius; der über Strafen so treffend gesprochen hat, dafs man sich über manche neuere Einseitigkeit zu wundern Ursach finden möchte. Vergl. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral, erste Anmerkung zum zweiten Abschnitte.

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

i. Abschnitt. Elementarlehre. 5. Capitel. Vom Unterschiede des moralischen etc. 83

seinen höhern Gattungsbegriff", nämlich auf das Angemessene, führte. In der That fallen Lohn und Strafe in die Klasse der Passenden, Schicklichen, was nicht zu grofs noch zu klein seyn darf. Wer nun von den Pflichten schreibt, dem liegt es sehr nahe, alles Passende des Betragens, auch im Aeulsern, da abzuhandeln, wo der Strenge nach nur von der ganz be- sondern Art des Schicklichen zu reden war, welche sich im Vergelten des absichtlichen Wohl- und Wehe-Thuns äufsert. Wer aber nicht von den Pflichten schreibt, sondern bey der einmal geschehenen Ausdehnung eines Begriffs nachfragt, wie weit denn wohl diese Erweiterung desselben gehen könne? der findet, dafs zu ästhetischen Urtheilen über das Ange- messene viel öfter, als blofs bey der Betrachtung der menschlichen Hand- lungen, die Gelegenheit sich darbietet. Denn auch bey geometrischen Figuren kommt eine Congruenz vor, und diese ist unter dem Namen der Symmetrie als gewöhnliche Bedingung des Schönen im Räume, wo es sich von einer senkrechten Mittellinie rechts und linkshin ausbreitet, all- gemein bekannt, welches hinreicht, um an einem Beyspiele zu zeigen, dafs ästhetische Urlheile innerhalb und au/serhalb des moralischen Gebietes unter einander zusammenhängen.

Ein andres, sehr leichtes Beyspiel davon giebt die Idee der Voll- kommenheit. Denn das Grofse gefällt neben dem Kleinen, das Starke neben dem Schwachen, nicht blofs da, wo von Grofsherzigkeit und Eng- herzigkeit zu reden ist, sondern auch im Sinnlichen, bis hinauf zu dem, was als erhaben gelobt wird. l

47. Der Zusammenhang unserer Betrachtung erfordert jetzt, zurück- zublicken auf das Ende des vorigen Capitels. Nachdem dort die Religion als Ergänzung der Lehren von Gütern, Pflicht und Tugend war darge- stellt worden, fand sich zuletzt, dafs diese ihre moralische Beziehung noch nicht hinreiche, um ihren Werth und ihr Wirken vollständig zu beschreiben. Denn [85] sie ist auch Gegenstand einer durchaus heitern Betrachtung, und dies wird am fühlbarsten durch den Eindruck der verschiedenen Kunstwerke, denen sie nicht blofs Veranlassung giebt, sondern von welchen 2 gerade die bedeutendsten, eben nur in heiligen Hallen den rechten Platz gewinnen. Mit Einem Worte, die Religion macht aufser dem moralischen Eindruck noch einen ästhetischen; und das ist ihr so wesentlich, dafs, wenn sie gar nicht ästhetisch wirken sollte, sie auch gar nickt moralisch wirken könnte. Denn hinter den moralischen Begriffen liegen nothwendig, als erste Grund-Voraussetzung, ästhetische Begriffe verborgen.

1 Hier fügt die II. Ausg. das Folgende ein: Wie ALEXANDER, CÄSAR,

Napoleon bewundert werden, so redet man auch von majestätischen Ge- birgen, Vulkanen u. s. w., wobey noch zu bemerken, dafs zwar die erste Auffassung von Affecten begleitet zu seyn pflegt, dafs aber nach dem Aufhören des Affects, bey wiederkehrendem Gleichmuthe, das ästhetische Urtheil zurückbleibt. Aehnliches ist bey ästhetischen Gegenständen aller Art ganza gewöhnlich.

2 sondern von welchem ü. (Druckfehler), a („ganz" fehlt in SW.)

6*

#a II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

Aber keinesioegs sind alle ästhetische Auffassungen zugleich moralisch. Nicht einmal die ursprünglichen praktischen Ideen wirken unter allen Umständen moralisch. Das verrathen Diejenigen, (um ein nahe liegendes Beyspiel zu geben,) welche sich nicht bedenken, Gottähnlichkeit als Moral- princip zu verkündigen! Ihnen schwebt Heiligkeit, Vollkommenheit, Güte, Gerechtigkeit und Vergeltung, nach den praktischen Ideen, als vereinigt im höchsten Wesen vor; hievon empfinden sie den ästhetischen Gesammt- Eindruck. Nun meinen sie. wer den ähnlichen Gesammt-Eindruck durch den Lauf seines irdischen Lebens hervorbringen könnte, der würde Aehnlichkeit mit Gott erlangen! Machen denn diese Ideen auch nur im geringsten das Wirken Gottes begreiflich? Oder darf man in Gott ein ähnliches Leiden von den Ideen annehmen, wie das Leiden, was 1 der Mensch in seiner Demüthigung empfindet, indem sein Streben, den Ideen zu entsprechen, ihm schlecht gelingt? Und doch ist dies Gefühl des Leidens und der Demüthigung unzertrennlich von der moralischen Gemüthsstimmung, während es mit jenem ästhetischen Gesammt-Eindruck nicht das Geringste gemein hat. Wollen wir nicht auch, wenn ein grofses Genie unsre Bewunderung erregt hat, jedem schwachen Kopfe rathen, er möge sorgen, diesem Genie ähnlich zu werden ? Der Nachahmer giebt es ohnehin genug: sie können aber nicht was sie wollen; darum räth man ihnen, in ihrem [86] Kreise zu bleiben. So nun auch weiset die Religion den Menschen an, sich auf seine guten Werke nicht zu vet- lassen : die Moral aber beginnt ihre eigentlich i?wralischen Lehren da, wo sie Jeden nach seiner Art und auf seinem, für ihn gangbareti Wege, sich im Guten zu üben auffordert. Allerdings also ist an jenem Moralprincip •etwas Wahres; aber gerade durch das, was an ihm erhaben seyn soll, berührt es die Religion von ihrer ästhetischen Seite, und entfernt sich von der moralischen Sphäre.

Möge nun Jeder das Seinige thun! Die Moralisten haben alle Ur- sache sich um Psychologie zu bekümmern; besonders um diejenige Er- regung, worin der Mensch durch die Ideen und durch deren religiösen Inbegriff gerathen kann und mufs, um sittlich fortzuschreiten. Die Künstler hingegen mögen der Religion jeden Schmuck darbieten, durch welchen für irgend etwas derselben Verwandtes ein edler Ausdruck scheint ge- funden zu seyn.

1 „das" statt „was" ... II. Ausg.a

a SW. drucken nach der II. Ausg. ohne die Abweichung der I. Ausg. anzu- merken.

i. Abschnitt. Elementarlehre. 6. Capitel. Vom Unterschiede der ästhetischen etc. 85

[87] Sechstes Capitel.

Vom Unterschiede der ästhetischen und theoretischen Ansicht

der Dinge.

48. Wir begannen damit, den Menschen in der vielfachen Gebunden- heit seiner Lebensverhältnisse aufzusuchen; wir dachten ihn abhängig von der Natur, dem Staate, und der Kirche; getrieben und beschränkt von allen den mannigfaltigen Motiven, die gewöhnlich auf ihn zu wirken pflegen. Hätten wir davon abstrahirt: so würde, statt der moralischen Vorsätze, Entschliefsungen, Handlungen, nur jene ästhetische Beurtheilung, woraus die praktischen Ideen hervorgehn, übrig geblieben seyn. Der moralische Mensch trägt eine Last, die selbst dem Stärksten nicht leicht ist (41.). Woraus denn entsteht diese Last? Nicht blofs aus der Lage der Dinge in der Natur, dem Staate, und der Kirche; aber auch nicht blofs aus den Ideen, welche den Werth oder Unwerth des Willens an- zeigen ; sondern aus beiden zusammengenommen, weil es schwer ist, in solcher verivickelteti Loge nicht den Werth des Willens Preis zu geben; besonders bey gewöhnlicher Schwäche und Reizbarkeit des ganzen, geistigen und leiblichen Menschen.

Betrachten wir nun einen Factor dieser Last allein, indem wir durch Abstraction den andern bey Seite setzen: so kommen ästhetische Urtheile zum Vorschein. Aber durch die umgekehrte Abstraction können wir auch die ästhetischen Urtheile bey Seite setzen : dann kommt die blofse theo- retische Kenntnifs der Dinge hervor, wie sie sind, oder doch wie sie uns erscheinen; zu dieser Kenntnifs gehört nun auch das Wissen von unserm eignen [88] Wollen, als ob wir ihm zuschauen könnten, ohne es zu loben oder zu tadeln. Wir können das nickt; es ist auch nicht einmal möglich, bey dem biofsen ästhetischen Urtheile über uns selbst, völlig unbewegt stehen zu bleiben; sondern allemal wirkt dasselbe moralisch, das heilst: als eine, wenn auch noch so schwache, Triebfeder auf den Willen; und wenn nicht Andrer Urtheile und Beyspiele mit eingriffen, so würde diese Triebfeder weit stärker hervortreten. Weil wir nun durch die Beschauung unsrer selbst allemal zum ästhetischen Urtheil, und wiederum durch dies Urtheil zu einer neuen moralischen Willensregung veranlafst werden: so ist der Begriff einer blofs theoretischen Selbst-Beschauung (wie die Psychologen solche dem innern Sinne zuschreiben) nichts als eine Abstraction, in welcher man absichtlich sich so stellt, als hätte man vor dem, was man gleichsam seitwärts liegen sieht, die Augen zugedrückt. Aber solche Ab- stractionen sind in vielen Fällen sehr nöthig, und besonders zweckmäfsig dann, wenn die aus ästhetischen Urtheilen erzeugte Willensregung wegen andrer Verhältnisse nothwendig wieder verschwinden mufs.

49. Die fünf einfachen praktischen Ideen konnten im vorigen Capitel einer populären Erläuterung wohl entbehren, weil ein so allgemein be- kanntes Buch, wie jenes alte von den Pflichten, sich von selbst darbot, um eine grofse Weitläufigkeit ersparen zu helfen. Etwas anders aber

86 II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

verhält sich's mit den abgeleiteten Ideen, welche die Gesellschaft betreffen; 1 hier sieht sich der Verfasser doch genöthigt, auf sein eignes älteres Buch zu verweisen. *

Um indessen auch jetzt 2 die offene Stelle nicht ganz leer zu lassen, benutzen wir die Gelegenheit, zu dem Gegensatze zwischen ästhetischer und theoretischer Betrachtungsart, wovon bald in weiterer Ausdehnung die Rede seyn mufs, als ein passendes und nahe liegendes Bevspiel die gesellschaftlichen Ideen aufzustellen; welche bey der Beurtheilung des Staats vorkommen, während Jedermann weifs, dals der [89] Staat, das Gröfste und Mächtigste auf Erden, als ein Gegebenes, mithin theo- retisch, mufs aufgefafst werden.

Hier aber wollen wir, der gröfsern Deutlichkeit wegen, die theoretische Ansicht zuerst erwähnen.

50. Ungeachtet aller oft gehörten Reden von angeborner Gleich- heit und Freyheit der Menschen, weifs man nicht blofs, dafs die Natur- anlagen eben so verschieden sind als die Glücksumstände, sondern man sieht auch in jeder Gesellschaft den vierfachen Unterschied der Dienenden, der Freyen, der Angesehenen, und der Herrschenden. Zwar nicht in dem Sinne, als ob die Dienenden gerade Leibeigene oder gar Sklaven wären; vielmehr gehören sie bey uns zu den Freyen im weitern Sinne des Worts; allein ihre Freiheit hilft ihnen doch nur so viel, dafs sie den Dienst wechseln, und die Gunst des Glücks, falls eine solche erscheint, benutzen können; so lange sie aber dienen, hängt die Eintheilung ihrer Zeit nicht von ihnen selbst ab; auch die Art ihrer Arbeit können sie nicht nach eignem Urtheil bestimmen. Man erlaube uns3 nun, für den jetzigen Punct unserer Betrachtung denjenigen frey zu nennen, welcher selbst ent- scheidet über die Anordnung seiner Arbeit; denn wer hierin nicht seinem eignen Plane folgen darf, dessen Gebundenheit an fremden Willen liegt jeden Augenblick am Tage.

Die Freyen aber, so ehrlich sie übrigens seyn mögen, sind darum noch nicht angesehen; die Angesehenen sind noch nicht Herrscher. Hier mag man uns4 immerhin fragen: wo ist denn die Gränze, welche den Angesehenen trennt von dem Freyen ohne Ansehn? Wir können freylich keinen Orden und keinen Titel als die gesuchte Gränzbestimmung auf- weisen; müssen vielmehr bekennen, dafs dies sehr unvollkommne Be- zeichnungen sind; dennoch mögen immerhin Orden und Titel zur Erinne- rung dienen, dafs ein Begriff vorhanden ist, den man gern bezeichnen möchte, wenn es auch damit nicht ganz gelingt. Wirkliches Ansehn ist

* Praktische Philosophie, die letzten sechs Capitel des ersten Buchs.

1 Die folgenden AVorte: „hier sieht sich ... ZU verweisen" sind in der II. Ausg. weggeblieben.

2 Die Worte: „indessen auch jetzt" fehlen in der II. Ausg.a

3 „uns" fehlt in der II. Ausgabe, b

4 „uns" fehlt in der II. Ausg.c

a, b u. u SW drucken nach der II. Ausg., ohne die Abweichung der I. Ausg. anzumerken.

i . Abschnitt. Elementarlehre. 6. Capitel. Vom Unterschiede der ästhetischen etc. 8 7

nach Art und Stufe sehr ver[go] schieden, und selbst nach Gesichtspuncten wandelbar; gerade hierin nun liegt das Wesentliche des Begriffs. Denn zwischen Dienenden und Freyen (im obigen Sinne dieses Worts) war ein solcher Unterschied, der auf die ivahre Lage der Personen sich gründet; jetzt aber kommt ein zweyter Unterschied hinzu, der blofs davon abhängt, wie die Personen erscheinen. Und hierin liegt viel Wichtiges; denn man kann nicht hindern, dafs in der Gesellschaft/^ Person allen erscheint; sonst würden sie nichts von einander wissen, und die Gesellschaft wäre aufgelöset. Die Psychologie zeigt nun, 1 dafs der zweyte Unterschied gerade 2 nach dem nämlichen Gesetze entsteht, welches den ersten hervorbringt. * Sie zeigt ferner, dafs im Gebiete des Erscheinens eine Art von optischer Täuschung stattfindet, wodurch die Unterschiede viel gröfser werden, als sie an sich seyn würden; und dafs hiedurch den am meisten Angesehenen ein sehr grofser Vortheil zuwächst, indem sich ihnen alle diejenigen, welche in der Erscheinung tiefer stehen als in der Wirklichkeit, durch einen unwillkührlichen Antrieb zuwenden, so dafs es jenen sehr leicht wird, über die letztern Gewalt zu erlangen. Das Volk will den recht vornehmen Mann gern sehen; es läuft zusammen, wo er sich zeigt; es horcht, wo er spricht; weifs er die Gelegenheit zu nutzen, so findet er nicht blofs Gehör, sondern Gehorsam. 3

1 „nun" fehlt in der II. Ausgabe. *

2 „gerade" fehlt in der II. Ausg.b

* Psychologie, im Anfange des zweyten Bandes. [Bd. VI vorl. Ausgabe.]

3 zu „Gehorsam" hat die II. Ausg. folgende Note:

Die Undeutlichkeit, welche man an dieser Stelle gefunden hat, läfst sich hier bey weitem nicht ganzheben; es ist genug, dafs die geschichtlichen Thatsachen vor Augen liegen. Um indessen an einem Beyspiele zu zeigen, wieviel Ueberlegung und Vorsicht nöthig ist, um psychologische Gesetze richtig aufzufassen und anzuwenden, mag Folgen- des hinzukommen.

i) Es ist hier nicht die Rede von dem, was seyn solle oder nicht solle, auch nicht von dem, was immer gleichförmig und unabänderlich geschähe; sondern von dem, was nach Verschiedenheit der Umstände höchst verschieden ausfällt.

2) Es giebt ein psychologisches Gesetz des Gleichgewichts , welches niemals völlig erreicht wird, sondern wozu eine allmählige Annäherung, anfangs schneller, dann langsamer stattfindet, wenn nicht während der Zeit etwas Anderes entgegenwirkt.

3) Dies Gesetz betrifft ursprünglich unsere Vorstellungen, in wie fern sie ent- gegengesetzt sind; und daraus erklärt sich, dafs viele Vorstellungen, die wir haben und behalten, doch aus dem Bewufstseyn verdrängt, und so abwesend sind, als ob wir sie jetzt nicht hätten.

4) Von diesem Gesetze ist hier eine doppelte Anwendung gemacht. Die erste be- ruhet nur auf einer Analogie, welche mehr oder minder zutrifft, wenn Menschen mit entgegengesetzten Interessen und verschiedenen Kräften einander nahe genug stehen, um auf einander ungefähr so, wie die entgegengesetzten Vorstellungen in Einem Geiste, ein- wirken zu können. Daher die Dienenden, welche ivirklich herabsinken.

5) Die zweyte Anwendung des nämlichen Gesetzes ist eine directe. Denn unter den mannigfaltigen Vorstellungen eines jeden Menschen befinden sich auch die, welche er sich macht von den andern, ihn umgebenden Personen. Sind diese Vorstellungen von Personen einander entgegengesetzt, so wirkt der Gegensatz hier wie überall. Der Einzelne vergifst viele Personen über wenigen.

6) Was hier vom Einzelnen gesagt worden, das begegnet sehr Vielen, wenn einige wenige Personen der Menge so gegenüber stehn, dafs sie diejenigen sind, welche man

a u. b SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg-

gg II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1 .

Die psychologischen Gründe von dem Allen sind ganz allgemein; aber sie wirken in jedem bestimmten Falle mit vielen andern Ursachen zusammen. Dahin gehören Klima, Gewerbe, Handel, Sprache, Cultus, besonders aber Krieg und Eroberung; woraus Mischung verschiedener Volksstämme entsteht.

Ohne uns hierin weiter einzulassen, erinnern wir nur, dafs laut Zeugnifs der Geschichte, und in Folge der vorhin angegebenen Gründe, jede menschliche Gesellschaft eine Neigung verräth, sich nach oben zu- zuspitzen; daher die Monarchie die [91] gewöhnlichste Staatsform ist, worin die gesellschaftlichen Kräfte ins Gleichgeivichl treten; so, dafs selbst nach Revolutionen, beym Wechsel der Personen, doch gar bald, indem die aufgeregten Massen zur Ruhe gelangen, die nämliche Form wieder zum Vorschein kommt. Absichtlich und künstlich widersetzt sich zuweilen ein Volk der Monarchie; alsdann aber wird jedes Ansehn beaufsichtigt und beargwöhnt. Die Aufsicht ist schwer, und der Argwohn ist lästig. Die republikanischen Formen zeigen sich in kleinern Staaten (wenn sie nicht durch fremden Druck, durch Furcht vor mächtigen Nachbarn zu- sammengehalten werden) sehr veränderlich und nur mit Mühe haltbar; in grofsen Staaten kaum ausführbar; zum Zeichen, dafs ein natürlicher Mechanismus -vorhanden ist, der sich zur Monarchie neigt, und es sehr problematisch macht, ob es jemals für irgend ein Volk auf der Erde rath- sam seyn könne, ihm einen künstlichen Widerstand entgegenzusetzen.

Damit ist aber nicht gesagt, dafs jede Monarchie durch ihre bloße Form dauerhafter sey, als eine Republik seyn würde. Vielmehr ist aus dem Vorigen klar, dafs die geselligen Kräfte ein natürliches, unbewufstes Streben besitzen, dem Staate von innen heraus eine Form zu geben. Hat er zugleich eine Form geerbt: so fragt sich, wie genau die ererbten An- sprüche mit dem wirklichen Ansehn zusammentreffen; bedeutende Ab- weichungen hierin, können, wie Jedermann weifs, im Laufe der Zeiten ge- fährlich werden.

51. Das logische Gegentheil der Abstraction ist die1 Determination. Wir haben vorhin (48.) durch Abstraction, welche künstlich bey Seite setzte was gleichwohl vor Augen lag, dem Menschen ein bloß theoretisches Selbstbeschauen seiner Willens-Neigungen, wie sie nun eben seyn mögen, beygelegt; als ob wir nicht wüfsten, dafs, wenn er dieselben schon einmal aufmerksam beschaut, er sie dann auch loben und tadeln, und, wenn er sie lobt und tadelt, alsdann eine Regelung, sie zu verändern, nicht ausbleiben werde. Jetzt [92] wollen wir bey der eben so bloß theoretischen Betrachtung des Staats, die uns beschäftigte, eine künstliche Determination, das Gegenstück jener Abstraction, anbringen; indem wir ihn als eine moralische Person ansehen. Dieser bekannte Ausdruck bezeichnet

von allen Seiten ansieht, während man die andern übersieht. Daher die Angesehenen, welche leicht mehr hervorzuragen scheinen, als sie wirklich die Ueberlegenen sind. Die, welche zur Menge gehören, übersehen einander gegenseitig neben jenen, worauf Aller Blicke sich richten.

1 „die" fehlt in der II. Ausgabe.»

a SW merken die Abweichung der I. Ausg. nicht an.

I. Abschnitt. Elementarlehre. 6. Capitel. Vom Unterschiede der ästhetischen etc. 3q

zwar im üblichen juristischen Sinne nur so viel, dafs der Staat ein Sub- ject von Rechten und Verbindlichkeiten seyn könne. Allein geht man schon so weit, so mufs man der Consequenz nach noch weiter gehen. Ist der Staat eine Person: so hat er eine Seele; oder, da er ohnehin eine Gesellschaft ist, so kann man ihn mit Recht eine beseelte Gesellschaft (27.) nennen. Alsdann beschaut diese Seele des Staats sich selbst und ihre eignen innern Triebe. Dem Beschauen folgt aber das ästhetische Urtheil; dem Urtheile folgen die Vorsätze; den Vorsätzen folgt, indem ihnen Genüge geschieht oder nicht, der jnoralische Werth oder Unwerth (46.); woraus folgt, dafs der Staat im vollen Ernste eine moralische Person werden würde, wenn er Eine Seele hätte. Statt der Einen Seele hat er nun wirklich viele Seelen, und diesen geschieht zwar zum Theil das eben Angezeigte; aber es geschieht nicht ganz und nicht vollständig. Die ästhetischen Urtheile kommen allerdings zu Stande; aber die Moralität des Staats ist und bleibt ein Ideal.

Dieser Umstand nun ist ganz besonders dazu geeignet, den Unter- schied der ästhetischen, theoretischen, und moralischen Urtheile hand- greiflich zu machen; 1und weil das für die gesammte Philosophie ein Hauptpunct ist, so wollen wir eine kurze Ueberlegung daran wenden.

52. Zuvörderst wird der Staat von allen Naturrechtslehrern als eine Rechtsgesellschaft (27.) dargestellt; desgleichen als ein Lohnsystem, denn hierauf allein soll und darf der Zwang sich gründen, welchen die Gesell- sellschaft anwendet, um ihre Rechte zu schützen. 2 Gegen den Unsinn des alten vorgeblichen Zwangsrechts, nach welchem man den, welcher der gelindern Forderung des Ersatzes nicht anders nachgeben will, allenfalls würde todtschlagen dürfen, [93] hat ein berühmter Rechtslehrer deutlich genug gesprochen.* Auch pflegt das Recht mehrerer Staaten gegen einander nicht unerwähnt zu bleiben; so wenig Beruf auch die Philosophen aus ganz natürlichen Gründen gefunden haben, sich über Dinge, die so wenig unter ihrer Leitung stehen, ausführlich zu verbreiten. Aber vollends ein System der Güterverwaltung im Grofsen, eine National - Oekonomie nach reinen Principien des allgemein gegenseitigen Wohlwollens zu lehren: wer mag das wagen? Wer würde Gehör finden? Selbst die mächtigsten Monarchen respectiren das Privat-Eigenthum; und wenn sie im Einzelnen zu solchen Veränderungen, wie etwa die Aufhebung der Leibeigenschaft, oder 3 Erb - Unterthänigkeit, oder drückender Frohndienste, auffordern, so geschieht auch dies (wie sich gebührt) mit so viel Sorgfalt, Niemand möge mehr verlieren, als er wieder zu gewinnen erwarten darf, oder auf so dringende Antriebe einer unumgänglichen Notwendigkeit, dafs man

1 Die Worte: „und weil das ... Ueberlegung daran wenden" fehlen in der II. Ausgabe.

2 Die folgenden Worte : „Gegen den Unsinn . . . genug gesprochen" und

die dazu gehörige Anmerkung sind in der II. Ausg. weggeblieben.

* Hugo im Xaturrechte § 21. Vergl. prakt. Philos. am Ende des vierten Capitels im ersten Buche. [Bd. II vorliegender Ausgabe.]

3 „der" statt „oder" in der II. Ausg.*

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

QO II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1 .

leicht sieht: kein Mensch auf Erden stehe auf dem Standpuncte, wo er berufen wäre, den Staat völlig der Idee gemäfs einzurichten. So nun auch verhält sich's mit dem Cultursystem, von welchem die sogenannte Gelehrten -Republik, mit aller ihrer Polemik, eine höchst ungenügende Probe, ein schlechtes Bruchstück ist; und doch mufs man zufrieden seyn, dafs nur so viel doch wenigstens vorhanden ist, weil das Bessere, was vermifst wird, nur durch ein solches Einverständnifs könnte zur Wirklich- keit gelangen, welches zu den heutigen Streitigkeiten sich als deren ge- rades Gegentheil verhielte. * Wie lange Jahrhunderte hindurch ist die Platonische Republik sprichwörtlich gebraucht, um Luftschlösser zu be- zeichnen ? In der That aber ist sie nichts anderes, als die Idee der beseelten Gesellschaft, welche, wenn der von Platon gelieferte allgemeine Umrifs gehörig ausgezeichnet würde, alsdann gerade das in sich schlösse, was wir unter den vier Namen Rechtsgesellschaft, Lohn-, Verwaltungs- und Cultur- system so eben erwähnten.

[94] 53. Man vergleiche nun die beiden Ansichten vom Staate (50 und 52.). Jede von beiden ist so bekannt, dafs man eine wie die

1 zu „verhielte" hat die II. Ausg. folgende Anmerkung:

Nicht ohne 'Absicht wurde gleich anfangs (4.) die Idee des Cultursystems erwähnt; ■welche nichts Anderes ist als die Idee der Vollkommenheit in ihrer Anwendung auf die Gesellschaft. Denn gerade hier ist der bequemste Standpunct für Diejenigen, welche die gesammte praktische Philosophie in ihrer Einheit als Wissenschaft aufzufassen sich bestreben, und dabey sowohl die juristische Einseitigkeit (blofs nach Recht und Billig- keit hinschauend) als die theologische, (Wohlwollen und innere Freyheit vorzugsweise berücksichtigend) vermeiden wollen. Daraus ist jedoch nicht selten der Fehler ent- standen, Alles der Gemeinschaft unterordnen zu wollen, welche im Cultursystem den herrschenden Gedanken ausmacht; als ob davon nun auch die andern Ideen, deren jede gleich ursprünglich ist, abhängig darzustellen wären.

Eine Schwierigkeit von entgegengesetzter Art wird scheinbar entstehen, wenn man die Forderung vestzuhalten sucht, deren oben (in der Note zu 44) erwähnt worden, dafs man, um die Idee der Vollkommenheit desto sicherer in ihrer Eigentümlichkeit zu treffen, von den geselligen Verhältnissen für's Erste nichts einmischen solle. Man wird nämlich sagen : der einzelne Mensch lasse sich zwar wohl in blofser Wirksamkeit gegen die äufsere Natur als stark, geschickt, behende, planvoll arbeitend denken ; hin- gegen die Idee des Cultursystems sey ja gerade umgekehrt eben eine gesellschaftliche Idee; und deshalb von Recht, Billigkeit, Wohlwollen gar nicht zu trennen. Alsdann:

1) Wäre auch die verlangte Trennung in Bezug auf die Gesellschaft ein blofser abstracter Gedanke, so würde man dennoch der Wissenschaft diese Abstraction schuldig seyn. Denn in der Wissenschaft mufs zuerst jedes ästhetische Urtheil einzeln und für sich allein erwogen seyn, bevor man es unternehmen darf, aus der Vereinigung aller das Ideal der Tugend, und ferner die Begriffe der Pflicht, des Gesetzes, und der Moralität abzuleiten. Nun läfst sich recht gut auch die Gesellschaft als stark, geschickt, wirksam durch ihre innige Vereinigung, mit gebührendem Lobe (im Gegenfalle mit Tadel) betrachten, ohne die Qualität ihres Zustandes in Hinsicht auf Recht, Billigkeit, und Wohlwollen hinzuzudenken.

2) Diese Betrachtung ist keineswegs eine leere Abstraction ; sondern deutlich ge- nug zeigt sich der Gemeinsinn, der Nationalstolz sogar, als vorhanden selbst da, wo er noch schwankt zwischen Klugheit und Rechtlichkeit, zwischen Eigennutz und Wohl- wollen. Der Kern ist alsdann vorhanden, während es in Frage schwebt, ob er heil- same oder giftige Blüthen und Früchte bringen werde. Dies gilt von jedem jugendlichen Zustande, der Gesellschalt eben sowohl als des einzelnen heranwachsenden Menschen. Auch hier aber zeigt sich, dafs man nicht die Idee der Vollkommenheit mit dem Ganzen der Tugend verwechseln darf; und nicht ein ästhetisches Urtheil mit dem ?>ioralischrn.

I.Abschnitt. Elementarlehre. 6. Capitel. Vom Unterschiede der ästhetischen etc. qj

andre ohne viel Mühe zu einer langen Abhandlung ausführen könnte. Wer aber dann die beiden Abhandlungen durch einander laufen liefse: der würde verrathen, dafs seine Gedanken sich ohne Ordnung durch- kreuzten; denn die erste der Abhandlungen wäre theoretisch begonnen, die zweyte aber ästhetisch; und jede würde ihren Styl beybehalten müssen. Aber könnte man denn gar nicht beides verbinden? Liegt denn nicht in den Ideen die Aufforderung, ihnen gemäfs zu wirken? Müssen denn nicht die vorhandenen Kräfte der Menschen, müssen nicht die Strebungen der Gesellschaft so benutzt werden, dafs man sich den Ideen wenigstens aus der Ferne annähere? Mufs nicht die theoretische Kenntnifs in den Dienst der ästhetischen Werthbestimmungen genommen werden; gemäfs dem allgemeinen Vorsatze, den Willen durch die Einsicht zu lenken? Wer mag das ohne nähere Bestimmung bejahen oder verneinen ! Aber gesetzt, es geschähe also im Staate, oder in Ansehung des Staats: so wäre hiemit ein moralisches Streben in Wirksamkeit, wie es ohne allen Zweifel schon längst bey manchen edlen Männern der Fall war und ist; und dies moralische Streben ist nun ein solches, welchem das ästhetische Urtheil zum Grunde liegt, die theoretische Kenntnifs bey der Ausführung an die Hand geht.

Es giebt aber auch sehr moralische Menschen, die von Ideen nichts hören mögen. Das Beste unter dem Thu ulichen beschäftigt sie ganz; und eben darum stört sie jeder Gedanke an das Unthunliche. Nach dem Sprichworte: das Bessere ist der Feind des Guten, sind jene Männer die Feinde des Besseren. Wir wollen sie ehren; aber für die Wissenschaft sind sie nicht gemacht. Nicht darum können wir die Ideen vermindern, damit keine Forderung das Ausführbare übersteige; sondern das ästhetische Urtheil, welches die Ideen ursprünglich erzeugt und stiftet, durchläuft seine Bahn, und überläfst den Menschen, den Zeiten, zu er[g5]wägen, wie weit sie nachkommen können, wo sie ihrem Streben die Gränze setzen müssen.

Hier haben wir uns nun in der That von dem praktischen Menschen entfernt. Um uns demselben wieder zu nähern, können wir wenigstens im Vorbeygehn den Nutzen bemerken, welchen die Abstractionen in so fern gewähren, als sie dienen, Verwirrung bey bekannten Streitfragen zu verhüten. Monarchien und Republiken haben ihre Anhänger; der Disput unter beiden wird niemals aufhören. Es mag scheinen, als wäre das oben gesagte (50.) eine Empfehlung der Monarchie; allein dort ist noch lange nicht behauptet, die Monarchie als solche sey besser, als die Re- publik; für diesen Satz müfste bewiesen werden, sie sey tauglicher, sich zu einer beseelten Gesellschaft (im vorhin erklärten Sinne) zu erheben; mithin für Recht, Lohn, Gemeinwohl und allgemeine Cultur tüchtiger und sicherer. Aber gerade diese Tüchtigkeit und Sicherheit müfsten auch ihrerseits die Republikaner für sich in Anspruch nehmen, und zwar nicht theilweise, sondern im Ganzen, wenn sie den Monarchisten auch nur im Gespräch besiegen wollten. Es hülfe ihnen nichts, etwa zu zeigen, die Republik sey billiger, weil sie bey gröfserer Gleichheit Jedem das, was er Andern zugestehe, leichter vergelten könne: diese Billigkeit entscheidet nicht allein; es fragt sich auch, ob die Rechte sicherer, ob die Verbesserungen leichter,

Q2 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1.

ob der Staat zugleich rüstiger, gelenkiger und bildsamer in der einen oder der andern Form seyn werde? Dergleichen Untersuchungen sind ganz verschieden von der Betrachtung des Natürlichen; und wenn die Republi- kaner behaupten, die Menschen würden frey und gleich geboren; wenn die Monarchisten dagegen nachweisen, die Ungleichheit der Kräfte und des Glücks scheide allemal die Dienenden, die Freyen, die Angesehenen, die Herrschenden: so ist mit solchen Reden, die sich im Kreise der rein theoretischen Ansichten drehen, über den eigentlichen Werth der Staaten immer noch nichts gesagt, sondern auf beiden Seiten wird solchergestalt der Fragepunct verfehlt. Um ihn zu finden, mufs man die theoretische und ästhetische Ansicht anfangs [96] trennen, und am Ende gesetzmäfsig verbinden. Das Resultat, dafs weder Monarchien noch x Republiken im Allgemeinen, und ohne nähere Bestimmung, Ursache haben, einander ihre blofse Form gar sehr zu beneiden: dies ^ Resultat ist heutiges Tages zu bekannt, um noch ausgeführt zu werden; eben darum war das bekannte Beyspiel dienlich, um die Wichtigkeit der angegebenen Unterschiede ins Licht zu setzen.

[97] Siebentes Capitel.

Von der Kunst und dem Künstler.

54. Wie wäre es, wenn im Zusammenhange der eben geendeten Betrachtung Jemand sagen wollte: mir gefällt die gothische Baukunst besser als die griechische; nun hat die zugespitzte Gestalt der Monarchie mehr Gothisches, darum ziehe ich sie vor ? Ein Anderer würde antworten: ich liebe die hohen Thürme nicht; schöner ist's, vom platten Dache aus eine freye Aussicht zu haben.

Das wäre Einmischung einer ganz andern Art von ästhetischen Ur- theilen; welche die nämlichen Gegenstände als von Aufsen in die Sinne fallend betrachtet, die wir zuvor nach ihrem innern Wesen beschaueten. Denn bey jenen gesellschaftlichen Ideen lag eine Reihe von Werthbe- stimmungen des Willens zum Grunde; wie sogleich klar seyn wird, wenn man (in 27.) von den abgeleiteten zu den ursprünglichen Ideen hinüber- blickt. Der Wille aber ist das Inwendigste im Menschen und in der Gesellschaft; daher können sich Manche nicht gewöhnen an den Ausdruck: ästhetische Beurlheilung des Willens. Sie meinen nämlich, alles Aesthetische

1 „und" statt „noch" in der II. Ausg.

2 dieses SW.

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne die Angabe der Abweichung der I. Ausgabe.

i. Abschnitt. Elementarlehre. 7. Capitel. Von der Kunst und dem Künstler. g?

müsse ihnen1 wie ein Bild vor Augen stehn. 2Der Künstler ist ihnen Maler oder Bildhauer; der Dichter soll ihnen Augenlust auf der Bühne, oder etwas Aehnliches für die Phantasie schaffen: wo die Musik, wo die lyrische Poesie bleiben solle, das wissen sie wohl selbst nicht; es sey denn, dafs man ihnen erlaube, in beide etwas hineinzudenken, damit sie sich einbilden können, dies von ihnen Hineingedachte sey darin nachge- ahmt worden.

[98] Wir haben anderwärts, um uns verständlich zu machen, auch von Bildern des Willens geredet.* Das bedeutete ungefähr so viel, als wenn Andere, 3 deren Psychologie sich ohne Seelen vermögen nicht zu helfen weifs, erst von der Vernunft die Rede beginnen, als von einem Vermögen, welches der Mensch habe, gleichsam einen Geist in seinem Geiste, um sich davon regieren zu lassen; welches Vermögen aber das Kind noch nicht gebrauche, als ob ein höherer Geist sich nach Belieben gebrauchen liefse, oder auch nicht! An diesen sehr4 stark mytho- logischen Meinungen ist so viel wahr, dafs im Laufe der Jahre sich all- mählig ein Unterschied der altern und neuern Vorstellungsmassen (41.) auszubilden pflegt, vermöge dessen die jedesmal aufgeregten Neigungen und Begierden gleichsam ein tiefer liegendes Ich im Innern antreffen, dem sie zum Schauspiel dienen, so dafs sie von ihm vorgestellt und be- urtheilt werden. Jener ästhetischen Beurtheilung und Werthbestimmung also, wovon im Vorhergehenden die Rede war, schwebt etwas vor, das man ein Bild des Willens nennen kann; tväre dieses Bild nicht innerlich wahrgenommen zuorde?i, so hätte es auch flicht beurtheilt werden können. Daher macht man in der hergebrachten Weise des Vortrags die Re- gierung des Willens abhängig von der Vernunft, welche der oberste Theil des Erkenntnifsvermögens seyn soll.

5 Die alten Vorurtheile und Fabeln von der Vernunft, der Urtheils- kraft, dem Verstände u. s. w. wären nun sehr unschuldig, wenn sie nicht überall die Aussicht versperrten, wo man den natürlichen Zusammenhang der Dinge aufsuchen und ihm nachgehn will.

Der wahre Zusammenhang aber fordert, dafs man bey ästhetischen Urtheilen, deren es viele giebt, sowohl das Gemeinsame als das Ver- schiedenartige bemerke, um weder Spaltungen unter ihnen zu stiften, wo keine sind, noch in Verwechselungen derselben zu verfallen, wodurch das Thun der Menschen eine falsche Richtung erhält.

1 „ihnen" fehlt in der IL Ausg.a

2 Der Abschnitt: „Der Künstler ist ihnen . . . sey darin nachgeahmt worden" ist in der II. Ausg. weggeblieben.

* Praktische Philosophie, in der Einleitung.

3 Die folgenden Worte: „Deren Psychologie . . . nicht zu helfen weifs" sind in der II. Ausg. weggeblieben. t>

4 „sehr" fehlt in der II. Ausg. c

6 Der Abschnitt: „Die alten Vorurtheile . . . ihm nachgehn will" ist in der II. Ausg. weggeblieben.

a, b, c SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

Q4 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

[99] Denn alle ästhetischen Urtheile sind praktisch wichtig. Zwar nicht alle haben den Willen zu ihrem Gegenstande; nicht alle bestimmen seinen Werth. Aber Alle ohne Ausnahme werden unter günstigen Umständen Triebfedern des Willens. Alle laden ein zu irgend einer Kunst.

Wo die Künste nicht blühen, da ist Rohheit und Beschränktheit. Wo der Geist sich regt, da erweitern sich die Motive des Handelns all- mählig so, dafs selbst die geringsten Unterschiede des mehr oder weniger Zierlichen, Glatten, Schicklichen und Bequemen irgend eine Thätigkeit hervorrufen, die sich mit ihnen ein Geschafft macht.

Eben hiemit aber entstehn auch Gefahren, wie die, wenn Religions- lehren und Staatsformen und Sitten nach denjenigen ästhetischen Ein- drücken vorgezogen oder zurückgesetzt werden, welche aus ihren äufsern Erscheinungen, aus Bildern für's sinnliche Auge, der ähnlichen Phantasie- bildern hervorgehn. Schiller warnte schon vor der Gefahr ästhetischer Sitten. Cicero dagegen, in der angeführten Abhandlung über das decorum (46.), macht die ästhetischen Sitten zur Pflicht; so dafs der Dichter und der Denker scheinen würden die Rollen vertauscht zu haben, wenn man nicht wüfste, was Schiller eigentlich wollte. Das schöne Aeufsere sollte nicht dem häfslichen Innern zum Deckmantel dienen. Hingegen der Aesthetik im Namen der Moral den Krieg zu erklären, konnte Schillern nicht einfallen.

55. Für den praktischen Menschen stellt sich das Aeufserlich- Schöne anfangs in den Rang der Güter, die man in so weit hervorbringen, haben und geniefsen darf, als nicht die Pflichten darunter leiden. Soll hingegen das Schöne einen moralischen Werth bekommen, so mufs es sich als Mittel für einen moralischen Zweck gebrauchen lassen; diese Nützlich- keit aber bleibt ihm fremd, und kann seinem ästhetischen Werthe nichts geben noch nehmen. Indessen zeigt sich von einer andern Seite ein Vorrang des Schönen vor gemeinen Gütern, ungefähr so, wie schon früher ein Empfehlungsgrund für die [100] Güterlehre gefunden wurde (28.). Zur ersten Entwilderung des rohen Menschen gehört Arbeit und Fleifs, also Hoffnung auf Gewinn. Eine zweyte Stufe der Entwilderung bewirkt das Schöne, welches, einmal gewonnen und geschätzt, die blofse Empfindung des Genusses weit hinter sich läfst, und wohl auch über Schmerz und Uebel dem Menschen hinweghilft, während es andrerseits die Summe dessen vermehrt, was der Mensch haben, also auch verlieren kann. Nicht gerade freyer, nicht unabhängiger macht uns das Schöne ; im Gegentheil, es vermehrt noch unsre Bedürfnisse; allein es gewöhnt an eine Schätzung solcher Werthe, die nicht nach Geniefsung und Entbehrung abgemessen werden. Und so bildet es für den, welcher sich mit ihm befreundet, eine Mittelstufe zwischen Gütern und der Tugend.

Aber gebührt sich's wohl, auf dieser Mittelstufe stehen zu bleiben? Der blofse Künstler oder Kunstfreund ist in moralischer Hinsicht nicht weiter als der Fleifsige, der Ordnung in sein Leben brachte; ja vielleicht klebt er auf seiner Mittelstufe vester als der andre auf der niedern Stufe des Fleifses; eben darum, weil die Schätzung des Schönen selbständig ist, während der blofse Gewinn das höhere Bedürfnis unbefriedigt läfst und keine täuschende Sättigung erkünstelt.

I. Abschnitt. Elementarlehre. 7. Capitel. Von der Kunst und dem Künstler. gr

m Fanden v*ir schon vorhin (41. 42.) drey verschiedene Vorstellungs- massen in Einem Geiste nöthig für Güter, Pflicht und Tugend: so ist offen- bar, dafs Kenntnifs und Uebung irgend welcher Kunst noch eine vierte Vorstellungsmasse ergeben wird, die nicht bestimmt seyn kann, für sich allein (wiewohl sie es vermöchte!) dem Geiste zu genügen; sondern die sich verbinden mufs mit jenen dreyen; eine Forderung, wodurch für den moralischen Menschen die Last sich noch vermehrt. Was daraus folgt, das weifs man aus dem Vorigen. Das Bedürfnis der Religion wird da- durch gesteigert. Es ist nur Selbsttäuschung, wenn zuweilen der künstlerische Leichtsinn dies nicht eingestehen will. Er läuft desto eher Gefahr, sein natürliches Heilmittel in religiösem Trübsinn finden zu müssen; während gerade dagegen das an sich heitere Element [101] der Kunst ihn hätte schützen können, wenn ihm das Ganze der geistigen Gesundheit stets am Herzen gelegen hätte.

56. Mehr Licht wird hierauf fallen, wenn wir bemerken, dafs die Kunstwerke, nachdem eine lange Mühe ihnen das Daseyn gab, so oft nicht zu wissen scheinen, wo sie den gebührenden Platz finden sollen. Sie irren in der Welt umher, lassen sich feil bieten, gerathen manchmal sogar dem Trödel in die Hände, gehn der Vernichtung entgegen, wenn nicht das gute Glück den Kenner und Gönner herbey führt, um ihnen die würdige Stelle zu bereiten. Ja manches Kunstwerk, z. B. das drama- tische oder musikalische, bedarf fortwährend einer neuen Kunst, damit es durch sie zur Darstellung gelange. Endlich hat man nicht immer Zeit für die Kunst. Wie viele Einladungen zum Hören und Sehen werden deshalb ausgeschlagen! Dies Alles erinnert daran, dafs sich die Kunst nicht absondern soll; denn ihr ist kein Platz, weder im Geiste des Kenners und Künstlers, noch im Räume und in der Zeit für ihre Werke, so sicher beschieden, dafs sie darauf zählen könnte, diesen Platz sich ganz allein zueignen zu dürfen.

Mit Einem Worte: alle ästhetische Kunst, auch die höchste, ist ver- schönernde Kunst. Sie verschönert das Leben, aber sie kann und darf es nicht beherrschen. Klingt das hart: so setzen wir willig hinzu: die Wissenschaft befindet sich im Grunde auch in dem nämlichen Falle. Und ist es nicht Ehre genug, das Leben zu verschönern? Man sorge nur, die Lebenskreise überall so zu erweitern, dafs sie solchen Schmuck auf- nehmen können. Dahin mufs Fleifs und Geist zusammenwirken. 1

57. Im vorigen Capitel ist die theoretische Ansicht der Dinge der ästhetischen gegenüber getreten; natürlich nicht blofs für das dortige Beyspiel, sondern ganz allgemein. Jeder Künstler mufs den Stoff, welchen

1 Den Schlufs von 56 bildet in der II. Ausg. folgender Abschnitt: Es bedarf übrigens kaum der Erinneruno, dafs dieses nicht ein drückender Gedanke für den Künstler und Gelehrten werden soll. Aesthe- tische Urtheile sind selbstständig; und jeder Zweig der Gelehrsamkeit hat sein unmittelbares Interesse; wer sich darin nicht vertiefen könnte, würde nichts zu Stande bringen, und nichts nach seinem unmittelbaren Weithe zu schätzen wissen. Nur kann die Vertiefung nicht immer dauern; das Leben fordert auch Besinnung.

qq IL Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

er behandeln will, zuvor seiner Natur nach kennen. Der Dichter mufs die Grammatik der Sprache, worin er dichten will, eben so wohl inne haben, als der Musiker die Beschaffenheit der Instrumente, für die er [102] schreibt; und eben so der Maler die Eigenheiten der Farben, in welche er den Pinsel taucht. Fragt man, wie vielerley Künste es wohl geben könne? so ist die Antwort, so vielerley, als die Stoffe selbst ver- anlassen, die sich dazu darbieten. Wo irgend unter der Hand des Menschen etwas Schönes, anfangs ungesucht, entsteht, da ist ein Reiz vorhanden, solcher Spur weiter nachzugehn; und was möglich war, be- kommt im Laufe der Zeit einen Platz in der Wirklichkeit.

Von dieser Seite betrachtet zeigt sich die Kunst in einem weitern Felde, als in dem des Schönen. Denn auch das Angenehme und das Nützliche macht sich gelten, indem es den Menschen antreibt, bestimmte Arten des Verfahrens zu ersinnen und zu üben, die man Künste nennt, weil aus der Uebung ein Geschick entsteht, etwas hervorzubringen, das sich empfiehlt, und dessen Hervorbringung den Ungeübten mislingt.

Offenbar theilt sich hier die Betrachtung; sie betrifft nicht blofs die Bildsamkeit des Stoffs, sondern auch die Bildsamkeit des Künstlers. Mit jener verknüpft sich die Frage: ob und woher der Stoff in hinreichender Menge und Güte zu erlangen? mit dieser die andre Frage: ob der Künstler neben andern Menschen bestehen könne? in wiefern er der Gunst, der Unterstützung, bedürfe? in wiefern seine Gebilde sich empfehlen und Abnehmer gewinnen mögen? Künste entstehen nicht blofs, sie ver- schwinden auch wieder, wo ihnen die Umstände nicht zu Hülfe kommen. Diejenigen, welche neben einander fortdauern, bilden ein System, worin jeder einzelnen alle übrige die Möglichkeit der Ausübung sichern müssen, indem sie theils einander in die Hände arbeiten, theils Jeder Vieles von Andern nimmt, während er Vielen seine Producte darbietet. Wer kennt nicht das System des Verkehrs, und die oft schwierige Haltung des Einzelnen in der Mitte desselben? Wer kennt nicht die Forderung des freyen Ver- kehrs, wobey vorausgesetzt wird, die mancherley Motive desselben werden sich von selbst in ein Gleichgewicht setzen, welches das Maximum des Gewinns herbeyführe, wenn man [103] nur die Hindernisse entferne? Das harte Wort: die Kunst geht nach Brodl! trifft auch die schöne Kunst; es trifft selbst die Wissenschaft, wo nicht ein alter Reichthum, oder ein edler Geist der Gesellschaft es verhindert, mindestens erleichtert.

58. Von jetzt an haben wir nicht mehr, wie bisher, blofs über- haupt den praktischen Menschen im Auge, sondern viele und verschiedene praktische Menschen. Theils schon darum, weil nicht Allen der Stoff zugänglich, die Gelegenheit günstig ist für beliebige Kunstübung; theils noch aus einem Grunde, der sich auf die Bildsamkeit des Künstlers bezieht.

Zwar manchmal versucht Einer, viele Künste zu lernen - und zu treiben. Allein je älter er wird, desto mehr beschränkt er sich auf eine oder wenige. Weshalb? Weil es psychologisch unmöglich ist, dafs Einer in vielen Künsten sich auszeichne; und weil das Mangelhafte je länger desto weniger genügt.

Was schon oben (41.) von der Schwierigkeit des Zusammenwirkens

i. Abschnitt. Elementarlehre. 7. Capitel. Von der Kunst und dem Künstler. 07

mehrerer Vorstellungsmassen bemerklich wurde, das springt hier auf's deutlichste in die Augen. Jede Kunst hat im Geiste des Künstlers ihre eigne Vorstellungsmasse ; worin eine besondere Art von Regsamkeit, ein besonderer Rhythmus der Bewegung, eine eigenthümliche Empfindlich- keit gegen das Rechte und Verkehrte, eine Summe von Gewöhnungen und von erprobten Grundsätzen so beysammen sind, dafs kaum in den Erhohlungsstunden der Geist sich ganz davon befreyen kann und mag. Kommt nun zu einer Kunst eine zweyte: wie werden sie sich vertragen? Vielleicht so, wie Sprachen und Geschichte im Geiste des Gelehrten; die sich vielfach unterstützen, oder wie mehrere Sprachen, die sich vergleichen lassen. Dann wird aus mehreren Vorstellungsmassen eine gröfsere, die jene als ihre Glieder dergestalt in sich fafst, wie jede einzelne Masse, falls sie geordnet ist, selbst wiederum kleinere Glieder besitzt, die sich bis zu den kleinsten stets von [104] neuem gegliedert zeigen. So soll es seyn, so weit es nur möglich ist ; und manchmal findet man gerechte Ursache, gegen Trägheit und Unwissenheit zu sprechen, falls diese sich herausnehmen, die Gränzen des Möglichen zu verengern. Allein sunt certi denique fines! Dies gilt für die Künste noch weit mehr als für die eigentliche Gelehrsamkeit. Denn während das Wissen sich einem weiten, ebenen Felde wenigstens zum Theil vergleichen läfst, macht dagegen jede Kunst Berg und Thal im Menschen; oder wenn man will, sie schlägt Wellen, mit abwechselndem Steigen und Sinken der Gedanken. Diese Be- weglichkeit leidet von fremdartigen Bewegungen; daher ist der Tausend- künstler noch gewisser ein Unding, als selbst der Polyhistor. Will man die Kunst: so mufs man dem Künstler sogar seine Launen verzeihen.

59. Nicht blofs Anhäufung vieler Künste in Einem Geiste verbietet die Natur, sondern sie stempelt auch die Menschen so eigenthümlich, dafs die schwierigen Kunstübungen nur bey seltenen Talenten gelingen, und dafs überhaupt die Anlage entscheiden mufs, für welche Kunst ein Jeder tauge. Schon diejenige Aufmerksamkeit, welchem dem Lernen und Ueben der nöthigen Fertigkeiten entspricht, ist nicht Allen gemein; Manche . fassen nicht scharf, behalten nicht vest; sie stocken, und verstümmeln das Gelernte, wenn es soll wieder gegeben und angewendet werden. Den bessern Köpfen fehlt oft das Gefühl; oder es wird unbändig, und läfst sich nicht beherrschen, Andre sind langsam; sie können ihre Gedanken nicht in Fluls bringen; sie suchen und künsteln, um aus Fragmenten, die zu einander nicht passen, ein Ganzes zu bilden, das sich weder runden noch schliefsen will. Wieder Andre sind überströmt von Einfällen, aber es fehlt der Geschmack. Noch Andern fehlt die Liebe, der Fleifs, der Muth, sich der Gemächlichkeit zu entreifsen. Gar Manches mufs zusammenkommen, damit ein Mensch nur für Eine Kunst tauge; vieles Andre von Aufsen mufs hinzutreten, damit er sich bilde. Wie sollten so verschiedene Bedingungen beym Einzelnen für mehr als Eine [105] Kunst genügen? Gewifs sehr wichtig wäre es, die Eigenheiten und Kennzeichen zu ergründen, wodurch das Talent sich frühzeitig offenbart; allein dazu gehört eine psychologische Betrachtung der Künste selbst, um zu erforschen, welche besondere geistige Thätigkeit eine jede derselben für sich in Anspruch nimmt.

60. Vielleicht nicht viel minder verschieden als die Talente sind

Herbart's Werke. IX. /

gg IL Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1 .

auch die Gemüthsstimmungen der ausgebildeten Künstler. Allein darin kommen alle überein, dafs jeder Kunst ein eigenthümliches Gewissen ent- spricht (45.). Der Künstler lobt sich selbst für das, was ihm, seiner Meinung nach, gelang. Gesetzt einmal, es werde Einem dies Selbstlob gleichgültig : was wird folgen ? Offenbar dies, dafs er, wie es nun eben komme, schlechte oder gute Arbeit liefert. Was aber den Tadel dieses Künstler-Gewissens anlangt, so wird ihn nicht leicht Jemand lange ertragen, falls ihn nicht fremdartige Motive beherrschen. Denn hievon abgesehen, was könnte ihn hindern, eine Kunst aufzugeben, die sein Streben nicht belohnt? Hingegen wenn es um Gewinn zu thun ist, dann tritt beym ehrlichen Manne zu dem Gewissen der Kunst noch das moralische hinzu, welches ihm verbietet, schlechte Waare für gut zu verkaufen. Nicht aber blofs in diesem Falle, sondern auch von äufsern Antrieben unabhängig, vereinigen sich beide Arten des Gewissens. Denn die Kunst vermag auch zu schaden, theils an Gütern, theils an der Tugend, und theils dem Künstler selbst, theils Andern.

Alles dies ruft immer von neuem die psychologischen Fragen herbey: ob und wie so verschiedene Vorstellungsmassen in Einem Geiste neben einander bestehen und wirken können?

Diese Fragen beziehen sich natürlich bey weitem mehr auf die schönen Künste, als auf die blofs nützlichen, welche den Geist minder spannen und füllen. Allein es zeigt sich zwischen beiden Gattungen der Künste eine entfernte Aehn[io6]lichkeit, wenn man, statt der Einheit des Bewufstseyns im Künstler, nunmehr die Einheit der Gesellschaft setzt, worin die verschiedenen Gewerbe neben einander bestehen sollen; denn es wird zwar den letztern in der Regel sehr leicht, sich zusammen zu schicken, da sie ein grofses System von Bedürfnissen und Hülfsmitteln vorfinden; doch scheint es hierin manchmal an Congruenz zu fehlen, und dagegen an Reibungen nicht zu fehlen. Ohne nun den Kennern der Staatswirthschaft in den Weg treten zu wollen, glaubt der Verfasser sich die wenigen Bemerkungen des folgenden Capitels erlauben zu dürfen.

[107] Achtes Capitel.

Von der nützlichen Kunst.

61. Während die schöne Kunst meistens von dem Urheber oder doch von dem Nachschöpfer des Gedankens auch ausgeführt wird, (mit Ausnahme der untergeordneten Schauspieler und Musiker,) pflegt dagegen die nützliche Kunst durch Gesinde und Gesellen auf Kosten des Herrn und nach dem Plane des Meisters, ihr Werk hervorzubringen. Daher kann bey ihr selten die Rückwirkung des Thuns auf den ursprünglichen Willen psychologisch in Betracht gezogen werden; sondern was bey der höhern Kunst in Einem Geiste sich drängt und klemmt, das ist hier mehr als hinreichend verdünnt und vertheilt an verschiedene Personen,

I. Abschnitt. Elementarlehre. 8. Capitel. Von der nützlichen Kunst. gq

um keiner von ihnen beschwerlich zu fallen. Desto mehr Spielraum also ist offen für die drey fache Ueberlegung: ob die Kunst wirklich zum Nutzen der Verbrauchenden, der Arbeiter, und des Herrn, der die Arbeiter anstellt, das Mögliche leiste?

Erstlich: was die Verbrauchenden anlangt, so giebt es Fälle genug, in welchen die Kunst sie verleitet, Geld und Kräfte zu verschwenden. Dahin gehört nicht blofs derjenige Luxus, welcher die zweckmässige, theils eihebende, theils abspannende Erhohlung überschreitet, sondern haupt- sächlich die offenbar schädlichen Genüsse, z. B. des Branntweins, gegen welchen sich bekanntlich in Nordamerika 1 förmliche Vereine gebildet haben, während er bey uns2 selbst durch lästige Steuern nicht aus den Kreisen der Landwirthschaft kann vertrieben werden. Was hilft's, fragt man, dagegen zu predigen? Allein wenn die Volkslehrer solche Dinge schweigend ansehn, so mag [108] ihre Predigt wie immer beschaffen seyn, sie hat keinen Zusammenhang, sondern tönt hohl, und überläfst bey allem Schreck vor der Sünde doch die Menschen ihren Lieblingssünden. Auch ist hier die Moral desto mehr an ihrer rechten Stelle, je mislicher es seyn würde, dem Volke die Versuchung ganz zu ersparen durch Prohibitiv- Gesetze, welche den Erwachsenen wie ein Kind behandeln; und deren Gränzen gehörig zu bestimmen nicht viel leichter seyn dürfte, als sie zu bewachen. Doch giebt es Extreme, denen das Gesetz entgegen tritt, z. B. die verbotenen Glücksspiele; und vielleicht verräth sich hierin, dafs ein voll- kommen geordneter Staat, sobald er sich auf einen gröfsern Theil seiner Bürger im Puncte der Aufsicht mit der nöthigen Sicherheit verlassen könnte, wohl auch im Verbieten und Verhindern beträchtlich weiter, als bisher gewöhnlich, vorschreiten würde. Die Frage, wieviel Unsittliches der Staat zu verbieten habe, ist übrigens keinesweges auf die Künste allein gerichtet.

62. Der erste Grundsatz nun, welchen die Gesinnung des Wohl- wollens an die Hand giebt, ist dieser: es solle aller Vorrath, der sich be- nutzen läfst, aufgesucht und aufs beste verarbeitet und verwendet werden. Das Feld, was keinen tüchtigen Halm bringt, mag Waldung tragen, oder Schaafe und Bienen ernähren; nur öde liegen soll es nicht, denn die Wüste klagt den nächsten Nachbar an, der sie aufser Acht liefs, statt ihr abzugewinnen was sie leisten kann. Bedurfte er dessen nicht für sich, so gab es Andere um ihn her, welche brauchen konnten was er ver- schmäht. — Zwar wird sich in solchen Fällen Jeder sehr leicht mit der Ausrede entschuldigen: das gehe ihn nichts an; er habe der Geschaffte genug, die ihm näher liegen. Allein so schwer es seyn mag, den Vorwurf gegen den Einzelnen gelten zu machen, eben so gewifs mufs die Ausrede irgendwo eine Gränze finden; denn sie ist nichts als das Bekenntnifs einer Sorg- losigkeit wegen des Gemeinwohls, welche, wenn sie schon allen Einzelnen erlaubt wäre, doch im Allgemeinen nicht seyn soll. 3Die Verein-[iog]

1 „in Nordamerika" fehlt in der II. Ausg.*

2 „bey uns" fehlt in der II. Ausg.b

2 Der folgende Satz: „Die Vereinzelung der Interessen . . . gesagt hat"

mit der dazu gehörigen Anmerk. fehlen in der II. Ausg.

a u. b SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausgabe.

- *

I OO II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

zelung der Interessen aber hängt sehr nahe mit dem Privat- Eigen th um zusammen; und billig sollte unvergessen seyn, was darüber Hr. Hofr. Hugo gesagt hat.* Ueberdies pflegen sich überall müfsige Hände zu finden, die im Nothfall selbst durch Zwang, um nicht lästig und gefähr- lich zu werden, anzuweisen sind, der Natur da nachzuhelfen, wo sie auf menschlichen Fleifs zu warten scheint. Oder will man lieber in Gefäng- nissen Verbrecher nähren, als Müfsiggängern zu rechter Zeit Kost und Arbeit geben? Endlich ist bekannt genug, dafs, wo Betriebsamkeit einmal Sitte ist, da nicht leicht eine Arbeit unversucht bleibt, wozu Stoff und Boden irgend eine Möglichkeit entdecken lassen. Fehlt der nöthige Unter- richt der Schulen, so ist hier einer der ersten Puncte, von wo die Ver- besserung ausgehn mufs.

63. Ferner, was die Arbeiter anlangt, so gilt in Hinsicht ihrer der zweyte Grundsatz, dafs sie niemals blofs als Mittel sollen gebraucht werden, sondern dafs eben in ihrer Beschäfftigung ein Theil des ganzen Zwecks enthalten ist, weshalb die Kunst geübt wird. Die Menschen wollen nicht blofs etwas haben, sie wollen auch etwas treiben; die Sachen, welche wir als vorhanden zu unserm Dienst betrachten, sollen nicht blofs als fertige Waaren dienen, sondern schon als Gegenstände der Beschäfftigung. Wer aber meint, Menschen könnten etwas Besseres thun, als Handarbeit machen, dem ist zu wünschen, dafs er in vielen Fällen Recht haben möge; im Allgemeinen hat er es nicht, denn viele Menschen taugen nur zur Handarbeit, wenigstens findet sich für manche, wenn sie auch der höhern Bildung fähig sind, kein Platz, der den hiemit verbundenen Ansprüchen genügte. Glücklicher freylich wäre in dieser Hinsicht der Süden, der seine Bewohner so leicht ernährt, wenn er seinen Vortheil gebrauchte.

Hiemit hängt die Frage von der Einführung der Maschinen, von der Benutzung neuer Erfindungen zur Abkürzung [1 10] langer Arbeit u. s. w. zusammen. So verkehrt es wäre, solchen Vortheilen die blofse alte Gewohnheit entgegenzusetzen, so sorglos ist es, die Nachtheile des Müfsiggangs über die zuvor beschäfftigten Arbeiter ohne Vorkehrung herein- brechen zu lassen.

Eben dahin aber gehört auch die Prüfung der Menschen, und zwar der heranwachsenden Jugend, in Ansehung der Arbeit, wozu sie taugen, und, was nicht zu vergessen ist, die für sie taugt. Hier meldet sich wieder das Bedürfnifs der Psychologie als Grundlage der feinern Menschen- kenntnifs.

04. Mit dem Vorstehenden werden nun drittens die Herren der Arbeit, welche das Capital dazu hergeben, wenig zufrieden seyn. Denn vorausgesetzt, dafs sie nur des Gewinns wegen sich mit dem Geschaffte befassen, so verlangen sie die unbeschränkte Willkühr in der Vestsetzung sowohl dessen, was gearbeitet werde, als durch welche Mittel der Kunst, als auch durch welche Arbeiter die Waare zu Stande kommen solle. Nur der Kaufmannsgeist macht sie zu Fabrikanten; und wenn ihre Capitale in einem Wechselgeschäffte, in einem kunstvollen Umsatz der Staats- papiere, besser wuchern können, alsdann steht die Fabrik still, und die

Hugo's Naturrecht § 209 u. s. w.

I. Abschnitt. Elementarlehre. 8. Capitel. Von der nützlichen Kunst. JOI

Kunst bettelt vor andern Thüren. Wo soll hier die Verbesserung an- fangen? — Das Leichteste, was sich darbietet, ist der Unterschied der Ehre. Wer nichts will als Geld, der kann nur Geld erlangen; aber der- jenige Unternehmer, welcher sein Vermögen und seinen Fleifs daran wendet, Arbeiter zu wählen, zu vereinigen, zu üben, um mit ihrem Ge- winn noch den Nutzen einer vorzüglichen Waare zu verbinden, ein solcher verdient einen Ehrenplatz, welchen gehörig zu schmücken dem Staate wohl nicht besonders schwer fallen möchte.

Allein die Sache liegt tiefer, und hängt mit der Frage zusammen, ob die Willkühr im Gebrauch eines grofsen, selten erst erworbenen, meistens zum grofsen Theil ererbten Vermögens, immer gesetzlich zu- gestanden bleiben, ob der Anhäufung grofser Güter -Massen niemals irgend eine Gränze entge[~i 1 1] gentreten werde? Oder ob an Besitz eines sehr grofsen, mehr durch Glück als durch Verdienst erlangten Vermögens, Bedingungen des nützlichen Gebrauchs geknüpft werden sollen, damit die Gesellschaft, welche durch grofse Ungleichheiten des Eigenthums allemal leidet, dafür einige Entschädigung erhalte?

65. Jedenfalls pflegt man den Werth der Quadratmeilen für den Staat zunächst nach der Menschenzahl zu schätzen, die darauf wohnt. Man würde nun vor der oft rasch zunehmenden Bevölkerung weniger er- schrecken, und die Auswandeiungen würden den Schreck seltener recht- fertigen, als sie leider in einigen Gegenden wirklich thun, wenn auf die Frage: wovon sollen diese Menschen leben? dreist geantwortet werden könnte: von der auf sie wartenden, für sie veranstalteten Arbeit. Die Macht des Staats stiege wirklich mit der Bevölkerung, und man könnte an der letztern eine reine Freude empfinden, wenn der innere Verkehr, welcher so sehr viel schätzbarer ist als der äufsere, durch ein vollständiges System der Künste sich selbst genügte. Dagegen sieht man selbst in den reichsten Staaten Ueberspannung mit Erschlaffung wechseln; und die ge- ringsten Veränderungen der Umstände werden mit einer Aengstlichkeit beobachtet, welche deutlich genug bezeichnet, wie wenig sicher die Einzelnen sich fühlen.

Der Kaufmannsgeist, das Gegenstück des Künstlergeistes, ge- wöhnt sich an die Wechsel seines Glücksspiels, die ihm, wenn nicht Reich- thum, so doch Unterhaltung verschaffen. Er beobachtet so scharf, dafs er vielleicht weniger, als irgend ein andrer Stand, sich über das äulsere Leben täuschen mag; sein Interesse aber ist das einfachste von der Welt; daher weifs er nichts von Künstlerlaunen, nichts von der Gefahr, sich länger als rathsam in irgend einen besondern Gegenstand zu vertiefen. Kein Geschafft kann weniger selbständig seyn, als das seinige; hat er aber einmal daraus die im höchsten Grade selbständige Macht des Geldes er- zeugt, hat er einen hin[i I2]reichenden Theil davon dem Schwanken des Handels entzogen: dann pflegt Niemand weniger als Er daran zu denken, dafs alles Privat -Eigenthum nur durch Zugeständnifs und Schutz der Gesell- schaft besteht; und dafs sich wohl andre Rechtsverhältnisse denken lassen, als solche, die den Sammlerfleifs ohne Rücksicht auf Veredelung der Sachen oder Personen, zur höchsten Stufe des äufserlichen Wohlstandes ohne Beschränkung emporzusteigen erlauben.

102 II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

Ist denn keine bessere Bedeutung des Kaufmannsgeistes aufzufinden möglich? Es scheint ja doch; da man so viele höchst achtungswerthe Männer im Handelsstande überall erblickt. Auch ist nicht zu verkennen, dafs der Kaufmann die Vermittelung besorgt, wodurch Arbeit und Ver- brauch in Berührung kommen, und sich gegenseitig bestimmen. Sein ist die Gefahr dieser Vermittelung; sein also auch der Lohn. Allein man sehe zu, dafs nicht eine Täuschung sich einschleiche. Zwar nicht in Ansehung der Personen; diese können von ihrem Reichthum den edelsten Gebrauch machen, ohne dafs darum der Kaufmannsgeist in ihnen davon wüfste. Der reiche Mann jedes Standes kann Wohlthaten in Fülle spenden; er kann auch der Mäcen der Künstler seyn, er kann alles Schöne und Gute lieben und fördern. Zufälligerweise mag dieser Reiche nun gerade Kaufmann seyn; so schafft ihm sein Handelsgeschäfft, wie eine Maschine, die Mittel des Wohlthuns. Oder genauer, denn wir müssen uns hüten, ein solches Geschafft im Ernst einer todten Maschine zu vergleichen, es sind hier wieder, wie schon öfter bemerkt, mehrere Vorstellungs-Massen in Einer Person beysammen. Die eine gehört dem Kaufmannsgeiste ; die andere dem fertigen Reichen, der beym Gebrauch seiner Güter an deren Ursprung nicht weiter denkt. Sollte nun jener erstere sich veredeln, so mufste der Handel selbst, der getrieben wird als ob er eine Kunst wäre, wie- wohl das Werk dieser vermeinten Kunst gar nichts besser macht, als es ist, sondern blofs Geld häuft, der Handel also mufste in sich selbst einen höhern Zweck aufnehmen; und da seine Absicht auf Güter gerich- [11 3]tet ist, so mufsten diese Güter ihrem Begriffe, dafs sie gebraucht werden sollen, besser entsprechend eingerichtet werden. Kann nun der Kaufmann den Punct nachweisen, wo sein Handel eingreift in die Förde- rung des inländischen Kunstfleises, anstatt demselben zuwider die Aus- länderey zu begünstigen, dann erst ist in ihm der Handelsgeist selbst veredelt; und es bleibt nur noch zu wünschen, dafs sein Beyspiel das Publicum ergreife, damit es ihm hülfreich entgegenkomme. Vorangehn aber wird in dieser Hinsicht das Publicum wohl niemals. In dem Augen- blick, wo die Waare gebraucht werden soll, nimmt man nicht absichtlich die schlechte und theure, sondern die beste und wohlfeilste, die zu be- kommen ist; es wäre denn, dafs Alle für eine kurze Entbehrung bald von einheimischen Künstlern die beste zu erhalten sichere Aussicht hätten.

66. Ohne Zweifel machen die nützlichen Künste, nach allen ihren Gattungen und Arten, ein System, welches mit dem gesammten Bedürf- nisse der Gesellschaft zusammentreffen mufs, um demselben Befriedigung schaffen zu können, ohne dafs die Kunstkraft ungebraucht bleibe und in sich selbst ersticke. Es mag nun seyn, dafs jeder Versuch, dies System im Voraus zu berechnen und gesetzlich zu beschränken, noch unsicherer wäre, als gänzliche Freyheit, und dafs man die Künste sich selbst über- lassen müsse, um sich ins Gleichgewicht mit den Bedürfnissen zu setzen. Aber dem Layen in der Staatswirthschaft wird dann wenigstens erlaubt seyn, die Folgen von dem Übeln Umstände zu bedauern, dafs es solcher Layen so viele giebt. Nämlich es scheint, viele Menschen seyen nicht klug genug, um sich bey jener allgemeinen Freyheit vor Schaden zu hüten. Und wenn nun fortwährend ein Halbkünstler nach dem andern und ein

i. Abschnitt. Elementarlehre. 8. Capitel. Von der nützlichen Kunst. 103

Schwindler nach dem andern aufsteigt und niedersinkt: wann wird denn eigentlich das erwartete Gleichgewicht eintreten? Doch wohl nicht eher, als bis das Publikum jedesmal sichere Nachricht bekommt, nach welchen Proben es denjenigen, der eine Kunst verstehen vorgiebt, beurtheilen soll, damit es niemals in den Fall komme, den Verfertiger der schlechten [114] Waare zu begünstigen. Wie soll die Existenz der gar zu wohlfeilen und darum nur von aufsen sich empfehlenden Waare verhütet werden, so lange eine übergrofse Zahl von Arbeitern jeder Art sich hervordrängt, deren jeder mit dem andern einen Wettkampf beginnen mufs? Dabey rechnet man so sehr auf das Triebwerk des Eigennutzes, dafs der eigent- liche Geist des Künstlers dabey umkommt. Denn dieser ist allemal auf die Sache gerichtet, nicht auf Nebenbuhler. Und der ächte wenn auch nur mechanische Arbeiter hat immer eine Art von Künstler- Gewissen, welches, wo es recht lebendig ist, auch bey weitem bestimmter die rechte Arbeit hervorbringt, als jede fremde Triebfeder.

Was aber wird vollends aus dem Kaufmann, der jeden Augenblick fürchten mufs, unter einer übergrofsen Concurrenz zu erliegen? Er preiset die Wohlfeilheit seiner Waaren. Diese Wohlfeilheit besticht den Käufer. Man gewöhnt sich, Vieles schnell zu verbrauchen. Man entwöhnt sich der wahren Sparsamkeit, welche mit alter guter Waare lange ausreichte. Die Bewegungen des Verkehrs werden athemlos; überall wird stets gewonnen und verloren; das Glücksspiel reizt, die gesunde Ueberlegung entweicht, der Trotz verzagt, und nun kommen Sittenlehrer, nun kommen Geist- liche, zu reden von Tugend und Laster, von Sünde und Erlösung! Geschehen mufs das. Aber was kann es frommen?

67. Eine fremde Industrie überschwemmt uns mit ihren Producten; und fremde Theoretiker haben den Grund zu unsrer Lehre von der Staatswirthschaft gelegt. Eine Wissenschaft, deren vornehmste Grundlage die Beobachtung seyn soll, beruht bey uns auf englischen und französischen Thatsachen, anstatt auf einheimischen! Das Mistrauen dagegen mufs um desto stärker seyn, je unläugbarer es vor Augen liegt, wie die Meinungen der Natur- und Staatsrechtslehrer sind durch fremde Einflüsse hin und her getrieben worden. Am Ende des vorigen Jahrhunderts äufserten Rousseau und Montesquieu auf die gröfsten Denker Deutschlands, deren Scharf[i I5]sinn jenen unstreitig weit überlegen war, einen sichtbaren Ein- flufs. Späterhin hiefs es: „mit unsrer Generation geht die Zeit Riesen- schritte, Jahrhunderte ziehen sich in Jahrzehende zusammen." Und als es an den Tag kam, dafs eines Eroberers Ehrgeiz keine Grundlage für eine dauernde Herrschaft über ganz Europa seyn konnte, da verstummte der Ruhm der Riesenschritte, und es fand sich, dafs die Rückkehr zum Alten, wo nicht zum Theil schon Veralteten, auch den Theoretikern recht wohl gefiel. So lange diese Schwäche gegen das Fremde, diese Dienst- barkeit cremen die Umstände, die deutsche Litteratur bezeichnet, ist für deutschen Ackerbau, deutsche Gewerbe und deutschen Handel wenig Hoffnung, durch einheimische Wissenschaft ein hinreichend helles Licht zu empfangen; alles Licht aus der Ferne aber ist Schimmer, der zwar besser ist als Finsternifs, aber doch selbst von neuem beleuchtet werden mufs, bevor man den rechten Weg vom Irrwege unterscheiden kann,, den rechten Weg für

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deutschen Boden, deutsche Verhältnisse und Sinnesart, in Dingen, die kein blofs mercantiles, sondern zugleich ein sittliches Interesse haben!

Unser Land ist keine meerbeherrschende, von fremden Heeren längst unberührte Insel, deren Arbeit sich Märkte schaffen kann, wo sie will, regiert von einer auswärtigen Königsfamilie, die sich weislich ihres deutschen Ursprungs erinnert. Unser Land wird auch nicht von jenem voll- und heifsblütigen Geschlechte bewohnt, das sich seit Napoleon nicht mehr wohl fühlt, wenn es nicht durch Aderlassen in häufigen Kriegen sich abkühlen kann. Unser Boden gewährt nur spärlichen Lohn für harte Arbeit unter einem rauhen Klima; und doch beruht auf ihm die beste Hoffnung, da keine andre glänzende Aussicht offen steht. Langsam nennen uns die Ausländer; zum Beweise, dafs sie rasch und rüstig genug sind, um nach Vorth eilen, die sich darbieten, schneller zu greifen als wir. Doch wenigstens in Einem Puncte sind wir glücklicher als jene: bey uns ist die Regierung nicht Parthey, gegen die man sich schützen müfste, sondern sie steht in der Mitte der Nation; und der beste Wille von Oben ist die erste Voraus- [u6]setzung unserer Einrichtungen. Was folgt aus dem Allen? Doch wohl dies: dafs bey uns die Gesammtheit aller Arbeit, von dem Landbau bis zum Handel, wo nicht einer Direction, so doch einer Aufsicht und eines mannigfaltigen Antreibens und Aufregens und Ablenkens weit eher, als bey jenen Nationen fähig, und in manchen Puncten vielleicht bedürftig ist. Falsche Systeme sind Fesseln; und so mag der alte Zunftzwang, sammt allem Aehnlichen, schädlich genug gewesen seyn. Aber Diejenigen irren gar sehr, welche daraus schliefsen, es sey am besten, ohne System zu denken und zu leben.

Man überlege vor allen Dingen, dafs der Werth der Arbeit keines- weges blofs und ganz durch ihr Product, als Gewinn, bestimmt wird, sondern dafs sie auch als Beschäfftigung, zur Abwendung des Müfsiggangs, als Pfianzschule guter Sitten, in Betracht kommt. Ferner, dafs der Ver- brauch nicht ohne Maafs vermehrt werden kann, und nur mit Rücksicht auf Gesundheit und Sitten erweitert werden darf; und endlich, dafs der Geschmack an ächter, dauerhafter und wahrhaft kunstreicher Waare sich dem richtigen sittlichen Gefühle weit näher anschlielst, als die Neigung zum Behelf mit schlechter, grober, oder mit blofsem Glänze täuschender Waare. Von gesetzwidrig eingeschwärzten Gütern ist hier am besten zu schweigen. Was hilft die Kirche, wo der Reiz zur Sünde stets fort- dauert? — Theorien aber, die sich auf solche Betrachtungen nicht ein- lassen, werden schwerlich den Vorwurf der Einseitigkeit vermeiden können; und in diesem Falle mögen sie scharfsinnig heilsen, nur nicht praktisch!

i. Abschnitt. Elementailehre. 9. Capitel. Von der schönen Kunst. 105

[117] Neuntes Capitel.

Von der schönen Kunst.

68. Auf Arbeit folgt Erhohlung. Diese sucht der Gebildete zwar meistens in der Familie und bey Freunden, aber mit ihnen gemeinschaft- lich in der schönen Natur oder bey der schönen Kunst. Ihnen kommt der Künstler entgegen, theils Altes würdig darbietend, theils Neues hinzu- fügend. Die Empfänglichkeit von der einen Seite, die Leistungen von der andern, sollen einander entsprechen. Denn auch hier, wie bey der nütz- lichen Kunst, wird beym Erzeugen schon auf den Empfang gerechnet; wurde es auch ohne diese Aussicht, aus blofser Begeisterung angefangen, so kommen doch gröfsere Werke nicht ohne Hoffnung auf Gönner zur Ausführung, und geschähe es, so würden sie bald vergessen seyn, wenn Niemand sie im Andenken erhielte. Die Fortschritte der Kunst sind alle- mal Fortschritte der Zeit, zum mindesten in der Umgebung des Künstlers.

Schon dies erinnert, dafs der Gebildete, welcher die Kunst aufsucht, nicht allein steht, sondern dafs er nur Einer ist von Vielen, auf deren Gesammtheit der Künstler gerechnet hat. Ohnehin aber liegt es im Wesen der Kunst, dafs sie ein Band der Geselligkeit ist. Denn das ästhetische Urtheil ist ein willenloses; darauf wurde schon oben bey Gelegenheit der moralischen Urtheile hingewiesen (45). Es ist also frey von den Eigen- heiten der Neigung und von der Spaltung der Interessen, wodurch die Menschen in ihrem Wollen getrennt sind; diese Freyheit meinte Kant bey seiner moralischen Autonomie, obgleich er eine Freyheit des Willens durch eine Verwech-[i 18] seiung daraus machte. Das willenlose ästhetische Ur- theil wird nun zwar bei minder vollendeten Kunstwerken l noch oft getrübt, welche durch ihren Mangel an Präcision verschiedenartige Eindrücke ver- anlassen, ohne dafs über den einmal getheilten Geschmak zu disputiren lohnen könnte. Aber es giebt Kunstwerke, die man klassisch nennt; das heifst, die durch ihre Präcision entscheidend wirken, so dafs sie die Urtheile bestimmt vereinigen. Solche Werke stiften eine Gemeinschaft, wodurch die Einzelnen auf den höheren Standpunct einer allgemeinen Vernuntt er- hoben werden; das ist die Wohlthat, welche die Kunst ihnen erweiset, ohne Unterschied zwischen Poesie, Musik, Plastik, und so ferner.

69. Hieraus ergiebt sich die allgemeine Bedingung der Empfänglich- keit. Der Zuschauer oder Zuhörer mufs fähig feyn abzulassen von seinem Wollen, fahren zu lassen Arbeit, Sorge und Liebhaberey; denn er soll sich hingeben. Das können die Egoisten nicht; und wer dringende Geschaffte hat, wessen Geist getrübt oder gedrückt ist, der kann es nur unter der besondern Bedingung, dafs gerade in seine Stimmung, oder in seine Spannung, das Kunstwerk eingreife, und ihn, wie er eben ist, an sich

1 „Kunstwerken" fehlt in der II. AusgJ

a SW. drucken nach der I. Ausg. ohne den Druckfehler der II. Ausg. anzu- merken.

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ziehe. Auf diese Weise können besondere Empfänglichkeiten entspringen, und aus ihnen, wenn sie bey vielen gleichförmig vorauszusetzen sind, ent- stehen ganze Gruppen von Kunstwerken. So besonders in Kirchen und Tempeln, wo sehr verschiedene Gattungen von Künsten in einerley Stil zusammentreffen, obgleich nicht dieser Stil sie zu Kunstwerken macht, denn sie müssen noch schön seyn auch für Bekenner eines andern Cultus, der ihnen nicht die vorausgesetzte besondre Empfänglichkeit mitbringt. Gegenüber stellen liefse sich allenfalls der militärische Stil, wenn für ihn von plastischen, architektonischen und musikalischen Werken Mehr und l Gröfseres vorhanden wäre.

Wie aber ist die allgemeine2 Bedingung der Empfänglichkeit möglich? Ohne Zweifel so, wie es möglich ist, dafs Erhohlung auf Arbeit folge. Die Arbeit hängt ab von [119] einer herrschenden Vorstellungsmasse, welche eine andre bestimmte Reihe oder mehrere andre, oft sehr verschie- dene, aber zusammengehörige Reihen von Vorstellungen, gerade in der Ordnung und Verbindung ins Bewufstseyn treten läfst, wie die einzelnen succesiven Theile der zu vollbringenden Thätigkeit es erfordern; denn keiner dieser Theile könnte ohne die, ihn bestimmende, Vorstellung zur Wirklichkeit gelangen; ohne die herrschende Vorstellungsmasse aber würde die Arbeit den Zusammenhang verlieren, und folglich nicht Arbeit seyn. Ist nun die Arbeit gethan: so soll die herrschende Masse sinken; und sie muß es thun, falls eine neue Arbeit, und folglich die neue, ihr entsprechende Vorstellungsmasse gefordert wird; sie mufs aber auch dann sinken, wenn zur Erhohlung der Entfchlufs gefafst ist. Beym Ungeübten, dem die Arbeit schwer wird, sinkt sie noch früher; und endlich hält Niemand aus, beständig fort zu arbeiten. Das liegt zwar theils an physio- logischer Hemmung, aber es liegt zunächst an der wachsenden Hem- mungssumme, und an der Gewalt, welche davon die herrschende Vor- stellungsmasse leidet.* Der Uebergang von Arbeit zur Erhohlung schwebt also zwischen den Extremen der Ermüdung und des freyen Entschlusses. Aber bey Kindern sieht man gewöhnlich in dem Augenblicke, wo die Arbeit schliefst, eine lärmende Lustigkeit eintreten, die von Hingebung an ein Kunstwerk weit entfernt ist. Darin verräth sich das körperliche Bedürfnifs nach Bewegung. Auch dieses also, und jeder ihm ähnliche Reiz mufs noch hinweggedacht werden, wenn die gesuchte Empfänglich- keit nicht mangelhaft bleiben soll. Mit einem Worte: gar manche, theils psychologische, theils physiologische Hindernisse hat der Künstler und sein Werk zu besiegen, und der Kampf dagegen verräth sich bald an mancher dagegen getroffenen Vorkehrung. Das Bild bekommt seinen Rahmen, die Bildsäule ihren Untersatz, die Rede ihren Eingang, die Oper ihre Ouvertüre; kurz, der Empfangende, der [120] Zuschauer oder Zuhörer, soll eine Schwelle überschreiten, damit unterdefs seine über- flüssigen Vorstellungen zur Schiuelle des Beivufstseyns sinken mögen.-** Das

* Psychologie I, § 42, und II, § 125—127. [Bd. V vorl. Ausgabe.] ** Psychologie 1, § 47 u. f.

1 „oder" statt „und" S\V.

2 „alleinige" statt „allgemeine" SW.

I. Abschnitt. Elementarlehre. 9. Capitel. Von der schönen Kunst. 107

Kunstwerk will sich absondern, sein Wirken soll rein bleiben und nicht mit fremdartigen Eindrücken zusammenfiielsen.

70. Alles dies würde nichts helfen, wenn nicht das Kunstwerk schon gar mancherley ihm Angemessenes vorfände im Geiste des Empfängers. Wer Musik verstehen soll, mufs im Auffassen der Intervalle und Accorde schon einigermafsen geübt seyn. Zur Poesie bringt Jeder die bekannte Sprache mit, aber auch die bekannten Verhältnisse des Lebens, Kenntnifs der Gemüthslagen, Anschauungen der Naturdinge u. s. w. Selbst die Bild- säule und das Gemälde würden unverstanden bleiben, wenn nicht das Gebehrdenspiel und der gesammte Ausdruck des Geistes im Leibe einem Jeden durch die tägliche Erfahrung geläufig wäre. In jedes Kunstwerk ohne Ausnahme mufs Unzähliges hineingedacht werden; seine Wirkung kommt bevm Beschauer weit mehr von innen heraus, als von aufsen hinein. Darum ist ein gelehrtes Kunstwerk sehr mislich; es könnte leicht zuviel voraussetzen, und könnte eher imponiren als gefallen.

Am schnellsten, allgemeinsten und sichersten wirkt die plastische Kunst. Denn die menschliche Gestalt ist das bekannteste; Mienen und Gebehrden zu deuten ist Jeder geübt; die Bildsäule stellt mit sinnlicher Gewalt das Ungemeine recht in die Mitte des Gemeinen. In die Malerey dagegen mufs man sich erst vertiefen, um deren optische Täuschung in sich her- vorzubringen; das historische Gemälde vollends rechnet auf die Bemühung des Zuschauers, den dargestellten Moment in Gedanken zu einer fort- gehenden Handlung zu erheben; die Landschaft, je schöner sie ist, ladet desto mehr das Auge ein, in ihr spazieren zu gehn; das kostet Zeit, und der Kunsteindruck erwächst nur allmählig. Grofse Werke der Baukunst sind ihr (121) darin ähnlich. Sie wollen abwechselnd theils zusammen- gefafst, theils ins Einzelne verfolgt seyn; ihre Wirkung beruht desto wesent- licher auf dem Grofsartigen, je weniger dessen ist, was man hineindenken könnte, denn dieses beschränkt sich zunächst auf die Vorstellung der schweren Massen, welche nicht blofs mit Sicherheit tragen und getragen werden, sondern auch im Innern ihrer hohlen Räume Schutz darbieten; später fügt sich hieran der Begriff vom Zwecke des Gebäudes, und noch später ein Ueberblick langer Zeiten der Vergangenheit und Zukunft, in welchen es stand und noch stehen wird ; allein diese Nebenbegriffe wirken wie dunkle Mächte; sie machen selbst eine Ruine interessant, aber nicht schön. Oder sollen wir noch erinnern, dafs, wenn einmal Ruinen für schön gehalten werden, dies Lob vielmehr der Landschaft gilt, die sich dem Auge um sie herum gruppirt, als ihnen selbst, und dafs neu- gebaute Ruinen ins Lächerliche fallen?

Der Eindruck alter Bauwerke, die als Denkmäler betrachtet werden, zeigt es recht deutlich, wieviel bey Kunstwerken auf die Apperception an- komme, die von der blofsen Perception, sammt den auf ihr allein beruhen- den Kunst -Eindrücken, weit verschieden ist* Mit welchen Augen sieht der Historiker eine alte Münze ! seine historische Aneignung (und nichts Anderes heifst Apperception) giebt ihr den Werth.

Ein anderes, sehr auffallendes Beyspiel giebt das Portrait. Nur auf Die-

* Psychologie II, § 125 u. f. [Bd. VI vorl. Ausgabe.]

io8 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

jenigen, welche das lebende Original kannten oder kennen, thut es seine volle Wirkung; Andre betrachten es mit Interesse, wenn sie von der Geschichte und den Sitten der dargestellten Person etwas wissen; sie suchen alsdann ihre Meinung mit den sichtbaren Zügen zu vereinigen. Wer den Abgebildeten weder persönlich noch durch Zeugnisse kennt, sieht im Portrait nur ein schönes, oder häfsliches, oder gleichgültiges Bild; er ist der Perception allein überlassen; die Apperception fehlt, und mit ihr das stärkste Interesse. [122]

Dafs Meisterwerke, wodurch Personen der heiligen Geschichte ver- sinnlicht werden, einen unschätzbaren Werth haben, bedarf nunmehr keiner weitern Erklärung. Der Glaube versenkt sich in deren Betrach- tung; und sie eröffnen ihm das Unendliche, wenn sie ihm gestatten, es hineinzuschauen, ohne sich irgendwie zurückgestofsen zu fühlen.

Mit anderen Augen sahen die Bilderstürmer, weil sie mit gar keinen Augen sehen wollten, sondern am Begriffe des Unsichtbaren vesthielten. Ihre Apperception war so geartet, dafs sie, je mehr Kunst, desto mehr Aergernifs erblickten. Wem von uns würde anders zu Muthe seyn, wenn ein Künstler (was kaum denkbar ist) von dem Unsinn ergriffen würde, uns das höchste Wesen im Bilde zeigen zu wollen?

Wie sehr oftmals der Dichter seine Hoffnung des Beyfalls auf die Apperception des Hörers stützt, liegt am Tage. Jedes Epos, jedes histo- rische Trauerspiel, ja sogar die Novellen mit historischer Grundlage zählen auf das Interesse, was der Gegenstand schon mitbringe, und auf die An- strengung, womit der Empfänger sich die ihm dargebotenen poetischen Züge aneignen werde, durch die hervortretende Erinnerung an das schon Bekannte. Doch eine gar zu genaue historische Kenntnifs kommt dem Dichter ungelegen. Lieber ist ihm der Mythus; er dient als ein bild- samer Stoff. Der Hörer soll nicht glauben, die Geschichte besser zu wissen; er soll nur geneigt seyn, sich von Namen und Zeiten, deren Kunde halb erloschen ist, mehr und genauer berichten zu lassen, ohne auf historische Treue zu dringen.

71. Aber je zufälliger die Apperception, desto leichter kann sie aus- bleiben; und wiefern auf Zufälliges beym Kunstwerke gerechnet wird, desto weniger ist es ein geschlossenes Ganzes. Die Musik rechnet im strengen Satze (z. B. bey der Fuge) nicht einmal auf das forte und piano, was der vortragende Künstler, oder das Instrument (etwa die Orgel) ver- sagen könnte; die Töne sollen nur gehört, ja wohl gar die Noten nur gelesen werden, und dennoch gefallen. Eben so [123] sollen Gebäude im strengen Stile nicht auf Möbeln warten, die man könnte hineintragen oder auch fehlen lassen; und so auch bleibt die klassische Poesie halt- bar durch Jahrtausende, weil sie das National - Interesse, mit dem sie einst zusammenhing, und selbst die alte Art des Vortrags gröfstentheils entbehren kann, ohne für uns merklich zu verlieren.

Man sieht hieraus, dafs, um den innern Kunstwerth eines Werkes recht zu würdigen, die Wirkung der Apperception in so fern, als sie nicht wesentlich die Auffassung bedingt, bey Seite zu setzen ist. Von diesem Grundsatze ist es nur eine besondere Anwendung, dafs auf keine Weise Nachahmung als Princip der Aesthetik darf aufgestellt werden. Zwar

i. Abschnitt. Elementarlehre. 9. Capitel. Von der schönen Kunst. 109

wird der Schauspieler bewundert, wenn er, wie man sagt, seine Rolle recht natürlich spielt; desgleichen der Maler, der mit dem Pinsel die Kinder anlockt, nach gemalten Früchten zu greifen. Allein das Schöne liegt nicht in solcher Künstlichkeit, und die Nachahmung ist höchstens eben so schön, wie das Urbild. Ohne Grund würde man hier an die Idee der innern Freyheit erinnern, das heifst, an die Harmonie der Ein- sicht und des Willens; denn Verwirklichung eines Gedankens ist nicht Nachahmung; und die doppelte Energie des Denkens und Wollens in Einer Person erhebt diese Person, auf deren Einheit es dabey wesentlich ankommt, gänzlich über den Vergleich mit dem Nachahmer, der allemal ein Zweyter ist für den vorausgehenden Ersten.

72. Schwerlich wird sich Jemand gern entschliefsen, der Forderung, dafs alle zufällige oder doch zur Auffassung des Schönen entbehrliche Apperception bey Seite gesetzt werde, vollständig Genüge zu leisten. Wer eine Bildsäule sieht, will wissen, welche, m) thische oder historische, Person sie vorstellt. Gemälde -Gallerien besucht man mit dem Katalog in der Hand; zur Oper nimmt man das Textbuch mit; oder wenn es daran fehlt, so klagt man, die Gemälde und die Musik nicht zu verstehen. Manche Poesien werden aus ähnlichen Gründen von Commentaren be- gleitet. Die Kunstwerke sollen [124] etwas bedeuten; darum drängt sich nicht selten die Deuteley ungestüm genug herbey, sie zu Symbolen von diesem und jenem zu machen, woran der Künstler nicht gedacht hat. Aber noch mehr! die Künstler sind gern gefällig. Sie selbst lassen sich den Text zur Musik, oder die Gelegenheit zum Gedicht, oder den Platz für das Bild, also die Bedeutung ihres Werks, von Andern im Voraus angeben, und denken wohl gar bey ihren Phantasien etwas hinzu, das sie ausdrücken wollen. Was hat nicht Haydn in seiner Schöpfung und in den Jahreszeiten durch Töne zu malen unternommen! Glücklicher- weise braucht seine Musik keinen Text; man verlangt höchstens aus Neugier zu wissen, was er eben schildern will, denn seine Musik ist Musik, und sie braucht gar Nichts zu bedeuten, um schön zu seyn. Andre wundern sich, wenn der Beyfall ausbleibt, da sie doch sich be- wufst sind, ihre Werke seyen auch im hohen Grade charakteristisch für den Gegenstand, den sie bezeichnen, und der ivahre Ergufs des Gefühls, welchem sie Sprache geben ivollten. Wie manchen selbst tüchtigen Künstler wird noch das Vorurtheil, seine Werke müfsten irgend etwas bedeuten, vom rechten Wege ablenken! Wie viele Gelehrte, die als Ausleger glänzen, werden noch1 dem ihnen willkommenen Vorurtheile das Wort reden, damit ihr Geschafft des Auslegens und Commentirens recht blühen möge! Die Traumdeuter und die Astrologen haben sich Jahrtausende lang nicht wollen sagen lassen, dafs ein Mensch träume, weil er schläft, und dafs die Gestirne sich bald da bald dort zeigen, weil sie sich bewegen. So wiederhohlen, bis auf den heutigen Tag, selbst gute Musikkenner den Satz, die Musik drücke Gefühle aus, als ob das Gefühl, was 2 durch sie

1 Die I. Ausg. hat „nach" (Druckfehler) statt „noch"a

2 „das" für „was" II. Ausg.b

a u. b S\V drucken nach der II. Ausg. ohne die Abweichung der I. Ausg. anzugeben.

j j O II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1 .

etwa erregt wird, und zu dessen Ausdruck sie eben deshalb, wenn man will, sich gebrauchen läfst, den allgemeinen Regeln des einfachen oder doppelten Cöntrapuncts zum Grunde läge, auf denen ihr wahres Wesen beruht. Was mögen doch die alten Künstler, welche die möglichen Formen der Fuge entwickelten, oder die noch altern, deren Fleifs die möglichen Säulen -Ordnungen unterschied, aus\l 2 ^zudrücken beabsichtigt haben? Gar Nichts wollten sie Öldrücken;1 ihre Gedanken gingen nicht hinaus, sondern in das innere Wesen der Künste hinein; diejenigen aber, die sich auf Bedeutungen legen, verrathen ihre Scheu vor dem Innern, und ihre Vorliebe für den äufsern Schein.2

73. Der gründliche Musiklehrer übt seinen Schüler im Contrapunct, das heifst, er lehrt ihn, mehrere Stimmen so gleichzeitig verbinden, dafs jede derselben dem Hörer eine besondere, in sich zusammenhängende Vorstellungsteihe darbieten möge.* Dafür, dafs die Reihen, möglichst un- abhängig wie sie sind, doch zusammenpassen, mufs Harmonie und Rhyth- mus sorgen. Auf ähnliche Weise zeichnet der Architekt, wenn er den Baurifs entwirft, Figur in Figur**, deren jede für sich ein Ganzes bildet, jede aber auch in der andern eine passende Lage bekommt. Schon die Natur hat solchergestalt im menschlichen Antlitz Augen, Nase, Mund, Ohren, in den Umrifs des Schädels hineingezeichnet; und bey schön gebildeten Blumen thut sie im Kleinen dasselbe. Aehnlich diesem räumlichen Contrapunct, finden wir der contrapunctischen Gebilde genug in Werken der Dichter, wo jeder bedeutende Charakter seinen Gang geht, seine Geschichte auf eigne Weise durchläuft, mit der Bedingung, dafs diese ver-

2 Nach den Worten: „für den äufsern Schein" hat die II. Ausg. noch fol- genden Abschnitt :

Ob für wahres Künstler-Genie die Absicht, etwas auszudrücken, ge- fährlich werden könne? diese Frage mag die Kunstgeschichte entscheiden. Es scheint fast, als ob sie die Frage bejahe. Woher sonst der frühere Ernst der Künste, und die spätere Verweichlichung? Woher anders, als daher, dafs man den Affect, welchen auch das ächte Kunstwerk bey gehörigem Vortrage erregt, späterhin zum Zwecke machte, und diesen Zweck obendrein dadurch sichern wollte, dafs man den nämlichen Affect auch noch anderwärts herhohlte, indem es etwas Anderes bedeuten, und den dortigen Affect herbeylocken sollte. Derjenige Affect, welchen das Werk durch seine eignen, inneren ästhetischen Verhältnisse erregen kann, ist ihm nicht zu misgönnen; auch nicht das Zusammentreffen des Ausdrucks, wo verschiedene Künste [117] zusammenwirken, und sich gleichsam gegen- seitig beleuchten; wenn aber die Kunst etwas aufser ihr portraitiren will, so mag sie sich auch mit dem Ruhme des Portrait -Malers begnügen; und sich noch überdies sagen lassen, dafs stark aufgeregte Affecte das Gefühl platt machen, denn darüber verschwindet am Ende das Bewufst- sein dessen, was eigentlich den Affect erregte. Zum Weinen oder Lachen kommt man leicht; dazu bedarf es keiner Kunst.

* Psychologie I, § 100. [Bd. V vorliegender Ausgabe.] ** Ebendaselbst II, § 114. [Bd. VI vorliegender Ausgabe.]

1 Das ganze Wort „ausdrücken" ist in SW gesperrt gedruckt.

I. Abschnitt. Elementarlehre, g. Capitel. Von der schönen Kunst. iti

schiedenen einzelnen Geschichten sich zu einer ganzen vereinigen. Und in der Malerey mufs in künstlich verschlungenen Gruppen dennoch jede Figur für sich ihre richtige Zeichnung haben; das Auge mufs sondern und zusammensetzen können mit Freyheit, ja mit Lust, und mit Unter- stützung durch die Contraste der Farben.

Dem Hörer und Zuschauer wird zugemuthet, dafs er die einzelnen Vorstellungsreihen, seyen es Stimmen, oder Figuren, oder Charaktere sammt ihrem Handeln, in sich selber eben so genau und reinlich gestalte, wie das Kunstwerk sie ihm darbietet. Dann wirkt das Zusammentreffen der verschief 1 2 6]denen geistigen Bewegungen (welches er auf Augenblicke im Gedränge zu verlieren fürchtet und doch wieder gewinnt,) das ächte Gefühl des eigentümlichen Beyfalls, welchen das Kunstwerk für sich, und ohne noch aufser sich etwas Anderes zu bedeuten, hervorbringt; und so erzeugt sich das Schöne, das aufser der Vorstellung gar nicht existirt, sondern immer einen, wenigstens möglichen Zuschauer voraussetzt.

74. Es wäre nun die Sache der Aesthetik, den angehenden Künstler in dem eignen Contrapuncte jedes Faches so sorgfältig von den alier- einfachsten Uebnngen anfangen zu lassen, wie dies die Musiker in dem ihrigen zu thun gewohnt sind.* Nach solchen Vorübungen thun alsdann Gefühl und Phantasie das Ihrige. Ohne dieselben bleiben die Bewegungen un- sicher, ungelenkig; die Anstrengungen erschöpfen unnütz die Kräfte; und die Producte halten kein Maafs, passen nicht an die Stellen, für die sie gemacht sind, begnügen sich dagegen mit dem Ruhme des Ungemeinen, des Sehnsüchtigen, des Gutgemeinten. Weshalb sonst fehlt es unserm Theater an klassischen Werken, als darum, weil die gröfsten Dichter sich gerade am wenigsten in die Formen fügen mochten, welche der Dar- stellung wegen zu beachten nöthig sind? Solches geniale Nicht-mögen ist aber verdächtig als Ungeschick aus Mangel an Uebung, die ästhetischen Grundfiguren nach Belieben zu gebrauchen, ohne in Fehler zu gerathen.

Das gerade Gegentheil der Uebungen, die man anstellen sollte, ist die gewöhnliche Ueberfüllung mit Kunstwerken aller Art, und noch oben- ein mit den drastischen am liebsten. Man lieset den Shakespeare, bevor man den Homer gründlich studirt hat. Man giebt sich nicht die Mühe, die Charaktere und Handlungen des Shakespeare, vom Schmucke der V'erse ent[i2 7]kleidet, wie eine Zeichnung blofser Umrisse vor sich hin- zustellen; man überlegt nicht, welche andere Ausfüllung der nämlichen Umrisse wohl entstanden wäre, wenn statt des Schauspiels eine Erzählung, möglichst einfach, und doch mit Beybehaltung der wesentlichen ästheti- schen Elemente, sollte geliefert werden. Darum, weil solche Uebung vernachlässigt wird, läuft jede Novelle, jeder Roman, dem einmal ein gewisser Ruf zu Theil wurde, nun umgekehrt Gefahr, in Form eines Schauspiels auf die Bühne gebracht zu werden; und dann mufs erst2

* Man vergleiche z. B. das bekannte Buch von Albrechtsbcrger, Anweisung zur Composition mit ausführlichen Exempeln. Wie dieses Buch, so sollte eine gründliche Aesthetik aussehn; zum Schrecken für Alle, die nur Effect machen wollen.1

1 Diese Anmerkung fehlt in der II. Ausg.

2 und dann erst mufs. SW.

IJ9 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

der üble Erfolg lehren, was man voraus wissen konnte. Ueberall wird verwechselt, welche Erfordernifse in dem ästhetischen Kern des Gegen- standes liegen, welche andere von der Gestalt abhängen, die nun gerade für das Kunstwerk beabsichtigt wurde.

Diese Betrachtungen möchten unbedeutend seyn, wenn nicht eine so grofse Menge von Individuen dem Reize nachgäbe, sich in allerley künstlerischer Production zu zeigen, und eine noch gröfsere Menge sich dazu schaulustig darböte, um krittelnd heimzukehren.

Uebrigens versteht sich von selbst, dafs Vorübungen nicht schon selbst Kunstwerke sind, und dafs sehr gefehlt wäre, wenn Jemandem ein- fiele, sie dafür auszugeben.

75. Das Vorstehende ist nun zwar hoffentlich deutlich genug, um Demjenigen, der nach Aesthetik fragt, zu sagen, wo er sie zu suchen hat; vorausgesetzt, dafs er, wie gewöhnlich, von Kunstwerken herkommt, die er liebgewonnen hat, und deren ähnliche hervorzubringen ihn gelüstet, wenn dazu Vorrat h und Bewegung genug in seinem Geiste vorhanden ist. Psychologische Analysen sind es, an die er nicht blofs sich wenden, sondern die er selbst vornehmen mufs. Diese Analysen bestehen aber nicht in Beantwortungen ungereimter Fragen, z. B. was wohl der Sinn, und die Phantasie, und der Verstand, und das Gefühl vermögen, beym Auffassen des Schönen thun mögen; wer sich noch mit diesen Fabeln trägt, dem bleibt die Wahrheit versteckt hinter [128] der Fabel. Sondern die Vor- stellungsreihen mufs er aus einander nehmen, welche das Kunstwerk in einander verwoben hatte; und sie theils einzeln, theils ihre Verknüpfung studiren, so lange, bis er die Elemente des Schönen, und dessen Be- dingungen findet. Das macht nun freylich keine andre Kunst so leicht,

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als die Musik; denn bey dieser hat man nur nöthig, Partituren zu lesen, um Discant, Alt, Tenor und Bafs einzeln vor sich zu haben. So liegt selbst die künstliche, gewaltig einstürmende Fuge bis in ihre letzten Be- standtheile aufgelöset vor Augen ; 1 sie vermag nicht, irgend ein Geheimnis zurückzuhalten: wenn nur Derjenige, der sie studirt, aus der Statik des Geistes die Verschmelzung vor der Hemmung, und aus der Mechanik des Geistes die Reizbarkeit der rhythmisch gebildeten Vorstellungsreihen kennt. * 2 Die Untersuchungen hierüber sind zwar erst angefangen, und noch nicht vollendet; aber die Richtung derselben ist auf's bestimmteste angegeben, und wer sie verfehlt, wird es sich selbst zuschreiben müssen.

Weit schwerer ist's, dem wahren Wesen andrer Künste durch die psychologische Analyse auf die Spur zu kommen. Die Plastik, einfach wie sie scheint, breitet ihr Kunstwerk im Räume aus; diesen aber kann

* Psychologie I, § 71, 72; und II, § 105. 3

1 Die nachfolgenden Worte: „sie vermag nicht, irgend ein Geheimnis zu- rückzuhalten" fehlen in der II. Ausg.

2 Der folgende Satz: „Die Untersuchungen hierüber . . . selbst zu- schreiben müssen" ist in der II. Ausg. weggelassen, a.

A Die Note hat in der II. Ausg. noch den Zusatz: „Weitere Ausführung im ersten Hefte der psychologischen Untersuchungen." b

a b S\V. drucken nach der II. Ausg ohne Angabe der Abweichung der II. Ausg.

I. Abschnitt. Elementarlehre, q. Capitel. Von der schönen Kunst. in

selbst die Geometrie nimmermehr völlig ausstudiren. Ueber seinen Reich- thum an ästhetischen Verhältnissen möchte der Mensch kaum urtheilen können. Welche Ueberraschung möchte uns bevorstehn, wenn wir die Organismen andrer Planeten erblicken könnten, wo ganz andere Verhält- nisse der Schwere, der Atmosphäre, des Lichts und der Wärme den Bau der lebenden Wesen bestimmen müssen! Wer mag denn glauben, die Erde mit ihren Bedingungen trage an der menschlichen Gestalt gerade den Preis derjenigen Schönheit davon, die sich überhaupt mit dem zum Leben zweckmäfsigen Bau verbinden könne? Dennoch sollte der psycho- logische Grund des Schönen im Räume aus der Mechanik des Geistes klar genug seyn, um die ästhetischen [12g] Werthe der uns bekannten Hauptumrisse gehörig bestimmen zu können, wenn Einer, mit Geometrie und Psvchologie ausgerüstet, die Analyse unternähme. aAber so lange man von dem Ursprünge unsres räumlichen Vorstellens, von der Reiz- barkeit und Energie der dazu nöthigen Vorstellungsreihen* keinen Be- griff hatte, wufste man nicht, wornach zu fragen, und worauf die Unter- suchung zu richten sey.

76. Die Poesie bietet sich eher zu analytischen Betrachtungen dar. Zuvörderst wollen wir das ganze lyrische Element absondern; das, was den Dichter ehemals zum Sänger machte, der nicht etwa nach den Regeln unsrer Tonkunst, sondern nach Art der Vögel sang, Empfindung ausströmend und mittheilend. Denn so mächtig auch der Strom des Lebens den gemüthlichen Hörer ergreift, so ist doch dies nicht sowohl Kunst als Natur; die subjectiven Regungen des Mitgefühls liegen nicht im Gebiete des objectiven Schönen, welches mit Ueberlegung für Jeder- mann und für alle Zeiten gültig hingestellt wird. Mit dem Lyrischen zu- gleich mag nun auch Alles, was an der Poesie nur Sprache ist, beseitigt werden, so viele wahrhaft ästhetische Elemente des Rhythmus, des Wohl- klangs, auch darin enthalten sind. Ueberdies wollen wir das Rhetorische oder Didaktische ablösen; sein Wesen besteht darin, Ueberzeugung mit- zutheilen, so wie das Lyrische die Empfindung mittheilt. Auf diese Weise haben wir Alles abgesondert, was auf Sympathie kann zurück- geführt werden; es sey nun Sympathie der Ueberzeugung oder Empfindung. Was bleibt nun der Poesie noch übrig? Nur das rein-Objektive; das, was der Dichter mittheilen kann ohne Sich mitzutheilen. Aber wir wollen ihn auch nicht zum Landschaftsmaler machen; darin kann er dem Pinsel, den er entbehrt, nicht nachkommen. Also nur das rein-Dramatische und Epische bleibt übrig. Auch noch den Unterschied zwischen Beiden lassen wir hinweg; denn die Grund-Elemente des Schönen bleiben die näm- liehen, ob nun die Begebenheiten als [130] gegenwärtig oder als ver- gangen dargestellt werden ; dieser Unterschied ist nicht viel gröfser als der zwischen der Bildsäule, die frey hervortritt, die sich als ein Gegenwärtiges betasten läfst, - und dem Bas-Relief, welches sich dem gröfsern Theile nach verbirgt, während es eine Menge von Figuren hinter einander zeigt

1 Der folgende Schlufssatz : „Aber SO lange ... zu richten sey" mit der dazu gehörigen Anmerkung fehlt in der II. Ausg.

* Psychologie IL § 110 u. f. [Bd. VI vorl. Ausg.]

Herbart's Werke. IX. 8

HA IL Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

und noch mehrere errathen lälst. Das Gemeinsame nun des Epischen und Dramatischen sind Charaktere, Handlungen und Situationen.

77. Sogleich werden hier dem Leser die Tugenden, Pflichten, und Güter einfallen, welche, wie oben erinnert, sich verhalten wie Grund, That, und Erfolg (27.). Und wie man versuchte, durch Reduction der- selben aufeinander die Sittenlehre entweder als Lehre von Tugend, oder von Pflicht, oder von Gütern darzustellen, so auch hat man bald aus den Charakteren die Handlungen und Situationen ableiten, bald zu gegebener Handlung die vorauszusetzenden Charaktere suchen, endlich für interessante Situationen die Handlung einrichten wollen. Für die Sittenlehre fragt sich: wo soll die erste, ursprüngliche Werth-Bestimmung angebracht werden? Bey den Gütern? bey der Pflicht? bey der Tugend? Für die Aesthetik lautet die analoge Frage: Wo liegt das Schöne? In den Charakteren, oder den Handlungen, oder den Situationen?

Wir wollen noch eine Vergleichung herbeybringen. Der Contrapunct der Musik führt mehrere Stimmen gleichzeitig fort. Jede Stimme hat eine eigenthümliche Bewegung, die, wenn auch nicht gleichförmig, doch so be- schaffen seyn mufs, dafs man .sie als fortgehend und zusammenhängend auffassen könne; sonst würde statt einer Stimme nur eine Folge von aus- füllenden Noten zum Vorschein kommen. Während aber jede Stimme ihren eignen Gesang behauptet, treffen sie jeden Augenblick in be- stimmter Situation zusammen; das heifst, sie ergeben eine Folge von Consonanzen und Dissonanzen, welche die Regeln der Harmonie herbey- rufen. Nun wird man fragen, wo denn für jede Stimme der eigenthüm- liche Charakter [131] bleibe? Denn die Bewegungen lassen sich unter den verschiedenen Stimmen vertauschen; sonst gäbe es keinen doppelten Contrapunct. Allein so wahr dies für die Theorie ist, so hilft uns doch die Praxis den begonnenen Vergleich zu Ende zu bringen. Wer zu Einem Tonstück verschiedene Instrumente wählt, der wird nicht das Wald- horn mit der Geige in den doppelten Contrapunct setzen, ja kaum die Singstimme mit der Geige; welches zwar möglich, doch wirkungslos wäre. Denn zuviel Charakteristisches liegt in dem eignen Klange jedes In- struments, um durchgehends gleiche Bewegung von ihnen zu fordern; und selbst für Singstimmen setzt der doppelte Contrapunct voraus, dafs sie nahe von gleicher Güte seyen, und nicht eine der andern sich merklich unterordnen müsse. Dies vorausgesetzt, so kehrt die vorige Frage zurück: wo liegt das Schöne der Musik? Liegt es in dem Charakter jeder Stimme? oder in ihrer Bewegung, das heifst, in ihrer Melodie? oder in den harmonischen Situationen aller Stimmen zusammengenommen?

Hier bewährt sich die vorzügliche ästhetische Deutlichkeit der Musik. Reine, volltönende Stimmen sind ihre erste Voraussetzung; mit schlechten Stimmen kann sie nichts anfangen. Eben so wenig die Poesie mit un- reiner, schwankender Charakterzeichnung. Aber die Melodien folgen nicht aus den Stimmen. Gerade so folgen aus den Charakteren keine Handlungen, sondern es müssen Umstände hinzukommen ; und in dieser Hinsicht ge- winnt die Poesie unendlich durch einen bestimmten historischen Hinter- grund, welcher die Sitten und Gewöhnungen angiebt, nach welchen die Charaktere sich zu äufsern pflegen. Endlich, alle noch so schöne Melodie

i. Abschnitt. Elementarlehre. 9. Capitel. Von der schönen Kunst. jk

hilft nichts, sondern wird unerträglich, wenn sie im Zusammentreffen mit andern, gleichzeitigen Melodien die Harmonie verletzt. So leistet auch die Poesie nichts, weder Episches noch Dramatisches, wenn sie die, wie immer consequenten Handlungen der Charaktere nicht gehörig in einander fügt, so, dafs jede Situation für sich einen Werth habe, oder mindestens nicht anstöfsig werde. Doch bezieht sich dies nicht auf [132] blofse Uebergänge; auch die Musik hat ihre durchgehenden Noten, welche, da sie aufser dem Gebote der Harmonie liegen, sehr gute Dienste leisten, um die einzelnen Stimmen gesondert zu halten. Ueberdies haben beide Künste, Musik und Poesie, ein Hülfsmittel an den Pausen, so dafs nicht immer alle Charaktere und Stimmen in Einer Situation zusammen arbeiten, sondern das Quartett mit dem Terzett und Duett wechseln, oder, dramatisch ausgedrückt, dafs von den Hauptpersonen bald zwey, bald mehrere auf der Bühne stehn.

Die aufgeworfene Frage aber, wo das Schöne der dramatischen und epischen Poesie liege? ist schon so gut als beantwortet. Es liegt theils in den Charakteren, theils in der Handlung, theils in den Situationen, und der Versuch, eins aufs andre zurückzuführen, ist vergeblich.

78. Indem wir auf die Charaktere insbesondre unser Augenmerk richten, begegnen uns einige nicht unwichtige nähere Bestimmungen.

Erstlich : die Charaktere sind in weit höherem Sinne eines ästhetischen Werths fähig, als jene Stimmen; und es trennt sich hier die Poesie von der Musik. Denn die Charaktere sind Objecte einer sittlichen Schätzung, ganz unabhängig von den Handlungen, die nur als äufsere Zeichen hin- zukommen, und sich im Verlauf der dargestellten Begebenheit, nachdem die Personen hinreichend bekannt sind, überflüssig verlängern würden, wenn sie als Mittel der Charakterzeichnung zu betrachten wären.

Zweytens : der ästhetische Werth der Charaktere schliefst zwar den moralischen in sich, allein er reicht viel weiter. Zuvörderst treffen die praktischen Ideen (27.) den Charakter ursprünglich, und nicht erst so, wie das moralische Urtheil, in Beziehung auf gefafste, entweder befolgte oder nicht befolgte Vorsätze. Die blofse Unschuld ist weder gut noch böse; aber sie kann im hohen Grade sittlich schön seyn. Das beruht auf dem Unterschiede des ästhetischen und moralischen Urtheils. Ein offenes, unverstelltes Betragen, Züge des Wohlwollens, [133] gesunde Naturkraft, bereitwillige Auffassung und Beachtung des Rechten und Billigen, dies Alles entspricht ohne Weiteres den praktischen Ideen. Reife der Tugend, erprobtes Pflichtgefühl ist etwas Höheres; es bezeichnet den moralisch ausgebildeten Charakter. Von diesem und jenem wiederum ver- schieden ist das decorum, woran der dramatischen Poesie eben so sehr als dem im wirklichen Leben hervortretenden Menschen gelegen seyn mufs (44. 46.).

Drittens : nur die ernste Poesie hat den Vortheil, dafs für sie der Werth der Charaktere eine Hauptquelle des Schönen seyn kann. Hier zeigt sich der Hauptgrund von der Schwierigkeit des Lustspiels ; wenn nämlich gefordert wird, es solle den Werth der Charaktere weder negativ noch positiv hervorheben, um nicht ernst zu werden. Eine andre Frage ist, ob die Forderung wohl überlegt ist? Anekdoten können rein be-

8*

jj^ II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1.

lustigend seyn, aber sie mischen sich zufällig ins Gespräch; hingegen ins Schauspiel zu gehn, oder ein Buch zur Hand zu nehmen, ist eine ernst- hafte, absichtliche Handlung, und die Anstalten der Bühne, wenn sie nichts als Possen liefern, werden wohl immer etwas von dem Eindruck des gesuchten, weit hergehohlten Witzes an sich tragen. Es dürfte daher besser seyn, der Komödie eine ernste Grundlage zu gestatten, und das Lächerliche nur stellenweise blitzend drein schlagen zu lassen.

Viertens: auch die ernste Poesie macht bey weitem nicht immer Gebrauch von demjenigen Schönen, was l in den Charakteren liegt. Sie bedient sich aller moralischen Contraste, so wie aller Mannigfaltigkeit der Verhältnisse im Leben. Doch würde das steinharte Böse, ohne den innem Kampf des zerrissenen Gemüths, für sich allein nicht für sie brauchbar seyn. Auch im Macbeth noch geht das Interesse von den praktischen Ideen aus.

79. Was zweytens die Handlung anlangt: so ist sie als Ganzes ohne Zweifel zu unterscheiden von der Summe einzelner Handlungen der Personen. Niemand würde das im [134] poetischen Sinne eine Handlung nennen, wenn blofs die Absichten einer einzigen Person, auf dem von ihr vorgezeichneten Wege, ohne Hindernifs, ohne Einmischung weder des Zufalls, noch anderer und theils entgegenwirkender, theils helfender Kräfte, zur Ausführung gelangten. Wer möchte Geduld haben, um sich so geraden Weges zum Ziele geleiten zu lassen ? Harmonie zwischen Ein- sicht und Wille ist schön; dehnt sich aber der Wille in eine Reihe von Handlungen aus, so haftet an diesen Plandlungen die Aufmerksamkeit nicht länger, sobald der Zuschauer die Regel des Fortgangs zu kennen glaubt; denn seine Empfänglichkeit für diese Auffassung ist nun gröfsten- theils erschöpft.* Das Langweilige zu vermeiden ist eine sehr nöthige, aber nur entfernte Bedingung des Schönen.

Natürlich sind nun die Versuche der Künstler, sich durch Ueber- raschung zu helfen; wohin ursprünglich auch die sogenannten Trugschlüsse der Musiker gehören. Allein einestheils ist nicht alle Ueberraschung an- genehm, vielweniger schön, wenn sie für das Erwartete, was versagt wird, ungenügenden Ersatz giebt; ja das Abschneiden der Erwartung artet leicht aus in Zerreifsen des Fadens der Gedanken, und dann ist das Kunstgefühl getödtet. Andemtheils, wenn auch die Ueberraschung auf's glücklichste so gewählt wird, dafs sie als das, was man allenfalls hätte er- warten können, mit dem Frühern in Verbindung tritt (wie die Auflösung eines guten Räthsels, von welcher hintennach Jeder gern bekennt, er hätte sie finden sollen); so ist doch der hiemit verbundene Reiz auf's erste Mal des Sehens oder Hörens beschränkt; anstatt dafs das Schöne un- vergänglich seyn, und auch als solches empfunden werden soll, wenn dessen Auffassung öfter wiederhohlt wird.

Was bleibt denn übrig, (möchte Jemand fragen,) wenn man die Er-

1 „Das" statt „was" II. Ausg.*

* Psychologie I, § 94. Das Genauere in der Abhandlung de attentionis mensura. [Bd. V vorl. Ausg.]

a SW. drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

I. Abschnitt. Elementarlehre. 9. Capitel. Von der schönen Kunst. 117

Wartungen weder geradezu befriedigen, noch täuschen soll? Die Antwort ist ziemlich leicht; man soll sie nur [135] nicht ganz, sondern dergestalt befriedigen, dafs sie sich von neuem spannen müsse. So löset der Musiker seine Dissonanzen nicht alle, und nicht durch vollkommene Schlüsse, bis am Ende. Allein das Genauere der Antwort ist dies: die einzelnen Handlungen bestimmter Personen sollen aus ihrem Charakter fliefsen, und in so fern nicht unerwartet seyn; ihr Zusammentreffen aber mufs in Schwierigkeiten verwickeln, die ein mannigfaltiges, unbestimmtes Erwarten aufregen; die Umstände müssen hinzukommen, damit die Begebenheit nicht gerade wider die Erwartung, (weit eher noch wider den Wunsch, wie im Trauerspiel,) sondern dergestalt gelenkt werde, dafs die im Einzelnen getäuschte Erwartung sich dennoch im Ganzen befriedigt finde.

Aber die Hauptfrage bleibt immer noch: worin liegt nun das Schöne der Handlung? Und diese Frage ist desto bedeutender, wenn man sich eiinnert, dafs bey weitem nicht immer, und nicht ganz, die Charaktere die Fundgrube für's Schöne seyn können.

Zuerst gehört hieher die Vorbemerkung, dals Raum und Zeit nicht zwey wesentlich verschiedene Formen unseres Vorstellens, sondern zu- sammengehörige, auf einerley Basis beruhende, oft in einander übergehende, ganz besonders aber, dafs sie nicht (wofür sie ausgegeben wurden) eigenthümliche Formen nur des Sinnlichen, sondern Formen der Ver- schmelzung unserer Vorstellungen überhaupt sind, und als solche vielfach wiederkehren, auch wo man sie gar nicht sucht.

So geschieht's denn oft, dafs am Ende eines Zeitverlaufs uns die Reihe der Begebenheiten in der Form eines Zeitraums erscheint; ein Wort, welches den Philosophen schon längst hätte Stoff zum Denken geben können. Dadurch aber verwandelt sich die Begebenheit selbst in ein Räumliches; sie nimmt Gestalt an, und diese Gestalt ist schön oder häfslich.

Rückwärts: jede Gestalt wird successiv durchlaufen; sie spannt Er- wartungen, und befriedigt sie; eben darum, weil [136] ihre Züge nicht gerade fortlaufen, wohl aber auf irgend eine Weise zusammengefafst werden.

So ist denn zwischen Zeichnung, oder, wenn man will, Plastik einer- seits, und der Handlung, ja der ganzen Beiuegung und Aufregung eines Schauspiels andrerseits, eine wesentliche Analogie vorhanden, welcher man nachgehn mag, um das Schöne in dem einen und dem andern zugleich zu ergründen; denn jedes erläutert das Andre, und sie stehen beide auf gleichem Boden. *

80. Mit den Situationen verhält sich's in der dramatischen Kunst ungefähr wie mit den Gütern im sittlichen Leben. Sind Tugend und Pflicht erst in Sicherheit, alsdann wäre es thöricht, innerhalb der ge- zogenen Gränzen den Genufs der Güter zu verschmähen. Eben so benutzt der Dichter mit Recht die Situationen, nachdem die Charaktere veststehn, und für die Handlung als für eine richtige und schone Zeichnung gesorgt ist, obgleich er nicht füglich Charaktere und Handlung darauf einrichten

Psychologie II. § 114. [Band VI vorliegender Ausgabe.]

1 1 8 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

kann, interessante Situationen zu erreichen. Er verschmäht nicht die Rührung, oder überhaupt die Gemüthsbewegung, die etwa darum aus ihnen entsteht, weil der Zuschauer schon Parthey genommen hat für und wider die Charaktere, und deshalb sein Mitgefühl einigen widmet, andern aber entzieht. Zwar das Gefühl ist nicht das ästhetische Urtheil, und das Rührende ist nicht das Schöne. Aber der Zuschauer soll auch nicht blofser Kritiker seyn. Er ist ein ganzer, ungetheilter Mensch, dem die Kritik sein richtiges Gefühl nicht misgönnen und verleiden darf. Darüber würde das Lyrische der Poesie und Musik seinen wahren Kern verlieren, welcher eben in der Mittheilung der Empfindung besteht, obgleich weder Poesie noch Musik bloße Lyrik ist.

In der Benutzung der Situationen zeigt sich recht eigentlich das praktische Talent des Dichters. Läfst er sie zu schnell [137] vorübereilen und auf einander folgen, so erkennt man nichts deutlich, nicht einmal die Contraste der Charaktere; daher alsdann sogar die wesentlichsten ästhetischen Elemente entweder im Dunkeln bleiben, oder, was nicht viel besser ist, nur durch allgemeine Begriffe gedacht werden, so dals man ein Skelett statt des Lebendigen erblickt. Die klassischen Werke dra- matischer und epischer Kunst entwickeln langsam eine Situation aus der andern; jede ' gleicht einer Bildsäule, und das Ganze einer mimischen Darstellung, welche in beständiger Verwandlung ein Bild aus dem andern entstehen läfst. Auch der Eindruck einer Reise in einer schönen Gegend kann damit verglichen werden, weil liier eine schöne Landschaft sich allmählig in die andre verwandelt. *

[138] Zehntes Capitel. Von der gelehrten Kunst.

81. Der praktische Mensch ist zwar in der Regel eben so wenig Gelehrter als Künstler, und seine Empfänglichkeit neigt sich noch weniger zur Gelehrsamkeit hin, als zur Kunst. Der Gelehrte steht ihm gegen- über als eine Person, welche Respect fordert, ohne denselben eigentlich erzwingen zu können, wenn man (wie sich's wohl trifft) etwa Lust hätte ihn zu versagen. Aber im Laufe des Lebens fehlt doch das Wissen

: Zur Vervollständigung dieses Capitels, und zu mancher Vergleichung, die nicht ohne Interesse seyn dürfte, kann Griepenkerls Aesthetik benutzt werden. ' Die Empfehlung des2 Buchs ist desto unbefangener, da gerade die Seite desselben, wodurch Hr. Professor Gr. sich dem Verfasser hat anschliefsen wollen, wenig Uebereinstimmung zeigen wird. Aber das Buch hat eine andere, sehr schätzbare, doch selten recht ge- würdigte, Eigenschaft Reinheit von falschem Glänze.

1 Statt der Worte: „Die Empfehlung . . . von falschem Glänze" hat die II. Ausg. P'olgendes: Übrigens geht Herr Professor Griepenkcrl damit um, seine neueren An- sichten bekannt zu machen.

2 SW „dieses" statt „des".

I. Abschnitt. Elementarlehre. 10. Capitel. Von der gelehrten Kunst. iig

bald hier bald dort; und Unwissenheit streift oft so nahe vorbey an Ungeschick, dafs die Gelehrsamkeit wenigstens unter den nützlichen Dingen einen Platz wieder gewinnt. Die nächste Folge ist, dafs man den Gelehrten wie ein lebendiges Lexicon gebrauchen will, und unge- halten wird, wenn man erfährt, er habe selbst allerley Lexica unter seinem Buch er vorrat h.

Hiemit wird schon erklärt seyn, was der Ausdruck: gelehrte Kunst, sagen soll. Zwar ist nicht unsre Meinung, das im Gedächtnifs bereit liesende Wissen als etwas minder Achtunsrswerthes zu bezeichnen: im Gegentheil, es wäre ohne Zweifel höchst envünscht, wenn man streng behaupten könnte: tantum scimus, quantum memoria tenemus. Da jedoch die Wissenschaften stets wachsen, ohne dafs die Köpfe gröfser werden, so hat man nicht Alles im Kopfe, sondern manches nur im Hause ; und es wird zur Kunst, den gelehrten Vorrath so zu kennen, dafs er sich nach Belieben finden lasse, ohne im Wege zu liegen.

[139] Im Grunde ist das Uebel, nicht Alles im Gedächtnifs zu tragen, so sehr grofs nicht, da man doch einmal nicht Alles in Gedanken oder im Bewufstseyn halten kann.*

82. Es liegt aber in dem Ausdruck gelehrte Kirnst noch etwas Mehr. Die Analogie mit schöner Kunst entdeckt das sogleich. Nicht eigentlich die Kunst selbst ist schön, sondern sie bringt das Schöne zur Anschauung. Dem gemäfs wird auch eine Kunst gesucht, die Gelehrsamkeit für den Em- pfänglichen, für den Liebhaber, zum Nutzen, zur Erhohlung, zur ange- messenen Beschäfftigung bereit zu stellen. Unzählige Schreibfedern wett- eifern hierin; und die Waare wird zu wohlfeil, als dafs dem Streben, wodurch allein sie zugeeignet werden kann, die rechte Spannung bliebe. Ueberlegen wir jedoch die Motive, welche im Stande sind, auch dem Geschäfftsmann das Interesse für Gelehrsamkeit lebendig zu erhalten, und gestehen wir was wahr ist!

Würden aus dem geselligen Verkehr die Zeitungen hinweggenommen, so möchte das Gespräch sich bald in sehr engen Kreisen der nächsten Angelegenheiten drehen. Der Geschäfftsmann würde nun aus dem weiten Gebiete der Gelehrsamkeit nur dasjenige sich aneignen, was eben zu seiner Arbeit behülflich seyn mag; und von seinem Standpuncte betrachtet, zerfiele die Gelehrsamkeit in viele, gröfsere oder kleinere, nützliche Bruch- stücke. Aber alle Welttheile sind in Berührung getreten; der Deutsche besonders nimmt von Allem Kunde. Geographie ist demnach von allen Wissenschaften die erste, die seinen Gesichtskreis erweitert.

Ihr folgt Geschichte. Der Erweiterung im Räume folgt die Frage, wie das Jetzige geworden ist, und aus welcher Vergangenheit man ver- suchen könne, die Zukunft zu errathen.

Von der Geographie ausgehend, gewinnt auch die Naturkunde einen ganz andern Umfang, als den sie des blofsen Nutzens wegen erreicht hätte.

[140] Etwas entfernter steht die Literatur. Ohne einige ästhetische Liebhaberey möchte sie sich dem Geschäfftsmanne nicht so leicht empfehlen.

* Psychologie I. § 47. [Band V vorl. Ausgabe.]

J20 II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1 .

Latein wird von einem alten Vorurtheil, mindestens einer alten Sitte, mehr als durch irgend ein andres Motiv, für die Jugend auch da, wo kein Universitäts-Studium folgen soll, im Gange erhalten; in spätem Jahren allermeist vergessen und nicht entbehrt.

Das Griechische bleibt dem Gelehrten, und gilt anderwärts für eine Plage. Mathematik wird die folgende Generation besser kennen, als die heutige.

83. Zur Vergleich ung setzen wir die Hauptklassen des Interesse her.*

Interesse

der Erkenntnifs : der Theilnahme:

empirisches, an Einzelnen,

speculatives, an dem Wohl der Gesellschaft,

ästhetisches. Religiöse Theilnahme an der

allgemeinen Abhängigkeit.

Könnte die Erziehung es erreichen, diese verschiedenen Klassen des Interesse, wie es eigentlich geschehen soll, bey der Jugend gleichmäfsig auszubilden : so würde man nicht nöthig haben, für die Erwachsenen die Motive zu gelehrten Beschäfftigungen von der Zeitung herzuhohlen. Denn die vorerwähnten Interessen sind sämmtlich unmittelbeir, und sie schliefsen zusammen eine solche Energie des Lebens in sich, dafs nach stärkern Antrieben zu suchen thöricht wäre.

Die gelehrte Kunst sollte eigentlich nur darin bestehn, sämmtlichen vorbenannten Interessen die Schätze des Wissens auf's angemessenste be- reit zu stellen.1 Und worin sonst haben denn grofse Schriftsteller sie2 gesucht? Der literarische Ehrgeiz hat kein andres, würdiges Ziel.

[141] Es heifst nun zwar der Erziehung zuviel zumuthen, dafs sie in Jedem, unabhängig von Naturanlagen, diese Interessen alle erwecken, vollends auf die Wege der gelehrten Befriedigung leiten solle. Die Erziehung einzelner Menschen ist niemals unabhängig; jedes Individuum steht mit seinen Eigenheiten und mit seiner Empfänglichkeit für äufsere Eindrücke, die man nur verspäten, nicht für immer vermeiden kann, dem Erzieher als eine Naturgewalt gegenüber, die er vergebens bestreitet. Aber eben weil die Naturen verschieden sind, läfst sich Anderes bey Anderen er-

* Pädagogik, im diitten Kapitel des zweyten Buches. [Bd. II vorl. Ausg.].

1 Hier schaltet die II. Ausg. das Folgende ein: „Der freye mündliche Vor- trag wäre für die Ausübung dieser Kunst der natürliche der wirkungs- reichste Anfang; die Feder würde ihm zuerst nachahmen, später ihn zu übertreffen, die Kunst mehr auszubilden suchen, ohne jedoch vom natür- lichen Zuge der Gedanken sich weit zu entfernen. Denn immer bleibt die Wärme des ursprünglichen Interesse die Hauptsache. Dies zu beleben, worin sonst ....

2 „die Kunst" für „sie" II. Ausg.a

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

I. Abschnitt. Elementarlehre, io. Capitel. Von der gelehrten Kunst. 12 I

reichen, und die Gesammtwirkung der Erziehung mufs immer die Ge- sammtheit jener Interessen bleiben.1

84. Schon oft haben wir uns veranlafst gefunden, auf die psycho- logische Lehre von den verschiedenen, entweder zugleich oder abwechselnd wirksammen, Vorstellungsmassen zurückzugehn. Man könnte glauben, die eben vorgelegte Unterscheidung der Hauptklassen des Interesse weise eben dahin. Allein das würde ein nachtheiliger2 Irrthum seyn, 3 welcher mufs entfernt werden. Keinesweges beschränkt sich eine bestimmte Vorstellungsmasse auf eine besondere Klasse des Interesse, sondern jede solche Masse kann mehr- fach interessiren; und es gehört beym praktischen Menschen zu den sehr fehlerhaften4 Einseitigkeiten, wenn sein Interesse nicht vollständig der Natur des Gegenstandes entspricht. Denn die Erweiterung seines Gesichts- kreises über die, für sein Geschafft gerade nöthigen, Kenntnisse hinaus, welchen Zweck kann sie haben ? Keinen andern als den, die Energie seines geistigen Lebens zu vermehren. Wir müssen dies mehr entwickeln.

1. Was die nöthigen Geschäfftskenntnisse anlangt: so stehn sie, da sie blofs als Mittel zur Geschäftsführung betrachtet werden, unter dem Gesetz aller Mittel: Je einfacher, desto besser. Mit Wenigem Viel aus- zurichten, ist löblich. Mit unnützem Wissen den Kopf zu beladen, ist gar nicht rathsam für die Praxis. Aber

[142] 2. Ganz anders verhält sich's mit solchem Wissen, welches un- mittelbar interessirt. Dies ist nicht Last, sondern Kraft; denn vom Interesse des Menschen geht seine Thätigkeit aus; und pafst diese Thätigkeit für ihn nicht ins Geschafft, so pafst sie in die Erhohlung, wodurch die Kraft vermehrt wird; während schlechte Arten der Abspannung, wie Derjenige oft sucht, der keine würdige Erhohlung kennt, die Kraft erschöpfen.

3. Dies ist besonders wichtig bey einem Leben voll von Glücks- wechseln, denen sich jeder Sterbliche ausgesetzt sieht. Wer viel gelernt hat, das ihn unmittelbar interessirt, der findet geistigen Ersatz bey geistigem

1 Zu „bleiben" hat die II. Ausg. folgende Anmerkung:

Die Ordnung, worin die verschiedenen Klassen des Interesse sieh hier zusammen- gestellt finden, ist der Pädagogik entlehnt worden, Davon absehend könnte man wegen der Unterordnung des Aesthetischen unter die Erkenntnifs Zweifel erregen. Zwar ist alles Aesthetische objectiv; aber es haftet nicht an der Realität des Gegenstandes, der immerhin ein blofses Gedankenbild seyn darf; auch wird die Erkenntnifs des Gegen- standes in Hinsicht dessen, was er an sich ist, nicht durch ästhetische Beurtheilung gewonnen. Allein hier wird vom Interesse gesprochen ; dieses entwickelt sich auf An- lafs gegebener Gegenstände; es geht aus von der Kenntnifs dieser Gegenstände. Wir wollen also nicht das Aesthetische der Erkenntnifs subsumiren; wohl aber betrachten wir das ästhetische Interesse als ein solches, dessen Erweckung im Kreise derjenigen Darstellungen liegt, welche zunächst Erkenntnisse vermitteln. Anders würde es sich verhalten, wenn von demjenigen Interesse die Rede wäre, welches der producirende Künstler empfindet.»

2 „nachtheiliger" fehlt in der IL Ausg.

3 Der Satz: „welcher mufs entfernt werden" fehlt in der II. Ausgabe.

4 „sehr fehlerhaften" fehlt in der II. Ausg.a

a S\V. drucken nach der II. Ausg. ohne die Abweichung der I. Ausg. an- zumerken.

122

II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

Leiden; während einseitige Gelehrsamkeit, wofür der Markt nicht gerade bequem ist, ihren Besitzer drückt.

4. Der Werth des Wissens steigt, wenn dessen unmittelbares Interesse wächst; er fällt, wenn dasselbe beschränkt wird; und fällt um so mehr, wenn dies Wissen in dem Gedränge der verschiedenen Vorstellungen dem Nöthi- geren den Platz im Bewufstseyn und die Zeit im Gebrauche streitig macht.

5. Das unmittelbare Interesse vermag nicht blofs intensiv stärker zu werden, sondern oft kann es auch der Art nach mannigfaltig seyn. Da dieses der Tunct ist, von dem wir ausgingen, so wollen wir um so mehr ein ausgezeichnetes Beyspiel aufstellen. Das Studium der Geschichte interessirt erstlich empirisch, ' durch blofse Mannigfaltigkeit und Abwechselung. Prag- matische Geschichtsforschung interessirt zweytens speculativ, durch Nach- weisung des Nothwendigen im Zusammenhange der Begebenheiten. Dichtern und Künstlern ist drittens die Geschichte eine Fundgrube ästhetischer Verhältnisse; eben diese nutzt jeder tüchtige Geschichtschreiber zur an- ziehenden Darstellung. Aber das Anziehende liegt viertens noch mehr in der Sympathie mit Leiden und Freuden der historischen Personen. Auch dieses wird fünftens noch überboten [143] durch das gesellschaft- liche Interesse, welches die Schicksale ganzer Nationen und Staaten ein- flöfsen. Und endlich sechstem hat wohl noch nie ein tüchtiger Geschichts- kenner gelebt, der nicht vielfach aus dem irdischen Gedränge nach Oben geblickt hätte, getrieben von der Sehnsucht nach Trost und Hoffnung.

Allen sechs Klassen des Interesse also gehört die Geschichte an. Und in jeder Vorstellungsmasse, die auch nur Eine irgend bedeutende historische Partie umfafst, mufs dieses sechsfache Interesse lebendig seyn. 1 Sonst fehlt etwas an der Art der Auffassung.

85. Umgekehrt vermag Einerley Interesse sehr viele und verschiedene Vorstellungsmassen zu durchlaufen und in Verbindung zu setzen. Dies zeigt jede°weitläuftige gelehrte Nachforschung. So knüpft sich das philo- logische Studium an das historische; so wird Grammatik und Metrik studiert, weil man gewisse Auetoren lesen will. Und wiederum: wenn Jemand' sich unmittelbar für Metrik interessirt, so studirt er ihrentwegen2 die Schriftsteller, welche ihm verschiedene oder ähnliche Versmaafse darbieten.

Die Zeitungen beleben vorzugsweise die Unterhaltung; und für die Unterhaltung ist das ganze Conversations-Lexicon geschrieben worden. Niemand wird ein tieferes speculatives, ästhetisches, religiöses Interresse dahinter suchen. Das Wesentliche in dem bändereichen, vielgebrauchten Werke ist das empirische und nebenbey das sympathetische und gesell- schaftliche Interesse.

Für den praktischen Menschen ist es, in Beziehung auf den für ihn wünschenswerthen Antheil an der Gelehrsamkeit, äufserst2 wichtig, dafs er

1 Die Worte: „Sonst fehlt etwas an der Auffassung" fehlen in der

II. Ausg.*

2 „äufserst" fehlt in der II. Ausg.b

a u. b SW. drucken nach der IT. Ausg.. ohne die Abweichung der I. Ausg.

an7.umerken.

a SW „ihrerwegen" statt „ihrentwegen".

I. Abschnitt. Elementarlehre. 10. Capitel. Von der gelehrten Kunst. 123

sich über diese Verknüpfung des Wissens mit seinem wahren, unmittel- baren Interesse so genau als möglich Rechenschaft gebe. x Sonst verirrt er sich auf den weiten Feldern des Wissens, und verdirbt sich nicht blofs Zeit, sondern auch, was mehr ist, Lust und Kraft.

[144] 86. Nach der alten2 Lehre von den Seelenvermögen würde man vermuthen müssen, dafs dieselben, durch irgend ein bestimmtes Interesse einmal in Thätigkeit gesetzt, nicht eher ruhen könnten, als bis sie alle Gegenstände des Wissens von der Seite eben des nämlichen Interesse ergriffen hätten. Oder mindestens, das jeder demselben dargebotene Gegenstand, welcher dazu geeignet wäre, auch als passende Nahrung da- für würde angenommen, angeeignet, verabredet werden, Also das em- pirische Interesse, welches einmal Botanik gekostet hätte, würde nun auch die alten Sprachen schmackhaft finden; den Bildhauer würde sein ästhe- tisches Interesse zur Musik, desgleichen den Mathematiker würde sein speculatives Interesse zur Metaphysik, den Metaphysiker zur Mathematik führen. Das ist aber gerade so sehr wider die wahre Psychologie, als wider die Erfahrung. Nur in bestimmten Vorstellungsmassen erzeugen sich die ihnen angemessenen Interessen; und in ihnen auch liegt die Kraft, womit die zu ihnen passenden Kenntnisse und Beschäfftigungen gesucht werden. Den Sprachkenner interessiren Sprachen; den Botaniker inter- essirt Geographie, sofern sie mit der Pflanzenkunde zusammenhängt. Die Verknüpfungen der Gegenstände sind es, denen das Interesse nachgeht, um zu jedem einmal mit Eifer ergriffenen Studium die Hülfswissenschaften zu suchen. So mag der Bildhauer wohl Anatomie studiren, nämlich als Mittel zu seinem Zwecke; aber höchst zufällig ist's, wenn das zwiefache ästhetische Interesse für Plastik und für Musik sich in Einer Person bey- sammen findet. 3Der allgemeine Begriff des ästhetischen Interesse vermag hier eben so wenig, als das eingebildete Seelenvermögen, genannt Geschmack, oder ästhetische Urtheilskraft , eine wirkliche Kraft in der menschlichen Seele ist. Irrthümer dieser Art würden dem praktischen Menschen so- gleich schädlich werden, wenn er sich ihrer Leitung auch nur im gering- sten überliefse; und wirklich sind sie schädlich genug gewesen.

[145] 87. Die Verknüpfungen dessen, was unmittelbar interessirt, mit vielem Andern, was als Hülfsmittel in Bezug auf jenes ein mittelbares Interesse hat, durchkreuzen sich auf's mannigfaltigste, wenn man alle Liebhabereyen mit in Betracht ziehn will, wodurch Jemand sich an Gegenstände hängt, welche für die grofse Mehrzahl gleichgültig scheinen. Denn kaum wird man irgend einen möglichen Gegenstand des menschlichen Wissens nennen können, der nicht hie und da seinen Liebhaber fände, das heifst, einen Solchen, welcher für ihn sich unmittelbar interessirt.

Die gelehrte Kunst kann daher höchst mannigfaltig seyn, indem ihre

1 Der Schlufssatz: „Sonst verirrt . . . Lust und Kraft" fehlt in der II. Ausg.

2 „alten" fehlt in der II. Ausg.*

3 Der folgende Schluß von 86: „Der allgemeine Begriff . . . schädlich genug gewesen" fehlt in der II. Ausg.

a SW drucken nach der II. Ausg., ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

J24 IL Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

b

Darstellungsweise sich dem verschiedenen Zuge der Interessen dienstbar beweiset, und in einem Falle als Hauptgegenstand hervortreten läfst, was in tausend andern Fällen als unbedeutende Nebensache tief in den Hinter- grund treten mufs. Aber im Allgemeinen wird sie desto mehr Dank ver- dienen, je mehr sie, von seltenen und zufälligen Liebhabereyen sich ent- fernend l und alles zudringlichen Anpreisens des in der Regel Gleich- gültigen sich enthaltend, jedes Einzelne an seinen Ort dergestalt hinsetzt, dafs, wer es sucht, es leicht finden und gebrauchen könne. Dabey ver- steht sich von selbst, dafs für den eigentlichen Gelehrten nichts von dem, was sich auf sein Fach bezieht, geringfügig genug sey, um ganz weggeworfen zu werden.

Es kann nicht fehlen, dafs in diesem Bemühen, für Jedes den rech- ten Ort zu bestimmen, wo man es suchen und finden könne, sich die logischen Gattungsbegriffe als Richtschnuren gelten machen. Der Vorrath soll geordnet werden; die Anordnung geschieht nach den Aehnlichkeiten und Verschiedenheiten. So entstehen aber Verknüpfungen, die vom natür- lichen Zuge der Interessen weit abweichen, So kommt zum Beyspiel die Plastik nicht in Verbindung mit der Anatomie; sondern in der Aesthetik, welche von aller schönen Kunst zu handeln verspricht, begegnen Musik und Plastik einander als Nachbarinnen, so unwahrscheinlich es auch ist, dafs der Tonkünstler zugleich Bildhauer seyn werde, und umgekehrt. Wer [146] nun Bücher studirt, oder Vorträge anhört, bey dem rechnet man auf gelehrten Fleifs, welcher den natürlichen Trieb des Interesse wohl er- setzen werde. Aber hiemit entfernt man sich aus der Sphäre des prak- tischen Menschen; und eben deswegen stehn ihm Bücher und Gelehrte als etwas Fremdes gegenüber.

88. Nicht ganz selten jedoch findet man auch bey dem praktischen Menschen eine solche Offenheit des Blicks, und eine so bewegliche Auf- merksamkeit, dafs, indem die Gelehrsamkeit ihm als ein Ganzes vorschwebt, er nichts Einzelnes herausnehmen, nichts von seinem Interesse ausschliefsen mag, sondern alles zu umspannen wünscht. Die nächste Folge ist, dafs ihn die Umrisse der Wissenschaften beschäfftigen ; ein Anfang des specu- lativen Interesse, während das empirische sich mit den Einzelheiten begnügt.

Der nämlichen Offenheit des Blicks und des Aufmerkens liegt aber auch die Natur einladend vor Augen ; und hiemit der Gegensatz zwischen unserm Wissen und Nicht -Wissen, sammt den mancherlei Wegen, auf welchen die Bemühungen fortschreiten, um unser Wissen zu erweitern. Die Umrisse der Wissenschaften erscheinen demnach nicht durchgehends als vest bestimmt, sondern als veränderlich im Laufe der Zeit durch die gelehrten Arbeiten. Dies gilt besonders den heutigen Naturwissenschaften, welche Beobachtung auf Beobachtung, Entdeckung auf Entdeckung häufen; mit dem rühmlichsten Fleifse, dem es recht angenehm ist, dafs' die Natur

1 Die folgenden Worte: „und alles zudringlichen Anpreisens des in der Regel Gleichgültigen . . . sich enthaltend" fehlen in der II. Ausg.»

a SW drucken nach der IL Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

i. Abschnitt. Elementarlehre. II. Capitel. Von der Staatskunst. 125

sich niemals will erschöpfen lassen, sondern ihm für eine Arbeit, die er geendigt hatte, immer zehn neue Aufgaben stellt.

Hier aber erhebt die Metaphysik ihre Stimme. Sie erklärt Alles, was Erfahrung darbietet und zu entdecken gestattet, für blofse Erscheinung.

Die Naturforscher pflegen nicht zu widersprechen, wohl aber sich auf blofse Erscheinung zu beschränken, und dem praktischen Menschen einzuprägen, man bedürfe zum Behuf der nützlichen Künste nichts weiter. Ob sie auch Arzneykunst und Erziehungskunst und Staatskunst zu den nützlichen [147] Künsten rechnen? das mufs man nach solcher Erklärung billig bezweifeln. Denn diese Künste wenigstens, die sich mit dem Lebenden beschäftigen, möchten wohl alle Ursache haben, sich mit blofser Erschei- nung des Lebens nicht zu begnügen.

Offenbar ist es den rüstigen Erweiterern der menschlichen Kenntnisse, die sich zu den gefährlichsten Experimenten und Reisen willig hergeben, mit der freywilligen Beschränkung auf blofse Erscheinung eben so wenig Ernst, als die Fürsorge für das Gedeihen der blofs tiützlichen Künste die wahre Triebfeder ihrer Arbeiten ausmacht. Die etwas düstere Geschichte der Metaphysik ist's, was sie schreckt; und sie haben vor der Zeit den Muth verloren, weil sie mit metaphysischen Problemen nicht umzugehn wissen.

Dieser üble Umstand aber dürfte bis jetzt noch auf die gesammte gelehrte Kunst einen beschränkenden Einfiufs ausüben.

[148] Elftes Capitel. Von der Staatskunst.

89. Wir können uns hier weit kürzer fassen, als die Wichtigkeit des Gegenstandes mag erwarten lassen; da es nur darauf ankommt, zwey sehr verschiedene, anderwärts geführte Untersuchungen in die gehörige Verbin- dung zu setzen. Selbst dazu ist schon (im sechsten Capitel) die Vorberei- tung gemacht, so wie hinwiederum das Nächstfolgende dem Späteren vor- arbeiten wird.

Wo auf Einem Boden menschliche Kräfte und Interessen wider ein- ander wirken, da findet sich allemal und nothwendig der vierfache Unter- schied der Dienenden, Freycn, der Angesehenen, und Herrschenden, in dem oben angegebenen Sinne (50), sobald die Menschen unter einander ins Gleichgewicht ihres gegenseitigen Wirkens getreten sind.* Aber die Menschen wirken nicht blofs wider einander, sondern durch Sprache, Um- gang, Sitte, Gewöhnung, verschmelzen sie reihenförmig mit einander; indem Jeder seine Bekannten hat, diese wiederum ihre Bekannten, die letztern abermals die ihrigen haben, und so fort. Jede solche Reihe, und jedes Gewebe von Reihen hat eine eigenthümliche Reizbarkeit,*5 welche der

* Psychologie, in der Einleitung zum zweyten Bande, wo von der Statik und Mechanik des Staats gesprochen wird. [Band VI vorl. Ausgabe.] ** Ebendaselbst.

p^ II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

besonnene Staatsmann wohl kennt, und womit unnöthige und gefährliche Experimente zu machen er sich wohl hütet.

[149] Dieses erhält nähere Bestimmungen zunächst durch die Gesell- schaften, welche auf dem gegebenen Boden der Staat nicht stiftet, sondern vor- findet, oder sich fortwährend neu erzeugen sieht, alsdann aber anerkennt und bekräftigt. Dahin gehören zu allererst die Ehen und die Kirchen (39.). Durch die Wohlthat des Christenthums werden diese beiden Arten der Gesellschaft auch den Dienenden zu Theil, welche an sich vereinzelt stehn würden, o-erade so, wie Vorstellungen unter der Schwelle des Bewufst- seins.* Man denke an die Sklaven der Alten. Es darf hier nicht ver- gessen werden, dafs die Kirchen sich nicht auf die Gränzen eines Staats beschränken, so wenig als einerley Kirche dieselben ganz auszufüllen pflegt.

Eine andre, von jenen weit verschiedene, aber gleichfalls nicht von Einem innerhalb des Staats gelegenen Puncte aus gestiftete, sondern theil- weise und allmählig entstandene Gesellschaft ist die Rechtsgesellschaft in so fern, als sie die Vertheilung der Güter betrifft. In der Regel nämlich ist jeder Eigenthümer als solcher anerkannt von seinen Nachbarn, mögen nun diese in einem engern, mehr geschlossenen Kreise einer Stadt, einem Dorfe, bevsammen wohnen, oder mag in einer nicht genau begränzten Gegend der Eigenthümer und sein Gut bekannt seyn.

So kann es noch mehrere Gesellschaften auf Einem Boden geben. Die Seele einer jeden ist der gemeinsame Wille, der ihren Zweck vestsetzt. Der Begriff des Gemeinwillens erfordert, dafs kein Einzelner allein den Zweck wollen könnte, sondern die Möglichkeit seines, auf diesen Zweck gerichteten, Privatwillens als bedingt ansehn mufs durch den Verein. Wie wenn Mehrere zu einer Seereise auf Einem Schiffe verbunden sind, wel- ches keiner allein zu lenken sich auch nur einfallen lassen könnte.

Aus einem solchen Gemeinwillen folgen die Formen von selbst. Es ist ungereimt, die Form einer Gesellschaft als willkührlich anzusehn ; denn wer den Zweck [150] will, der will auch die sichersten und bequemsten Mittel, so- fern dieselben übrigens tadelfrey sind.

Ferner beruht das Recht innerhalb einer jeden Gesellschaft auf der Uebereinkunft eines Jeden mit Allen, ohne dafs darum der Vertrag als willkührlich anzusehn wäre. Die Kirche ist Bedürfnifs; Streit wegen der Güter soll nicht seyn, u. s. f.

90. Für die gesammte Geselligkeit auf einem gegebenen Boden giebt es nun zwar eine wichtige, wenn auch in einzelnen Puncten mangelhafte, Bürgschaft durch die in jedem bestimmten Zeitpuncte abgelaufene Ge- schichte. Denn damit hängen Sitten, und besonders Erinnerungen zu- sammen, die sich weder schaffen noch umschaffen lassen, und die weit stärker wirken, als ein wörtlicher Vertrag zu wirken pflegt. Allein bey der grofsen Veränderlichkeit der Menschen bedarf dennoch jede Gesellschaft, so wie jeder Einzelne, eines Schutzes durch Macht.

Nun kann auf Einem Boden nur Eine Macht sich thätig äufsem.

* Psy< Ixilogie I. §. 57.

I . Abschnitt. Elementarlehre. 1 1 . Capitel. Von der Staatskunst. 127

Mehrere würden sich stören, anfeinden, mindestens einander das Vertrauen schmälern.

Der Herrschende, welcher nicht fehlen wird, wenn das Gleichgewicht der Kräfte eingetreten war, mufs also von allen Seiten des Schutzes wegen angerufen werden.

Hiemit besteht der Staat, dessen Zweck durch die mancherley ge- selligen Kreise, die er vorfindet, gegeben ist; obgleich wegen der Frage: ob alle diese Gesellungen zugleich geschützt werden können? ob sie sich in Ein System verbinden lassen? noch manche Modificationen nöthig werden mögen.

91. Um nun die Gefahr leerer Abstractionen zu beseitigen: denke man in den Staat die gesammten nützlichen, schönen und gelehrten Künste hinein, mit allem Verkehr, den sie in Bewegung setzen. So wird sich finden, dafs im Kreise der Freyen die Wurzeln der Geselligkeit liegen, an welcher die Dienenden nur in so fern, als es ihnen erlaubt wird, das [151] heifst meistens, in sofern man sie zur Arbeit brauchbar findet, einen Antheil bekommen. Die Angesehenen dagegen haben ursprünglich am wenigsten geselligen Geist. Das Ansehn isolirt die Person; denn sie gilt schon etwas für sich allein, sie braucht sich nicht anzuschliefsen. Zwischen einem Angesehenen und dem andern spannt sich eine Feder; denn jeder behauptet dem Andern gegenüber seinen Platz. Daher unter Gebildeten die sorgfältige Beobachtung der Höflichkeit, welche den Ver- dacht abwenden soll, man könnte einander zu nahe treten. Daher die mancherley sichtbaren Abstufungen des Ranges, wodurch der Grad des zugestandenen Ansehns abgemessen wird. Derjenigen Geselligkeit aber, welche unter den Freyen vorhanden ist, streben die Angesehenen eine Form zu geben, die ihnen vortheilhaft ist, welches ihnen nach Verschiedenheit der Umstände mehr oder weniger gelingt.

Weit weniger Willkühr bleibt dem Herrscher. Er fügt nothwendig zu den vorhandenen Formen der Gesellschaft eine neue hinzu; denn ihn zunächst trifft die Geiahr des Angriffs äufserer Feinde; besonders jetzt, da zu den üblichen Künsten und Kniffen des Angriffs auch diejenige ge- rechnet wird, den Unterthanen zu erklären, man führe den Krieg nicht gegen sie, sondern nur gegen den Herrn; welchen sie nur zu wechseln brauchten, um glücklicher zu seyn als zuvor. Die nothwendige Wachsam- keit des Herrn treibt ihn demnach, dem Ganzen der Gesellschaft soviel Kriegsmacht abzugewinnen als nur möglich, oder wenigstens als irgend zweckmäfsig erscheint.

Auiserdem ist eine natürliche Spannung vorhanden zwischen dem Herrn und den Angesehensten neben ihm, die nur dann unmerklich werden kann, wenn er sich durch jede Art des Uebergewichts vor ihnen sicher weifs. Im Gegenfalle sind die freyen Bürger seine natürlichen Bundesgenossen. Der Wirkung dieses Verhältnisses aber können die An- gesehenen sich sehr leicht entziehen, wenn sie, deren Bewegung über- haupt die ungebundenste ist, sich als Wächter aller Rangstufen, mithin auch als Stützen des Throns, darstellen.

[152] 92. Von den Umständen, welche das Gesagte bis zur Un- kenntlichkeit abändern können (wie wenn der Herrscher fällt, und die

I2g II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

Angesehenen seinen Platz nicht wieder besetzen wollen; oder wenn Colonien aus schon gebildeten Ländern an Gesetzen und Sitten hinreichende Stützen der Ordnung zu besitzen glauben; oder wenn der Boden so weiten Raum darbietet, dafs die Reibung der Menschen nicht heftig werden kann; oder endlich wenn ein starkes gemeinsames Interesse, etwa des Handels, oder äufserer Gefahr, die Verbindung weit mächtiger werden läfst, als die Reibung): von allen solchen Umständen ist hier nicht der Ort zu reden. Dagegen mufs bemerkt werden, dafs, wie vollständig auch die natürliche Gestaltung des Staats verwirklicht und erhalten seyn mag, sie doch niemals das reine Resultat der eben jetzt lebendigen Kräfte seyn kann, sondern allemal ein Residuum früheren Erwerbs, früheren Ansehns, früherer Meinungen, Sitten und Formen mit in sich schliefst. Das alte macht sich zugleich ehrwürdig und unentbehrlich, und bevor es den dringensten Verbesserungen im Einzelnen unterworfen wird, hat schon Anderes, das einst neu hiefs, den Rost der Jahre erlangt; so dafs niemals die Zeit kommt, wo das Ganze des Staats neu wäre, und den gegenwärtigen Antrieben vollkommen entspräche.

Hier wird Jedem einfallen, dafs nicht immer die nächste Vergangen- heit zur Stütze der Gegenwart taugt, sondern dafs es auch Perioden der Erschütterung giebt, welche den Staat aus den Fugen bringen, und ihn in eine Lage setzen, worin er nicht bleiben kann.

93. Dem gemäfs zerfällt die Staatskunst in die wiederherstellende, erhaltende und verbessernde.

Die wiederherstellende erfordert einen richtigen Blick für dasjenige Gleichgewicht, worin die Kräfte werden Ruhe finden können. Ihre erste Bedingung ist, dafs die Gegenwirkung der Menschen unter einander in die Gränzen des Unvermeidlichen zurücktrete; dafs die aufgeregten Ge- müther sich besänftigen, indem die Bestrebungen auf die wahren Bedürf- nisse zu[i53]rückgewiesen und diese befriedigt werden. Alsdann folgt die zweite Bedingung, alle Verbindungen dergestalt enger zu knüpfen, dafs daraus keine überwiegenden neuen Spaltungen hervorgehn. Endlich mufs einzelnen Unruhstiftern Einhalt gethan werden.

Dabey entsteht allemal die Frage, was, und wieviel wiederhergestellt werden könne. Hat das System der Kräfte in der Gesellschaft sich gegen eine frühere Zeit wesentlich verändert; ist das Verhältnifs der Dienenden, der Freyen, und der Angesehenen nicht mehr das nämliche wie in einer frühern Zeit: so hilft kein eigensinniges Zurückrufen der alten Formen. Und selbst das oft gebrauchte Mittel, dem Gemeingeiste neue Gegenstände zu zeigen, um ihm neue Richtungen abzugewinnen, (etwa durch aus- wärtige Kriege,) ist nur ein Palliativmittel. Dals ein Staat, wie der alte römische, oder auch Frankreich unter Napoleon, vermöge beständiger Ge- fahren und Siege eine künstliche Dauer erlangt, ist Täuschung über die inneren Gebrechen.

Bevor von der erhaltenden und verbessernden Staatskunst gesprochen wird, mufs an die praktischen Ideen erinnert werden.

94. Bekanntlich pflegt auf die Idee des Rechts allein, oder doch vorzugsweise, die Staatslehre gegründet zu werden; ein grofser Fehler für Theorie und Praxis zugleich. Denn erstlich ist das Grundverhältnifs

I. Abschnitt. Elementarlehre. II. Capitel. Von der Staatskunst. I2Q

zwischen Dienenden, Freyen, Angesehenen und Herrschenden, sammt den Bewegungen und Verbindungen des Verkehrs, überall gar kein Ausflufs irgend einer Idee, sondern das Werk einer psychologisch zu erörternden Nothwendigkeit. Zweytens haben zwar allerdings die praktischen Ideen, in so weit sie in den Gemüthern lebendig werden, ebenfalls eine sehr grofse Gewalt in der wirklichen Welt; aber einestheils ist diese wirkliche Macht nach dem Zeitgeiste veränderlich, (nicht weil die Ideen, sondern weil die Menschen sich ändern,) anderntheils gewinnt nicht blofs die Rechts-Idee eine Gewalt, sondern alle Ideen werden bey [154] wachsender Bildung mächtiger. Das Christenthum hat der Idee des Wohlwollens grofsen Einflufs geschafft; die Idee der Vollkommenheit macht sich Bahn durch Kriegsruhm und durch die Künste; die Idee der innern Freyheit regt sich mit der Vaterlandsliebe, und verräth sich durch alle die lobenden und tadelnden Zeugnisse, welche eine Nation sich selbst giebt, indem sie sich als Ein Ganzes, als eine moralische Person betrachtet und beurtheilt. Dafs hieraus die abgeleiteten Ideen des Verwaltungs-Systems, des Cultur- Systems und der beseelten Gesellschaft entspringen, ist schon oben er- wähnt (52.), in der praktischen Philosophie aber ausführlich und genau1 auseinander gesetzt worden.

Ebendaselbst ist eine Untersuchung über die natürliche Haltbarkeit der von den Ideen geforderten gesellschaftlichen Systeme, falls dieselben in die Wirklichkeit eintreten, geführt worden.* Es hat sich daraus er- geben, dafs die Rechtsgesellschaft, nebst dem mit ihr verbundenen Theile des Lohnsystems, durch sich selbst am beständigsten, das Verwaltungs- system am wandelbarsten, das Cultursystem theil weise kräftig, aber andern- theils grofsen Fehlern unterworfen, die beseelte Gesellschaft hingegen unter günstigen Umständen fähig ist, einen erhabenen Schwung zu nehmen, wodurch sie jenen Systemen allen zugleich Leben und Stärke giebt. ^Am angeführten Orte nun mufs diese Untersuchung nachgesehn werden; die Folgen daraus lassen sich hier nur kurz andeuten.

95. Von der erhaltenden Staatskunst versteht sich zuvörderst von selbst, dafs sie keinen Schritt thun darf, ohne die nach psychologischen Gründen vorhandene Nothwendigkeit des Gleichgewichts und der Be- wegung in der Gesellschaft zu berücksichtigen. Hieher gehört gerade Alles das, was einsichtsvolle Staatsmänner ohne Theorie, aus blofsem praktischen Blick, der, wie sie meinen, sich nicht lehren und lernen läfst, wirklich thun; hier gehen sie der wahren Psychologie [155] voran, so wie oftmals die Kunst der Wissenschaft voraneilt, ohne sich von ihrem Thun eigentlich Rechenschaft geben zu können. Wo solcher richtiger Tact nicht vorhanden ist, da werden oft der Gesellschaft gewaltsam die Glieder aus- gerenkt, wenn schon in der besten Absicht; oft auch bleibt die Gesell-

1 „ausführlich und genau" fehlen in der II. Ausgabe, a

* Praktische Philosophie, im sechsten Capitel des zweyten Buchs. [Band II vorl. Ausg.]

2 Die folgenden Worte: „Am angeführten Orte .... nachgesehn werden" fehlen in der II. Ausg.b

a u. b SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg. Herbart's Werke. IX. 9

tiq II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1 .

schaff, wie ein Schiff ohne Steuermann, dem guten oder schlechten Wetter überlassen.

Aber die erhaltende Staatskunst soll nicht blofs der Noth dienen, sie soll auch das vorhandene Gute erkennen und schützen. Hat sie nun schon einige Mühe, den rechtlichen Zustand durch die Justiz und Polizey un- beschädigt zu erhalten: so findet sie noch weit mehr Schwierigkeit bey allen wohlthätigen Einrichtungen, die zum Verwaltungssystem gehören. Denn hier sollte ihr das allgemein verbreitete Wohlwollen als National- Gesinnung entgegenkommen. Theils aber fehlt die Gesinnung selbst, trotz allen Ermahnungen der Kirche; theils auch mangelt die Erkenntnifs, wie, und mit welcher Zuverlässigkeit die Opfer, welche dem Einzelnen für das allgemeine Wohl zugemuthet werden, zu diesem Ziele treffen werden. Ferner wird es der Staatskunst zwar im Gänzen leicht, die nützlichen, schönen und gelehrten Strebungen und Künste zu fördern, in so fern sich diese Künste mehr und mehr ausbreiten, spalten, und vereinzeln; allein dabey pflegt die Einheit, worin alle diese Strebungen sich gegen- seitig unterstützen sollten, zu leiden; und es ist schwer, das System derselben gegen die schädlichen Folgen der Eifersucht zu beschützen. Dahin ge- hört die ganze Frivolität des Zeitgeistes; das ganze Streben nach eitlem Glänze, worin es Einer dem Andern zuvorthun will; das athemlose Treiben, Drängen, Rennen des zügellosen Luxus, was einer verkehrten Staatswirth- schaft wohl gar willkommen zu seyn pflegt, während der Moralist ver- gebens dagegen eifert. Endlich hat gerade deshalb die Staatskunst Mühe, der Nation den richtigen Tact des Ehrgefühls zu erhalten; während eine böse Politik es leichter dahin bringt, die Nation durch Phantome eines falschen (oft kaufmännischen oder militärischen) Ehrgeizes zu verführen. [156] Umgekehrt: wenn einmal achtes Selbstgefühl im Gemeingeist eines Volkes lebendig ist, dann mufs die erhaltende Staatskunst diesen gröfsten aller Schätze vor allem Andern hüten; dadurch kann, was irgend einen Werth hat, gewonnen werden.

96. Ganz ähnliche Grundsätze gelten nun auch für die verbessernde Staatskunst. Aber hier ist, wo möglich, der vorige Unterschied noch wichtiger, um zu wissen, was man wolle.

Veränderungen können nothwendig werden, ohne Verbesserungen zu seyn. Denn zu allererst kommt hier wiederum jene psychologische Noth- wendigkeit in Betracht. Jeder Staatsmann weifs, dafs nicht Ein Staat sich so regieren läfst wie der andre. Wie nun, wenn der eigne ein andrer wird? Wenn die alten Formen nicht mehr passen wollen, so mufs man sie zeitgemäfs abändern. Dieses Müssen ist ganz verschieden von dem Wunsche, das Bestehende zu veredeln. Der kluge Staatsmann wird oft den Umständen nachgeben, auch wenn er weifs, das Neue sey nicht das Bessere. Wenn nun die Menge sich, wie so oft geschieht, an dem Neuen ergötzt, so ist das eine leidige Täuschung, die wenigstens nicht in die bleibenden moralischen Maximen darf aufgenommen werden. Eine Anleihe, die gemacht wird, mit der Absicht, die Schuld dereinst, wo möglich, zu tilgen, darf ohne Zweifel nicht mit reinem Gewinn verwechselt werden.

Unter den Gegenständen, worauf die wahre Verbesserung kann ge- richtet seyn, mögen drey Puncte als die wichtigsten hervortreten: die

r. Abschnitt. hlementarlehre. II. Capitel. Von der Staatskunst. r?i

Vertheilung der Güter, die Ausbreitung der Einsichten, und die Bürg- schaft gegen Mögliche Mifsbräuche.

97. Die Vertheilung der Güter ist zwar überall rechtlich bestimmt; auch ist alles wirkliche Recht seiner wahren Natur nach positiv, d. h. durch Uebereinkunft wirklicher Willen vestgesetzt, und die Idee des Rechts thut dabey nichts Anderes, als der Uebereinkunft, im Gegensatze des Streits, einen Werth bevlegen. J Alle vorgeblich angebornen Rechte sind Begriffe ohne wissenschaftliche Genauigkeit, deren Fehler in vielen Fäl-[i57] len zwar als unbedeutend kann vernachlässigt werden, (wie die Mathe- matiker sich ausdrücken,) in andern Fällen aber zu einer enormen Gröfse anwächst. Hierüber mufs2 die praktische Philosophie nachgesehn werden. Allein ebendaselbst zeigt sich auch, dafs sämmtliche Rechte als Rechte nur in so fern einen Werth haben, wiefern sie die Gesinnung des Streits auslöschen. Daher bekommt das Recht sehr verschiedene Werthe. Oft bleibt die Gefahr des Streits, vermöge ursprünglicher und nicht abzu- weisender Naturgefühle und Bedürfnisse. Daraus entstehen Präsumtionen dessen, was Recht sevn solle, d. h. wie die Uebereinkunft geschlossen werden müsse, um dem Rechte den gröfsten möglichen Werth zu geben. Diese Präsumtionen sind nach den Umständen mehr oder weniger sicher und bestimmt. Die Beweglichkeit der Rechtsverhältnisse hängt bey Lebenden vom guten Willen der Berechtigten ab, den man suchen mufs zu gewinnen. Verstorbene und noch Ungeborne dagegen haben genau genommen gar keine Rechte; wenn aber die Gesellschaft ihnen durch eine Fiction dergleichen beylegt, so geschieht dies allemal aus Rücksicht auf die jetzt Lebenden; welches Jetzt die Vorsicht freylich auch in die Zukunft hinausschiebt.

Aufserdem dafs der Werth des Rechts schon nach der Rechts -Idee steigt und fällt, je nachdem es mehr oder weniger die Gesinnung des Streits entfernt: finden sich grofse Unterschiede in dem Werthe der Güter- vertheilung nach den Ideen des Wohlwollens und der Vollkommenheit. Das heifst: Gemeinwohl und Cultur gedeihen mehr oder weniger bey solcher oder bey anderer Lage der mehr und minder Berechtigten. So wenig nun die wahre Staatskunst dem fehlerhaften Rechte Gewalt entgegensetzen wird, so nothwendig mufs sie alle Gelegenheiten benutzen, um seiner Dauer Schranken zu setzen, und den Motiven, durch die es vestgehalten wird, andre bessere Motive entgegenwirken zu lassen.

98. Die Ausbreitung der Einsichten ist aus verschiedenen Gründen, und ihnen gemäfs in verschiedenen Graden, nothwendig.

[158] 1. Schon beym Criminal- Rechte finden sich zwey Gründe.

a) Der Verbrecher mufs nicht blofs wissen, wieviel Strafe er ver- dient hat, sondern auch einräumen, dafs er von seiner Obrigkeit die Vollziehung derselben zu erwarten hatte. Er mufste sich sagen : 3

2 „mag" statt „mufs" in der II. Ausgabe. *

3 „fragen" statt „sagen" in der II. Ausg.b

1 einen "Werth beizulegen SW,

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne die Abweichung der I. Ausg. anzumerken, b SW folgen hier der I. Ausgabe ohne die Abweichung (Druckfehler) der IL Ausg. anzumerken.

j?2 II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1.

Strafe erhebe keinen Streit. Sonst verfährt gegen ihn der Staat wie gegen ein wildes Thier. Hiezu gehört aber soviel Erziehung, dafs der Verbrecher von Jugend auf die Nothwendigkeit der Strafgewalt ein- gesehn, und sie in Beziehung auf seine eigne Sicherheit gewollt habe. *

b) Es giebt eine Menge von Verschuldungen, die erst in Folge der Gesetze strafbar werden; die Gesetze nun müssen bekannt und ver- standen seyn.**

2. Einen weit höhern Grad von Einsicht erfordert das Verwaltungs- svstem. Dies verstöfst gegen bestehende Rechte, wenn ihm nicht all- gemeines Wohlwollen entgegenkommt. Aber sehr oft ist das Wohlwollen vorhanden; nur kommt es dennoch nicht entgegen, weil die Einsicht in den Zusammenhang der Staats -Einrichtungen fehlt. Aufgelegte Steuern betrachtet Derjenige als Tyranney, der entweder Verdacht schöpft, ob sie auch in die Staats -Casse gelangen, oder gar nicht begreift, dafs eine gehörige Staats-Einrichtung Geld kostet, und dals ein hereinbrechender Feind mit weit höherer Zahlung würde besänftigt werden müssen. Daher ist die gröfste mögliche Oeffentlichkeit der Staats-Verwaltung immer wünschens- werth; aber .sie mufs, um nicht unverstanden zu bleiben, mit gehöriger Unterweisung verbunden werden.

3. Noch mehr Einsicht verlangt das Cultursystem. Diesem liegt vor Allem an Sprachkenntnifs; sonst fehlt die Mittheilung. Aber auch das Ineinandergreifen der Künste [159] und Wissenschaften mufs Jedem in allgemeinen Umrissen vor Augen liegen.*** Dafs der praktische Mensch kein beschränkter Mensch seyn dürfe, wird schon längst genug ins Licht getreten seyn, wenn es anders je bezweifelt werden könnte.

99. Bürgschaft gegen mögliche Misbräuche Verantwortlichkeit bis zu den höchsten Puncten der Verwaltung ist das Thema des Tages. Bürgschaft aber setzt Mistrauen voraus; Mistrauen entsteht aus Erfahrung. Wo die Erfahrung fehlt, da möchte es wohl eine überspannte Klugheit seyn, wenn man das Mistrauen voranschicken wollte. Die Furcht könnte das Uebel erzeugen.

Wogegen will man Bürgschaft? Gegen Versehen und Absichten. Wo- durch will man sie erreichen? Durch Gesetze, Güter, und Personen.

Der Versehen giebt es manche, die an sich leicht zu entdecken, doch einer sehr getheilten und rasch forteilenden Aufmerksamkeit ent- schlüpfen, so dafs es oft sogar besser ist, auf Verbesserung zu rechnen, als durch Aengstlichkeit ein Geschäftt zu verzögern. In Druckereyen übernimmt der Corrector die Bürgschaft wegen der Fehler des Setzers; und es wäre lächerlich, einen ersten fehlerfreyen Satz zu fordern. So auch die Rechnungs- Revisoren. Mit Werken des Genies verhält sich's gerade umgekehrt. Hat ein Dichterwerk bey grofsen Schönheiten Fehler in der Anlage: so hilft keine Kritik. Denn in der Kritik liegt nicht die umschaffende Kunst, welche nach Beseitigung des Fehlers das Werk noch einmal machen müfste. Fehler der Gerichtshöfe dagegen lassen sich ver-

* Praktische Philosophie, im neunten Capitel des ersten Buchs. [Bd. II vorl. Ausg.] ** Ebendaselbst. *** Ebendaselbst, im zehnten und elften Capitel.

I. Abschnitt. Elementarlehre. II. Capitel. Von der Staatskunst. j -2 ■?

bessern durch höhere Instanzen; nur die verlorne Zeit kann man den Partheyen nicht zurückgeben. Fehler des Feldherrn sind schwerlich je- mals zu verbessern; wenn nicht günstige Momente wiederkehren. Und Fehler des Staatsmanns? Bekanntlich steht er je höher desto gefähr- licher. Kein Wunder, wenn die höchste [160] Person es vorzieht, die Leitung ganzer Geschäfftszweige Andern zu übergeben, und sich selbst die Revision vorzubehalten; natürlich unter beständiger Beobachtung der Er- folge. Bey aller Kritik aber kommt in Frage, wiefern sie selbst dem Irr- thum unterworfen sey. Doch pflegt es meistens leichter zu seyn, Fehler zu entdecken, als zu verbessern; und dann ist die Entdeckung wenigstens der erste Schritt, um die Verbesserung vorzubereiten.

Nicht aufser Acht zu lassen ist: dafs häufige und ungestüme Kritik jedes gröfsere Werk stört. Was wird aus einem Künstler, der sich viel um Krittler bekümmert? Die Vertheidiger einer ganz ungezügelten Presse hätten Ursach, das zu bedenken! Wollen sie etwa, dafs gar keine Kritik Gehör finde?

Noch schlimmer steht es um Bürgschaft gegen Absichten. Denn Mistrauen leitet zur Verstellung; Drohung reizt zu offener Gewalt. Und der höchsten Macht will man eine noch höhere entgegenstellen? Gesetzt, das sey ausführbar: so ist nichts unglücklicher, als wenn diese höhere Macht sich gewöhnt, handelnd aufzutreten. Wer bürgt nun gegen ihre Misbräuche? Hier bürgt Nichts, als richtiges Ehrgefühl. 1 Wo die Stimme der Ehre vernommen wird und wo sie sich vernehmlich, das heifst, mit Anstand und Würde ausspricht, da ist Sicherheit, und sonst nirgends.

Man mag hier nochmals auf die Freyheit der Presse zurückschauen. Unsre literarische Welt hat sie für gelehrte Angelegenheiten; was hilft's? Die Namen der Recensenten werden gefordert; was ist die Folge? Ver- mehrte Dreistigkeit! So lange nicht ein Mittelpunct der Ehre sich bildet, vor welchem die Kritik selbst Respect hat, wird sie nicht2 sicherer.

ioo. Gesetze sollen Bürgschaft leisten gegen Willkühr. Aber sie selbst, wodurch erlangen sie Bestand, um nicht vergessen, nicht umgangen zu werden? Personen als Wächter müssen dabev stehn. Güter, die man fürchtet zu verlieren, müssen Caution machen. Woher die Personen? Soll das Interesse sie treiben? So haben sie einen Preis, und können [161] bestochen werden. Und die Güter? Oft ist's vortheilhaft, sie zu verlieren, und mit Zinsen wieder zu gewinnen. Inventa lege, inventa fraiis.

Was ist das Resultat? Dies, dafs sich das Mistrauen ewig in ver- geblichen Kreisen drehen wird, wenn nicht irgendwo ein vester Punct für das Vertrauen gefunden wird. Einer verdorbenen Nation ist gar nicht zu helfen; für sie sind alle Verfassungs-Künsteleyen umsonst. Eine edle Nation, falls sie das Glück hat, eine edle Regierung zu besitzen, richte geradezu auf diese ihr Vertrauen, und blicke dankbar gen Himmel ! Sie hüte sich, zu künsteln!

Dazwischen liegt nun freylich Vielerley mitten inne, auch bleiben im

1 als ein richtiges Ehrgefühl SW. - „nie" statt „nicht" SW.

j -3 i II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1 .

besten Falle entfernte Möglichkeiten zu fürchten. Man setzt demnach seine Hoffnung auf Wahlen. Wenn nur nicht das Wählen den Geist der Willkühr beförderte! Gegen Willkühr verlangte man Sicherheit. Aber die Gefahr wird wachsen, wenn die Einbildung, der Staat beruhe auf beliebigen Meinungen, auf irgend welcher Gunst, ja selbst auf irgend welcher Majorität des willkühr] ichen Beliebens, sich in einem gröfsern Umfange ausbreitet. Pflichtgefühl, Aufmerksamkeit für Gründe, Anerkennung des Nothwendigen, des Rechten, des Guten, des Schönen, des Nützlichen, keine andern Anker wird die Staatskunst jemals finden. Vollkommene Sicherheit giebt es gar nicht. Die stärkste mögliche Sicherung gegen grofses Unheil liegt in der sittlichen Bildung der gesammten Nation. Aber eigentliches Glück schafft nur eine mächtige und wohlwollende Regierung. Am besten ein edler Könis;. Die Staatskunst hat man schon in alter Zeit auf eine andre, unscheinbare Kunst verwiesen. Darum ist schon Platons Werk über den Staat zugleich eine Pädagogik. Aber wir werden zeigen müssen, dafs die Staatskunst selbst mit der Erziehungskunst sich im Kreise dreht.

Alle Untersuchung dieser Art kann nur dazu dienen, den höchsten sittlichen Ernst zu empfehlen. Von ihm mufs die Begeisterung ausgehn für Wissenschaft und That. Und kann er [162] nirgends einen vesten Ruhe- punct erschauen: so bleibt ihm zur letzten Stütze nur die Religion. Zu ihr wenden sich endlich alle Sorgen. Wie viele edle Staatsmänner mögen das schon in der tiefsten Brust empfunden haben, wenn sie scheiden mufsten von dem Werke ihres Lebens, das sie noth wendig unvollendet, ohne Sicherheit für die Zukunft verliefsen! Schwerlich sind solche, die recht laut rufen nach Bürgschaft, gerade die nämlichen, welche das un- befriedigte Bedürfnifs derselben am schmerzlichsten fühlen. Wohl Mancher arbeitet bis zur Erschöpfung für Staat und Kunst und Wissenschaft, der nicht erst nöthi<r hat, sich einen Sünder nennen zu hören, um sehnsuchts- voll über das Irdische zu der Vorsehung hinaufzuschauen, und ihr seine Angelegenheiten in Demuth und Ergebung anheim zu stellen.

10 1. In der Zeit des Napoleonischen Drucks verbreitete sich ein lebhafter Eifer für die Erziehungkunst aus politischen Gründen. Durch Uebungen des Körpers wie des Geistes wollte man die Jugend vereinigen; darin suchte die wiederherstellende Staatskunst einen Theil ihres Geheim- nisses. Man würde nicht weit damit gekommen seyn. Kein Staatsmann sieht der Jugendbildung gleichgültig zu; drückt einmal ein fremdes Joch den Staat, so lastet das nämliche auf der Erziehung, wenigstens sofern sie ein öffentliches Schauspiel darbietet.

Aber eben deshalb sucht auch jetzt die erhaltende Staatskunst einen Theil ihrer Hülfsmittel in den Schulen; und zwar am merklichsten an den beiden Extremen der Standes- Verschiedenheit. In niedern Schulen soll der Geist guter Ordnung und eines zur Arbeit tüchtigen Fleifses. vorbe- reitet werden; in den höhern Schulen sieht der Staat die Bildungs- An- stalten seiner künftigen Beamten.

Gesetzt nun, die verbessernde Staatskunst wäre im Streite mit der eihaltenden: so würden unfehlbar die Schulen einen der wichtigsten Streit- punete ausmachen. Eine Parthey würde [163] durch die Jugendbildung eine neue Epoche vorzubereiten, die andre Parthey auf dem nämlichen

I. Abschnitt. Elementarlehre. II. Capitel. Von der Staatskunst. 135

Wege jeder Veränderung vorzubeugen suchen. Hieran zu erinnern ist des folgenden Capitels wegen nothwendig; nämlich damit man die Erziehungs- kunst nicht für eine freyere Kunst halten möge, als sie wirklich ist. Alle- mal werden politische Meinungen und Absichten Einfiufs auf sie ausüben; denn wenn auch der Staat selbst noch so ruhig ist, so suchen dennoch Viele sich dadurch wichtig zu machen, dafs sie ihrer Ansicht vom Er- ziehungswesen, wie auch dieselbe beschaffen sey, eine politische Bedeutung beylegen; und Andre schätzen das Werk der Jugendbildung nur in so fern, als Tüchtigkeit für Staatsdienst, oder wenigstens Fügsamkeit im Staats- verhältnifs, und Geschick, dasselbe zu benutzen, dadurch gewonnen wird. Diejenigen aber, welche in Ernst das Gute, ja das Beste wollen, mögen sich hüten, in irgend welchem Sinne die Erziehung als einen politischen Hebel zu betrachten. Aus einem geordneten Privatleben mufs es von selbst hervorgeht!, in wie fern jeder Einzelne Beruf habe, sich den geselligen Kreisen auf dem Boden des Staats (89.) anzuschliefsen; die Gesellschaften entspringen dann aus den wahren Bedürfnissen; der Staat aber ist das Resultat dieser Gesellschaften. Vorzügliche Leistungen für Verwaltung und Cultur können nur aus vorzüglichen Talenten ent- springen; diese kann man nicht schaffen, und nicht durch eingeübte Fertigkeiten ersetzen. Die Mehrzahl der Menschen lebt in kleinen Kreisen; sie nimmt nicht mehr Bildung an, als dafür taugt; und es ist gleich verkehrt, ihr aufzu- dringen, was ihr nicht dient, als ihr zu versagen, was sie sich aneignen kann. Betrachtet man das Privatleben in kleinen Kreisen als den Zweck der Erziehung im Allgemeinen; bereitet man daneben den seltenern Talenten die Gelegenheit zur ihrer Entwicklung; und wählt der Staat für seine höhern Aemter alsdann unter Vielen, die sich darbieten, nur die, welche sich auszeichnen: so wird nun, so weit es seyn kann, das Erziehungsge[iÖ4]schäfft frey vom Drucke der politischen Rücksichten, und kann sich alsdann, wie es soll, den eigentümlichen Naturen der Menschen anzuschliefsen versuchen. Diese Freyheit aber ist da, wo sie Statt findet, ein Geschenk des Staats, und zwar in doppelter Hinsicht: theils, weil die Erziehung wider seinen Willen sehr wenig vermag; theils, weil ohne seine Fürsorge es ihr an den nöthigen Hülfsmitteln fehlen würde. Im nächsten Capitel liegt nun die doppelte Voraussetzung zum Grunde: theils, dafs der Staat nicht das Mittel für seine Zwecke in der Erziehung suche; anderntheils, dafs er dennoch ihr grofsmüthig seine Hülfsmittel dar- biete; wohl wissend, wie gewifs sich ausgezeichnete Naturen ihm von selbst annähern werden, um in seinem Dienste Glück und Ehre zu suchen. Soviel Grofsmuth, wird man sagen, wäre übertrieben. Macht die Erziehung sich Hoffnung auf die Hülfsmittel des Staats: so mufs sie sich auch seinem Dienste widmen; sie mufs sich ihm als Mittel darbieten.

Aber man vergifst Etwas. Der Staat drückt auf die Erziehung; er hat etwas Wesentliches wieder gut zu machen, welches unmittelbar zu vermeiden keiner Staatskunst möglich ist. Jener Unterschied der Dienenden, Freyen, Angesehenen, liegt so tief in dem psychologischen1 Mechanismus,

1 „psychischen" statt „psychologischen" II. Ausg.a

a SW. drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

j^ö II- Kurze Encyldopädie der Philosophie. 1831.

worauf der Staat selbst beruht, dafs die Kunst ihn nicht hinwegheben kann, wenn sie schon wollte; nur Sittlichkeit und Aufklärung können ihn allmählig mildern, indem sie den Ursprung desselben (das widerstrebende Wollen der Menschen, und die optischen Täuschungen) verbessern. So gewifs aber der Unterschied vorhanden ist, wirkt er äufserst1 schädlich auf die gesammte Erziehung. Denn die Kinder der Angesehenen, wenn sie nicht zu den vorzüglichen Naturen gehören, bemächtigen sich in Ge- danken der Gunst des Glücks weit früher, als sie es sagen und zeigen dürfen; und sie vernachlässigen das, was Anstrengung fordert, dergestalt, dafs die besten und stärksten pädagogischen Kräfte, die in den höhern Theilen des Unter[i65]richts liegen, sie nicht erreichen, wenigstens nicht durchdringen können. Die Kinder der untergeordneten Stände aber, wenn sie nicht dem Drucke erliegen, sind durch fremdartige Principien, durch Vortheil und Ehrgeiz, getrieben, sich empor zu arbeiten; wodurch wiederum die Erziehung verdorben wird, indem falsche Triebfedern zwar Leistungen, vielleicht glänzend genug, hervorbringen, die aber (wie so Vieles in der heutigen Bücherwelt) blofs dienen sollen, der Person einen Namen zu machen, eine bessere Stelle- zu schaffen. Solche Arbeiten, und solche Gesinnungen, verschmähet die Moral; und eine Erziehung, welche sich damit rühmt, ist in ihrem innersten Wesen verkehrt. Wahre Erziehung wirkt den falschen Triebfedern auf alle Weise entgegen; sie will keine Leistungen, die nicht aus der rechten Quelle aus achtem Interesse, und achtem Kraft- und Kunst-Gefühl, hervorgehn. Aber was hilft ihr Wirken? Der Staat stellt seine Ehrenpuncte heraus; das verdirbt die Er- ziehung. Der Staat kann seine Abstufungen den Augen der Kinder nicht entziehn; darum sucht die Erziehung vergebens nach dem Klima, was ihr zusage. Hiegegen die Augen zu verschliefsen, heifst ein Uebel mit der Ausrede bedecken, dafs es ein nothwcndiges Uebel sey. Dennoch bleibt es immer ein Uebel! Und der rechtliche Staat, wenn er irgendwo Schaden anrichtet, pflegt zur Vergütung bereit zu seyn; diese Vergütung haben wir vorhin Grofsmuth genannt.

Es wird nun schon klar geworden seyn, dafs die Staatskunst sich mit der Erziehungskunst im Kreise dreht. Wer die Mängel der Staaten betrachtet, wer die Unmöglichkeit aller sogenannten Bürgschaften eingesehen, wer es begriffen hat, dafs Verdienste um den Staat immer von verdienten Männern herrühren, deren Existenz ein Zufall ist: der richtet gewöhnlich am Ende seine Hoffnungen auf die Erziehung; wenn nur die Menschen von Jugend auf (so meint man) gehörig geleitet wären, dann würde es besser stehn! Gewifs! Und nun schaffe man der Erziehung den Boden, worauf sie frey wirken können! Aber [166] sie wirkt mitten in der Gesell- schaft, von der sie unaufhörlich leidet. Doch wollen wir bekennen, dafs der Kreis, von dem wir sprechen, vielleicht eher eine Spirale ist; und dafs die moralische Macht der heutigen Staaten sich mehr und mehr freyen Raum schafft, der ohne Zweifel auch der Erziehung zu Gute kommen wird.

1 „äufserst" fehlt in der II. Ausgabe.»

:i s\V drucken nach dei II Ausgabe ohne Angab dei Abweichungen der I. Ausg,

I. Abschnitt. Elementarlehre. 12. Capitel. Von der Erziehungkunst. 137

[167] Zwölftes Capitel.

Von der Erziehungskunst.

102. Die Erziehung ist Sache der Familien; von da geht sie aus, und dahin kehrt sie gröfstentheils zurück. Nur das Bedürfnifs eines mannigfaltigen und kostbaren Unterrichts treibt sie hinaus in die Schulen, in denen sie gleichwohl niemals ganz kann besorgt werden. Aber wie im Staate, so giebt es auch schon in den Familien oftmals übermäfsige Ansprüche an die Erziehung.

Geistvolle Männer pflegen in ihre Jugendjahre zurückschauend zu wünschen, diejenige Erziehung, . weiche sie genossen haben, möchte in manchen Puncten anders gewesen seyn. Zweytens pflegen sie bey Kindern, die eben jetzt unter ihren Augen aufwachsen, die pädagogischen Leistungen zu beobachten und darüber zu urtheilen. Drittens stehn ihnen Erwach- sene vor Augen, an welchen sie die Früchte einer guten oder schlechten Erziehung zu erkennen glauben. Bey allen diesen Beurtheilungen schwankt die Meinung zwischen dem, was man der Natur, und was der Erziehung zuschreiben solle. Ja sie schwankt sogar in Ansehung des Werths, den ein gegebener Erfolg haben möge. Sind ausgezeichete Kenntnisse gewonnen, so fragt man, wozu sie nützen, sobald nicht ein amtlicher oder gewerb- licher Gebrauch derselben eintritt; ist die Reinheit des Gemüths der Jugend so lange als möglich erhalten worden, so fragt man wiederum, wozu das nütze, wenn später dennoch, wie es zu geschehen pflegt, die Empfänglichkeit des Menschen für den Reiz der Natur und der Gesell- schaft sich nicht mehr verläugnet; ist eine grofse Strenge [168] der Sitten zur Gewohnheit gemacht worden, so findet darin die Mehrzahl der Menschen eine unnöthige Steifheit, die von der Welt erst müsse abgeschliffen werden.

Unter allen diesen schwankenden Vorstellungen möchte noch am ersten etwas Wahres und der Beachtung Würdiges in jenem Rückblick auf die eignen Jugendjahre enthalten seyn. Denn so fern die Erinnerung treu blieb, kann der Mensch sich von dem, was auf seine Jugendzeit wirkte, ein Zeugnifs ablegen, das kein Andrer durch irgend ein, auch noch so tiefes, Wissen zu ersetzen vemöchte. Jeder weifs selbst am besten, wie ihm zu Muthe war, was er verschwieg, was bey ihm am Hervor- brechen verhindert wurde, welche Regungen unbenutzt, welche ungestraft geblieben sind; in welchen Puncten er für seine Entwickelung Hülfsmittel gewünscht, auf welchen oft verbotenen Wegen er sie endlich erlangt hat, und so weiter. Daher pflegt Jeder zu klagen, man habe ihm die Zeit mit unnützen Dingen verdorben; sie hätte weit zweckmäßiger für andre Uebungen können gebraucht werden. Der jugendliche Frohsinn sey in unmäfsigem Zwange erstickt, die natürliche Energie sey unterjocht, und wieder ein andermal, den ersten Fehltritten sey nicht der gehörige Widerstand entgegengesetzt worden, die jugendliche Schlauheit habe Pforten genug offen gefunden, um einer mangelhaften Wachsamkeit zu entschlüpfen. Billig sollten nun Eltern, Erzieher, Lehrer hinzutreten können, um ihrerseits nachzuweisen, welche Absichten sie hegten, wie dieselben ver- eitelt wurden, wie oft sie Stumpfsinn und Gedankenlosigkeit, wie oft

-j^g II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

jugendlichen Uebermuth da vorfanden, wo Aufmerksamkeit, Ueberlegung, richtiges Gefühl zu erwarten waren; wie manches höchst mühsam Ein- geprägte vergessen, wie manche schon gewonnene Fertigkeit durch spätere Vernachlässigung eingebüfst sey; wie undankbar jetzt die Erfolge der Aufsicht und Warnung als eigne gute Natur mit Selbstgefälligkeit in An- spruch genommen werden mögen, während es Mühe genug gekostet habe, das Böse nur so weit und so lange entfernt zu halten.

[169] Könnten diese Gegenstände von beiden Seiten zu hinreichender Klarheit erörtert werden: dann bekäme das erzogene Individuum Licht über sich selbst; nun aber müfste solches Licht nicht blofs den Einzelnen, sondern zugleich ganz verschiedene Naturen, und ihre Jugendgeschichte zur Anschauung bringen, wenn die Schwierigkeit, die unvermeidliche Un- sicherheit der Erziehung deutlich werden sollte. Selbsttäuschungen der mannigfaltigsten Art würden dabey eben so wohl zu Tage kommen, als falsche Ansichten der Erzieher.

Um nun die Verwirrung der Meinungen auf den höchsten Grad zu steigern, pflegt man die transscendentale Freyheitslehre einzumengen. Nichts ist gewisser, als dafs unter Voraussetzung derselben alle moralische Erziehung als durchaus unmöglich, das Unternehmen einer solchen als durchaus thöricht erscheinen mufs. falsche Freyheitslehre und falsche Psychologie sind ganz eigentlich Schuld daran, dafs anstatt wahrer Päda- gogik eine Fluth von pädagogischen Meinungen im Umlaufe ist, auf welcher zwischen den Klippen hindurchzuschiffen blofs die Befolgung einer kleinen Regel erfordert: medium tenuere beali. Damit lernt man nun freylich nicht viel.

103. Statt aller Freyheitslehre erinnere sich zuerst der Leser,2 wie viel Mühe es oftmals den reifen Mann koste, bey einem ausgesprochenen Vorsatze Jahrelang zu beharren. Es mag dahin gestellt seyn, ob die Schwierigkeit von zu viel oder zu wenig Frevheit herrührt. Zu viel, indem während des Laufs der Jahre der Wille immerfort dauernd frey bleiben sollte; daher es als Usurpation erscheint, dafs ein schnell ge- fafster, allzu energischer Vorsatz alle Frevheit in einen Augenblick ge- drängt, und den Willen für die Zukunft gebunden hat. Zu wenig, indem die Stärke des Vorsatzes nicht leicht, sondern mit beständigem Gefühl der Mühe, also unter beständigem Zweifel wegen der Beharrlichkeit, den Willen, der sich zu neuen Entschliefsungen wieder frey machen möchte, gebunden und gefesselt hält.

[170] Wenn nun schon ein Erwachsener sich die nöthige Haltung nicht ohne Schwierigkeit giebt: so wird man vollends die Forderung an den Erzieher, er solle dem Zöglinge Haltung für alle Zukunft geben, als höchst3 übertrieben wenigstens bis zu näherer Untersuchung beseitigen

1 Die folgenden Schlußworte: „Falsche Freyheitslehre .... freylich nicht viel" fehlen in der II. Ausg.

2 „erinnere man sich zuerst" statt „erinnere sich zuerst der Leser"

II. Ausgabe. a

3 „höchst" fehlt in der II. Ausgabe.

a SW drucken nach der II. Ausgabe ohne Angabe der Abweichungen de r I. Ausg.

i. Abschnitt. Elementarlehre. 12. Capitel. Von der Staatskunst. 13g

müssen. Denn wir reden hier nicht von Idealen, welche der Erzieher etwa sich selbst aufstellt, um sich ihnen anzunähern, oder um wenigstens durch sie die Richtung seiner Bewegung zu bestimmen; sondern wir reden von dem, was im Kreise des praktischen Menschen kann gefordert werden. Solche Forderungen liegen in der Gegenwart; sie lassen der Zukunft das Recht, dem Vorhandenen allerley zu geben und zu nehmen, was man nicht voraussehen kann.

Die einfache Grundforderung an den gegenwärtigen Augenblick nun heifst so : man erhalte dem Zöglinge die Kräfte, die er hat. Einen Menschen schaffen oder umschaffen kann der Erzieher nicht; aber manche Ge- fahren abwenden, und sich eigner Mishandlung enthalten, das kann er, und das ist von ihm zu verlangen.

104. Zu diesen Kräften gehört vorzugsweise der natürliche Frohsinn der Jugend. Aber hier dringt sich einem Jeden, besonders bey der geringsten Erinnerung an den Staat, sogleich auf, dafs der Mensch sich von Jugend auf an Beschränkungen gewöhnen mufs. Daher die Forderung : Kinder müssen gehorchen letnen. Ihre Kraft mufs hinreichenden Wider- stand finden, damit sie in jeder Hinsicht den Anstofs verhüten.

Sogleich zeigt sich eine neue Schwierigkeit. Das leichte Mittel, um nicht anzustofsen, ist Verheimlichung und Lüge!

Manche Erzieher setzen, um den Knoten zu zerhauen, geradezu voraus, die Kinder lügen, wenn sie können; also mufs man sie mit steter Aufsicht dergestalt umstellen und umstricken, dafs ihnen zum Verhehlen keine Hoffnung, man mufs sie dergestalt vom Morgen bis zum Abend in Arbeit setzen, dafs ihnen zum Ausbrüten listiger Pläne keine Zeit [171] übrig bleibt. Daran ist etwas Wahres; wenn es aber mit Strenge, oder nur mit Pünktlichkeit ausgeführt wird, so mag man zusehn, wie man es anfangen will, nicht gegen die erste Grundregel zu fehlen. Die Kräfte sollen erhalten werden! Dazu ist Spielraum nöthig. Wer ihn den Kindern dergestalt beengt, dafs alle ihre Bewegungen auf den Beobachter berechnet sind, der erzieht Wickelkinder, die in spätem Jahren ganz von vorn an ver- suchen müssen, sich zu regen, und 1 ihre Kräfte kennen zu lernen, und doch nie damit zu Stande kommen, stets hinter freven Naturen zurückstehn, lahm und unbehülflich bleiben; endlich sich entschädigen wie sie können.

Da nun ein solches Einengen schlechthin2 unzulässig ist : so mufs mit der Aufsicht und Beschäfftigung etwas Anderes verbunden werden.

Gute Kinder, sagt man mit Recht, können's nicht über's Herz bringen, Vater und Mutter zu belügen. Warum nicht? Sie sind an vcr- trauliche Mittheilung gewöhnt. Diese giebt den Grundton ihres Lebens. Und so haben wir die dritte pädagogische Hauptregel. Denn es ist klar, dafs die Kinder das Bedürfnifs der Mittheilung gegen den Erzieher selbst, und nicht blofs unter einander zu befriedigen gewöhnt seyn müssen, wenn in ihnen dasjenige Gefühl seyn soll, was3 unmittelbar der Versuchung zu

2 „schlechthin" fehlt in der II. Ausgabe. *

3 „das" statt „was" in der II. Ausgabe, b

1 „um" statt „und" SW.

a u. b SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabc der Abweichung der I. Ausg.

j .q II Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

lügen sich innerlich entgegensetzt. Ist dies Gefühl tief gegründet, dann hilft die Bestrafung einzelner Lügen, welche die Schaam sogleich verräth; und nur dann ist es erlaubt, strenge Aufrichtigkeit zu verlangen, während sonst die Forderung zur Lüge reizt.

105. Das Gesagte läuft darin zusammen, dafs man die Kinder mit Ernst und Vestigkeit in eine Lage setzen mufs, die ihnen im Ganzen angenehm, und die zu geselliger Offenheit einladend ist.

Alles Andre, es habe Namen wie es wolle, ist für die Erziehung ein Zweites und Drittes, aber nimmermehr das Erste.

[172] Dahin gehört nun der gesammte Utiter rieht, von den Elementen bis zur höchsten Gelehrsamkeit hinauf. Und darum sind Schulen, die ihrer Natur nach das Lehren und Lernen zur Hauptsache machen, keine Erziehungs-Anstalten, und können es nie werden. Sie sind Hülfs-An- stalten für Familien, welche die angegebenen Erfordernisse der Erziehung schon erfüllt haben.

Der Unterricht hat zwar vor der übrigen pädagogischen Behandlung einen Vortheil voraus, diesen nämlich, dafs seine Wirkung, ein vest ein- geprägtes Wissen und Können, dauerhafter ist, als die meisten Eindrücke, welche durch Gemüths- Aufregung bey den Kindern hervorgebracht werden. Gefühle werden durch Gefühle verdrängt; und der reife Mann fühlt ganz anders als in seiner Jugend; er ist auch durch so starke Reizungen der Aufsenwelt hindurchgegangen, dafs von den Jugend-Eindrücken wenig Bestimmtes übrig bleibt. Hingegen Kenntnisse kleben an; sie erhalten sich entweder in ihrem alten Zustande, oder werden die Grundlage neuer Studien und verbesserter Einsicht. Die Psychologie lehrt, dafs es so seyn müsse.*

Daraus folgt, dafs die Erziehung, in so fern sie wünscht, bleibende Folgen hervorzubringen, selbst die Charakterbildung hauptsächlich durch den Unterricht suchen mufs zu erreichen.**

Aber es ist hier nicht unsre Absicht, pädagogische Vorschriften aus der Idee zu entwickeln; sondern wir bleiben auf dem Standpuncte des praktischen Menschen, und diesem sind theoretische Einsichten auch dann wichtig, wenn sie seine Erwartungen beschränken. Darum ist hier der Ort, zu bemerken, dafs in der Wirklichkeit die Hoffnung, welche auf den Unterricht gesetzt wird, bey der Mehrzahl der Individuen um nichts sicherer ist, als die, welche sich an die eigentliche Zucht knüpft. Denn es gehört schon viel dazu, irgend ein Wissen zur Gelehrsamkeit zu steigern; aber es gelingt noch weit schwerer, [173] daran die Charakterzüge eines Menschen zu bevestigen. Hiezu ist nöthig, dafs das Gelernte zugleich empfunden sey, und dafs sehr grofse Massen des Gelernten eine tiefe Gesammt-Empfmdung bewirken, mit welcher sich eine logische und praktische Ausbildung von Begriffen, Maximen, und Grundsätzen ver- binden mufs. Nun läfst sich zwar nachweisen, wie der Untenicht ge-

* Psychologie II. § 103 105 und an vielen andern Orten. [Bd. VI vorl. Ausg.] ** Pädagogik, im vierten Capitel ' des dritten Buchs. [Bd. II vorl. Ausg.]

1 Nach: „des dritten Buchs" steht in der II. Ausg. folgender Zusatz: In der zweyten Ausgabe des Umrisses pädagogischer Vorlesungen ist Einiges bestimmter ausgeführt.

I. Abschnitt. Elementarlehre. 12. Capitel. Von der Staatskunst. 141

staltet werden solle, um eine solche Wirkung mit möglichster Wahrschein- lichkeit hervorzubringen (und das ist in der Pädagogik gezeigt worden); aber wie weit man sich diesem Ziele nähern werde, hängt von den Individuen ab.

Wer es nicht aus Erfahrung weifs, nicht in ganz bestimmten Fällen beobachtet hat, wie schnell ein sorgfältig eingeprägtes, sogar mit Interesse aufgefalstes, und Jahrelang glücklich durchgebildetes Wissen, bey ver- änderter Lage eines jungen Menschen wieder verschwindet, und kaum eine Spur seines Daseyns zurückläfst; wie leicht ganz entgegengesetzte Meinungen und Bestrebungen Platz finden; wie entschieden die Natur- Anlagen das ihnen gerade Zusagende aus der Umgebung an sich ziehn, ungeachtet der dagegen getroffenen Vorkehrungen: wer das nicht gesehn hat, der wird es sich nicht vorstellen, und kaum glauben wollen. Doch soviel zeigt einem Jeden leicht die allgemeine Erfahrung, dafs ein Examen nur für den Tag gilt, an dem es angestellt wurde, und Alles zu diesem Behuf Gelernte schon am folgenden Tage beginnt, sich wieder zu ver- abschieden. Schwer zu begreifen sind solche Erscheinungen freylich keinesweges; sondern das Drängen verschiedener Vorstellungsmassen, wo- von schon oft die Rede war, macht sie völlig1 erklärlich. 2Man wird jedoch wohl thun, in der Psychologie die Lehre vom Selbstbewufstseyn hiemit zu vergleichen.* Denn wer das Ich für etwas ein für allemal Bestehendes, wohl gar für die Erkenntnifs eines realen Gegenstandes hält, der wird sich in jene Veränderlichkeit, wovon die pädagogischen Er- fahrungen die unwidersprechlichsten Zeugnisse [174] ablegen, immer nicht recht finden können, und leicht zu falschen Mitteln greifen, wodurch das Uebel nur ärger wird.

106. Die vorstehenden Bemerkungen würden nun den pädagogischen Werth des Unterrichts der im blofsen Wissen, und wäre es noch so vest eingeprägt, schlechterdings 3 nicht liegen kann, beynahe auf Nichts herabsetzen, oder doch ihn auf eine verhältnifsmäfsig geringe Minderzahl von Individuen einschränken, wenn nicht ein andrer Umstand hinzukäme. Die Selbstständigkeit der meisten Menschen ist viel zu schwach, als dafs sie etwas für sich allein seyn könnten. Sie leben in dem Kreise ihrer Bekannten, ihrer Geschaffte. Dort finden sich natürliche Aristokraten, welche den Ton angeben; es bildet sich ein Uebergewicht der Meinungen und Ehrenpuncte; hiezu tritt jeder Einzelne in das ihm angemessene Verhältnifs.

Nun entscheidet sich aber nach dem, was der Mensch gelernt hat, grofsentheils die Frage, welcher Gesellschaft er angehören könne. Auch für die Empfindung, womit er ursprünglich sein Wissen auffafste, schwach

1 „völlig" fehlt in der II Ausg.»

2 Die folgenden Worte nebst der Note: „Man wird jedoch .... ZU ver- gleichen. Denn" fehlen in der II. Ausg.

3 „schlechterdings" fehlt in der II. Ausgabe. b * Psychologie II. § 132 138.

au. b SW drucken nach der II. Ausg., ohne die Abweichung der I. Ausg. anzugeben.

I42 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

wie sie sevn mag, findet sich in den geselligen Cirkeln der Resonanzboden Und so geschieht es, dafs die Kenntnisse im Ganzen eine entscheidende Wirkung thun, die bey den Einzelnen nicht planmäfsig erreicht werden konnte.' So wirken Schulen und Schriftsteller; schlecht oder gut, ver- wirrend oder vereinend.

Mit gehöriger Rücksicht darauf, dafs der empfangene Jugendunter- richt sehr stark auf die Stelle wirkt, die ein Mensch unter den Andern einnimmt, dürfen wir also immer noch behaupten, dafs der Unterricht zu den stärksten pädagogischen Kräften gehöre, und nach pädagogischen Gründen anzuordnen sey.

107. Diejenigen aber, die keine richtigen psychologischen Einsichten haben, begreifen selten etwas von den pädagogischen Regeln. Sie haben etwa die alte Meinung, in der Seele seyen gewisse Kräfte oder Ver- mögen; diese müsse man üben, gleichviel woran und wodurch. Ungefähr v.ie°gymna[i75]stische Uebungen, welcher Art sie auch seyen, die Muskeln des Leibes stärken und schmeidigen; weil es nämlich nur einerley und die nämlichen1 Muskeln sind, und der Mensch eben keine andern hat. 2So gerade meinen auch die, welche von Psychologie nichts Gründliches wissen, der Mensch habe einen Verstand, er habe eine Phantasie, er habe ein Gedächtnifs, er habe auch einen Willen, er habe eine Vernunft, und so ferner. Wenn wir ihnen nun sagen, dafs der Mensch von allen dem gar Nichts hat, so verstehen sie uns nicht; wir wollen uns demnach anders ausdrücken, indem wir statt des Nichts vielmehr Vieles setzen. In der That findet sich das, was man Phantasie, Gedächtnifs, Verstand nennt, in jeder einzelnen Vorstellungsmasse; doch nicht in allen gleichmäfsig, sondern es kann sehr leicht und sehr gewöhnlich in einem und dem nämlichen Menschen eine gewisse Vorstellungsmasse verständiger, eine andre phantasiereicher, eine dritte gedächtnifsmäfsiger ausgebildet seyn; in der einen kann tiefe Empfindung, in einer andern Kälte herrschen, und so fort. Daher wäre das, was die Pädagogen formelle Bildung nennen, ein völliges Unding, wenn es in einer Uebung solcher Kräfte zu suchen wäre, die nur in der Einbildung existiren. Aber in der That3 leistet eine Vorstellungsmasse der andern Hülfe, nach allgemeinen Gesetzen der Reproduction; ein Gegenstand, den wir hier in einem Beyspiele suchen müssen vor Augen zu stellen.

Wenn ein Knabe Latein lernt: so hat er schon seine Muttersprache in gehörige Verbindung mit seinem gemeinen Erfahrungskreise gesetzt, oder sollte es wenigstens gethan haben. Jetzt bekommen auch die latei- nischen Worte für ihn Bedeutung; dies aber geschieht grofsentheils durch Vocabeln, das heifst, durch Complication der Vorstellung einzelner latei- nischer Worte mit einzelnen deutschen. Aber das Ziel dieses Lernens

1 „und die nämlichen" fehlt in der II. Ausg.*

2 Die lolgenden Worte (bis 6 Zeilen weiter) : „So gerade meinen .... viel- mehr Vieles setzen" fehlen in der II. Ausg.

3 „oftmals" statt „in der That" II. Ausgabe, b

a u. b S\V drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichungen der I. Ausg.

I. Abschnitt. Elementarlehre. 12. Capitel. Von der Staatskunst. 143

liegt in der Feme. Dereinst soll der Jüngling und Mann lateinisch denken; das heilst, mit seinem Gedankenflusse sollen ohne Vermittelung der Muttersprache die römischen Redensarten und Redeformen sich verbinden; und der [176] ganze Einflufs, welchen eine gebildete Sprache auf die Gedanken selbst ausübt, soll nun von der Muttersprache unabhängig, und von der römischen Sprache allein ausgeübt werden. Dies setzt voraus, dafs in- zwischen die Form der Verbindung unter den Vorstellungen sich sehr bedeutend geändert habe. Die Kenntnifs der lateinischen Grammatik wird sich zu einer eigenen und sehr ausgebildeten Vorstellungsmasse er- hoben haben, welche jeden Augenblick in die Rede bestimmend eingreift. Die Vorstellungen der lateinischen Wortstämme werden überdiefs nicht blofs mit den Gedanken, die man dadurch bezeichnet, sondern auch unter einander in die engste Verbindung getreten seyn; sonst wäre eine geläufige Rede nicht möglich, sondern es würde das Lächerliche begegnen, was bey allen Anfängern, wenn sie zu früh versuchen zu sprechen, wirk- lich geschieht, nämlich dafs mit den Gedanken sich da, wo ein fremdes Wort fehlt, schnell ein deutsches einschiebt, und die Rede sich aus den bunten Lappen verschiedener Sprachen zusammensetzt.

Jetzt werde Französisch oder Griechisch gelernt. Dies geht nun bekanntlich leichter, weil, so rühmt man, die formelle Bildung durch's Latein vorangegangen ist. Was wäre denn wohl geschehn, wenn man zuvor Französisch oder Griechisch gelehrt hätte, und alsdann Latein? Dann wäre, fährt man fort, die formelle Bildung vom Französischen oder Grie- chischen ausgegangen, und aufs Latein übertragen worden. Und dies, behauptet man weiter, wäre nicht besser noch schlechter als jenes; es kommt nur darauf an, die Kraft zu wecken; über den Weg, den man hiezu nimmt, lohnt es nicht zu streiten; der übliche ist der beste, denn er ist einmal eingeführt; auf einem neuen Wege aber könnte man sich ganz ohne Noth und Nutzen verirren.

Dies letztere mag in so fern wahr seyn, als die Philologen, wenn sie von einer andern Sprache ausgehn sollten, sich erst einige unbequeme l Mühe geben müfsten, damit ihnen dieser Unterricht eben so geläufig würde, wie jetzt der lateinische, in welchem alle Schritte abgemessen sind. [177] Was aber die Kraft anlangt, die man wecken will, so setzt dies voraus, es gebe eine schlafende Kraft, die man wecken könne. *\us der Rhetorik werden wir zwar den Schlaf und das Aufwecken als metaphorische Redensarten niemals verbannen können, so wenig wie Aufgang und Untergang der Sonne. Aber 2die Seelenvermögen müssen nicht blois aus der Psychologie, sondern auch aus der Pädagogik entweichen; sie stiften hier bedeutenden Schaden.

Jene Behauptung, es sey einerley, ob man durch Griechisch, Lateinisch, Französisch, die Kraft wecke, ist ein Schlagbaum, durch welchen man den Weg der Untersuchung sperrt. Die Frage betrifft nicht Kräfte, sondern Vorstellungsmassen, und deren allmählige Bildung. Will man zuerst die

1 „unbequeme" iehlt in der II. Ausgabe.

2 Die folgenden Worte: „die Seelenvermögen .... bedeutenden Schaden" fehlen in der II. Ausgabe.

r ,, II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1 .

Scherben, oder den Topf? Zuerst Französisch, oder Latein? Die Meisten wählen den Topf. Aber den Topf wollen sie lieber fertig kaufen, als ihn aus dem Thon allmählig bilden. Wäre nun die griechische Sprache nichts weiter als nur der Thon, woraus die römische Sprache entstanden ist, so möchten sie Recht haben.1 Dies bey Seite setzend, widersprechen wir für jetzt ihrer falschen Psychologie, und der daran hängenden falschen Pädagogik. Die2 Vorstellungsmassen, welche mit dem Französischen, mit dem Lateinischen, mit dem Griechischen in die Seele des Zöglings ein- ziehn, sind keineswegs die nämlichen. Die Ordnung und Folge, worin sie sich nach einander vestsetzen, 3für gleichgültig zu halten, ist Unwissen- heit. Gerade auf dieser Ordnung und Folge beruht die Construction und nachmalige Wirksamkeit der Vorstellungsreihen. Und was man Kraft nennt, die man zvccken wollte, das zuird wesentlich ein Andeics, tvenn die Ordnung und Folge, worin ursprünglich die Vorstellungen sich verknüpfen, verätidert wird.

Ein französischer, ein deutscher und ein englischer Gelehrter sind drey verschiedene Menschen, die sich ihr Lebenlang bemühen können, einander gleich zu werden, so wie ihre Wissenschaften an sich gleich sind; sie werden aber eine verschiedenartige Mühe anwenden müssen, und nie ganz damit zu [178] Stande kommen. Denn die Muttersprachen, von denen sie ausgingen, und die damit verknüpften Gedankenkreise, waren ver- schieden.

Hiemit vergleichbar ist bey recht fähigen Köpfen der Unterschied, ob mit dem Griechischen oder Lateinischen oder Französischen der Sprachunterricht begonnen wird. Gerade nun diese recht Fähigen sind die Wichtigen, die einst Ton-Angebenden. Bey den andern entsteht un- mittelbar nur ein geringer Unterschied. Und warum? weil bey ihnen der Unterricht überhaupt nichts Entscheidendes wirken kann.

Der deutsche und der französische und der englische Gelehrte könnten mit einander disputiren, welchem von ihnen es leichter sey, sich zu der allgemeinen Wissenschaftlichkeit, die keinen Landes-Unterschied kennt, zu erheben. Ein Unbefangener würde ihnen sagen, sie alle drey seyen im Besitz des Vortheils, den sie suchten; vorausgesetzt, dafs Jeder in dem Lande seiner Geburt bleibe und lebe; denn für Jeden müsse die Wissen- schaft doch einheimisch werden, das aber sey sie schon geworden durch den Anfangspunct seines Weges. Und dies würde von der Wahrheit nicht weit abweichen.

Anders aber verhält sich's bevm Unterricht in alten Sprachen. Wir sind weder Griechen noch Römer; jede Besorgnifs, als könne eine Lehr- methode uns dazu machen oder auch nur machen wollen, ist lächerlich. Gerade deshalb nun, weil wir weder in Athen noch in Rom zu Hause

1 Der folgende Satz: „Dies bey Seite .... Pädagogik" fehlt in der II. Ausg.*

2 „Allein die" statt „Die" in der II. Ausgabe>

3 Statt der folgenden Worte: „für gleichgültig zu halten, ist Unwissenheit" hat die II. Ausgabe „ist nicht gleichgültig".

a u. b SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichungen der I. Ausg.

I. Abschnitt. Elementarlehre. 12. Capitel. Von der Staatskunst. i_|.=j

sind, kommt alles blofs auf das Verhältnifs zweyer für uns fremder Vor- stellungsmassen an, die wir uns historisch aneignen wollen. Werden sie Anfangs in eine verkehrte Lage gebracht, so mufs man sie hintennach umbilden; aber das gelingt nie völlig, denn Vorstellungen sind entweder activ, und alsdann lassen sie sich nicht wie ein weicher Stoff hin und her biegen, sondern widersetzen sich, um ihre einmal angenommene Ver- bindung zu behaupten; oder sie sind passiv, und erscheinen als ein todtes Wissen; alsdann aber stehn sie auf einer so niedrigen Bildungsstufe, dafs sie für die Erziehung nichts bedeuten. Die Bedingungen dieser Activität und Passivität zeigt die Psycho[i 79]logie in den Untersuchungen über die Schwellen des Bewufstseyns und über die Reproductionsgesetze.

108. Ein andres Beyspiel von unrichtigen Begriffen über formelle Bildung giebt die bekannte Anpreisung der Mathematik, sie schärfe den Verstand. Kein Wunder bey solcher Lobrede, dafs die meisten Schul- männer zum nämlichen Ziele einen kürzern Weg suchen. Wozu die Figuren und Formeln, wenn die alten Sprachen, die ja ohnehin gelernt werden müssen, das nämliche leisten? Man studire nur Grammatik; auch diese schärft den Verstand. Und sogar noch sicherer; denn man will bemerkt haben, dafs auch einfältige Leute das Rechnen zu besonderer Fertigkeit bringen.

Ob die Grammatiker sich nun gerade als kluge Staatsmänner oder Feldherren, oder sonst auf den grofsen Kampfplätzen des Verstandes aus- zeichnen, und ob sie darin die Mathematiker übertreffen? das wollen wir nicht fragen; ] da ohnehin der eingebildete Verstand ein Hirngespinnst ist.

Der Verstand der Grammatik bleibt in der Grammatik; der Ver- stand der Mathematik bleibt in der Mathematik; und2 der Verstand jedes andern Faches mufs sich in diesem andern Fache auf eigne Weise bilden. Wenn aber grammatische oder mathematische Begriffe irgendwie, auch nur durch entfernte Verwandtschaft, in das Geschafft eingreifen, welches unter bestimmten Umständen etwa dem Feldherrn oder dem Staatsmann obliegt: dann wird sich, was er früher von jenen Begriffen gefafst hat, in ihm reproduciren, und seinem Thun zu Hülfe kommen.

Grammatik und Mathematik sind demnach keinesweges Surrogate für einander, sondern jede behauptet sich in ihrem Kreise und Werthe.

Kaum als eine Beyspielsammlung zur Logik läfst sich die Grammatik gebrauchen; obgleich hier einige Gemeinschaft der Begriffe, daher auch eher ein pädagogisches Zusammenwirken möglich ist. Das nämliche gilt in andern Puncten von der Logik und Mathematik. Aber wehe dem, der für Gebrauch [180] und Uebung logischer Lehren in den höhern Theilen der Philosophie sich darauf verliefse, er habe fleifsig Grammatik und Mathematik studirt! Weder Grammatik, noch Mathematik, noch Logik, machen den Metaphysiker; obgleich er ohne Logik und Mathematik auch nicht von der Stelle kommt.

1 Die folgenden Worte: „da ohnehin .... ein Hirngespinnst ist" fehlen in der II. Ausg., die nach „fragen" den Absatz mit einem Punkte schliefst.

2 „und" fehlt in SW.

Herbart's Werke. IX. IO

I45 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

Viel eher kann man die Geographie als die Wissenschaft nennen, für welche der Verstand in andern Wissenschaften geweckt wird. Denn die Begriffe der Mathematik, Naturlehre und Geschichte begegnen sich in ihr. Jedoch pflegt gerade die Geographie am wenigsten in dem Rufe zu stehn, eine besondre Vorübung des Verstandes zu erfordern; vielleicht deshalb, weil sie weder in mathematischer, noch physikalischer, noch politischer Hinsicht im gewöhnlichen Unterrichte eine besondre Reife erlangt.

109. Wenn nun der Erzieher sich auf formelle Bildung ]gar nicht verlassen kann, 2 vielmehr der Begriff derselben durch das Vorurtheil von den Seelenvermögen verunreinigt und deshalb unbrauchbar ist; wenn über- dies das blofse Material der Kenntnisse, sofern es auswendig gelernt wird, für sich allein gar3 keine persönliche Bildung gewährt, 4und folglich für die Erziehung nicht in Betracht kommt: woran soll denn der Erzieher sich halten?

Erstlich, in Ansehung der Wissenschaften: an Synthese und Analyse.

Zweytens, in Ansehung der Zöglinge: an dem Interesse, sowohl in Ansehung seiner Ausbreitung als Fortschreitung.

1. Synthesis und Analysis beziehen sich unmittelbar auf die Vor- stellungsreihen, die in den Wissenschaften liegen.* Was von denselben in gemeiner, oder auch in künstlich veranstalteter Erfahrung anschaulich her- beygeschafft 'werden kann, das mufs allem wörtlichen Unterricht so reichlich als möglich vorangehn. Knaben, die nichts gesehn, nichts beobachtet haben, kann man nicht unterrichten. Alsdann aber mufs es zerlegt und einzeln benannt werden, [181] damit es zum wissenschaftlichen Gebrauche bereit sey. So verwandelt es sich in eine Menge von Anknüpfungspuncten für alles das Neue, was der synthetische Unterricht hinzuthut. Der Er- zieher ist allemal auf psychologisch richtigem Wege, wenn er das Gewebe und den natürlichen Fortschritt der Vorstellungsreihen, die ihn beym Unterrichte beschäfftigen, zugleich analytisch und synthetisch durchdenkt, und dafür sorgt, dafs die Lehrlinge ihm ohne Erschöpfung der Empfäng- lichkeit** und ohne zu starkes Gedränge der einander hemmenden Vor- stellungen*** folgen können.

2. Was das Interesse anlangt, so ist es schwer, über die Stufen seiner Fortschreitung etwas Allgemeines zu sagen; und am besten, hier- über auf das Beyspiel grofser Dichter zu verweisen, welche die grüfste Kunst darin beweisen, es zu fesseln und zu steigern.

Hingegen die Ausbreitung des Interesse nach seinen verschiedenen Hauptklassen läfst sich sehr bestimmt angeben; es ist auch schon oben

1 „gar" fehlt in der II. Ausgabe.»

2 Die folgenden Worte: vielmehr der Begriff .... unbrauchbar ist fehlen in der II. Ausg.

3 „gar" fehlt in der II. Ausgabe, b

4 Die folgenden Worte: und folglich .... in Betracht kommt fehlen in der II. Ausg.

* Pädagogik, im vierten und fünften Capitel des zweyten Buchs. [Bd. II vorl. Ausg.] ** Psychologie I. § 94. [Bd. V vorl. Ausg.] *** Psychologie II. § 128, sammt der dort angeführten Abhandlung über das Maafs der Aufmerksamkeif. [Bd. VI vorl. Ausg.]

a u. b SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

i. Abschnitt. Elementarlehre. 12. Capitel. Von der Staatskunst. 147

(83.) geschehen; Jund das Weitere hievon mufs in der Pädagogik nach- gesehen werden.

110. Die Abtheilung der sechs Hauptklassen des Interesse dient nicht blofs dem Lehrer zur Richtschnur für die Mannigfaltigkeit dessen, was im Unterrichte neben einander gleichzeitig fortlaufen soll (indem das Interesse möglichst gleichschwebend mufs erhalten werden); auch nicht blofs zur Abweisung eines unnützen und zerstreuenden Vielerley, während oftmals einerley Lehrgegenstand ein verschiedenartiges Interesse zugleich in Anregung zu erhalten hinreicht (84.): sondern auch zur Beurtheilung der gröfsern oder geringern Wahrscheinlichkeit, dafs ein gegebenes Indi- viduum der Erziehung durch den Unterricht wahrhaft zugänglich sey. Oft sind alle [182] Arten des Interesse nur schwach und flüchtig; dann ver- mögen sie nicht, die Anstrengung des Lernens zu bewirken,2 wie sie doch sollten. Oft regt sich eine oder die andre Art, aber in so beschränkter Eigenheit, dafs sie eher dem einseitigen Künstler, als dem ausgebildeten Menschen angehört. In allen solchen Fällen, wo weder Wilsbegierde noch Geschmack noch Patriotismus noch Frömmigkeit lebhaft hervortreten, und auch bey sorgfältigem Unterrichte, bey gutem Vortrage, bey zweckmässiger Zucht sich nicht hervorlocken lassen, da kann die Erziehung in dem Maischen selbst keinen vesten Punct anbringen, an welchem eine sichere Hoffnung wegen seines künftigen Verhaltens im Laufe des Lebens sich halten möchte. Es kommt alsdann in Frage, wie grofs die hieraus ent- stehende Besorgnifs werden möge, und welche Gesichtspuncte für den Erzieher nunmehr übrig bleiben?

Aufser den sehr bekannten Beobachtungen über die niedere Sinnlich- keit eines Menschen, und über die Gefahren derselben,3 treten hier wiederum die gleich Anfangs (7.) angegebenen bestimmenden Gründe der Lebensweise hervor. Denn von diesen allen bezieht sich die Ausbilduno- des vielseitigen Interesse eigentlich nur auf einen einzigen, nämlich auf die erhebende Erhohlung. Diese starke Stütze geht nun freylich verloren, wenn keine inwohnende Kraft der eignen geistvollen Beschäfftigung vor- handen ist. Die übrigen Puncte aber können noch gar sehr in Betracht kommen. Arbeitsamkeit ist möglich als Gewöhnung, selbst ohne empirisches, speculatives, ästhetisches Interesse. Erhohlung zu blofser Abspannung kann mit der Arbeit noch immer auf eine vorwurfsfreye, wenn auch nicht gerade löbliche Weise zweckmäfsig abwechseln, auch ohne sympathetische, gesellschaftliche, religiöse Theilnahme. Im Geleise des Umgangs geht Mancher mit Andern fort, der kein Beyspiel aufstellt, aber doch die goldne Mittelstrafse zu halten weifs. Achtung für Höhergebildete, Liebe für 'Nahestehende, Anhänglichkeit an die Seinigen, endlich die Strenge des Dienstes, trägt Manchen so ganz4 leidlich durch 's Leben, ohne dafs eine besondere Kunst der Erziehung an ihm vermifst wird. [183] Wenn

1 Die folgenden Worte: „und das Weitere .... nachgesehen werden" fehlen in der II. Ausg.

2 Die folgenden Worte: „wie sie doch sollten" fehlen in der II. Ausg.

3 „desselben" statt „derselben" SW.

4 „ganz" fehlt in SW.

10*

1^8 H> Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

also der Erzieher nichts Höheres zu thun Gelegenheit findet, wenn schwache Anlagen ihm nicht weiter vorzudringen erlauben, so bleibt ihm noch übrig, solchen Hoffnungen, die freylich nicht glänzend sind, sein Verfahren an- zupassen; — wiewohl auch dazu noch Umstände nöthig sind, die sich bey manchem, vom Schicksal einzeln hingeworfenen jungen Menschen nicht finden oder nicht voraussehen lassen. Jedenfalls aber zeigt sich der Erzogene als ein leidlich Abgeschliffener, er wird eine gangbare Münze; während der Un- erzogene anstöfst, abstöfst, und, wenn er fällt, sich meist verlassen findet. Dafs nun zu dem Abschleifen und Gangbar- Machen auch das Verhüten einer groben Unwissenheit gehört, leuchtet ein; freylich wird auch ein guter Unterricht, dem kein Interesse entgegenkommt, sie oft nicht vermeiden können.

111. Gelingt hingegen die Entwicklung des vielseitigen Interesse, dann ordnet sich das höhere Werk der Erziehung nach den praktischen Ideen (27.), die um so mehr dem Zöglinge mit eignem Lichte leuchten müssen, je weniger es, wie im vorigen Falle, nöthig ist, ihn im Strome der Gesellschaft schwimmen zu lehren. Dagegen wird es desto nöthiger, mit der Höhe der Begeisterung durch Religion und Geschichte die doppelte Strenge des Denkens und der Selbstkritik zu verbinden. Behülflich ist hiebey die .scharfe Unterscheidung der einzelnen praktischen Ideen. Denn nicht von selbst schwebt das menschliche Gemüth in einem solchen Gleich- gewichte, dafs ihm Recht, Billigkeit, Vollkommenheit, und Wohlwollen gleich klar in Begriffen, gleich stark beym Handeln gegenwärtig wären. Und die innere Freyheit sucht oft genug eine excentrische Stellung in Meinungen und Ansprüchen, als ob eben ein neues Licht anstatt der alten praktischen Ideen angebrochen wäre, welches man mit grofsen Aufopferungen, mit kühnen Thaten auch umhertragen l müsse, um bey Gelegenheit nicht viel weniger als eine Märtyrerkrone zu erbeuten. Das Streben nach dem Seltenen und Seltsamen liegt im Geiste der Zeit; es pafst aber nicht zu unserm Lande; und die Erziehung mufs [184] wachen, um jugendlichen Talenten die Unbefangenheit zu erhalten, nicht um sie durch die Flammen des Ehrgeizes zu versengen. 2 Doch diese Andeutungen können hier genügen.

112. Bey Gelegenheit des erziehenden Unterrichts erwartet man ohne Zweifel etwas über Humanismus und Philanthropinismus ; zwey wunder- liche Worte, die in Betrachtungen über den erziehenden Unterricht sind eingeflochten worden. Sie gehören nicht dahin; sondern sie erinnern an das Schulwesen, wovon noch anhangsweise etwas beyzufügen ist.

Dafs Schulen als Hülfs- Anstalten für die Familien -Erziehung, die ohne dieselben ungenügend zu seyn pflegt, dienen können, ist oben (105.) eingeräumt worden. Daraus folgt gar nicht, dafs alle Schulen wirklich diesen Charakter an sich trügen. Der Staat braucht Beamte mannigfaltiger Art. Der Staat trägt überdies Sorge, dafs ein wandelbares Zeitalter nicht die alten Documente der Wissenschaft und Kunst aus den Augen ver- liere; dafs es nicht seinem Leichtsinn und seiner Schwärmerey sich ganz

1 „ertragen" (Druckfehler) für „umhertragen" I. Ausgabe.

2 Der Schlufssatz: „Doch diese . . . genügen" fehlt in der IL Ausgabe, a

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung (Druckfehler) der I. Ausg.

I. Abschnitt. Elementarlehre. 12. Capitel. Von der Staatskunst. 14g

und gar Preis geben, und nicht wie ein Schiff auf wilden Wogen richtungs- los dahin fahren möge. Diese Betrachtungen sind höchst gewichtvoll; aber sie sind eben so wenig pädagogisch, als das in altern Zeiten übliche, unstreitig sehr zweckmäfsige Verfahren, bey neu gesetzten Gränzsteinen ein Häuflein Knaben heftig zu prügeln, damit sie sich die Gränzen und deren Bezeichnung genau merken sollten.

Freylich wird Griechisch und Latein am sichersten im Andenken er- halten, wenn man fortwährend eine zahlreiche Jugend zwingt, zur Er- lernung dieser Sprachen ihre beste Empfänglichkeit herzugeben. Freylich braucht unsre Theologie diese ganze Kenntnifs, unsre Jurisprudenz und Medicin wenigstens einen Theil derselben. Freylich würde unser Wissen bald bodenlos werden, und die sichersten Vergleichungspuncte für die Werke der Redekünste würden in Vergessenheit gerathen, wenn jemals die alten Sprachen uns ungeläufig würden. Freylich müssen alle historischen Fäden, an denen wir die Herkunft [185] unsrer Cultur rückwärts ver- folgen können, auf's behutsamste vestgehalten werden, damit sie uns nicht entschlüpfen. Thäte dies keine andre Nation, so müfste es die deutsche für sich und für die andern thun; denn geschehen mufs es durchaus. Da nun diese Motive eben so einleuchtend als dringend sind, so verderbe man nicht das Klare durch's Dunkle, nicht das Veste durch's Schwankende und Zweydeutige.

Ob das Studium der alten Sprachen einen pädagogischen Werth habe? Diese Frage ist längst erhoben, und sie will gar l nicht verstummen, trotz aller bis zum Ueberdrufs2 sich wiederhohlenden Betheuerungen des so- genannten Humanismus. Das Zeitalter macht ganz 3 andre Forderungen. Und diese Forderungen erhebt es keinesweges im Namen des verschollenen Dessauischen Philanthropins, von dem man endlich schweigen sollte.

Man sollte froh seyn, wenn es der Pädagogik gelingen kann, sich unter leichten Bedingungen mit jenen, von ihr gar nicht ausgehenden, und gleichwohl gebietenden Gründen für die Beybehaltung der alten Sprachen dergestalt zu vertragen, dafs sie nicht genöthigt werde, über erlittenen Schaden Klage zu führen. Die Lobes-Erhebungen der formellen Bildung durch lateinische Grammatik (108.) könnte man sparen; die Jugend behilft sich gern ohne diese Bildung, welche eigentlich erst im männlichen Alter von Denen gewonnen wird, die sich darauf legen. Aber Latein mufs gelernt werden; folglich auch lateinische Grammatik; das ist wahr, und das genügt.

113. Für den erziehenden Unterricht der frühern Jugend giebt es nur zwey Hauptwissenschaften: Geschichte und Mathematik. Denn wie früh man zweckmäfsig Philosophie lehren könne, darüber fehlt noch hin- reichende Erfahrung; und jetzt, da kaum die oberste Klasse der Gymnasien, für die Anfangsgründe wieder geöffnet worden ist, nachdem das Mistrauen soweit gegangen war, der Philosophie die Gymnasien ganz zu verschliefsen

1 „gar" fehlt in der II. Ausg. *

2 Die Worte: „bis zum Ueberdrufs" fehlen in der II. Ausgabe b

3 „ganz" fehlt in der II. Ausgabe c

a> b u. c SW drucken nach d. II. Ausg. ohne Angabe d. Abweichungen d. I. Ausg.

ico II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

(woran freylich die Universitäten Schuld waren): jetzt kann über das, was Philosophie dem gesamm[i86]ten Jugend-Unterrichte seyn und leisten könne, noch gar kein Urtheil Statt finden, sondern das Urtheil darüber mufs lediglich der Zukunft anheim gestellt werden.

Der Geschichte gehört als Hülfswissenschaft die gesammte Philologie. Und wo es sich geschickt ausführen läfst, da ist sehr zu wünschen, dafs man die Geschichts- Kenntnisse, die nicht bloß (wiewohl auch!) müssen auswendig gelernt werden, beleuchte und belebe durch das Anschauen ihrer Documente; so wie bey der Naturgeschichte die Exemplare dem Auge dargeboten werden. Es ist auch gewifs, dafs die Documente in den Ursprachen weit tiefern und bestimmtem Eindruck machen, als in den Uebersetzungen. Aber dies ist noch lange l keine pädagogische Recht- fertigung des Zwanges und Zeitverlustes beym Unterrichte in den alten Sprachen; während aufserdem genug und nur zuviel zu lernen vorhanden ist. Und die jetzigen Bewegungen werden uns immer weiter selbst von der Möglichheit entfernen, die Knaben bey den alten Grammatiken sitzen zu lassen, mit Ausnahme derjenigen, welche Theologie, Jurisprudenz, Mediän, Philologie, Philosophie als Vorstudien für ihre künftigen Aemter betrachten müssen. Diese amtliche Rücksicht verändert Alles. Aber unsre Gymnasien sitzen voll von Knaben, die nur die untern Klassen besuchen, und deren Eltern nicht einmal die entschiedene Absicht haben, sie studiren zu lassen.

Warum sitzen diese Knaben nicht da, wohin sie gehören, auf den Bürgerschulen? Weil diese sogenannten Bürgerschulen nicht2 sind, was sie seyn sollten, und im Laufe der Zeit schlechterdings 3 werden müssen, näm- lich Haupt- und Volks-Schulen. 4

Wann erst dort der erziehende Unterricht ohne alte Sprache getrieben wird (denn für klassisches Latein ist da kein Platz), dann auch werden die Gymnasien ihrerseits Freyheit gewinnen, durch die That zu zeigen, dafs bey nicht überfüllten Klassen, bey schon einigermafsen ausgewählten Schülern, bey richtiger Methode, es sehr wohl, und selbst auf glänzende, und doch für Schüler und Lehrer keineswegs peinliche Weise [187] geschehen kann, den Unterricht in alten Sprachen, stets in die Geschichte verwebt, zum erziehenden zu machen, und ihm dabey den strengen Charakter des gründlich-gelehrten, der ihm unbezweifelt zukommt, zu lassen.

Denn es sind nur5 die langsamen, oder doch für diese Art der Be- schäfftigung unaufgelegten6 Schüler, welche die Gymnasial - Arbeit ver-

1 „lange" fehlt in der II. Ausgabe. *

2 „nicht überall sind" 11. Ausgabeb

3 „schlechterdings" fehlt in der II. Ausgaben

4 Zu dem Worte ,, Volks-Schulen'' hat die II. Ausg. folgende Anmerkung: Unleugbar ist in diesem Puncte seit zehn Jahren Manches besser geworden.

Möge nun auch das Bessere veste Wurzeln fassen !

5 „nur" fehlt in der II. Ausgabe.*1

G Zwischen „unaufgelegten und „Schüler" fügt die II. Ausgabe folgende Worte ein: „und bey der Aussicht auf eine andre Lebensbestimmung ganz natürlich unlustigen Schüler" II. Ausg.e

a e SW drucken nach der II. Ausg. ohne die Abweichung der I. Ausg. anzugeben.

I. Abschnitt. Elementarlehre. 13. Capitel. Von der geistigen Regsamkeit. ict

bittern und in die Länge ziehn. Diesen hilft auch keine Methode. Sie müssen aus den Gymnasien wegbleiben.

Dann ist die Methode, welche dem Griechischen den ihm gebührenden Vortritt und Vorrang vor dem Latein anweiset, ohne weitern Einwurf; denn bey gewöhnlich, nur nicht schlecht aufgelegten Schülern erreicht man es ohne besondere Mühe, sie auf diesem Wege zur rechten Zeit an die erste Klasse der Gymnasien abzuliefern; dergestalt, dafs sie mit der vollständigsten Fertigkeit im Lateinischen auf die Akademie abgehen können, wenn es ihnen selbst darum zu thun ist, ihren Kenntnissen im spätem Jünglingsalter die nöthige Feile zu geben. Ohne dies hilft aller Unterricht nichts.

Wenn aber die Gymnasien zuweilen vorschützen, sie könnten das nicht zu Stande bringen, was man in Privat- Anstalten leiste: so wird das wohl nicht Ernst seyn. Was sie bey schwachen Köpfen nicht vermögen, das vermag eine Privat- Anstalt noch viel weniger; denn es ist eine be- kannte Sache, dafs eine gröfsere Masse zwar schwerer zu erwärmen ist als eine kleine, dafs aber die kleine weit eher erkaltet als die grofse.

114. Ueberhaupt mufs die Mannigfaltigkeit der Schulen um Vieles gröfser werden, als sie ist. Jede Schule bekommt durch ihre angestellten Lehrer eine gewisse Eigenthümlichkeit; und das könnte manchmal erwünscht seyn. Nicht Alle passen in alle Schulen.

Einige dürsten nach Gelehrsamkeit so sehr, dafs sie niemals gesättigt werden. Für sie ist ein recht reiches Vorrathshaus dieser Waare zu wünschen.

[188] Andre brauchen viel Aufsicht. Die Schule mit strenger Dis- ciplin taugt für sie am besten.

Noch Andre mögen sich gern vertraulich anschliefsen. Schade, wenn sie nicht Lehrer finden, die ihnen entgegen kommen.

Manche sind zum gelehrten Treiben schlaff; aber geboren zum künf- tigen Geschäfftsleben. Für diese pafst kein glänzendes, wohl aber ein bescheidenes Gymnasium, das nicht in der Höhe der Kenntnisse, sondern im beständigen Einprägen des Nöthigsten sein Verdienst sucht.

Besonders aber in den untergeordneten Schulen kann die Einförmig- keit weniger, als die Mannigfaltigkeit, erwünscht seyn. Denn die Ver- schiedenheit der Naturen und ihrer geistigen Bedürfnisse ist überaus grofs, und bisher eben so wenig ergründet, als benutzt.

[189] Dreyzehntes Capitel.

Von der geistigen Regsamkeit.

115. Das praktische Interesse des Gegenstandes, zudem wir kommen, wird nach allem Vorhergehenden nicht mehr zweifelhaft seyn. Von der geistigen Regsamkeit haben wir fortwährend gesprochen; was noch folgen

je 2 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1.

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wird, ist Ergänzung, und Uebergang zu schwerern Gegenständen. Auf einige Anstrengung wird hiebey gerechnet.1

Jemand höre einen einfachen Ton, oder sehe eine einfache Farbe, (etwa des blauen Himmels, oder einer ganz einförmigen Schneefläche): so ist er in einem Zustande, den man Empfindung nennt. Dieser Zustand pflegt mehr wie ein Leiden als wie ein Thun betrachtet zu werden; und das ist natürlich genug, obgleich die Empfindung kein eigentliches Leiden in sich trägt; sie stört aber die andern Gedanken, und hält ihren Lauf zurück. Allein wenn Jemand den gestirnten Himmel betrachtet, dann sagt man. er sey im Anschauen vertieft, und dies Anschauen wird als ein Thun bezeichnet. Es ist nämlich ein absichtliches Sondern und Zusammenfassen, um Sternfiguren zu gewinnen, 2aus denen endlich wohl gar die Stern- bilder der Himmelskarten werden könnten. Jedoch diese Bilder werden als Phantasien zurückgewiesen; dagegen hat jeder Stern seine bestimmte Stelle, wo man ihn zwischen andern, in bestimmten Winkel- Abständen findet; und dies Finden ist durch eingebildete8 Formen der Sinnlichkeit keinesweges erklärlich, sondern wird durch die Empfindung des Sehens dergestalt beschränkt, dafs man dem Sehen kein [190] Phantasmen unterschieben kann, so lange man wirklich sieht.

Die einförmige Schneelläche konnte die Regsamkeit des Anschauens nicht hervorbringen. Ein Gebäude vermag es; aber auf andre Weise, als der gestirnte Himmel. Die Umrisse des Gebäudes sind faßlich, ihre Ge- stalt ist sogleich4 gefunden; die Sterne dagegen regen allerley Versuche auf, aus ihnen etwas zu gestalten. Wie machen sie das? Die Vorstellung jedes einzelnen Sterns wird gehemmt durch die anscheinende Schwärze des dunkeln Zwischenraums, aber sogleich wieder hervorgerufen durch den An- blick des nächsten Sterns. Ein beständiger Wechsel der Hemmung und Re- produetion ist die Grund - Voraussetzung dieses und aller ähnlichen innern geistigen Ereignisse. 5

Wer länger darüber nachdenken will, mag sich allenfalls mit soge-

1 Der erste Abschnitt: „Das praktische Interesse (S. 151) hiebey ge- rechnet" fehlt in der II. Ausg.

2 Statt der folgenden Worte: „aus denen endlich wohla Jedoch diese"

hat die II. Ausgabe wiewohl nicht die Sternbilder der Himmelskarten. Denn solche b ....

3 „angenommene" statt „eingebildete" II. Ausg.c

4 „bald" statt „sogleich" n. Ausg.

5 Nach den Worten: „geistigen Ereignisse" hat die II. Ausg. folgenden Zusatz: Eben dieser Wechsel nun kann auf die mannigfachste Weise näher be- stimmt werden. Sähe man nur einige wenige Sterne, und diese in so regelmäfsiger Stellung, wie die Ecken und Kanten eines Gebäudes mit seinen Thüren und Fenstern, so würde sich das aufgeregte Vorstellen bald zur Ruhe neigen.

a SW „wohl endlich" statt „endlich wohl".

b SW drucken: „Denn solche" nach der II. Ausg. ohne die Abweichung der I. Ausg.: „Jedoch diese" anzumerken.

c SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichungen.

I. Abschnitt. Elementarlehre. 13. Capitel. Von der geistigen Regsamkeit. je?

nannter sympathetischer Dinte mancherley Schrift oder bunte Figuren auf weifses Papier zeichnen. Er wird keine Zeichnung erkennen, so lange das Mittel, wodurch die Dinte sichtbar wird, noch nicht angewendet ist. Die Zeichnung ist da, sie wird aber nicht sichtbar, so lange die bezeichneten Stellen des Papiers die nämliche weifse Farbe zeigen, wie das übrige, Der Fehler liegt nun nicht daran, dafs die weifsen Stellen unsichtbar wären ; gerade im Gegentheil, so lange sie noch weifs erscheinen, sind sie heller und folglich sichtbarer, als späterhin, wann sie Farbe annehmen. Was da fehlt, ist nur die Hemmung des Vorstellens; das Auge nimmt alles Sehens ungeachtet keine Gestalt wahr, so lange es ungehindert über das gleichmäfsig weifse Papier hinwegläuft. Was nach der Färbung hin- zukommt, ist Hemmung, aber in genau bestimmter Ordnung wechselnd mit Rcproduction.

Aus der Analyse zahlloser ähnlicher Erfahrungen konnte man längst wissen, l dafs man hier weder mit Seelenvermögen, noch mit vermeinten Formen derselben, (die für alle Gegenstände einerley seyn würden, und keinem seine eigne Gestalt anweisen könnten,) zu schaffen habe; sondern mit J'orstel[igi~]lungcn, die, in ihren einzelnen Theilen, weder ein Thun noch ein Leiden sind, die aber durch ihren Gegensatz sowohl leidend ah t hat ig werden.

116. Selbstgespräche sind ein andres, sehr bekanntes psychologisches2 Phänomen. Wozu doch dienen Worte, wenn kein Andrer neben uns ist, der zuhört? Warum reden wir mit uns selbst, als ob wir unsre eignen Gedanken erst dadurch erfahren sollten? Jedermann weifs, dafs die Selbstgespräche ihm nichts nützen; dennoch werden sie gehalten, oft in recht zierlichen Ausdrücken. \be,x die Worte haben hier keinen Zweck; sie sind Ballast, der den Gedanken einmal anklebt; der psychologische^ Mechanismus bringt eins mit dem andern ins Bewufstseyn, weil einmal zwischen Wort und Vorstellung eine beynahe vollkommene Complication war gebildet worden.

Wodurch war sie denn gebildet? Man frage lieber, ob sie ver- hindert werden konnte? Wenn das Kind zugleich sieht und hört: so klebt ihm Gesehenes und Gehörtes zusammen. Warum ? Beides ist in ihm, und noch obendrein gleichzeitig. Keine Scheidewand aber, um die Verbindung zu hindern, ist in ihm. Alles in dem Einen, der da hört, sieht, vorstellt, würde Ein ungetheiltes Vorgestelltes werden, wenn nicht aus den Gegensätzen der Töne, der Farben u. s. w. Hemmungen entstünden.*

1 Statt der Worte: „konnte man längst wissen" hat die II. Ausg. „läfst sich erkennen", a

2 „psychisches,, statt „psychologisches" II. Ausg.b

3 „psychische"' statt „psychologische" 11. Ausg.c * Psychologie II. § 118.1

4 Nach Psychologie II. § 118 [Bd. VI. vorl. Ausg.] hat die II. Ausg. folgenden Zusatz: Von Hemmung, und dem damit zusammenhängenden Gesetze des Gleich- gewichts, ist schon oben (in der Note zu 50.) etwas erwähnt worden. Aus dem blofsen, Gleichgewichte aber würde noch keine Regsamkeit entstehen, wenn nicht, auf gegebene höchst mannigfaltige Anlässe, die Reproductionen hinzukämen.

a b u. c SW drucken nach der II. Ausg. ohne die Abweichung der I. Ausg. anzugeben.

jr, II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

1Aus diesen Principien hätten Erzieher und Staatsmänner, die unauf- hörlich in Zöglingen und in ganzen Menschenmassen den psychologischen Mechanismus beobachten, die Spur der wahren Psychologie finden sollen. Aber abgesehen von den Vorurtheilen der Schulen, die sich in den Weg stellten, fehlte zur wissenschaftlichen Erkenntnifs die Rechnung, ohne die man in diesem Felde keinen sichern Schritt gewinnt.

Vielleicht auch fehlte die wissenschaftliche Geläufigkeit in der Logik, welche zu Hülfe kommen mufs, um theils an den [192] Maafsstab ihrer Forderungen diejenigen Vorstellungen zu halten, die man unter dem Namen der Begriffe in den menschlichen Köpfen findet, während sie niemals genau das sind, was sie als Begriffe seyn sollten* theils die Aufmerk- samkeit auf den Actus des Urtheilcns su lenken, wodurch die Begriffe nicht blofs schärfer bestimmt, sondern im höhern Nachdenken sogar wesentlich umgebildet werden.**

117. Reihen von Vorstellungen sucht jeder Lehrer in dem Kopfe seines Lehrlings zu bilden, indem er ihm eine Reihe von Namen, von Vocabeln u. dgl. vorsagt, und nachsprechen läfst, und zum Auswendig- lernen aufgiebt. Dafs manchmal auch noch überdies das Gelernte außer der Reihe soll aufgesagt werden, bleibe der Kürze wegen2 unberücksichtigt; auch kann der Actus des Memorirens hier nicht vollständig so, wie er im gebildeten Geiste vor sich geht, dargestellt werden. 3Wir müssen uns auf das Ein- fachste und Höchstnöthige beschränken; denn selbst dies ist noch ziemlich verwickelt, und kann, wenn man nicht rechnen will, nur gleichnifsweise erklärt werden; ja auch so nur unter Voraussetzung scharfer Aufmerksamkeit.

Zuerst ist zu merken, dafs jede Vorstellung, sobald sie von einer Hemmung durch entgegengesetzte ergriffen wird, zwar im Bewufstsein sinkt, das heifst, verdunkelt wird; aber nicht plötzlich, sondern allmählig.

Der Lehrer sage dem Knaben etwas vor: so entsteht in dem Knaben eine Reihe von Vorstellungen, die wir mit a, b, c, d, e, f, g bezeichnen

1 statt der Worte: „Aus diesen Principien .... zu Hülfe kommen mufs" (7 Zeilen weiter) hat die II. Ausg. Folgendes:

Das bisher Erwähnte gehört zu den Anfängen der geistigen Regsam- keit, dergleichen man selbst bei den Thieren annehmen mufs, wenn man, die menschliche Sprache und deren Ausbildung bey Seite setzend, blofs darauf sieht, dafs Zeichen verstanden werden, und Merkmale der Dinge zu Gesammt- Vorstellungen eben dieser Dinge verbunden sind. Es ist noch weit von da bis zu derjenigen höhern geistigen Thätigkeit, welche die Logik voraussetzt, ....

* Psychologie II. § 120. [Band VI. vorl. Ausgabe.] ** Ebendaselbst § 139 149.

2 „der Kürze wegen" fehlt in der II Ausg.*

3 Statt des lolgenden Satzes: „Wir müssen .... scharfer Aufmerksamkeit"

hat die II. Ausg. Folgendes:

Unter dem Lehrer denke man sich, wenn man will, die Erfahrung; dann bedeutet der Lehrling jeden beliebigen Menschen vom Kinde bis zum Greise. Nur wird alsdann die Sache ohne Vergleich verwickelter, als wir sie hier der Kürze wegen annehmen.

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne die Abweichung der II. Ausg. anzugeben.

i. Abschnitt. Elementarlehre. 13. Capitel. Von der geistigen Regsamkeit. [tc

wollen. Sogleich, indem die erste dieser Vorstellungen, a, hervortritt, wirkt auf sie irgend etwas Entgegengesetztes, woran der Knabe sonst wütde ge- dacht haben, und welches nunmehr, da es hinweggedrängt wird, einen Gegen- druck äufsert. Die Vorstellung a sinkt also; aber nur um ein Weniges. Denn noch ehe sie bedeutend ver[i93]dunkelt ist, kommt die zweyte Vorstellung b hinzu. Was folgt daraus? Das ganze b verschmilzt, un- gehemmt wie es in diesem Augenblick noch ist, mit a; jedoch nicht mit dem ganzen a, sondern nur mit a in so fern es nicht schon verdunkelt, also in so fern es noch im Beivufslsein gegenzvärtig ist l Dieses In -so -fern nennen wir den Rest von a. Und zwar den ersten Rest. Denn es steht bevor, noch einen ziveyten, dritten, vierten Rest des nämlichen a sorgfältigst unterscheiden zu müssen. Der Grund davon liegt in der Verlängerung der Reihe. Auf b folgt c. In diesem Augenblicke findet sich zweyerley verändert. Erstlich ist a, dessen Hemmung immer fortgeht, jetzt schon mehr gehemmt als vorhin. Eben darum ist nun nicht mehr der ganze erste Rest von a im Bewufstseyn, sondern nur der zweyte Rest von a ist noch vorhanden. Aber Zweytens: b ist auch von der Hemmung ergriffen. Folglich verschmilzt nunmehr das ganze c mit dem ersten Reste von b, lind mit dem zweyten Reste von a.

Man übersieht ohne Mühe, wie das fortgeht. Jede Vorstellung ver- schmilzt, indem sie eintritt, mit allen Resten, welche sie von den vorher- gehenden noch antrifft. Was aber daraus folgt, ist etwas schwerer zu sagen, und dazu dient folgendes Gleichnifs:

118. Einer Menge von Menschen werde einerley Geschäftt aufge- tragen. Wären die Leute alle gleich rüstig, so würden sie es gleich rasch angreifen, und zugleich endigen. Aber wir müssen erwarten, sie ungleich stark zu finden. Also, sollte man meinen, würden die stärksten zuerst fertig. Keineswegs! Je geschwinder Einem die Arbeit unter den Händen von Statten geht, desto weniger strengt er sich an. Wenn es auch nicht immer in der Welt so geht, so pafst es doch zum Zwecke unseres Gleich- nisses, für jetzt an solche Saumseligkeit zu glauben. Wenn nun Jeder in demselben Maafse, wie er seine Arbeit vorrücken sieht, sich zueniger an- strengt: so hat zwar der Stärkste am raschesten begonnen, aber bald [194] läfst er merklich nach, und arbeitet nicht geschwinder, als der nächste nach ihm, der etwas langsamer anfing. Der dritte war anfangs noch langsamer; nach einiger Zeit aber höhlt er, was die Geschwindigkeit an- langt, den zweyten ein; und so ferner.

Nun nehmen wir noch hinzu, dafs die Arbeit, indem sie vorrückt, irgend Etwas gegen sich reizt, wodurch sie mehr und mehr in ihrem Fortschritte aufgehallen , ja wieder verdorben wird. Was ist die Folge? Der erste Arbeiter stöfst am frühesten dergestalt an, dafs er nicht weiter kann; der zweyte hat das nämliche Schicksal später, der dritte noch später, u. s. f.*

* Dies Gleichnifs möchte wohl das beste seyn, was1 sich finden läfst, um Denen, ■die mathematischen Untersuchungen nicht folgen können, den Mangel derselben einiger- mafsen zu ersetzen.

1 „das" statt „was" U. Ausgabe a

a SW drucken nach der II. Ausgabe ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg-

1=6 II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1 .

Man würde sich irren, wenn man dies Gleichnifs auf die verschiedenen Vorstellungen, a, b, c, d u. s. w. beziehen wollte.

Wir haben nicht ohne Ursache in jeder dieser Vorstellungen ver- schiedene Reste gesondert, auf denen ihre Verbindung mit den andern Vor- stellungen beruht. Nun fasse man zuerst die eine Vorstellung, a, ins Auge. Man versetze sich ferner in einen andern Zeitpunct. Gestern war der Knabe von seinem Lehrer unterrichtet; heute soll er aufsagen. Der Lehrer ist so gefällig, ihm die erste Vorstellung a zurückzurufen. Jetzt aber strebt a, in seinen ganzen vorigen Stand, mit allen seinen Verbindungen zurückzukehren. Dies Streben ruft b, c, d, e, f, g; aber nicht auf gleiche Weise. Der erste, zweyte, dritte Rest von a gleicht nun dem ersten, zwevten, dritten Arbeiter. Denn das Streben nimmt ab an Wirksamkeit in dem Maafse, wie ihm Genüge geschieht. Wären die Reste alle gleich rasch in ihiem Wirken, so könnte der Knabe zum Aufsagen nicht kommen; denn er würde Alles auf einmal herausstofsen wollen. Der erste Rest treibt aber [195] am schnellsten die Vorstellung b hervor; kaum ist das Wort dafür ausgesprochen, so sinkt, wegen stets widerstrebender andrer Vorstellungen, b zurück; c dagegen kommt nun zum Worte. Indem es sinkt, gelangt d eben dahin. Diese Ordnung und Folge nun ist die nämliche, wie die gegebene Reihe; daher hat der Knabe gut aufgesagt, indem er c zwischen b und d stellte, eben so d zzuischeu c und e, des- gleichen e Zivi sehen d und f, und so ferner.

Es mufs hier genügen, dies von der Vorstellung a bemerklich ge- macht zu haben. Ist b an sich stark genug: so hilft es beym Hervor- treten der folgenden Glieder mit seinen verschiedenen Resten, die nunmehr mit den vorerwähnten Arbeitern verglichen werden müssen. Bey näherer Untersuchung wird man leicht bemerken, dafs, wenn zuerst, bey der Wiederhohlung, der Lehrer dem Knaben die Vorstellung d erneuert hätte, alsdann zwar dieses d auf die folgenden Glieder e, f, g gerade so wirken müfste, wie vorhin a wirkte auf b, c, d; aber ein andres Gesetz der Re- produetion gilt, wenn man die Reihe rückwärts betrachtet. Die Vor- stellung d wirkt nicht blofs auf die nachfolgenden, sondern zugleich auf die vorhergehenden Glieder; jedoch mit dem Unterschiede, dafs diese rückwärts gehende Wirkung von dem ganzen d auf verschiedene Reste von c, b und a ausgeübt wird; ein Unterschied, der in der Psychologie wichtige Folgen hat*

119. Auf die eben angedeutete Untersuchung mufs zuvörderst Alles zurückgeführt werden, was irgend veranlassen kann, das Wort Zwischen auszusprechen. Dahin gehören die sämmtlichen Reihenformen: Raum, Zeit, Zahl, Grad, Tonlinie, Farbenfläche, ja sogar die logischen An- ordnungen der [196] Begriffe, die zwischen höheren und niederen Begriffen ihre Stelle haben. Nicht genug kann man warnen gegen das grundfalsche2 Vorurtheil, als wären Raum und Zeit Formen der Sinnlichkeit. Bey Ge-

''' Psychologie I. § IOO, und II. § 109 116. 'Wer diese Untersuchungen gering schätzt, von dem müssen wir annehmen, dafs ihm an mathematischer Psychologie nichts liegt. Dafs man das übel nehme, hat keine Noth.

1 Der folgende Teil der Anmerkung fehlt in der II. Ausg.

2 „grundfalsche" fehlt in der II. Ausg.

I. Abschnitt. Elementar! ehre. 13. Capitel. Von der geistigen Regsamkeit. je 7

legenheit sinnlicher Empfindung erzeugen sich vorzüglich häufig, vorzüglich vollständig, und mit manchen, daraus hervorgehenden, nähern Bestimmungen die Reihenformen; das ist Alles, was an der Verknüpfung der Sinnlich- keit mit dem Räume wahr ist. Aber schon im neunten Capitel war Ge- legenheit daran zu erinnern, dafs es sehr wichtige Analogien mit dem Räume im Gebiete des Schönen giebt.

Das räumlich Schöne in der Plastik und Malerey, das zeitlich Schöne der Melodie und Rhythmik, sind Proben von demjenigen Regsamkeit unsrer Vorstellungen, welche aus ihrem reihenförmigen Gefüge hervorgehn. Das Gefühl liegt beym Schönen, (und so überall,) nirgends anders, als in den Vorstellungen selbst; es ist ein Zustand, worin sie einander gegenseitig und zusammengenommen versetzen. Freylich aber liegt es eben deshalb in der Seele, welche nur Eine ist in ihrem gesammten Vorstellen. l Dies läfst sich im Allgemeinen erkennen; und die Bahn zu künftigen Unter- suchungen über Dinge, die bisher ganz unbegreiflich schienen, ist hiemit geöffnet.

120. Ferner hängt hiemit zusammen die Lehre vom sogenannten Begehrungsververmögen. In ihrer einfachsten Form ist Begierde nichts anders als eine Vorstellung, die einer Hemmung nicht nachgiebt, sondern, gestützt auf ihre Verbindungen, dagegen aufdrängt und im Bewufstseyn emporsteigt. Allein gerade darum, weil die Verbindung selbst meistens reihenförmig ist, mufs auch zu diesem Behufe die Reizbarkeit der Vor- stellungsreihen genauer untersucht werden.*

Will man aber diese und andre Anwendungen der nämlichen Lehre gehörig überlegen: so ist nöthig, sich nicht blofs einfache Reihen zu denken, sondern Reihen von Reihen, Ge[i9/]webe von Reihen; ja sogar Reihen von Geweben aus Reihen, u. s. f.; kurz das, was schon oft unter dem Namen einer Vorstelluiigsmasse ist erwähnt worden. Der ganz form- lose Ausdruck Masse wird hier blofs deswegen gewählt, weil es unbestimmt bleiben mufs, ob die jedesmal vorhandne Form nicht in anderm Sinne auch höchst unförmlich, misgestaltet, könne genannt werden. Denn der psychologische2 Mechanismus bildet sich nur dann regelmässig, wenn Er- ziehung durch Menschen, durch Welt und Schicksal hinzukommt; sonst oftmals höchst zweckwidrig.

Er wirkt auch nicht immer vollständig. Seelenstörungen und Träume entstehn auf unsäglich mannigfaltige Weise aus den physiologischen (vom Leibe ausgehenden) Hemmungen, wodurch die Regsamkeit der Vorstellungs- reihen genöthigt wird, sich in verstümmelten, und alsdann wieder falsch zusammengesetzten Producten zu zeigen.

121. Alles dies läuft darin zusammen, dafs man die geistige Reg- samkeit lediglich in den Vorstellungen selbst zu suchen hat; während

1 Die folgenden Schlußworte von 119: „Dies läfst sich .... hiemit geöffnet fehlen in der II. Ausg.

* Psychologie II. § 150. [Band VI vorl. Ausgabe]

2 „p3ychische" statt „psychologische" II. Ausgabe, a

a SW drucken nach der IE. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

I eg II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1.

Andre sie in den Seelenvermögen, noch Andre gar im Hirn suchen. Dem praktischen Menschen könnte die Frage nach dem Sitze und Ursprünge dieser Regsamkeit sehr gleichgültig scheinen; fast so gleichgültig, wie die Frage vom Sitze der Seele. Wird etwa dadurch, möchte er ausrufen, die Regsamkeit selbst gröfser oder besser, dafs Ihr Eure Meinungen von ihrem Entstehn verändert?

Eben hierin liegt Etwas nicht Gleichgültiges. Denn dieser Ausruf veranlafst einen zweyten: Werdet Ihr etwa dadurch freyer, dafs Ihr von der Freyheit diese oder jene Meinung fafst?

Ueber den Ursprung der geistigen Regsamkeit, also über die Möglich- keit, dafs Jemand eine gewisse Handlung mit oder ohne bewufstes Wollen, mit oder ohne vorgängige Rechenschaft, die er sich selbst darüber ab- legte, vollzogen habe: darüber disputiren heutiges Tages Aerzte und Criminalisten mit nicht geringer Heftigkeit. Der Streit hat auch nicht das An[ig8]sehen, bald nachlassen zu wollen. Auf der einen Seite die fort- laufende Reihe von Criminalfällen, auf der andern das Asyl der Unwissen- heit, welches man Freyheit nennt! Die Criminalfälle ängstigen mit Recht das Gewissen der Richter; die Freyheitslehre, übertrieben bis zu der Be- hauptung, auch der Wahnsinnige sey schuldig, spornt sie, Handlungen zu bestrafen, die nicht blofs aus dem rohen, sondern sogar aus dem fremd- artig gehemmten psychischen Mechanismus hervorgehn; ohne Rücksicht auf den vielleicht unverschuldeten Mangel einer höhern Bildung zu sittlichem, klarem Bewufstseyn. Und nun stellen sich ihnen Physiologen in den Weg, die, nach der andern Seite hin übertreibend, Leben und Seele verwechseln! Folglich auch den Willen selbst als blofsen, glücklich oder unglücklich aus- fallenden Lebensactus betrachten.

Solche Verwirrung kann zwar hier keine Polemik veranlassen, aber sie mag erinnern, dafs auch scheinbar blofs theoretische Lehren ihre sehr wichtige praktische Seite haben.

1i22. Schon oft ist von der Zusammenwirkung mehrerer Vor- stellungsmassen die Rede gewesen (41. 65 u. s. w.). Diese ist's, welche zuerst leidet, sobald die geistige Regsamkeit im Ganzen gehemmt wird. Daher vertraut man dem Wahnsinnigen kein Geheimnifs; dem Schlafenden versucht man es abzufragen; bey sonst keuschen und züchtigen Personen tritt im Delirium der Geschlechtstrieb nackt hervor, u. s. f. Es bedarf nur der mindesten Ueberlegung dieser Beyspiele, um zu bemerken, dafs hier die höhern Vorstellungsmassen, welche dem verkehrten Betragen nach gehöriger Apperception (70.) Einhalt thun sollten, gelähmt sind; daher nun die niedern ungehindert zu einer Wirksamkeit gelangen, wie sie von ihnen nicht besser zu erwarten ist. Man wird demnach ohne viele Worte begreifen, dafs in dem Zusatnmenivirken der verschiedenen höhern und niedern Vorstellungsmassen der Sitz derjenigen geistigen Regsamkeit ist. welche gemeinhin Vernunft genannt wird. Der Name praktische Ver- nunft aber pafst insbesondere da, wo in den höhern Vorstellungsmassen

1 Der § 122 nebst dem folgenden „Zusatz" fehlt in der II. Ausgabe, die jedoch Theile des „Zusatzes" in das der I. Ausgabe fehlende Kapitel 17 abgenommen hat. Siehe Seite 160, 161, 191, 192, 193.

i Abschnitt. Elementarlehre. 13. Capitel. Von der geistigen Regsamkeit. jen

[199] diejenigen ästhetischen Urtheile (45.) ihren Wohnplatz erhalten und behauptet haben, die nicht etwa auf Gärten, Häuser, Bildsäulen, sondern auf die innern geistigen Regungen selbst gerichtet sind. Als vorzugsweise jene fünf, und mit ihrer Anwendung zehn {2J.), deren Gegenstand der Wille selbst ist.

Jetzt suche man den Punct, worauf die Untersuchung des Criminal- richters zielt. Zuerst unstreitig, was man den Geschworenen zugewiesen hat, die That. Aber das reicht nicht hin. Wenn Flüsse und Bäume menschliches Leben verkürzen, wenn Thiere Schaden anrichten, so bemüht sich wenigstens heutiges Tages gegen sie kein Criminalrichter. Die That soll erst gerechnet werden zu einem bösen, oder mindestens nachlässigen Willen. Geht man nun genau zu Werke, so unterscheidet man noch den Willen vom Charakter. Es ist allerdings gar nicht einerley, wie tief einem Menschen dasjenige Wollen sitzt, welches in That hervorgebrochen ist. Wir reden hier nicht etwa vom Wahnsinn, sondern davon, ob in dem Augenblicke, wo das Schwerdt der Gerechtigkeit den Tod bringt, der Mensch noch Verbrecher ist, oder nicht. Denn Fälle genug kann es geben, wo die Sünde schon völlig abgewaschen ist; wo sie nichts war, als ein 'böses Wetter. Ging die That nicht aus dem bösen Charakter, sondern aus einer Verstimmung hervor, und ist diese Vertimmung heilbar: als- dann reicht das Entsetzen vor dem Vollbrachten schon völlig hin, um dem Individuum, welches vor sich selbst erschrickt, ähnliche Handlungen für die Folge unmöglich zu machen.

Allein es scheint nicht, dafs die peinliche Rechtspflege sich um diesen Umstand viel bekümmere. Ob der Mensch, welcher Böses that, von längst gefafsten sittlichen Vorsätzen abwich, ob er wohl gar umgekehrt böse Grundsätze mit Consequenz in Ausübung brachte, darnach fragt zwar der Criminalist, allein die Nachweisung dieser Puncte ist doch nicht das Entscheidende. Es ist ja sogar neuerlich den Psychologen übel genommen worden, wenn sie bey charakterlosen Personen den Wahn nachwiesen, durch's Verbrechen Gutes zu stiften. Man denke nur [200] an die Schauspielerin, die sich unglücklich fühlte, ähnliches Unglück für ihre kleinen Töchter befürchtete, und sie aus mütterlicher Fürsorge mit Opium aus der Welt schaffte. „Sie hat absichtlich gemordet, (sagen die Crimi- nalisten,) das genügt."

Wir wollen nun zwar nicht mit Psychologie beschwerlich fallen. Der Fehler liegt in den ersten Elementen der Ethik. In dem erwähnten Falle mangelt der Wille, Schaden zu stiften; worauf mit vollem Rechte gleich die ersten Blicke gefallen waren.

Zusatz.

In dem Augenblicke, da dieses Manuscript soll abgesendet werden, führt der Zufall das Septemberheft von Hitzig 's Zeitschrift für die Criminal- Rechts-Pflege vom Jahre 1830 herbey. Darin findet sich ein Artikel mit einem merkwürdigen Vorworte des Herrn Herausgebers, wodurch der Vor- wurf einer feindlichen Stellung der Zeitschrift gesen die Mediän soll ab-

O OD

gelehnt werden. Wie gehört das hieher? Es wird sich gleich zeigen.

j 5o II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1 .

„Wir haben es allein mit solchen Aerzten zu thun, welche Gründe für ihr Gutachten nicht aus ihrer Wissenschaft entnehmen, sondern glauben, dafs ein seichtes, sogenanntes psychologisches Geschwätz, darum, weil das Physicatssiegel darunter steht, dem Richter für ein technisches Parere gelten müsse." Hiemit, wird man sagen, ist gründliche Psychologie noch nicht zurück- gewiesen. Mit deutlichen Worten freylich nicht. Es wird blofs behauptet: „dafs, wenn ein Arzt seine ganze Argumentation durchaus auf eine nicht mcdicinische Basis gründet, der Richter sich unmöglich an ein solches Urtheil gebunden halten könne."

Ohne weitere Bemerkung hierüber kommen wir sogleich auf drey merkwürdige Criminalfälle, welche in dem angeführten Hefte enthalten sind, und fast dazu ausgesucht scheinen, [201] um gerade auf die Weise, wie es im vorliegenden Buche beabsichtigt wird, dem praktischen Verstände so wenig abstract als möglich die Gegenstände unsrer Betrachtung vor Augen zu stellen.

1. ^iner zündet sein Haus an, um die zu hoch gesteigerten Asse- curanzgelder zu gewinnen, und seinen Plan eines bessern Neubaues ins Werk zu richten. Mit verschiedenen Miethsleuten, die bey ihm wohnen, hat er schon im Voraus von dem Glücke geredet, abzubrennen; auch guten Rath fallen lassen, man möge für mögliche -Fälle die Sachen zum Fortschaffen bereit halten. Er rühmt sich, gelernt zu haben, wie man Richter täuschen müsse. Er droht, einen Angeber würde der Brenner stumm zu machen wissen, oder ihn selbst als Brandstifter verklagen. End- lich, nach der That, im Gefängnisse, horcht er freudig auf ein vorgebliches Mittel, sich der Strafe zu entziehen.1

2. Ein Unglücklicher, um sich den Selbstmord zu sparen, wünscht hingerichtet zu werden; zu diesem Zwecke stürzt er seine vierjährige Tochter in einen Brunnen.2 Hier wird die Psychologie angeklagt, schlechte Dienste geleistet zu haben. Denn das Gericht erkennt nur auf einfache, lebenswierige Detention; und findet den Grund, weshalb der Spruch nicht auf engstes Gefängnifs nebst wiederhohlter öffentlicher Züchtigung laute, darin, dafs der Inquisit durch die drückendste Noth der Verzweiflung nahe gebracht worden, und dafs diese Lage störend auf seinen freyen Willen und sein Ueberlegungsvermögen gewirkt habe.

3. Ein melancholischer Mensch, übrigens unstreitig bey Verstände, drohet seiner Frau, sie werde ihn am Ende mit ihrer Schlechtigkeit (die, wie es scheint, nur seine Einbildung, wenigstens nicht bewiesen ist) noch so verwirrt machen, dafs es ihm gehe, wie jenem Schneider, der zuerst seine Frau, dann sich selbst mordete. Bald dald darauf kommt der Bruder zur Frau, und erzählt [202] einen Unglückstraum, worin das Verbrechen prophezeiht wird. Magenkrampf, Herzklopfen, achttägiges tief in die Nacht hinein fortgesetztes Arbeiten kommt noch hinzu; ein Rasiermesser liegt

1 Der vorstehende Abschnitt 1 befindet sich wörtlich im Kapitel 17 der II. Aus- gabe (s. unten S. 191).

2 Der vorstehende Satz von 2 befindet sich wörtlich im Kapitel 1 7 der II. Aus- gabe (s. unten S. 191.)

I. Abschnitt. Elementarlehre. 13. Capitel. Von der geistigen Regsamkeit. 16 1

gerade bereit, und die That wird l nach dem doppelten Vorbilde voll- zogen; nur gelingt der Selbstmord nicht ganz. Der Mann wird geheilt, um sein Urtheil zu empfangen; Strafe des Schwerdts mit Schleifung zur Richtstätte.2 In dem Gutachten des Physicus findet sich als Probe von Psychologie folgende Stelle:

„Dem Principe des Sittlich - Guten gegenüber, wohnt aber auch dem Menschen ein Princip des Bösen, die Sinnlichkeit, der Egoismus, inne; mit ersterem im fortwährenden Kampfe begriffen."*

Ueber die Befugnifs wissenschaftlicher Psychologie und Ethik (denn Psychologie allein reicht nicht aus), zur Beurtheilung der Verbrechen ihren Beytrag zu geben, und zwar nicht blofs durch den Mund der Aerzte, denn Psychologie ist viel zu schwer, als dafs ein Doctor- Diplom deren gründliche Kenntnifs verbürgen könnte, hierüber eine, der Wichtigkeit des Gegenstandes angemessene Auseinandersetzung zu liefern, wäre eine grofse Aufgabe, deren Lösung der Zukunft mufs vorbehalten werden, wenn auch eine solche Arbeit nicht auf Dank und Anerkennung zu rechnen hätte. Hier können nur einige Winke zur beliebigen Benutzung Platz finden. Wir betrachten dabey die Fälle nicht als Wirklichkeiten, sondern wie wenn sie blofs Uebungs-Exempel für die Schule wären.

Zuvörderst tritt nun in dem ersten Falle nicht blofs das, was man eine freye Handlung zu nennen pflegt, sondern wirklich volle Freyheit des handelnden Jl/cnschen hervor. Alle seine Vorstellungsmassen erscheinen gleichsam angesteckt von dem bösen Plane; alles Reden und Thun, nach wie vor dem [203] Verbrechen, zielt dahin; er weifs, dafs die Einwohner seines Hauses in den Flammen den Tod finden können; er zündet es dennoch an. Hier ist keine zufällige Hemmung, deren Verschwinden einen bessern Menschen darstellen würde. Blofs der Erfolg ist zufällig nicht ganz so schlimm, wie er seyn konnte: denn man erfährt nicht, dafs jemand verbrannt sey.

Was dagegen den armen Tagelöhner anlangt, der durch Hinrichtung zu sterben wünscht, so würden milde Herzen, hätten sie seine Noth ge- kannt, ihm das gute Gewissen und seinem Kinde das Leben wahrschein- lich durch eine sehr mäfsige Fürsorge und durch freundlichen Zuspruch haben erhalten können. Aber die Lebenswege sind ihm verschlossen; seine Gedanken stocken; das Vatergefühl erlischt in ihm, und seine Hand- lung, ihrem Endzwecke nach betrachtet, ist Selbstmord, dem nur das Gelingen fehlt. Die x\bsicht, Wehe zu thun, der allererste wesentliche Punct, auf welchem der Ursprung des Begriffs der Strafe beruht*, tritt nirgends in solcher Deutlichkeit hervor, dafs man darauf Gewicht legen könnte. Das Wesen des Verbrechens ist kein dolus, wohl aber culpa. Er hätte sollen den Gedanken des Selbstmords verabscheuen! Er hätte

2 Der vorstehende Abschnitt von 3 „Ein melancholischer . . . Richtstätte" be- findet sich im 17. Kapitel der II. Ausg. (s. unten S. 191 192).

* Es lohnt nicht, solche Reden näher zu beleuchten. Man vergleiche, wenn man will, Psychologie II. § 152, [Bd. VI vorl. Ausg.] sammt dem was vorhergeht.

* Praktische Philosophie, im fünften Capitel des ersten Buchs.

1 SW ,,wird nun" nach der II. Ausgabe (s. auch S. 192.) Herbart's Werke. IX. I I

IÖ2 II- Kurze Encyldopädie der Philosophie. 1 83 1 .

sollen die geringen Hülfsmittel seiner Existenz noch möglichst benutzen! Er hätte sollen vor dem Leben seines Kindes Respect fassen ! Aber die Wahrheit zu sagen, die Forderung einer meist schon erloschenen Geistes- kraft ist, nach der vorhandenen Beschreibung zu urtheüen, doch nicht gar viel klüger, als wenn man Nachdenken von einem Blödsinnigen fordern wollte. Diesem, nicht aber dem kraftvollen Wahnsinn, nähern sich solche Fälle, wo ein Misgriff zum Verbrechen wird, weil die Gedanken des Menschen nicht mehr gehörig zusammenwirken.

Merklich anders verhält sich der dritte Fall. Hier ist zwar auch Verzweiflung und Selbstmord, aber zuerst die Absicht, Rache zu üben wegen vermeinter Beleidigung; dann erst, sich selbst für das Verbrechen zu strafen. Darin liegt klares [204] moralisches Betmtfstseyn;x und dasselbe anerkannt zu haben, gereicht dem gerühmten medicinischen Gutachten keineswegs zu besonderem Lobe ; vielmehr verstand sich von selbst, dafs man es nicht übersehen konnte, wenn man nicht etwa hätte absichtlich blind seyn wollen. 2 Dennoch ist der Zusammenhang der Handlung so beschaffen, dafs er bey einem charaktervollen Menschen tragisch heifsen würde. Finstre Bilder, Beispiel und Traum, schweben voran; der ver- stimmte, zerrüttete Mensch läfst sich fortschleppen von den Veranlassungen Hier ist dolus und culpa zugleich. Der dolus liegt in den Vorstellungs- massen, welche handelnd hervortreten; die culpa in den andern, die sich zum Widerstände erheben sollten, und wirkungslos blieben. Und dennoch obgleich die Handlung frey zu nennen ist, erblickt man keinen freyen Mann. Immer noch behält das Unglück seinen Theil an der That; und recht eigentlich ist der Thäter ein armer Sünder ; eine Benennung, worauf jener kalt berechnende Brenner keinen Anspruch hat.

Keiner von diesen Fällen zeigt den Gipfel der Bosheit, die eigent- liche Tücke. Andrerseits sinkt auch keiner bis zu solcher Milderung des Urtheils herab, wie jene Handlung einer Mutter, die, nach eignem Bey- spiele ein klägliches Leben für ihre- Töchter fürchtend, ihnen lieber einen sanften Tod giebt. Darin lag ein Misgriff in guter Meinung.

3 Sollen wir nun noch sagen, dafs die Zurechnung eine Gröfse hat, welche wächst und abnimmt? Und dafs die Strafe mit der Zu- rechnung wachsen und abnehmen sollte? Wenn nun schon jenem armen Sünder die geschärfte Todesstrafe zuerkannt wird; ja wenn der Un- glückliche, der die Hinrichtung wünschte, zur Strafe ein schmachvolles Leben fortsetzen mufs: welche ausgesuchte Pein soll jenem Brenner bestimmt werden, bey welchem die Zurechnung, wenn die übrigen Umstände gleich wären, ohne Vergleich höher steigen müfste? Ist es unsern Criminalisten so überaus leicht, die Todesstrafe gegen stets erneuerte Einwürfe zu £205]

1 Der vorstehende Text: „Zuvörderst (S. 161 Z. 20 v. ö.) mora- lisches Bewufstseiir' findet sich in Kapitel 17 der II. Ausg. (Siehe unten S. 192 bis 193.

2 Der folgende Text: „Dennoch . . v. herab, wie" (14 Zeilen weiter) findet sich wörtlich in Kapitel 17 der II. Ausg. (Siehe unten S. 192 193.)

3 Die folgenden 2 Sätze: „Sollen wir .... abnehmen sollte?" finden sich wörtlich am Schlufs des 17. Kap. der II. Ausg. Vergl. S. 193.

i. Abschnitt. Elementarlehre. 14. Capitel. Vom Leben. 163

vertheidigen, dafs sie dieselbe nicht etwa (wie man erwarten könnte) den seltenern Fällen einer ganz klaren Zurechnung vorbehalten, sondern die Hülfe der Psychologie und der Ethik von sich stofsen, damit die Gränz- linien, die sich zwischen den Verbrechen ziehen lassen, ja nicht zum Vor- schein kommen mögen?

[206] Vierzehntes Capitel.

Vom Leben.

123.1 Empfindung, Anschauung, Phantasie, Vorstellungsreihen und deren Reizbarkeit, Fühlen, Begehren, Wollen, logisches, ästhetisches, moralisches Urtheil, der Charakter selbst, alles dies, sammt Wachen, Schlafen, Träumen, erscheint manchen, jedoch nicht allen, Physiologen als eine Summe von Lebenszeichen; wohin dann ferner die grofsen Familien der Vegetation, der Irritabilität, der Sensibilität gerechnet werden. Denn schon die Pflanze, welche nur wächst, besitzt Leben; das Thier, versehen mit irritabeln Muskeln, und mit Sinnes-Werkzeugen, hat ein höheres Leben; wenn nun beym Thiere Leben und Seele einerley wäre, 2 wenn man, um sich ja recht süfslich oder doch recht zweydeutig auszudrücken, einen beynahe romantisch klingenden Ausdruck, die Psyche, beides oder auch nach Be- lieben abwechselnd eins von beiden bezeichnen läfst: warum sollte denn beym Menschen, der den Physiologen nur ein Thier ist, mit dem man nicht experimentiren darf, die Seele vom Leben unterschieden werden?

Jedenfalls ist das Leben ein Erfahrungsgegenstand; die Seele aber ganz und gar nicht. Betrachten wir also für's erste das Leben, und später- hin die Seele. Zwar haftet an der Betrachtung der Seele, als eines selbst- ständigen Wesens, ein sehr starkes praktisches Interesse, nämlich das der Unsterblichkeit. Allein es ist an diesem Orte noch nicht nöthig, dasselbe in Anspruch zu nehmen.

[207] Das Leben ist das Land der Wunder; und die nüchternste Erfahrungsweisheit kann sich hier vom Erstaunen nicht trennen. Zwischen dem Erklärbaren und dem Unerklärlichen einige Gränzlinien zu ziehen, ist der nothwendige Anfang der wissenschaftlichen Abstraction.

So z. B. kann man bey der Irritabilität die zweckmäfsige Einrichtung der Muskeln, welche nur mit religiösem Sinne aufzufassen ist, in Ge- danken absondern von der Frage: wie die Zusammenziehung der Muskeln an sich möglich sey? Offenbar nämlich ist diese Möglichkeit die erste Voraussetzung kunstvoller Anordnung und Verbindung so vieler verschiedenen Muskeln an passenden Orten; aber das Vorausgesetzte ist noch nicht die

1 In der II. Ausgabe 12 2.

» Hier fügt die II. Ausg. folgende Worte ein: „warum sollte denn beim Menschen die Seele vom Leben unterschieden werden? Hierin liegt eine der gefährlichsten Klippen". Dagegen fehlen in der II. Ausg. die folgenden Worte : „wie man .... unterschieden werden (Schlufs des Absatzes).

11*

l()A IL Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

bewundernswürdige Kunst selbst. Eben so ist blofse Vegetation in krank- haften Auswüchsen nichts zweckmäfsiges ; aber die allgemeine Frage von der Möglichkeit der Vegetation trifft die Auswüchse eben so wohl als die gesundesten Theile des Leibes. Von der Sensibilität gilt das nämliche; in den Sinnentäuschungen des Kranken bleibt sie stets ein natürliches, obwohl kein zweckmäfsiges Ereignifs.

1 Im vorhergehenden Capitel war von Zweckmäßigkeit nicht die Rede. Soll sie in die Vorstellungsreihen gelegt werden, so ist dies Sache der Erziehung und geselligen Bildung; darnach richtet sich alsdann die geistige2 Regsamkeit. Hier aber, wo wir nicht das sogenannte Leben des Geistes, sondern das Leben des Leibes bey schlafendem oder wachendem Geiste, oder auch eben so wohl das geistlose Pflanzenleben also das eigentliche Leben, welchem der Geist zufällig ist, im Auge haben: hier findet sich nicht blofs ein auffallender Unterschied zugleich von Geist und von roher Materie, sondern eben hier auch findet sich die offenbarste Zweckmäfsigkeit, welche überhaupt dem Blicke des Menschen erreichbar ist.

Wir rechnen in diesem Buche überall auf die reine Empfänglichkeit des gebildeten Lesers, nicht aber auf Verbildung durch falsche Systeme. Daher ist hier kein Widerstreben gegen die natürliche Auffassung des Zweckmäfsigen zu erwarten; [207] sondern wir setzen voraus, man nehme dasselbe wie es sich giebt; und knüpfe nun, ohne Quälerey mit idealistischen Zweifeln, den religiösen Glauben daran, als an ein Gegebenes und nicht blofs Postuliries. Dann ist geschehen was sich gebührt; und so mufs es bleiben; ungetrübt durch Einwürfe, gegen welche der gebildete Mann ruhig die Metaphysik mag wirken lassen.

124. Aber auf allgemein verbreitete Vorurtheile müssen wir freylich auch hier gefafst seyn.* Hieher gehört nun zwar nicht ganz, aber doch nach der gewöhnlichen Auffassung, der alte Satz: Der Mensch besteht aus Leib und Seele.

Und wie nun, wenn Einer die Seele herausnehmen könnte? Dann wäre der Leib todt?

Haben denn die Pflanzen auch eine Seele? Und ist an deren Gegen- wart das Leben der Pflanzen gebunden?

Ein Alter sagte scherzweise: dem Schwein sey die Seele gegeben statt des Salzes, damit es nicht faule. Das ist schon zuviel gesagt. Die Pflanzen haben keine Seele, und leben doch. Beschneidet man den Baum an einem Orte, so wuchert er desto stärker am andern. Nimmt man dem Rosenstock die ersten Knospen, so blüht er später. Keine Blumenseele war mit den Knospen verloren.

1 Hier beginnt in der II. Ausg. 123.

2 „geistige" fehlt in der II. Ausg.*

* Vielleicht auch auf Leser, die noch nicht wissen, dafs die Gegenstände, von denen hier etwas Weniges mitgetheilt wird, zu den allerschwierigsten gehören. Man schlage die Metaphysik nach, dort stehn sie ganz am Ende. s

3 Die Anmerkung fehlt in der II. Ausg.

a SW drucken nach der II. Ausgabe ohne Angabe der Abweichung der I. Ausgabe.

I. Abschnitt. Elementarlehre. 14. Capitel. Vom Leben. 165

Man schreibe nun, 'um ein für allemal den Unterschied zwischen Seele und Leben zu merken, jene geistige Regsamkeit, von welcher im vorigen Capitel die Rede war, der Seele zu: einem ganz einfachen, an sich unräumlichen Wesen, das mit der Materie, wie sie den Sinnen er- scheint, gar keine Aehnlichkeit hat. Das Leben aber gehört der Materie, und findet sich bey Thieren und Pflanzen nur darum im Ganzen, weil es in allen Theilen, wiewohl nicht in allen [209] einerley, sondern eben so verschieden ist, als diese Theile in ihren organischen Functionen sich zeigen. So hat die Lunge ein andres Leben als der Magen, das Blut ein andres Leben als das Mark. Aber nicht minder die flüssigen Theile sind belebt als die vesten; denn zwischen Flüssigkeit und Vestigkeit schwebt im lebenden Leibe Alles unaufhörlich, so dafs man weder den Begriff des starren noch dena des flüssigen Körpers, streng genommen, darauf an- wenden kann.

Jenes unedle Thier hat Leben so gut wie ein andres. Es hat über- dies auch eine Seele, die jedoch den Dienst des Salzes nicht leisten kann. Sie dient, damit das Thier nicht eine Pflanze sey, sondern sehe und höre, sich bewege und seine Nahrung suche.

125. Ehe wir weiter gehn, ist es zweckmäfsig, den Begriff des Leichnams zu betrachten. Dieser ist das Gegentheil des Lebenden, aber eben so sehr das Gegentheil der rohen Materie, die niemals gelebt hat. Denn der Leichnam ruhet nicht; er mufs verwesen, wenn es nicht ge- waltsam gehindert wird. Auch ist er nicht so einfach und schlechtweg die Negation des Lebenden, dafs zwischen beiden nichts in der Mitte stünde. Der Scheintod ein still stehendes Leben steht allerdings in der Mitte; und zwar nicht blofs bey Kranken, sondern auch bey Thieren im Winterschlafe; bey Eyern und Saamenkömern, deren Entwicklung verspätet wird; und vielleicht am merkwürdigsten bey den in Felsen gefun- denen Kröten, welche aus dem zerschlagenen Gestein hervorkamen, und von denen niemand weifs, wie lange sie dort können eingeschlossen gewesen seyn.

Während auf alle3 diese Gegenstände der Begriff des Leichnams nicht kann angewendet werden, pafst er dagegen auf alle diejenige Materie, welche luährend des Lebens ausgeschieden wird. Sie mufs auch verwesen. Aber bekanntlich thut sie das in gewissen Fällen viel zu langsam für unsre Wünsche. Der Peststoff, das Blattern- oder Scharlach -Gift ent- zündet nur zu lange, nachdem es ausgeschieden war, [210] in gesunden Leibern die Krankheit, wodurch zuvor es selbst erzeugt worden war.

Wiederum mag man hiemit die Kraft des Düngers vergleichen, die allen Leichnamen zukommt. Auch hier zeigt sich ein scheinbar erloschenes Feuer noch o-Hmmend und wärmend.

Endlich damit die Betrachtung den gebührenden Umfang gewinne, wollen wir dem Scheintode noch den Schlaf gegenüber stellen. In

1 Die folgenden "Worte: „um ein für .... zu merken" fehlen in der II. Ausg. 3 „alle" fehlt in der II. Ausg.*

2 „den" fehlt in SW.

a SW. drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

l66 II- Kurze Encyklodädie der Philosophie. 1 83 1 .

ihm erhohlt sich ein Theil des Leibes von den ihm zufälligen Aufregungen durch die Seele. Wiederum in der Seele sind nicht blofs im Schlafe die Vorstellungen gehemmt; sondern in jedem Augenblicke, auch während des vollkommensten Wachens, befinden sich die allermeisten unsrer Vor- stellungen im Zustande völliger Hemmung. Der Grund dieser Hemmung liegt in dem Gegensatze der Vorstellungen unter einander.

Von allen den hier berührten Gegenständen kann nun freylich keiner in diesem Buche eigentlich abgehandelt werden. Aber bey Er- fahrungs-Gegenständen mufs schon bey der ersten Vorbereitung zum Nach- denken die Aufmerksamkeit soviel als möglich über das Feld dessen, was sich vergleichen läfst, ausgebreitet werden; wenn man sich gegen die Irr- thümer der Einseitigkeit sichern will. *

126. Es ist jetzt Zeit, zu unterscheiden, was wir wahrnehmen, und was wir hinzudenken. Das Aeufsere nehmen wir wahr; ein Inneres denken wir hinzu, oder sollen es wenigstens hinzudenken; 2denn Gedanken- losigkeit in diesem Puncte ist eine der schlimmsten Blöfsen, die man dem andringenden Irrthum geben kann.

Und wie denn ist das Hinzugedachte beschaffen ? Sind es Kräfte,

1 Nach den Worten: „der Einseitigkeit sichern will." hat die II. Ausg. folgenden Zusatz:

Wir verweilen einen Augenblick bey diesem Puncte, ohne darum der Me- thodenlehre (welche hier noch absichtlich vermieden wird)vorgreifen zu wollen.

Die meisten Naturforscher bekennen, ihre Ansichten seyen durch Induction, das heifst, durch Vergleichung ähnlicher Gegenstände gewonnen; sie bekennen auch, die Induction müsse so vollständig seyn als möglich. Verfolgt man diesen Grundsatz, so darf man die Augen nicht gegen einen Theil der vergleichbaren Gegenstände verschliefsen ; also auch weder auf die lebenden Körper allein, noch auf die todten Körper allein, sein Augen- merk richten, sondern man mufs beides verbinden, und die Thatsachen von beiderley Art gleichviel gelten lassen.

Andrerseits suchen die Naturforscher mit den Geometern vom Be- kannten ausgehend zum Unbekannten fortzuschreiten. Da sie nun viel glücklicher sind in der Auffindung der Gesetze, wonach sich die unbe- lebten Körper richten, als in der Erkenntnifs der lebenden Natur, so ge- wöhnen sie sich, das Unbelebte, welches am besten bekannt ist, in den Vordergrund zu stellen. Noch mehr: weil ihnen die Geometrie vortreff- liche Dienste leistet, so fassen sie die Körper zuerst von der Seite der Ausdehnung auf, als ob man hintennach in den Begriff des Ausgedehnten Alles, was sonst noch von den Körpern zu sagen ist, hineinpflanzen müfste. Aber sie dürfen sich nicht beklagen, wenn die Naturphilosophie sie an jene Forderung der Induction erinnert, und sie fragt, ob solche Ansichten von den Körpern, wonach nur unbelebte Materie begreiflich wird, und wonach lebende ja sogar todte, das heifst eigentlich gestorbene Körper, wie Holz, Knochen, u. s. w. unerklärbar scheinen, wohl richtige Begriffe ge- währen mögen, oder ob vielleicht Vorurtheile mit unterlaufen?

2 Statt der folgenden Worte : „denn Gedankenlosigkeit .... geben kann" hat die II. Ausg.: „die angeführten Unterschiede fodern dazu auf."

i. Abschnitt. Elementarlehre. 14. Capitel. Vom Leben. 167

welche die Dinge ein- für allemal haben? Wollen wir der Pflanze eine Kraft zuschreiben, vermöge deren sie grünt und blüht und Saamen trägt? Gesetzt, das wäre geschehen, wo bleibt nun ihre Fähigkeit, sich in Milch und Blut zu verwandeln? Das Thier, welches sie zum Futter wählt, ver- wandelt sie darin. Der Mensch geniefst etwa das Fleisch [211] dieses Thiers. Er wird krank; die Pest ergreift ihn. Sein Leichnam wird eine Giftquelle. Lag die Kraft dieses Giftes in den Bestandtheilen der Pflanze? Nichts weniger. Der Mensch konnte gesund bleiben. Er konnte andre Nahrung geniefsen. Das Thier konnte andres Futter finden. Die Pflanze starb alsdann den natürlichen Tod der Pflanzen. Nichts von allem, was sie nachmals litt1 und that, war in ihr vorbestimmt.

Dieser ganze Kreis von Betrachtungen zeigt nicht Dinge, wie sie sind, sondern Dinge, wie sie werden. Er zeigt auch nicht Kräfte, als solche und keine andern, sondern Thun und Leiden in Folge des Werdens; und ein Werden in folge des Zusammentreffens.

2 Wir haben aber noch einen andern Kreis von Wahrnehmungen, der kein Aeufseres, sondern ein Inneres darbietet. Man kennt ihn aus dem vorigen Capitel; und es ist hier der Ort, daran zu erinnern.

1 nochmals I. Ausg.a

2 Statt der Worte: „Wir haben aber .... ZU erinnern" hat die II. Ausg. Folgendes :

Wollte man das, was die verschiedenen Definitionen des Lebens eigentlich sagen wollen (man denke an des Hyppokrates eingeborne Wärme, Helmonts Archäus, Stahls Seele, an des Sylvius Gährungsstoff, Browns Erregbarkeit u. s. w.), deutlicher aussprechen, so könnte man die Worte so fassen: Leben ist ein mannigfaltiges, meist in sieh zurücklaufendes, ab- solutes Werden, für eine Zeitlang geliehen einem Stoffe, welcher früher war, später bleibt, und während der Lebensdauer iheils zunimmt, theils abnimmt. Zum Unglück ist das absolute Werden ungereimt, das in sich zurück- laufende absolute Werden noch ungereimter,* und wenn es dem Stoffe blofs geliehen würde, müfste man ihn für bezaubert halten. Aber der Stoff, die unzweifelhafte Basis des erfahrungsmäfsig bekannten Lebens, leihet nicht blofs, sondern er erlangt innere Bestimmungen, die ihm auch nach erloschenem Leben noch bleiben; und wiewohl im gesunden Leben diese Bestimmungen zweckmäfsig geordnet sind und zusammenwirken, so sind sie doch nicht die einzigen möglichen, sondern das kranke Leben kann sie mannigfaltig abändern. Auch läuft das gesunde Leben nur scheinbar in sich zurück, denn es bedarf der Nahrung, sonst folgt der Hungertod; und das kranke Leben weicht aus seinem Kreise, indem der Kranke geheilt wird oder stirbt.

Nach allem Diesen würden die gesuchten innern Bestimmungen

immer noch schwer zu errathen seyn, wenn sie nicht ihrem allgemeinsten

Begriffe nach schon bekannt wären. Sie sind angedeutet, indem wir

die Betrachtung der geistigen Regsamkeit voranschickten. Man vergleiche

das vorige Capitel.

* Lehrblich zur Einleitung in die Philosophie, vierter Abschnitt, zweytes Capitel.

a SW drucken nach der II. Ausgabe ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

j(33 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

127. Gleich Anfangs (115.) fanden wir in der Empfindung zwar nur einen innern Zustand. Aber dieser Zustand blieb nicht allein; andre, und zwar entgegengesetzte Zustände, gleichfalls innere Bestimmungen, kamen hinzu. Nun waren die Entgegengesetzten nicht aufser einander, denn wir setzten Einen Empfindenden voraus, der, indem er spricht: Ich empfinde, die entgegengesetzten Empfindungen vereinigt und verarbeitet; doch so, dafs sein Verarbeiten sich nach dem Empfinden richtet, indem aus dem ruhigen Empfinden das bewegliche und regsame Anschauen hervorgeht. Dabey ist wohl zu bedenken, was oben nicht ohne Grund sorgfältig entwickelt wurde, dafs nämlich die verschiedenen Empfindungen nicht etwa so schlechtweg in Ein Subject zusammenfallen, wie wenn dies Subject ein Gefäfs wäre, worin allerley bunt durch einander gemengt wird; sondern dals, gemäß der Ordnung und Folge, worin die Empfindungen theils gleichzeitig, theils nach einander eintreten, und überdies, geniäfs dem Giad ihres Gegen- sazfes, (der in manchen Fällen auch gleich Null ist,) sich Reihen bilden, welche [212] Reihen tveiterhin die Wirksamkeit bestimmen, die in ihnen jedes einzelne Element gegen die übrigen äufsert.

Man wird wohl thun, sich hiebey der mehrern Deutlichkeit wegen sogar die Reihen von Menschen im Staate zu vergegenwärtigen, von wel- chen oben (89.) bemerkt wurde, der Staatskünstler werde sich hüten, nach Belieben mit ihnen zu experimentiren. Jedoch, die Menschen sind im Staate aufser einander, wenn sie schon dicht beysammen wohnen; ja sie kennen oft einer den andern nicht, wenn sie schon Nachbarn sind. Aber die Empfindungen, welche in Einem Bewulstseyn beysammen sind, werden durch Nichts getrennt, aufser in so fem sie theilweise einer Hemmung unterliegen. Aus der Hemmung entsteht Spannung; aus der Span- nung entsteht unter gewissen Bedingungen Wirksamkeit; und aus der Wirksamkeit ein Schein oder vielmehr eine Meinung von allerley Kräften, welche der Unbehutsame für inwohnende Eigenschaften der Dinge zu halten pflegt. l Wir müssen aber den Leser ersuchen, sich vor solchem Meinen zu hüten.

128. Zwar bey weitem nicht Alles, was von der geistigen Regsam- keit bekannt ist, aber wohl den ganz einfachen Uebergang von innen/ Zuständen, (welche der Mensch, der sie in sich findet, eben deshalb und in so fern Empfindungen nennt,) zu gegenseitiger Hemmung, Spannung, und Wirksamkeit: diesen Uebergang denke man in jedes einzelne Element eines lebenden Leibes hinein. Und nun glaube man vorläufig der Erfahrung, dafs solche Elemente, die räumlich verbunden sind, gemäls ihren innern Zuständen auch ihre äufsere Lage bestimmen; so dafs mit jenen auch diese sich verändert, also, dafs von den innern Zuständen auch die Bewegungen, mithin die räumlich bestimmten Erscheinungen abhängen. Wie das zugehe, und warum es so geschelm müsse, läfst sich im Allgemeinen erklären.* Das offenbarste und bekannteste [212] Beyspiel davon giebt die Gewalt des Willens über den ihm dienstbaren Leib, dessen Nerven dergestalt vom Willen abhängen, dafs in den zugehörigen Muskeln eine mechanische

1 Die folgenden Worte: „Wir müssen .... zu hüten" fehlen in der II. Ausg. * Metaphysik II. § 267 278. [Bd. VIII. vorl. Ausg.]

I. Abschnitt. Elementarlehre. 14. Capitel. Vom Leben. 169

Kraft entsteht, durch welche wir in der Aufsenwelt handelnd auftreten. Es ist zwar Niemandem zu verdenken, wenn er über diese Verbindung zwischen Leib und Seele sich wundert; aber dafs man erst zu wissen meint, was die Dinge seyen, und welche Kräfte sie haben, und hintennach sich wundert, wenn aus diesem Seyn und Haben weder Empfindung noch Bewegung zu erklären ist, dies zeigt eine falsche Richtung der Gedanken, die man aufgeben, ja umkehren mufs.

Der erste und allgemeinste Grundsatz aller wahren Naturphilosophie ist dieser, dafs innere und äufsere Zustände sich gegenseitig bestimmen. l

Dieser Grundsatz pafst nicht blofs auf Seele und Leib, sondern auch auf die Theile des Leibes in ihrem gegenseitigen Verhältnifs. Er pafst nicht blofs nicht auf thierische Leiber, sondern auch auf die Saamen der Pflanzen, welche in jedem Korn das ganze System der innern Zustände enthalten, wodurch die Gestalt der wachsenden Pflanze in der ganzen Reihe ihrer Metamorphosen bestimmt wird. Er pafst endlich auf Kry- stalle, auf alle chemischen Verbindungen und Zersetzungen, wovon weiter- hin. Ehe wir von der Anwendung dieses Grundsatzes sprechen, ist noch eine Warnung nöthig.

129. Nichts ist leichter, nichts verführerischer, 2 aber auch nichts ver- kehrter und für alle genauere Untersuchungen verderblicher, als bey der Betrachtung des Lebens sich in das blofse Wechseln und Werden zu ver- tiefen. Es ist schon unklug,3 wenn ein Staatsmann von Gesetzen und von der Herrschaft der Gesetze redet, ohne zu überlegen, welche denn die Personen seyen, denen Lust und Macht inwohne, die Gesetze zu be- folgen und zu schützen. Gesetze sind ein reines Nichts, ohne den Willen, der sie in Ausübung bringt und erhält. Es ist aber noch viel unkluger4, von Naturgesetzen etwas zu erwarten ohne Voraussetzung einer vesten, sich durchaus gleich bleibenden Natur der [214] Dinge. Sich selbst gleich und unwandelbar mufs zuerst Etwas seyn; 5wo Nichts ist, da wird auch Nichts. Das Sinnloseste aber von allem wäre, (was leider! zu den alten Vorurtheilen gehört,) Substanzen anzunehmen, von denen man ganz ge- lassen aussagen dürfte, sie wären das Beharrliche, was dem Wechsel zum Grunde läge, und ihn geschehen liefse, ohne sich um ihn zu bekümmern, und ihn zu bestimmen. In dem Beharrlichen hat die Festigkeit der Ge- setze den Grund ihrer Xothivendigkeit. Weil es ein solches und kein andres ist, darum wird der Wechsel von solchen und keinen andern Ge- setzen regiert.

1 Zu dem Worte: „bestimmen" hat die II. Ausg. folgende Anmerkung: Will man diesen Satz lieber eine Hypothese, ja selbst eine sehr gewagte Hypothese

nennen, so wollen wir hier nicht darüber streiten, und zwar aus dem einfachen Grunde nicht, weil es hier nicht unsre Absicht ist, Metaphysik vorzutragen.

2 Der folgende Satz: „aber auch .... verderblicher1 fehlt in der II. Ausg.

3 „unpassend," statt „unklug" II. Ausg.

1 „unpassender", statt „viel unkluger" II. Ausg. a

5 Die folgenden Worte : „wo Nichts ist ihn zu bestimmen" (5 Zeilen

weiter) fehlen in der II. Ausg.

a SW merken die Abweichung nicht an.

Ijq II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

Aber hieher gehört auch der bekannte Satz : die Dinge an sich kennen wir nicht. Dieser Satz ist richtig;* und auf ihn bezieht sich das zuvor Gesagte: man möge nicht glauben, zu wissen, was die Dinge seyen und welche Kräfte sie haben.

130. Ferner mufs man sich hüten, über dem Zusammenhange der Natur die Vielheit der gesonderten Dinge aus den Augen zu verlieren. Die Erfahrung zeigt Vieles, und zwar vieles Selbstständiges. Die genauere Naturkenntnifs entdeckt manche auf den ersten Blick nicht sichtbare Ab- hängigkeit des Einen vom Andern; so z. B. findet sie, dafs alle Theile der Erde durch eine gegenseitige Anziehung beysammen bleiben; dafs eben diese Anziehung den Mond bey der Erde, und wiederum die Erde bey der Sonne erhält, u. s. w. Nun kommen die Systeme mit grundloser Uebertreibung. Weil Alles zusammenhängt, meinen sie, Alles sey Eins. Dabey begegnen ihnen die ungeheuersten Ueberschätzungen des Zu- sammenhangs.** Denjenigen aber, die sich lieber auf Erfahrung als auf Systeme verlassen, sollte man gar nicht nöthig haben, mit einer Warnung über diesen Punct beschwerlich zu fallen. Oder sagt ihnen etwa die Er- fahrung, wenn der Mond einen Fixstern bedeckt, dann sey in der Wirklich- keit eine Wechsel [2 1 5] Wirkung zwischen dem Sterne und dem Monde vorhanden? Jedermann weifs, dals die ganze Erscheinung, die man Stern- bedeckung nennt, sich auf den Standpunct des irdischen Zuschauers be- zieht, und ohne diesen durchaus nichts bedeutet. Eben so können unter den zahllosen Analogien, welche die vergleichende Anatomie antrifft, gar viele sevn, die weiter nichts sind, als eben Vergleichungen , das heifst, Gedanken im Kopfe des Beobachters. 1 Wenigstens liegt darin nichts, was den Satz, Alles ist Eins, begründen könnte; und es ist blofse Unwissen- heit, wenn Einige in diesem Puncte den Untersuchungen der Metaphysik vorgreifen, die das gerade Gegentheil lehren.***

131. Nach diesen Vorerinnerungen wird verständlich seyn, was zur Anwendung des allgemeinen Grundsatzes (128.) auf den vorliegenden Gegenstand dient.

Die Bestandtheile organischer Leiber können zwar mannigfaltig seyn in Ansehung ihrer ersten, ursprünglichen Qualität. Wenn aber diese Voraus- setzung zum Grunde gelegt wird : so führt sie auf den Begriff eines starren Körpers.1" Das war auch nicht anders zu erwarten. Aus dem Gegensatze zwever Elemente mag, wie die Chemie in der Erfahrung nachweiset, ein Körper entstehen: so wird die Beschaffenheit dieses Körpers eben so vest bestimmt seyn, als die Qualitäten der Elemente. Da ist nichts von Leben zu spüren.

* Metaphysik § 199. 200. [Bd. VII vorl. Ausg.]

** Ebendas. § 155. 413.

*** Metaphysik II. § 213 229.

t Metaphysik II. § 274. Es wird sogleich im folgenden Capitel mehr davon ge- sagt werden. Die Ordnung, in welcher die Untersuchung fortschreitet, ist hier absichtlich umgekehrt. Wir können hier nicht untersuchen, sondern nur von der am angeführten Orte aufgestellten Untersuchung Bericht erstatten, und noch überdies nur einen sehr kurzen Bericht; über das Resultat, nicht über die Gründe!

1 Der folgende Satz: „Wenigstens liegt darin .... Gegentheil lehren" nebst der dazu gehörenden Anmerkung fehlen in der II. Ausg.

I. Abschnitt. Elementarlehre. 14. Capitel. Vom Leben. 171

Setzen wir also die Verschiedenheit in den ursprünglichen Qualitäten bey Seite, damit ihr Product uns nicht schon in Gedanken erstarren

möge. [2I°]-

Statt dieser Verschiedenheit können wir eine andere finden, nachdem wir uns die ursprüngliche Qualität für mehrere Elemente als gleichartig gedacht haben. Denn in jedes Element sollen wir mancherley innere Zu- stände, sammt deren Hemmung, Spannung, und Wirksamkeit hineindenken (127.). Dies Mancherley in Einem Elemente kann sehr verschieden seyn von dem Mancherley in andern Elementen. Nun sollen die Elemente räumlich verbunden seyn, so wie etwa Stickstoff, Sauerstoff, Kohlen- stoff, Wasserstoff, in organischen Leibern verbunden sind. Mag dann immerhin aus Wasserstoff und Sauerstoff Wasser werden: wenn nur nicht zugleich aus den andern Verbindungen Kohlensäure, oder gar Salpeter- säure entsteht! Gerade dies ist's, was wir vermeiden wollten. Verschieden- heit der innern Zustände soll in gleichartigen - gleichviel welchen, Elementen stattfinden. Einiger Kohlenstoff zum Beyspiel mag in dieser, andrer Kohlenstoff in andern Pflanzen schon früher vorhanden gewesen seyn. Und nun soll es nicht auf Verbindungen zwischen Kohlenstoff und Sauerstoff oder Stickstoff ankommen, sondern auf Verbindungen zwischen einigem und anderm Kohlenstoff. Wird denn daraus das Eigne der Lebenserscheinungen erklärlich werden?

Wir könnten eher fürchten, zu viel, als zu wenig auf diesem Wege zu erklären. Denn wenn aus allen innern Zuständen eines einzigen Ele- ments solche unruhige Regsamkeit hervorginge, wie die geistige ist, die wir kennen: dann möchten mehrere verbundene Elemente solcher Art aus ihrer innern Unruhe auch eine sehr unhaltbare äufsere Lage erzeugen; und dabey könnte man eher an Fieberhitze, als an gesundes Leben denken.

Allein nichts nöthigt uns zu solcher Uebertreibung. Die geringste innere Spannung in jedem Elemente, einzeln genommen, giebt schon Wandelbarkeit ihrer Verbindung. Der einfachste Anfang dieser Unter- suchung erfordert eigentlich gar nichts von innerer Spannung, sondern nur ungleich[2i7]artige innere Zustände in gleichartigen Elementen.* Aber woher nehmen wir die geforderte Verschiedenheit der innem Zustände.-'

132. Das Reich der lebenden Organismen ist bekanntlich nicht auf einmal da; sondern es erhebt sich stufenweise. Wasser und Erde können nicht den Menschen ernähren. Thiere und Pflanzen müssen schon da seyn. Aber auch nicht die schlechtesten Pflanzen. Vom Grase lebt allen- falls das Pferd, aber nicht der Mensch. Das Gras schon will einen frucht- baren Boden; einen Humus, der frühere Vegetation voraussetzt. Was bedeutet diese Stufenfolge? Nichts andres, als dafs die feinere Nahrung ihre schon erworbenen innern Zustände mitbringen mufs. Diese innern Zustände bleiben ihren Bestandteilen oder Elementen, auch nachdem die or- ganische Structur zerstört ist. Von diesen innern Zuständen hängt einer- seits das Verwesen des Leichnams, aber auch andrerseits die Fähigkeit ab, höhere Organismen zu ernähren. Ihre Verschiedenheit, theils in ver- schiedenen Pflanzen, theils in verschiedenen Theilen derselben Pflanze,

* Metaphysik II. § 365 und 426 bis zu Ende des Werks.

j-2 IL Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

theils auf verschiedenen Stufen der Vegetation, versteht sich ganz von selbst.

133. Aber wo bleibt, möchte Jemand fragen, das praktische Interesse? In der That, wohnte nicht die Seele im Leibe, würde nicht die geistige Reg- samkeit bald gestützt bald gestört durch das leibliche Leben, liefse sich die Psychologie von der Physiologie, die praktische Philosophie von der Psychologie ganz trennen: dann dürften wir dem Leser kaum zumuthen, die vorstehenden Sätze genau zu durchdenken. Hat aber die Sterb- lichkeit des Leibes schon so manche Zweifel gegen die Unsterblichkeit der Seele aufgeregt: so dürfte doch die Bemerkung willkommen seyn, dafs selbst in den Elementen, woraus der Leib besteht, die innern Zu- stände jede organische Structur überdauern. Der Tod ist sogar hier nicht das Ende; und wenn ein falscher Materialismus der Frömmigkeit gefähr- lich ist, so könnte im Gegen theil wohl ungesucht ein Licht in die Physio- logie fallen, wenn man, von Betrachtungen über die geistige Regsamkeit herkommend, die Frage vom Leben daran knüpft, um alsdann zur Be- trachtung der Materie hinüberzugehn. Und jetzt 1 wird, nach dem Sprich- wort: opposiia iuxta se posita magis elucescunt, die unbelebte, blofse Materie uns den Dienst leisten, durch ihren Gegensatz auch das, was im Vor- stehenden etwa 2 dunkel scheinen konnte, '6 fafslicher zu machen.

1 „bald", statt „jetzt" II. Ausgabe.»

2 „etwa" fehlt II. Ausgabe, b

3 Nach den Worten: „fafslicher zu machen" hat die IL Ausg. folgenden Zusatz:

Es ist indessen nicht blofs die Fafslichkeit, welche uns bestimmte, das Leben früher als die unbelebte Materie in Betracht zu ziehn. Man könnte wohl andre Wege finden, den Begriff der innern Zustände, auf den es hier vorzüglich ankommt, herbeyzuführen. Aber vom praktischen Inter- esse sind wir ausgegangen; diesem liegt gewifs das Leben und sein Gegentheil, der Tod, - - sehr nahe, während die unbelebten Körper dem- selben nur als brauchbarer Stoff, oder umgekehrt, als eine Masse von Hindernissen, die überwältigt werden müssen, erscheinen. Eine solche Auffassung ist nicht blofs einseitig, sondern sie kann auch zu Ueber- treibungen verleiten, welche am Ende dem praktischen Interesse selbst schädlich werden. Darüber soll hier eine kurze Bemerkung eingeschaltet werden, die in Ansehung der neuern Philosophie von Wichtigkeit ist.

Fichte liefs sich von dem Gedanken leiten, die gesammte äufsere Natur sey Etwas, welches dem geistigen Leben, seinen Zwecken, seiner Bestimmung gegenüber stelle, und der geistigen Freyheit Eintrag zu thun wenigstens scheine. Das sollte nun, seiner Meinung nach, nicht so

a und b SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichungen der I. Ausgabe.

II. Abschnitt. Elementarlehre. 15. Capitel. Von der Materie. 173

Fünfzehntes Capitel.

Von der Materie.

134. Ohne auf Meinungen, Einwürfe, insbesondere auf idealistischen Irrthum hier Rücksicht nehmen zu können, verfolgen wir den eingeschlagenen Weg. Die Verbindung des Willens mit Nerven und Muskeln, desgleichen das Entstehen der Vorstellungen aus Affection der Sinne, diese Thatsachen sind Bey spiele für den allgemeinen Begriff des Zusammenhangs zwischen dem Aeufsem und Innern. Von der Materie aber erfahren wir nicht das Innere; daher das Vorurtheil, sie sey blofs träge Masse im Räume.

Bekanntlich zieht die Sinnpflanze ihre Blätter an sich, sobald man eins derselben leicht berührt. Wenn nun andre Pflanzen Aehnliches nicht zeigen, so folgt nicht, es fehle ihnen der Sinn, sondern es fehle ihnen der Bau, der solche Erscheinungen bedingt. Und eben so:

bleiben. Er bezeichnete die Aufsenwelt mit dem Namen: Nicht-Ich; und das Verhältnifs zwischen dem Ich und diesem Nicht-Ich war der Haupt- gegenstand seiner Untersuchung. „Die Welt soll mir werden, was mir mein Leib ist" dieser kurze Ausdruck giebt den Geist seiner Philo- sophie zu erkennen. Eine solche Gesinnung trieb ihn, sein System des Idealismus auszubilden, welchem gemäfs die Aufsenwelt in der That nichts wahrhaft Wirkliches seyn sollte, sondern nur eine Erscheinung, welche uns täusche, so lange wir uns von ihr bedrängt glaubten. Durch seine Lehre sollte die Täuschung verschwinden ; dazu sollte zugleich das Denken und das Handeln aufgeboten werden.

Daraus entstand nun zunächst eine Aufgabe an das theoretische Denken, die unmöglich ausgeführt werden konnte, nämlich diese: die sämmtlichen, von den Physikern erforschten, Gesetze, nach denen die Körperwelt wirkt, in eben so viele Gesetze des menschlichen Vorstellens umzugestalten, als ob eben nur vom nothwendigen Vorstellen diese Ge- setze des Erscheinens (nicht des Seyns) ausgingen. Die Unmöglichkeit, so etwas zu leisten, konnte nur Mistrauen gegen die Philosophie zur Folge haben.

Aber auch das praktische Interesse nimmt eine falsche Richtung, wenn es nach einer unmöglichen Unabhängigkeit strebt.

Es wird nicht nöthig seyn, dies nach allem Vorhei gehenden mit Bezug auf die praktischen Ideen (27.) noch weitläufig zu entwickeln. Nur darauf ist hier noch aufmerksam zu machen, wie nöthig es für die neuere Philosophie, selbst in praktischer Hinsicht geworden ist, sich nicht von der Naturforschung abzusondern. Denn an dem Mangel physikalischer Kenntnisse liegt der Grund, wenn so unrichtige Ansichten, wie die idea- listischen, sich gelten machen, und zu einem Anschein von Ausbildung gelangen, der noth wendig wieder verschwinden mufs. Die Folge davon ist eine Reaction des Empirismus, der mit allen ihm anhängenden Vor- urtheilen um desto stolzer sein Haupt emporhebt, je offenbarer es wird, dafs die Natur sich nur Demjenigen dienstbar bezeigt, der sich die Mühe gegeben hat, nach ihren Gesetzen zu forschen.

IJA II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1 .

Bekanntlich findet die Chemie in Pflanzen und Thieren beynahe nur Kohlenstoff, Stickstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Kalk, Phosphor, Kalium, Eisen u. s. f.; sehr vieles Andre hingegen findet sie in den Organismen nicht. Wenn nun jene Bildsamkeit, vermöge deren der Kohlenstoff u. s. w. von der niedrigsten Vegetation beginnend allmählig die Fähigkeit erlangt, dem Menschen zur Nahrung zu dienen (132.), sich in den meisten Erden und Metallen nicht zeigt, so folgt darum nicht, es fehle den letztem gänz- lich an innern Zuständen: sondern nur, die Resultate derselben seyen so vest bestimmt, dafs sie an der Mannigfaltigkeit und Beweglichkeit des Pflanzen- und Thierlebens nicht Theil nehmen können.

Die Materie für ein blofs Räumliches und dennoch für etwas Wirk- liches zu halten, ist völlig ungereimt. Der Raum ist Nichts; und Prä- dicate, die blofs von ihm entnommen werden, bedeuten Nichts.

Kräfte, wie Schwere, Cohäsion u. dgl. die sich blofs auf räumliche Verhältnisse beziehn, gehören der Erscheinung an; und diese Erscheinung mufs tiefer liegende Gründe haben. ^vein Wunder, dafs der Idealismus sie in uns selbst sucht. Aber der Idealismus ist falsch,* und die Natur- forscher haben durch ihn nichts gelernt.

135. Dafs die Erfahrung immer Einzelnes, Bestimmtes zeigt, und niemals irgend einen Stoff, der blois Materie wäre, liegt vor Augen. Aber auch die Metaphysik, weit entfernt, einen angenommenen, raumerfüllenden, beweglichen, undurchdringlichen Stoff hintennach mit allerley Prädicaten zu begaben, findet gleich dort, wo sich ihr der Begriff des Körpers im Denken darbietet, den starren Körper, mit bestimmter Configuration, Dichtig- keit, chemischer Auflösbarkeit, Elasticität; dergestalt, dafs die nähere Bestim- mung dieser Eigenschaften von dem Verhältnifs unter den Qualitäten der Elemente unmittelbar abhängt. 2Was sich hierüber mit wenigen Worten andeuten läfst, läuft etwa3 auf Folgendes hinaus.

1. Räumliche Trennung pafst zu keinem Causalverhältnifs; alle Wirkung in die Ferne ist abhängig von der Gröfse des Zwischenraums; welches keinen Sinn haben würde, wenn dieser Raum nicht ein Veimittelndes enthielte. Leerer Raum, er sey grofs oder klein, ist immer Nichts, als ein Gedanken ding.

2. Was einander die innern Zustände bestimmt, sollte dem gemäfs gar nicht räumlich getrennt, sondern völlig in einander, in strengster Durchdringung seyn. Dann fiele es in Einen mathematischen Punct zu- sammen. Dieser Punct aber wäre wieder nur unser Gedanke; und da be[2 2i]kanntlich ein Punct keinen Raum einnimmt, so wäre auch das, was wir in ihn hineindächten, eigentlich ganz unräumlich vorhanden.

3. Hiemit ist schon angedeutet, dafs die Materie nicht ins Unend-

1 Statt der folgenden zwei Schlufssätze hat die II. Ausgabe: „die wir freylich nicht beim Idealismus erfragen dürfen".

* Metaphysik II. § 302 325.

2 Der folgende Datz: „Was sich hierüber .... auf Folgendes hinaus" fehlen in der II. Ausg.

8 „dann" statt „etwa" S\V.

I. Abschnitt. Elementarletre. 15. Capitel. Von der Materie. 175

liehe fort aus Materie, also weder aus Moleculen l noch aus Atomen, sondern, nach LEiBXiTzens Ausdrucke, aus Monade//, das heifst solchen Elementen besteht, die an sich völlig unräumlich sind.

4. Ein Paar solcher Monaden,2 wenn sie einander gegenseitig ihre innern Zustände bestimmen, würden zwar sich selbst überlassen, einander völlig durchdringen; 3 allein sobald ihrer mehrere, das heifst, mehr als zzvey, im Causalverhältnifs seyn sollen, so kann die Causalität, das heifst, die gegenseitige Bestimmung der innern Zustände, sich nicht völlig ausbilden ;* und daher 1 entsteht die Ei scheinung eines unbefriedigten Strebens zur Durch- dringung; einer Attraction, die nicht ganz zu Stande kommt, sondern, durch eine Repulsion begränzt, räumliche Gestaltung zur Folge hat.

5. Diese Attraction und Repulsion sind gar5 nicht Bestimmungen der Dinge selbst, sondern ihres Verhältnisses; sie sind nicht Kräfte, sondern blofs formale Folgen des Zusammenseyns der Dinge, die von den innern Zuständen nur in Gedanken können abgesondert werden.

6. Dafs aber der Zuschauer sie absondert, ist sehr natürlich. Ihm erscheint schon eine blofse Bewegung als eine Veränderung. So geschieht's, wie oben bemerkt, bey Sternbedeckungen, während man doch weifs, dafs der Mond mit entfernten Fixsternen in keiner irgend merklichen Ver- bindung steht, ja dafs für sie sogar nicht einmal von einer Veränderung der Lage des Mondes die Rede seyn kann. Was nun dem Zuschauer für eine Veränderung gilt, da[2 2 2]für sucht er eine Kraft. Und so ent- stehn in seinen Augen Kräfte der Attraction und Repulsion, weil es ihm nicht gelingt, sich in das Innere der Dinge hinein zu versetzen.

6 Man würde sich irren, wenn man hoffte, durch Hülfe der Geometrie tiefere Einsicht zu erlangen. Die geometrischen Begriffe beziehen sich auf den leeren Raum; es ist aber der Grundfehler der falschen Natur- philosophie (die sich noch von Kants metaphysischen Anfangsgründen her- schreibt), die Materie für realisirten Raum zu halten.**

136. Zwar giebt es zu rein metaphysischen Untersuchungen, wie diese hier, keinen andern Weg, als den durch die Metaphysik selbst. 7 Allein dem Anfänger kommt unter den übrigen Wissenschaften hier noch

1 Molekeln 11. Ausg.

2 „Elemente" statt „Monaden" II. Ausgabe.»

3 Statt der folgenden Worte : „allein sobald sollen, SO" hat die IL Aus- gabe: „allein sollen ihrer mehrere im Causalverhältnifs seyn, und"

* Was dieser Ausdruck: nicht völlig, eigentlich bedeuten soll, das erklärt der § 270 der Metaphysik.8 [Die Anmerkung lehlt in der II. Ausgabe].

4 „so" statt „und daher" II. Ausgabe.

5 ,.garu fehlt in der II. Ausgabe, b

« Der folgende Absatz mit Anmerkung „Man würde sich irren .... Raum

ZU halten" fehlt in der II. Ausgabe.

** Metaphysik I. § 150. 561 u. s. w.

7 Statt der folgenden Zeile hat die II. Ausgabe etwas verändert: „Allein unter den übrigen Wissenschaften kommt hier noch . . . ." c

a, b, c SW drucken nach der II Ausg. ohne Angabe der Abweichungen der I. Ausgabe.

I" . i II. Kurze Eucyklopädie der Philosophie. 1 83 1 .

am meisten die Chemie zu Hülfe. Indem sie von Verwandtschaften redet, deutet sie mehr an, als sie weifs; der Ausdruck pafst zu innern Zuständen, welche daraus entstehn, dafs die Elemente einander nicht gleichgültig sind.

Ferner: je ?nehr Gegensatz unter den Elementen, desto vestere Ver- bindung; welches metaphysisch richtig ist.

Ueberdies entdeckt die Chemie in den meisten Fällen eine starke Veränderung des Volumens, wo das Entgegengesetzte sich vereinigt.

Und endlich zeigen sich die Krvstallisationen abhängig von den Ver- hältnissen der Elemente.

Ja sogar die bestimmten Proportionen der Elemente, welche sich chemisch vereinigen lassen, sind lehrreich, indem sie den Gedanken einer Materie entfernen, die vermöge unendlicher Theilbarkeit beliebig verdünnt oder verdichtet, auf eine andre einwirken, und sich mit ihr in Verbin- dung erhalten könnte.* JSo wenig nun die Geometrie im Stande ist, [223]

* Metaphysik II. § 421 424.

1 Statt der folgenden Schlufsworte : „So wenig nun .... Lagerung und Configuration" hat die II. Ausg. Folgendes:

Bev weite'rm Nachdenken über diese und ähnliche Lehren der Chemie

J

wird man besonders auf zwey Hauptbegriffe aufmerksam gemacht, nämlich" auf die Begriffe von Substanz und Kraft.

Ohne zu entscheiden, ob die verschiedenen 1 Grundstoffe, welche die Chemie annimmt (etwa 54 an der Zahl), schon wirklich einfach seyen, weifs man doch, dafs sie aus sehr verschiedenen Verbindungen und Um- wandlungen stets als dieselben zurückkehren, und, wie man es nennt, sich reduciren lassen. Man sieht nicht blofs, dafs sie noch in gleicher Quantität da sind, (welches am Gewicht erkannt wird,) sondern auch was sie sind, ihre Qualität, kehrt unverändert wieder; sie haben in den mannigfaltigsten Umbildungen sich selbst erhalten. Sie besitzen die Beharrlichkeit, welche man von Substanzen fodert.

Ferner: wenn man nach den Kräften fragt, so sagt die Chemie nicht, ein Stoff sey der thätige, und ein andrer leide von ihm, sondern die Stoffe seyen einander verwandt; so dafs man eher den Begriff einer Wechselwirkung darauf übertragen könnte, als den des Thuns von einer und des Leidens von der andern Seite. Genau genommen aber sagt die Chemie auch dies nicht; wenn z. B. Wasserstoff und Sauerstoff Wasser bilden, so lehrt sie nicht, jeder dieser beiden Stoffe thue dem andern etwas zuwider, sondern sie läfst es dabey, dafs beide sich mit einander verbinden.

Anders erscheint es in der Physik, wenn ein Körper den andern stöfst, ihm seine Ruhe raubt, wo nicht gar ihn zerbricht; oder wo die Schwere, wie ein unsichtbarer Geist, ihn treibt; oder die Wärme ihn gewaltsam ausspannt, ein elektrischer Schlag ihn zerschmettert, u. dergl. m.

Schon hier wird es fühlbar, dafs die Physik es uns weniger leicht macht, uns ihr anzuschliefsen, als die Chemie; denn hier bekommen die Dinge das Ansehn, als ob einige von ihnen Kräfte besäfsen, die sie gleich

1 SW „verschiedensten".

I. Abschnitt. Elementarlehre. 15. Capitel. Von der Materie. 177

chemische, oder gar organische Phänomene zu erklären: eben so wenig kann sie unmittelbar über die Constitution der Materie Aufschlufs sehen. Ihre Begriffe von unendlicher Theilbarkeit passen gar nicht, weder auf die Bestandteile der Materie, noch auf deren Lagerung und Configuration. 137, Die Menge und Mannigfaltigkeit der Materien können wir in Gedanken nicht begränzen, dürfen sie aber auch nicht für unendlich er- klären;* sondern das leeie Gedankending der Unendlichkeit mufs hier, wie überall, wo vom Realen die Rede ist, vermieden werden. Die Er- fahrung zeigt uns Weltkörper mit Ungeheuern Zwischenräumen, das heifst, sie zeigt mannigfaltige Elemente zu grofsen materialen Massen verdichtet; wie es zu erwarten stand, wenn Attraction, oder das Streben zur Durch- dringung, der Repulsion vorangeht. Aber Licht und Schwere (welche letztere von der Attraction der Elemente sorgfältig zu unterscheiden ist) durchwandern noch die für leer gehaltenen Zwischenräume; das heifst mit andern Worten, diese Räume sind nicht leer, und nicht alle Elemente haben sich zu Weltkörpern verdichtet. Das war auch nicht zu vermuthen. Denn die Verdichtung, also die Attraction, setzt Causalität in Ansehung der Innern Zustände (135.) voraus; dazu gehört aber ein Verhältnifs des Gegensatzes unter den Elementen.** So wenig nun Grund vorhanden ist, anzunehmen, es gebe für irgend eine Art von Elementen gar keine andern ihm entgegengesetzten; eben so wenig darf man doch behaupten, jedem stehe ein anderes, ihm gleichsam widersprechendes, gegenüber: son- dern die unbegränzte Mannigfaltigkeit läfst erwarten, dafs Gegensätze in allen Abstufungen, also auch in sehr geringen Graden, vorkommen werden; woraus alsdann folgen wird, dafs manche Elemente zu einer vesten Ver- bindung mit den übrigen, [224] schon zur Verdichtung gelangten, nicht passend seyen, und dafs hiemit auch für die Zwischenräume unter den Weltkörpern noch Etwas übrig bleiben werde. l

Boten von sich aussendeten, um andern zu gebieten, und als ob diese andern sich den Befehlen fügten, oder gar einer unerbittlichen Gewalt nachgäben. Ja manche Physiker behaupten ganz deutlich eine actio in distans, nur mit dem Unterschiede, dafs einige Wirkungen sich in uner- mefsliche Fernen erstrecken, andre sich aufs Allernächste beschränken sollen. Es hat sogar eine Hypothese Beyfall gefunden, nach welcher die Distanzen zwischen den Molekeln eines Körpers unvergleichbar grölser seyn sollen als die Durchmesser dieser Molekel; so dafs sich das Licht mit gröfster Leichtigkeit in allen Richtungen hindurchbewegen könne. Schade nur, dafs nicht alle Körper durchsichtig sind! Die Hauptfrage wäre aber dann nach der Ungeheuern Repulsion, welche ungeachtet der Cohäsion, und allen vorausgesetzten Attractionen trotzend, die Molekel nicht näher herankommen liefse. Wir erwähnen dieser Hypothese nur des Contrastes wegen; da gerade umgekehrt nach dem Obigen (135.) eine unvollkommene Durchdringung; der Elemente, die also nicht einmal völlig aufser einander sind, aller körperlichen Massenbildung zum Grunde liegt.

* Metaphysik II. § 300. [Bd. VIII vorl. Ausg.]

** Nämlich damit sie in einander eingreifen. Metaphysik § 232 und § 335. [Bd. VII vorl. Ausg.]

1 Hier folgt in der II. Ausg. noch folgender Zusatz :

I 2

HfcRBARi's Werke. IX.

1^8 H- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

138. Es liegt nahe genug, hier etwas über die Imponderabilien, Licht, Wärme, Elektricität, Magnetismus zu sagen; welche das mit einander ge- mein haben, dafs ihre Wirkungen sich strahlenförmig von Einem Puncte ausbreiten. Denn mancherley Elemente, die, wie so eben bemerkt, wegen eines Mangels an hinreichendem Gegensatze gegen die Elemente starrer Körper, zu einer bleibenden Configuration mit denselben nicht taugen, können dennoch, schon bey dem geringsten Grade des Gegensatzes, ein- dringen, mit dem Beding, sogleich wieder nach allen Richtungen hinaus- geworfen zu werden. Anhäufung, welcher die innern Zustände zu entsprechen nicht vermögen, ist hier der Grund der Repulsion; und es ist gar nicht nöthig noch schicklich, etwa dem sogenannten Wärmestoff (den man übrigens beyzubehalten Ursach hat) eine ursprüngliche Repulsivkraft zuzu- schreiben. Das Aeufsere folgt auch hier aus dem Innern; und das Innere läfst sich in Begriffen so weit construiren, als nöthig ist, um den zu er- wartenden Erfolg mit dem in der Erfahrung gegebenen zu vergleichen.*

Dies wird jetzt, seitdem die Meinungen über das Licht sich wieder zur Vibrations-Hypothese gewendet haben, weniger befremden, als in etwas früherer Zeit, da statt des alten horror vacui eine Art von Vorliebe für den leeren Raum zu Gunsten der actio in distans eingetreten war. Man wird nun, da einmal ein Aether angenommen wird, eher dem Gedanken Platz gestatten, dafs wohl der nämliche Aether noch eine andie Function haben möchte, nämlich, die Gravitation zu vermitteln. Und hierauf wird man wohl kommen müssen, wenn nicht der leere Raum, der Nichts ist und Nichts vermag, zum Träger des Gesetzes der Gravitation soll gemacht werden. Mufs man aber die Ursache der Schwere und alles Gewichts im Gebiete des Imponderabeln suchen, so dürfen wir die Frage danach dem folgenden Capitel zuweisen.

Hier aber mag eine kurze Betrachtung über den historischen Gang der Naturforschung eine Stelle finden. Bekanntlich ist der Aufschwung, welchen die Chemie gewonnen hat, noch sehr neu; weit früher waren die Untersuchungen über die Gravitation zu einem hohen Grade von Ausbildung gelangt; und Anziehung aus der Ferne war ein Lieblings- gedanke geworden. Als nun die chemischen Anziehungen sammt den verschiedenen Adhäsionen mehr hervortraten, empfand man das Bedürf- nifs, die später erworbenen Kenntnisse an die frühem zu knüpfen; man wünschte mehr, als man hoffte^ einen Zusammenhang zwischen den ver- schiedenen Attractionen zu entdecken. Gesetzt, der Gang der Wissen- schaft wäre der umgekehrte gewesen, man hätte früher die chemischen Anziehungen, später die Gravitation kennen gelernt: so würde das nämliche Bedürfnifs der Einheit in unserm Wissen sich in entgegengesetzter Rich- tung geäufsert haben. Es wäre nun gefragt worden, ob nicht die Schwere, ungeachtet ihrer scheinbaren Wirkung durch alle Himmelsräume, sieh den- noch bey gehöriger Vermittelung auf eine Anziehung in den unendlich kleinen Distanzen, deren die Chemie zu bedürfen glaubt, zurückführen lasse? Demnach wäre die chemische Anziehung, oder etwas ihr Aehn- liches, das Erste; die Gravitation aber das Zweyte. Und diese Ordnung möchte vielleicht der Naturphilosophie annehmlicher seyn, als jene, die

* Metaphysik II. §. 349 361 und § 388 420,

I. Abschnitt. Elementarlehre. 15. Capitel. Von der Materie. j-q

Jedermann weifs, dafs ohne Rücksicht auf die Wärme das Flüssige nicht kann erklärt werden. Man wird sich also nicht wundern, wenn Anfangs die Untersuchung nur den starren Körper begreiflich macht (135.); der Weg zur Betrachtung des Flüssigen eröffnet sich später. l

139. Dem Naturforscher kann es auch willkommen seyn, wenn man ihm Vorschläge macht, die Imponderabilien, welche seit Entdeckung der Vol- taischen Säule wunderlicher als jemals durch einander zu fahren scheinen, in Begriffen gesondert zu halten,* da es ihm in der That nichts hilft, nichts [225] Dunkeles klarer macht, wenn er unternimmt, Alles aus Einem Puncte zu erklären. Die Unterschiede machen sich dennoch gelten, und um desto ungelegener, je weniger Aufmerksamkeit ihnen von Anfang an gegönnt war.

Allein wir reden hier nicht mit dem Naturforscher, welchen ein rein theoretisches Interesse an seine Untersuchungen fesselt. Der praktische Mensch sucht bey der Naturlehre nur Unterhaltung; er will bunte Reihen von Experimenten; vieles Erklären kommt ihm nicht gelegener, als ein Commentar zu einem Gedicht.

man suchte und nicht finden konnte, wobey die Gravitation zum An- knüpfungspuncte dienen sollte, wie wenn die Anziehung in kleinen Distanzen nur eine Abänderung derselben wäre.

Welche Bedeutung man der Anziehung in unendlich kleinen Distanzen beyzulegen habe, wird sich bald zeigen.

1 Der vorstehende § 138 hat in der II. Ausgabe folgenden "Wortlaut: 138. Ohne uns auf die Schwierigkeiten, welche aus den Widersprüchen des Continuums dann entstehn, wenn man das .Räumliche, eine blofse Vorstellungsform, auf die einzelnen, nur in ihrer Einzelnheit realen Ele- mente überträgt, hier einzulassen, unterscheiden wir in Ansehung des schon erwähnten Durchdringen (135.) drey Fälle:

1. anfangendes Eindringen,

2. vollkommene Durchdringung,

3. unvollkommene Durchdringung,

so, dafs die ersten beiden Fälle als Extreme anzusehen sind, zwischen denen die unvollkommene Durchdringung, welche selbst noch ein Mehr oder Minder zuläfst, sich befindet.

Nun sollen die Elemente, von denen wir reden, einander in Hinsicht ihrer Qualitäten entgegengesetzt seyn (136.). Sind sie völlig aufser ein- ander, so hat dieser Gegensatz keine Folge, sondern er ist ein blofser Gedanke. Beym anfangenden Eindringen entsteht schon eine gegen- seitige Bestimmung der innern Zustände; sie ist aber noch unendlich gering, wie das Eindringen selbst. Dagegen entspricht dem zweyten Falle die vollkommene gegenseitige Bestimmung der innern Zustände, so weit eine solche unter diesen beiden Elementen möglich ist. Also ist hier keine Veränderung der Lage nöthig; der äulsere Zustand, das heifst, die Lage, ist den innern Zuständen völlig angemessen. Hingegen im ersten Falle zeigt sich schon eine scheinbare Attraction. Denn, wie oben gesagt (135.), was einander die innern Zustände bestimmt, sollte gar nicht räum- lich getrennt, sondern in strengster Durchdringung seyn. Dennoch ist in

* Metaphysik IL § 339. [Bd. VIII vorl. Ausg.]

12*

j §o II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1 .

Ihm wird es angenehm seyn zu hören, dafs die Naturphilosophie, wenn sie in das Einzelne der Physik eingeht, bis jetzt nur Wahrschein- lichkeiten aufsuchen und abwägen kann. Dahin gehört die Behauptung, es gebe nicht, nach Svm.mer, zwey elektrische Flüssigkeiten, sondern, nach Franklin, nur Ein Elektricum; jedoch sey dieses nicht am Glase, sondern am Harze zu suchen, mit Umkehrung der Zeichen -j- und . Eine solche Behauptung*, wenn schon durch manche sehr verschiedene Ver- suche belegt, darf Niemandem üble Laune erregen; denn sie ist gar nicht von der Bedeutung, dafs mit ihr das Ganze der speculativen Untersuchung stünde und fiele. Eben dahin gehört der Versuch, Magne- tismus auf gebundene Wärme zurückzuführen**; will man ihn lieber mit den heutigen Physikern mit der Elektricität in unmittelbare Verbin- dung setzen, so wird dies eben so wohl als jenes ein Gegenstand der Meinungen bleiben, bis die Versuche entscheiden.

Das aber wird Jeder gern eingestehen, dafs die mancherley Hypo- thesen, weit entfernt dem Denker lästig zu fallen, vielmehr sein Interesse an den Versuchen sehr beleben. Auch gehört es zu den nützlichsten,1 und überdies zu den leichtern Vorübungen, die man schweren Unter- suchungen vorausschicken kann, Hypothesen zu verfolgen, durchzuführen, oder zu bestreiten. Wer nicht im Stande ist, oder nicht Lust hat, sich [226] auf Hypothesen einzulassen, wie sollte der bereit seyn, es mit ganzen Systemen aufzunehmen? Nur fre>lich soll man sich nicht von Hypo- thesen blenden lassen, und sie nicht mit bewiesenen Lehrsätzen verwechseln.

Aber wie es Kinder giebt, die nicht verstehen zu spielen, so giebt es Männer, die nicht Sorge tragen mögen, ihren Gedanken freye Be- wegung zu schaffen. Solche sind es, welche, wo ein Vorurtheil verschwindet, klagen, man beschränke ihre Freyheit. Klagte doch Schiller einst, das Christenthum habe den Olymp verdorben! Andere lassen sich dergestalt vernehmen, als hätte ihnen Copernicus den Himmel geraubt, und sie dadurch in poetischen Launen gestört. Noch Andre beschweren sich, die Natur verliere über der Physik das Wunderbare; als ob dessen nicht

diesem Falle die Notwendigkeit, dafs die Lage sich ändere, d. h. die scheinbare Attraction, noch unendlich gering, weil die innern Zustände unend- lich gering sind, und weil in ihnen einzig und allein der Grund liegt, weshalb die Lage sich ändern mufs. Fafst man dies mit dem vorigen zusammen, so kann man ohne bedeutenden Fehler sagen: im ersten und im zweyten Falle ist die Attraction gleich Null. Nur der dritte Fall, die unvollkommene Durchdringung, weicht von jenen beiden ab. Denn die Intensität der innern Zustände ist nun eine endliche Gröfse; und die Lage ist noch nicht die rechte, welche jenen entsprechen soll. Wie grofs die Intensität, und wieviel an der vollkommenen Durchdringung fehlt, dies beides zusammen bestimmt die jetzige Stärke der Attraction. Letztere, als beschleunigende Kraft gedacht, verändert sich indessen sogleich durch das wirkliche Fortschreiten des Eindringens. * Metaphysik II. 401 403. ** Ebendaselbst i 411.

1 „nützlichen" SW.

I. Abschnitt. Elementarlehre. 15. Capitel. Von der Materie. 18 1

genug übrig bliebe. Sie verstehen nur nicht, sich am rechten Orte zu wundern.* Die Betrachtungen des nächsten Capitels l sind übrigens nicht hypothetisch, und in praktischer Hinsicht nicht gleichgültig.2

2 Der vorstehende § 139 hat in der II. Ausgabe folgenden Wortlaut:

139. Es ist aber schon oben von mehrern Elementen, und von einer Repulsion gesprochen worden, die sich alsdann ereignen könne, ja sich ereignen müsse, wenn Materie entstehen solle. Man denke sich zvveyerley Arten von Stoffen, A und B. Um die einfachste Voraussetzung zu machen, sey nur ein Element von der Art A, und eins von der Art B, nöthig, damit die Art des innern Zustandes, wozu jedes von beiden durch das andre kann bestimmt werden, sich vollständig verwirkliche. Ferner werde angenommen, dafs zwey Elemente B zugleich (wenn man will, von ver- schiedenen Seiten her) in ein einziges A einzudringen im Begriff sind. Würden beide vollständig dazu gelangen, so müfste der innere Zustand des A eine doppelte Intensität annehmen, gegen die Voraussetzung. Ist nun dies nicht möglich, so liegt zwar nicht in dem B, wohl aber in A der Grund, dafs die Durchdringung unvollständig bleiben mufs. Man kann alsdann sagen, jedes B wirke attractiv auf A, allein A wirke repulsiv auf beide. Ruhe kann nur entstehn, wenn diese Repulsion sich mit den Attractionen ins Gleichgewicht gesetzt hat. Dafs man übrigens die gemachte Voraussetzung mannigfaltig abändern könne, fällt von selbst in die Augen.

Ferner nehme man dreyerley Arten von Stoffen A, B, C. In A sollen nun die durch B und C bestimmten innern Zustände sich mit ein- ander vertragen; in B diejenigen, welche von A und C abhängen; in C solche, wie sie durch A und B bestimmt werden. Daraus entstehn theils schon innere Hemmungen und Spannungen (128.): theils ein aus allen Attractionen und Repulsionen zusammengesetztes Gleichgewicht. Ist hiebey nicht auf allen Seiten alles gleich, so kann auch die Durchdringung in den Paaren AB, BC, AC nicht gleich ausfallen; es mufs eine Configuration entstehn, welche von den Gegensätzen der Qualitäten in den Paaren abhängt.

Hier eröffnet sich der Weg zur Erklärung der Krystalle. Diese können selbst bey verschiedenen Qualitäten gleich ausfallen, wenn nur die Verhältnisse unter den Qualitäten gleich sind.

140. Polyedrische Molekel scheinen den Physikern nöthig, um die Krystallbildung zu erklären, nämlich damit die Anziehung nicht von allen Seiten gleich sey. Durch Schmelzung wird aber die Krystallform auf- gehoben; die Tropfenbildung tritt an die Stelle, und die polyedrischen Molekel würden im Wege seyn, wenn sie unveränderlich wären. Aber die Molekel bestehn aus Elementen, denen man nur durch eine not- wendige Fiction eine Ausdehnung leihet, und zwar von sphärischer Form, damit die Fiction gleichartig in Ansehung der Richtungen bleibe. Diese Fiction wird nothwendig, wo dasjenige, was nur einzeln genommen real ist, einer Zusammenfassung soll unterworfen werden.

Zugleich sieht man hier den Unterschied der Adhäsion und der

* Metaphysik II, im Anfang des fünften Abschnitts.

] D. h. Capitel 16 der I. Ausg. (= Capitel 18 der II. Ausg.) Siehe unten S. 193.

jg, II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

Sechzehntes Capitel. i

Von den Imponderabilien.

141. Nur um nicht eine weite Lücke ganz offen zu lassen, er- wähnen wir in äufserster Kürze einige Gegenstände, welche dem praktischen Interesse sehr fern liegen. Caloricum, Electricum, und Aether, sind Stoffe, aber nicht Materien; denn sie kommen und gehen, ohne vermöge ihres Eindringens eine bleibende Configuration zu erlangen; und blofse Elemente sind noch keine Molekel, wie aus dem Vorigen erhellet.

Sehr bekannt ist die Annahme, dafs in allen Körpern wenigstens zwey jener Stoffe, nämlich Caloricum und Electricum, vorhanden sind. AYir folgen dieser Annahme, jedoch mit Ablehnung zweyer jetzt gangbarer Meinungen; der einen: das Electricum sey ein Zwillingspaar, welches nur getrennt zum Vorschein komme, und in seiner Vereinigung nicht wahr- nehmbar, doch einen nothwendigen Glaubensartikel ausmache; der andern: alle Erscheinungen der sogenannten chemischen Verwandtschaft beruheten auf einer elektrischen Polarität der Theilchen, wodurch der Knoten nicht blols verschoben, sondern unauflösbar werden würde.

An die FRANKLiN'sche Theorie uns wendend, finden wir jedoch nöthig, die Benennungen der positiven und negativen Electricität der- gestalt umzutauschen, dafs die Harzelectricität das wahre Electricum liefert. Mit zwey Worten erinnern wir an die Electrisirmaschine , und an die Luftelectricität bei heiterm Himmel. Die Maschine zeigt Elec- tricität zwischen dem Glase und dem Reibzeuge; das Reibzeug ist amalgamirt und mit dem Boden durch eine Kette verbunden. Wer nun nicht künstelt, sieht sogleich: die Electricität mufs den Leitern folgen; sie fährt hinab in den Boden. Das Glas, derselben entbehrend, bietet sich dem Conductor zum Ersatz dar; und der Conductor leistet denselben desto besser, je weiter von dem geriebenen Glase abgewendet er in die Luft hinaus ragt, deren Electricum sich an ihn drängt, ohne doch die Luft- t heile zu verlassen. Nähert man aber dem Conductor einen Leiter, so mufs dieser geben anstatt nach gewöhnlicher Meinung zu empfangen.

Wenn eine isolirte Metallstange zum wolkenlosen Himmel aufgerichtet wird, so begegnet ihr fast dasselbe, was einer erwärmten Stange begegnen würde. Denn diese würde sich abkühlen, weil oben freyer Raum und freye Luft ist. Eben so giebt jene Stange von dem Electricum, das sie mitbrachte, etwas ab; obgleich man sie nun, verleitet durch die Analogie mit der in früheren Zeiten bekannten Electricität des Glases, positiv electrisch nennt. Dafs hiemit das electrische Licht, desgleichen die bekannten Staub-

rhemischen Action. Jene überschreitet kaum den ersten Fall (138.), denn sie verändert nicht merklich die an einander hängenden Körper;' diese im Gegentheil nähert sich mehr dem zweyten Fall, so dafs die Elemente sich verbinden, und bey günstigen Umständen bestimmt, configuriren, weil sie einander die innern Zusände bestimmt haben. Lediglich das Vorurtheil von der Undurchdringlichkeit steht hier der Einsicht im Wege.

1 Der Text der folgenden 2 Capitel (16 u. 17) S. 182 193 findet sich nur in der II. Ausgabe.

Abschnitt. Elementarlehre. 16. Cap. d. II Ausg Von den Imponderabilien. 183

figuren auf dem Harzkuchen, und sehr verschiedene andre Unter- scheidungs-Merkraale übereinstimmen, ist am gehörigen Orte gezeigt.*

142. In neuerer Zeit haben besonders die Zersetzungen welche die VoLTA'sche Säule hewirkt, Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Viel- leicht fände man sie weniger wunderbar, wenn man, nach Beyseit- setzung des SvMMER'schen Vorurtheils, zwey Umstände in Betracht nähme: erstlich dasjenige Electricum, welches als zur Constitution jedes Körpers gehörig, auch in dem Körper, welcher zersetzt werden soll, und wiederum in den Producten der Zersetzung, vorhanden sein mufs: zweytens die unterbrochene und wiederhergestellte Geschwindigkeit des Electricums, welches aus einem Metalldraht in das Flüssige, und wiederum aus dem Flüssigen in einen andern Metalldraht übergeht.

Schon aus dem bekanntesten aller Phänomene, nämlich denen, die man mit dem übel gewählten Namen der Vertheilung belegt hat, erhellet, dafs angehäuftes Electricum, selbst wenn es auf einer Oberfläche zurück- gehalten wird, einen Druck in die Ferne ausübt, indem die Sphären des- selben, welche sich um die Lufttheilchen gebildet haben, abwärts gedrängt werden, wovon die natürlichen Folgen in gegenüberstehenden isolirten Leitern sichtbar sind. Dieser Druck mufs ohne Vergleich mehr Gewalt erlangen, wenn ein electrischer Strom herankommt. Die Elemente, an welche sich das in den Körpern schon befindliche Electricum gehängt hat, müssen wohl in ihrer Cohäsion gestört werden, sobald dies Electricum nicht ruhig bleiben kann. Zwar nicht die Cohäsion selbst rührt von ihm her; ihr Princip liegt tiefer; es liegt in der oben bezeichneten Attraction (T35> l5%-)i und von diesem Princip hängt alle Wirksamkeit des Electri- cums selbst ab. Aber hat sich das Electricum einmal eingenistet, so können auch seine Bewegungen nicht ohne Folgen bleiben; und man kennt diese Folgen im Allgemeinen recht gut aus der zerstörenden Ge- walt des Blitzes und ähnlicher Schläge. Bewegtes Electricum wirkt, wo nicht zerschmetternd, doch auflockernd.

Zwevtens: aus dem Kupferpol bringt der sogenannte negative, aber wahrhaft positive Draht den electrischen Strom mit derjenigen Geschwindig- keit, welcher dem leitenden Metall entspricht. Diese wird verzögert durch das weit schlechter leitende Flüssige; aber der Druck treibt das schon vor- räthige Electricum zum gegenüberstehenden Drahte des Zinkpols. Je näher diesem abführenden Drahte, desto schneller enteilt dort das Electri- cum. In der Mitte mufs eine Gegend der gröfsten Langsamkeit seyn. Von dieser Mitte einerseits beherrscht das verzögerte, mehr angehäufte Electricum diejenigen Stoffe, welche den bessern Leitern ähnlich sind, die Metalle, den Wasserstoff, u. s. w.: ihre innern Zustände müssen sich nach ihm richten, indem sie dem Sauerstoffe und Aehnlichem entfremdet werden. Andrerseits, dort, wo das Electricum enteilt, wird der Sauerstoff vor- herrschend; und findet er nichts Anderes, so ergreift er das vorhandene Caloricum, mit welchem er sich in Gasform verflüchtigt.

Hier haben wir noch einen Hauptpunct ausgelassen, nämlich die-

*) Metaphysik § 401 —403.; wo zunächst das zu beachten ist, was über die Un- gereimtheit der SvMMER'schen Hypothese gesagt worden.

jg , II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

jenigen innern Zustände, welche das Electricum selbst wechselnd an- nehmen mufs, wenn es durch Metall und durch andre Elemente geht; wovon am angeführten Orte das Nähere bemerkt ist.

143. Wie man auch vom Electricum denke, und wie hoch man auch dessen Wirksamkeit anschlage: weit mehr Gewalt besitzt und übt das Caloricum. Verschwände es, träte absolute Kälte ein, so würden mit .Macht die Körper sich zusammenziehen; dieser Ungeheuern, in allen Molekeln thätigen Macht wehrt das Caloricum; und beständig sind die Körper ihm dienstbar, indem sie ihre gröfsere oder geringere Ausdehnung von ihm bestimmen lassen. Ja sogar die Formen des Starren, Tropfbaren, elastisch Flüssigen hängen von ihm ab.

Die Lehren vom gebundenen und frei werdenden Wärmestoff sind bekannt genug; sie vereinigen sich mit denen von den verschiedenen Capacitäten, um anzudeuten, dafs die Gewalt des Caloricums doch keine absolute Herrschaft sey, wie man sie da vorstellt, wo man es geradezu als das Prinzip der Expansion betrachtet, und hiemit der Cohäsion ent- gegensetzt. Nur einige nähere Bestimmungen sind nöthig, um auch hier jene Repulsion wiederum nachzuweisen, welche aller Form des materiellen Daseyns zum .Grunde liegt. Es läuft auch hier darauf hinaus, dafs unter gewissen Umständen eine Attraction vorausgeht, woraus eine Lage der Elemente folgt, der dieselben durch ihre innern Zustände nicht entsprechen können; dann ergiebt sich hieraus eine Trennung, die theils Ausdehnung, theils Strahlung nach sich zieht.

Aber die nächsten Vergleichungen mit dem Electricum , welche sich auf den ersten Blick darbieten, zeigen bey grofser Aehnlichkeit eine noch gröfsere Verschiedenheit. Beide, Caloricum und Electricum, bewirken Auf- lösung; auch das Caloricum besitzt chemische Verhältnisse, wo es Einiges verflüchtigt und Anderes zurückläfst. Aber eben weil dem Caloricum zu gefallen die Körper sich willig ausdehnen, können sie es nicht so un- gestüm forttreiben, wie wenn ein Leiter das Electricum meilenweit von einem Ende bis zum andern hinwegstöfst. Das Electricum erschüttert, aber es weicht; zum Verflüchtigen starrer Körper gelangt es kaum eher, als indem es sie plötzlich einbrechend zerschmettert.

144. Die Begriffe hievon werden sich mehr aufklären, wenn wir das- jenige, was oben (139.) von den Stoffen A und B angenommen wurde, näher bestimmen. Nur um den einfachsten denkbaren Fall zu setzen, fafsten wir dort Ein A und Ein B zusammen; man weifs aber, dafs an- statt dieser Gleichheit des Gegensatzes gewöhnlich eine Ungleichheit statt- findet; so gehören z. B. nahe 8 Elemente Sauerstoff zu Einem Element Wasserstoff, um Wasser zu bilden.

Ferner weifs man, dafs, ungeachtet eines ähnlichen Verhältnisses der Ungleichheit, doch Stärke und Schwäche des Gegensalzes sehr verschieden seyn können; so in dem von Berzelius angeführten Beispiele, dafs eine beynahe gleiche Menge Sauerstoffs nöthig ist, um 100 Theile Eisen in Oxydul, oder um 100 Teile Natrium in Alkali zu verwandeln, und doch hat der Sauerstoff eine unendlich vielmal gröfsere Verwandtschaft zum Natrium als zum Eisen; das heifst, der Gegensatz des Sauerstoffs gegen Natrium ist ohne Vergleich grüfser als der gegen Eisen.

i. Abschnitt. Elementarlehre, i". Cap. d. II. Ausg. Von der geistigen Ausbildung, j8:

Nun mufs der Gegensatz des Caloricums gegen alle Materie, die sich von ihm gewaltsam ausdehnen läfst, sehr grofs, zugleich aber mufs derselbe äufserst ungleich seyn , sonst würde das Caloricum nicht in ewiger Strahlung begriffen seyn, sondern in ruhiger Connguration, wie die Elemente der Materien, verharren.* Dagegen liegt das Electricum, so lange es nicht durch Berührungen angeregt, oder vollends gewaltsam angehäuft wird, weit ruhiger in den Körpern; sein Gegensatz ist also weit weniger ungleich als jener des Caloricums; hingegen ist er weit schwächer, sonst müfsten jene beiden Stoffe in Hinsicht der Gewalt, die sie ausüben, ein- ander weit näher kommen.

Dies läfst sich zwar hier nicht weiter ausführen; hat man aber ein- mal den Unterschied zwischen ungleichem und schwachem Gegensatze gefafst, so sieht man sogleich, dafs noch ein möglicher Fall denkbar ist, nämlich ein solcher, da der Gegensatz eines Stoffes gegen die Körper so- wohl durch grofse Ungleichheit als durch grofse Schwäche bestimmt sev. Giebt es einen solchen Fall, so kann man von dem so beschaffenen Stoffe nur dann grofse Wirkungen erwarten, wenn entweder ungeheure Massen seine Wirksamkeit bestimmen, oder ihm eine ganz ausgezeichnete Empfind- lichkeit entgegenkommt. Das erste trifft bey der Schwere zu, die von ganzen Weltkörpern abhängt; das zweyte beym Licht, welchem die Em- pfindlichkeit der Organismen und besonders des Auges seine Wichtigkeit giebt. Wir können hier nur kurz sagen, dafs hiemit der Aether angedeutet ist.

Fragt man endlich nach dem Ursprung des Magnetismus, so schlagen wir vor, ihn im Caloricum zu suchen, welches in einigen wenigen Körpern auf eine ganz eigentümliche Weise gebunden seyn, und alsdann einen Druck, ähnlich dem des Electricums (142.), in die Ferne ausüben kann. Hieher gehört noch die Bemerkung, dafs man wegen der durch bewegte Magnete erregten Electricität, desgleichen wegen des Transversal- oder Cir- cular-Magnetismus an VoLTA'ischen Leitungsdrähten, die nothwendige Wech- selwirkung zwischen Caloricum und Electricum wird zu untersuchen haben.

Allein wir dürfen hier nicht weiter gehn, sondern müssen in die vorgezeichnete Bahn zurücklenken.

Siebzehntes Capitel.

Von der geistigen Ausbildung.

145. Von der geistigen Regsamkeit zu der allgemeinsten Betrachtung des Lebens übergehend, und alsdann auf die unorganische Natur einige Blicke werfend, haben wir uns von den Gegenständen entfernt, die ein unmittelbares praktisches Interesse gewähren. Die Rückkehr dahin dart den Zusammenhang nicht unterbrechen. Er liegt offenbar in dem Be- griffe der innern Zustände, ohne welchen nicht einmal die Materie ver- ständlich ist. Es wird aber nun von selbst auffallen, dafs die Mannig- faltigkeit innerer Zustände in einem und demselben Elemente der Materie bey

* Metaphysik § 339. 349. 389 [Bd. VIII vorl. Ausg.]

jgß II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

weitem nicht so sehr in Betracht kommt, als die Mannigfaltigkeit derjenige?! innern Zustände in uns, die wir Empfindungen nennen. Das Leben, wie es in den Elementen organischer Körper begründet ist, steht hier in der Mitte zwischen dem Unbelebten und dem Geistigen.

146. Um von der geistigen Ausbildung eine bequeme Uebersicht zu gewinnen, mufs man einen mittlem Standpunct wählen, der mit dem längst bekannten Unterschiede zwischen den untern und obern Seelen- vermögen — hergenommen von der Vergleichung zwischen dem Menschen und denjenigen Thieren, die am meisten geistiges Leben verrathen, einiger- mafsen zusammentrifft. Dieser Unterschied ist zwar sehr schwankend; er hat aber veranlafst, eine Gränzlinie zu suchen, welcher zunächst unter- wärts Phantasie und Aufmerksamkeit, oberwärts Verstand und Bezeichnungs- vermögen ihren Platz haben sollen. Weiter nach unten schauend erblickt man alsdann Gedächtnis, Sinnlichkeit, niedere Gefühle und Begehrungen, nach oben ästhetisches Urtheil , theoretische und praktische Vernunft. Alles dies zeigt sich aber nicht auf einmal gleichmäfsig; das Kind scheint von unten anzufangen; und der Weg nach oben ist so weit, dafs ganze Nationen und Zeitalter zurückbleiben, und selbst die hochgebildeten kein Ende finden. 'Was die höhern Thiere anlangt, so pflegt man ihnen die Phantasie nicht ganz abzusprechen, (wäre es auch nur, weil die Hunde manchmal im Schlafe bellen, was von Träumen herzurühren scheint); ihre Aufmerksamkeit verrathen sie überdies oft genug. Dagegen ist man nicht geneigt, ihnen Verstand einzuräumen; zwar sieht man, dafs sie Zeichen verstehen, vielleicht auch geben sie Zeichen; aber man findet es schwer zu glauben, dafs sie sich derselben in ähnlicher Art nach Willkühr und mit Ab- sicht bedienen, wie der Mensch sich der Sprache, vollends der Schrift bedient.

147. In den beiden vorigen Capiteln, wo vom Gegensatze unter den Qualitäten der Elemente ausgegangen war, und daraus die innern Zustände abgeleitet wurden, konnten die Unterschiede, die sich daraus ergaben, neben einander hingestellt werden, also starker und nahe gleicher Gegensatz für die Körper, starker und sehr ungleicher Gegensatz für's Caloricum, schwacher und nahe gleicher Gegensatz für's Electricum, schwacher und sehr ungleicher Gegensatz für den Aether. Dort sind die Gegenstände gleichzeitig vorhanden; daher lassen sich auch ihre Erklärungen gleichzeitig auffassen. Nicht also verhält es sich bey der Erklärung des Geistigen. Denn hier soll erklärt werden, was nur allmählig vermöge fortschreitender Ausbildung zum Vorschein kommt. Zuvörderst genüge ein einziger Schritt, um über dasjenige hinauszukommen, was schon über die geistige Regsamkeit gesagt war; und was (wie leicht zu bemerken) sich meistens auf Sinnlichkeit, Gedächtnifs, unteres Begehrungsvermögen bezieht (115 120.). Fragt man, was das Wort Phantasie eigentlich be- deute, so erblicken wir Bilder, in welchen zwar ein früher schon -gesam- melter geistiger Vorrath wieder zu erkennen ist, aber in Zusammen- setzungen, welche einer neuen Welt anzugehören scheinen, indem sie weit ;ibweichen von den Complexionen und Reihen, zu welchen das in der Empfindung Gegebene ursprünglich sich verbunden und gestaltet hatte. Hier zeigt sich ein Unterschied zwischen zugleich sinkenden und zugleich frey steigenden Vorstellungen.

I.Abschnitt. Elementarlehre, i ;. Cap. d. IL Ausg. Von der geistigen Ausbildung. 187

148. Bekanntlich besitzen Vorstellungen, die eben jetzt sinnlich ge- geben werden, eine eigenthümliche Klarheit im Augenblicke des Empfindens

also des Sehens, des Hörens, Schmeckens u. s. w\, welche sie späterhin niemals wieder gewinnen. Sie verlieren diese Klarheit sogleich in Folge jener früher schon erwähnten Hemmung (115.), die oft so weit geht, dafs die Vorstellungen völlig aus dem Bewufstseyn verschwinden, als ob sie nicht mehr da wären. Sie sind gleichwohl noch vorhanden, nur unterdrückt, und sie können aus diesem gedrückten Zustande wieder her- vortreten. Dies Hervortreten nun geschieht entweder in Folge andrer Vorstellungen, die ihnen gleichartig, wohl auch früher mit ihnen ver- bunden waren, oder es geschieht blofs in Folge dessen, dafs die Ur- sache der Hemmung aufhört. Im letztern Falle nennen wir sie frey steigende Vorstellungen. Das nächste Beyspiel liefert das Erwachen, nach- dem die leibliche Hemmung, welche den Schlaf bewirkte, aufhört; aber auch wenn Störungen, wenn nothwendige Geschaffte aufhören, wenn Mufse zurückkehrt und anziehende äufsere Gegenstände fehlen, zeigen sich frey steigende Vorstellungen.

Von diesen gilt im Allgemeinen, dafs sie sich unter einander weniger hemmen, folglich sich gleichmäfsiger verbinden, als geschehen würde, wenn die nämlichen Vorstellungen gleichzeitig aus der ursprünglichen sinnlichen Klarheit mit einander gesunken wären.* Kommt die Reproduction durch Aehnlichkeiten oder frühere Verknüpfungen hinzu, so kann aus allem J Vorrath sich ein neues Gebilde zusammensetzen; anfangs schwankend und veränderlich, später und nach häufiger Wiederhohlung in der näm- lichen Vorstellungsmasse mit bestimmteren Zügen, die sich endlich bevestigen.

Die Sprache bietet sich dar, um solche Gebilde zu bezeichnen und zu beschreiben, als wären es wirkliche Gegenstände; sie kommen sammt diesen in den Kreis geselliger Mittheilung, und können wie diese als Objecte mannigfaltiger Betrachtung aufgenommen werden.

149. Aus der Menge dessen, was sich hieraus ableiten läfst, heben wir nur drey Puncte hervor.

Erstlich : es können Zweckbegriffe daraus entstehn. Alles, was Jemand verfertigen will, mufs ihm als Phantasie -Bild vorschweben.

Zweytens: es können sich ästhetische Urtheile darauf richten. Daher [= Dahin] gehören Kunstwerke, die Jemand verfertigt hat, und schon indem er überlegte, was er verfertigen wolle.

Drittens: die nämlichen Phantasiegebilde werden Gegenstände theo- retischer Ueberlegung. Dahin gehört die Frage, ob das Beabsichtigte sich verfertigen lasse, ob man die Mittel dazu in Händen habe, oder ob nach den Mitteln der Plan zu verändern sey? Noch eine andre theoretische Ueberlegung trifft die innere Consequenz solcher Gebilde; wie wenn mathematische Figuren, deren Vorstellung innerlich erzeugt war, Anlals zu Untersuchungen geben, deren Resultat als Lehrsatz ausgesprochen wird.

150. Man hat Grund, anzunehmen, dafs die Thiere schon durch Organismus in Ansehung der frey steigenden Vorstellungen sehr beschränkt

* Psychologische Abhandlungen, zweytes Heft. 1 SW „altem" statt „allem".

igg II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

sind. Denn Seele und Leib sind einmal verbunden; das heifst, innere Zustände hier und dort bestimmen sich gegenseitig. So nun, wie die Empfindungen von den Sinnes -Werkzeugen abhängen, eben so müssen rückwärts frey steigende Vorstellungen ihre Folgen in Ansehung des Nervensystems haben; und ein Theil dieser Folgen zeigt sich in den Bewegungen der Muskeln, wo sehr deutlich die äufsere Lage und Gestalt sich nach den innern Zuständen richtet. Allein wer sagt uns, dafs die bewegenden Nerven ausschliefsend den Einflufs der geistigen Zustände erfahren? Weit wahrscheinlicher ist, dafs auch das Gehirn sowohl beym Empfinden als bey den Regungen durch frey steigende Vorstellungen afficiert werde, und dafs es nun in Frage komme, in wiefern diese Affectionen, von entgegengesetzten Seiten her, mit einander verträglich seyen? Das Gehirn des Menschen scheint dafür besonders günstig ein- gerichtet zu seyn.

Gesetzt aber auch, die Thiere wären eben so sehr des frey steigen- den Vorstellens fähig, so fehlt ihnen doch die Sprache, sich mitzutheilen, und die Hand, um dem Vorgestellten gemäfs etwas zu verfertigen. Es fehlen die Hülfsmittel, das Vorgestellte zu fixiren.

151. An 'der nämlichen Gränze, wodurch man unteres und oberes Vermögen zu scheiden sucht, steht auch die Aufmerksamkeit, allein hier mufs mancherley unterschieden werden. Zuerst die unwillkührliche und die willkührliche Aufmerksamkeit. Jene zerfällt wieder in die primitive und die appereipirende, diese in die reflectirende und die vorsätzliche.

Aufmerksamkeit im Allgemeinen ist die Disposition, einen Zuwachs des Vorstellens zu erlangen. Ursprünglich ist der Mensch nicht blofs, sondern auch das Thier, aufgelegt, Vorstellungen zu empfangen, sobald nicht Schlaf, Ermüdung, oder ein Gedränge schon vorhandener Vorstellungen es hindern. Von dieser primitiven Aufmerksamkeit, und ihren anderwärts* nachgewiesenen, theils positiven, theils negativen Ursachen reden wir hier nicht, sondern zunächst vom appereipirenden Merken, dessen höchsten Grad die Worte Spüren, Horchen, Tasten, Spähen ausdrücken. Der Raubvogel zeigt es, wenn er auf seine 1 Beute herabschiefst, die Bienen, indem sie den blühenden Baum aufsuchen, die Hunde, wenn sie dem Wilde nachjagen. Was hiebey in den Thieren vorgeht, können wir zwar nicht beobachten ; wenn aber der Mensch horcht und spürt, so sind ältere gleichartige oder doch verwandte Vorstellungen aufgeregt, und diese stehn im Begriff, sich anzueignen (zu appereipiren), was eben jetzt dar- geboten wird. Manchmal, aber nicht immer, geschieht die Apperception durch frey steigende Verstellungen. Wo nicht, so kommt es darauf an, dafs zuerst die verwandten älteren Vorstellungen reproducirt werden, und dann macht es grofse Unterschiede, ziie tief die Reproduction in den altern Yorrath eingreife. Bey manchen Menschen scheint es, als ob nur das Gestrige und Vorgestrige sich heute noch zurückrufen liefse; wiewohl nun die- nur Schein ist, so gewinnt doch die Apperception einen andern Nachdruck, wenn dem Menschen der Gewinn seiner ganzen Vergangen-

* Psychologie § 95 und die dort angeführte Abhandlung.

' „seine" fehlt SW

I.Abschnitt. Elementarlehre. 17. Cap. d. II. Ausg. Von der geistigen Ausbildung. 180

heit zu Gebote steht, als wenn seine Gedanken gleichsam auf einer dünnen Oberfläche schwimmen, die von neuen Wahrnehmungen kaum durch- drungen werden kann, so dafs Früheres und Späteres sich nur kümmer- lich verbindet.

152. Hier aber stehn wir auch schon im Begriff, die angegebene Gränze zu überschreiten. Denn das reflectirende Merken, welches da vorkommt, wo Bemerkungen sich darbieten, Anmerkungen aufge- zeichnet werden u. s. w., wird man bey den Thieren nicht suchen. Dafs sie manche Dinge an deren Merkmalen erkennen, ist nicht zu bezweifeln ; aber man hat nicht Ursache zu glauben, dafs sie sich die Merkmale auseinandersetzen. Dies, was in der Logik als der Anfang des deutlichen Vorstellens angesehen wird, ist längst (von Wolf) der Aufmerksamkeit als ihr Werk zugeschrieben worden. Also hier beginnt Verstand, und mit ihm in engster Verbindung das Bezeichnungsvermögen, welches sich vor- zugsweise im Gebrauch der Sprache äufsert. Was aber ist der Verstand ? Der Kürze wegen, und viel Streit und Verwirrung meidend, unter- scheiden wir sogleich den Verstand im Verstehen, im Denken, im Erkennen, im Betragen. Verstehen bezieht sich zunächst auf Zeichen, besonders auf die Sprache; Denken bezieht sich auf den Besitz der Begriffe, in ihren logischen Abstufungen; Erkennen auf die Richtigkeit der Auf- fassungen, besonders im Gegensatz gegen solche Täuschungen, welche den Träumen ähnlich sind; der Verstand im Betragen endlich weiset hin auf Klugheit, Anstand, Besonnenheit. Dem allen liegt Reproduction älterer Vorstellungen zum Grunde.

r53- Wo Sprache verstanden wird, da ist jedes Wort das Zeichen zum Hervorrufen einer daran haftenden Vorstellung ; und jeder Laut, jeder Buchstabe eines Worts mufs zu diesem Hervorrufen das Seinige bey- tragen. Alle Bedeutung der Rede mufs der Hörer aus sich selbst her- geben. Wenn vieljähriger Unterricht durch Wort und Schrift den Menschen bildet, so hat jeder Theil der Rede in den Vorrath, und zwar immer in denselben Vorrath, der einmal gesammelt war, eingegriffen; und alle gewonnene Kenntnifs (sofern nicht neue, unmittelbare Wahr- nehmung hinzukam,) hat nur durch veränderte Zusammensetzung dessen, was die Reproduction darbot, entstehen können. Man darf sich gewifs nicht wundern, wenn der Unterricht oft Schwierigkeiten findet, da ihm die älteren Verbindungen des nämlichen Materials entgegenwirken.

154. Man hat oft den Verstand für das Vermögen der Begriffe er- klärt, und dabey vorzüglich die Begriffe der Arten und Gattungen im Auge gehabt. Allein solche Präcision der Begriffe, wie die Logik sie fodert, findet sich selten, wo nicht schulmäfsige Bildung voranging. Ge- wöhnlich hat der Mensch anstatt der allgemeinen Begriffe nur Gesammt- Eindrücke des Aehnlichen, die man Gemeinbilder nennt, sofern sie aus wiederhohlter sinnlicher Wahrnehmung entstehen. Hiebey ist abermals die Reproduktion vorausgesetzt, indem sie bey jeder Wiederhohlung ältere Vorstellungen mit neuen, mehr oder minder gleichartigen, in Ver- bindung bringt.

155. Was der Ausdruck: Verstand im Erkennen, hier bedeuten soll, zeigt sich am leichtesten durch den Gegensatz des Unverstandes. Denn

1QO IL Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1 .

man nennt nicht sowohl Denjenigen unverständig, der irgend eine Rede nicht versteht, oder dem die Allgemeinheit der Begriffe im Denken nicht zu Gebote steht, als vielmehr Den, welcher sich ungereimten Ge- danken hingiebt. Indem man das Ungereimte, was er gemäfs seinen Kenntnissen selbst sehen konnte, rügt, sucht man ihn wie aus einem Traume zu wecken. Denn freylich der Traum verbindet auch das Un- vereinbare. Offenbar aber liegt der Fehler der Träume in einer mangel- haften Reproduction. Wer aus einem Traum erwacht, findet sogleich das Unmögliche, wo Zeiten, Räume, Verhältnisse übersprungen waren. Indem diese wieder eintreten, zerreifst das Traumbild; und man sieht, dafs die Theile dieses Bildes nichts anderes als verstümmelte Reminiscenzen ge- wesen waren, die, indem sie sich wieder ergänzen, sich gegenseitig ab- stofsen. Umgekehrt liegt das Verständige des Erkennens darin, die Re- produktionen zu vollenden, und sie nicht anders als so zu verbinden, wie sie es bei vollständiger Vergegenwärtigung ertragen.

Hiemit hängt zusammen, dafs man der Logik, als der Wissenschaft des Verstandes, die Auffassung der Einstimmung und des Widerstreits (die principia identitatis und contradictionis) zugewiesen hat; aus welchen übrigens sehr wenig werden würde, wenn nicht die Reihenformen (119.) hinzukämen, die wiederum in den Reproductions-Gesetzen ihren Grund haben.

156. Das Verständige des Betragens steht zwar in der genauesten Verbindung mit dem Verständigen im Erkennen; allein hiebey mufs man überdies auf die vorsätzliche Aufmerksamkeit (151.), und mit ihr zugleich auf den Unterschied der frey steigenden von den sinkenden Vorstellungen zurückblicken. Offenbar nämlich richtet sich der Vorsatz, aufzumerken, gröfstenteils gegen die frey steigenden Vorstellungen, welche sehr ge- wöhnlich aus dem Kreise dessen, was zum Aufmerken vorliegt, heraus- schreiten. Dabey sind ihre Gebilde im beständigen Widerstreit gegen die wirklichen Dinge, das heifst, gegen das Gegebene des Empfindens und Anschauens, und hiemit gegen die zugleich sinkenden Vorstellungen. Dieser Widerstreit des Wirklichen und der Gedankenwelt setzt das Be- tragen in Gefahr, unverständig zu werden. Das Streben der frey steigenden Vorstellungen treibt den Menschen, zu handeln; aber die Handlungen fallen unzweckmäfsig aus, wenn die Bedingungen, welche das Wirkliche ihm auferlegt, zu spät bedacht werden. Daher zunächst die Behutsamkeit, das blofs Gedachte nicht mit dem Wirklichen zu verwechseln; das Ge- wünschte und Erwartete als ungewifs zu betrachten; das Mögliche vom Wirklichen zu unterscheiden.

In der Regel wächst mit zunehmender Reife des Alters die Ruhe des verständigen Betragens. Die frey steigenden Vorstellungen ver- wandeln sich allmählig in solche, die frey stehen und sich frey bewegen; sie verbinden sich zu herrschenden Vorstellungsmassen, während für sinn- liche Empfindung die Empfänglichkeit abnimmt.* Aber die Aus- bildung kann auch Verbildung seyn, mit aller Mannigfaltigkeit der Unterschiede.

157. Im glücklichen Falle nehmen die herrschenden Vorstellungs-

Psychologie § 94. 98. [Bd. V vorl. Ausg.]

I. Abschnitt. Elementarlehre. 17. Cap. d. II. Ausg. Von der geistigen Ausbildung, igi

raassen das oben erwähnte vielfache Interesse (83.) in sich auf, dessen Grundlage das Aufmerken ist. Die ästhetischen Urtheile (45.) behaupten sich neben der Kenntnifs des Notwendigen (25.); mit ihnen die praktischen Ideen (27. 44.); und während sie das Handeln lenken, ruhet der Mensch, in Folge seiner ästhetischen Ansicht der Welt, im religiösen Glauben (33.). Alsdann darf eine geordnete Lebens-Führung erwartet werden, wie sie gleich anfangs beschrieben wurde.

Der minder glücklichen Fälle giebt es unzählige. Bald liegt der Fehler in den herrschenden Vorsteliungsmassen, bald darin, dafs sie nicht stark genug, oder in ihrer Wirksamkeit unterbrochen sind.

Von den unglücklichen Fällen der verkehrten Ausbildung finden sich die stärksten Proben in den Geschichten der Verbrechen, deren Be- urtheilung bekanntlich sehr schwer ist, wenn man nicht genau weifs, wieviel davon der herrschenden Absicht, wieviel der Verstimmung eines sonst bessern Menschen, wieviel den Umständen und selbst den zufälligen Er- folgen soll zugeschrieben werden.

Einige Criminalfälle sollen hier ganz kurz angeführt werden;* nur um beyspielsweise auf deren Verschiedenheit hinzuweisen.

1. Einer zündet sein Haus an, um die zu hoch gesteigerten Assecuranz- gelder zu gewinnen, und seinen Plan eines bessern Neubaues ins Werk zu richten. Mit verschiedenen Miethsleuten, die bey ihm wohnen, hat er schon im Voraus von dem Glücke geredet, abzubrennen; auch guten Rath fallen lassen, man möge für mögliche Fälle die Sachen zum Fortschaffen bereit halten. Er rühmt sich, gelernt zu haben, wie man die Richter' täuschen müsse. Er droht, einen Angeber würde der Brenner stumm zu machen wissen, oder ihn selbst als Brandstifter verklagen. Endlich, nach der That, im Gefängnisse, horcht er freudig auf ein vorgebliches Mittel, sich der Strafe zu entziehen. l

2. Ein Unglücklicher, um sich den Selbstmord zu sparen, wünscht hingerichtet zu werden; zu diesem Zwecke stürzt er seine vierjährige Tochter in einen Brunnen;2 durch die drückendste Noth ist er der Ver- zweiflung nahe gebracht worden.

3. Ein melancholischer Mensch, übrigens unstreitig bey Verstände, drohet seiner Frau, sie werde ihn am Ende mit ihrer Schlechtigkeit (die, wie es scheint, nur seine Einbildung, wenigstens nicht bewiesen ist,) noch so verwirrt inachen, dafs es ihm gehe, wie jenem Schneider, der zuerst seine Frau, dann sich selbst mordete. Bald darauf kommt der Bruder zur Frau und erzählt einen Unglückstraum, worin das Verbrechen prophe- zeiht wird. Magenkrampf, Herzklopfen, achttägiges tief in die Nacht hinein fortgesetztes Arbeiten kommt noch hinzu; ein Rasirmesser liegt ge- rade bereit, und die That wird nun3 nach dem doppelten Vorbilde

* Aus Hitzigs Zeitschrift, September 1830.

1 Der vorstehende Abschnitt 1. steht wörtlich im „Zusatz" zum 13. Capitel der I Ausg. Vgl. S. 160.

2 Der vorstehende Satz' von' 2. steht wörtlich im „Zusatz" zum 13. Capitel der I. Ausg. Vgl. S. 160.

3 „nun" fehlt in SW bei der Wiedergabe des Textes der I. Ausg. (Vgl. S. 161, Note 1.)

jQ2 IL Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

vollzogen; nur gelingt der Selbstmord nicht ganz. Der Mann wird geheilt, um sein Urtheil zu empfangen: Strafe des Schwerdts mit Schleifung zur Richtstätte. »

Zuvorderst tritt nun in dem ersten Falle nicht blofs das, was man eine freye Handlung zu nennen pflegt, sondern wirklich volle Freyheit des handelnden Menschen hervor. Alle seine Vorstellungsmassen erscheinen gleichsam angesteckt von dem bösen Plane; alles Reden und Thun, nach wie vor dem Verbrechen, zielt dahin; er weifs, dafs die Einwohner seines Hauses in den Flammen den Tod finden können; er zündet es dennoch an. Hier ist keine zufällige Hemmung, deren Verschwinden einen bessern Menschen darstellen würde. Blofs der Erfolg ist zufällig nicht ganz so schlimm, wie er seyn könnte; denn man erfährt nicht, dafs Jemand verbrannt sey.

Was dagegen den armen Tagelöhner anlangt, der durch Hinrichtung zu sterben wünscht, so würden milde Herzen, hätten sie seine Noth ge- kannt, ihm das gute Gewissen und seinem Kinde das Leben wahrschein- lich durch eine sehr mäfsige Fürsorge und durch freundlichen Zu- spruch haben erhalten können. Aber die Lebenswege sind ihm ver- schlossen; seine Gedanken stocken; das Vatergefühl erlischt in ihm, und seine Handlung, ihrem Endzwecke nach betrachtet, ist Selbstmord, dem nur das Gelingen fehlt. Die Absicht, Wehe zu thun, der allererste wesentliche Punct, auf welchem der Ursprung des Begriffs der Strafe beruht*, tritt nirgends in solcher Deutlichkeit hervor, dafs man darauf Gewicht legen könnte. Das Wesen des Verbrechens ist kein dolus, wohl aber culpa. Er hätte sollen den Gedanken des Selbstmords verabscheuen! Er hätte sollen die geringen Hülfsmittel seiner Existenz noch möglichst benutzen ! Er hätte sollen vor dem Leben seines Kindes Respect fassen ! Aber die Wahrheit zu sagen, die Foderung einer meist schon er- loschenen Geisteskraft ist, nach der vorhandenen Beschreibung zu urtheilen, doch nicht gar viel klüger, als wenn man Nachdenken von einem Blöd- sinnigen fodern wollte. Diesem, nicht aber dem kraftvollen Wahnsinne, nähern sich solche Fälle, wo ein Misgriff zum Verbrechen wird, weil die Gedanken des Menschen nicht mehr gehörig zusammenwirken.

Merklich anders verhält sich der dritte Fall. Hier ist zwar auch Verzweiflung und Selbstmord, aber zuerst die Absicht, Rache zu üben wegen vermeinter Beleidigung; dann erst, sich selbst für das Verbrechen zu strafen. Darin liegt klares moralisches Bewufstseyn. Dennoch ist der Zusammenhang der Handlung so beschaffen, dafs er bey einem charakter- vollen Menschen tragisch heüsen würde. Finstere Bilder, Beyspiel und Traum, schweben voran; der verstimmte, zerrüttete Mensch läfst sich fort- schleppen von den Veranlassungen. Hier ist dolus und culpa zugleich. Der dolus liegt in den Vorstellungsmassen, welche handelnd hervortreten; die culpa in den andern, die sich zum Widerstände erheben sollten, und wirkungslos bleiben. Und dennoch obgleich die Handlung frey zu nennen ist, erblickt

1 Der vorstehende Abschnitt 3. steht wörtlich im „Zusatz" zum 1 3. Capilel der I. Ausgabe. (Vgl. S. r6o— 161.)

Praktische Philosophie, im fünften Capitel des ersten Buchs. [Bd. II vorl. Ausg.]

i. Abschn. Elementarlehre. 16. Cap. [II. Ausg. : 18. Cap.] Von der Seele und vom Ich. iq^

man keinen freyen Mann. Immer noch behält das Unglück seinen Theil an der That; und recht eigentlich ist der Thäter ein armer Sünder: eine Benennung, worauf jener kalt berechnende Brenner keinen Anspruch hat.

Keiner von diesen Fällen zeigt den Gipfel der Bosheit, die eigent- liche Tücke. Andrerseits sinkt auch keiner bis zu solcher Milderung des Urtheils herab, wie 1 die Handlung einer Mutter, die, nach eignem Bey- spiele ein klägliches Leben für ihre Töchter fürchtend, ihnen lieber durch Opium einen sanften Tod gab.

2Sollen wir nun noch sagen, dafs die Zurechnung eine Gröfse hat, welche wächst und abnimmt? Und dafs die Strafe mit der Zurech- nung wachsen und abnehmen sollte?

Sechzehntes Capitel. [IL Ausgabe: 18. Capitel.]

Von der Seele und vom Ich.

140. [158, IL Ausg.] Dem Idealismus ist es eigen, anstatt der Seele lieber vom Ich zu reden, wie wenn dadurch die wahre Natur unseres Geistes erkannt würde. Dies ist ganz falsch.* Der Wahnsinnige, der sich selbst für einen König, oder gar für die Gottheit hält, verräth schon deutlich ge- nug, dafs man das Ich nicht als ein Veststehendes, am wenigsten aber als ein Reales betrachten dürfe. Auch der Gesunde, der aufser Fassung geräth, ist aufser sich; das heilst, aufser seinem Ich. Ueberlegten die Menschen genau, was ihnen ihr Ich eigentlich bedeute, so würden sie selbst im Laufe des ruhigsten Lebens bald merken, dafs diese Bedeutung viel zu mannigfaltig und wandelbar ist, um für ein beharrliches Substrat des geistigen Daseyns gelten zu können. Der Idealist versucht, durch eine Abstraction das Ich von allen diesen Zufälligkeiten loszureifsen. Sein sogenanntes reines Ich pafst alsdann auf Niemanden weniger, als auf ihn selbst. Die nothwendige Folge ist, dafs sich das eingebildete Abstractum gänzlich vom Selbstbewufstseyn losreifst; und nun ist er im Lande der Chimären. Die genauere Speculation zeigt, dafs die Chimären vollkommene Widersprüche sind; über welchen zu brüten wir dem praktischen Menschen nicht zu- muthen dürfen.

Die Seele ist das Bestehende und Bleibende, welches dem wandel- baren Ich des Gesunden, des Wahnsinnigen, des Genesenen, stets auf gleiche Weise zum Grunde liegt. Sie [228] wird nicht unmittelbar erkannt, sondern zu den Ereignissen der inneren Erfahrung mit Unrecht als Kraß, aber mit Recht als Substanz hinzugedacht. Zu der leiblichen Masse der

1 Der vorstehende Text: „Zuvörderst (S. 192, Z. 5 v. o.) . . . herab, wie1' steht wörtlich im „Zusatz" zum 13. Cap. der I. Ausgabe. (Vgl. S. 161 162).

2 Die folgenden 2 Sätze finden sich wörtlich im „Zusatz" zum 13. Capitel der I. Ausgabe. Vgl. S. 162.

* Metaphysik II. §. 309 325.

Herbart's Werke. IX. '3

I0, II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

Arme und Beine, die man amputiren, des Blutes, das man aus den Adern herauslassen und durch neue, zufällig sich darbietende Nahrung ersetzen kann, zu diesem, was kommt und geht, kann man die Seele, welche be- harrt, nicht hinzudenken; sondern sie ist davon völlig verschieden; eben so verschieden als von den Haaren, die wir abschneiden, und von den Zähnen, die wir ausziehen lassen, ohne an unserer Person etwas zu ver- lieren.

141. [159, II- Ausg.] Alle Zweifel an der Unsterblichkeit der Seele sind aus dem speculativen Ungeschick entstanden, mit welchem einerseits der Begriff des Lebens, welches dem Leibe zukommt, und andererseits der Begriff der geistigen Regsamkeit, die man auch Leben nennt, ist be- handelt worden. Es giebt aber eben so wenig ein allgemeines Leben, als eine allgemeine Materie; sondern jedes wirkliche ist ein besonderes; und die Seele ist eben deswegen gar kein Leben, weil sie der Sitz und Grund des geistigen Lebens ist. Der Grund jedoch nicht für sich allein, sondern unter hinzukommenden Bedingungen.

Dieser Sitz und Grund dauert fort, auch ohne das leibliche Leben. Ja er würde fortdauern, wenn durch ein göttliches Wunder das ganze, von der Geb.urt bis zum Tode entstandene, geistige Leben, welches in diesem Sitze wohnt und wirkt, ausgelöscht würde. Aber hiezu wäre eben ein Wunder nöthig; und ein so zweckloses Wunder mufs von dem All- gütigen Niemand befürchten.

Dem gemeinen Verstände hat man diese Lehre besonders dadurch verdorben, dafs man meinte, die Thiere möchten wohl auch eine Seele haben, aber für sie wäre es zuviel Ehre, ihr Unsterblichkeit zuzutrauen. Das Pferd also und der Hund hätten eine Seele, aber eine sterbliche! Diese Weisheit bedarf dann freylich eines Wunders gerade am unrechten Orte, damit der menschlichen Seele ein so besonderer Vorzug, noch [22g] nach dem Tode fortzudauern, eingeräumt werde. Sie hat von Anfang an die Seele des Thiers, welche Substanz ist gleich der des Menschen, für eine Kraft gehalten, alsdann diese Kraft (die nichts weiter ist als ein ungereimter Begriff) mit dem Leben verwechselt; und sie verwechselt nun weiter die Seele des Menschen mit dem Ich. Eins ist so verkehrt wie das andre. Die Seelen der Thiere dauern eben so nothwendig, eben so ganz von selbst fort, wie die Seelen der Menschen. Noch mehr: mit der nämlichen psychischen Nothwendigkeit, wie beym Menschen, bleiben auch jeder Thierseele ihre Vorstellungen; wofern nicht hier abermals ein göttliches Wunder eintritt, dessen Zweck wohl Niemand darzuthun unter- nehmen wird. Von selbst können innere Zustände, die irgend ein Wesen, sey es welches es wolle, einmal erlangt hat, nicht aufhören. Im Gegen- theil: man darf glauben, dafs eben diese innern Zustände jedes höher gebildete Wesen in den Stand setzen, alle unpassende Verbindungen, denen es nach dem Tode des Leibes ausgesetzt scheinen möchte, für immer zu vermeiden, und sich ein rein geistiges Daseyn zu erhalten, wo- fern nicht etwas Höheres, unserer Speculation nicht Zugängliches, über dasselbe beschlossen und veranstaltet wäre. Daher bedürfen die Meinungen von der Seelenwanderung keiner Widerlegung. Oben (128. 135. 136.) ist schon gelehrt worden, dafs die äufsere Lage und Gestaltung sich nach

i. Abschn. Elementarlehre. i6.Cap. [II. Ausg. : i8.Cap.] Von der Seele uDd vom Ich. tqj

den innern Zuständen richtet. Daraus folgt sogleich der negative Satz, dafs eine Gestaltung, die den innern Zuständen zuwider wäre, nicht möglich ist. Und so wird sich die Seele des Menschen wohl hüten, in einen Thier- oder Pflanzen körper hineinzuwandern; sie pafst nicht einmal in den Leib eines menschlichen Kindes, dessen Bildung von vorn an- fängt, wenn sie zuvor schon die geistige Ausbildung einer höheren Stufe erreicht hatte.

In das Jenseits hinter dem Grabe nimmt die Menschenseele ihr aus- gebildetes Ich; die Thierseele ihre ungebildeten Vorstellungen mit hinüber. Jeder einzelne Bestandtheil des Leichnams aber, dessen innere Zustände so dürftig sind, dafs [230] sie nur kaum, und nur in der allgemeinsten Abstraction mit der Thierseele dürfen verglichen werden, mag sich dem Pflanzenleben als ein Erweckungs- oder Förderungsmittel darbieten; wie- wohl auch dieses von der Nervensubstanz schon zuviel behauptet seyn möchte; und selbst von der Kalkerde und Phosphorsäure, die jemals einen Bestandtheil eines Thierleibes ausmachte, noch sehr die Frage ist, ob sie einen bleibenden Bestand in der Pflanze sich gefallen lasse, oder vielmehr nur im schnellen Durchgange den Vegetationsprocess in Gang setzen helfe.

Durchaus nothwendig aber ist in allen diesen Betrachtungen ein strenger Realismus, der sich mit den idealistischen Irrthümern in gar keine Gemeinschaft einlasse. Sonst sind zahllose Inconsequenzen nicht zu vermeiden. Es ist kein Scherz, dafs man von der falschen Philosophie der letzten Decennien sich losreifsen mufs.

142. [160, IL Ausg.] Zu den Nachlässigkeiten der neuern Philosophie gehört eine, die in gewissem Grade der Ungelehrte fast leichter als der schul- gerechte Denker verbessern kann. Es ist die Beobachtung der Thiere in geistiger Hinsicht. Diese zeigt unzweydeutig, wenn je die Zeichensprache der Thiere verstanden zu werden Anspruch hat, den Egoismus der Individuen, theils gemildert durch Anhänglichkeit an einzelne Andre, theils geschärft durch Neid und Hals gegen alles Fremde. Man wolle nur nicht ge- waltsam der Erfahrung die Augen verschliefsen, so wird schon diese Klasse von Thatsachen sich hülfreich beweisen, um die idealistische Einseitigkeit in Ansehung des menschlichen Ich zu vermeiden.

Das Ich des Menschen ist nur in der Abstraction eine fertige und abgeschlossene Vorstellung; jedoch fängt hier die Abstraction nicht erst in den Schulen an, sondern schon im Leben. Der Mann, welcher spricht: was kümmert's mich} stöfst schon irgend etwas von sich ab, das als zu ihm gehörig könnte gedeutet werden. In der Betrachtung über Un- sterblichkeit machen wir unser Ich los von dem Leibe, der [231] sonst im gemeinen Verkehr als sehr wesentliche Grundlage jeder Person an- gesehen wird. Auf diesem Standpuncte des Zurückweisens und der Er- hebung über das Irdische findet sich überhaupt der gebildete Mensch; welches anzeigt, dafs der jüngere und unreife manches zu sich selbst ge- rechnet hat, (z. B. Stand und Namen,) was die bessere Ueberlegung zu verschmähen pflegt, und wovon das Ich allmählig gereinigt wird. Anderer- seits aber bringt die Zeit auch Zusätze zum Ich; die Jahre bringen Ver- stand, das Alter bringt Weisheit; und solche Zusätze können nicht füglich

13*

jq6 II Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

aus dem Ich verwiesen werden; eben so wenig als die Reihe der ver- dienstlichen Handlungen, mit denen wo möglich jeder neue Tag des Lebens von neuem soll bezeichnet werden. Dieses fortdauernde Reinigen und Veredeln des Ich macht aber den wahren Gegenstand der Vor- stellung, die wir von Uns selbst haben, sehr schwankend; und nicht ohne Grund mag Einer sich fragen: War ich vor Jahren schon Ich? Seit wann bin ich, der Ich bin? und wie lange werde ich es bleiben?

143. [161, IL Ausg.] Ganz vergeblich würden wir uns bemühen, dem praktischen Menschen das Gewicht der eben berührten Schwierigkeiten fühl- bar zu machen. Denn ihm steht das beste Hülfsmittel dagegen zu Gebote. Er handelt; und im Handeln findet er Sich. Er läfst sich die Folgen seiner Handlungen gefallen; seyen sie willkommen oder nicht, er findet Sich, gleichviel ob im Genufs oder im Leiden. Allenfalls würde er sich auch mit dem cogito, ergo sum, begnügen. Und warum sollte er nicht? Er sucht einen Gedanken, um das Denken als Thatsache zu ertappen; er hat einen erhascht; sein Thun ist gelungen. Er sieht nun den Besitzer des Gedankens als Denselben, der danach suchte. Der Denkende ist offenbar zugleich Inhaber und Erzeuger des Gedankens. Der Inhaber (cogitans) denkt nicht blofs irgend Etwas, sondern das gedachte Etwas macht auch den Ursprung des Gedachten, auf den es selbst zurückweiset ', (nämlich das denkende Subject,) zu seinem Vor aus gesetzten. So fällt bey Ge[232]legenheit des ersten besten, wenn auch noch so geringfügigen Gegenstandes, indem er vorgestellt wird, das Subject selbst ins Gebiet des Objectiven; nachdem die Vorstellung, das Werk des Subjects, fertig ist, und nunmehr dem Vorstellenden zu Dienste steht. Wie sollte er nun noch zweifeln, ob er sey, oder nicht sey? Das cogito beweiset nicht blofs das Seyn, sondern das sum; es zeigt gleichsam durch den beliebig ge- dachten Gegenstand hindurch auf den Inhaber des Gedankens, als auf den Wissenden nicht des Gedankens allein, sondern auch Dessen, von welchem dieser Gedanke ausging; also auf den, welcher wisse von Sich.

Wie nun hier der Punct, von wo der Gedanke kommt, zusammen- fällt mit dem Puncte, wo der Gedanke ist, und wie der schon zusammen- gefallene Doppelpunct jetzt (in dem Satze: cogito, ergo sum,) als die Probe des Daseyns vorgewiesen, mithin selbst zum Gegenstande der Betrachtung (zum Objecte) gemacht wird, während er doch der Ursprung des Ge- dankens (das Subject desselben) war: eben so verhält es sich nur noch deutlicher mit dem Thun; nämlich indem das Vollbrachte vor Augen steht. Der Vollbringer findet zunächst Sich i als gebunden im Anschauen; (er kann zwar vielleicht das Werk noch abändern, doch das Geschehene nicht ungeschehen machen; und für jetzt wenigstens macht es ihn passiv, indem es ihn zwingt, es so zu erblicken, wie es nun eben ist.) Aber auf die Frage: wie wurde es so? antwortet das Werk, indem es den Anschauenden bezeichnet als den Urheber, der Sich darin wieder finden müsse. So findet der praktische Mensch sich in der That bey jedem seiner Schritte im Kleinen wie im Grofsen unzähligemal; seine Werke

1 Sich zunächst. SYV.

i. Abschn. Elementarlehre. 1 6. Cap. [II. Ausg. : i8.Cap.] Von der Seele und vom Ich. \gj

sind seine Spiegel. Kleinliche Menschen dagegen, die kein eigenthümlich bezeichnendes Werk, das gerade auf sie und keinen andern zurückweise, zu vollbringen wissen, schreiben mit besonderm Vergnügen ihren Namen, um sich zu erblicken. Läge ihnen blofs daran, denselben zu lesen, so könnte ihn wohl eine fremde Hand schreiben. Aber das würde die Freude verderben. Das Auge soll gerade die eigne Hand im [233] eignen Namen erblicken, damit, indem der Name das Individuum ver- kündigt, eben dieses Sehende durch das Gesehene hindurch Sich anschaute.

Etwas Aehnliches gilt im Falle des Geniefsens und Leidens. Denn die Empfindung weiset zwiefach, und doch auf Einen Punct treffend, hin auf den eben jetzt Empfindenden, welcher zugleich der sich Hingebende war; gleichviel ob zur Lust oder zum Schmerze.*

144. [162, IL Ausg.] Natürlich wird hier Jedem die Frage einfallen, ob denn die Auffassung des eignen Ich so sonderbar geartet sey, dafs sie durchaus l eines fremdartigen Anknüpfungspuncts bedürfe? Wir sind uns ja wohl unmittelbar unseres Denkens bewufst; was bedarf es denn da noch eines zufällig erhaschten Gedankens, woran geheftet die Vorstellung sowohl des Inhabers als des Erzeugers eben dieses Gedankens hervortrete? Wii kennen ja unser Begehren, Wollen, Wirken; wozu brauchen wir denn noch ein bestimmtes Werk als das unsrige anzuschauen? Wir fühlen ja unser Fühlen; was soll denn ein bestimmtes Empfinden von Lust oder Schmerz?

Wenn es nur wahr wäre, dafs wir so geradezu, unmittelbar, unser Fühlen fühlten, oder unser Wollen wollten, unser Denken dächten! Dann würden wir ja auch unser Sehen besehen, und eben so unserm Hören zuhören, unsern Geschmack schmecken, unsern Geruch riechen können. Alle sorglosen Voraussetzungen dieser Art sind barer Irrthum.**

Und von dem Ich mufs auf's entschiedenste behauptet werden, dafs ihm ein fremdartiger Anknüpfungspunct durchaus2 unentbehrlich ist; indem3 der Mangel desselben, den die unbehutsame Speculation sich nur gar zu gern gefallen läfst, in die gröbsten Ungereimtheiten hinabzugleiten ver- anlafst. *** Mit andern Worten; das vorgebliche reine Ich4 ist ganz5 un- möglich; jedes Selbstbewufstseyn zeigt irgend etwas Be[234]stimmtes, welches zum Objecte dient, so dals nun eben0 als ein Solches das Ich sich finde.

Hieraus aber entsteht in Beziehung auf das menschliche Selbst- bewufstseyn der Einwurf: man finde doch keine veste Bestimmung in demselben; sondern das Ich sey bey verschiedenen Personen nach ver-

* Psychologie II. § 136. [Bd. VI vorl. Ausg.]

1 „durchaus" fehlt II. Ausg. ** Psychologie II. § 131 u. s. \v.

2 „durchaus" fehlt II. Ausg.* *** Ebendas. I. § 24 30.

4 Hier fügt die II. Ausgabe ein: „welches eben nur ein Ich seyn soll".

5 „ganz" fehlt in der II. Ausg.b

6 „nun eben" fehlt II. Ausg.

3 SW ,.dem" (Druckfehler) statt „indem".

a u. b SW drucken nach der II. Ausgabe ohne Angabe der Abweichungen vert der I. Ausgabe.

jq8 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

schiedenen Individualitäten anders und anders; ja selbst bey dem näm- lichen Menschen zeige sich das, als was oder wen derselbe sich anschaue bey weitem nicht immer gleichartig.

Die Antwort auf diesen Einwurf (welchen schärfer auszudrücken hier nicht nöthig scheint) ist folgende: das Ich mufs nicht blols mannigfaltige, sondern selbst entgegengesetzte Objecte haben; so dafs die Vorstellungen, die wir von uns fassen, sich gegenseitig auslöschen können. Daraus folgt aber nicht, dafs sie immer, und ganz, durch einander aufgehoben würden: sondern nur, dafs jede nähere Bestimmung unseres Ich uns zufällig er- scheine.

Hierdurch, um nur1 kurz die praktische Seite dieses Gegenstandes hervorzuheben, geschieht es, dafs wir uns über das Gemeine, welches uns sonst von Jugend auf ankleben würde, erheben können; und dafs selbst die Tugend des Menschen nicht von dem stolzen Wahne befleckt werden kann, wie wenn sie seiner Person wesentlich, und frey von aller Gefahr des möglichen Verlustes, inwohnte. Sie ist vielmehr erworben, und will stets gehütet seyn; gerade so wie die Gesundheit, die gegen Krankheit des Leibes und der Seele eines beständig sorgsamen Schutzes bedarf.

145. [163, IL Ausg.] Hat schon ein einzelnes, wenn auch unbedeutendes, Werk des Menschen die Kraft, ihn dahin zu bringen, dafs er nicht blofs spreche: ich sehe, sondern: ich sehe mich, als den Urheber dieses Werks: so finden sich die Bedingungen der Ichheit noch weit vollständiger realisiert in solchen Thaten, die mit einem bedeutenden Bewufstseyn von Schuld oder Verdienst, und vollends noch mit dem Voraussehn der Folgen begleitet sind. Der Verbrecher, der nach voll[235]brachter Unthat zwischen Schreck und Freude und Furcht schwebt, appercipirt zuvörderst diesen seinen gegenwärtigen affectvollen Zustand,* und schreibt denselben sich, als Individuum, zu.** Allein zugleich versetzt ihn der Anblick des von ihm mishandelten Gegenstandes zurück in die Zeit vor der That; in das Streben zur That. Hier offenbart sich der stärkste Contrast des frühem und des jetzigen Gemütszustandes. Die gleichsam doppelte Person, welche wir vorhin durch die Worte: Inhaber und Erzeuger des Gedankens, kenntlich machten, tritt hier weit auseinander. Dennoch fällt beides zu- sammen. Der Mörder, gezwungen den Leichnam anzuschauen, erblickt zugleich Sich, den im Anschauen Begriffenen, als den Nämlichen, welchem

hiemit auch die Erinnerung aufgedrungen wird an die Absicht des Mordes, an die Veranstaltungen dazu, an die Gefahren, die er besiegte, an den Augenblick der Ausführung. Und noch regt sich die böse Lust; hätte er nicht gemordet, noch jetzt wäre er bereit! Dieser letzte Zug vollendet die Einheit des Ich. Wenn derselbe bey dem reuigen Verbrecher fehlt, so trennen sich Object und Subject; der Mensch klagt dann: ich begreife mich selbst nicht. Daher mag man sagen: der Tugendhafte gela'nge zur Ichheit vollkommener, als der Sünder. Denn er ist mit sich Eins und in Frieden. Seine That, indem er sich zunächst als deren Zuschauer

* Psychologie II. § 125 127. [Bd. VI vorl. Ausg.] ** Ebendas. § 135.

1 „nur" fehlt SW.

i. Abschn. Elementarlehre. 16. Cap. [II. Ausg. : 18. Cap.] Von der Seele und vom Ich. i qq

auffafst, vielleicht als blofsen Zuschauer, dem jetzt nicht mehr die Kräfte zu Gebote stehen würden, die er ehedem besafs, versetzt ihn dennoch zurück in die nämliche Regung des Willens, aus welcher die Handlung hervorging, da sie vollzogen wurde. Er findet sich als Den- selben der Gesinnung nach, wie ehedem. Als Zuschauer weifs er von seinem ehemaligen Ueberlegen und Wollen; die jetzige erneuerte Ueber- legung kommt dazu; und es vollendet sich das Gefühl der Harmonie mit Sich Selbst.

[236] Der Blick in frühere Vergangenheit und spätere Zukunft, besonders das Wissen um die schon gefafsten Vorsätze, schon getroffenen Anstalten zu fernerem Thun, knüpft die Vorstellung des jetzigen Ich an die eines altern und eines in die Zukunft hinausschauenden, ja bevorstehenden, in dessen Gemüthsstimmung man jetzt nur noch durch Vorahnungen ein- dringen könne.

146. [164, II. Ausg.] Endlich ist noch eine Erinnerung an einen oft berührten Gegenstand hier zu wiederhohlen. Die Mannigfaltigkeit verschiedener Vorstellungsmassen, deren jede zu eigner Ausbildung gelangt ist, und die unter einander in sehr verschiedenen Verhältnissen wirksam seyn können, bringt eine eben so grofse Mannigfaltigkeit in die Ichheit hinein. Denn jede dieser Massen konnte für sich allein schon, nicht blofs einfach, sondern tausendfach die Ichheit erzeugen. Der Mensch fand Sich in Allem was er im Garten, in Allem was er auf dem Studirzimmer, im Gesellschaftssaale, auf einer Reise, in grofsen und kleinen Geschafften und Erhohlungen that und empfand und dachte. Die Meisten werden geneigt seyn, zu glauben, in allen diesen Fällen stehe ein und der nämliche Gegenstand , das Ich, der innein Anschauung vor Augen; aber sie irren sich gewaltig! Der Gegenstand, den sie meinen, ist gar nicht vorhanden; und kann also auch nicht angeschaut zverden. Sondern die Ichheit erzeugt sich aus den vor- handenen Vorstellungen so vielmal, als hinreichender Anlafs da ist. Die Einheit der Seele aber, und der Umstand , dafs jede Vorstellung ein be- harrlicher Zustand (ungeachtet vorübergehender Hemmungen) in der Seele ist, verbunden mit den Gesetzen der Complication und Verschmelzung unter den Vorstellungen : dieses Alles bewirkt, dafs die Ichheit im gesunden Menschen ihren Zusammenhang behauptet, und sich im Laufe der Jahre nur allmählig verändert; während der Wahnsinn, welcher blofs auf partialen Hemmungen durch starr gewordne (in gewissen [237] körperlichen Zuständen vest gewurzelte1) Affecten beruht, leider oft genug auch die Ichheit zer- splittert, und alsdann seltsame Erscheinungen darbietet, über die man sich bey etwas mehr geläuterter Psychologie weniger wundern würde.

In den sämmtlichen Geisteszerrüttungen liegt ohne Zweifel noch Vieles, das wir nicht wissen; aber schwerlich etwas, das sonderlich be- fremden sollte. Der gesunde, jedoch zu höhern Bildungsstufen gelangte, psychologische2 Mechanismus kann unzählig verschiedene Arten von Hemmung

1 „gewurzelten" I. u. II. Ausgabe (gewurzelte SW.)

2 „psychische" statt „psychologische" 11. Ausgabe.;

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

200

IL Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

erleiden; diese in ein System zu bringen, ist ungefähr ein solches Unter- nehmen, als ob einer alle möglichen Verzerrungen des menschlichen Ge- sichts aufstellen und classificiren wollte. Man müfste denn doch zu diesem Behuf die sämmtlichen Muskeln des Gesichts, und deren mögliche Zu- sammenziehungen, erst vollständig kennen. Wer falsche Vorstellungen über die Verbindung zwischen Leib und Seele hegt, mag zusehen, was er bey Störungen des Ich, oder der Vernunft, denken könne, die man durch Arzney, vom Unterleibe aus, heilen müsse. Wer sich um die Apperception einer Vor Stellungsmasse durch die andre nicht kümmern will, der mag die Freyheit der Handlungen in allgemeinen Theorien behaupten oder läugnen : er wird im Einzelnen überall selbstgeschaffnen Schwierigkeiten begegnen, 'die man, so lange die Vorliebe für alte Vorurtheile nicht weichen will, nicht einmal angreifen, viel weniger heben kann. Erst mufs die natürliche Wirkungsweise dessen bekannt seyn, was unter besondern Umständen der Hemmung unterliegt; dann erst ist es Zeit, die möglichen Arten, wie und wo die Hemmung eingreifen könne, zu untersuchen; und ganz zuletzt läfst sich erklären, warum die erfahrungsmäfsig bekannten Erscheinungen der Hemmung so und nicht anders ausfallen.

2 Zum Schlüsse dieses ersten Abschnitts sollte noch ein Capitel von der Geschichte der Menschheit folgen, welches [238] mit den zuletzt erwähnten Gegenständen das frühere über Moral, Religion und Kunstlehre Gesagte in Verbindung bringen würde. Allein die Geschichte selbst spricht heutiges Tages zu laut, als dafs über sie zu reden schicklich genug wäre.

1 Die folgenden Worte: „die man, so lange . . . vielweniger heben kann" fehlen in der II. Ausg.

2 Die Schlußsätze: „Zum Schlüsse . . . genug wären" fehlen in der II. Ausg.

Zweyter Abschnitt.

Methoden lehre.

[241] Erstes Capitel. Von der Logik.

'&'

147. [165, II. Ausg.] Zuerst mufs der Unterschied klar werden zwischen der Encyklopädie und der Einleitung in die Philosophie. Der Etymologie nach bezeichnet das erste dieser Worte eine Bewegung im Kreise; das andre einen geraden Gang, der weiter vorwärts führen soll. Die Bedeutung ist also verschieden, und zwar dergestalt, dafs die Einleitung Anfänger voraus- setzt, welche die Absicht haben, weiter zu gehen; die Encyklopädie hin- gegen einen kurzen und übersichtlichen Unterricht ankündigt, bey welchem eher Vorkenntnifs als fortzusetzendes Studium darf angenommen werden. Allein um dies für den vorliegenden Fall zu erläutern, dazu ist ein Rück- blick auf den bisherigen V ortrag nöthig.

Dem Widerwillen, welcher neuerlich von falsche?i Systemen auf Systeme überhaupt und als solche sich ausgebreitet hat, ist im Vorhergehenden weit mehr, als man wohl bemerken mochte, eingeräumt worden. Hätte Einer zum Verdrufs des Verfassers das System recht bunt durch einander werfen, das Oberste nach unten, das Hinterste nach vorn kehren wollen: er würde es nicht ärger machen können, als hier geschehen ist. Durch alle Capitel ist die Psychologie zerstreut; die Metaphysik ist vom letzten Ende der Naturphilosophie angefangen, während ihre Haupttheile ganz im Dunkeln gelassen worden; von der praktischen Philosophie ist der Anfang ihres letzten Viertels in den Anfang des ganzen Buchs gestellt, und, um den Gräuel zu vollenden, gar die Pädagogik zur Einlei[242] tung in die Lehren vom Leben des Geistes und des Leibes gebraucht worden.

Zur Aufklärung über dies Verfahren kann eine Reihe von Begriffen dienen, die eigentlich in der Pädagogik einheimisch ist, und dort ver- schiedene Stufen des Unterrichts bezeichnet. Sie heifst: Klarheit, Asso- ciation, System und Methode.

Wollte Jemand nach Anleitung dieser Begriffsreihe Philosophie lehren: so müfste er zuerst die Gegenstände der philosophischen Betrachtung aus

,0-, II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

einander legen, und sie so weit das möglich ist, einzeln besehen lassen; denn Klarheit erfordert Entfernung alles dessen, was Eins das Andre trüben könnte. Dann müfste er es durch einander mischen, um es in mancherley zufällige Verbindungen zu bringen; so lange, bis es dem Zuhörer zu Gebote stünde, ohne Beschwerde von jedem Puncte zum andern überzugehn, und besonders, bis der Zuhörer sicher wäre, nicht mehr Eins über dem Andern ganz aus den Augen zu verlieren. Nun erst würde der systematische Vortrag eintreten, und auch nun erst in seinem Werthe, als Anordnung und Veststellung des Schwankenden, er- kannt werden, doch aber noch nicht völlig geprüft seyn, bis endlich die Methode hinzukäme, welche jedem Gliede des Systems die Noth- wendigkeit seiner Stellung nachwiese.

Ganz genau so die Philosophie zu lehren, erlauben die äufsern Verhältnisse nicht. Das Gedränge dessen, was gelehrt und gelernt, vollends was gelesen wird, gestattet höchst selten, dafs man irgend einen Lehr- gegenstand in irgend einem Fache so stufenweise durcharbeite. Ob der Philosophie jemals die Zeit kommen wird, auf diese Weise studirt, und wahrhaft zum Gebrauche zubereitet zu werden? das läfst sich nicht vor- aussehn.

148. [166, IL Ausg.] Jedenfalls wenigstens verkennt man auch schon jetzt die Einleitung in die Philosophie, wenn man (wie oft genug geschieht) sie mit der Encyklopädie verwechselt, oder dadurch zu ersetzen meint. [243] Die Einleitung steht auf der Stufe der Klarheit; die Ency- klopädie auf der Stufe der Association. Daher das vorige Verfahren.

Diese allgemeine Angabe erfordert aber eine nähere Bestimmung. Einleitung in die Philosophie, bey welcher auf ein künftig weiter fortzu- setzendes Studium gerechnet wird, geschieht in mündlichen Vorträgen an Jünglinge; und dazu gehört ein Compendium. Zur Association dagegen pafst der Compendienstil ganz und gar1 nicht, sondern der Feder mufs hier ein freyer Lauf gegeben werden, in der Gedankenverbindung, welche bequem scheint lür Männer, die weder Anfänger sind, noch in der Wissenschaft die Meisterschaft erreichen wollen. Denn von solchen ist zu erwarten, dafs ihnen Encyklopädie willkommner sey, als Einleitung oder System.

Ferner: die Einleitung darf nicht auf die Menge der Zuhörer be- rechnet werden, die sich aus Neugier etwa einfindet; sondern auf die- jenigen, die wirklich eingeleitet, oder vorbereitet seyn wollen. Ihnen mufs man das Fort sehreiten möglich machen; daher lehrt man sie theils das, was unmittelbar klar ist, theils aber die Probleme, welche zum fortschrei- tenden Denken die wesentlichen Motive enthalten. Und wenn ja am Ende der Einleitung einige Uebersichten (mehr zum beliebigen Lesen als zum Behufe des Vortrags) beygefügt werden, die man encyklopädisch.nennen kann: so bekommen doch dieselben dort nicht die eigene Form der Ency- klopädie; das heifst, sie werden nicht zur kurzen und bequemen Ueber- sicht, (mit Auslassung der mehr schweren als unmittelbar wichtigen Puncte,)

1 „ganz und gar" fehlt in der II. Ausg.*

a S\V drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichungen der I. Ausg.

2. Abschnitt. Methodenlehre. I. Capitel. Von der Logik. 203

also nicht so, wie es hier geschieht, nämlich associirend dargestellt; sondern sie bezeichnen den Weg des zum System , und vi dem letztern fortschrei- tenden Denkens, und berühren deshalb manches, wovon in dem vorliegenden Buche bis jetzt noch nicht die Rede war, und auch nur weniges folgen wird. 1

Wir haben uns nämlich bisher an Dasjenige gehalten, was unmittel- bar, und vorzugsweise für den praktischen Menschen, Interesse mit sich führt. Daher sind namentlich die ab[244]stracten Begriffe von der Causalität, und vom leeren Räume, ganz weggeblieben. In der That gewähren diese abstracten Begriffe keine Erkenntnifs irgend eines wirklichen Gegenstandes; vielmehr sind die weitläufigen Untersuchungen der Metaphysik und Psy- chologie, welche sich darauf richten, nur Zurüstungen, um die gesuchte Erkenntnifs zu erlangen.

2 Allerdings gehören solche Zurüstungen wesentlich zum Verfahren, wodurch man Erkenntnisse gewinnt; und davon werden wir hier, in der Methodenlehre, etwas sagen müssen. Doch erinnere man sich, dafs dies Buch eben so wenig für die Schule, als für Schüler seyn soll.

In den systematischen Schriften sind überall die gebrauchten Methoden angegeben; zur Erläuterung der letztern müfste 3 die genaueste Kenntnifs der systematischen Schriften vorausgesetzt werden, worauf hier nicht zu rechnen ist. Der Leser, welcher bis hieher folgte, erwartet ohne Zweifel, das Vorhergehende aus der Zerstreuung, worin es liegt, gesammelt, und in die Umrisse wissenschaftlicher Formen gebracht zu sehn; um aber dieses leisten zu können, werden wir den vorigen Bruchstücken einige, im System wichtige, Ergänzungen nachtragen müssen; welches nur allmählig geschehen kann. Die ältesten und ersten Ansprüche, als philosophische Methoden- lehre erwähnt zu werden, macht die Logik; und wir wollen ihr wohl- hergebrachtes Recht nicht schmälern.

1 Nach: ..wird" hat die II. Ausg. folgende Anmerkung: Die Einleitung in die Philosophie beginnt mit allgemeinen Erklärungen und Umrissen der Philosophie und der zu derselben gehörigen "Wissenschaften ; sie zeigt die Bedingungen und das Schwierige der Untersuchung. Alsdann stellt sie die Logik in den Vordergrund; sie schreitet fort zu den ethischen und ästhetischen Grundbegriffen, damit die Möglichkeit und logische Stellung der verschiedenen Kunstlehrer, erhelle; sie entwickelt ferner die Probleme der Metaphysik, und benutzt hiezu einige Hauptpuncle aus der Geschichte der Philosophie vor Aristoteles; sie schliefst mit einer kurzen Anzeige des Inhalts der vier Wissen- schaften, welche zur Metaphysik im weitern Sinne dieses Worts gerechnet werden, näm- lich der Ontologie, Psychologie, Kosmologie, und philosophischen Religionslehre. Wegen der hier gebrauchten Benennungen ist zu bemerken, dafs der Ausdruck Onto- logie ietzt einen eingeschränktem Sinn hat, und die Wissenschaft selbst besser durch die Worte: allgemeine Metaphysik, bezeichnet wird; der Name: Kosmologie, ist weit passender mit dem Worte: Naturphilosophie, vertauscht worden. Was aber den Gang der Einleitung anlangt, so sieht man leicht, dafs er sich von dem gegenwärtigen Vor- trage sehr unterscheidet, indem er weit mehr das Allgemeine und die Fundamente be- rührt, während ein populärer Vortrag sich vorzugsweise an das Besondere und an die Resultate wenden mufs. Dennoch wird man den Zusammenhang leicht finden, falls man die Mühe des Vergleichens nicht scheut.

2 Der folgende Text bis 7 Zeilen weiter: „Allerdings gehören solche Zu- rüstungen . . . hier nicht zu rechnen ist." fehlen in der II. Ausg.

3 SW fügen hier „überall" ein.

.qi II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

149. [167, II. Ausg.] Gleich Anfangs wurde erwähnt, dafs die Logik zwar von der Zusammenstellung der Begriffe handelt, aber ohne sich um deren Gültigkeit zu bekümmern. Ihre nächste Verwandte ist die Com- binationslehre, von der sie sich jedoch dadurch unterscheidet, dafs in ihr die mancherley Formen, wie Begriffe einander ausschliefsen und einschliefsen, zur Sprache kommen. Die Nothwendigkeit, hierauf stets die Aufmerksamkeit zu richten, begleitet uns durch alle Wissenschaften; daher ist die Logik ihre gemeinsame Vorschule. *

Allein diesen weiten Gesichtskreis der Logik müssen wir für unsern Gebrauch enger begränzen. Aesthetik und Meta|>45]physik sind die beiden grofsen Haupttheile der Philosophie; es fragt sich, wie zu ihnen die Logik sich verhalte?

Zuerst negativ. Da die eigenthümliche Gültigkeit der ästhetischen Begriffe darin besteht, dafs sie Beyfall und Mis fallen mit sich führen: so mengt sich die Logik hierein nicht. Während also sie selbst von der Einstimmung und dem Widerstreite der Begriffe redet: mag die Aesthetik sich hüten, das blofs logische Ja und Nein schon für Lob und Tadel, und hiemit etwa im Ernste die bösen Geister für Geister zu halten, welche vernehmt. Es fehlt in der Geschichte der Philosophie nicht an dergleichen Misgriffen.

Da ferner die eigenthümliche Gültigkeit der metaphysischen Begriffe darin besteht, dafs sie Erkenntnifs entweder darbieten oder vermitteln: so

1 Nach den "Worten: „gemeinsame Vorschule." folgt in der II. Ausg. folgender Zusatz:

Bekanntlich wird die Logik, abgesehen von den Anwendungen, in drey Capiteln abgehandelt, von den Begriffen, von den Urtheilen, von den Schlüssen. Man kann aber das zweyte als den Anfang des dritten ansehn; alsdann zerfällt die Logik in zwey Theile; sie betrachtet die Begriffe in den Verhältnissen, worin sie stehen, und worin sie sich bewegen. Die erste Grundlage ist ein Zusammenfassen und Unter- scheiden, welches nicht blofs der Logik, sondern zugleich der Arith- metik das Daseyn giebt. Jeder Begriff läfst sich vielmal denken; die be- stimmte Vielheit giebt eine Anzahl; das Einerley des Vielen ist der Multi- plicandus; die Bestimmung, wodurch dies Einerley der Vielheit gleich- kommt, der Multiplicator oder die Zahl. Bestimmungen dieser Art nun bleiben der Arithmetik überlassen ; wo aber das Viele zugleich Vielerley ist, und sich dennoch l heilweise als Einerley denken läfst, da ist die Sphäre der Logik. Hier giebt es Unterschiede und Gegensätze; hier giebt es Unterordnung und Abstufungen der Einerleyheit, (die Gattungsbegriffe sind in mehreren Gegenständen einerley als die Artbegriffe;) hier giebt es Qualität und Quantität der Urtheile, wenn das Denken die Begriffe zu- sammenführt, und sich nun ergiebt, in wie fern sie zusammen bestehen können, oder nicht. Hiemit entsteht Ordnung im Denken, indem be- stimmte Distanzen sich zeigen für das mehr oder minder Entgegengesetzte, für höhere und niedere Begriffe, für das Frühere und Spätere beym Fort- schreiten vom Bekannten zum Unbekannten. Wo Ordnung im Denken gefodert wird, da macht sich das Bedürfnifs logischer Uebung fühlbar.

2. Abschnitt. Methodenlehre, i. Capitel. Von der Logik. 2 CK

menst die Logik sich hierein nicht. Während also sie selbst etwa von den Urt heilen einige Formen aufstellt: mag der Metaphysiker sich hüten, dafs sich ihm diese Formen ja1 nicht etwa in Kategorien verwandeln, 2mit der Einbildung, dadurch die menschliche Erkenntnifs erweitern oder verengern zu können. Freylich hat diese Einbildung alle Gewalt eines eben so starren als grundlosen Vorurtheils erlangt; aber die Logik ist daran unschuldig. Sie predigt3 nicht, dafs man ihr etwas nachmachen soll, was sie in ihrem Kreise braucht; 4 sondern solche Nachahmerey ist Ungeschick Derer, die sich auf dem eignen Boden der Metaphysik nicht genug um- gesehen haben, und den Mangel der daselbst einheimischen Hülfsmittel durch fremdes Gut ersetzen wollen.

150. [168, II. Ausg.] Allein5 positiv betrachtet, erscheint die Logik meistens als ein Mentor, der mehr warnt, als hilft. Damit sie eine mehr glänzende Rolle spielen möge, ist sie neuerlich sogar völlig6 aus ihrer Sphäre herausgetrieben worden, um ihren Namen für Lehren herzugeben, die ihr geradezu widersprechen. Bevor wir mit Mehrerem darauf kommen, überlegen wir doch erst näher,7 was wohl das Positive in den Forderungen der Logik zu bedeuten habe?

[246] Sie fordert Einstimmung in den Begiiffen, und weiset den Widerspruch zurück. Sie macht also einen Begriff zum Maafsstabe für den andern, und gebietet, dafs man die Zusammenfassung des Mannig- faltigen in Einem Gedanken sorgfältig durchmustere, um zu sehen, ob auch jede einzelne Bestimmung zu den übrigen passe? Hiedurch fordert sie auf zum analytischen Denken, dessen Folgen übrigens die Logik nicht voraussieht, da sie sich nicht darum kümmert, welche eigenthümliche Fehler in jedem Begriffe bey der Analyse zu Tage kommen mögen.

Wenn zum Beyspiel der Begriff der Pflicht eine Nothwendigkeit mitten in der Freyheit ankündigt: so ermahnt die Logik blofs, dafs man hieraus keinen Widerspruch machen, also diese Nothwendigkeit nicht wie einen wirklichen Zwang gegen den wirklichen Willen (der als frey gedacht wird) ansehn solle. Daraus folgt aber sogleich, es müsse ein idealer Zwang gerichtet seyn gegen den Willen ohne seine Wirklichkeit, das heifst, gegen das Bild des Willens: woraus alsdann die wahre Bedeutung der sogenannten praktischen Vernunft, sofern dieselbe als gesetzgebend er- scheint, sich ergiebt. Sie ist zwar ein höheres Wollen; was aber dieses

1 „ja" fehlt in der II. Ausg.*

2 Statt des folgenden Satzes: „mit der Einbildung ... zu können" hat die II. Ausgabe: „welche die menschliche Erkenntnifs erweitern oder ver- engern könnten.

;J „begehrt" statt „predigt" n. Ausg.

4 Die Worte: „sondern solche Nachahmerey .... Gut ersetzen wollen" fehlen in der II. Ausg.

5 „Allein" fehlt in der II. Ausg.

6 „sogar völlig-' fehlt in der II. Ausg.b

7 „doch erst näher" fehlt in der II. Ausg. c

a b u. c SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichungen der I. Ausg.

2o6 II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1 .

Höhere emporträgt über gemeines Begehren, das ist kein Wollen, sondern Apperception, verbunden mit ästhetischem Urtheile; welches Urtheil uner- bittlich veststeht (29. 45.).

Oder wenn gefragt wird, ob die Pflicht aus der Tugend, und rück- wärts, folge: so ermahnt die Logik, nachzusehn, ob jenes ästhetische Urtheil über den Willen sich allemal direct auf den Werth der wollenden Person beziehe? Denn bekanntlich wird Tugend als persönlicher Werth betrachtet ; wenn nun Einer an seine Pflicht kann erinnert werden, ohne dafs man sich um dessen persönlichen Werth bekümmert: so laufen jene beiden Begriffe nicht vermöge einer vollkommenen logischen Einstimmung in einander zurück, wofern nicht noch irgend welche Mittelglieder ein- geschoben werden. Etwa so: Gesetzt, ein gewisses ästhetisches Urtheil beziehe sich zwar nicht auf den Werth einer Person, aber auf ein Ver- hältnifs zweyer Perso[2 4/]nen; und, nachdem dies veslslehe, komme alsdann noch ein zweytes ästhetisches Urtheil hinzu, welchem gemäfs die Person misfallen würde, falls sie jenes erstere Urtheil vernachlässigen wollte: so wird dadurch mittelbar eine Beziehung der Pflicht einer Person gegen die andre herübergeleitet auf den innern Werth der erstem, also auf deren Tugend. Man sieht ohne Mühe, dafs hier von den beiden Ideen des Rechts und der innern Freyheit die Rede ist (29.).

151. [169, IL Ausg.] Nach solchen Beyspielen, die sich übrigens vermehren liefsen, darf es wohl dreist 1 ausgesprochen werden, dafs die Logik sich ein grofses Verdienst schon durch ihr Antreiben zum analytischen Denken erwirbt; es kommt nur darauf an, dafs man den Rathschlägen des Mentors Folge leiste; 2und dies gerade ist der vernachlässigte Punct! Logik zu lernen, ist gar leicht ; Logik in Ausübung zu bringen, ist überaus schwer;3 und die heutige Generation möchte sich in dieser Hinsicht keines- weges einer besondern Geschicklichkeit rühmen dürfen. Aber4 die Schwierigkeit des Analysirens ist noch nicht die gröfste.

Die Logik fordert Vollständigkeit in den Reihen der Begriffe, und einen vestbestimmten, genau erkannten Platz für jeden Begriff in der Reihe der andern.

Diese Forderung ist es, welche zu erfüllen höchst nützlich, aber eben so schwer, und gemeinhin vernachlässigt ist.

Als Beyspiel einer nicht vollständigen, und doch an ihrem Orte richtig bestimmten und geordneten Reihe wählen wir die bekannte der Gründe, wovon die Lebensweise der Menschen abhängt (7.). Um den Anfang derselben zu finden, setzt man alles Eigne des menschlichen Daseyns dergestalt bey Seite, dafs nur der Begriff der Intelligenz überhaupt noch übrig bleibt. Eine solche lebt entweder in Verbindung mit andern In- telligenzen, oder nicht. Der letzte Fall ist der einfachste, und tritt an die Spitze der Reihe. Die ganz einzeln stehende Intelligenz füllt die

1 „wohl dreist" fehlt in der II. Ausg.

2 Der folgende Satz: „und dies gerade .... Punct!" fehlt in der II. Ausg.

3 Die folgenden Worte: ,,und die heutige . . . rühmen dürfen" fehlen in der II. Au-^.

4 „und" statt „Aber" n. Ausg.

2. Abschnitt. Methodenlehre, i. Capitel. Von der Logik. 207

Zeit durch irgend welche Beschaff tigung, mit oder ohne eine auf be- stimmte Werke gerichtete Absicht, also entweder arbeitend, oder sich er- hohlend. [248] Der nächste, zweyte Fall, das Zusammenleben mehrerer Intelligenzen, ergiebt Gesinnungsverhältnisse. Diese vollständig einzutheilen, kann etwas schwer scheinen. Man achte auf folgenden Theilungsgrund : die Intelligenzen fassen einander entweder als Personen auf, oder nicht; der letzte Fall ist der einfachste, und ergiebt den Verkehr des gemeinen Umgangs, in welcher Jeder Etwas darbietet, das den Andern interessirt; dieses Etwas macht die Verbindung des Gebens und Nehmens, wobey die Personen aus dem Spiele bleiben können, denn sie sind gleichgültig für einander, so lange es nur darauf ankommt, dafs ein Hörer und ein Erzähler sich gegenseitig befriedigen. Nachdem solchergestalt das erste Glied der Untereintheilung bestimmt worden, kommt der zweyte Fall, wo Jeder den andern als Person auffafst, zu einer neuen Theilung in Betracht. Die Auffassung steht entweder unter dem Einflüsse der Neigung, oder sie ist frey davon. Die freye Auffassung einer Person aber giebt nothwendig ein ästhetisches Urtheil, mithin die Gesinnungsverhältnisse des Beyfalls, oder seines Gegentheils. Hingegen die Einmischung der Neigung ist Liebe, oder ihr Gegentheil; daher nun die drey Gesinnungs- Verhältnisse gefunden sind. Das übrige ist leicht. Aus der Beyseitsetzung der mensch- lichen Natur waren die ersten Hauptglieder, Beschäfftigung und Gesinnung, gewonnen worden; jetzt aber richten wir den Blick auf den Menschen, wie die Erfahrung ihn zeigt. Jedoch zunächst die allgemeine Erfahrung, ohne Unterschied der Orte und Zeiten. Hier finden sich Familien- und Dienstverhältnisse. Dafs nun oben (7.) die Reihe nicht weiter ist geführt worden, bezeichnet nicht, sie sey wirklich geschlossen, sondern nur, man wolle sich für allgemeine Betrachtungen auch mit den Anfangsgliedern begnügen; wie aber würde man sie fortsetzen? Etwa dadurch, dafs ein

DO?

Jeder sogleich zu den ganz eignen Umständen seiner persönlichen Lebens- lage überspränge? Sichtbar würde er hier den Faden verloren haben. Denn während Familie und Dienst aus den allgemeinsten Natur-Einrich- tungen der Menschheit hervorgehn, hat etwas minder Allgemeines, je[249] doch Weitherrschendes, Sprache, Kirche, Vaterland, Zeitgeist, gewifs in der logischen Anordnung den Vortritt vor dem Stande, der Gesund- heit, dem Temperament des Individuums, welches etwa diese ganze Be- trachtung auf sich und seine Lebensweise zu beziehen gedenkt.

152. [170, IL Ausg.] Es geschah nicht ohne Absicht, dafs wir die eben als logisches Beyspiel gebrauchte Reihe gerade in den Vordergrund dieses Buchs stellten; und es kann auch jetzt seinen Nutzen haben, noch einen Augenblick dabey zu verweilen. Denn man stöfst zuweilen auf eine gewisse l falsche Logik, deren Princip darin besteht, Alles recht weit herzuhohlen. Das Weiteste aber ist das Universum. Möglich wäre, dafs da oder dort unsere Reihe für ein Fragment einer kosmischen Reihe erklärt würde, welches sehr brauchbar sey, sobald man jene Intelligenzen, bey denen wir von den Eigenheiten der menschlichen Natur absirahirten, für etwas Urbild-

gewisse'1 fehlt II. Ausg.*

a S"\V merken die Abweichung nicht an.

2oS II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

liches erklärte, welches durch eine fortgehende Besonderung menschliche Gestalt annehme. Alsdann wäre die Sittenlehre sehr bald gefunden, in- dem die Besonderung nur nöthig hätte, sich bis zu einer vollständigen Gestaltung auszubilden, und ihrem ursprünglichen Triebe gemäfs sich durch die scheinbar widerstrebende, in der That aber ohnmächtige Natur hindurchzuarbeiten. Wir könnten hier leicht in sehr gelehrte Dunkel- heiten, — und noch leichter in eine starke Polemik hineingerathen; allein man fürchte nichts! Es ist im Voraus dafür gesorgt, dem Leser1 in deutlicher Prosa zu sagen, was in sittlicher Hinsicht der wahre Sinn dieser Reden werden würde. Denn oben (24.) haben wir schon vor- geschlagen, man möge einmal die blofse Kenntnifs der Notwendigkeit als das treibende Princip für den Menschen ansehn; und dort wurde die Ueberlegung, wie schwer es sey, allen Rücksichten des Dienstes, der Familie, der geselligen Verhältnisse, der nöthigen Beschäftigungen, zugleich und in Vereinigung Genüge zu leisten, als bekannt vorausgesetzt. Wie lautet wohl anders die Aufgabe, die sich der praktische Mensch ohne künstliches Nachden[2 5o]ken zu stellen pflegt, als so: „Es kommt darauf an, da/s Jeder seiner Lage entspreche. " Die Lage nun wird bestimmt durch Beschäfftigungen, Gesinnungen, Familie, Dienst, und so weiter, durch alle Verlängerungen dieser Reihe hindurch. Man hätte also die Pflicht jedes Augenblicks, wenn man die Eine Diagonale finden könnte, welche aus allen jenen bestimmenden Kräften zusammengenommen resultirt; und hie- mit wäre die Sittenlehre auf ein Analogon mechanischer Probleme glück- lich reducirt. 2Aber wir haben dieser grundfalschen Ansicht schon oben widersprochen, und können uns jetzt begnügen zu überlegen, was wohl die Logik dazu sagen möge ?

Ohne Zweifel würde sie nach ihrer behutsamen Weise ermahnen, man solle den Grundbegriff, den man voraussetze, analysiren. Also den Begriff, der Mensch sey getrieben von Arbeiten, von Bekannten, von der Familie, vom Dienst, und so weiter. Sogleich würde nun Jedem einfallen, er werde doch eigentlich nur getrieben, sofern er getrieben seyn wolle, und es nicht etwa vorziehn, alle Bande des Lebens zu sprengen. Die Logik würde ihn also erinnern, dafs in letzter Instanz sein Wille selbst das Bindende sey. Und nun würde sie, auf die Beweglichkeit des Willens hinweisend, erinnern, dafs anderer Wille andre Gebundenheit ergebe. Sogleich ferner würde Jedem einfallen, dafs in der That die Menschen höchst verschieden sind in Hinsicht dessen, was Jeder 'aus seiner Lage sich macht; daher ein vorsichtiger Mann nicht einmal gern die Rolle des Rathgebers zu spielen pflegt, weil er fürchtet, sich selbst dem Andern unterzuschieben, und eben hicdurch guten Rath in schlechten zu ver- wandeln, sobald er ihn von sich giebt. Gerade eben so vorsichtig würde

1 „dem Leser" fehlt II. Ausg.*

2 Der folgende Schlußsatz lautet in der II. Ausg. etwas verändert: Aber dieser Ansicht ist schon oben widersprochen, und es bleibt nur noch zu über- legen, was wohl die Logik dazu sagen möge. b

a u. b SW merken die Abweichung nicht an.

2. Abschnitt. Methodenlehre, i. Capitel. Von der Logik. 2 0Q

die Logik sich erklären. Keinesweges, würde sie sagen, verbürge ich mich für die Gültigkeit Eures Begriffs von Eurem Willen. Ihr selbst müfst wissen, ob Euer Wille in der That der letzte Schiedsrichter alles Werths und Unwerths ist. Rühren Eure Verlegenheiten nur daher, dafs Ihr auf Beschäftigungen und auf Menschen und auf Verhältnisse hier und da und dort so gar viel Werth legt, und dafs die vielerley Werthe nicht füglich [251] alle zugleich können gehütet und verwaltet werden: so be- sinnt Euch doch auf Euern Willen! Wollet nur einmal Euch weniger daraus machen, so wird das Alles weniger bedeuten; und Ihr werdet Eurer Plage los seyn.

Wir nehmen nun ein andres Beyspiel vor, das, so wie das vorige, die Vollständigkeit der Reihen betrifft ; das aber von jenem sich gerade hierin unterscheidet, indem es wirklich eine vollständige Reihe darstellt, die jedoch nicht ohne einige Mühe gefunden wird.

T53- [l71'. II- Ausg.] Die fünf praktischen Ideen haben wir1 mit den Namen: Innere Freyheit, Vollkommenheit, Wohlwollen, Recht, und Billigkeit, bezeichnet. Man weifs auch, 2 dafs jeder dieser Ideen durch ein ästhetisches Urtheil gefunden wird, welches nicht vom Willen ausgeht, sondern über ihn ergeht. Es kann daher nicht einen Augenblick3 zweifelhaft seyn, was jene Beschäfftigungen, Gesinnungen, Familien- und Dienstverhältnisse im ethischen Sinne eigentlich bedeuten. Sie haben einen Werth oder Unwerth als Mittel zu solchen Zwecken, die von den praktischen Ideen vestgestellt werden; und heifsen daher Principien des Fortgangs und Rückgangs* Daran aber, dafs der Wille ihnen beliebig einen Werth zuschreiben oder absprechen könnte, ist nicht aufs Entfernteste zu denken; und wenn vorhin die Logik dahin führte, so war das eine deduetio ad absurdum.

Um nun die Reihe der fünf Ideen bequem zu überschauen, mag man sie zuerst in der Mitte fassen. Die Idee des Wohlwollens bezeichnet die innere Harmonie einer Person, welche mit eignem Willen sich einem von ihr vorgestellten fremden Willen widmet. Zu bemerken ist hier, dafs diese Idee von einer zweyten Person nur die Vorstellung braucht, denn im Wohlwollen wird der vorausgesetzte fremde Wille lediglich vorgestellt; und dies ist so gewifs, dafs, selbst wenn Irrthum in dieser Vorstellung wäre, doch der Werth des Wohlwollens [252] sich gleich bleiben würde. Vollends ist hier von wohlthätigen Handlungen gar nicht die Rede, so gewifs übrigens dieselben von dem wirklich Wohlwollenden unter günstigen Umständen und bey gehörigen Kenntnissen zu erwarten stehn. Rechts und links vom Wohlwollen ausgehend und in der Reihe fortschreitend, findet man nun ganz verschiedene Verhältnisse. Beym Recht und der Billigkeit sind wirklich mehrere Personen nöthig; ja auch ein Medium, ein gemeinsamer Boden, eine Fähigkeit, auf einander einzuwirken. Hier finden

1 „sind" statt „haben wir" n. Ausg.a

2 „auch" fehlt in der IL Ausg.b

3 „einen Augenblick-' fehlt in der II. Ausg.c

* Praktische Philosophie, im siebenten Capitel des zweyten Buchs.

a, b u. c SW merken die Abweichungen nicht an. HuRBAhT's Werke. IX. 14

9IO II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1 .

wir nicht etwa nur Eine, sondern auf's bestimmteste zwey verschiedene Ideen. Diese Thatsache ist schon oben (44.) bemerklich gemacht; jetzt wollen wir den Grund angeben. Zwey Personen treffen in der ihnen ge- meinsamen Welt der Sachen und des Handels entweder absichtlich zu- sammen, oder unabsichtlich. Der logische Werth eines solchen contradic- torischen Gegensatzes besteht bekanntlich in seiner Vollständigkeit; und das ist der Punct, auf den es hier ankommt. Ergeben sich also aus den zwey Gliedern dieses Gegensatzes die Ideen des Rechts und der Billig- keit, (was hier nicht kann erörtert werden,) so schliefsen diese beiden Ideen zusammen eine logische Sphäre ab, zu welcher kein drittes und viertes Glied kann gesucht werden. Verhielte es sich mit dem ersten Paar eben so, das heifst : könnten die Ideen der innern Freyheit und der Vollkommenheit auch durch einen contradictorischen Gegensatz ein- geführt werden: so wäre Symmetrie in der ganzen Reihe; allein dies ist nicht der Fall. Um den wahren logischen Zusammenhang zu finden, ver- folge man die Reihe von hinten nach vorn. Recht und Billigkeit kommen darin, wie schon gesagt, überein, dafs sie eine wirkliche Mehrheit von Personen voraussetzen. Das Wohlwollen braucht von der zweyten Person nur das Bild' ihres Willens. Die Vollkommenheit ein Ausdruck, der lediglich seiner Etymologie gemäfs eine Gröfsenvergleichung anzeigt, kann zwar die Voraussetzung mehrerer Personen annehmen, welche neben- einander grofs oder klein erscheinen; allein die Vergleichung, und das darauf beruhende ästhetische Urteil bedarf nicht einer Mehrheit der Per- sonen; sondern [255] es findet seinen Gegenstand schon in einem Bey- sammenseyn der mehreren Strebungen, welche das mannigfaltige Wollen einer einzigen Person an den Tag legt. Endlich die innere Freyheit schwebt über allen andern Ideen; denn sie ist überhaupt, gleichviel ob durch Gröfse oder durch Wohlwollen, oder durch Recht oder durch Billig- keit, — diejenige innere Harmonie einer einzigen Person mit sich selbst, welche zwischen den erkannten Ideen und dem Willen Statt findet.

Es versteht sich, dafs hier nicht die ganze, in der praktischen Philo- sophie längst gelieferte Entwickelung kann wiederhohlt werden; aber auf das logische Verhältnifs aufmerksam zu machen, war der Zweck der so eben gegebenen Auseinandersetzung.

154. [172, II. Ausg.] Nach welcher Logik aber ist nun diese Reihe gebildet?1) Die Anweisung wegen des contradictorischen Gegensatzes findet man zwar überall; aber die Art, ihn zu benutzen, hat keine allgemeine Formel, sondern sie mufs jedesmal dem Gegenstande abgewonnen werden. Und dieser Gegensatz liefert zur Ideenreihe nur zwey Glieder. Was aber das ganze Verfahren anlangt: so dient es gerade in so fern zum passenden Beyspiel, als es zeigt, dafs man die Winke der Logik benutzen mufs, ohne von ihr die dazu nöthigen Kunstgriffe zu verlangen.

In der gesammten Philosophie giebt es vielleicht nicht zwey Fälle, worin die nöthige speculalive Bewegung genau nach einerley Anweisung könnte vollzogen werden. Alles Nachahmen, jede unbehutsam befolgte

1 Der vorstehende Satz: „Nach welcher Logik .... gebildet?" fehlt in der II. Ausgabe.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 2. Capitel. Von der Logik. 2 I I

Analogie hat den Verdacht gegen sich, dafs es dem Nachahmer an der ächten, directen Kenntnifs seines Gegenstandes mangele.

Geradezu lächerlich und thöricht ist die Meinung: wenn man von der Philosophie das Princip besitze, so werde sich das Uebrige wohl rinden. Im Gegentheil : alles Einzelne will Stück für Stück von neuem, mit einer ihm besonders angepafsten Geschmeidigkeit des Denkens untersucht seyn; oder man umarmt die Wolke statt der Juno.

[254.] Darum verlange Niemand eine allgemeine Methodenlehre! Sehr viele Methoden mufs man kennen; aber keiner einzigen sich überlassen.

Zur Probe mag Jemand nunmehr versuchen, eine Lücke auszufüllen, die wir in dem obigen Beweise von der Vollständigkeit der Ideenreihe offen gelassen haben. Nach dem Gesagten wird Keiner unternehmen, :icischen die erste und zweyte, oder zweyte und dritte, oder dritte und vierte, oder vierte und fünfte, noch etwas einzuschalten. Aber wie, wenn die Reihe sich verlängern liefse ? Warum giebt es keine sechste und sie- bente Idee? Nichts ist leichter, als diese Frage zu beantworten. Aber wer da meint, er werde durch irgend ein schon gebi-atichtes Verfahren die Antwort finden, der wird bald seinen Scharfsinn im vergeblichen Brüten abstumpfen. x

Man bequeme sich, aus dem Geleise der gewohnten Logik einen kleinen Schritt in ein anderes, naheliegendes Gebiet, zu thun. Es ist das Gebiet der Combinationslehre. Und wozu das?2

Von zweyen Personen galt der contradictorische Gegensatz : sie treffen zusammen entweder mit oder ohne Absicht. Jenes giebt die Billigkeit, dies das Recht, (nämlich zunächst den Streit, der vom Rechte soll vermieden werden). Also mit zwey Personen sind wir fertig. Zu einer einzigen können wir nicht zurück; sonst kämen wieder die frühern Glieder der Reihe zum Vorschein. Folglich mufs von mehr als zweyen Personen die Rede seyn. Soll nun eine sechste oder siebente Idee zu finden seyn, rein verschieden und unabhängig von den vorigen, 3) wie jene unter einander es sind, so sind Mehr als Zwey der Gegenstand der Be- urtheilung. Nennen wir dieselben a, b, c; so zerfällt die Ternion a b c in die drey Binionen ab, a c, b c. Diese Binionen führen auf Recht oder Billigkeit, laut vorigem Beweise.4 Was also auch die Ternion abc Neues bringen möchte; es kann nie unabhängig und abgesondert auftreten von der Beurteilung jener Binionen; es enthält immer die Ideen des Rechts und der Billigkeit. Darum, und in sofern, kann es keine sechste [255] Idee mehr geben. Dennoch giebt es wirklich zehn praktische Ideen ; man er- innere sich an die Rechtsgesellschaft, das Lohn-, Verwaltungs- und Cultur-

1 Die vorstehenden Worte: „Nichts ist leichter .... im vergeblichen Brüten abstumpfen" fehlen in der II. Ausg.

2 Die Worte: „Und wozu das?" iehlea in der II. Ausgabe.

i Statt der Worte: „laut vorigem Beweise,, hat die II. Ausgabe: „laut

vorigen Beweises."1

A „übrigen" statt „vorigen" .... SW. SW geben die Abweichung nicht an.

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2i2 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1 .

System, endlich an die beseelte Gesellschaft. Sie sind nur nicht einfache, nicht ursprüngliche, nicht von den vorigen durchaus geschiedene, son- dern abgeleitete, in denen die frühern mit nähern Bestimmungen verbun- den sind.

155. [= 173 d. IL Ausg.] Es mag nicht überflüssig seyn, noch eine Probe zu machen. Wenn es, nach unserer Art zu zählen, keine sechste Idee geben kann, so wollen wir einmal den umgekehrten Versuch machen. Gehen wir rückwärts; es sey nun die Idee der Billigkeit die erste, so wird die der innern Freyheit die fünfte. Warum giebt es denn nunmehr keine sechste? Warum läfst sich die Reihe nicht rückwärts verlängern?

Der Anfänger würde noch einmal combiniren wollen. Er würde nichts herausbringen. l Die Logik würde ihn ebenfalls ohne Hülfe lassen.

Richten wir aber unsern Blick nur gerade auf den Gegenstand selbst; dieser belehrt uns sogleich. Rückwärts die Ideenreihe durchlaufend, kamen wir zuletzt an die Idee der innern Freyheit, das heifst, an die allgemeinste Grund- Voraussetzung aller sittlichen Existenz; nämlich an jene Appercep- tion sammt dem ästhetischen Urtheil (150.). Appercipirte nicht der Mensch sein eigenes Wollen, sähe er nicht das Bild seines Willens ; oder, sähe er es mit Gleichgültigkeit, ohne Beyfall und Tadel: dann gäbe es gar keine Idee und keine Sittenlehre; eben so wenig, als eine solche für rein 2 unvernünftige Thiere vorhanden ist. Nun beruht nicht blofs die Idee der innern Freyheit auf diesem Grund- Verhältnifs zwischen dem Willen und dem Anschauen desselben: sondern sie selbst ist dessen voll- ständige Auffassung und Beurtheilung; daher wäre der Versuch, sie zu übersteigen, geradezu3 ein Versuch, dem Ersten in dieser ganzen Betrach- tung noch ein Früheres voranzuschicken. 4Wer einen solchen Versuch im Ernste machen könnte, der müfste von Allem Nichts begriffen haben.

[256.] 156. [= 174 d. IL Ausg.] Die vorstehenden Beyspiele waren entnommen aus dem ersten Capitel der Logik; Aehnliches würden die beiden andern Capitel darbieten. Immer eine nützliche Anweisung; nirgends eine Formel, die sich als Werkzeug brauchen läfst. Die Logik, weit entfernt Verstand zugeben, redet mit uns als mit Männern, die Verstand haben; mit diesem Vertrauen giebt sie guten Rath, und überläfst uns, ihn den einzelnen Fällen anzupassen.

Von der Brauchbarkeit des logischen Syllogismus kam oben (45.) eine Probe vor. Man vergleiche dieselbe mit der frühern Betrachtung des nämlichen Gegenstandes (29.), und überlege den Vorzug der streng

1 Statt der vorstehenden 2 Sätze: „Der Anfänger .... herausbringen'-' hat die II. Ausgabe: „Wer noch einmal combiniren wollte, würde nichts heraus- bringen."a

2 „rein" fehlt in der IL Ausg.

3 „geradezu" fehlt in der II. Ausg.b

4 Der Satz: „Wer einen solchen .... Nichts begriffen haben" fehlt in der II. Ausg.

a u. b SW merken die Abweichung nicht an.

2. Abschnitt. Methodenlehre. I. Capitel. Von der Logik. 213

logischen Form. Es liegt in dieser Form eine Disciplin für das Denken, die es sich ungern gefallen läfst, weil der Lauf der Gedanken in seiner natürlichen reihenfönnigen Bewegung (118.) nur durch Eine Prämisse des Schlusses hindurch seinen Weg nimmt, ohne bey der andern, die er vor- übereilend streift, sich aufzuhalten. Die logische Forderung, beide Prä- missen gleich aufmerksam zu betrachten, bringt das Denken dergestalt aus dem Tacte, dafs man zu den gemeinsten Ueberlegungen Jahre ge- brauchen würde, wenn sie in Syllogismen sollten angestellt werden. Aber eben darum, weil die Form eine Fessel ist, mufs man die Resultate des Denkens in ihnen zu bevestigen suchen; und es leidet keinen Zweifel, dafs dies künftig mehr und mehr geschehen wird. Die Zeit, in welcher die Logik verachtet wurde, ist schon jetzt vorbey. l

157. [= 175 d. IL Ausg.] Wer die Reihe der praktischen Ideen (153 155.) in ihrer logischen Stellung und Geschlossenheit vor Augen hat, der möchte wohl auf den Gedanken kommen, eine ähnliche Basis, wie hier für die praktische Philosophie vorhanden ist, auch für die Metaphysik zu suchen. Das wäre eine von jenen irre leitenden Analogien, 2 gegen welche wir gewarnt haben (154). Metaphysik beruht auf der Erfahrung, nämlich auf dem Bedürfnifs, dieselbe begreiflich zu finden. Ihre einfachsten Principien sind daher diejenigen Puncte, um welche, als x\ngel [2 5/]puncte, das scheinbar Unbegreifliche der Erfahrung sich dreht. Wollte man diese Puncte in eine geschlossene Reihe legen, so würde man etwas Unmögliches und zugleich Zweckwidriges wollen. Unmöglich kann man die Erfahrnng erschöpfen und abschliefsen; sie aber ist es gerade, welche das an- scheinend Unbegreifliche aufdringt. Zweckwidrig wäre es, wenn man Unbegreiflichkeiten suchen wollte, wie man praktische Ideen sucht. Jene sind nicht das, was man sucht, sondern was, wo möglich, vermieden wird. Nun läfst sich zwar die Reihe der metaphysischen Anfangspuncte angeben: Inhärenz, Veränderung, die Materie, und das Ich. Aber diese Punkte sind durch die lange Geschichte der Metaphysik als die Angel- puncte bekannt, um welche das Nachdenken gezwungen ist, sich zu drehen. Zwar noch nicht lange ist die Zeit verflossen, da man ver- suchte, alles auf das Ich zu bauen; das heifst, da man meinte: hätte man nur erst in Ansehung des Ich eine hinreichende Aufklärung, so würden die andern drey Puncte wohl kein eignes Anfangen von einem Jeden der- selben mehr fordern. Allein man täuschte sich. Die Veränderung drängte sich, wie zu alter Zeit, wieder vor. Die Materie dagegen wollte nicht hervorkommen ans Licht; sie blieb in ihrem dunkeln Winkel sitzen. Die Inhärenz wurde gegen den Vorwurf der Unbegreiflichkeit mit Machtsprüchen vertheidigt. So hatte jedes Problem sein eignes Schicksal; zum Zeichen, dafs es diesen Principien der Metaphysik nicht bestimmt ist, als ein logisch abgeschlossenes Ganzes aufzutreten.

Dies verhindert jedoch nicht den logischen Fortschritt vom Allgemeinen

1 Die vorstehenden Worte: „Die Zeit, in welcher .... ist schon jetzt vorbey" fehlen in der II. Ausg.

- Die folgenden Worte: „gegen welche wir gewarnt haben" fehlen in der II. Ausg.

214 ^' Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

zum Besondern. Inhärenz mehrerer Merkmale in Einem, für real gehal- tenen, Gegenstande, den man eben in so fern Substanz nennt, ist das Allgemeinste, was unter nähern Bestimmungen wiederkehrt; nämlich unter Zeitbestimmungen bey der Veränderung, unter Raumbestimmungen bey der Materie, und mit Angabe des Unterschiedes zwischen Object und Subject beym Ich. Daraus folgt, dafs die Metaphysik mit dem Probleme der In- härenz beginnen, jedoch das[2 58] selbe nicht als einziges Princip betrachten darf; denn es hat neben sich jene andern, die neben ihm gefunden werden; und Erfahrung wird immer nur gefunden, niemals geschaffen. Die Logik aber beweiset sich auch hier als anordnend; wer ihrem Rathe nicht folgt, der büfst es durch endlose Verwirrungen.

158. [= 176 d. IL Ausg.] Jetzt wäre noch von einer ganz andern Stellung der Logik gegen die eben erwähnten metaphysischen Probleme zu reden. Jedes derselben, einzeln genommen, erhebt für sich allein Krieg wider die Logik. Daraus entsteht in den Köpfen der Menschen ein Gesammt- Eindruck, als wäre die Metaphysik ein Wald von Ungereimtheiten, welchen zu vermeiden, man nur nöthig habe, auf dem offnen und weiten Felde der Erfahrung an der Hand der Logik einherzugehn. Sie setzen nämlich voraus, an der Einstimmung zwischen Logik und Erfahrung könne Niemand zwei- feln. l Fehlerhafte Bearbeitungen der Metaphysik verstärken, indem deren Verkehrtheit in die Augen springt, das nämliche Vorurtheil. Auf einer etwas höhern Stufe der Speculation aber ändert sich die Sache. Die Logik wird angeklagt, dafs sie das Wissen wenig fördere. Die Erfahrung soll sich ebenfalls bescheiden, ihre Lehren seyen kein wahres Wissen, sondern nur gültig für Erscheinungen. Die Dinge aufser uns werden uns ja nur bekannt, in so fem wir sie uns vorstellen! Eine so wahre Bemerkung ver- leitet zu neuem Irrthum ; nämlich zu dem vorhin erwähnten, alles Wissen liege im Ich. Die böse Frage: wie kommt die Kennt nifs eines Dinges, dafs aufser mir ist, in mich hinein ? Diese Frage scheint das Ich zu verschonen, darum, weil es gar nicht aulser sich, sondern nur in sich ist. So meint man, weil man auf dieser Stufe der speculativen Betrachtung theils von dem Ich, theils von der wahren Beschaffenheit der Probleme, von der Art sie aufzulösen, von dem Zusammenhange metaphysischer Wahrheit und Ueberzeugung noch keinen richtigen Begriff hat. Diejenigen endlich, welche den [259] metaphysischen Problemen zum Gefallen die Logik um- schaffen wollen, (welches insbesondere Hegels Unternehmen ist,) kommen der Untersuchung näher. Sie sehen ein, dafs die Logik nicht dürfe igno-

1 Zu dem Worte, „zweifeln" hat die II. Ausg. folgende Anmerkung: Dafs es an dieser vorausgesetzten Einstimmung gerade fehlt, dafs die gegebenen Erfahrungsbegriffe der Logik nicht angemessen sind; und dafs hieraus in alter und neuer Zeit die Mishelligkeiten der philosophischen Systeme, aber auch die Antriebe zum weitern Forschen entsprungen sind; dies ist der Hauptpunct, welchen' die Ein- leitung in die Philosophie dergestalt ins Licht zu setzen hat, dafs Logik und Erfahrung einander gegenüber treten, während die Aesthetik, wenigstens in Hinsicht ihrer Prin- cipien, von dem Widerstreite zwischen jenen Beiden, unangefochten veststeht. Dies ge- hörig aufzufassen, erfodert nicht blofs deutliche Auseinandersetzung, sondern auch län- gere Uebung, wozu nicht Jeder, der sich nach der Philosophie erkundigt, sich bringen läfst; besonders da es Autoritäten genug giebt. welche die entgegenstehenden Vor- theile in Schutz nehmen.

2. Abschnitt. Methodenlehre. I. Capitel. Von der Logik. 215

rirt, ciafs sie vielmehr in Einstimmung müsse gesetzt werden mit der Er- fahrung; indem die eingebildete Freundschaft der Erfahrung und der Logik gerade dasjenige ist, woran es fehlt, und zwar so sehr fehlt, dafs eben aus diesem, alten, und stets fortdauernden, Fehler die ganze Metaphysik entsprungen ist und noch jetzt entspringt.

Weil nun die Erfahrung und die Logik über die ersten Grundbegriffe von dem was Ist und geschieht, mit einander in Streit liegen, indem die Erfahrung selbst uns widersprechende Begriffe aufdringt, deren Un- gereimtheit bey der logischen Analyse zum Vorschein kommt : so ent- steht die Frage: wer soll nachgeben? Die Logik? oder die Erfahrung?

Hegel sagt : die Logik. Darum hat er eine neue Logik geschaffen, welche gerade so, wie die Erfahrung, voll ist von Widersprüchen, und, was das Merkwürdigste ist, diese Widersprüche auch gar nicht verhehlt, nicht umwickelt, nicht entschuldigt, sondern sie als bare Wahrheit nackt und dürr hinstellt.

Manche Personen meinen nun, es sey am besten, Hegeln zu ignoriren. Aber solches Vornehmthun ist eitler Dünkel. Läge zu Hegels Lehren kein Grund in den Formen der Erfahrung: so wäre er nimmermehr auf seine Paradoxa gekommen. Der Kern seiner Logik ist die Erfahrung selbst.

Allein wir müssen für den jetzigen Vortrag die schroffe Seite des Berges zu umgehen suchen, und nehmen daher für's erste einen Weg, welcher eine Aussicht auf das KANTische Gebiet verstattet. 1

1 Nach den Worten: „auf das KANTische Gebiet verstattet" hat die

II. Ausgabe folgenden Zusatz:

Um diese Aussicht zu gewinnen, ist es nützlich, noch zuvor einen Schritt weiter rückwärts zu thun. Denn man darf niemals vergessen, dafs die Hauptschriften Kants sich als Kritiken darstellen ; nämlich als Kritiken dessen, was zunächt vorherging; und das war die Wolf sehe Schule.

Wolf hat seiner Logik einen discursus praeliminaris de philosophia in geilere vorgesetzt. Darin wird gehandelt von der dreyfachen menschlichen Erkenntnifs, der historischen, philosophischen und mathematischen; dann von der Methode, dem Stil, und der Freyheit des Philosophirens. Sinne und Aufmerksamkeit, sammt der innern Wahrnehmung, geben die histo- rische Erkenntnifs; die philosophische Erkenntnifs liefert die Gründe dessen was ist und geschieht, nämlich aus der Erfahrung; darum ist die histo- rische Erkenntnifs das Fundament der philosophischen. Alles Endliche hat eine bestimmte Gröfse; die Kenntnifs der Gröfsen ist die mathematische. Definitionen und Demonstrationen sind das Wesentliche der philosophischen Methode; es gelten hier die nämlichen Regeln wie in der Mathematik. Derjenige Teil der Philosophie, welcher den Gebrauch des Erkenntnifs- vermögens lehrt, heifst Logik. Dabey wird der Satz vorangeschickt, die Seele habe zwey Vermögen, das des Erkennens und das des Begehrens. Die Seele bewegt sich im Erkennen nach Regeln des Denkens, wie dex Leib nach Regeln der Statik. Es giebt eine natürliche Disposition der Seele, ihre Thätigkeit im Erkennen jenen Regeln gemäfs einzurichten; es

2i5 II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

[260] Zweytes Capitel. Von der Vernunftkritik.

159. [= 177 d. IL Ausg.] Kants kritische Philosophie hat so viele Decennien hindurch die öffentliche Aufmerksamkeit beschäfftigt, dafs man eine wenigstens oberflächliche Kenntnifs derselben bey den meisten Männern von gelehrter Bildung heut zu Tage voraussetzen darf; so dafs wir sie zur Anknüpfung für einige sehr nöthige1 Bemerkungen, die auf philo- sophische Methode und Systematik den wesentlichsten Einflufs haben, recht füglich benutzen können. 2 Jedoch müssen wir die KANTische Lehrform entfernt halten; sie ist nicht klar genug für unsern Zweck.

mufs aber, wie bey den Bewegungen des Leibes, Uebung und Nach- ahmung hinzukommen. Diese Disposition heifst natürliche Logik ; sie ist theils angeboren, theils erworben. Wer sich der natürlichen Logik be- dient, hat eine confuse Vorstellung der Regeln; deutliche Erkenntnifs der- selben giebt die künstliche Logik. Nicht allen Menschen ist gleichviel natürliche Logik angeboren ; auch im Erwerben der Logik sind sie un- gleich. Mängel der natürlichen Logik kommen zum Vorschein, wenn Einer nicht die rechte künstliche Logik gelernt, oder sie confufs gefafst, oder nicht geübt hat. Die Proben der rechten Logik sind: Einstimmung mit dem Verfahren der alten Geometer, mit der natürlichen Gedanken- folge, mit der Natur des menschlichen Geistes.

So redet Wolf. Wir brauchen ihm nicht Hegeln entgegenzustellen; ein paar Zeilen aus Platons Timäus mögen zum Contrast dienen. „Nach meiner Ansicht ist zu unterscheiden Das, was immer ist, und kein Werden in sich hat; und Das, was zwar wird, aber niemals ist. Jenes wird geistig aufgefafst, indem es sich stets gleich bleibt; dies dagegen durch die Sinne und die Meinung, indem es entsteht und vergeht, aber kein wahres Seyn besitzt." Solche PLATONische Lehren, sammt den ähnlichen eleatischen, waren zu Wolfs Zeiten in Vergessenheit gerathen; und auch als Kant sich bildete, noch nicht wieder geläufig geworden.

1 „sehr nöthige" fehlt in der II. Ausgabe.

2 Nach den Worten: „benutzen können" hat die II. Ausgabe folgenden Zu- satz: Man wird sich erinnern, dafs Kant von den Gegenständen sinnlicher Erfahrung, die sich in Raum und Zeit darstellen, durchgehends als v< >n Erscheinungen redet, welche von Dingen an sich wohl zu unterschei- den seyen; und dals er alle Erkenntnifs zwar mit der Erfahrung anfangen, aber nicht ganz ans der Erfahrung entspringen läfst. Auf den ersten Blick könnte man meinen, er nähere sich dem Platon, indem er sich von Wolf entfernt. Allein an der Stelle, wo er von den platonischen Ideen redet, deutet er an, man könne einen Schriftsteller zuweilen besser verstehen, als er sich selbst verstand. Dies möchte nun doch wohl ein misliches Unternehmen seyn. Es ist zwar gewifs, dafs, wie Kant sagt, Platon unter den Ideen etwas verstand, was nicht allein niemals von den Sinnen ent- lehnt wird, sondern sogar die Begriffe des Verstandes, sofern in der Er- fahrung etwas damit Congruirendes angetroffen wird, weit übersteigt. Das

2. Abschnitt. Methodenlehre. 2. Capitel. Von der Vernunftkritik. 2 17

Anaxagoras soll gesagt haben, der Schnee sev schwarz. Er durfte eigentlich nur sagen : die Substanz des Schnees sev nicht weifs. Hier mag man bequem anfangen, um über den Begriff der Substanz nach- zudenken, von welchem wir zunächst zu reden haben.

Wie entsteht der Begriff der Substanz ? Das ist eine kritische Frage, die sich Kant sorgfältiger hätte überlegen müssen, als von ihm geschehn ist.

Das Beyspiel des Anaxagoras kann zunächst auf den Gedanken leiten: die Veränderlichkeit der Dinge, wenn sie gefrieren, oder schmelzen, oder wie immer sonst die Gestalt wechseln, führe auf den Begriff ihres Ur- stoffs, der wedet weifs noch schwarz, weder starr noch flüssig sey. Das ist wahr; aber es giebt nur den Begriff des Beharrlichen ; ein richtiges Merkmal der Substanz, und gleichwohl noch nicht den ersten, wesent- lichen Begriff derselben.

[261] Ein Ding braucht sich eben nicht zu verändern, damit man ge- wahr werde, dafs die mancherley sinnlichen Eigenschaften, woran es erkannt, und wodurch es von andern unterschieden wird, nicht das eigentliche Wesen des Dinges ausmachen können. Es ist nur nöthig, das Ding zu beurtheilen. Z. B. Der Schnee ist weifs. Der Schnee ist kalt. Der Schnee ist locker. Der Schnee besitzt eine kristallinische Bildung. Das genügt zuvörderst zu der Frage: Mufste denn das Weifse eben kalt seyn ? Mufste denn das Kalte gerade locker seyn? Mufsten denn die kleinen

Alles aber trifft nicht den rechten Punct. Platon behauptete seine Ideen nicht unabhängig von der Erfahrung, sondern wider die Erfahrung; und dies nicht so, als hätte Er beliebig die Erfahrung zurückgestofsen, sondern Er fand sich zurückgestofsen von ihr, und zwar durch die Veränderlichkeit der Sinnendinge. Daher die am Ende des vorigen Capitels angeführte Unterscheidung. Das Seyn pafst nicht zum Werden ; das Werden nicht zum Seyn. Was ist, das soll sich selber l gleich seyn und bleiben.

Kant dagegen begnügt sich mit Wolf (wenngleich auf andre Weise) Erfahrung aus Erfahrung zu erklären. Er sucht durch die Verstands- begriffe nur Grundsätze der Synfhcsis möglicher empirischer Anschauungen. Noch mehr: die Berechtigung zu solcher Synthesis liegt nach ihm am Ende in der Einrichtung des menschlichen Geistes also ungefähr da, wo Wolf seine natürliche Logik fand; mit dem Unterschiede jedoch, dafs er weiter tiefer in die Gesetze des Anschauens und Denkens einzudringen unternahm. Und was ergab sich daraus? Wiederum Krieg; aber der Schauplatz des Krieges ist verändert. Denn der Streit ist bey Kant nicht zwischen den Sinnen und dem Verstände der Erfahrung und der Logik, sondern zwischen der Vernunft und dem Verstände, indem jene be- schuldigt wird, die Begriffe des letztem mit Uebertreibung bis zum Un- bedingten auszudehnen. Es scheint also, die beiden höchsten Erkenntnifs- vermögen seyen unter einander entzweyet. Die rechte Methode würde dann erfodern, den Streit unter ihnen beyzulegen. Hierüber soll nun das Nöthigste gesagt werden. [Jedoch müssen wir ....

1 SW „sich von selber" statt „sich selber."

2Ig IL Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

Schneekrvstallen gerade geschickt seyn, um Schneebälle daraus zu machen? Die Begriffe von dem Allen hängen gar nicht zusammen; die Erfahrung verknüpft sie gleichwohl ganz vest, indem wir den Schnee mit Augen sehen und mit den Händen greifen.

Aber die Erfahrung kann mit aller ihrer Macht doch nicht ver- hindern, dafs nicht der Begriff des Schnees aus einander falle in lauter Merkmale ohne Zusammenhang. Der Begriff schmilzt früher als der Schnee selbst. Und der Begriff des Eisens, strengflüssig wie es ist, schmilzt gerade so leicht wie jener des Schnees; nämlich durch die Urtheile : das Eisen ist grau; das Eisen ist schwer; das Eisen ist hart, u. s. w.

Was ist nun der Schnee? und was ist nun das Eisen? Das heifst: was ist das Subject, welchem die Urtheile das Daseyn verdanken, da sie ohne Subject nicht bestehn können? Denn ihre Prädicate bezeichnen, jedes einzeln genommen, nichts Selbstständiges.

Wer auf diesen Fragepunct gekommen ist, der schaut in ein Dunkel, worin er schlechterdings nichts zu erkennen vermag. Aber mit dem Nichts kann er sich nicht befreunden. Wo nichts wäre, da würde auch nichts erscheinen. Die Erfahrung fährt immer fort, hier Schnee und dort Eisen zu zeigen, in ganzen Massen, um deren Größe wir uns jedoch nicht bekümmern. Die Fragen: was sind Schnee und Eisen? zielen auf die Qualität; diese meint man zu kennen, aber jeder Versuch, sie zu beschreiben, zerfliefst in die Angabe der Merkmale, zu denen das Sub- ject fehlt.

[262] Das vermifste Subject nun, welches in unserer Kenntnifs fehlt , In der Natur aber nicht fehlen kann, ist die Substanz. l

Der Idealist würde sagen, es fehle auch in der Natur. Er würde Schnee und Eisen für Erscheinungen erklären. Wem denn erscheinen sie? Ohne Zweifel Uns. Anstatt dieses Pluralis Uns setz der Idealist schnell das Ich; indem wir einander gegenseitig erscheinen. Sind denn die andern Menschen um Mich her auch nur Erscheinungen für Mich ? Oder bin ich nur eine Erscheinung für Sie? Und wer von Ihnen ist denn

1 Zu dem Worte: „Substanz" hat die II. Ausg. folgende Anmerkung: AVer die Einleitung in die Philos. über diesen Punkt vergleicht, wird finden, dafs derselbe dort auf dreyfach verschiedene Weise in Betracht kommt. Zuerst zweifelnd, ob die Vereinigung der Merkmale, welche man als die Prädicate der sinnlichen Dinge zu kennen glaubt, auch wirklich in der Erfahrung gegeben sey? da man doch eigentlich nur jedes Merkmal für sich allein wahrnimmt. (Daselbst § 25.) Dann entscheidend: die Vereinigung ist wirklich gegeben, denn man kann die Merkmale verschiedener Dinge nicht beliebig vertauschen; aber 7vas nun eigentlich das Ding an sich sey (die Substanz), bleibt unbekannt. (Ebendaselbst § I18.I Endlich den Widerspruch anerkennend: denn jede Substanz soll doch zu bestimmen seyn als eine solche und keine andre ; und hier verwickelt sich das Einerley, was sie ist, mit der Vielheit des Besitzens der Merkmale, wodurch sie als eine solche und keine andre soll bestimmt seyn. (Daselbst § 122.) Die Auflösung des Widerspruchs, nämlich dafs die Substanz an sich nicht mannig- faltig ist. sondern nur in Folge ihrer mannigfaltigen Verbindungen und Verhältnisse zu unserer kenntnifs gelangt (welches von jeder Substanz auf besondre Weise gilt), gehört in die Metaphysik; ist jedoch in der Einleitung kurz angedeutet (daselbst § 152.). Hat man einmal diesen Faden der Untersuchung in der Einleitung gehörig verfolgt: so wird man auch die meisten andern Vergleichungen der Encyklopädie mit der Einleitung leicht finden können ; und dies wird den Gebrauch des vorliegenden Buches erleichtern.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 2. Capitel. Von der Vernunflkritik. 2 IQ

eigentlich Derjenige, dem die andern erscheinen ? Er wäre am Ende die wahre Substanz. Möge Er nur nicht auch wieder ein Ding mit mehrern Merkmalen werden, zu denen das Subject fehlt! 1 Geholfen wenigstens hat diese, von Anfang an falsche, idealistische Wendung des Nachdenkens, zu gar Nichts. Denn die Meinung war, Schnee und Eisen sollten nicht Substanzen seyn, damit man sich nicht genöthigt sehe, unbekannte Sub- stanzen einzuräumen; das Dunkel ist aber damit nicht heller, sondern noch finsterer geworden. Nimmt man vollends das zu Hülfe, was schon oben über das Ich gesagt worden (142 146.): so wird offenbar, dafs der Idealist in demselben Augenblick, als er Schnee und Eisen für Er- scheinungen im Ich oder in Uns erklärte, höchst unbehutsam in einen Sumpf trat, den er für sichern Boden hielt. Zwar nicht das wirkliche Ich unseres Selbstbewufstseyns ist ein Sumpf; aber die idealistische Meinung vom Ich ist allerdings ein solcher.

Diese unsre Behauptung wird dem Leser sehr dreist erscheinen. Kein Wunder, wenn die obigen Citate aus der Metaphysik und Psychologie, wo die Gründe der Behauptung zu suchen sind, nicht nachgeschlagen wurden. Allein darauf machen wir für jetzt gar keinen Anspruch. Es kommt hier nicht darauf an, Lehrsätze über die Substanz vestzustellen; sondern von der Substanz wird hier, in der Methodenlehre, nur zu dem Ende gesprochen, um Wege der Untersucliung zu zeigen, von denen die [263] Meisten gar keinen bestimmten Begriff haben; und das soll nun eben geschehen.

160. [= 178 d. IL Ausg.] Auf dem Puncte, wo wir stehen, zeigen sich zwey Wege mit entgegengesetzter Richtung. Der Weg vorwärts geht in die Metaphysik hinein. Was können wir mit dem dunkeln Begriff der Substanz anfangen? Wie müssen wir ihn bestimmen, ihn mit andern Begriffen ver- binden, welche Folgerungen aus der Verbindung ableiten, welche Vorsicht dabey gebrauchen, welchen Gewinn für die Erklärung von Geist und Leib und Thier und Pflanze und Wasser und Gestein, kurz, für die Erklärnug der gesammten Natur, daraus ziehn? ,Hat Jemand frischen Muth genug, diesen Weg zu gehn? Alsdann mufs er sich gerade in das Dunkel hineinwagen. Allein dazu möchten wir Niemandem rathen, der nicht schon weit bessere Vorbereitungen mitbringt, 2als wir ihm hier, in diesem Buche und bis zu dieser Stelle desselben, angeboten haben.

Auch ist schon Mancher auf diesem Puncte der Untersuchung scheu geworden. Das Dunkel der Substanz übt eine natürliche Gewalt über die Menschen, vermöge deren sie sich umdrehen, um nachzusehen, ob sie nicht rückwärts einen Weg finden.

Wie kamen wir denn auf den Begriff der Substanz? Haben wir nicht schon irgend einen Fehltritt gethan, der uns jetzt in Verlegen- heit setzt?

1 Der folgende Text: „Geholfen wenigstens hat diese .... soll nun eben geschehen" (bis Z. 23, Ende des folgenden Absatzes) fehlt in der II. Ausg.

2 Die folgenden Worte lauten in der II. Ausg.: als ihm hier . . . angeboten wurde. a

a SW merken die Abweichung nicht an.

2 2Q H- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1.

Das ist die Frage der Vernunftkritik. Ihr Weg geht rückwärts; aber wohin? Ganz unvermeidlich in die Psychologie. Denn unsre Schritte in unserm Denken, die wir bisher gethan haben, und jetzt einer Revision unterwerfen wollen, diese Schritte waren unser eignes Thun; und wenn man die Erklärung davon verlangt, so mufs man die Psychologie zu Hülfe nehmen.

161. [= 179 d. IL Ausg.] Noch stehen wir auf dem Puncte, wo wir standen. Rückwärts gewendet überlegen wir nun, dafs zunächst vorher ehe der dunkele Begriff der Substanz uns irre machte, Alles [264] hell und klar schien. Schnee und Eisen haben wir gesehn, betastet, durch allerley Merkmale beschrieben. Das Beschreiben durch Urtheile war das Nächste, was vorherging, ehe die Verlegenheit eintrat. Haben wir in diesem Urth eilen einen Fehler gemacht?

Vor dem Urtheilen waren wir vertieft im Anschauen. Haben wir im Anschauen gefehlt?

Wie sind wir dazu gekommen, die vielen Merkmale des Schnees oder des Eisens zusammen zu nehmen, und jedes Ding als Eins auf- zufassen? Hat uns die Erfahrung dazu berechtigt? Sie gab uns zwar die Merkmale; aber wann und wie gab sie das Eine Ding, dem wir die- selben beylegten? 1 Diese Einheit müssen wir wohl unvermerkt aus eignem Vorrath eingeschoben haben !

Hier wird Jedermann die KANTische Kategorie der Substanz er- kennen, welche vorgeblich zu den Stammbegriffen des menschlichen Ver- standes gehören soll. Gesetzt, es gebe eine solche: so ist noch immer zweyerley zu fragen: Erstlich, wie kommt diese Kategorie dazu, mit den sinnlichen Merkmalen in Verbindung zu treten? Zweytens, wie kamen die Merkmale selbst, deren jedes einzeln gegeben wurde, unter einander in Verbindung? Denn es scheint ja doch, die Merkmale müfsten erst mit einander vereinigt seyn, um alsdann jene Kategorie in sich aufzu- nehmen. Oder soll die Kategorie umhergehn in dem Kreise der sinn- lichen Wahrnehmungen, um dieselben zu Merkmalen Eines Dinges zu erheben? Gesetzt, die Kategorie unternähme zu diesem Zwecke eine Wanderung: so könnte sie sich leicht verirren. Denn eine dritte Frage kommt zu den vorigen: Warum, wenn hier Schnee und dort Eisen liegt, fafst die Kategorie nicht alle Merkmale beider Dinge zusammen, und macht daraus Ein Ding? Darauf, möchte Jemand meinen, sey leicht zu antworten. Das Eisen ist grau, und der Schnee ist weifs; nun ver- bietet die Logik, Graues und Weifses für Eins zu erklären. Allein angenommen, die Kategorie gehorche der Logik, oder, wie man vermeintlich verbessernd lieber sagen wird: der Verstand, [265] welchem die Kategorie sowohl als die Logik gehorcht, verhüte jede widersprechende Zusammenfassung: warum denn wird nicht die weifse Farbe des Schnees mit der Härte des Eisens, warum nicht die graue

1 Der folgende Satz lautet in der II. Ausg.; Die Einheit, das Substrat, den Träger der vielen Merkmale, müssen wir wohl . . .a

a SW merken die Abweichung nicht an.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 2. Capitel. Von der Vernunftkritik. 22 1

Farbe des Eisens mit der lockern Natur des Schnees zu dem Begriffe eines Dinges zusammengefafst ? Da ist kein Widerspruch; die Logik kann nichts einwenden, wenn einmal die Dinge ihre Merkmale vertauschen; sie wird das weit leichter ertragen, als wenn ein Ding seine Merkmale verändert. Die Kategorie der Substanz bleibt ebenfalls unangetastet, wenn einmal grauer Schnee und weifses Eisen zum Vorschein kommen werden. Einzig und allein die Erfahrung ist's, welche sich bis jetzt noch auf weifses Eisen nicht einlassen will; indessen wer weifs, was sie sich mag vorbehalten haben!

Nach dieser Probe wird schwerlich der Weg der Vernunftkritik heller scheinen, als jener der Metaphysik.

162. [= 180 d. IL Ausg.] In der Einleitung zur Philosophie ist es Pflicht des Lehrers, diese Dunkelheit noch gar sehr zu vermehren und zu verstärken ; hier, in der Encyklopädie suchen wir sie möglichst zu vermeiden, und beo-nüo-en uns mit der "gegebenen Probe. Denn die Einleitung soll den Bogen der Speculation spannen; und sie darf den Anfänger nicht schonen, dessen Kräfte für weit härtere Arbeit, als diese hier, müssen gestählt werden. Hingegen die Encyklopädie erinnert einen Jeden an das, was er weifs, und fügt hinzu, was gemächlich damit kann verbunden werden.

Wir erwähnen also nur kurz, dafs die Kategorie der Ursache zu ganz ähnlicher Betrachtung Anlafs giebt, wenn man von dem Erfahrungsbegriff der Veränderung erst vorwärts in die Metaphysik geht, dann aber, ge- schreckt vom Dunkel, rückwärts gewendet den Ursprung des Begriffs der Ursache aufsuchen will. Dasselbe begegnet dem, welcher etwa durch Raum und Zeit veranlafst dem Begriffe der Continuität nachgeht. Und nicht minder macht auch der Begriff des Ich [266] doppelte Arbeit; obgleich dieser um die Zeit, da Kant schrieb, noch von keiner Kritik war berührt worden, so dafs er mit ungewarnter Dreistigkeit benutzt wurde, wie wenn in der That das Ich ein wahres Wissen, und zugleich den wahren Gegenstand dieses Wissens enthielte; welches beides völlig falsch ist. Wären indessen da- mals wenigstens Locke's Vorarbeiten gehörig benutzt, so hätte die Kritik in Ansehung der Begriffe von Substanz und Ursache mehr wahre Psycho- logie in sich aufgenommen; und minder getäuscht von der Kategorien- lehre, würde sie gleich Anfangs weit zweckmäfsigere Bewegungen des Denkens hervorgerufen haben, als wirklich geschah, ^och das Geschehene

1 Die folgenden Worte bis zum Schlüsse dieses § 162: „Doch das Geschehene ist ... . im Allgemeinen zu bemerken." fehlen in der II. Ausg. die dafür folgenden Text hat:

Um nun die Absicht und das Ergebnifs der Vernunftkritik leichter aufzuklären: denken wir uns einen Reisenden, der sich verirrt hat, und zwar in solchem Grade verirrt, dafs er nicht einmal weifs, welches Weges er auf den Punct gekommen ist, wo er sich jetzt befindet. Wüfste er wenigstens dies, dann, meint er, wäre wohl die Entscheidung für seine Ungewifsheit zu erlangen. Gesetzt nun, er würde über den schon zurück- gelegten Weg belehrt: daraus allein wäre noch immer nicht ein sicherer Schlufs zu ziehen, wohin er sich nun wenden am wenigsten aber, dafs er hier, wo er steht, auch still stehen bleiben solle. Andre Indicien müfsten

222 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

ist nicht zu ändern; die verlorne Zeit nicht einzuhohlen; die Achtung, welche der Philosophie gebührt, ist zum Schaden für alle Lebenskreise, auf die sie hätte wirken sollen und können, gesunken und mannigfaltig verletzt worden. Abgesehen von begangenen Fehlem, bleibt nun Folgendes im Allgemeinen zu bemerken.

163. [=- 181 d. IL Ausg.] Zu jeder metaphysischen Untersuchung, welche von einem gegebenen Hauptbegriffe aus vorwärts geht, um den Kreis des Wissens zu erweitern, gehört eine psychologische Untersuchung des nämlichen Begriffs in Ansehung seines Ursprungs* Es ist offenbar, dafs die beiden entsprechen- den Untersuchungen einander nicht parallel laufen können, da ihr Zweck gänzlich verschieden ist; und dies wird noch weit einleuchtender, wenn man die Hülfsmittel kennt, deren sich Psychologie und Metaphysik bedienen müssen. Betrachtet man den gegebenen Hauptbegriff als den Anfangs- punet: so schaut die metaphysische Richtung in ein künftiges Wissen hinaus, welches man zu erreichen sucht; die [267] zugehörige psychologische aber be- trifft die schon abgelaufene, nur verdunkelte Geschichte des nämlichen Be- griffs. Man kann in dieser Hinsicht die Anordnung bequemer machen, indem man sie umkehrt. Natürlich ist es, erst zu fragen: wie wurde der Begriff? wie' entstand er, und wie hat er sich vielleicht schon durch ver- schiedene Stufen fortgebildet, ehe er so, wie wir ihn jetzt, in dem vor- handenen Gedankenkreise der Menschen, vorfinden, aufzutreten fähig war? Denn man sieht es manchem Begriffe, welcher die Erfahrung überschreitet,

hinzukommen. Wie aber, wenn anstatt derselben eine Täuschung hinzu- käme? Dann möchte leicht ein unrichtiges Ergebnifs folgen. Kant suchte sich durch eine Zergliederung der Erfahrungs-Erkenntnifs zu orientiren; von den metaphysischen Fragen nach der Seele und der Materie, der Welt 'und der Gottheit ging er rückwärts zu den Formen der Erfahrung; er betrachtete das Unendliche, das Unbedingte, das Universum als die erweiterte Vorstellung des Endlichen, Bedingten, durch Erfahrung Erreich- baren. „Die reinen Vernunftbegriffe von der Totalität in der Synthesis der Bedingungen (sagt er), sind wenigstens als Aufgaben, um die Einheit des Verstandes, wo möglich, bis zum Unbedingten fortzusetzen, nothwendig und in der Natur der menschlichen Vernunft gegründet." Allein was konnte sich ergeben, da er zu finden glaubte, die Formen der Erfahrung, Raum, Zeit, Substanz, Causalität u. s. w., seyen besondere Einrichtungen des menschlichen Geistes, die man nicht umschaffen könne? Für ihn ergab sich die Beschränkung des Erkennens auf die Erfahrung, welche fertig zu seyn schien, wo sich die sinnlichen Empfindungen in jene Formen einmal gefügt haben. Für uns ergab sich gerade aus diesem von ihm verbreiteten Vorurtheil die Notwendigkeit neuer psychologischer Unter- suchungen, mit Beseitigung der Seelenvermögen, also auch ihrer vermeinten

Streitigkeiten.

* Und rückwärts, zu jeder von diesen psychologischen Untersuchungen hört die entsprechende metaphysische. Das sey Denen gesagt, welche meinen, Psychologie ohne Metaphysik betreiben zu können. 'Liebhabern geziemt das; aber der Dilettant mufs nicht den Kenner spielen wollen.

1 Der folgende Schlußsatz fehlt in der II. Ausg.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 2. Capitel. Von der Vernuuftkritik. 22\

6

keineswegs auf den ersten Blick an, dafs er dennoch ursprünglich der Er- fahrung ist abgewonnen worden. Das Beyspiel des Begriffs der Substanz zeigt dies deutlich genug. Nichts ist gewisser, als dafs keine Substanz gesehn, gehört, überhaupt wahrgenommen werden kann. Sobald aber jene Urtheile, welche den Begriff jedes Dinges in seine Merkmale zerlegen, wach geworden sind, steht die Entdeckung bevor, dafs ihnen ihr Subject fehlt; ohne welches sie gleichwohl nicht bestehen können. Die Forderung dieses Subjects nun erzeugt den Begriff der Substanz; er hat keinen andern Inhalt noch Ursprung als eben diese Forderung; und in diesem Sinne ent- springt er dennoch aus der Erfahrung, obgleich sein Gegenstand in ihr nicht kann nachgewiesen werden. Unzählige speculative Irrthümer finden in dieser einzigen Bemerkung die ihnen gebührende Zurechtweisung.

Auf die psychologische Erklärung, wie der Begriff entstanden sey, folgt dann zweytens die neue Frage: was soll nun weiter aus ihm werden? Welche Dienste kann er der Erkenntnils leisten? Zum Beyspiel: Wie mufs man den Begriff der Substanz ausbilden, damit man von zusammengesetzten Substanzen, von Körpern, oder auch von den innern Zuständen und Thätigkeiten einer einfachen Substanz, etwa von der Seele, eine für die Erklärung der Erfahrung zulängliche Einsicht gewinne? Denn hiezu ist der Begriff, so wie er vorliegt, noch gar nicht zu gebrauchen.

[268J [= 182 d. IL Ausg.] 164. Ganz natürlich wird hier dem Leser die Frage einfallen: was helfen mir zivei Untersuchungen, wenn ich nur eine gebrauchen will? Von der Seele, von der Materie, will ich unter- richtet seyn; warum denn haltet Ihr mich auf mit dem, was ich nicht zu wissen verlange? Eure Lehre vom Ursprünge des Begriffs der Substanz behaltet für Euch; was Ihr davon redet, ist verlorne Mühe für mich. Denn genau denselben Begriff, welchen Ihr angebt, und nach dessen Wurzeln Ihr grabt, kenne und besitze ich längst; jetzt aber eile ich vor- wärts, während Ihr mit Eurer rückwärts gehenden Vernunftkritik mich nicht fördert, sondern mir die Zeit raubt.

Diese Sprache ist vollkommen der Sache gemäfs. Die Vernunftkritik ist zum Weiterkommen gar nicht nöthig; und man würde sich nie mit ihr aufgehalten haben, wenn man verstanden hätte, wie das Weiterkommen anzustellen ist. Das ist so wahr, dafs selbst jene rückwärts gehende Unter- suchung nicht eher mit Erfolg kann vorgenommen werden, als bis die vor- wärts gerichtete dazu die Hülfsmittel darbietet. l Locke verdarb die Speculation für England und Frankreich; Kant blieb in seinen Kategorien gefangen, und konnte Fichte's Unternehmungen nicht hindern. Psycho- logie setzt Metaphysik voraus; und ohne Psychologie lassen sich die Fragen der Vernunftkritik gar nicht beantworten, nicht einmal gründlich berühren.

Dennoch darf man gegen Locke und Kant nicht undankbar seyn. Die menschliche Einsicht geht nicht immer den regelrechten Gang der

1 Locke wirkte abspannend auf die Speculation in England . . . II. Ausg. a

a SW. merken die Abweichung nicht an.

2?4 II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1 .

Wissenschaft; sie braucht allerley Nachhülfe, um zur Ueberzeugung zu ge- gedeihen. Metaphysik läfst sich einmal nicht mit unmittelbar eindringender Evidenz dergestalt vortragen, dafs ihre Lehren sogleich angeeignet werden, indem sie aufgefafst sind. Die erste Auffassung selbst des Nothwendigen behält dennoch die Unsicherheit des Problematischen; die Grundbegriffe wanken Denjenigen unter den Füfsen, welche versuchen, etwas darauf zu bauen. Das liegt nicht in der Natur der Wissenschaft; wohl aber in [269] der Natur der menschlichen Köpfe. Darum mufs der psychologische Unter- bau in Ehren bleiben.

165. [= 183 d. IL Ausg.] Aber, (wird man weiter einwenden) wenn Psychologie selbst von der Metaphysik abhängt, so dreht sich ja die Metaphysik im Kreise, indem sie nicht blofs den Aufbau, sondern auch den Unterbau besorgt. Wie kann denn l dieser Unterbau etwas stützen?

Dieser Einwurf ist ganz verfehlt. Die Metaphysik ist nicht darum ungewifs, weil sie Diesem und Jenem nicht einleuchtet. Sie, als Wissen- schaft, bedarf nicht des Unterbaues; sondern sie hat volle Macht, ihn eben so wohl als den Aufbau zu besorgen. Dafs sie durch die sogenannte Vernunftkritik ihre eignen Grundbegriffe zu unterstützen scheint, bezieht sich auf die' Individuen, welche schwer lernen, weil ihre subjeetiven Ge- danken nicht von selbst vest genug stehn, um Zweifel, die ihnen hinten- nach und zu spät einzufallen pflegen, aus eigner Kraft zurückzuweisen. Ein System wird von den Menschen um desto mifstrauischer angestaunt, je höher es emporsteigt; die Erfahrungsbegriffe, von denen sie ausgingen, werden ihnen unklar durch die Veränderungen, welche das weiter und weiter fortschreitende Denken damit vornimmt; sie sind so schwach, dafs sie nicht verstehn, sich auf die frühern Stufen zurück zu versetzen, und das ur- sprünglich-Gegebene, so wie es war vor aller systematischen Arbeit, stets im Auge zu behalten. Darum mufs man ihnen zeigen, dafs die Erfahrungs- begriffe aus psychologischen Gründen nicht anders gegeben und gefafst werden konnten, als sc, wie die Erfahrung sie gab und die Metaphysik sie in Empfang nahm.

Noch ein andrer, sehr wichtiger Umstand kommt hinzu. Die Meta- physik, einmal im richtigen Gange begriffen, vergleicht sehr bald ihre ge- wonnenen Resultate mit der Erfahrung auch in solchen Bestimmungen, die ihr Anfangs nicht zur Grundlage dienen konnten. Hiedurch erlangt sie fortwährend Bestätigungen der mannigfaltigsten Art, lange [270] vorher, ehe jener Unterbau sich bildet, den man Vernunftkritik nannte, bevor seine wahre Natur bekannt war. Der Unterbau ist also in der That weit stärker, als ihn die blofs metaphysische Betrachtung, wenn man nicht stets zu- gleich die Erfahrung benutzte, zu Stande bringen würde. 2

2 Zu dem Worte: „würde" hat die II. Ausg. folgende Anmerkung:' Was /u diesem Unterbau der Verfasser beygetragen hat, ist hauptsächlich im zweyten Bande der Psychologie [Bd. VI vorl. Ausg.] zu suchen; man sehe dort § 139 u. s. \v. Man kann auch das kleine Lehrbuch der Psychologie [Bd. IV vorl. Ausg.] vergleichen, welches unter der Voraussetzung geschrieben ist, dafs gewöhnlich über !' hologie der mündliche Vortrag früher gehört wird, als der über Metaphysik.

1 „denn«' fehlt SW.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 3. Capitel. Von der Fundamental-Philosophie. 2 2K

166. [= 184 d. IL Ausg.] Nicht ungewohnt auch solcher Einwürfe, die eigentlich Niemandem einfallen sollten, wollen wir noch der praktischen Vernunft gedenken. Denn Kant hat ja auch eine Kritik der praktischen Vernunft geschrieben; er hat sogar von einer Metaphysik der Sitten geredet; und es wäre nicht gerade etwas Neues, wenn Jemand meinte, die Meta- physik müsse sich auch dafür einen psychologischen Unterbau schaffen. Indem wir nun die Erfahrung, und das in ihr Gegebene, als ein solches bezeichnet haben, von dem die Metaphysik ausgehe, und von wo rückwärts schauend die Vernunftkritik die gegebenen Grundbegriffe bevestige: möchte Jemand das so verstehen, als ob die praktischen Ideen auch der Erfahrung entnommen würden, und auch durch psychologische Nachweisung ihres Ursprungs bekräftigt werden könnten.

Es mufs aber doch wohl dem Leser überlassen bleiben, sich über solche Dinge selbst Rechenschaft zu geben. Kant's kategorischer Imperativ war der Angelpunct seiner Kritik der praktischen Vernunft. Wer zu dieser Formel, die heutiges Tages fast für veraltet gelten könnte, zurückkehren will, der mag nach Belieben sich ein kritisches Geschafft dazu schaffen. Was auf die Lehre von den fünf praktischen Ideen kann gebaut werden, <las ist nicht so schwerfällig, um noch besonderer Stützen zu bedürfen. Die psychologischen Untersuchungen über die Möglichkeit ästhetischer Ur- theile und ihrer Befolgung, sind dagegen wirklich schwer und dunkel; und so nützlich sie der Pädagogik werden können, so untauglich sind sie, der Moral ein neues Licht aufzustecken.

Will man die praktischen Ideen sich geläufig machen, so mufs man sie anwenden; und in demjenigen, was von [271] jeher als richtige Moral ge- golten hat, wieder zu erkennen sich üben. Das ist nicht schwer; und metaphysische Schwierigkeiten sind dabey so fremd, dafs deren Heilmittel im praktischen Gebiete äufserst übel angebracht seyn würden. Ein paar einzelne Puncte machen eine Ausnahme; auf diese kann jedoch hier nicht eingegangen werden, um so weniger, da die Evidenz der praktischen Ideen davon keineswegs abhängt.

[272] Drittes Capitel.

Von der Fundamental-Philosophie.

167. [= 185 d. IL Ausg.] Die Philosophie war längst vorhanden, war in ihre drey Theile zerfallen, bestand aus einer beynahe vollendeten Logik, einer in den Haüptumrissen x ziemlich richtig gezeichneten2 Sittenlehre (44.), 3

1 „Hauptgedanken" statt „Hauptumrissen" II. Ausgabe.*

2 „richtigen" statt „richtig gezeichneten" II. Ausgäbet

3 Zu dem "Worte: „Sittenlehre" hat die II. Ausgabe folgende Anmerkung: Man erinnere sich an die Stoiker und an Grotius.

a u. b SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der 1. Ausg. Herbart's Werke. IX. '5

2 II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

und der wenigstens von den * meisten Grundproblemen ausgehenden und sich versuchenden Metaphysik; sie war schon bezweifelt, geschmäht, zerrüttet, und theilweise wiederhergestellt: als es neuerlich einigen rüstigen Denkern einfiel, ihr ein besseres Fundament unterlegen zu wollen, worüber alsdann die mannigfaltigsten Meinungen und Streitigkeiten laut wurden. 2 Dadurch ist sie für die heutige Generation dergestalt verdunkelt und aus ihrem natürlichen Gefüge gedrängt worden, dafs mancher angesehene

1 Statt der Worte: „von den meisten Grundproblemen ausgehenden und sich versuchenden" hat die II. Ausg. : „an den meisten Grundproblemen sich versuchenden". a

2 Statt der folgenden Worte bis 8 Zeilen weiter: „Dadurch ist sie für die heutige Generation .... sogleich verstehn" hat die II. Ausg. Folgendes:

Historisch wichtig ist in dieser Hinsicht vorzüglich der ältere Reix- hold; an dessen zu sehr vergessenen Schriften sich noch jetzt das prak- tische Interesse für Philosophie erwärmen kann. Sehr beredt suchte er das Bedürfnifs eines einzigen allgemeingeltenden Grundsatzes der Philo- sophie darzustellen. Kants Lehre wurde als richtig vorausgesetzt; die Hauptmomente der KANTischen Vernunftkritik waren nach Reixholds Ueberzeugung die in derselben entdeckten und vollständig aufgezählten Formen der Anschauungen, der Begriffe und der Ideen, in wiefern sie in der Natur der Sinnlichkeit, des Verstandes und der Vernunft a piiori bestimmt seven, und den Dingen an sich nicht zukommen können. Aber durch Kants Darstellung, meint er, würden nur Diejenigen überzeugt wer- den, „welche sich die Erfahrung als die Vorstellung der Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmungen in einem nothwendigen Zusammenhange denken; nicht die, welche der Sinnlichkeit keine andern Vorstellungen als des Ver- änderlichen, Zufälligen, Relativeti zutrauen."* An die Stelle der Berufung auf die Erfahrung sollte nun folgender Grundsatz treten : „Im Bewnfstseyn wird die Vorstellung durch das Subject vom Subject und Object unterschieden und auf beide bezogen.11 Es ist der Mühe werth, noch einige der nachfol- genden Sätze beyzufügen.

„Die blofse Vorstellung ist dasjenige, was sich im Bewufstseyn auf Object und Subject beziehen läfsl, und von beiden unterschieden wird."

„Die blofse Vorstellung läfst sich zwar nicht ohne Object und Subject denken, weil sie nur als etwas, das sich auf Object und Subject beziehen läfst, denkbar ist. Aber sie läfst sich auch nur als etwas von beiden Unterschiedenes denken, und nur als etwas, welches seiner Natur nach dem Object und Subject im Bewufstsein vorhergeht, beide zu Bestandtheilen des Bewufstseyns erhebt, und das Prädicat ausmacht, unter dem beide im Bewufstseyn gedacht werden müssen."

„Sinnlichkeit, Verstand, und Vernunft, als die Vermögen "der sinn- lichen Vorstellung, des Begriffs, und der Idee, heifsen Vorstellungsver- mögen, und das, was ihnen unter sich gemeinschaftlich ist, das Vorstel- lungsvermögen überhaupt."

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg. * Reinholds Beyträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse. S. 286.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 3. Capitel. Von der Fundamental-Philosophie. 227

Gelehrte offenbar kein deutliches Bild mehr von ihr besitzt, und ihren Ursprung eher in einem fabelhaften Lande, als in denjenigen Begriffen sucht, die uns Alle jeden J Augenblick beschäftigen und durchaus unentbehrlich sind. Das gröfste Uebel liegt in der Verwechselung zwischen dem Lehrgebäude und dem Faden des Unterrichts. Diesen Unterschied wird man mit Hülfe des Bevspiels von der Sittenlehre sogleich verstehn. In dem Lehrgebäude2 liegen die fünf ursprünglichen praktischen Ideen alle neben einander, und bilden zusammen das Fundament ; denn keine derselben läfst sich von der andern ableiten. Hingegen die Ideen der Rechtsgesellschaft u. s. w. bis zur beseelten Gesellschaft gehören eben deswegen,3 weil sie von jenen abgeleitet sind, nicht mehr zum Fundament, sondern schon zum Gebäude selbst. Wohin wird die Reihe gerechnet [273] werden, welche von den Beschäftigungen bis zu den Dienstverhältnissen läuft? Sie ist nicht aus den Ideen entsprungen; eben deshalb würde sie auch nicht in die Sitten- lehre gehören, wenn nicht wegen der Anwendungen der Ideen, welche darauf zu machen sind. Daher kann man sie nicht zum Fundamente, sondern ebenfalls nur zum Lehrgebäude rechnen. 'Wie aber unterscheidet

„Die blofse Vorstellung mufs aus zwey verschiedenen Bestandtheilen bestehen , die durch ihre Vereinigung und ihren Unterschied die Natur einer blofsen Vorstellung ausmachen. Denn da Subject und Object unterschieden werden, so mufs auch Dasjenige in der Vorstellung, wodurch sie sich auf's Object, von dem, wodurch sie sich auf's Subject bezieht, unterschieden werden." Stoff und Form der blofsen Vorstellung. Jener wird dem Subject gegeben, diese von ihm hervorgebracht, Receptivität, Spontaneität.

Das vorstellende Subject hat kein Vermögen den Stoff folglich auch keine Kraft eine Vorstellung (Form und Stoff) hervorzubringen."

Der Stoff mufs ein Mannigfaltiges, die Form mufs Einheit des Mannig- faltigen seyn. Die Form hängt eben sowohl von der Receptivität (der Empfänglichkeit für den Stoff) als von der Spontaneität ab.u

Verbindet man hiemit noch den frühern Satz: „Die Verwechselung des vorgestellten Objects mit dem Dinge an sich ist unvermeidlich, so lange man die Fonnen der blofsen Vorstellungen nicht als solche entdeckt und die erkannt hat"; so ist die Anschliefsung Reinholds an Kant offenbar.

186. Bevor wir diese Probe von Fundamental-Philosophie näher be- leuchten, ist nöthig einer Verwechselung vorzubeugen, nämlich der Ver- wechselung des Lehrgebäudes mit dem Faden des Vortrags.

Im Lehrgebäude der Sittenlehre z. B. liegen die fünf urprünglichen praktischen Ideen alle neben einander, und bilden zusammen das Funda- ment, denn keine derselben läfst sich von der andern ableiten. Hingegen die Ideen a der gesellschaftlichen Systeme gehören eben deshalb, weil sie von jenen ....

1 „in jedem" statt „jeden" II. Ausgabe.

2 „Im Lehrgebäude der Sittenlehre" für „In dem Lehrgebäude" II. Ausgabe.

3 „Hingegen die Ideen der gesellschaftlichen Systeme gehören eben deshalb" II. Ausg.

a Idee II. Ausg. ; SW haben auch „Ideen" verbessert.

15*

,,g II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

sich nun vom Gebäude und von dessen Fundamente der Faden des Unter- richts! Dieser kann nicht von allen Ideen zugleich ausgehn; schon aus dem einfachen Grunde, weil von fünf Gegenständen auf einmal verständ- lich zu reden unmöglich ist. Nun weifs man aus dem Obigen (153- 156.), dafs der Faden des Unterrichts bestimmt vorgeschrieben ist. Man mufs ihn anknüpfen bey der Idee der innern Freyheit; man mufs ihn, so fern er das Fundament' betrifft, endigen bey der Idee der Billigkeit; es giebt hier keine Willkühr, der man sich überlassen dürfte: denn die Vollständigkeit der Reihe mufs verbürgt werden, und das ist nicht möglich, sobald man im Gerino-sten1 von der Vorschrift abzuweichen sich erlaubt. 2Wer aber das Gebäude mit dem Faden verwechselt, der kann von der ganzen Technik, welche zur Sittenlehre nothwendig ist, nichts verstehn. In dem Gebäude ist das Fundament der unterste Theil; um dieses richtig aufzufassen, müssen alle fünf Grund-Ideen, ohne irgend eine Succession, wie mit Einem Blicke an- geschaut werden. Im Lehrgange aber ist dennoch eine unvermeidliche Suc- cession, und zwar deshalb, weil darin die erste wesentliche Bedingung der genauen Untersuchung besteht. Selbst der Umstand, dafs oben (153.) von dem Wohlwollen angefangen wurde, diente nur hier zur Erleichterung; wer die praktische Philosophie selbst vergleicht, wird finden, dafs der dortige Vor- trag ganz verdorben wäre, sobald eine solche Licenz auf ihn übertragen würde. 168. [= 187 d. IL Ausg.] Die Form der Metaphysik ist zwar voll- kommen3 eben so streng vorgeschrieben, wie die der Sittenlehre: allein es wird etwas schwerer seyn, dies hier sichtbar zu machen; daher [274] nur wenige Worte über den ohnehin blofs speculativen Gegenstand ! 4 Man weifs schon, dals zwar das Fundament der Metaphysik in einer Reihe von Begriffen besteht, die jedoch nicht durch ästhetisches Urtheil erzeugt, sondern in der Erfahrung gegeben werden; daher ihre Zusammenstellung den Charakter der zufälligen Aggregation, welcher überhaupt der Erfahrung eigen ist, bey- behalten mufs. Es wäre die unleidlichste5 Künsteley, und das sicherste0 Zeichen verworrener Begriffe, wenn Jemand auf jene Reihe: Inhärenz, Ver- änderung, Materie, und Ich, irgend7 eine solche Regel der logischen Dis- junction, die auf Vollständigkeit der Glieder ausgeht, oder gar eine noch höhere Methode der nothwendigen Verknüpfung übertragen wollte (157.). Und dennoch findet eine logische Anordnung statt, nach welcher für den Faden des Unterrichts beym Probleme der Inhärenz mufs begonnen werden. Nicht als ob nicht auch von der Veränderung (mit den Alten), oder vom

1 „im Geringsten" fehlt in der II. Ausg.»

2 Der folgende Satz: „Wer aber das Gebäude .... nichts verstehn", fehlt in der II. Ausg.

3 „zwar vollkommen" fehlt in der II. Ausg.b

i Die Worte: „allein es wird etwas schwerer .... speculativen Gegen- stand!'; fehlen in der II. Ausg.

5 „die unleidlichste" fehlt in der II. Ausg. c

6 „ein Zeichen" statt „das sicherste Zeichen" II. Ausg.d

7 „irgend" fehlt in der II. Aug.e

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg. b, c, d, e SW merken die Abweichung nicht an.

2. Abschnitt, Methodenlehre. 3. Capitel. Von der Fundamental-Philosophie. 229

Ich (mit Fichte) könnte ausgegangen werden ; diese Probleme besitzen volle Gewalt, um das eigentlich metaphysische Denken ursprünglich in Bewegung zu setzen; es ist nicht nöthig, dafs sie den Antrieb dazu etwa erst von dem Probleme der Inhärenz herleiten: sondern nur deshalb mufs vom letztern ausgegangen werden, weil die Metaphysik jede Erschwerung des deutlichen Vortrags sorgfältig vermeiden soll.

Der nachzuweisende Unterschied zwischen dem Lehrgebäude und dem Faden des Unterrichts, ist demnach bey der Metaphysik in Ansehung des Fundaments eben so sichtbar, als vorhin bey der praktischen Philosophie. Inhärenz, Veränderung, Materie, Ichheit, diese vier Grundprobleme müssen gleichzeitig, wie mit Einem Blicke, angeschaut werden, damit man das Fundament, auf welchem, von aller Form des Vortrags unabhängig, das Gebäude der Metaphysik wirklich ruhet, richtig vor Augen habe. Man könnte mit einem andern bildlichen Ausdrucke sagen: denkt Euch die vier Grundprobleme als vier Springbrunnen, die vor Euren Augen ihre Strahlen neben einander emporwerfend eine Gruppe bilden, ohne sich um Eure Zählung des ersten, zweyten, [275] dritten, vierten, zu bekümmern. Dennoch ist ein subjectiver Grund vorhanden, welcher dem Zuschauer die Ordnung bestimmt, wo sein Zählen anfangen, und wie es fortgehn soll.

169.1 [= 188 d. II. Ausg.J Es ist der Mühe werth, von dieser Unter- scheidung eine Anwendung auf die drey Haupttheile der Philosophie selbst zu machen. Das gesammte Fundament der Philosophie ist in der Wahrheit gleichzeitig da; es besteht aus jenen beiden Reihen, deren eine das Funda- ment der Sittenlehre, die andre das Fundament der Metaphysik ausmacht, und aus allen dem, was, beiden analog, theils im Gebiete der ursprünglichen ästhetischen Urtheile, theils in der Erfahrung und ihren gegebenen, zum fort- schreitenden Denken nöthigenden Formen, aufzufinden ist. Man mufs auch noch jede unmittelbare logische Evidenz dahin rechnen, welche mit der That- sache zusammenhängt, dafs Begriffe einander ausschliefsen und einschliefsen. In diesem Allen giebt es an sich keinen Vorrang und keine Unterordnung. Die praktischen Ideen folgen nicht aus den metaphysischen Problemen, ihre Evidenz hat kaum eine Aehnlichkeit mit der logischen; und eben so rückwärts. Wer blofs Logik kennt, vermuthet keine Aesthetik, und noch weniger eine Metaphysik. Wer sich nur mit Metaphysik beschäfftigt, der mag sich sogar hüten, für Aesthetik nicht stumpf zu werden. Dafs aber Aesthetik und Metaphysik die Logik voraussetzen, bedeutet weiter nichts, als dafs, wenn nicht längst die logische Evidenz bey Gelegenheit rein empirischer Gegen- stände oder auch ganz willkührlicher Begriffe hervorgetreten wäre, man die Logik bey Gelegenheit der Aesthetik und Metaphysik auffinden würde. Während nun hier im Gebäude der Philosophie alles, was zum Fundamente gehört, neben einander liegt, oder besser, während die Philosophie eine Gruppe von drey verschiedenen Gebäuden ist: giebt es dennoch einen Lehrfaden, welcher im Unterricht die Logik, Aesthetik und Metaphysik nach einander, und nur in dieser und keiner andern Reihe

1 Statt des folgenden Satzes: „Es ist der Mühe werth . . . selbst zu machen." hat die IT. Ausg. : Von dieser Unterscheidung läfst sich eine An- wendung auf die drey Haupttheile der Philosophie selbst machen.

2-\o II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

und Ordnung durchläuft. Es ist zu bedauern, wenn [276] Jemand dafür noch einen Beweis fordert. Man sollte doch hoffen, dafs irgend einmal die angezeigte Ordnung zu den Dingen gehören werde, die sich von selbst verstehn. Die Metaphysik, sollte man denken, habe doch wohl specifische Schwere genug, damit nöthigenfalls der Anfänger klüger sey als der Lehrer, der ihm aus Vorliebe früher Metaphysik als Sittenlehre, oder auch diese früher als die Logik würde anbieten wollen.

170. [= 189 d. IL Ausg.] Bedeutete nun der Ausdruck Fundamental- Philosophie weiter nichts, als Angabe des Fundaments, worauf die philo- sophischen Wissenschaften ruhen: so wäre eine solche keiner Absonderung fähig von diesen drey Wissenschaften selbst; da ohne Zweifel jede ihr Funda- ment selbst anzeigen mufs. Allein derselbe Unterschied, welcher schon genugsam ist besprochen worden, dehnt seinen Einflufs noch weiter aus. So wie nicht leicht ein Redner sein Thema ohne vorausgeschickten Eingang hinstellen wird: eben so giebt es für den philosophischen Vortrag gewisse Prolegomena, die sich nie ganz entbehren lassen. Sie sind natürlich theils psychologisch, theils (was im Wesentlichen eben dahin gehört) historisch. Der praktischen Philosophie mufs nothwendig die Scheidung der ästhetischen Urtheile von den Begierden und Lustgefühlen vorausgehn; nicht als ob da- durch die Evidenz jener Urtheile erst entstehn sollte, sondern weil sie durch Verwechselung mit jenen leicht könnte verdunkelt werden. Es mufs ihr ferner die Warnung vorausgehn, nicht den Werth des Willens in der all- gemeinen Regelmäfsigkeit zu suchen; in der That nur darum, weil dieser Irrthum häufig vorkommt, und bey dem Zweck der praktischen Philosophie, allgemeine Ordnung hervorzubringen, sehr natürlich ist. Eben so bedarf die Metaphysik einer vorläufigen Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf den Zustand unsrer Erfahrungsbegriffe, die von jeher mancherley Zweifel in Bewegung gesetzt haben; und auf die oft aufgegebenen und eben so oft erneuerten Bemühungen, derselben mächtig zu werden. Selbst die Logik läfst sich kaum [277] beginnen, ohne wenigstens den Actus des Denkens vom Gedachten abzuscheiden.

Der Umstand nun, dafs Alles, was zum Fundamente der Philosophie gehört, in dem Kreise unsrer Vorstellungen erst aufgesucht werden mufs; und dafs alsdann1 dort in der That Alles beysammen gefunden wird, kann leicht manche Lehrer veranlassen, unter dem Namen der Fundamental- Philosophie eigne Vorträge und Schriften darzubieten; die nun freylich in Form und Gehalt von dem vorhandenen Zustande der Psychologie ab- hängen, und Manches in guter Meinung einschwärzen werden, was besser vermieden, oder wenigstens dem rechten Orte zur Prüfung vorbehalten bliebe. Im Wesentlichen jedoch läfst sich von einer solchen Fundamental- Philosophie, die blols für alle nöthigen Prolegomena einen Vereinigungspunct darbietet, und das gesammte Fundament der Philosophie zur Uebersicht bringt, wohl kaum etwas Mehr oder Weniger sagen, als dies: sie kann recht nützlich seyn, wenn sie gut ausgeführt wird; obgleich ihre Unentbehr- lichkeit selbst in subjectiver Hinsicht schwerlich zu erweisen seyn dürfte.

171. [= 190 d. IL Ausg.] Der idealistische Irrthum der letzten De-

1 „dafs es alsdann" I. Ausg. (Druckfehler, von SW nicht vermerkt.)

2. Abschnitt. Methodenlehre. 3. Capitel. Von der Fundamental-Philosophie. 2 3 1

cennien hat zu seltsamen Meinungen in Ansehung des Fundaments der Philosophie Anlafs gegeben. Die revolutionäre Einbildung, Alles in der Philosophie müsse neu geboren werden, liefs die altern Systeme schwächer erscheinen, als sie waren; man verkannte, dafs bey aller Unrichtigkeit in den psychologischen und naturphilosophischen Lehren, sich dennoch im Laufe der Zeit durch die fortgehende Thätigkeit der Schulen gewisse veste Umrisse gebildet hatten, bey denen man bleiben muls, während in ein- zelnen Puncten die Einsicht fortschreitet; und die, wenn ja eine Generation sie verwirft, doch in der nächsten durch die Natur der Sache von selbst wiederkehren. 1Der revolutionäre Schwindel ging so weit, die Metaphysik

1 Statt der Worte bis zum Schlüsse des Kapitels: „Der revolutionäre Schwindel ging soweit . . . nämlich das Ich, aufgegeben wurde." hat die IL Ausg. Folgendes:

Der Schwindel entstand nicht plötzlich, sondern allmählich. Dafs Reinhold nicht beabsichtigte, sich von Kant loszureilsen (nämlich in der Periode seiner gröfsten Wirksamkeit), ist oben gezeigt ; er meinte nur die Form der Lehre, nicht ihren Inhalt zu verändern. Nur allzu gläubig hatte er von Kant die Voraussetzung angenommen, man könne das Veränderliche, Zufällige, Relative unsrer Vorstellungen, den mannigfaltigen Stoff, als das Hinzukommende ansehn, für welches gewisse Formen in der Receptivität (Raum und Zeit) und in der Spontaneität (Kategorien) schon zur Aufnahme bereit stünden. Er wünschte nun, alle Selbstdenker zu vereinigen; er glaubte einen Satz gefunden zu haben, über den wirklich Alle, ohne es zu wissen, einig seyen ; dieser sollte erster und einziger oberster Grundsatz seyn. „Die Wissenschaft erhält durch ihn ihre Form; ihre Materialien aber nur in so fern, als der Grundsatz dazu dient, Fremdes auszuschliefsen, und das noch Fehlende aufzusuchen. Das Material kann nie in ihm enthalten seyn, mufs aber unter ihm stehn. Ein zum Inhalt einer Wissenschaft gehöriger Satz erhält nur dadurch den wissen- schaftlichen Rang, dafs er entweder selbst Grundsatz, oder ein unter dem- selben stehender Folgesatz ist; eben so erhält der Inhalt und Inbegriff aller solcher Sätze nur dadurch den Rang einer philosophischen Wissen- schaft, dals alle diese Sätze genau zusammenhängen; dafs die Folgesätze neben einander und ihren Grundsätzen untergeordnet, die niedern Grund- sätze von höhern gemeinschaftlichen abgeleitet, und diese unter einem Einzigen obersten begriffen seyen. Nur dadurch erhält der ganze Inhalt die Einheit Einer Wissenschaft, dafs jener Grundsatz das allgemeine Prädicat aufstellt, das allen Prädicaten und Subjecten im ganzen Um- fange der Wissenschaft zukommt, und wodureh sie in diesen Umfang zu- sammengefafst werden." Man halte dies, was die Form der Wissen- schaft bezeichnet, an jenes (185.), was als Probe der REiNHOLD'schen Fundamental-Lehre angeführt worden ; so ergiebt sich Folgendes :

Reinhold wollte Ein verständnifs ; er wollte ein Fundament ; er wollte Einheit des Systems. Wie diese Foderungen zusammenhängen, hatte er nicht gehörig überlegt. Wäre die Rede von einer logischen Eintheilung, so würde an der Spitze derselben der einzutheilende Begriff erscheinen; alles Uebrige würde unter ihm stehn. Werden aber zu den Lehrsätzen eines Systems die Prosyllogismen gesucht, so ergeben diese ein sehr breites

2^2 II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

abschauen zu wollen; ein Beginn, als ob Jemand den Mond abschaffen

Fundament; und schon eine einzige Conclusion erfodert zwey Prämissen. Jede Prämisse kann Gegenstand eines Streites werden; und ein einziger Grundsatz würde zum Einverständnifs kaum etwas Merkliches beytragen.

Man halte ferner jenen Grundsatz, welcher Vorstellung, Subject, Object, in Verbindung setzt, zusammen mit den angegebenen Fundamental- begriffen der Ethik, der Metaphysik, der gesammten Philosophie, und man wird schon hier des Stoffes genug erblicken, der sich in die Rein- HOLü'schen Formen zu fügen nicht die mindeste Bereitwilligkeit zeigt.

Dies Alles nun würde keine grofse Bedeutung erlangt haben, wäre nicht Fichte's Energie und Fichte's Ungestüm dazu gekommen; gereizt noch obendrein durch eine äufserliche Stellung, welcher zu entsprechen Eile und Anstrengung foderte. Die Schrift: lieber den Begriff der Wissen- schaftslehrc oder der sogenannten Philosophie, steht mit Reinholds Bey- tragen zur Berichtigung u. s. w., woraus obige Stellen entnommen sind, sehr nahe in Verbindung. Gleich auf dem ersten Blatte lieset man: „Eine Wissenschaft hat systematische Form, alle Sätze in ihr hängen in einem einzigen Grundsatze zusammen, und vereinigen sich in ihm zu einem Ganzen, dies gesteht man allgemein zu." Was aus seiner Arbeit herauskommen würde, wulste Fichte damals noch nicht. Er wufste nicht, dafs er im Begriff stand, sich von Kant weit zu entfernen.

Fichte spricht von Einem Satze, der den übrigen seine Gewifsheit mittheile, so dafs, wenn der Eine gewifs, dann auch der zweyte, wenn der zweyte, dann der dritte gewifs sey, u. s. f. Er lehrt : in Einer Wissen- schaft könne nur Ein Satz vor der Verbindung mit den andern gewifs und ausgemacht seyn; denn gäbe es mehrere von unabhängiger Gewifsheit,. so entstünden mehrere Wissenschaften. Man möchte ihn fragen, ob er denn die Beschaffenheit eines logischen Syllogismus ganz vergessen habe? ob er für seine Folgesätze jedesmal nur Eine Prämisse brauche? So lange man im Gebiete der logischen Foimen bleibt, geräth man in Ver- suchung, gegen Fichte und gegen Reinhold das zu wiederhohlen, was vorhin gegen die Verwechselung des Lehrgebäudes mit dem Faden des Vortrages ist gesagt worden. Der Vortrag muls freylich mit Einem Satze beginnen, und den Vortrag betrifft Reinholds Klage: er würde vergebens, hoffen, auch nur die unbefangensten und hellsten Köpfe auf seine Seite zu bringen, aus dem einzigen Grunde, weil er von keinem Satze, der auch nur unter ihnen allgemein gelte, ausgehen könne. Dem Vortrage zu gefallen mochte alsdann Fichte vom Ich als dem Allgemeingeltenden ausgehn. Aber das Lehr- gebäude beruht darum noch nicht auf dem einzigen Anfangspuncie des Vortrags.

Indessen lag in der That den Bewegungen des Denkens, welche durch Reinhold vorbereitet, durch Fichte in Gang kamen, etwas ganz Anderes zum Grunde. Es giebt eine Art von Einheit, die man durch keine Logik beschreiben kann; es ist die Einheit der Beziehungen. In diese war Reinhold durch sein Subject, Object, Vorstellung, hineinge- rathen; in dieser wurde Fichte durch sein Ich fortgetrieben; und dahin gehört schon Kants berühmte Frage : wie sind synthetische Sätze a priori möglich? Wir werden später darauf zurückkommen.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 4. Cap. "Vom System der Philosophie im Allgemeinen. 233

wollte. Einerseits die Alten, andererseits die Natur selbst, leisten der Metaphysik Bürgschaft für ihre Dauer bis zur Wie[2 78]derkehr einer all- gemeinen Barbarey. Für einzelne Generationen kann indessen das Uebel schlimm genug werden; denn während in der bürgerlichen Gesellschaft der Revolutions - Geist sich an den unvermeidlich fortdauernden Bedürf- nissen bricht, lebt dagegen die Welt ruhig, und ohne einen Schaden den sie zu schätzen wüfste, fort, ob nun in den Schulen eine richtige philo- sophische Methode befolgt wird oder nicht. Die Trägheit des Irrthums ist seine schlimmste Seite; man mufs aber mit der Langsamkeit der Be- wegung, durch welche er sich allmählich berichtigt, Geduld haben.

Die Einheit des Idealismus bringt es mit sich, Alles in Einem Puncte, nämlich im Ich, concentriren zu wollen. Das Täuschende liegt aber hier nicht blofs im Ich, sondern in dem Behagen, eine grofse Masse der ver- schiedensten Gegenstände auf einmal freylich nur in der Einbildung zu überschauen, und eine Menge von speculativen Arbeiten vermeiden zu können, die, eben weil sie nun liegen bleiben, später von Andern nachgehohlt werden müssen. Nicht der Idealismus, wohl aber sein hoher Standpunct ist bequem.

Daher geschah es, dafs die Manier blieb, während das Fundament, nämlich das Ich, aufgegeben wurde.

[27g] Viertes Capitel. Vom System der Philosophie im Allgemeinen.

172. [== 191 d. IL Ausg.] Ist das Fundament gelegt, so folgt der Aufbau des Systems; vorausgesetzt, man sey vom Werthe einer syste- matischen Ordnung der Gedanken und Bevestigung der Lehrsätze über- zeugt, und man scheue nicht die Mühe einer regelmäfsigen Untersuchung. 3 Allein hier sind üble Eindrücke zu fürchten. Dafs Systeme ver- schrobene Köpfe machen, diese Klage ist zu bekannt, um mit Still- schweigen übergangen zu werden.

Diejenigen, welche solches wollen beobachtet haben, sollten nur nicht die Schuld auf Systematik im Allgemeinen werfen; sondern sie sollten suchen das schädliche Element herauszufinden, dessen Folgen ihren Tadel erregen. Das ist nun vielleicht zu schwer für die, welche sich nicht be- rufen finden, in das Innere der Systeme einzudringen. Daher ein drückender Verdacht gegen Alles, was den Namen und die Gestalt des Systems an sich trägt.

Wie wäre es, wenn man den übrigens verständigen und wahrheit- liebenden Männern, die sich vor Systemen fürchten, ein äufseres Kenn- zeichen falscher Systeme angeben könnte, welches ihnen um desto mehr einleuchten mufs, je öfter und je genauer sie jenes Uebel vor Augen gesehen haben?

Wir reden hier nicht von dem anmafsenden Tone, dem abstofsenden Betragen, das junge Leute zu bezeichnen pflegt, die in einer philo-

2-24 II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1.

sophischen Schule länger, als ihnen gerade dienlich war, verweilten. Es giebt wohl andre Schulen, au[2 8p]fser den philosophischen, welche den Vorwurf tragen müssen, dafs bald Ueberspannung, bald Dünkel, bald Steif- heit und Unbehülflichkeit aus ihnen hervorgehn. Und auch die schlechteste philosophische Schule ist immer noch eine Gegenkraft, wodurch wenigstens einigermafsen die gelehrte Beschränktheit und Pedanterey gemildert wird, welche aus langer Anstrengung in besondern Fächern bey mäfsigen Talenten nur zu l leicht entsteht.

Uebrigens ist die Klage über anmafsenden Ton in der Regel das Zeichen, der Klagende habe eben nichts anderes vernommen, als mir den Ton. Wüfste er etwas von der Sache, so möchte er wohl über diese zu reden finden. Und endlich redet Mancher nicht mit seinem eignen, natürlichen Ton; sondern er hat nach einem Sprichwort, das zu bekannt ist, um hier angeführt zu werden, in der Umgebung und den Verhältnissen, worin er sich nun einmal befindet, eine Stimme annehmen müssen, gemäfs dem Local, worin man ihn hören soll.

173. [= 192 d. IL Ausg.] Das deutliche äufsere Kennzeichen falscher, wenn auch sehr scharfsinniger, philosophischer Systeme besteht in der Einseitigkeit der Methode.

Die Richtigkeit dieses Kennzeichens wird wohl nicht bezweifelt werden. Man vergegenwärtige sich nur jene verschrobenen Köpfe, und ihr Benehmen im Leben. Es wird sich finden, dafs ihre Handlungen und Reden zu den Umständen nicht2 passen; einerley einförmige Manier klebt ihnen an, die sie mit grofsen Ansprüchen überall durchsetzen wollen. Dafs aber hieran das System, was sie lernten, nicht allein Schuld ist, versteht sich von selbst.

Die verkehrten Folgen eines verkehrten Benehmens zeigen sich im Umgange mit Menschen sehr bald, und warnen denjenigen, der nicht gerade blöde Augen hat. Hingegen eine Wissenschaft kann selbst ein grofser Denker lange mishandeln, ohne die natürliche Strafe zu empfinden; be- sonders wenn er [281] den Widerspruch Anderer entweder zum Schweigen gebracht hat, oder nicht zu beachten für nöthig findet.

Zwar auch die Wissenschaft warnt, wenn man sie falsch behandelt; aber mit sehr leiser Stimme. Sie läfst merken, dafs die Untersuchung stockt, die Aussicht enger wird statt sich zu erweitern, dafs der Kreis der Begriffe dem Erfahrungskreise, worauf er passen soll, nicht congruent ist. Allein es ist ungemein schwer, im Philosophiren sich vor blinder Gewohnheit und falschen Analogien zu hüten; noch schwerer, jedesmal aus der Eigenheit des „Gegenstandes die Methode zu erkennen, die zu ihm palst. Man darf geradezu behaupten, dafs selbst die gröfsten und berühmtesten Denker, welche bisher lebten, nicht genug in allen Winkeln der Wissenschaft umher gegangen waren, um sich von der Geschmeidig- keit des Verfahrens einen Begriff zu machen, welche der Verschiedenheit

1 „nur zu" fehlt in der II. Ausg.»

2 „nicht" fehlt in der II. Ausg.b

a SW merken die Abweichung nicht an.

t> SW drucken nach der I. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der II. Ausg.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 4. Cap. Vom System der Philosophie im Allgemeinen. 235

der Gegenstände hinreichend entsprechen würde. Oben (154.) sind ein paar Beyspiele von logischer Art vorgekommen, welche ungefähr andeuten können, wie sehr man sich schon bey den leichtesten und ganz nahe liegenden Dingen bereit halten mufs, verschiedene Hülfsmittel jedes am rechten Orte zu gebrauchen. Wer aber den Geist oder die Natur durch- forschen will, der mache sich darauf gefafst, noch in weit höherm Grade gewahr zu werden, wie wenig mit Einerley Methode auszurichten ist.

Ein Hauptgrund der Eintönigkeit in den neuesten Systemen der Zeit liegt übrigens in dem Bestreben, sich von Anfang bis zu Ende als durch- drungen von Religion zu zeigen. Mit derjenigen Stellung, welche die Religion als Ergänzung des empfundenen Mangels wirklich hat, wie dieses oben (33 u. s. w.) deutlich genug1 gezeigt worden, begnügen sie sich nicht; den Mangel meinen sie gleich von vorn herein vermeiden zu können; die Sättigung soll dem Hunger vorausgeschickt werden. Schlechte Ver- dauung ist die Folge. Wer übel vorbereitete Religionslehren ausstreut, der säet Religionszweifel, und wenn er es noch so gut meinte.

Dafs die Religion zugleich einen ästhetischen Eindruck macht, genügt ihnen noch weniger. Diese Aesthetik soll als [282] solche zugleich Meta- physik, ja auch Naturphilosophie und Psychologie seyn. Alles in Einem! Solche chaotische Philosophie mag herrschen, wo man Lust hat, ihr zu dienen. Hier wird sie uns einen kleinen Dienst2 leisten, um die Dar- stellung zu erleichtern.

174. [= 193 d. IL Ausg.] Jedermann kennt die Worte: Grund und Folge. Diese Ausdrücke tragen den Schein an sich, als ob sie einen Be- griff ausdrückten, der allen Theilen der Philosophie gemeinschaftlich an- gehörte. Dadurch ist viel Dunkelheit entstanden, die wir jetzt aufhellen müssen. Es geht nämlich mit manchen Begriffen so, dafs sie leere Ab- stractionen veranlassen, in welchen der Unbehutsame sich vergeblich bemüht, ihren ursprünglichen, wahren Sinn wieder zu erkennen. Wie wenn Einer meinte, weil alle Farben, grün, roth, vveifs, u. s. w. sichtbar sind, so müsse dem allgemeinen Begriffe Farbe auch die Eigenschaft zukommen, dafs man ihn mit den sinnlichen Augen sehen, und eben so dem Begriffe des Tons die Eigenschaft, dafs man ihn hören könne, weil ja doch alle einzelne Töne hörbar seyen. Wie nun für den Blinden keine Farbe, und für den Tauben kein Ton vorhanden ist: gerade so würden über- haupt die beiden allgemeinen Begriffe ohne Werth und Bedeutung seyn, wenn ihnen die bestimmten Farben und Töne nicht zum Grunde lägen. Beyläufig bemerke man, dafs von dem allgemeinen Begriffe des Schönen genau das Nämliche gilt. Schönes in der Poesie, Musik, Malerey, kennen und fühlen wir, so wie grün, roth, blau. Der Begriff des Schönen überhaupt aber giebt Nichts zu fühlen; er ist eine völlig leere Abstraction, und kein unglücklicheres Beginnen läfst sich denken, als eine allgemeine Theorie des Schönen, ohne Angabe und Berücksichtigung der Arten, die allein dem Gattungsbegriffe Bedeutung geben.

1 „genug" fehlt in der II. Ausg.a

2 „Dienst" gesperrt in SW.

a SW merken die Abweichung nicht an.

2^6 II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

Für Diejenigen, welche gern in Einem Zuge vom Wahren, Guten, und Schönen reden, müssen wir wohl noch ausdrücklich hinzusetzen, dafs sie hier auf drey gleich leere Ab[2 83]stractionen ihr Streben zu richten Gefahr laufen, wenn sie den Worten einen Sinn zutrauen, der nicht gänz- lich von den Arten des Wahren und von den Arten des Guten und des Schönen ausginge und abhinge.

Diese leeren Abstractionen sind ein höchst gefährliches Papiergeld, welches schon gar 1 manches System zum Bankerot gebracht hat, und bey Leuten, die auf Warnungen nicht hören wollen, noch bringen wird.2

Der Begriff des Grundes und der Folge, oder eigentlich des Zu- sammenhangs zwischen beiden, befindet sich nun im nämlichen Falle. Er bedeutet etwas sehr Wichtiges in der Logik, wo er am kenntlichsten bey den Syllogismen vorkommt. Die Vordersätze nämlich sind die Gründe; der Schlufssatz ist die Folge. Derselbe Begriff bedeutet etwas Anderes in der Metaphysik, wo man statt Grund zu sagen pflegt Ursache, und als- dann statt Folge den Ausdruck Wirkung gebraucht. Behält man hingegen auch in der Metaphysik die Worte Grund und Folge, so bezeichnen sie zwar hier, wie in der Logik, einen nothwendigen Uebergang im Denken; aber bey weitem nicht immer eine solche Art des Uebergangs, wie die Logik beschreibt. Die praktische Philosophie endlich, sammt den Kunst- lehren, betrachtet die Wirkungen als Zwecke, deren Ursachen aber als Mittel, oder im Gegenfalle als Hindernisse.

So hat nun der Ausdruck Grund und Folge in allen drey Th eilen der Philosophie einen Sinn; aber für jeden Theil auf eigne Weise. Will man hingegen bey den nämlichen Worten etwas Allgemeines denken, in der Meinung, dies Allgemeine durchdii7ige die ganze Philosophie , und mache wohl gar in ihr den ersten Haupt gegenständ der Erkenntnifs aus : so täuscht man sich nicht minder, wie Derjenige sich täuschen würde, der, um Farben zu sehen, zuerst die Farbe überhaupt anschauen wollte.

175. [= 194 d. IL Ausg.] Im vorigen Capitel gebrauchten wir den Begriff des Grundes; denn es war die Rede von der Fundamental-[2 84] Philosophie. Zwar das Fundament besteht aus mancherlei sehr ungleich- artigen Theilen; 3 allein nachdem dies gezeigt war (169.), erinnerten wir an den vom Ich abgewichenen Idealismus, welcher die Einheit behalten will, um die Höhe des -Standpuncts nicht zu verlieren, woran man sich damals gewöhnte, als man auf die Gesammtheit aller Dinge von oben herabschauend sprach: Alle diese Dinge sind nur Erscheinungen in Uns (159.). Nach Art dieses Idealismus, der das Fundament der Philosophie noch immer als Eins betrachtet, nachdem das Ich verabschiedet ist, wollen wir nun auch einmal zum kurzen Versuch, blofs um zu sehen, was wohl daraus entstehen möge,

1 „gar" fehlt in der II. Ausg.*

2 zum Bankerot gebracht hat, und vielleicht noch bringen wird. II. Ausg.

3 Die folgenden Worte: „allein .... um die Höhe" lauten in der II. Ausg. : allein der vom Ich abgewichene Idealismus will die Einheit behalten, um die Höhe.

a SW merken die Abweichung nicht an.

2 Abschnitt. Methodenlehre. 4. Cap. Vom System der Philosophie im Allgemeinen. 237

das ganze Fundament der Philosophie in einer Abstraction auffassen, näm- lich als Grund überhaupt; wie wenn zwischen einer Ursache, die etwas wirkt, und einem Erkenntnifsgrunde , aus dem etwas folgt, entweder gar kein Unterschied, oder doch ein solcher wäre, den man füglich bey Seite setzen könnte, ohne dafs darum an der Kraft und Bedeutung des Wortes Grund etwas verloren ginge; mithin dergestalt, dafs immer noch aus dem Grunde etwas folge, wenn schon unbestimmt bleibe, ob das, was folgt, eine Wirkung, oder eitie Folgerung, oder beides zugleich sey.

Dafs Wirkungen Veränderungen seyen, daran zweifelt der gemeine Verstand nicht; denn was er geschehen sieht, das erscheint ihm als Ver- änderung, und diese eben nennt er Wirkung, indem er eine Ursache hin- zudenkt. Dagegen wollen wir nun für jetzt nicht streiten; denn es kommt hier nicht darauf an, den Begriff der Wirkung, die freylich in einem gewissen Sinne keine Veränderung ist, richtig zu bestimmen.

Angenommen also wenigstens für jetzt: alle Wirkung sey Veränderimg; so können wir das Vorige nun so aussprechen: Es soll immer noch aus dem Grunde etwas folgen, wenn schon unbestimmt bleibt, ob das, was folgt, eine Veränderung, oder eine Folgerung, oder beides zugleich sey.

[285] Was wir hier ausgesprochen haben, ist freylich ganz falsch. Allein zur Philosophie gehören falsche Meinungen, die man vermeiden lernen muls, zuweilen so wesentlich, dafs gerade nur, indem sie mit Be- sonnenheit vermieden werden, die Wahrheit hervorleuchtet.

Wäre der eben ausgesprochene Satz wahr, so könnte man leicht hinzu- setzen: die Veränderung, welche wir oben zum Fundamente der Meta- physik rechneten, als wir jene Reihe, Inhärenz, Veränderung, Materie, und Ich hinstellten (1 57.), ist zwar nur ein Bcyspiel für den weit allgemeinern Begriff des Ucbcrgehens vom Grunde zur Folge; aber sie ist doch ein passendes Beyspiel, das einen besondern Fall in der Mitte der Erfahrung darstellt, mithin einem Jeden, der Erfahrung zu schätzen weifs, sehr will- kommen seyn wird, um den vor erwähnten dunkeln Begriff (dunkel muls er wohl seyn, da er falsch ist,) dadurch zu beleuchten.

176. [= 195 d. IL Ausg.] Man fasse nun das gesammte Fundament der Philosophie (169.) als ein ungetheiltes Eins auf.

„Aber das ist nicht möglich, (möchte Jemand einwenden,) das Fun- dament besteht ja aus ganz ungleichartigen und unverbundenen Theilen!"

Unbekümmert um diesen Einwurf, (denn wir wollen eben etwas Falsches erreichen und ins Licht stellen), fahren wir fort: aus dem ungetheilten Einen, dem Grunde, woraus die Philosophie folgen soll, lasse man nun dieselbe nach Einerley Methode sich entwickeln.

„Aber eben dagegen (möchte Jemand sagen) ist schon oben (154. 172.) ausdrücklich gewarnt worden!"

Unbekümmert auch hierum, fahren wir weiter fort: die gestickte Eni- wükelung leiste man nach dem Beyspiele der Veränderung, die aus der Er- fahrung sattsam bekannt ist, und benutze dabey gelegentlich die andern, in dem Fundamente der Philosophie als Eins gedachten Begriffe; dem- nach die Materie, die Inhärenz, und das Ich; späterhin [286] auch die praktischen Ideen und die Erzeugnisse ästhetischer Urtheile überhaupt.

Was wird denn auf diese Weise zu Stande kommen? Ein System

2?8 II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1.

der Philosophie im Allgemeinen, gemäfs der Ueberschrift des Capitels, von welchem wir nicht füglich behaupten dürfen, ein solches sey unmöglich; denn Hegels System ist wirklich vorhanden, und überdies besitzt es den Vorzug, das Wesentliche der ScHELLiNGschen Lehre1 mit ungemeiner Präcision vor Augen zu stellen.

177. [= 196 d. IL Ausg.] Alle Anfänger in der Philosophie haben Mühe daran zu glauben, dafs in den gegebenen Formen der Erfahrung, also in der Veränderung, der Inhärenz, der Materie und dem Ich, wenn wir die Begriffe hievon dem Gegebenen gemäfs aufnehmen, Wider Sprüche liegen, die wir beym Aufnehmen nicht vermeiden, sondern nur durch fort- gesetztes Nachdenken überwinden können. Ohne diese Widersprüche scharf zu betrachten, ist keine tüchtige Methode in der Philosophie möglich ; sondern das Philosophiren verfällt bald in diesen bald in jenen Widerspruch, wie in eine verborgene Grube. Aber wir würden aus dem Tone dieses Buchs fallen, wenn wir das in den streng wissenschaftlichen Schriften darüber längst Gesagte hier noch einmal wiederhohlen wollten. Da nun der Gegen- stand gleichwohl hier mufs erwähnt werden, so kann das nicht passender als auf historische Weise geschehen. Nicht blofs der Verfasser sah diese Widersprüche" schon damals, da er noch in Fichtes Schule war, sondern sie sind seitdem von Allen, die FiCHTEn benutzt und die Alten gehörig verglichen haben, gesehen, freylich nicht gehoben, sondern wie wenn sie etwas Vortreffliches und Erhabenes wären, verehrt, von Keinem aber besser als von Hegel ausgebreitet und durch alle Theile der Philo- sophie hindurchgeführt worden. Darum ist Hegels Lehre eine zwar nicht neue, aber merkwürdige und vorzüglich lichtvolle Thatsache; trotz allem Dunkel in Hegels Schriften für Jeden, der etwas Anderes darin sucht, [287] als nur gerade diese Thatsache der in den Erfahrungsbegriffen ge- gebenen Widersprüche.

178. [= 197 d. IL Ausg.] Hegels Satz: was ivirklich, das ist ver- nünftig, und umgekehrt, vermischt schon praktische Ideen und metaphysche Principien. Wenn er aber sogar das Sern mit dem Nichts verbindet, so findet er für die Einheit beider kein näher liegendes Beyspiel, als die Ver- änderung, sammt den ihr zugehörigen Begriffen Anfang und Ende. Und hiemit versetzt er sich in die Mitte der Erfahrung, welche er sogleich als seinen wahren Grund und Boden würde anerkannt haben, wenn ihm nicht die alten idealistischen Verkehrtheiten, und jene falsche Abstractionsweise (174.) anklebten. Von der Veränderung sagt er ganz richtig: „Jeder hat eine Vorstellung „vom Werden, und wird zugeben, dafs es Eine Vorstellung ist; ferner dafs wenn man sie analysirt, die Bestimmung des Seyn aber auch vom schlechthin Andern desselben, dem Nichts, darin enthalten ist; ferner, dafs diese beiden Bestimmungen ungetrennt in dieser einen Vorstellung sind; so dafs Werden somit Einheit des Seyns2 und Nichts ist." Das heifst, setzen wir hinzu, der Widerspruch im Werden ist eben so unleugbar gegeben,

1 „Lehrer" I. Ausg. a

2 „Seyn'; statt „Seyns" II. Ausg.'

U. b SW merken die Abweichung nicht an.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 4. Cap. Vom System der Philosophie im Allgemeinen. 239

als das Werden oder die Veränderung in der Erfahrung jeden Augenblick gegeben wird, und zwar in der innern Erfahrung noch auffallender als in der auf sem, da man ja ganz passend der Veränderlichkeit der Gedanken dieSchnellig- keit des Blitzes vergleicht; hiemit ist gegen die Logik soviel gewonnen, dafs sie das Auftreten des Widerspruchs im Vordergrunde der Philosophie nicht hindern kann, denn sonst mülste sie die Erfahrung zum Stillstande bringen. Aber daraus folgt nicht, dafs die Logik sich dabey beruhigen, oder gar sich der Erfahrung zu gefallen umformen müfste. Sondern die Logik besteht, und die Erfahrung besteht auch. Die Metaphysik aber mufs beiden zugleich entsprechen; und das kann sie mit Hülfe der Psychologie, indem diese letztere dem Ursprünge unserer Erfahrungsbegriffe rückwärts nachgehend [288] (163.) erklärt, wie es zugehe, dafs vermöge der Entstehungs- und Bildungsweise unserer Vorstellungen die Widersprüche, womit ein genaues logisches Denken sie behaftet findet, nicht ausbleiben konnten.

179. [= 198 d. IL Ausg.] Eine solche Psychologie kann aber Hegel nicht gebrauchen, denn er bleibt stehen bey den Widersprüchen; sie sind ihm gerechtfertigt eben dadurch, dafs sie vorhanden sind; der wahre Charakter des Empirismus; obgleich nicht des gemeinen Empirismus, denn dieser sieht gar keine Widersprüche, und gelangt gar nicht bis zu der Frage, ob er sie dulden wolle, oder nicht. Hegel aber damit ja Niemand die Auflösung derselben von ihm begehre erklärt sie (wunderbar genug !) eben dadurch für aufgehoben, dafs er sie starr hinstellt. Er spricht:

„Das Seyn im Werden, als Eins mit dem Nichts, und eben so das Nichts, eins mit dem Seyn, sind nur verschwindende; das Werden fällt durch seinen Widerspruch in sich, in die Einheit, in der beide aufgehoben sind, zusammen; sein Resultat ist somit das Daseyn ! Was allein einen Fortgang im Wissen begründen kann, ist, die Resultate in ihrer Wahrheit vestzuhalten." Es fällt ihm nicht ein, die factische Wahrheit, dafs Widersprüche gegeben sind, (welches aus psychischen Gründen nicht ausbleiben konnte,) zu unter- scheiden von der Wahrheit einer richtigen Erkenntnifs, die erst nach ge- höriger Prüfung darf vestgehalten werden. Sein Verfahren ist ähnlich dem, als wollte Jemand die Aussage eines verdächtigen Zeugen darum glauben, weil das Factum, dafs der Zeuge also ausgesagt hat, wahr ist und vest- gehalten werden mufs. Die Procefsacten werden allerdings die geschehene Aussage vesthalten; ob aber der Richter sein Urtheil derselben gemäfs fällen wird, ist eine andre Frage. Hegel fährt fort: „Das Daseyn ist die Einheit des Seyn und des Nichts, in der die Un- mittelbarkeit dieser Bestimmungen, und damit in ihrer Beziehung ihr Widerspruch verschwunden ist, eine Einheit, in der sie nur noch Momente sind."

Das gerade Gegentheil liegt vor Augen. Man betrachte unmittelbar das Seyn; es enthält keinen Widerspruch. Man betrachte unmittelbar das Nichts; es enthält keinen Widerspruch. Noch war er nicht da; aber nun kommt er: man betrachte die Einheit beider, indem man sie zugleich vermittelst des Begriffs vom Seyn, und vermittelst des Begriffs vom Nichts auffafst: nun ist der Widerspruch noch nicht verschwunden, denn

2 io II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1.

gerade durch die Einheit wird er erst gebildet. Und so hält Hegel ihn vest, eben indem er ihn für schon verschwunden erklärt.

180. [= 19g d. IL Ausg.] Aber ist Hegel nicht auch selbst von der Erfahrung abgewichen? Wer mag das Werden aus dem Seyn und dem Nichts zusammensetzen? Das Nichts ist kein Gegenstand der Erfahrung, sondern ein Begriff. Und wenn dieser Begriff bey Gelegenheit einer be- obachteten Veränderung erzeugt wird: so mufs man ihn sich auf ähnliche Art deutlich machen, wie wenn Tangenten an die krumme Bahn eines bewegten Körpers gezogen werden. Alsdann nämlich zeigen die Tangenten, als verlängerte Richtungen der Bewegung, die Gegenden an, wohin der Körper nicht wirklich fortgeht, obgleich er im Begriff war, dahin zu ge- langen. Nun würde aber aus diesem Nicht und aus dem Dort, wo der Körper so eben noch war, doch die Bewegung nicht können beschrieben werden; sondern er geht anstatt der Tangente in einer andern Richtung fort. So auch die Veränderung. Das Seyn vermählt sich in ihr nicht mit dem Nichts, sondern Etwas wird ein Anderes!

Wer Hegeln nicht kennt, der möchte auf uns die Beschuldigung zurückwerfen, ihn fälschlich des Empirismus angeklagt, und hintennach aus dieser grundlosen Voraussetzung den zweyten Vorwurf, er sey von der Erfahrung abgewichen, erst herausgekünstelt zu haben. Wir müssen also weiter fortgehend ihn begleiten, um zu zeigen, da/s der zweyte Vor- [_2C)o]7üurf gar nicht ernstlich gemeint ist, sondern nur Hegels Verfahren be- merklich machen soll, indem er vom Seyn und vom Nichts zwar in Ab- stractionen geredet, aber den Erfahrungsbegriff der Veränderung von An- fang an im Auge gehabt hat. Er sagt ganz deutlich im §. 95. seiner Encyklopädie :

„Was in der That vorhanden ist, ist, dafs Etwas zu Anderem, und das Andere überhaupt zu Anderem wird." Bezeichnen wir das Etwas und das Andere mit a und b: so können wir seinen Gedanken kurz so ausdrücken : das Eigentlich - Vorhandene ist das Uebergehn des a in b. Dies wird noch deutlicher durch den kurz vorher aufgestellten Satz (§. 93.):

„Etwas wird ein Anderes; aber das Andere ist selbst ein Etwas, also wird es gleichfalls ein Anderes, und so fort ins Unendliche." und unmittelbar zuvor:

„Etwas ist durch seine Qualität erstlich ejidlich, und zweytens veränder- lich, so dafs die Veränderlichkeit seinem Seyn angehört." Nämlich die Qualität a besteht nicht; sondern ihr hängt die Bestimmung an, überzugehn in b. Darum ist das Etwas in seiner Qualität a ein End- liches, weil sie nicht bleiben, sondern dem b Platz machen soll, welches seinerseits auch nicht bleibt, vielmehr dem c, d, u. s. f. weichen mufs. Wie, wird man fragen, kann denn die Qualität a ihr eigne.s Gegen- theil in sich vorbestimmt enthalten? Das wäre so, als ob ein Körper auf seiner krummen Bahn von der Tangente eben deshalb abwiche, weil er sich in ihrer Richtung bewegt hat. Aber gerade im Gegentheil gehört bekanntlich eine anziehende Kraft dazu, die Bahn zu krümmen; und wenn die Kraft fehlt, so krümmt sie sich wirklich nicht.

Der Einwurf ist richtig. Aber es ist ein Beweis des reinen, lauteren,

2. Abschnitt. Methodenlehre. 4. Cap. Vom System der Philosophie im Allgemeinen. 24 1

ungetrübten Empirismus, von solchen anziehenden Kräften, oder, um uns allgemein auszudrücken, von äußern U1 sacken keine Notiz zu nehmen, sondern das [291] Factum aufzufassen wie es liegt. Der Empirist mufs bekennen, dals die anziehende Kraft, wodurch etwa die Sonne jeden Augenblick die Planeten nöthigt, von der Tangente abweichend ihre Bahn zu krümmen, kein Factum ist, sondern eine bequeme Hypothese. In diesem Puncte also bleibt Hegeln der Ruhm eines ungetrübten Empirismus ungeschmälert. Die Erfahrung ergiebt Veränderungen; sie zeigt Pflanzen und Thiere im Wachsthum begriffen; aber wem hat sie auf seine Frage nach den Ursachen, die er hinzudachte und forderte, geantwortet?

Anders verhält sich's mit der Logik. Diese sträubt sich, wenn der Qualität a ihre eigne Verneinung anhängen, und wenn dem Dinge, gerade darum weil es eben jetzt die Qualität a besitzt, die Notwendigkeit in- wohnen soll, nicht mehr a, sondern ein entgegengesetztes b zu werden. Darum wurde schon oben (158.) der Streit zwischen der Logik und der Erfahrung angekündigt. Wäre dieser Streit ersonnen, erdichtet, erkünstelt: so hätte Hegels Lehre keine Bedeutung. Aber er läfst sich nicht hin- wegläugnen, und daraus ergeben sich die Anfangsgründe der Metaphysik. 181. [= 200 d. II. Ausg.] Man dürfte der Philosophie Glück wünschen, wenn die andern, von der Erfahrung aufgegebenen Probleme bey Hegel «ben so klar und rein hervortreten, wie das der Veränderung. Dann hätte jedoch ganz entschieden auf Einheit des Princips müssen verzichtet werden. Die Inhärenz der Merkmale in Einem Dinge, woraus der Begriff der Substanz entsteht (159.), ist von aller Veränderung unabhängig; und wie unabhängig der Begriff, eben so unabhängig giebt ihn die Erfahrung. Weder Schnee noch Eisen, um an die obigen Beyspiele zu erinnern, brauchen zu schmelzen, damit ihre Substanz vermifst und eben im Vermissen voraus- gesetzt werde; die blofse gegenseitige Fremdartigkeit der Merkmale des Schnees reichen dazu hin, und dasselbe gilt vom Eisen und von allen andern Dingen. Das Ich und die Materie befinden sich im nämlichen Falle; Geistiges und Räumliches ent[292]halten ihre eignen Probleme und selbstständigen Anfangspuncte des Denkens.

Hegel dagegen ist auch hier der Repräsentant gar Vieler, die seit Fichte wenig gelernt und wenig vergessen haben. Das Eine Princip, die Veränderung, mufs sich unter seinen Händen durch allerley Abstrac- tionen so lange verändern, bis er von dem Vielen, von dem Idealen, von Repulsion sogar und Attraction das Nöthige hineingekünstelt hat, und ■das gelingt ihm zum Bewundern schnell so weit, dafs man die Spuren der Zielpuncte, die er zu erreichen strebt, bemerken kann; nämlich In- härenz, das Ich, und die Materie.

Ein harmloser Begriff, das Für -sich- seyn, genügt ihm zu dem Allen. Er kommt darauf durch Reflexion über die Veränderung. Bezeichnet die Reihe a, b, c, d, . . . welche nach einander von dem in Veränderung Begriffenen durchlaufen werden soll, die wechselnden Qualitäten: so mag man immerhin mit Hegel sprechen:

„Das, in welches es übergeht, ist ganz dasselbe, was dasjenige, ivelches übergeht; beide haben keine weitere Bestimmung, als nur die eine und gleiche, ein Anderes zu seyn."

16

Herbafi's Weike. IX.

24 2 IL Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

In der That, auf dem Faden der Veränderung gereihet, sind a, b, c, nur die wechselnden Glieder, die als solche unter einerley Begriff ihres Gegen- satzes fallen, und a ist im Verhältnifs zu b, dem Anderen, selbst schon ein Anderes gegen b. Was soll denn daraus folgen?

„Etwas, in seinem Uebergehen in Anderes, geht nur mit sich selbst

zusammen. Was verändert wird, ist das Andre; es wird das Andre

des Andern. So ist das Seyn, aber als Negation der Negation, wieder

hergestellt, und ist das Für -sich -seyn."

Spräche ein Mensch: ich bin Dir ein Andrer, Du aber bist auch für

mich ein Andrer, und eben deshalb bin ich für mich, weil ich der Andre

des Andern bin: so würde man ihn zwar fragen, ob er denn nicht für

sich zu seyn gelernt habe, ohne sich erst Andern entgegen zu stemmen?

Jedoch könnte [293] man seine Rede verstehen, ohne die ungereimte

Voraussetzung zu machen, Er sey eine Veränderung des Andern. Der

Begriff der Veränderung, des Uebergehens, ist hier ganz zufällig.

In Hegels Sinne aber soll das Seyn verneint und wiederhergestellt werden. Das ist schlimm für ihn. Denn wir könnten zwar das Mit-sich- selbst-Zusammengehn wohl einräumen, wenn wir an den Faden der Verände- rung, an das, Gesetz derselben, an das Beharrliche dächten, welches stets sich gleich bleibend der Veränderung zum Grunde liegt; aber dem Ver- änderten gehn bey Hegel die Negationen so durch Mark und Bein, dafs von ihnen das Seyn getroffen wird, dergestalt, dafs man bald meinen möchte, es gebe bey ihm gar kein Beharrliches. Wiewohl er nun dieses letztere schwerlich aufgeben möchte, so mufs er doch nicht verlangen, dafs, wenn er es nicht ausdrücklich als das wahre Substrat absondert, wir ihm noch irgend ein Selbst, eine Identität, vollends ein Zusammengehn mit sich selbst, einräumen sollten.

•' Das veraltete Substrat jedoch, an welchem in der altern Metaphysik die Veränderungen so geschickt vorübergleiten, dafs sie es nicht im min- desten beschädigen, jetzt noch zu vertheidigen, wäre vergeblich.1 Soll es einmal in vollem Ernste eine Veränderung geben, so mufs sie den Dingen an die Wurzel gehn. Immerhin also mag die Veränderung sie zerstören; immerhin mag Zerstörung der Zerstörung für Wiederherstellung gelten. Also wenn das Getödtete in neuer Gestalt wieder auflebt, mag es noch Dasselbe seyn, wie zuvor: was gewinnen wir mit dem Allen?

„Das Fürsichseyende, oder das Eins, ist das in sich Unterschiedslose ; und damit das Andere aus sich Ausschliefsende." Das möchte hingehn. Aber hieraus entsteht nun sogleich weiter:

„Unterscheidung des Eins von sich selbst; Repulsion des Eins, das ist: Setzen vieler Eins. Die Vielen sind aber [294] das Eine was das Andere ist; jedes ist Eins, oder auch Eins der Vielen; sie sind daher Eins und dasselbe. Oder die Repulsion an sich selbst betrachtet, so ist sie als negatives Verhalten der vielen Eins gegen einander eben so wesent- lich ihre Beziehung auf einander; und da diejenigen, auf welche sich das Eins in seinem Repelliren bezieht, Eins sind, so bezieht es sich in ihnen

1 Zu dem Worte: „vergeblich" hat die II. Ausg. folgende Anmerkung: Man halte diesen Punct vest, wenn man zur wahren Metaphysik gelangen will.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 4. Cap. Vom System der Philosophie im Allgemeinen 243

auf sich selbst. Die Repulsion ist daher eben so wesentlich Attraction ; und das ausschliefsende Eins oder das Fürsichsevn hebt sich auf." Nun sehen wir das Ziel. Und damit man ja nicht etwa die Ausdrücke Attraction und Repulsion als blols bildlich verstehe, so ist ausdrücklich sogleich von der Atomistik, ja von der Physik und ihren Moleculen 1 die Rede. Also von der Materie! Kann so schnell die Materie ausgestrahlt und zusammengezogen werden, so wird man nach solcher Schöpfung aus Nichts doch nicht mehr über die Inhärenz der vielen Merkmale in Einem Dinge in Zweifel und Verlegenheit gerathen !

182. [= 201 d. II. Ausg.] Hegels Abstractionen, denen immerfort die Veränderung zum Grunde liegt, bringen es zwar an dieser Stelle noch nicht bis zum Ich, aber doch bis zu einer Spur, die dahin führen kann; nämlich bis zum Ideellen. Was ist denn das Ideelle? Ohne Zweifel ein Bild, oder ein Bildliches; die Erklärung des Bildes aber besteht darin, dafs es dem Originale in Allem gleiche, nur nicht dessen Realität besitze. Soll demnach ein Bild vorhanden seyn, so bedarf es eines zweyten Realen, eines Trägers, wäre derselbe auch nur ein Stück Papier oder Leinwand, worauf es gemalt sey. Mit einer blofsen Negation irgend eines Realen, gleichviel wie und unter welchen Bestimmungen, hat man noch lange kein Bild. Wie wird denn Hegel dahin gelangen?

„Etwas, in seinem Uebergehen in Anderes, geht nur mit sich selbst zusammen; und diese Beziehung im Uebergehen, und im Andern auf sich selbst, ist die wahrhafte Unendlichkeit. Das wahre Unendliche erhält sich; es ist das Affir[2 95]mative, und nur das Endliche ist das Aufgehobene, das Ideelle. Im Für - sich - seyn ist die Bestimmung der Idealität eingetreten. Das Daseyn zunächst nur nach seinem Seyn oder seiner Affirmation aufgefafst, hat Realität; somit ist auch die End- lichkeit zunächst in der Bestimmung der Realität. Aber die Wahrheit des Endlichen ist vielmehr seine Indealität. Eben so ist auch das Verstandes-Unendliche, welches, neben das Endliche gestellt, selbst nur Eins der beiden Endlichen ist, ein unwahres, ein ideelles." Wir zweifeln nicht einen Augenblick, dafs das Wahre sich erhalte, und wollen diesmal nicht darüber streiten, in welchem Sinne es sich ver- theidigen lasse, wenn das Ständige, Wahre, ein Unendliches genannt wird. Aber dafs die Idealität in der Nichtigkeit des Endlichen gesucht werde, können wir in keinem denkbaren Sinne hingehn lassen. Sey das Ideale auch nur das schlechteste aller Bilder, so mufs doch ein wirkliches Ge- schehen sich ereignen, damit auch nur ein Solches zu Stande komme. Und wo bleibt das Original? Vermuthlich ist dies in Rauch und Feuer aufo-eo-ansren ; denn wir haben weiter nichts vernommen, als blofs dies, das Endliche sey aufgehoben; und die Kraft dieser Negation sey so stark, dafs, selbst wenn das Unendliche als ein Unwahres betrachtet werde, nun der Ausdruck Ideell das rechte Wort dafür sey. Ein falsches Wort scheint die Täuschung vermittelt zu haben. Von dem Ich mag wohl Jemand (nämlich Fichte) gesagt haben: es sey für Sich. Also brauchte

1 „ihren Molekeln" II. Ausg.*

* SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

16*

244 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

nur irgend eine Veranlassung benutzt zu werden, um, gleichviel in welchem Sinne, das Wort Fürsichseyn herbeyzuziehn, so genügte dies an sich un- schuldige, aber auch sehr unbestimmte Wort, um verdeckterweise die Ich- heit, hiemit aber das Vorstellen, Denken, die Idealität zu gewinnen. Ein leichter Kunstgriff, um der Psychologie eine ihrer mühsamsten Unter- suchungen zu sparen! Aber das „in sich Unterschiedslose" Fürsichseyn ist sicher kein Ich, sondern dessen deutliches Gegentheil. [296]

£g2 r= 202 d. II. Ausg.] Wir müssen hier abbrechen; denn wir könnten sonst kaum vermeiden, auch noch der Art und Weise zu erwähnen, wie Hegel in den1 nämlichen Knoten, worin bey ihm die vier Haupt- probleme der Metaphysik sich verwickeln, die Grundbegriffe der Sittlichkeit und Religion hineingeschlungen hat. Davon liegt die eigentliche Schuld nicht an ihm, sie ist weit älter; allein es ist hier nicht nöthig, ihr nachzuforschen.* Geht man nicht gänzlich aus dieser Weise des Philosophirens heraus: so wird es Niemand leicht besser machen als Hegel; wohl abei viel schlechter. Denn vergleichungsweise ist seine Präcision zu rühmen, wäh- rend bey Andern der Schwulst alles Nachdenken erstickt.

Das Resultat dieses Capitels ist, dafs ein System der Philosophie im Allgemeinen, wovon etwa Logik, Aesthetik, Metaphysik, vollends Psychologie und Naturphilosophie, nur Anwendungen und besondere Richtungen wären, keine andre als eine historische Existenz besitzt, die Niemandem 2 befremden sollte, dem nicht die Geschichte der Philosophie fremd ist. Aber die Geschichte ist keine Auctorität für ein speculatives System. Dafs man in allen Theilen der Philosophie von Grund und Folge reden kann, haben wir erinnert (174.)- Aber nicht alle Folgen sind Wirkungen; nicht alle Gründe sind Ursachen; den Widerspruch, welcher in der Veränderung liegt, läfst die Logik nicht gelten, die Aesthetik läfst sich auf ihn gar nicht ein; vollends unerlaubt wäre es, ihn der Sittenlehre aufzudringen, die sammt der Religionslehre von Zweifeln und verworrenen Speculationen möglichst rein erhalten werden mufs, wenn es der Philosophie Ernst ist, den Dank der Menschen verdienen zu wollen.

[297] Fünftes Capitel. Von der allgemeinen Metaphysik.

Grau, theurer Freund, ist alle Theorie, Und grün des Lebens goldner Baum.

184. [= 203 d. II. Ausg.] Folgsam dem Spruche des Dichters, haben wir vorhin (123 u. s. w.) versucht, ohne Metaphysik vom Leben

* Uebrigens ist Hegels Lehre um desto merkwürdiger, weil sie gleichsam auf der Spitze der älteren Systeme schwebt. Wer sich durch sie befremdet iindet, der hat von der Geschichte der Metaphysik wohl schwerlich viel begriffen. Hegels Wider- sprüche sind die alten Probleme.

1 „dem" IL Ausg.a

- „Niemanden" SW.

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der 1. Ausg.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 5. Capitel. Von der allgemeinen Metaphysik. 245

zu reden. Man wird nun freylich nicht verlangen, dafs in einer Ency- ldopädie, vollends in einer kurzen, die goldnen Bäume grünen sollen; aber es wäre auch zuviel verlangt, dafs man jener kurzen Darstellung aufs Wort glauben solle. Ungern zwar mögen wir den Leser mit noch mehr Meta- physik beschweren, als schon geschehn ist; dennoch sind wenigstens einige nähere Hinweisungen auf diese unentbehrliche Grundlage jener Darstellung vonnöten, um das Versprechen des Titels zu lösen.

Und in der That, ein bischen Gewöhnung reicht hin, um das Grauen vor der Metaphysik zu überwinden. Wir sehen ja, dafs Menschen sich gewöhnen können, mit wilden Tieren umherzuziehn, und aus deren Fütte- rung und Wartung sich das Geschaßt ihres Lebens für niedern Lohn zu machen. Gesetzt nun auch, die metaphysischen Probleme hätten das An- sehn wilder Bestien: so wird doch wohl irgendwo in diesem Buche Ge- legenheit gewesen seyn, einen ziemlich hohen Lohn vorauszusehn, falls Jemand Geduld hätte, sie zu zähmen; oder, mit andern Worten, sich durch die Schwierigkeiten einen Weg zu bahnen, und die Lehren von der geistigen Regsamkeit, vom Leben, von der Materie, von der Seele, zu prüfen, und zuvor genau zu verstehen.

iUra dem Leser nicht zuviel Mühe mit dem Aufsuchen und Zu- sammenstellen dessen, was über die metaphysischen Probleme schon vorkam, zu verursachen, müssen wir auf eine leichtfafsliche Form denken, in welche das Frühere sich bringen und einiges Neue sich hinzufügen läfst. Die einfache Reihe

a, b, c, d, e, . . . . kann erinnern an Hegels Begriffe vom Seyn, Daseyn, Fürsichseyn. Allein damit ist noch nicht viel gewonnen. Natur und Geist sollen erklärt werden. Die Er- scheinungen derselben laufen aber nicht gerade fort. Vielmehr: »es geschieht nichts Neues unter der Sonne.« Die Erscheinungen kehren wieder; man schreibt ihnen einen Kreislauf zu. Versuchen wir einmal folgende Reihen :

1 Der folgende Abschnitt: »Um dem Leser nicht zuviel Mühe mit dem Aufsuchen« bis zum Schlufse des § 184 fehlen in der II. Ausg., die dafür folgenden Wortlaut hat:

204. Ob man von Hegeln oder vom alten Heraklit den Wider- spruch des Flie/sens und Uebergehens annehme, ist im Wesentlichen einer- lei; auch das Fichte sehe Ich und der Reinhold ische Strudel, in welchem sich Subject, Object, Vorstellung herumdrehen, ist davon nicht frey. In- dessen fühlten Reinhold und Fichte wenigstens, dafs die offenbare und unmittelbare Beziehung zwischen Subject und Object nicht genüge; sie suchten diese Beziehung zu ergänzen durch mittelbare Beziehungspuncte, indem Reinhold dieMannigfaltigkeit des Stoffs und die Einheit der Form (185.) zur Hülfe rief; und indem Fichte seinem Ich auftrug, sich ein Nicht-Ich zu setzen, und eine Wirksamkeit gegen dasselbe sich zuzuschreiben. Darin sollten Bedingungen des Selbstbewufstseyns liegen. Wären diese Lehren richtig, so läge darin eine KANTische Synthesis a priori. Solche Synthesen können aber nicht errathen werden, sondern man soll methodisch danach suchen.2

2 Hier schliefst sich in der II. Ausg der Inhalt von 185 (s. S. 247 248) an, und zwar als Fortsetzung von 204.

A u. s. w.

246 II. Kurze Encyldopädie der Philosophie. 183 1.

a, b, c, d, . . . a, b, c, d, . . . a, b, c, d, . . . oder a, b, c, d, . . . d, c, b, a, . . . b, c, d, . . . d, c . . , Sollte die erste von beiden brauchbar seyn: so müfste man Rechenschaft geben auf die Frage : wann, und warum vielmehr dort, als früher oder später, das Anfangsglied wieder eintrete ? Wie es zugehe, dafs durch einen Sprung die bis dahin gerade fortlaufende Veränderung plötzlich von vorn an beginne? Die erste nun wird Niemand wählen, schon weil sie dem aus der Erfahrung bekannten Gange der Dinge gar zu unähnlich ist. Aber die zweyte Reihe, wenn sie auch weniger ungeschickt aussieht, da sie sich gleichsam pendeiförmig bewegt, setzt doch in dieselbe Verlegen- heit. Wann und weshalb kehrt sie um?

Noch mehr. Man will nicht blofs die Veränderung, sondern auch die Inhärenz erklären. Ein Ding zeigt viele Merkmale; jedes derselben ist veränderlich. Giebt man vollends den neuern Systemen nach, die Alles aus Einem Punkte ableiten wollen, so kann man die Spaltungen nicht weit genug treiben, um der Mannigfaltigkeit der Natur nach-[2g9] zukommen. Zur Andeutung dessen könnte folgendes Schema dienen :

b, c, d, . . . d, c, b,

B, C, D, . . . D, C, B,

ß, y, Ö, ... d, y, 1% Das soll heifsen : A verändert sich nicht blofs einfach, sondern es spaltet sich zugleich in Vieles. Man wird nun leicht in Gedanken das Schema berichtigen. Nämlich jedes der Glieder b, B, /?, sollte sich wiederum spalten, und so fort; bis allmählig rückkehrend die Spaltung sich zu- sammenzöge, um, nachdem sie wiederum den Anfangspunct erreicht hätte, den nämlichen Procefs von neuem zu beginnen. Diese Reihe wird an- wendbarer scheinen als die vorige ; allein sie führt auf neue, gröfsere Schwierigkeiten. Beym Rückblick auf die erste, ganz einfache Reihe a, b, c, d, . . . dachte man sich b als das verwandelte a; desgleichen c als das verwandelte b, u. s. w. ; demnach blieb in allen Gliedern eigent- lich a stehen als das Verwandelte. Oder man konnte auch als solches eben so gut b betrachten, oder c, oder d, und so fort; wenn man näm- lich einmal über den Widerspruch in der Verwandlung die Augen zu- drückt, und mit Hegel spricht: Etzuas, in seinem Uebergehn in Anderes, geht nur mit sich selbst zusammen. Hingegen wenn nach dem letztern Schema die Spaltung zugelassen wird: alsdann verwandelt sich A zugleich in b, B, ß; folglich ist nun rueder b, noch B, noch jÜ, der richtige Stellvertreter des A. Die Vielheit ist Schein, und entgegengesetzt der Einheit, als dem Wahren.*') Und nun erfordert das Gesetz der fernem Spaltung, dafs der Schein iviederum scheitle, dafs also die Unwahrheit auf eine immer höhere Potenz steige, bis das Gesetz der Rückkehr, welches es auch seyn möge, vom Maximum der Unwahrheit durch allmählige Verdichtung der- selben eine Annäherung an die Wahr[30o]heit, ja endlich die Wahr- heit selbst wieder aus dem aufgehobenen Schein hervorzaubere.

Würde eine solche Lehre etwa Beyfall finden? Selbst Spinoza, Hegels und Schellings Vorgänger und beynahe ihr Lehrer, wollte nicht,

* Man halte dies vest, und vergleiche damit unten § 206 am Ende.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 5. Capitel. Von der allgemeinen Metaphysik. 247

dafs die wahre Substanz verdunste und sich aus dem Dunste wiederher- stelle; und es ist sehr zu bezweifeln, ob die doppelte Negation, wodurch Hegel das Seyn sich wiederherstellen läfst, seinen Beyfall gewinnen würde. Diese doppelte Negation hat einen andern Platz, wohin sie gehört. Spinoza half sich ohne sie durch den Ausdruck quatenus, der bey ihm unaufhörlich wiederkehrt. Inwiefern die Substanz unter diesem oder jenem Attribute betrachtet wird, soll sie nach ihm solches oder anderes Endliche in sich enthalten. In der That darf das Wahre nie verloren gehn. Die Einheit mufs erhalten bleiben mitten in der Vielheit; die Gleichheit mitten in der Ungleichheit. Wir wollen nun suchen, auch dieses in einem neuen Schema anschaulich zu machen. Vielleicht trägt das etwas bey, um die Gewalt der Täuschung, welche in diesen Vor- stellungsarten überall herrscht, zu brechen.

Das Eine soll niemals aufhören, Eins zu seyn, obgleich es sich spaltet, verändert, wiederherstellt. Wie anders können wir das ausdrücken, als so :

b, c, d, ... d, c, b,

A, A, A, . . . A, A, A,

B, C, D, . . . D, C, B,

. ß, y, tV, . . . tV, y, ,i,

Unglücklicherweise fällt nun das Anfangsglied A, als ob es ein Glied wäre wie die andern, es fällt das Wahre mit dem Falschen in die senk- rechten Reihen b, A, B, /?, oder c, A, C, y, oder d, A, D, tV, zusammen. Hier wird uns Hegel an seine Verstandes-Unendlichkeit erinnern. Allein man hebe A in Gedanken so hoch man will: der Grundfehler war be- gangen, indem man es für den Anfangspunkt einer Reihe, ja sogar das Uebergehen für die Idee selbst, [30 1] erklärte. Diesen Fehler aber konnte man nicht vermeiden, indem man einmal nach dem Ursprünge der Reihe und der Vielheit suchte. Man sprach, wo Spinoza klüglich schweigt.*

In der That ist es mit dem Uebergehn des Andern in Anderes wohl schwerlich rechter Ernst. Die Spaltung gleicht vielmehr einer Multi- plication von Spiegelbildern ohne Wahrheit, wobey der sich abspiegelnde Gegenstand durch die vielen Bilder nichts verliert, nichts veräufsert. Einen solchen geht freylich das Spiegeln eigentlich nichts an; denn - es rührt daher, dafs aufser ihm, unabhängig von ihm, nun gerade Spiegel vor- handen sind, nach denen man die Systeme nicht fragen mufs. Die Be- hauptungen : Etwas werde ein Anderes, und das Nichts sey Eins mit dem Seyn, werden sich mit der Zeit schon mildern. Wo nicht : so können sie die ohnehin notwendige Fortschreitung der Philosophie nur beschleunigen.

185.1 Inhärenz (das Gegenstück der Spaltung),2 Veränderung, und

* An Worten fehlt's nicht. Z. B. „Seyn ist eine höhere Abstraction, als Werden. Bey der Idee ist der Standpunkt des Werden längst verschwunden. Die stete Ver- nichtung des Endlichen ist das Setzen desselben als eines Negativen. Es ist das Un- endliche, welches sich verendlicht, oder vielmehr verwirklicht;" u. dgl. mehr. Wer uns zumuthen möchte, über alle diese Worte noch Worte zu machen, der würde seine Worte verlieren.

2 Die eingeklammerten Worte: „das Gegenstück der Spaltung" fehlen in

der II. Ausg.

1 Vgl. Anmerkung 2 auf S. 245.

248 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

Erscheinung (für uns) sind einmal in der Erfahrung gegeben; und nur für den Erfahrungskreis bearbeitet die Metaphysik diese Begriffe.* Hat man l nun etwa auf Veranlassung des Vorstehenden, sich hinreichend be- sonnen, dafs keine Wendung des Denkens im Stande ist, das Viele auf Eins zurückzuführen: so ist die kurze Vorschrift, welche der Verfasser anderwärts Methode der Beziehmgen [302] genannt hat, hier kaum nöthig; indessen scheint die Ueberschrift : Methodenlehre, sie zu fordern, und ihr Wesentliches kann mit kurzen Worten so ausgesprochen werden:

Wenn Euch aufgegeben ist, Eins zu setzen, das Ihr eben so wenig ein- fach setzen als wegwerfen könnt: so setzet es vielfach. Alsdann aber hütet Euch, das Viele zu vereinzeln; denn dadurch würde die vorige Schwierigkeit zurückkehren. Sondern begreift, dafs von dem Vielen, sofern es in gegenseitiger Verbindung steht, möglicherweise etwas gelten kann, welches von dem Einzelnen ungereimt seyn würde.

Von dieser Formel, die gleich de?i logischen Regeln mit Ueberlegung in jedem einzelnen Falle angewandt, und zu diesem Behufe mit neuen Kunstgriffen des Denkens ausgerüstet werden mufs, braucht man hier nicht mehr zu verstehen, als nur das einzige, dafs in ihr von einem Vielen aufserhalb aller Verknüpfung gar nicht die Rede ist, sondern die Ver- einzelung durch sie untersagt wird. So fordert es der Zusammenhang der Natur, der uns weder blofse Einheit, noch blofse Vielheit zeigt.**

In Beziehung auf die gegebenen Widersprüche ist zu merken, dafs, noch ehe jene Formel bey ihnen angebracht wird, ihre logische Auseinander- setzung schon geschehen seyn mufs; alsdann nämlich zerfallen die Wider- sprüche in mehrere Glieder. Jeder einzelne Widerspruch als solcher hat deren zwey. Davon ist Eins gemeint in den obigen Worten: Wenn auf- gegeben ist, Eins zu setzen, das man nicht ein/ach setzen, und auch nicht wegzverfen kann, so setze man es vielfach.

[303] Statt aller weitern Erläuterung nur eine Frage: Meint man, die Erfahrung unterrichte uns zu reichlich, oder zu sparsam ? Sie gebe zu viel, oder zu wenig? Die Natur scheine mehr als sie ist? Oder sie verhülle das Meiste, und zeige uns nur Bruchstücke?

Giebt die Erfahrung zu viel: so haben diejenigen etwas für sich, welche das Viele vermindern, und wo möglich auf eine verborgene Ein- heit zurückführen möchten. Giebt die Erfahrung zu wenig für eine zu- längliche Erkenntnifs, dann wird man den anscheinenden Widersprüchen mit Recht durch eine Multiplication abzuhelfen suchen.

Doch es ist kaum passend, die Methode der Beziehungen durch so unbestimmte Bemerkungen bestätigen zu wollen. Sie bedarf deren nicht.

* Man bemerke wohl, dafs in diesen allgemeinen Formen die Erfahrung sich zu allen Zeiten gleich bleibt. Daher konnte Metaphysik schon bey den Alten vorkommen. Hingegen ihre Naturphilosophie war falsch ; es fehlten ihnen dazu die neuern Ent- deckungen ; also mindestens der Prüfstein.

1 Die folgenden Worte: „nun etwa auf Veranlassung des Vorstehenden," fehlen in der II. Ausg.

Scheu vor atomistischer Vereinzelung war vielleicht das stärkste treibende Princip bey Schelling. Hätte man früher bemerkt, wie sie zu vermeiden ist (Metaphysik § 212.), so würden schwerlich grofse Denker sich in "Widersprüche, die nur Durchgangs- punete sind, eingesperrt haben, als wären es Gefängnisse.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 5. Capitel. Von der allgemeinen Metaphysik. 240

186. [= 205 d. II. Ausg.] Indem die Methode zuerst das Problem der Inhärenz ergreift (157.): erweitert und berichtigt sie schon hier den Begriff der Causalität, durch welchen der gemeine Verstand sich die Ver- änderung erklärt, und die Auffassung derselben zu verbessern beginnt, jedoch ohne damit zu Stande zu kommen. Denn gewöhnlich wird ein Thätiges dem Leidenden entgegengesetzt; eine Vorstellungsart, die nicht eher als in der Psychologie ihre Stelle findet *, und die uns eigentlich erst bey unsern Anstrengungen zum Handeln geläufig wird.** Chemie und Mechanik da- gegen kennen nur die sogenannte Wechselwirkung; diese aber kommt dem wahren, ursprünglichen Causalbegriffe, wie ihn die Metaphysik zuerst findet, ehe er weiter bestimmt wird, am nächsten.*** Eben dieses Begriffs bedarf die Psychologie da, wo sie vom Entstehen der Vorstellungen in der Seele Rechenschaft giebt. f Hievon sehr verschieden ist die Causalität der Vorstellungen unter einander, wenn sie sich ins Gleichgewicht setzen ff, [304] und kaum eine Aehnlichkeit damit haben die blofs scheinbaren Kräfte der Attraction und Repulsion in der Materie (135.). Man mag aus diesen Unterscheidungen wenigstens obenhin entnehmen, wieviel Arbeit die Metaphysik hat, um die Mannigfaltigkeit der Causalbegriffe zu entwirren, und jeden an seinem rechten Orte gehörig zu bestimmen. Wäre nicht hier ein Gedränge von Vorurtheilen, so würden die sämmtlichen Naturerscheinungen weit weniger befremden. Und hätten die Philosophen den Physikern Ge- hör gegeben: so hätten sie wenigstens manche von diesen Vorurtheilen leichter hinwegräumen können. Aber die Irrthümer des Idealismus hatten hier alle Wege versperrt; und wohl niemals ist mehr zur Unzeit ein Triumphlied gesungen worden, als zu Kants Zeit, da man meinte, nach Berichtigung der HuME'schen Zweifel sey nun endlich der wahre Gebrauch des Causalbegriffs gefunden, als einer Kategorie, die nicht blofs, als ob sie auf alle vorkommenden Fälle pafste, ein für allemal fertig und vest- gestellt, sondern auf eine Regel der Zeitfolge in den Begebenheiten be- schränkt sey.ftt

Solchen Lesern, welchen an ernstlichem Studium der Philosophie ge- legen ist, mufs das Nachschlagen der hier angeführten Stellen, (deren Er- läuterung ein genaues Zurückgehn bis auf die letzten Gründe erfordern würde,) und die Sorge, sich vor Verwechselungen zu hüten, lediglich an- heim gestellt werden. Zu vergleichen sind noch die Hauptarten physio- logischer Erklärung. *f Die Frage wegen der Succession der Weltbegeben- heiten, und wegen des für nöthig erachteten regressus in infinitum zur Erklärung des Späteren aus dem Früheren, gehört ebenfalls in diesen Kreis von Vergleichungen.**f

* Metaphysik II. § 330; [= Bd. VIII vorl. Ausg.] und Psychologie I. § 87. [= Bd. V vorl. Ausg.]

** Psychologie II. § 150. [= Bd. VI vorl. Ausg.] *** Metaphysik II. § 213 237. f Ebendas. II. § 313. jf Psychologie I. § 41 etc. fff Psychologie II. § 142. *f Ebendas. § 156.

**\ Metaphysik II. § 299. Der Regressus in infinitum, wenn man dadurch Weis- heit zu erlangen meint, ist bare Thorheit. Unsre gegenwärtige Erfahrung giebt uns zu denken und zu handeln. Was uns nicht gegeben ist, können wir auch nicht be- denken; und Grübeln heifst nicht Denken.

2. SO

II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1.

[305] 187. [= 206 d. IL Ausg.] Das Problem von der Materie kann nicht nach der Methode der Beziehungen behandelt werden. Es weicht von den andern Problemen dadurch ab, dafs in ihm der Raum- begriff eine Hauptbestimmung ausmacht. Nun ist der Raum ein leeres Nichts; und wiewohl es bey ihm an Widersprüchen nicht fehlt, (unter welchen die im Begriff der Bewegung die bekanntesten, aber nicht die einzigen sind,) so ist man doch nicht berechtigt, irgend etwas an diesen Widersprüchen zu verändern. Denn die Berechtigung, wo sie Statt findet, geht allemal von dem Ansprüche aus, welchen das Gegebene macht, ein Reales wo nicht seiner Beschaffenheit nach darzustellen, so doch als seyend anzuzeigen. Diese Berechtigung pafst weder auf den Raum, noch auf die Zeit, noch auf Bewegung als solche.

Damit das Problem von der Materie nach richtiger Methode be- handelt werde, mufs das wahre und ursprüngliche Causalverhältnifs schon aus den vereinigten Untersuchungen über Inhärenz und Causalität be- kannt seyn. Ein blofs räumliches Reales ist nicht nur schlechthin unge- reimt, (weil Aeufserlichkeit, oder Raumbestimmung gar kein Prädicat des Realen seiner Qualität nach, seyn kann,) sondern solches Ungereimte, wie man sich- etwa einen blofsen Stoff denkt, der schon im Räume vor- handen sey, bevor er eine Qualität hat, wird in der That niemals und nirgends in der Erfahrung angetroffen; vielmehr zeigt jede Materie von Kräften wenigstens einen Schein (mindestens Anziehung oder Abstofsung), und deutet damit auf eine verborgene wahre Causalität.

Hier aber ist im Vorbeygehn zu bemerken, dals der unrichtige Be- griff des blofsen Stoffes dennoch dem gemeinen Verstände nicht ganz darf genommen werden. Denn die sinnlichen Dinge, mit ihren erfahrungs- mäfsig bekannten Eigenschaften, um derentwillen nach ihren Substanzen gefragt wird (159.), entstehen allerdings aus Elementen, die man deshalb Stoffe nennt, weil ihre unbekannte, wahre Qualität in dem Kreise der sogenannten Eigenschaften gar nicht vorkommt, mithin anscheinend nicht vorhanden ist. Erst aus der Verbindung [306] solcher oder anderer Elemente entspringen die sinnlichen Merkmale, deren Summe die scheinbare Qualität ausmacht; ein Satz, den man aus der Chemie wissen würde, wenn ihn die Metaphysik nicht lehrte. Ein sehr schlechtes Verdienst aber haben sich diejenigen erworben, welche den rohen Begriff der Veränderung in die Chemie hineintragend behaupten, bey der Neutralisation entgegengesetzter Stoffe entstünde eine wahre Einheit, worin das Viele zusammenginge. Gerade umgekehrt! in der chemischen Verbindung beharrt jeder Stoff als das, was er ist; wovon das beharrliche Gewicht und die genaue Reduction auch Demjenigen Zeugnifs ablegen, der die Begriffe nicht vestzuhalten versteht.

Aufser den vorgängigen Untersuchungen über die Causalität erfordert aber die Materie noch ausführliche Entwickelung und selbst Berichtigung der Raumbegriffe. An diesem Orte bleibt hier, in der Encyklopädie, eine sehr weite Lücke offen, und sogar eine zwiefache. Denn vom Räume gilt, was von der Substanz oben gesagt worden: eine richtige Ansicht davon wird nur dadurch gewonnen, dafs man die beiden Fragen : wie ist die in uns vorhandene Vorstellung entstanden? und: wie mufs die vorhandene Vorstellung nun weiter ausgebildet und gebtaucht werden? von einander

2. Abschnitt. Methodenlehre. 5. Capitel. Von der allgemeinen Metaphysik. 2 5 I

trennt. Jene Frage gehört der Psychologie; diese der Metaphysik. Der Grundfehler der KANTischen Vernunftkritik war, beide Fragen zu ver- mengen, und eben deswegen keine von beiden zu beantworten. Das war aber auch bey dem damaligen Zustande sowohl der Psychologie als der Metaphysik nicht anders zu erwarten. Die Späteren wufsten vollends von Mathematik meistens noch weniger als Kant; darum meinten sie auf Kants Behauptungen fufsen zu können; und hielten das, was Kant unter dem Namen transfcendentale Aesthetik vorgetragen hatte, für abgemachte Sachen. Es wird zweckmäfsig seyn, diese historischen Bemerkungen noch um etwas zu verlängern, bevor wir das vierte Problem, das Ich, berühren.

[307] 188. [= 207 d. IL Ausg.] Kants Lehren vom Räume hatten eine doppelte Wirkung. Nur erst die spätere Wirkung traf die Materie, nnd hiemit die Naturphilosophie, welche dadurch zwar in Gang gesetzt, aber zugleich auf eine falsche Bahn geleitet wurde. Weit voran ging eine andre, frühere Wirkung, die mit dem Namen transfcendentaler Idealismus bezeichnet ist. Der Satz: wir kennen nicht die Dinge an sich, sondern wissen nur von ihnen, sofern sie erscheinen, 1 war der Kern dieses Idealismus. Bewiesen sollte er zuerst und vornehmlich dadurch werden, dafs die uns bekannten Erfahrungsgegenstände an die Formen des Raumes und der Zeit gebunden sind. So wurde einem wahren Satze ein Fundament untergelegt, das nur eine halbe Wahrheit hat. Man schlofs nämlich so: Raum und Zeit werden nicht empfunden; also sind sie nicht durch die Erfahrung gegeben, sondern hineintragen. Hiemit bekommen die Dinge einen Stempel, der nur für unsern Gebrauch gilt; sie sind Erscheinungen. Auf Dinge an sich darf dieser Stempel, welcher das Gesetz unsrer Sinnlichkeit ausmacht, nicht übertragen werden.

Wahr ist, dafs Raum und Zeit nicht empfunden, also auch nicht unmittelbar durch die Empfindung gegeben werden. Sie sind aber dennoch mittelbar gegeben, sonst könnte man die Gestalten der Dinge nicht durch Beobachtung bestimmen. Wie sie können mittelbar gegeben werden, wufste man nicht; man hätte aber sogleich in der KANTischen Periode danach fragen sollen.

Ferner: im sinnlichen Anschauen fassen wir, unbewufst warum und wie? die Dinge räumlich und zeitlich auf. Gesetzt, Raum und Zeit seyen von uns in die Erscheinung hineingetragen: folgt denn daraus, dafs wir das Hineingetragene bey gewonnenem Bewufstseyn nunmehr zurücknehmen müfsten? Der Schlufs ist ungefähr so beschaffen, als wenn ein Künstler mit einer Genialität, die er selbst nicht begreift, ein Werk schafft; und nun, nachdem er auf sich und sein Produciren hintennach refiectirte, sagen wollte : dies Werk bezeich[3o8]net nur mein Thun und Streben; also hat es an sich keinen Werth, sondern mufs zurückgenommen und zerstört werden.

Unsre unwillkührlichen, räumlichen Gestaltungen der Dinge sind solche Kunstwerke. Zwar findet sich bey genauer Untersuchung soviel wahr, dafs wir die Raumbestimmungen, und was ihnen ähnlich ist, nicht

1 „sie erscheinen" nicht gesperrt in der II. Ausgabe.1

» SW drucken nach der I. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der II. Ausg.

252 IL Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

in die ursprüngliche Qualität jedes Einzelnen unter den Dingen an sich, hinein denken dürfen. Aber unser Denken des Einzelnen führt zu Nichts. Die Dinge an sich müssen zusammengefafst werden, wenn man die Er- fahrung begreifen will. Und nun findet sich weiter, dafs unvermeidlich das zusammenfassende Denken, unabhängig von aller Sinnlichkeit, die nämliche räumliche Form von neuem annimmt, und nach bestimmten Regeln auf das Zusammen der Dinge übertragen mufs; mit vollem Be- wufstseyn dessen, was und wie man im Denken thut und verfährt. Daher in der Metaphysik die Lehre vom intelligibeln Räume.

Die Spätem nach Kant wufsten so wenig wie er vom intelligibeln Räume. Sie fühlten richtig, Kant habe sie zu eng beschränkt; aber ihr Drängen gegen diese Schranken war revolutionär; es brachte Verlust statt Gewinn. Noch heute begreifen sie die Frage nicht: Wie kommen die räu?nliche7i Ausdrücke: U?)ifang, Inhalt, Gegenstand, Gegensatz, Subject, Substanz, u. s. w. in Logik und Metaphysik hinein? Und zwar dergestalt, dafs man diesen, scheinbar metaphorischen Ausdrücken ihren Platz lassen mufs ; ohne durch andre, eigentliche Redensarten die vermeinten Metaphern ersetzen zu können?

Diese1 Frage klingt den heutigen Schulen so, wie dem gemeinen Manne die Frage: wie kommt's, dafs der Stein zur Erde fällt? Darauf antwortet er: je nun, der Stein ist schwer. Dafs man nach dem Ur- sprünge der Schwere fragen könne, fällt ihm nicht ein. Er ist gewohnt, den Stein fallen zu sehn; das genügt ihm.

So genügt unsern Logikern die Gewohnheit, vom Umfange und In- halte der Begriffe zu reden; obgleich ihre Sinne solchen Umfang, solchen Inhalt niemals geschauet haben.

[309] 189. [= 208 d. IL Ausg.] Eben so genügte in früherer Zeit das Selbstbewufstseyn, um vom Ich zu reden, als ob darüber keine weitere Frage möglich wäre. Aber hier brachte der transfcendentale Idealismus Kants, indem er in wahren und vollen Idealismus überzugehn versuchte, doch allmählig einige Verwunderung, nnd endlich Besinnung auf das vierte Hauptproblem der Metaphysik hervor.

Das Ich führt den sonderbaren Reiz mit sich, den Begriff der Seele als Substanz zu überspringen. Wozu sollte man auch in das Dunkel der Substanz sich verlieren, wenn die unmittelbare Klarheit des Selbstbewufst- seyns eine genügende Anschauung des Gegenstandes, wie er ist, gestattet? Dieser Gegenstand aber, nämlich das Ich, scheint eben deswegen über alle Fragen hinauszuliegen, weil er selbst der Sitz des Fragens ist. Bin ich der Fragende nicht selbst?

Einige Ueberlegung genügt, um diese Superiorität zurückzuweisen ; und die alte Anweisung: erkenne Dich Selbst! hat sie schon zurückgewiesen. Das Ich ist sein eigner Gegenstand, des vermeinten Wissens, also auch des Fragens.

Was aber den Begriff der Substanz anlangt, so erinnere man sich, dafs er allenthalben nothwendig wird, wo ein Gegebenes mit mehrern Merkmalen die Beute der Urtheile wird, die ihn unvermerkt auflösen,.

1 „Die" statt „Diese" II. Ausg.a

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 5. Capitel. Von der allgemeinen Metaphysik. 253

indem sie blofs die Miene haben, ihn zu bestimmen und zur deutlichen Erkenntnifs hinzustellen (159.)- Die Folge, dafs alsdann das Subject der Urtheile vermifst, und gerade in diesem Vermissen die Substanz, als ein Unbekanntes, gesetzt wird, weil die Urtheile nicht ohne Subject bleiben können, diese allgemeine Folge wird in Ansehung des Ich von Einigen bemerkt, von Andern übersehen. Der letztere Fall tritt da ein, wo man die sogenannten Seelenvermögen zu Prädicaten des Ich macht; in der gemeinen Rede: Wir haben Vernunft, zvir haben Verstand, wir haben einen Willen, zvir haben eine Sinnlichkeit, und so fort. Das lautet so, wie wenn vom Golde gesagt wird, es habe Eigenschaften des Glanzes, der Farbe, der Schwere, u. s. f. Sobald der [310] Begriff von der Sub- stanz des Goldes gebildet ist, weifs man, dafs diese Substanz unbekannt, mithin weder schwer noch gelb noch glänzend ist. Eben so weifs man auf der nämlichen Bildungsstufe, dafs ein Wesen, welches Vernunft und Verstand und Sinnlichkeit hat, bey allen diesen Prädicaten, die es besitzt, keins derselben ist, und seiner Qualität nach durch sie nicht kann be- stimmt werden. Hier wäre also die leere Stelle, wohinein die Substanz, als das Unbekannte, sollte gesetzt werden.

Aber gerade hier, nachdem von dem Ich die Seelenvermögen eben sowohl als die individuellen Bestimmungen der einzelnen Person sind hin- weggewiesen worden, scheint das Ich selbst mit einem eigentümlichen, reinen Glänze hervorzuleuchten. Die Erklärung: das Ich setzt sich, oder: es ist eben dadurch, dafs es sich weifs, bleibt noch stehn, nachdem das Individuum sammt aller Vielheit der Prädicate verabschiedet wurde. Hierin liegt die Täuschung, nach welcher, im starken Contraste gegen die un- bekannten Substanzen, das Ich für eine Quelle der Erkenntnis und sogar des Seyn gehalten wird. Die Täuschung hat einem beträchtlichen Theile der Systeme seit Kant den Ursprung gegeben.

Aber ohne Vertiefung in eigentlich metaphysisches Denken ist es nicht möglich, der Täuschung abzuhelfen. Wer sich die Mühe geben will, kann im eignen Nachdenken die Formel: das Ich setzt Sich als Ich, leicht auflösen in die Reihe: das Ich setzt Sich als dasjenige welches Sich setzt als dasjenige welches Sich und so weiter, denn die Reihe geht ins Un- endliche. Weifs man denn nun, als Was das Ich sich setze? Der Nach- denkende sucht hier das letzte, eigentliche Object, worauf das Wissen des Ich, indem es sich weifs, gerichtet ist. Er sucht, ohne zu finden. Das Object fehlt. Mithin ist es nicht wahr, dafs das Ich blofs als reines Ich von sich wisse, sondern ein fremdartiger Anknüpfungspunct ist nöthig. Aber auch das genügt für sich allein keinesweges. Das Fremdartige kann nicht beliebig ergriffen werden; sonst wäre eine Kunst des Anknüpfens zu er[3i i]finden, die nicht möglich ist. Und selbst wenn man sie be- säfse: so würde das Fremdartige, als solches, das Ich verunreinigen; es mufs also wieder ausgestofsen werden. Hiemit verbinde man das Obige (144.), wo zugleich auf die hieher gehörigen Stellen der Psychologie ver- wiesen ist.

Angenommen nun, man sey mit diesen Untersuchungen fertig: so schwindet die Täuschung vom reinen Ich, und das Bedürfnifs der Sub- stanz tritt wieder hervor. Man sollte also nun wenigstens die Seele an-

2 r 4 II. Kurze EDcyklopädie der Philosophie. 183 1.

erkennen; denn dieser Ausdruck sagt nichts Anderes, als: Substanz des Ich mit seinen l Vermögen.

Wenn aber jetzt noch ein unrechtmäfsiges Sträuben zu spüren ist: so rührt dies von der gangbaren Meinung her, für das menschliche Ich gebe es gar keine eigne Substanz. Auch hier finden sich ganz verschiedene Partheyen auf Einem Puncte.

Die Physiologen, ihrer Meinung nach mit der Materie sehr wohl be- kannt, wenn sie auch weder über Raum noch Causalität ernstlich nach- gedacht und gründliche Kenntnifs erlangt haben, finden keine Substanz der Seele, sondern nur ein Gehirn.

Höher aufsteigend gelangen wir zu Naturphilosophen, welche sowohl Seele als Materie tief unter sich sehen, denn sie haben ihr Absolutes oder ihre Idee; nämlich jenes Seyn, welches Eins ist mit dem Nichts; wovon oben (177 185.) das Nöthige gesagt worden. Diese Basis ist schlecht, und die der Physiologen ist, philosophisch betrachtet, gar keine; daher bleibt es bey der Substanz der Seele; obgleich dieselbe eben so wenig, als irgend eine andre, in Hinsicht ihrer ursprünglichen Qualität für unser Wissen zugänglich ist.

190. [= -209 d. II. Ausg.] Nachdem von den vier Hauptproblemen der Metaphysik gesprochen worden, ist nur noch nöthig, die vier Theile der Metaphysik zu benennen ; jedoch nach vorausgeschickter Bemerkung, dafs man die Vierzahl nicht als etwas an sich Bedeutendes anzusehen habe, und nicht jedem Probleme ein besonderer Theil zugehöre. Die Metho- dologie macht den [312] Anfang. Sie enthält die Kritik des Gegebenen, und die Methode der Beziehungen. Hier kommt noch keins der Haupt- probleme vor. Es folgt die Ontologie, mit zwey Problemen, dem der Inhärenz und der Veränderung; beide in Gemeinschaft führen auf den Causalbegriff. Alsdann breitet sich die Synechologie, worin von der Materie die Principien vestzustellen sind, mit zwey Abschnitten, einen für den Raum, den andern für die Zeit dergestalt aus, dafs dieser dritte Theil der längste von allen wird; anstatt dafs er bisher der2 am meisten ver- nachlässigte war, obgleich man sich rühmte eine Naturphilosophie zu be- sitzen, an die ohne Synechologie nicht zu denken ist. Endlich folgt die Eidolologie; worin die Ansprüche des Idealismus durch Untersuchung des Ich zurückgewiesen, und die Grundlagen der Psychologie vestgestellt werden. Dies zusammen ist die allgemeine Metaphysik, an welche das Wort Meta- physik Jeden zunächst erinnert. Denn Psychologie, Naturphilosophie und Religionslehre, welche in altern Lehrbüchern mit vollem Rechte den Platz der angewandten Metaphysik einnahmen, sind ganz natürlich aus einander getreten, und aus dem Bande des Namens Metaphysik entwichen, weil die allgemeine Wissenschaft selbst ihre Haltung verloren hatte. Das folgende Capitel wird einige Bemerkungen darüber herbeyführen.

2 „der bisher" statt „bisher der" IL Ausg.»

1 SW ,, seinem1' statt „seinen'-.

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 6. Capitel. Von dem Verhältnisse der Metaphysik etc. 255

[313] Sechstes Capitel.

Von dem Verhältnisse der Metaphysik zu andern philosophischen

Wissenschaften.

191. [= 210 d. II. Ausg.] Schon in der ältesten Geschichte der Philosophie treten die metaphysischen Betrachtungen allen andern voran. Später sieht man die Metaphysik in Verlegenheit ; nun benutzen die andern Theile der Philosophie, gleich unruhigen Provinzen unter einem schwachen Herrn, die Gunst der Zeit, sich loszureifsen. Sokrates schafft logische Uebung; er moralisirt und politisirt. Aristoteles spaltet, was Platon zusammenzubringen suchte. In neuerer Zeit hat die Theologie die Ober- hand; aber Locke giebt der Psychologie eine unabhängige Bewegung. Diese gewinnt durch Kant mehr Schwung. Dennoch redet er von einem Primate der praktischen Vernunft. Man glaubt ihm; aber seine praktische Vernunft scheint am Ende den besten Theil auch des Wissens darzubieten, weil die theoretische gar zu wenig weifs. Spinoza verjüngt sich; die Meta- physik nimmt unter andern Namen bald ihren alten Vorrang wieder in Besitz. Wird sie ihn behalten?

iEin Rückblick auf das Vorhergehende mufs unmittelbar finden, dafs der Verfasser nicht partheyisch für die Metaphysik ist, und am wenigsten die Absicht hegt, ihr eine populäre Herrschaft zuzuwenden. Allein bey der entschiedenen und reifen Ueberzeugung, dafs die Metaphysik nicht zu dem Schicksale verdammt ist, ewig zu schwanken, möchte-' leicht die Meinung emporkommen, sie sey bestimmt, zu herrschen, wenn auch nur [314] in den Schulen. Und doch verhält es sich nicht so; Meta- physik kann keine Aesthetik, folglich auch keine Moral und Rechtslehre erschaffen, und darum dieselben eben so wenig unter sich beugen. Reli- gion aber schliefst sich zwar der gesammten Philosophie an; allein durch Alter, Ursprung, Würde, Allgemeinheit des Bedürfnisses, Macht der Kirche und des Staats, behauptet sie dennoch eine solche Selbstständigkeit, dafs die Schule froh seyn mufs, nur neben ihr eine freye Bewegung für sich selbst zu behalten.

Geht man in die Metaphysik selbst zurück: so herrscht auch in ihr kein Theil über den andern. Die Methodologie giebt nur Winke. Die Ontologie benutzt dieselben, aber mit eigner Kunst. Die Synechologie verarbeitet zwar, was die Ontologie darbietet, aber das Mittel dazu, die Reihenform (Raum und Zeit), schafft sie sich selbst, ohne es irgend wo- her zu entlehnen. Die Herrschsucht der Eidolologie (und des Idealismus) wird beschränkt; doch bleibt das Ich eine selbstständige Quelle der Unter- suchung eben deshalb, weil ihm die Realität abgesprochen wird.

192. [=211 d. II. Ausg.] Wie aber dachte man sich die Herrschaft der Metaphysik, indem man sie als erste Philosophie betrachtete? Sie sollte alle Grundbegriffe enthalten und aufklären. Unter dieser Voraussetzung

1 Statt der folgenden Worte: „Ein Rückblick . . ." bis . . „Ueberzeugung" (3 Zeilen weiter) hat die IL Ausg.: „Hegt man die Ueberzeugung ..."

2 „so möchte" statt „möchte' II. Ausg.

2 :(y IL Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

:0

konnte sehr leicht der Zweifel entstehn, ob nicht die Psychologie ihr die Herrschaft streitig machen werde. Denn wo anders findet man die Grund- besriffe, als im Kreise unserer Vorstellungen? Daher das Streben nach Kategorien, und nach Ausmessung unseres Erkenntnifsvermögens. In der That können die Grundbegriffe der Psychologie nicht weggenommen werden. Gäbe es nur einerley Bearbeitung derselben, oder gäbe es keine deutliche Gränzlinie zwischen den beiden, gänzlich verschiedenen Arten und Zwecken der Bearbeitung (160.): so träte, wie die Kantianer wollten, Vernunft- kritik in die Stelle der Metaphysik, während Kant selbst von Prole- somenen zu derselben redete.

[315] Am schädlichsten wurde in dieser Hinsicht das Verkennen des Ursprungs unserer Begriffe. Falsche Psychologie ist nothwendig herrsch- süchtig; der Grund ihrer Ansprüche liegt in der Meinung, man besitze Begriffe a priori. Weifs man nicht, dafs die Urtheile den Begriff der Sub- stanz herbeyführen (159.); weifs man nicht, dafs in der Veränderung ein Widerspruch liegt (178.), welchem schon der gemeine Verstand das natür- liche Heilmittel des Causalbegriffs erfindet, dem gerade mir da? um das Merkmal der Notwendigkeit anhängt; weifs man nicht, dafs Räumlichkeit und Zeitlichkeit, welche sich an den gegebenen Dingen der Beobachtung darbieten (188.), aus einem allgemeinen Reproductionsgesetze (118.) ent- springen, wovon sie blofs besondere Formen sind*; hat man sogar von diesen Untersuchungen, und von ihrer Bedeutung, noch nicht die ent- fernteste Ahndung: so mufs man sich die Herrschsucht der Psychologie unfehlbar gefallen lassen. Darum werden die Spinozisten aller Farben und Klassen, des Kantianismus nimmermehr mächtig werden, sondern ihn neben sich dulden müssen.

Aber Herrschsucht ist noch nicht Herrschaft. Wo zwey Herrsch- süchtige zusammenstofsen, da bedrängte Einer den Andern. Und in den Wissenschaften ist an Sieg für keinen von beiden zu denken. Unter- drückte Ansprüche treten hier allemal nach kurzer Pause wieder hervor. Die Metaphysik giebt eben so wenig als die Psychologie die Grund- begriffe weg. Das Vorurtheil, als stünden dieselben ein- für allemal im menschlichen Geiste vest, und müfsten unabänderlich so bleiben und so gebraucht werden, wie sie einmal sind, jenes Vorurtheil der Kate- gorien — findet seine factische Widerlegung unwiderleglich in der Ge- si hichte der Philosophie. Sie sind ungebildet, ja in den mannigfaltigsten Umwandlungen umhergeworfen worden. Selbst vor aller Wissenschaft hat schon der gemeine Verstand von dem Erfahrungsbegriffe der Veränderung, welche erfahrungsmä\$ 1 6]fsig nur Dinge im Werden zeigt, und in manchen, aber keinesweges in allen Fällen ein regelmäfsiges, gewöhnliches Voraus- gehn vor dem Werden, sich losgerissen; er hat sich den Causalbegriff als einen noth wendigen erfunden, um dem Widerspruche in der Ver- änderung abzuhelfen. Diese Erfindung war Umwandlung, die nur nicht zur Reife gedieh, sondern auf halbem Wege stehen blieb. Die Meta- physik setzt sie fort, und fügt andre Umwandlungen andrer Begriffe hinzu. So lange ihr Geschafft nicht geendet ist, zersplittert sie sich in Systeme

©

Psychologie II. § 109. [= Bd. VI vorl. Ausg.]

2. Abschnitt. Methodenlehre. 6. Capitel. Von dem Verhältnisse der Metaphysik etc. 2^7

verschiedener Art. Aber die Systeme haben nicht Ruhe, bis die Arbeit gehörig gethan ist. Sie lassen auch der Psychologie nicht Frieden, so lange dieselbe, von der Metaphysik losgerissen, sich in Dinge mischt, die sie nichts angehn. Denn nicht ihr ist es gegeben, von der Natur der Seele und der Materie zu reden. Sie kennt nur Geist und Gemüth; das heilst, die Aeufserungen und innern Erscheinungen der Seele. Die Erfahrungen hievon mag sie sammeln und auslegen, das Causalverhältnifs der Vorstelhmgen unter einander mag und sollte sie bestimmen ; aber damit weifs sie noch nichts von anziehenden und abstofsenden Kräften; nichts von der Verbindung der Muskeln mit dem Willen; nichts von der Mög- lichkeit, dafs leibliche Sinnes-Organe eine Vorstellung in der Seele her- vorzubringen vermögen. Oder weifs sie es, kennt sie die Aufschlüsse über diese Räthsel, so hat sie ihre Kenntnifs aus der Metaphysik entlehnt, und ihre Abhängigkeit von derselben anerkannt.

Es nützt eben deshalb nichts, dafs der Kantianismus sich gegen den Spinozismus einen Vorrang anmafst. Die erste Probe hievon ist wiederum der Causal begriff. Diesen läfst der Spinozismus dem gemeinen Verstände zwar hingehn, aber nicht, um ihn als eine Verbesserung des Gegebenen gelten zu lassen. Gegeben sind Veränderungen. Nicht gegeben, sondern hinzugedacht ist die Nothwendigkeit der Ursachen. Mit gröfster Leichtig- keit zieht sich nun der Spinozismus in die reine Erfahrung zurück, indem er die ganze Naturlehre auf ein absolutes Werden gründet. Meinte Kant, der Causalbegriff [317] gelte nur für Erfahrung: so hatte er dem Spino- zismus sogar vorgearbeitet; denn dieser läfst den nämlichen Begriff nun auch nicht einmal als gründliche Erkläruno- der Erfahrung oelten. Und dagegen ist nicht eher etwas einzuwenden, als bis der Spinozismus in seiner Ausbildung Hegels Form annimmt. Nun kommt der Widerspruch des Seyn und Nichtsevn ans Licht, den man längst vorher hätte sehen können, um sich zu überzeugen, dafs Beschränkung des Causalbegriffs auf Erfahrung gerade das Verkehrteste war, was man thun konnte. Denn hiemit bleibt der Widerspruch stehn, und die Nothwendigkeit des Causal- begriffs ist verkannt. Lassen sich, für ein höheres, die Erscheinung über- steigendes Wissen, Veränderungen ohne Ursache denken, so ist der Cau- salbegriff eine unglückliche Schranke, und die Herrschaft der Kategorien eine Tyranney, wie sie schon von Andern ist betitelt worden.

193. [= 212 d. IL Ausg.] Wir gehn weiter. Besitzt die Metaphysik eine Herrschaft über1 Erfahrung- Wissenschaften? Die Frage erscheint heut zu Tage fast lächerlich. Manche Naturforscher kümmern sich gar nicht um Metaphysik. Andere meinen die richtigen Erfahrungsbegriffe aus der Erfahrung selbst am sichersten zu schöpfen, und warten mit der Umbildung oder Ausbildung derselben, bis die Erfahrung sie dazu veranlafst. Nun können sie freylich Zeitlebens auf Veranlassungen warten, wenn sie die dringenden Aufforderungen und Nöthigungen, die schon längst vorhanden sind, nicht sehen noch hören wollen. Aber sie sind weder taub noch blind;

1 .,über die" statt „über" II. Ausg.a

a SW drucken nach der II Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg. Herbart's Werke. IX. 17

,,,-g II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1 .

sie sind blofs abgeschreckt durch die Misgestalt der Naturphilosophie. Was sollen Auslegungen der Dinge, was sollen Reden von dem, was vorgeblich die Dinge bedeuten, bevor man weifs, was die Dinge sind? Ein spinozistischer Parallelismus zwischen Dingen und Ideen ist den Naturforschern aufge- drungen worden, der nirgends hin pafst, und nichts bedeutet als ein altes Vorurtheil. Der Naturforscher braucht Hypothesen; diese leiten ihn im Beobachten, und diese prüft er durch Beob[3 i8]achtungen und Versuche. Nichts anders kann ihm die Metaphysik seyn, als ein Schatz von Hypo- thesen. Bietet sie sich ihm unter einer andern Gestalt an, so weiset er sie zurück, und das aus dem Grunde, weil er die Experimente nicht zwingen kann, einer theoretischen Voraussetzung zu dienen, sie sey welche sie wolle. Der Naturforscher mufs sich stets bereit halten, zu sehen, was die Erfahrung zu sehen giebt; läfst er sich durch irgend eine Voraus- setzung blenden, so sieht er nicht mehr mit offenen Augen, und sein Bericht wird untreu, er verliert den Glauben, welcher dem Zeugen über Alles vverth seyn mufs. Mochte er noch so gewifs vorauswissen, was er sehen würde: dies Wissen mufs der Zeuge sogar unterdrücken; es1 ver- dirbt das reine Zeugnifs, das er ablegen soll. Und was will denn2 die Metaphysik vom Naturforscher ? Warum sucht sie mit ihm in Verbindung zu treten? Will sie lehren oder lernen? Wenn es ihr Ernst ist, zu lernen, wäre es auch nur um dessen, was sie schon weifs, noch gewisser zu werden ; so liegt ihr gerade soviel als jedem Andern an der Treue, an der Un- befangenheit seines Zeugnisses. Darum hüte sie sich, den Zeugen zu

bestechen.

Mit zwey Worten können wir 3 die richtige Gestalt, welche die Natur- philosophie, von der Metaphysik ausgehend, bekommt und annehmen mufs, ihrem Hauptzuge nach anzeigen. Dieser Hauptzug gilt zugleich iür die Psychologie; denn auch sie ist zum Theil Erfahrungs - Wissenschaft, und als solche mit der Naturphilosophie eng verbunden.

Man unterscheide Synthesis und Analysis. Die Metaphysik, sobald sie fertig ist mit den Grundbegriffen, überläfst dieselben der Naturphilo- sophie und Psychologie, um daraus Constructionen möglicher Fälle zu bilden. Solche Constructionen erfordern, dafs man sich umsehe unter4 den denkbaren Determinationen, welche den allgemeinen Begriffen können bey- gefügt werden. Dies Geschafft ist zunächst ein logisches; alsdann aber geht° es über in Schlüsse, welche anzeigen, was unter den angenommenen, verschiedenen Voraussetzungen verschiedentlich werde erfolgen müssen. Hierin kann man ohne [319] Ende fortgehn, sobald die allgemeinen Be- griffe so geschmeidig sind, wie sie seyn sollen. Besitzen sie nicht diese Geschmeidigkeit: so mufs man sie in den Verdacht einer Unrichtigkeit ziehen, oder vielleicht hat man auch das rechte Gelenk noch nicht ge-

1 „er" statt „es" II. Ausg. a

- „denn" fehlt in der II. Ausg.b

3 „läfst sich" statt „können wir" II. Ausg.c

4 „nach" statt „unter" II. Ausg.d

a. b, c, d. SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 6. Capitel. Von dem Verhältnisse der Metaphysik etc. 2^0,

troffen, um welches sie sich drehen lassen. Wie glücklich aber auch diese Arbeit von Statten gehen möge: sie giebt in ihrer ganzen möglichen Aus- dehnung immer nur den synthetischen Teil der Naturphilosophie und Psychologie. Sie anticipirt höchstens einen allgemeinen Begriff dessen, was man erfahren könne, und erwarten dürfe. Niemals wird die Er- fahrung selbst anticipirt; das streitet sogar wider ihren Regriff.

Eine ganz andre Arbeit mufs von der Erfahrung ausgehend jener entgegenkommen. Die einzelnen Data müssen analysirt werden. Das- selbe Verfahren, wodurch Hypothesen geprüft werden, indem man mit ihnen die Beobachtungen vergleicht, wird hier nöthig, obgleich die auf synthetischem Wege gebildeten Constructionen keine Hypothesen sind, und durch kein willkührliches Umhersinnen hätten errathen werden können. Je genauer nun Analysis und Synthesis zusammentreffen, zwischen denen man so lange hin und her gehen wird, bis Alles zu passen scheint, um desto vollkommener wird die Ueberzeugung. *

194. [= 213 d. IL Ausg.] Wie verhält sich die Metaphysik zur Religionslehre? Zuerst negativ. Sie hütet sich, ihr zu nahe zu treten. Sie weifs, das man im Denken irren kann ; sie erinnert sich ihres Ursprungs nur aus Erfahrung. Alle irdische Erfahrung ist beschränkt. Führte sie auch wirklich auf Begriffe von der Welt: so hat doch die Religionslehre nicht auf Astronomie gewartet; viel weniger auf Kosmologie. Allerley Beweise sind versucht und verworfen; was bewiesen werden sollte, stand und blieb vest.

1 Nach dem Worte: „Ueberzeugung" hat die II. Ausg. folgenden Zusatz: Einzeln stehende Theorien, wie die Physiker deren für ihre Lieblings- Beschäfftigungen zu bilden pflegen, hier über chemische Verhältnisse, dort über Electricität und Magnetismus, anderwärts über Lebens-Erscheinungen u. s. w., können der Philosophie nicht genügen. Auch die Resignation, blofs die Gesetze der Erscheinungen erkennen zu wollen, und sich um das Wesen und die Kräfte der Dinge nicht zu kümmern, ist der Philo- sophie nicht angemessen. Die nämliche Metaphysik mufs Psychologie und Naturphilosophie tragen, und hiedurch ihre Einstimmung mit sich selbst darthun. An den gewissesten Thatsachen mufs sie sich halten; während Experimente und Beobachtungen sich ins Unendliche vermehren. Es fehlt nicht an der Menge von Thatsachen, die von den verschiedensten Seiten her dargeboten sind, und deren Zusammenfassung unter Einen Gesichts- punct von der gröfsten Wichtigkeit ist. Denn die Wichtigkeit der That- sachen wächst, je mehr sie sich eignen, im Grofsen unter einander in Zu- sammenhang zu treten. Es ist schon ein Verdienst, das Bedürfnifs einer Zusammenfassung unserer Kenntnisse von Natur und Geist lebhaft aufzuregen; und dies Verdienst ist ein bleibender Ruhm Schellings. Will man aber die ScHEixiNGSche Naturphilosophie beurtheilen: so mag man das Unrichtige vom Gewagten unterscheiden. Das Unrichtige wird sich gröfstentheils auf Kant, Fichte, Spinoza zurückführen lassen; das Ge- wagte aber liegt vielmehr an dem Mangel sorgfältiger Absonderung der Synthesis und Analysis. Denn ohne solche Sonderung gehen für die Theorie die Warnungen und die Hülfen verloren, welche ihr die Erfahrung

geben konnte.

17*

260 ü- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1 ,

Dafs diese1 Vestigkeit von andrer Art ist, als Logik und Erfahrung, liegt am Tage. Es ist eine Vestigkeit des Glaubens, der mit dem moralischen Willen, ja mit der Bedürftigkeit des menschlichen Lebens zusammenhängt. Dieser Glaube ist da; er braucht nur nicht gestört zu werden. Dafs [320] Manche ihn wie ein metaphysisches Princip, wie eine Quelle des methodischen Denkens haben behandeln wollen, dieser Misgriff brachte ihn in Conflict mit den Naturkenntnissen. Dadurch kann er selbst eine nachtheilige Rückwirkung erleiden; denn die Erfahrung geht ohne ihn ihren Gang. Die Metaphysik mufs also wünschen, dafs er seinerseits nicht in ihr Feld hinübergreife, damit sie nicht genöthigt werde, falsche Schlüsse mit Berufung auf die Erfahrung zurückzuweisen. Jedermann weifs, was begegnete, als der Arstronomie Einwürfe aus der Bibel ent- gegentraten.

Wozu aber macht man sich Sorge über diesen Punct? Man wird doch keine Metaphysik im Dienste der Priesterherrschaft wieder herbey- führen wollen? Man fürchtet weder Naturlehre noch Mathematik; diese thun, was die Metaphysik fortsetzt; sie erklären die Natur.

Vielleicht aber, und mit mehr Schein des Rechts, fürchtet man die Metaphysik wie eine Art von Poesie. Denn freylich die Poesie pflegt historische Stoffe mit einer Willkühr zu behandeln, als wären es Mythen. Steht nun das Factum nicht sehr vest: so wirkt daiauf die Dichtung wie ein anspülendes Wasser; sie zieht es in ihre künstlichen Wirbel hinein, als wäre es für dieselben erfunden. Das trojanische Pferd droht aller- dings der Stadt Troja ihre Existenz eben so zweifelhaft zu machen, als es selbst ist. Kann ein gewisser Gegenstand so oder anders gedacht werden, so scheint er am Ende unter den Händen zu verschwinden; man nimmt ihn für ein Hirngespinnst, weil er sich soviel gefallen läfst. Dafs es der Substanz des Spixoza so gehen könnte, wollen wir nicht in Abrede stellen. Der Natur aber, und ihrer Zzvcckmäfsigkcit, schien es einen Augenblick auch so zu gehn; gerade darum, weil etwas, das der spinozistischen Sub- stanz nicht ganz unähnlich sieht, sich drein mengte.* Am schlimmsten wurde die Sache, da zum metaphysischen Scharfsinn ein Ueberflufs von poetischer Laune und von Kunstsinn hinzukam, wo[32i]durch nicht blofs die Begriffe in ein allgemeines Schwanken geriethen, sondern die Auf- fassung der Natur selbst das Zweckmäfsige mit dem Notwendigen und das Nothwendige mit dem Zweckmäfsigen verwirrte. Unstreitig setzt zweckmäfsiges Wirken Zwecke und Ziucckbegriffe voraus; wird nun der Religionslehre ein so naturphilosophisches Ansehn gegeben, als schickte es sich nicht für das höchste Wesen, nach menschlicher Weise gedacht zu werden in Ansehung des zweckmäfsigen Beschliefsens und Wählens, ist überdies das Entstehen der Organismen der allgemeinen Natur- Xothwendigkeit zugewiesen: so möchte wohl in der poetischen Auffassung der Dinge, die so gern das Nothwendige selbst als ein Zweckmäfsiges

1 „die" statt „diese" II. Ausg.*

Metaphysik I. S. 119. [Bd. VII der vorl. Ausg.]

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 6. Capitel. Von dem Verhältnisse der Metaphysik etc. 26 1

gestaltet, die Andacht etwas Widerstrebendes fühlen, Mem wir nicht be- rufen sind abzuhelfen, wohl aber zu widersprechen.

2Unsre Weise, die Metaphysik zu behandeln, ist völlig unpoetisch, ja wenn man will, antipoetisch. Dies Negative hängt mit einer sehr posi- tiven Sorgfalt zusammen. Das Zweckmäfsige soll als ein reines, unzwey- deutiges, unzweifelhaftes Factum hervorstrahlen, nachdem der Hintergrund des Nothwendigen in der Natur gebührend zurückgetreten ist. ;J,Wir wollen gar nichts daran machen noch künsteln, während das Nothwendige in allen Puncten von unserm Denken behandelt, geformt, geschmiedet wird, als ein Gegenstand, an dem wir soviel Kraft üben, als wir immer haben. Der Glaube, welcher von der Naturbetrachtung unabhängig schon in den moralischen Bedürfnissen wurzelte, soll eine Bestätigung durch das Zweck- mäfsige der Natur gewinnen, für deren Stärke es gar keinen Maafsstab giebt, noch geben kann. Wer mag ermessen, wie stark eine feyerliche Stille wirkt nach dem Toben einer angestrengten Arbeit mitten in Streit und Getümmel ? Nun wohl ! Bev der Religionslehre schweigen die Svllogis- men, die Methoden, die Partheyungen, sobald man nur will. Es kommt blofs darauf an, dafs man dem Anschauen sich hingebe. Nicht aber dem mystischen Anschauen nach innen, wo Alles schwankt, und jeder nach seiner Weise sieht, sondern dem Anschauen des Schönen und Wunder- vollen in der äufsern [322] Natur, welches Allen auf gleiche Weise vor Augen steht. Zum Anwenden der Religionslehre auf das Zeitliche und Menschliche ist späterhin noch Gelegenheit genug; und alsdann mag auch gestritten werden, falls man nicht im Stande ist, sich zu vereinigen.

195. [= 214 d. IL Ausg.] Wer nun das Gewicht des eben Gesagten als ein speculatives und positiv wirkendes empfinden will, der studire zu- vörderst Metaphysik so vollständig und so gründlich als möglich, sammt allen Systemen, die sich an deren Stelle haben setzen wollen. Er sehe zu, wie sie die gegebenen Formen der Erfahrung behandeln. Die Zweckmäfsigkeit in der Natur ist eine darunter, und zwar unstreitig die am meisten verwickelte von allen. Deshalb leuchtet zu allererst ein, dafs es ein höchst4 leicht- sinniges Beginnen ist, über ihre Bedeutung wissenschaftlich zu urtheilen, bevor Inhärenz, Veränderung, Materie, und das Ich, die rechte zcissenschaft- liche Behandlung empfangen haben. 5Nun ist aber die Schwierigkeit dieser vier Grundprobleme bisher nicht begriffen worden, daher man die Methode

1 Die folgenden Worte : „dem wir nicht berufen sind . . . wider- sprechen" fehlen in der II. Ausg.

': Die folgenden zwei Sätze: „Unsre Weise ... bis ... Sorgfalt zusammen." fehlen in der II. Ausg.

3 Statt der folgenden Worte: „Wir wollen gar nichts daran machen noch künsteln" hat die II. Ausg.: „Daran ist gar nichts zu machen noch zu künsteln."

4 „höchst" fehlt in der II. Ausg.*

5 Die iolgenden Worte: „Nun ist aber .... bis ... . Ungeschick" (4 Zeilen weiter) fehlen in der II. Ausg.

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

2Ö2 H Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

der Beziehungen, welche nur die allereinfachste Kenntnifs der Probleme voraussetzt, mit nicht geringem Befremden angesehn hat; ein Beweis von Unkenntnifs des Fragepuncts. Bey solchem Ungeschick hat man1 den- noch hie und da gemeint, Organismen, sammt ihrer kunstvollen Einrichtung, liefsen sich wohl in den allgemeinen Begriff der Natur dergestalt mit hineinziehn, dafs sie weiter keine Verwunderung zu erregen brauchten; wofern man nur vorher diesen Begriff gehörig darauf eingerichtet habe : als ob man gegen die Natur sich ein ähnliches Verlahren erlauben dürfte, wie etwa in einer gemischten Gesellschaft, von der man beym Eintritt einen Ueberblick zu gewinnen sucht, um sich für seine Person in ein be- quemes Gleichgewicht mit ihr zu setzen !

Schon das leichteste Problem, das der Inhärenz, ist stark genug, um diesen goldnen Traum zu stören. 2Mit der gewohnten Manier, sich eine leidliche Ansicht von der Sache zu bilden, um darüber mitsprechen zu können, ist hier durchaus [323] nicht durchzukommen. Man mufs kämpfen; denn ein Widerspruch ist gegeben, und dieser läfst sich nicht mit glatten Worten beschwichtigen. Sobald man den Widerspruch im Allgemeinen aufgelöset hat, zeigt sich die Theorie der Störungen und Selbsterhaltungen*, und zwar als nothwendig, und keinen Abänderungen nach Bequemlichkeit zugänglich. Mit ihr lassen sich die Erfahrungs- Begriffe der Chemie, Physik, Physiologie vereinigen**, aber die ganze Untersuchung bleibt gegen den Begriff des Zweckmäfsigen völlig indifferent; sie spricht weder für noch gegen ihn; sie weifs von ihm Nichts. Was ist die Folge? Dies ohne Zweifel: dafs die Schauspiele des Zweckmäfsigen, welche die Erfahrung unläugbar aufstellt, gerade so unläugbar, als ein Mensch die Ziuecke des Andern in dessen Handhingen und Reden erkennt, als etwas gänzlich Neues in die Metaphysik und die von ihr geleitete Naturphilosophie hineintreten. Wen dieses Neue und Fremde nicht über- rascht, — wer da meint, es sey kein Wunder, dafs Menschen und Thiere auf der Erde leben, und man könne dieselben sogar recht bequem als eine nothwendige Ergänzung der Erde und ihres sogenannten Lebens deduciren: der streite mit unserer Metaphysik; denn sie zeihet seine Lehren von Anfang bis zu Ende der Uebereilung und des gänzlichen Verkennens selbst ihrer einfachsten Probleme.

196. [= 215 d. IL Ausg.] Nun aber wird man uns zur Rede stellen, warum denn, wenn wir die Inhärenz, die Veränderung, die Materie, das Ich, ja sogar den Raum und die Zeit, einer sorgfältigen Untersuchung werth hielten, das Schauspiel der Zweckmäfsigkeit, welches wir doch auch für ge- geben anerkennen, weniger, oder vielmehr gar nicht der systematischen Kurist und Nachforschung sey unterworfen worden? Wir wollen die Ant- wort nicht schuldig bleiben. Gewarnt hat uns zuvörderst die [324] Schwierig- keit, das Zweckmäfsige da, wo Jedermann ohne die geringste Ausnahme es

1 „Man hat" statt „hat man" II. Ausg.

- Der folgende Satz: „Mit der gewohnten Manier .... nicht durchzu- kommen." fehlt in der II. Ausg.

* Metaphysik II. § 236. [= Bd. VIII vorl. Ausg.] ** Ebendas. § 331 bis zu Ende.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 6. Capitel. Von dem Verhältnisse der Metaphysik etc. 263

anerkennt, nämlich in den Handlungen und Reden der Menschen, wissen- schaftlich zu erklären. Wir bezweifeln nicht im geringsten das vernünftige Denken und Wollen der Menschen; aber wir kennen aus langer An- strengung und Uebung die Schwierigkeit der psychischen Anthropologie; nämlich die Unsicherheit und Mangelhaftigkeit der Schlüsse von dem, was wir in uns beobachten, auf andre Menschen andrer Zeiten, Orte, und Culturstufen. Gewarnt haben uns ferner die Thiere. Man sollte meinen, die zweckmäfsigen Handlungen derselben, die frevlich nicht schwer zu verstehen sind, liefsen sich wohl leicht erklären, wenn man schon die Psychologie und Physiologie des Menschen, als des Höhern, durchge- arbeitet habe; allein hier, wo der leichte Schlufs vom Gröfsern zum Kleinern sich darzubieten scheint, sind uns die Thatsachen, welche den Hund und das Pferd, die Spinne und die Biene betreffen, viel zu un- vollständig gegeben, als dafs wir über ganz allgemeine, und darum sehr leere Begriffe hinauszukommen wüfsten. Gewarnt haben uns endlich die Gestirne. Wir begreifen, dafs es lächerlich wäre, die Erde für besonders ausgezeichnet und begabt auch nur in unserm Sonnensystem zu halten; eben darum sehen wir eine ungeheuer weit offene Lücke in unserer Er- fahrungskenntnifs; während Derjenige, der von Gott in theoretischen Be- griffen zu reden unternimmt, doch wissen soll, dafs er hier mit einer Theologie für Erdenbürger nicht ausreichen kann. Gewarnt hat uns noch zu allem Ueberflufs das Böse und das Gemeine. Dafs hiedurch das Gute und Schöne nicht aufgehoben, nicht vom Wunderbaren entkleidet wird, liegt am Tage; auch reichen die bekannten Betrachtungen der Thodicee voll- kommen hin, um gegen Religionszweifel den Glauben zu schützen. Aber ein Princip theoretischer Wissenschaft, aus welchem man Erkenntnisse schulgerecht ableiten will, mufs gleichförmig gi geben seyn, wie die Inhärenz, die Veränderung, und das Ich. Dagegen würde schon das vierte Problem, das von der Materie, uns zu viel[32 5]gestaltig für eine regelrechte Unter- suchung dünken, wenn nicht die drey andern Probleme uns1 auch für dieses auf die Bahn geholfen hätten. Um sich davon zu überzeugen, blicke man nur in die Metaphysik hinein, und sehe nach, wo und wie dort die Materie mit den im Voraus schon gewonnenen Hülfsmitteln, welche nicht eben leicht zu gewinnen waren, der Wissenschaft zugänglich wird. Und wogegen hat denn Kant gewarnt, wenn nicht gegen das Transfcendente der speculativen Theologie? die den Glauben nicht reinigt, sondern verdirbt, und ihn mit Schwierigkeiten behelligt, in welche der Mensch sich gar nicht verwickeln darf, wenn er nicht Trost und Ruhe entbehren soll. -Es ist nur Schonung, wenn wir der von Kant zurück- gewiesenen Scholastik, die man dennoch wieder auf die Bahn gebracht hat*, nicht ausführlich gedenken.

1 ,,uns" fehlt in der II. Ausg. a

-) Der folgende Satz: „Es ist nur .... nicht ausführlich gedenken." nebst der dazu gehörenden Anmerkung fehlt in der II. Ausg.

* Wie war das möglich? Sie hielt und gab sich nicht für Scholastik, sondern für Naturphilosophie. Darin liegt ein bedeutender Wink. Nur durch wahre Natur- philosophie wird die falsche zum Weichen gebracht werden.

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der II. Ausg.

264 U- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

197. [= 216 d. IL Ausg.] Aber wovon redet denn unsere irdische Theologie? Sie redet nicht blofs von Gott, sondern auch vom hilfsbe- dürftigen Menschen. Sie redet von einem Verhältnisse des Menschen zu Gott. Hier kommt die Sache anders zu stehn als vorhin; denn hier ist wenigstens das eine Glied des Verhältnisses, nämlich der Mensch und sein Bedürfnifs, zugänglich für die Erkenntnifs. Und nun wollen wir, um das Aeufserste zu wagen, uns einmal einbilden, das andre Glied träte uns etwa im künftigen Leben nach dem Tode näher als jetzt: welche Form würde dann die Untersuchung, oder was immer dafür gehalten werden möchte, wohl annehmen?

Die Antwort ist bekannt. Man müfste auch hier den synthetischen Theil der Betrachtung trennen vom analytischen. Jener erstere ferner hätte ein Verhältnifs aus zwey Gliedern zu [326] construiren. Das eine Glied wäre Gott, (beynahe versagt uns die Feder den Dienst, indem wir das, was für unsern Erdenzustand eine wahre Frechheit ist, in Beziehung auf den eingebildeten höhern Zustand auch nur problematisch hinschreiben,) das andre Glied wäre der Mensch. Aus diesen Gliedern zusammengesetzt, wäre nun das also bestimmte Verhältnifs noch immer nicht für sich allein fähig, eine zulängliche Religions-Wissenschaft zu gewähren. Denn in allen Fällen einer ähnlichen Untersuchung, wie in der Psychologie und Natur- philosophie, hilft der synthetische Teil für sich allein noch nichts, wenn nicht der analytische sich mit ihm verbindet. Man würde also noch immer nicht wissen, was eigentlich Gott für den Menschen gethan oder be- schlossen habe, wenn 1 nicht die vorhandenen Data hiemit einzeln ge- nommen, Punct für Punct betrachtet, zusammenstimmten.

Das Verhältnifs zwischen Synthesis und Analysis liegt in der be- kannten Religionslehre, da wo es nöthig ist, deutlich am Tage. Den syn- thetischen Theil bildet die praktische Philosophie, den analytischen das Christenthum. Diese entsprechen einander wirklich, und darauf stützt sich der christliche Glaube. Hätte nun Christus auch Astronomie, Chemie, Phvsiologie gelehrt: dann möchten die Theoretiker, deren Treiben keine Gränzen kennt, immerhin nachsehn, wie diese Offenbarung, die uns fehlt, mit unsern Rechnungen und Theorien zusammenstimme.

Wie aber jetzt die Sachen liegen, mag man das Böse, welches die Theologie so sehr, und mit vollem Rechte beschäfftigt, aus der Psychologie und praktischen Philosophie zu erkennen suchen; nämlich das Böse im Menschen^ denn ein anderes ist nicht gegeben; und zwar in seinen mannig- faltigen Gestalten : denn auf einen leeren Allgemeinbegriff, nach Art der oben gerügten (174.), kann und darf man sich nicht verlassen. Sondern das Böse ist vielförmig und vieltheilig zuvörderst schon deswegen, weil das Gute nach allen praktischen Ideen mufs bestimmt werden; dann aber vollends deswegen, [327] weil seine psychischen Ursprünge und -Stufen weit verschieden sind.*

1 „weil" statt „wenn" II. Ausg.*

* Psychologie II, § 152. [Bd. VI vorl. Ausg.]

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2. Abschnitt. Methodenlehre. 6. Capitel. Von dem Verhältnisse der Metaphysik etc. 265

Hiemit mufs das Christentum verglichen werden, in welchem das Beyspiel Christi selbst deutlich genug zeigt, dafs nicht alle Individuen, die schwachen wie die starken, die bessern wie die schlechtem, auf einerley Weise sollen angeredet, ermahnt, und gehoben werden, sondern dafs die Heilung sich der Krankheit anpassen mufs. Und nun wolle der Leser sich dasjenige zurückberufen, was schon oben (32 u. f.) über Religion und deren Bedürfnifs ist gesagt worden.

198. [= 217 der II. Ausg.] War es Metaphysik, die uns den Weg zur Religion bahnte? Sprachen wir etwa vom ens realissimum, diesem scholastischen Wesen, wobey die Realitäten, die man atis der Erfahrung zu kennen meint, (während man sie nicht kennt,) wider alle Erfahrung auf einen Haufen gebracht werden, um entweder den Begriff des Seyn, der keiner Steigerung fähig ist, dennoch zum Superlativ zu erheben, oder den Begriff der Qualität, wie im Empirismus, von einer Mannigfaltigkeit an- zufüllen, ohne nach deren Einheit zu fragen ? Die mindeste Kenntnifs des Problems der Inhärenz, womit die Metaphysik ihre x\rbeit beginnt, konnte dagegen warnen.

Oder sprachen wir von einem Grunde der Existenz, welcher voll Sehnsucht, sich selbst hervorzubringen, der Realität vorausgehend schon real sey und doch noch nicht sey? Sprachen wir von einer Identität, welche bekennt, aus entgegengesetzten Gliedern durch ein willkührliches Zudrücken der Augen herausgekünstelt zu seyn? Von einem Unendlichen, welches, damit doch Etwas aus ihm werde, das Nichts zu Hülfe ruft, um sich dagegen zu stemmen, wie wenn in der That das Nichts Etwas wäre? Alles dies verbietet sich selbst. Und die Metaphysik verhütet durch ihre Behandlung des zweyten Problems, nämlich der Veränderung, dafs uns [328] so Etwas nicht einfallen könne, wenn es sich nicht als ein historisch Gegebenes uns in den Weg stellt.

Oder plagte uns etwa die Substanz, welche vorgiebt, Einheit des Ausgedehnten und Denkenden zu seyn; nach der Manier der Anthro- pologen, die nicht Leben und Seele unterscheiden können? Die Synechologie hat uns über das Ausgedehnte, die Eidolologie über das Denkende unterrichtet; beide Theile der Metaphysik setzen uns über jene spinozistische Substanz völlig 1 hinweg.

Die ganze Metaphysik, von Anfang bis zu Ende, wirkt also dahin zusammen, dafs es uns nicht begegnen möge, die Religion in jenen Be- hausungen alter und neuer Scholastik zu suchen. Gerade das wollte Kant. Wenn man die Fehler im Einzelnen, welche ein minder geübtes Zeitalter verrathen, hinwegdenkt, so ist seine Kritik der reinen Vernunft eine Warnung vor aller speculativen Theologie; und seine Kritik der praktischen Vernunft ein richtiges Vesthalten am sittlich-religiösen Glauben. Auch Jakobi, Bouterweck, Friedrich Schlegel, und wie viele Andre, deren religiöses Streben man vergebens würde bezweifeln wollen, haben, jeder auf seine Weise, die deutlichsten Zeugnisse des Widerwillens gegen

1 „völlig" fehlt in der II. Ausg.a

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

266 H- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1 .

jene Scholastik abgelegt. Hätte Kant nur im geringsten vorausgesehn, dafs sein halber Idealismus, durch welchen er den alten Verkehrtheiten zu steuern gedachte, dieselben wieder herbeyführen würde: so darf man wohl annehmen, dies würde ihm, als seiner Absicht gerade zuwider, für die stärkste Widerlegung, für eine wahre deductw ad absurdum gegolten haben. Der idealistische Zug in seiner Lehre aber ist allein Schuld an seiner schädlichen Geringschätzung der Teleologie; und diese Geringschätzung mufs ohne Weiteres von selbst aufhören, sobald jener falsche Zug ver- schwindet. 1 Andererseits kann man, ohne Prophet zu sevn, mit der gröfsten Bestimmtheit weissagen, dafs, so lange jenes Brüten über Religion, welches vom metaphysischen Scharfsinn das gerade Gegentheil ist, sein unheilvolles Treiben nicht lassen will, die Spaltungen in Hinsicht kirch- licher Meinungen nicht besänftigt [32g] werden können, sondern noch immer gefährlicher anwachsen werden.*

199. [=218 d. IL Ausg.] Es war uns auch nicht in den Sinn ge- kommen, die fünf praktischen Ideen, deren vollständige Reihe vor uns liegt (153.), in der Metaphysik zu suchen. Wie hätte sie dorthin kommen sollen? Sie müfste sich erst in die Mitte der Erfahrungsbegriffe, durch welche allein etwas zu erkennen gegeben wird, verirrt haben. Etwa durch Beyspiele von Tugenden, durch Erinnerung an sündliche Handlungen, durch Aussichten auf Genufs oder Gefahren ihn zu verlieren? Es ist aber eine längst be- kannte Sache, dafs man auf solchem Wege stets nur Halbheiten im moralischen Gebiete zu Gesichte bekommt; auch war die Erfahrung nicht nöthig, um uns den Weg zu weisen, auf welchem eine Idee nach der andern gefunden wird. Konnte aber die Erfahrung bey diesem Geschaßte nichts helfen, so war an Metaphysik vollends nicht zu denken; denn diese sorgt nur, dafs aus Erfahrungen Erkenntnisse werden. Auf Hirn- gespinste, und wenn es die schönsten Dichtungen wären, läfst sie sich nicht ein. Sie thut ihre Schuldigkeit da, wo sie von der Erfahrung, deren Begriffe einer Berichtigung bedürfen, herbeygerufen wird.

Warum aber hier der praktischen Ideen Erwähnung geschehe, das wird hoffentlich Niemand fragen. Die Rede war und ist von Religion. Und diese Rede kann ohne Hülfe der praktischen Ideen gar nicht an- gefangen werden. Man redet Worte ohne allen Sinn, wenn man von Gott spricht, ohne ihn sogleich in demselben Augenblicke zu denken als den Heiligen, dessen Wille zur Einsicht stimmt; als den Erhabenen, dessen Macht sich am Sternenhimmel und in dem Wurm offen[33o]bart; als den Gütigen, welchen das Christentum schildert; als den Gerechten, der schon in den mosaischen Geboten2 erkannt wird; als den Vergelter, vor welchem

1 Der folgende Schlufssatz : „Andererseits kann man .... anwachsen werden" nebst der dazu gehörenden Anmerkung fehlt in der II. Ausg.

Warum ist Christus nicht schon vor hunderttausend Jahren geboren worden ? Ein Knabe würde meinen, sehr klug zu antworten: weil es damals keine Menschen gab. Aber warum gab es keine Menschen? Der Mann soll wissen, dafs die zweyte Frage in der ersten liegt ; und dafs die erste Frage Unsinn ist, wie alle Fragen, deren Unbeantwortlichkeit man voraussehen mufs.

2 „Gesetzen" statt „Geboten" II. Ausg.

a

SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der 1. Ausg.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 6. Capitel. Von dem Verhältnisse der Metaphysik etc. 267

der Sünder sich fürchtet, so lange ihm nicht Gnade verkündigt wird. Hier, und sonst nirgends, ist der Sitz der Religion. Wäre in jenen Reden vom allerrealsten Wesen, vom Absoluten, von der Einheit des Ausge- dehnten und Denkenden, ein religiöser Sinn, so müfste er in der ver- steckten Voraussetzung der praktischen Ideen liegen, die allerdings oft genug vorausgesetzt werden, wenn sie auch nicht bestimmt unterschieden, vielweniger als eine Reihe, wie sich's gebührt, construirt sind.

Wie aber wird aus den Ideen Eins, da sie doch keineswegs Eins, auch eben so wenig aus Einem Puncte hervorgegangen, sondern gerade Fünf, und jedes von den Fünfen durchaus keinem Andern unterthänig sind, sondern selbst die Quelle der moralischen Auctorität ausmachen ?

Zuerst betrachte man hier den Begriff der Tugend; oder, was das- selbe sagt, den Begriff vom Werthe einer Person. Persönlichkeit hat ohne Zweifel das Merkmal der Einheit. Wenn nun der Werth der Person von fünf verschiedenen, unter einander schlechthin unabhängigen Ideen mufs bestimmt werden; (und das ist unvermeidlich, denn jede derselben ist für sich eine Urquelle des Lobes und Tadels, die Niemand verstopfen kann;) so leuchtet ein, dafs keine einzelne Idee den Werth der Person für sich allein entscheiden kann. Das Lob der Stärke kann sich verbinden mit dem Tadel der Ungerechtigkeit; das Lob des charaktervollen, von der Einsicht streng geleiteten Lebens stöfst oft genug mit dem Tadel eines lieblosen, kalten Herzens zusammen. Die Person kann keinen solchen Tadel ablehnen; er ist ein Flecken, der an ihr haftet. Aber nicht blofs fleckenlos, sondern löblich soll sie seyn. Und wie die Fleckenlosigkeit, die Reinheit, die Unschuld, als Eins gedacht wird, so auch das Lob, an dem nichts vermifst werden darf, weil schon der Mangel ein Flecken seyn würde. So entsteht der Begriff der Tugend; und nichts Anderes, als gerade nur dies, bestimmt seinen wesentlichen Inhalt. Die [331] mittel- baren Tugenden, der Keuschheit, Sparsamkeit, und dergleichen, sind zwar für den Menschen wichtige Zusätze, aber ihre Wichtigkeit ist die des Mittels zum Zwecke. Dagegen darf von den praktischen Ideen nicht eine einzige, ja selbst keine von ihren Anwendungen auf die Gesellschaft fehlen, wenn nicht der Begriff der Tugend soll falsch gebildet werden. Und dieses Bilden aus dem schon Vorgefundenen, das Zusammenfassen der mehrern praktischen Ideen, in die Einheit des Tugendbegriffs, kann man mit Recht der praktischen Vernunft als ihr Werk beylegen. Das ist wenigstens dem Sprachgebrauche gemäfs.

200. [= 2 iq d. IL Ausg.] Jetzt erinnere man sich, dafs, laut Zeug- nifs der Geschichte, die religiösen Begriffe der Menschen niemals höher stehn, als ihre moralischen. Vielmehr, sie bleiben gar leicht um ein merk- liches hinter denselben zurück; wovon die homerischen Götter zur Probe dienen können, die sichtbar schlechter sind als die Menschen.

Es ist also keine Frage, dafs die Tugend als Ideal vorangeht, nämlich in der Zeit, vor der klaren und vollständigen Idee von Gott. Wiederum diese Idee mufs vorangehn, bevor man de natura Deorum schreibt, zweifelt, und Beweise versucht.

Von hier an aber zeigt sich auch beständig das Schauspiel, dafs die Beweise zwar gesucht, aber stets zugleich als überflüssig betrachtet werden.

268 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

Das Bewiesene stand immer schon vest vor dem Beweise: ungefähr wie bev den Mathematikern die Theorie der Parallellinien, oder das Parallelo- gramm der Kräfte. Niemand zweifelt daran; wohl aber zweifelt man weo-en der Schärfe der Beweise; zum Zeichen, dafs man blofs darum ver- legen ist, den Grund des Glaubens deutlich auszusprechen.

Was nun ein solcher Glaube eigentlich braucht, das liegt am Tage. Beweise braucht er nicht; diese würden ihn nicht schaffen, wenn sie auch befunden würden. Beweise für die Theorie der Parallelen sind der offen- barste Luxus, der in der Mathematik nur kann gedacht werden. Aber das rechte Wort [332] ist hier nicht Beweis, sondern Bestätigimg. Diese mufs von Proben im Einzelnen, oder in Anwendungen ausgehn.

Daher ist für die Religion die Physikotheologie von unendlicher Wichtigkeit, weil sie unzähliche Proben darbietet, an denen eine, wohl oder übel angebrachte, Dialektik blofs das tadeln kann, dafs man nicht den Zuschnitt eines abgeschlossenen Systems durch jene zu gewinnen ver- mag. Es wäre ein Unglück, wenn der Mensch dahin gelangte. Aus tiefer Noth ruft er gen Himmel; wie nun, wenn er sich vermälse, die Zweckmäfsigkeit der Hülfe, die er begehrt, zu bestimmen? Entweder würde er sie 'fordern, als eine Schuldigkeit, oder sie voraussetzen, als einen unfehlbaren Naturerfolg, oder sich den Gedanken daran als etwas Unmögliches aus dem Sinne schlagen. Wo bliebe da die religiöse Ge- sinnung? Wo bliebe die demüthige Bitte, welche auf Versagung gefafst ist?

Die Anwendungen aber, wodurch die Religion bestätigt wird, liegen im Handeln der Menschen, und in der Ausbildung der Charaktere. Ben- der Religion gedeiht die moralische Gesundheit; durch sie erhöhet sich die moralische Würde. Ohne sie ist der Mensch schwach, und muthlos zum Guten.

iWill man noch eine Bestätigung? Priesterherrschaft ist das gröfste aller Uebel. Denn gerade das Edelste, die Religion, wenn es verzerrt wird, verwandelt sich ins2 Abscheulichste und Verderblichste.

Am Ende dieses Capitels sollte noch von dem Verhältnifs der Meta- physik zur praktischen Philosophie die Rede seyn; allein dazu wird sich späterhin eine bequemere Gelegenheit finden.

1 Die folgenden zwei Absätze. „Will man noch .... Gelegenheit finden." fehlen in der II. Ausg.

- „in das für „ins" SW.

2. Abschnitt. LUethodenlehre. ". Capitel. Von der Psychologie. 260

[333] Siebentes Capitel.

Von der Psychologie.

x20i. So unnütz es wäre, gegen unbeugsame Vorurtheile, die sich den nothwendigsten Verbesserungen der Psychologie blind entgegenstellen, in Disput einzutreten; so können dieselben doch hier nicht ganz unbe-

1 § 201 und § 202 bis zu den Worten: „nicht unmittelbar in die Sinne fallen." (S. 274 Z. 4 v. o.) lauten in der II. Ausgabe (teilweise mit der ersten über- einstimmend) folgendermafsen :

220. Die Psychologie hat eine besondere "Wichtigkeit für die ency- klopädische Übersicht der Philosophie, weil sie mit allen Theilen der philosophischen Forschung in der unmittelbarsten Wechselwirkung steht. Jeder will seine Voraussetzungen durch Etwas belegen, das irgendwie im Bewufstseyn sich ankündigen soll. Wenn nun das, was Jedermann in sich unzweydeutig findet, einer gehörigen wissenschaftlichen Bearbeitung unter- worfen wird dazu aber ist Rechnung unentbehrlich, alsdann er- geben sich Resultate, wodurch die gesammte Philosophie in ein andres Licht gestellt wird. So ist die Psychologie passiv und activ; wie man in diesem Buche schon in vielen einzelnen Puncten bemerken konnte.

221. In altern Zeiten, welche an der Logik das einzige Organ der Untersuchung zu besitzen glaubten, war es natürlich, dafs man die Be- wegung der Vorstellungsmassen, die bald zusammenwirken, bald einander mit allem in ihnen liegenden Denkt?;, Füllten und Begehren aus dem Be- wufstseyn verdrängen, keiner bestimmten Untersuchung zugänglich achtete. Man hielt sich an den Inhalt der Vorstellungsmassen; diesen konnte man einer, freylich sehr rohen, Classification unterwerfen ; und die Täuschungen, welche von da ausgingen, waren um desto mächtiger, da man nicht ahndete, dafs die Bewegung den Inhalt erzeugt, und dafs durch gesellige Ueberlieferung solcher Erzeugnisse im Laufe der Jahrtausende sich endlich Producte bilden, deren Geschichte sich in keinem einzelnen menschlichen Kopfe nachweisen läfst, und die schon deshalb als ein ursprünglich Ge- gebenes erscheinen.2 Was nun die Bewegung der Vorstellungen anlangt: so unterscheide man die sinkenden, die frey steigenden, die frey stehen- den, und die reproducirten, welche letztern wiederum in die unmittelbar und mittelbar reproducirten zerfallen.* Zu den sinkenden gehören die augenblicklichen sinnlichen Wahrnehmungen, welche sogleich von ihrer ur- sprünglichen Klarheit etwas verlieren. Unter den frey steigenden (148.) suche man diejenigen, welche gewöhnlich der Einbildungskraft zugeschrieben werden ; diese sowohl als die im Sinken schon begriffenen können den frey stehenden (die eine vorzügliche Stärke besitzen müssen) begegnen; und hier hat der wichtige Procefs seinen Sitz, welcher Apperception oder Aneignung genannt wird. Denkt man nun die mancherley, meistens gedächnifsmäfsigen Reproductionen hinzu, welche die Apperception veranlafst, so erhält man

: Von frey stellenden wird nur vergleichungsweise gesprochen ; an ein vollkommenes Stillstehen ist weder nach Theorie noch nach Erfahrung zu denken.

2 bis „erscheinen." stimmt die II. Ausg. mit der ersten überein.

~0 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

rührt bleiben. Schon deswegen nicht, weil es nicht scheinen darf, als ob ihnen irgend etwas eingeräumt würde.* Aber auch an sich selbst hat die Psychologie eine besondere Wichtigkeit für die encyklopädische Ueber- sicht der Philosophie, weil sie mit allen Theilen der philosophischen Forschung in der unmittelbarsten Wechselwirkung steht. Jeder will seine

wenigstens die ersten Grundzüge zu einem Gemälde nicht von psy- chischen Seltenheiten, sondern von dem, was ganz gewöhnlich im täglichen Leben sogleich in uns vorgeht. Unsere Vorstellungen gestalten sich über- dies gemäfs den Verbindungen, die sie eingehen oder schon eingegangen sind, zu Bildern wirklicher und möglicher Dinge; und indem ihre Be- wegungen sich theils begünstigen, theils erschweren und hindern, entstehen die mannigfaltigen Gemüthszustände, die Gefühle und Begierden.

Dies vorausgesetzt, so mag man nun, zu einer kurzen Uebersicht der psychologischen Methodenlehre, drey Fragen aufstellen: Was soll er- klärt werden? woraus ist es zu erklären? und in welcher Ordnung und Folge sollen die Gegenstände der Erklärung zur Untersuchung gezogen werden? Die letzte Frage setzen wir einstweilen noch bey Seite. Erstlich also: Was soll' erklärt werden? Die natürliche Antwort ist, das Gegebene der innern Wahrnehmung, nach Abzug dessen, was von zufälligen Um- ständen der Lage und des Augenblicks abhängt. Aber dieser Abzug darf nicht, wie bey Reinhold, irre führen, als ob nach Beseitigung des Stoffs der Vorstellungen noch Seelenvermögen und deren Formen (185.) übrig blieben ; also, als ob das Ich erst die Vermögen hätte, und die Vermögen den Stoff bearbeiteten. Vorstellungen, die durch andre passiv reproducirt werden, erscheinen als Stoff; das ist die Folge ihrer relativen Schwäche; sie bedürfen nur einer Verstärkung oder eines günstigem Verhältnisses, um selbst activ zu werden. Gegeben sind Vorstellungen und Gemüthszustände, aber keine Formen ohne Stoff, und keine Handlungen der Seelenvermögen.

Zweitens: Woraus soll erklärt werden? Die kürzeste Antwort wäre: aus der allgemeinen Metaphysik. Aber anstatt dieser unbestimmten Ant- wort können wir, der Sache näher tretend, sagen: aus dem Gegensatze der Vorstellungen in Einer Seele. Wird diese Antwort gehörig entwickelt: so ergeben sich die sinkenden, steigenden, appercipirenden, reproducirten, von denen so eben die Rede war, und hiemit der Anfang, wovon alles Uebrige nur Fortsetzung ist.

Unterwirft man die Bewegung der Vorstellungen auch nur hypothetisch, unter den einfachsten denkbaren Voraussetzungen, der mathematischen Be- trachtung: so gewinnt man sogleich positive Resultate, die, wie es nun- mehr öffentlich genug bekannt ist, von Mathematikern ohne Metaphysik (wiewohl nicht ohne philosophischen Geist!) können verstanden, und mit den bekanntesten Erfahrungen so weit verglichen werden, dafs die Allein-

* Als der Verfasser seine Untersuchungen bekannt machte, fanden sich vorlaute Redner, die nicht einmal warten konnten, bis über ' Rechnungen ein Mathematiker ge- sprochen hatte. Die Platze in den kritischen Zeitschriften wurden dergestalt besetzt von solchen Rednern, dafs es Jahrelang schien, als sollte für gründliche Prüfung gar kein Raum offen bleiben.

1 bis über die Rechnungen SW.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 7. Capitel. Von der Psychologie. 271

irrigen Voraussetzungen durch Etwas belegen, das irgendwie im Bewufst- seyn sich ankündigen soll; und die einfache Widerlegung, dafs Andre in ihrem Bewufstseyn dergleichen nicht gefunden, oder es sogleich anders ausgelegt haben, wird mit der Anmaafsitvg zurückgewiesen, man habe

herrschaft der alten Meinung von den Seelenvermögen ein- für allemal vcrbey ist.

1Läfst man sich hingegen von der logischen Classification des Inhalts leiten, welchen die Vorstellungsmassen darzubieten pflegen, und zu welchem jene Seelenvermögen sind hinzugedichtet worden: so findet sich eine Masse von negativen Resultaten, welche verrathen, dafs die Logik durch ihr Coordiniren und Subordiniren das Mancherley, was sich der innern Wahr- nehmung darbot, aus seinem wahren und natürlichen Zusammenhange mufste gerissen haben.*

Man sollte nun zwar glauben, Niemand werde ohne Noth in einem Walde von Negationen umherirren wollen, die blofs zeigen, der rechte Weg sey hier nicht zu finden, wenn sich von einem andern Puncte aus die gerade und breite Strafse sogleich erkennen und betreten läfst. Aber diese Strafse erfodert den synthetischen Gang; jene Negationen hingegen entstehen aus Analvsen, die, wenn der gute Wille fehlt, noch durch aller- ley Vorwände können hintertrieben werden, wie die Erfahrung zeigt, denn sonst hätte ein gebildetes Zeitalter schon längst den alten Fabeln den Abschied gegeben.

222. Beide Fragen: was soll, und woraus soll erklärt werden? setzen das Bedürfnifs der Erklärung als anerkannt voraus. Wenn diese Aner- kennung fehlt, so ist Gefahr, dafs sich das Was und das Woraus von einander trenne, und dafs der Schein entsteht, als ob es zweyerley Psycho- logie gebe. In der That ist oft genug das Gegebene der innern Wahr- nehmung als vorbereitend auf weiteres Studium abgesondert dargeboten, und die nachzuliefernde Erklärung unbestimmt aufgeschoben worden. Mehr und mehr machte sich die Meinung gelten, dafs die Psychologie in zwey verschiedenen Formen erscheinen könne; sie waren mit den Namen empirische und rationale Psychologie unterschieden worden. Aber nicht so deutlich war, dafs jene analytisch, diese synthetisch verfahren, und dafs beides verbunden bleiben müsse. Die empirische Psychologie meinte fertig zu seyn, wenn sie den Vorrath der Wahrnehmungen sammelte, welche der Mensch darbietet, sofern er mehr ist als ein blofser Leib; dafs sie suchen müsse, durch die Oberfläche dieser Wahrnehmungen hindurch, das Gewebe derselben bis in seine kleinsten Theile auflösend, in die ver- borgene Tiefe zu dringen, das wufsten Leibnitz und Locke besser als Wolf und Kant. ** So ging durch die beiden Letztern der analytische Charakter, welchen die empirische Psychologie besitzen soll, verloren. Die

* Lehrbuch der Psychologie, im zweyten Theile an vielen Stellen. [Bd. IV vorl. Ausg.]

"** Psychologie I, § 17 20. [Bd. V vorl. Ausg.]

1 Der Text der folgenden Absätze („Läfst man" bis „Abschied gegeben") stimmt in beiden Ausgaben überein; nur die zum ersten Absatz gehörige Anmerkung (*) ist verschieden.

-j II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

schärfer beobachtet als die Andern, und stehe auf einem höhern Stand- puncte. Umgekehrt: wenn das, was Jedermann in sich unzwey deutig findet, einer gehörigen wissenschaftlichen Bearbeitung unterworfen wird dazu aber ist Rechnung, und der Fleiß der Rechnung, unentbehrlich, als- dann ergeben sich Resultate, wo[334]durch die gesammte Philosophie in ein andres Licht gestellt wird. So ist die Psychologie passiv und activ; wie man in diesem Buche schon in vielen einzelnen Puncten bemerken

konnte.

In altern Zeiten, welche an der Logik das einzige Organ der Unter- suchung zu besitzen glaubten, war es natürlich, dafs man die Bewegung der Vorstellungsmassen, die bald zusammenwirkten, bald einander mit allem in ihnen liegenden Denken, Fühlen und Begehren aus dem Bewufstseyn verdrängen, keiner bestimmten Untersuchung zugänglich achtete. Man hielt sich an den Inhalt der Vorstellungsmassen; diesen konnte man einer, freylich sehr rohen, Classification unterwerfen; und die Täuschungen, welche von da ausgingen, waren um desto mächtiger, da man nicht ahn- dete, dafs die Bewegung den Inhalt erzeugt, und dafs durch gesellige Überlieferung solcher Erzeugnisse im Laufe der Jahrtausende sich endlich Producte bilden, deren Geschichte sich in keinem einzelnen menschlichen Kopfe nachweisen läfst, und die schon deshalb als ein ursprünglich Ge- gebenes erscheinen.1 So erzählt Kant, (um nur eins der auffallendsten und bekanntesten Beyspiele anzuführen,) der Raum weide als eine un- endliche gegebene Gröfse vorgestellt; er sey wesentlich einig; das Mannig- faltige in ihm, mithin auch der allgemeine Begriff von Räumen überhaupt,

beruhe lediglich auf Einschränkungen.* Damit war alle psychologische Untersuchung** im Voraus unmöglich gemacht. Vorstellungen des Räum- lichen erzeugen sich aus abgestufter Verschmelzung; hingegen die Vor- stellung des unendlichen Raums existirt factisch nur in Menschen von höherer Bildung. Der letztere Umstand wenigstens hätte nicht verkannt werden sollen; aber der Fehlschlufs vom Räume als einer nothwendigen Vorstellung, welcher gegen die erste aller syllogistischen Regeln zivey Mittelbegriffe hat,*** bevestigte die Täuschung.

[335] Unterwirft man die Bewegung der Vorstellungen auch nur

tionale Psychologie, hinwegkritisirt von Kant, hätte zwar wieder zum Vorschein kommen sollen, als der Fortgang zeigte, die todtgeglaubte Metaphysik sey noch nicht todt. Aber da sie bey Wolf aus bloßer, noch obendrein sehr fehlerhafter Metaphysik stammte, war ihr synthetischer Stempel nicht deutlich. 2Die Synthesis erfodert hier mehr als blofs Meta- physik; sie erfodert Mathematik, und gelenkige Köpfe, die Mathematik nicht blofs gelernt haben, sondern zu brauchen wissen; auch dann, wann ihnen die Gröfsenbegriffe, welche den Gegenstand der Rechnung aus- machen, nicht unmittelbar in die Sinne fallen. * KANTS Kritik d. r. Vernunft, § 2. ** Psychologie II. § 106 u. s. f. - *** Ebendas. § 144.

1 Vgl. Anm. 2 auf S. 269.

2 Der folgende Schluß dieses Absatzes („Die Synthesis .... bis in die Sinne fallen"; stimmt in beiden Ausgaben überein.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 7. Capitel. Von der Psychologie. 273

hypothetisch, unter den einfachsten denkbaren Voraussetzungen, der mathe- matischen Betrachtung: so gewinnt man sogleich positive Resultate, die, wie es nunmehr öffentlich genug bekannt ist, von Mathematikern ohne Metaphysik (wiewohl nicht ohne philosophischen Geist!) können verstanden, und mit den bekanntesten Erfahrungen so weit verglichen werden, dafs die Alleinherrschaft der alten Meinung von den Seelenvermögen ein- für allemal vorbey ist.

1Läfst man sich hingegen von der logischen Classification des Inhalts leiten, welchen die Vorstellungsmassen darzubieten pflegen, und zu welchem jene Seelenvermögen sind hinzu gedichtet worden: so findet sich eine Masse von negativen Resultaten, welche verrathen, dafs die Logik durch ihr Coordiniren und Subordiniren, das Mancherley, was sich der innern Wahrnehmung darbot, aus seinem wahren und natürlichen Zusammen- hange mufste gerissen haben.*

Man sollte nun zwar glauben, Niemand werde ohne Noth in einem Walde von Negationen umher irren wollen, die blofs zeigen, der rechte Weg sey hier nicht zu finden; wenn sich von einem andern Puncte aus die gerade und breite Strafse sogleich erkennen und betreten läfst. Aber diese Strafse erfordert den synthetischen Gang; jene Negationen hingegen entstehen aus Analysen, die, wenn der gute Wille fehlt, noch durch aller- ley Vorwände können hintertrieben werden, wie die Erfahrung zeigt, denn sonst hätte ein gebildetes Zeitalter schon längst den alten Fabeln den Abschied gegeben.

202. Dafs die Psychologie in zwey verschiedenen Formen erscheinen könne, wufste man; sie waren mit den Namen em{$$<j}f>irische und rationale Psychologie unterschieden worden. Aber nicht so deutlich war, dafs jene analytisch, diese synthetisch seyn müsse. Die empirische Psychologie meinte fertig zu seyn, wenn sie den Vorrath der Wahrnehmungen sammelte, welche der Mensch darbietet, sofern er mehr ist als ein blofser Leib; dafs sie suchen müsse, durch die Oberfläche dieser Wahrnehmungen hin- durch, das Gewebe derselben bis in seine kleinsten Theile auflösend, in die verborgene Tiefe zu dringen, das wufsten Leibnitz und Locke besser als Wolf und Kant.** So ging durch die beiden letztern der analytische Charakter, welchen die empirische Psychologie besitzen soll, verloren. Die rationale Psychologie, hinwegkritisirt von Kant, hätte zwar wieder zum Vorschein kommen sollen, als der Fortgang zeigte, die todtgeglaubte Meta- physik sey noch nicht todt. Aber da sie bey Wolf aus blofser, noch obendrein sehr fehlerhafter Metaphysik stammte, war ihr synthetischer Stempel nicht deutlich; und alle neuen Benennungen, die man ohne Noth der Metaphysik gab, um nur nicht sagen zu müssen, man stelle das Alte wieder her, konnten der Psychologie nichts helfen. 2Die Synthesis erfordert

* Lehrbuch zur Psychologie, im ersten Theile an vielen Stellen. [Bd. VI vorl. Ausg.] Dieses, von der Analysis anhebende Lehrbuch genau zu vergleichen, war das Mindeste, was diejenigen Beurtheiler hätten leisten sollen, die sich in den synthe- tischen Gang des Hauptwerks nicht finden konnten.

** Psychologie I, § 17 20.

1 Vgl. Anm. * aul S. 271. - Vgl. Anm. 2 auf S. 272. Herbart s Werke. IX. '"

274 *-"■■ Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1 .

hier mehr als blofs Metaphysik; sie erfordert Mathematik, und gelenkige Köpfe, die Mathematik nicht blofs gelernt haben, sondern zu brauchen wissen; auch dann, wann ihnen die Gröfsenbegriffe, welche den Gegen- stand der Rechnung ausmachen, nicht unmittelbar in die Sinne fallen.

Also keinesweges eine vorgebliche Beobachtungsgabe, die ohne künst- liche Werkzeuge dennoch feiner seyn müfste, als sie je ein Mensch besessen hat und besitzen kann; eben so wenig eine vorgeblich geniale Schöpfung neuer Ideen, die bey Lichte besehen, nichts als alte, rohe Vorurtheile sind : wohl aber ein Fortschritt im Gebiete des mathematischen Denkens, welches Gebiet seiner Natur nach unbegränzt ist, dieser Fortschritt fördert die Psychologie, indem er das Geheimnifs, das [337] bisher über dem Zusammenhange der geistigen Ereignisse schwebte, allmählig aufdeckt.

Allmählig! nicht aber nach Belieben des praktischen Interesse! Wenn die Wissenschaften Aufschlüsse geben, so fangen sie nicht gerade damit an, uns diejenigen Fragen, die uns am meisten x am Herzen liegen, zu be- antworten. Schon Mancher hat die Geometrie sehr trocken gefunden, weil sie ihn zwang, früher den Pythagoräischen Lehrsatz zu lernen, ehe vom Feldmessen und von andern praktischen Dingen die Rede war. Die Schwellen des Bewufstseyns , die Verschmelzungen vor und nach der Hemmung, sind eben so trocken; und wir dürfen den Leser dieses Buchs nicht damit plagen.

203. [= 223 d. IL Ausg.] Der Name: psychische Anthropologie, ist neuerlich in solchem Grade üblich geworden, dafs die Erwähnung desselben hier nicht fehlen darf; und zwar um desto weniger, weil dadurch eine Be- gränzung ausgedrückt wird, die zwar für manche Vorträge bequem seyn kann,* die aber zu den wissenschaftlichen Formen zu rechnen eben so verkehrt seyn würde, als wenn wir etwa die Form der gegenwärtigen Ency- klopädie uns einfallen liefsen der Philosophie selbst anbieten zu wollen.**

Anthropologie ist der rechte Name für populäre Vorträge, worin man die Frage: wie Leib und Seele ein Ganzes bilden können, nicht ernst- lich untersuchen will. Der Leib, als materiale Masse, liegt zu platt auf der Oberfläche der Sinnen [3 3 8] weit, die Seele, als Substanz, welcher die geistige Regsamkeit inwohnt, liegt zu tief in dunkler Metaphysik, als dafs man nicht zwischen beiden eine Mitte für gemüthliche und gemäch- liche Leute suchen sollte, 2 denen schon solche geringe Anstrengung, wie

1 „am meisten" fehlt in der II. Ausg.a

* Dafs in jeder Form viel Treffliches kann gesagt werden, ist bekannt. Wenn ein aufmerksamer, ruhiger Beobachter sowohl der Natur als der wechselnden Systeme, der aber zu scharfsinnig ist, um sich von falschen Systemen fangen zu lassen, seine Re- sultate unter dem Titel: psychische Anthropologie, mittheilt, so versteht sich von selbst, dafs man über das Wort nicht mit ihm streitet. b

** Es ist vielleicht nicht überflüssig daran zu erinnern, dafs in diesem Buche die systematische Form gerade so sorgfältig vermieden werden mufste, als in guter Prosa der Vers vermieden wird. Man suche das System in den systematischen Schriften, c

2 Die folgenden Worte: „denen schon .... zu beschwerlich fällt." fehlen in der II. Ausg.

a SW drucken nach der IL Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg. b Die vorstehende Anmerkung fehlt in der II. Ausg. c Die vorstehende Anmerkung fehlt in der II. Ausg.

2. Abschnitt. Methodenlehre. f. Capitel. Von der Psychologie. 275

wir oben unsern Lesern zumutheten (115 146.), zu beschwerlich fällt. Man verspricht also sich selbst und Andern, den ganzen Menschen, und nur den Menschen, erfahrungsgemäfs von seinem Mittelpuncte aus zu be- schreiben; und dieser Mittelpunct ist natürlich das Leben, in seiner Doppelgestalt, dem innem und dem äufsern Leben. Eine richtige Ahnung des Satzes: dafs innere und äu/sere Zustände einander gegenseitig bestimmen (128.), schimmert durch; aber die natürliche Frage: Zustände Wessen? bleibt unbeantwortet. Denn der Eine und ganze Mensch, welchen man voraussetzte, ist ein Ideal, von dem sich viel Schönes sagen, aber wenig Wahres lehren läist; und die vielen wirklichen Menschen, von denen Er- fahrung und Geschichte reden, haben an leiblicher und geistiger Nahrung so viel Fremdes genossen, dafs man, um sie zu beschreiben wie sie nun eben sind, ins Unendliche hinausgetrieben wird. Kein Wunder, dafs die Naturphilosophen, wenn sie den Menschen beschreiben wollen, gern vom Unendlichen beginnen. Man hat die Wahl, entweder den leeren, ab- stracten Begriff des Unendlichen zum Grunde zu legen, alsdann mufs ihn die Phantasie wieder ausfüllen; oder beym Ausfluge ins Unendliche Alles, was man von soliden Naturkenntnissen besitzt, mitzunehmen, um nicht ins Leere zu gerathen; alsdann aber ist die Fülle zu grofs; man mufs das Einzelne Stück für Stück besehen, ja kritisch untersuchen; und hiemit befindet man sich wieder zu Hause; der Ausflug war eine Reise im Traume.

Zwischen beiden Untersuchungen, der einen über die geistige Reg- samkeit, der andern über die Materie (115— 120 und 135 i37-)> giebt es allerdings eine Mitte, und dort befindet sich in der That der Begriff des Lebens, (123 133.); aber diese Mitte ist für die Untersuchung kein Princip, sondern ein Resultat. Sie ist der Sammlungspunct, worin zwey [339] Untersuchungen zusammenstofsen, die unter einander gerade so dis- parat sind, wie Leib und Seele nur immer mögen gedacht werden. Sie lassen sich auch nicht errathen, nicht aus der Ferne sehen, sondern man mufs sie anstellen, um sie zu kennen und alsdann zu verbinden.

So lange nun an mathematische Psychologie und an Synechologie nicht gedacht wurde, war es leicht, sich zu überreden, Leib und Geist seyen nur zwey Seiten, von welchen eine unbekannte Einheit der wahre Mensch selbst sich zeige. Man wollte jedoch von dem Unbe- kannten etwas lehren; und das Lehren trieb in bekannte Gegenden zu- rück. Man hob demnach aus Einer, untheilbaren, aber leider unbekannten (und irrig vorausgesetzten) Anthropologie hier und dort einen bekannten Theil heraus. So kamen Psychologie und Physiologie stets wieder als zwey völlig verschiedene Wissenschaften zum Vorschein; nur mufste sich die erstere den neuen Namen: psychische Anthropologie, gefallen lassen.

Was hatte man nun gewonnen? Durch den Namen gar nichts. Aber verloren gab man die Substanz der Seele, die man nicht metaphysisch zu rechtfertigen wufste; und aus den Augen verlor man durch Schuld der falschen Form die Thiere, welche für wahre Psychologie noch merkwür- diger sind, als die Geistes - Zerrüttungen des Menschen; wäre es auch nur deshalb, weil der Traum und die Wuth eben sowohl beym Hunde und beym Rinde zu Tage kommen, als beym Menschen; so dafs man hier

18*

276 U- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

wenigstens lernen kann, sich der Einbildung von einer zeiriltteten Vernunft zu erwehren, indem das Rind keine Vernunft zu verlieren hatte. J Wer aber den psychologischen Mechanismus nicht von unten auf, 2 so wie er Thieren und Menschen erfahrungsmäfsig gemein ist, studiren will, der wird ihn niemals kennen lernen.

Jene psychischen Anthropologen nun, denen die Thiere zu gering waren, um auf sie Rücksicht zu nehmen, hätten wohl näher überlegen, mögen, was man zu leisten habe, um für einen guten Empiriker zu gelten. Dieser Ruhm pflegt nicht dadurch zu wachsen, dafs man geflissentlich die Sphäre [340] seiner Beobachtung ins Enge zieht. Aber unläugbar liegt der Contrast vor x\ugen, dafs in dem nämlichen Zeitalter, worin die ver- gleichende Anatomie sich ausdehnte, so weit sie konnte, (wie es guten Beobachtern geziemt,) die Psychologie nur noch vom Menschen hören wollte! 3 204. [= 224 d. II. Ausg.] Ihrer wahren Natur nach ist Psychologie die Lehre von den innern Zuständen ein/acher Wesen. Bey diesen Zuständen giebt es Verschiedenheiten der Stärke, des Hemmungsgrades, und der Verbindung. Daraus entstehen mancherley Producte, deren Ursprung die mathematische Untersuchung deutlich macht, nachdem das einfache Wesen, die Seele, durch Metaphysik gerechtfertigt ist. In der innern Erfahrung lälst sich die Seele nicht beobachten, wohl aber treten abwechselnd jene Producte im Bewufst- seyn mehr oder minder deutlich hervor,* und sind alsdann Gegenstände einer flüchtigen, sehr unvollkommenen, der Alisdeutung im hohen Grade unter- worfenen, jedoch für den gemeinen Gebrauch des täglichen Lebens hin- reichenden Beobachtung, worauf die gesammte sogenannte Menschenkennt- nifs beruht. Diese Menschenkenntnifs vervollständigt sich im Umgange und durch die Geschichte; ihre Mängel aber verrathen sich, sobald ungewöhnliche Umstände eintreten, seyen dieselben nun historischer oder physiologischer Art; daher bald die Höhe, bald die Niedrigkeit des Menschen Erstaunen erregt. Wie nun die Mängel unserer Selbstbeobachtung uns nicht hindern, uns in andere Menschen hineinzudenken, und wie uns die Gedanken und

1 Der folgende Schlufssatz: „Wer aber .... niemals kennen lernen." fehlt in der II. Ausg.

:' Hier schiebt die II. Ausg. noch folgenden Zusatz ein: „Hieher pafst, was schon früher, bey Gelegenheit der lebenden und der unbelebten Materie, erinnert wurde (125). Will man prüfen, ob man einen haltbaren Begriff von Körpern gefafst habe: so mufs die Aufmerksamkeit gleichmäßig auf belebte Körper wie auf unbelebte gerichtet seyn; und eben so, will man wissen, ob man sich die geistige Regsamkeit richtig denke: so darf man das Feld der Erfahrung nicht auf die Menschen beschränken. Wo In- duration gelten soll, da mufs man nicht ein Verfahren wählen, welches ihrer Vollständigkeit Abbruch thun würde.

Anders verhält es sich, wenn eine Untersuchung vom Bekannten zum Unbekannten fortschreiten soll. Von der Stellung, welche dem gemäfs den psychischen Thatsachen zukommt, wird weiterhin Etwas folgen.

* Was aber (-wird man fragen) ist das Bewufstseyn selbst, und AVer ist der Be- obachter? Diese Frage ist oben (146.) schon bevonvortet.

- SYV „herauf" statt „auf".

2. Abschnitt. Methodenlehre. 7. Capitel. Von der Psychologie. 277

Gesinnungen derselben hiedurch wenigstens theilweise deutlich werden: eben so überträgt die Wissenschaft das, was sie von den innern Zuständen der Seele weifs, auf Veranlassung der Erfahrung auch versuchsweise auf [341] andre einfache Wesen, und gewinnt hiemit, wie der Erfolg zeigt, Licht über die sonst im hohen Grade räthselhaften Erscheinungen des eigentlichen Lebens (128. 131.).

Um aber für das Innere der Psychologie selbst Licht zu gewinnen, stelle man drev Puncte zusammen, welche in diesem Buche an verschiedenen Orten vorgekommen sind. Ob man alsdann die Hauptschlüssel der wahren Psychologie bey einander habe, das kann man nur durch längern Gebrauch und gehörige Uebung lernen.

Erstlich mufs man sich völlig vertraut machen mit dem schon oben (117 120.) so populär als möglich dargestellten Reproductionsgesetze, aus welchem die Reizbarkeit und Wirksamkeit der Vorstell ungsreihen erkannt wird.

Zweitens mufs man die Erzeugung des Begriffs der Substanz kennen (159 u. f.), wodurch das Gebiet des Sinnlichen überschritten wird. Hierauf werden wir noch zurückkommen.

Drittens erinnere man sich an die verschiedenen Vorstellung?*- Massen, deren Wechsel oftmals ganz, öfter theilweise, das Gesichtsfeld des Bewufst- seyns verrückt; deren Zuscwimetnvirken schwierig, aber nothwendig ist für jede höhere Bildung des Geistes und der Gesinnung (41. 55. 58. 65. 69. 70. 7S- 84- 105- 107.).

205. [= 225 d. IL Ausg.] Dieser Zusammenstellung soll eine andre der Hauptschwierigkeiten1 folgen, woran jeder Bearbeiter der Psychologie stofsen wird.

Erstlich: die Logik veranlafst, dafs allgemeine Begriffe als eine ganz eigne Art von Vorstellungen vorausgesetzt werden. Aber die Ablösung der specifischen Differenzen untergeordneter Arten von den Gattungen ist vielmehr eine Vorschrift dessen was geschehn soll, als dessen was geschieht. Man befolgt die Forderung, indem man die Differenzen verneint, aber das Verneinen ist noch immer nicht ein Aufhören des Setzens; gerade so wenig, als der Vorsatz, eine Linie ohne Breite und Dicke, oder den Raum unendlich zu denken, je[342]mals rein ausgeführt wird. Allgemeine Begriffe sind Ideale; sie kommen nie f actisch zu Stande.

Zweytens: Metaphysik, oder wenn man will, transscendentale Logik, setzt Kategorien, übersinnliche Erkenntnifsbegriffe im menschlichen Geiste voraus. Hier fehlt die Kenntnifs von der Erzeugung des Begriffs der Substanz (159.)-

Drittens: die Moral setzt Freyheit des Willens voraus. Sie sucht die Autonomie am unrechten Orte (29.), und macht den Willen wider ihre eigne Absicht zum Herrn, statt ihn zu unterwerfen.

Viertens: die Physiologie betrachtet den Menschen wie ein Natur- produet, welches lebt und stirbt gleich andern. Sie verkennt die Seele, so lange sie die Materie- nicht kennt.

1 Statt „der Hauptschwierigkeiten" hat die II. Ausg. „einiger Schwierig- keiten".11

- „Materie" nicht gesperrt in der II. Ausg>

a u. b SW geben die Abweichung nicht an.

278 II" Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1.

Fünftens: das Ich erscheint als beharrlicher Gegenstand innerer An- schauung.* Dieses Ich ist, je nachdem man es behandelt, entweder das fruchtbarste Princip, oder aber der gefährlichste Feind der Psychologie. Das verlorne oder zersplitterte Ich der Wahnsinnigen giebt eine nützliche Warnung (140 u. f.).

Sechstem: Staatsmänner schaffen sich aus der Geschichte eine Psycho- logie wie sie können. Aber praktische Interessen sind keine Erkenntnifs- gründe, und schützen nicht gegen Vorurtheile. 2

3 206. Da die Psychologie vom Verfasser in zwey verschiedenen Formen ist dargestellt worden: so müssen hier darüber noch wenige Worte gesagt werden.

* Dahin gehört der, in der vorigen Note erwähnte, beständige, aber als beständig und stets sich gleich, nur eingebildete Beobachter! sammt seinem vermeinten Bewufstsein. l

2 Hier hat die II. Ausg. folgenden Zusatz :

Solche Schwierigkeiten lassen sich hier nur kurz anzeigen. Mehr ist zu sagen über eine schon berührte Hauptfrage in Ansehung des metho- dischen Fortschritts der Untersuchung.

3 An Stelle des § 206 bis „ist bestimmt worden" (S. 280 Z. 27 V. o.) ist in der II. Ausg. folgender § getreten:

226. Neben jenen Fragen: was und luoraus soll erklärt werden? wurde als dritte Frage erwähnt: in welcher Ordnung und Folge sollen die zu erklärenden Gegenstände, also die psychischen Thatsachen, zur Unter- suchung gelangen? Die allgemeinste Antwort wäre: in derjenigen Folge, worin aus dem Bekannten das Unbekannte sich finden läfst.

Allein wir setzen hier den synthetischen Theil der Psychologie schon voraus; denn nur in wieweit dieser der Analyse vorarbeitet, läfst sich hoffen, dafs man eine tiefer gehende Analyse, als die der frühern Zeiten, werde in Gang setzen können.

Die eigentümliche Schwierigkeit der Beobachtung psychischer That- sachen ist bekannt. Was wir in uns wahrnehmen, das ist im Kommen und Gehen begriffen; es hält nicht still, es läfst sich nicht aufser uns hinstellen, nicht mit Genauigkeit Andern mittheilen; wir selbst behalten davon nur unbestimmte, schwankende Gesammt- Eindrücke. Je gröfser diese Schwierigkeit desto mehr entziehen sich die Thatsachen einer genauem Untersuchung, wo es darauf ankommt, sie mit der schon vorhandenen Theorie zu vergleichen.

Umgekehrt also, solche Thatsachen, bey denen diese Schwierigkeit der genauen Beobachtung die kleinste ist, müssen vorantreten, wenn es darauf ankommt, die Theorie durch Vergleichung mit der Erfahrung zu sichern und näher zu bestimmen.

Nun giebt es allerdings einige Thatsachen, bey denen weniger nöthig ist, sie zu beobachten, indem sie geschehen: weil sie veste Produkte' zurück- lasse?!, worin sie zu erkennen sind. Dahin gehören schon die Fälle, in denen Einer, wie man zu sagen pflegt, in Gedanken gehandelt hat. Der Erfolg der Handlung ist vorhanden, und bezeugt ein Vorstellen und Be- gehren, wovon keine Erinnerung übrig blieb.

Ohne Vergleich wichtiger jedoch, als alles Individuale, sind solche

1 Die vorstehende Anmerkung fehlt in der II. Ausgabe.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 7. Capitel. Von der Psychologie. 279

Dem praktischen Interesse wird diejenige Form am meisten ent- sprechen, welche im Lehrbuche zur Psychologie [Bd. IV vorl. Ausg.] ist befolgt worden. Die Erfahrung, welche der praktische Mensch nie aus den Augen lassen darf, bildet darin eine breite, kritisch beleuchtete Grundlage; die Metaphysik tritt nur durch Lehn[343]sätze, die mathematische Be- arbeitung nur durch ihre Resultate hinzu. Die Analyse geht der Synthesis voran ; und die Wissenschaft erscheint genauer als im Hauptwerke zerlegt in ihre kleinern Theile, dergestalt, dafs eine bequeme Uebersicht derselben hervorgeht, die man nicht hätte vermissen sollen, denn sie war längst gegeben !

Das Hauptwerk hingegen dient dem theoretischen Interesse; die grofsen Hauptzüge dessen, was in der gesammten Philosophie abhängt von der Psychologie, mufsten darin verfolgt werden, mit Beyseitsetzung vieler praktisch wichtigen Einzelnheiten. Es ging der Metaphysik voran, in einem Zeitälter, welches einmal gewohnt war und gröfstentheils noch gewohnt ist, Vernunftkritik als Vorarbeit zur Metaphysik zu betrachten. Es wird von denen, die den mathematischen Untersuchungen nicht folgen können, am leichtesten und richtigsten aufgefafst werden, wenn sie mit Hülfe des be- kannten Fadens der Vernunftkritik sich darin orientiren. Aber diesem Verfahren wird eine scheinbare Schwierigkeit entgegentreten, gegen welche zu warnen leicht ist, wenn man der Warnung Gehör geben will, und das schon Vorgetragene (163.) dabey vesthält.

An zwey ziemlich weit getrennten Orten wird erstlich vom Begriffe

Producte, worin die geistige Thätigkeit unzähliger Menschen verschiedenen Alters, Standes, Geschlechts, selbst verschiedener Zeiten, sich spiegelt; und in dieser Hinsicht möchte man dem Bau der Sprachen, mit ihren Wort- stämmen, Flexionen, Derivationen, Präpositionen, Conjunctionen, den ersten Rang anzuweisen geneigt seyn.*

Noch zugänglicher für die Untersuchung sind diejenigen Thatsachen des ästhetischen Urtheils, welchen unsre heutige Tonkunst ihre Grundlage verdankt; Thatsachen, bey denen sich die sogenannte Akustik benutzen läfst, jedoch nach Beseitigung dessen, was vielmehr die Schwingungen tönender Körper, als das Hören und vollends das musikalische Denken angeht.** Unter diesen Thatsachen ist der gröfsere Theil so beschaffen, dafs er nur durch die äufserste Unachtsamkeit für erklärbar durch physi- kalische Gründe konnte gehalten werden.

Diesen Thatsachen zunächst stehen die, welche die ursprüngliche Auffassung des Zeitmaafses, das Gefühl vom Tact und Rhythmus betreffen.*** Die gesammte Metrik gehört hieher. Dem Zeitmaafse analog ist das Augenmaafs für Längen und Verhältnisse der Linien im Räume. Dabey ist noch an das räumliche Schöne und Häfsliche zu erinnern, welches von den Psychologen viel zu wenig beachtet wird. Auch da, wo kein bestimmtes ästhetisches Urtheil hervortritt, wird das Räumliche beym

* Eine Probe davon giebt das zweyte Heft der psychologischen Untersuchungen, in dem Aufsatze: über Kategorien und Conjunctionen.

** M. vergl. das erste Heft der psychologischen Untersuchungen. *** Psvchol. Unters, erstes Heft. Zu der Abhandlung über die Tonlehre hat der Hr. Professor Griepenkerl die dortigen schätzbaren thatsächlichen Bemerkungen zu liefern die Güte gehabt, S. 120.

2 Sit II. Kurze Encyklopädie der Philosophie.

des Dinges, als einer Kategorie, nämlich von der ovoia des Aristoteles, geredet; späterhin vom Begriffe der Substanz, mit Locke.* Dies kann als Unordnung oder Weitläuftigkeit erscheinen; weil man gewöhnt ist an Kants Kategorie der Substanz. Aber das Ding ist keine Substanz, und die Substanz ist kein Ding. Im Begriffe des Dinges sind die Merkmale, welche dasselbe als ein solches oder andres bestimmen, noch zusammengefafst; erst durch deren Trennung, und Entgegensetzung gegen die Einheit, entsteht der Begriff der Substanz (159.). Bey Kant ist hier eine Anhäufung von Fehlern. Erstlich kennt er den psychologischen Mechanismus der Compli- cationen nicht, welche ohne [344] alle Handlung der Synthesis das Viele der Merkmale a/s Eins vorstellen. Dieses Viele als Eins vorgestellt, macht aber gerade den Widerspruch; und hier ist der Punct seines Entstehens, hier ist seine Quelle. Zweytens bringt Kant den Begriff der Substanz, welcher in gemeiner Erfahrung nicht vorkommt, in die Reihe der Kategorien, oder Erfahrungsbegriffe, wohin er nicht pafst. Drittens weifs Kant nichts vom Widerspruch im Begriffe der Substanz; wie natürlich, da er die höhere Stufe des Denkens, worauf allein vom letztern Begriffe Gebrauch gemacht wird, von der nieder;/ der gemeinen Erfahrungsbegriffe nicht unterscheidet. Durch diesen' Fehler wird die Entdeckung des Widerspruchs verhindert; denn die Frage nach der Möglichkeit der Inhärenz wird gar nicht erhoben; und hiemit verliert viertens die KANTische Darstellung das Nöthigste der Vernunftkritik, nämlich Bedeutung für die Metaphysik, in welcher auf den Begriff der Substanz Alles ankommt. Solche Fehler mufsten durch die an- gegebene Trennung des Dinges von der Substanz verbessert werden, dergestalt, dafs die scheinbare Unordnung das wahre Princip der Ordnung wird, wodurch vorzugsweise jenem Werke, da es der Metaphysik vorarbeiten sollte, seine Gestalt ist bestimmt worden.

Wahrnehmen zugleich gefühlt; selbst entfernte Ähnlichkeiten und Ab- weichungen werden fühlend unterschieden.

Viel später kommen für die analytische Psychologie solche Unter- suchungen an die Reihe, deren Gegenstand lediglich in der innern Wahr- nehmung zu finden ist; z. B. die Untersuchung des Selbstbewufstseyns, in welchem der Mensch sich bald als ein Object in der Mitte der Dinge, als ein Mancherley und Vielerley, als einen Fremden, den er anredet, ermahnt, lobt, tadelt, bald als reines Subject betrachtet, welches allen Objecten vorauszusetzen sey, und die strengste Einheit besitze; während wiederum zu andrer Zeit Object und Subject in eine und dieselbe Person zusammenzugehn scheinen, wie wenn die Unterscheidung beider gar nicht nöthig gewesen wäre. Bey solchen Untersuchungen mufs man die deutlichsten Contraste zu Hülfe nehmen; wohin besonders die anomalen Zustände des Traums und Wahnsinns gehören. Das Alles sollte billig als Vorbereitung für die höchst wichtigen Fragen dienen, welche sich auf die Verschieden- heit der Anlagen, der Talente und ihrer Ausbildung, auf die Möglichkeit des sittlichen Fortgangs und Rückgangs beziehen.

* Psychologie II. § 124 [Bd. VI vorl. Ausg.], zu vergleichen mit § 141.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 7. Capitel. Von der Psychologie. 281

Anmerkung.

Vom Uebergange aus der Metaphysik in die Psychologie.

Denjenigen, welche des Verfassers Metaphysik und Psychologie vor Augen haben, wird folgende kurze Erläuterung dargeboten, damit sie den Zusammenhang zwischen den Paragraphen 232 bis 238. der Metaphysik, und dem §.41 der Psychologie, leichte: finden mögen.

1) Zuerst vom Begriffe der Selbsterhaltung, der auf jedes einfache Wesen, mithin auch auf die Seele, pafst.

[345.] Jeder kennt den Satz A = A. Jeder weifs auch, dafs zwey gleichartige Negationen einander aufheben. Daher läfst sich statt A setzen: non nonA mithin A = non non A.

2. Ferner weifs man, dafs jeder conträre Gegensatz einen contra - dictorischen in sich schliefst. Und überdies: dafs die conträren Gegen- sätze unbestimmt mannigfaltig, ja unendlich mannigfaltig seyn können.

3. Man denke sich nun statt des, dem A contradictorisch entgegen- gesetzten non A ein conträr entgegenstehendes E. So mufs die Ver- neinung dieses B sich nach B richten. Die Bedeutung des leeren all- gemeinen Satzes A = non non A wird nun jedesmal eine andre und wieder andre, so oft statt nonA ein andres und wieder andres B ge- setzt wird.

Nun bedeute A die Seele. Ihre ursprüngliche Qualität ist uns zwar schlechthin unbekannt; allein soviel ist klar, dafs, wenn sie sich im Ver- hältnils zu einem conträr entgegengesetzten B wirklich befindet, sie alsdann auch, um zu bleiben was sie ist, einen innern Zustand annehmen mufs, welcher diejenige Verneinung, die B in ihr setzen würde, gerade aufhebt. Dieser, durch B bestimmte Zustand ist ihre Selbsterhaltung. Setzt man ferner C, D, E u. s. w. statt B: so kommen andre und andre Selbsterhaltungen.

4. Jetzt versetzen wir uns in die Mitte unsrer Erfahrung. Wir brauchen das Wort Empfindung für innere Zustände, die wir in uns finden ; nämlich dann, wann dergleichen eben jetzt eintreten; und wenn sie frey sind von Lust und Unlust; denn im letztern Falle heifsen sie Gefühle, wovon hier nicht die Rede ist.

Das Eintreten der Empfindung ist aber allemal mit einer Veränderung in unserm gerade gegenwärtigen Vorstellen verbunden. Daher nennen wir die Empfindung ein Leiden, und denken uns äufsere Gegenstände als die thätigen, welche dies Leiden verursachten, nach dem Begriffe der causa transiens.

Hier ist Irrthum und Verwechselung. Gesetzt, wir hätten im Augen- blicke des Empfindens gar keinen Kreis von Vor[3 46] Stellungen gegen- wärtig gehabt, so wäre diejenige psychologische Causalität, welche mit dem Eintreten der Empfindung deshalb verbunden ist, weil unsre eben gegenwärtigen Vorstellungen von ihr leiden, völlig weggefallen. In der Empfindung selbst liegt kein Leiden, sondern sie ist die reine Selbst- erhaltung der Seele. Und an eine causa transiens, die hier den Namen des infiuxus physicus bekommen würde, ist nicht zu denken. Denn die empfindende Seele nimmt nichts von außen her auf, sondern sie besteht

2ÖJ II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

gegen dasselbe. Eben so wenig aber gehört zum Empfinden eine besondre causa immanens, welche den Namen des Einpßndnngs- Vermögens be- kommen würde; denn das Empfinden braucht kein Thun und kein Leiden, weil es ein blofses Bestehen ist.

5. Dieser metaphysische Causalbegriff nun ist lediglich deshalb schwer zu fassen, weil unsre, im Leben und Handeln vorkommenden Causalbegriffe aus einem ganz andern Kreise hervorgehn. Der Uebersicht und Unter- scheidung wegen zähle man wenigstem drey verschiedene Causalbegriffe.

a) Die Causalität nach dem metaphysischen Begriffe ist nur Selbsterhaltung. Die Seele, ein reales Wesen, erhält sich.

b) Die Causalität nach dem einfachsten psychologischen Begriffe ist Hemmung. Die Vorstellungen, welche nicht reale Wesen, sondern nur Zustände desselben sind, zvidersireben einander, falls ein Gegen- satz zwischen ihnen stattfindet.

c) Hievon weit verschieden sind diejenigen Anstrengungen, in denen wir uns mitten im Leben thätig finden. Denn diese beruhen darauf, dafs nicht blofs die Vorstellungen, einzeln und für sich, der Hem- mung widerstreben, sondern dafs sie auch, soweit immer sich ihre reihenförmigen Verbindungen erstrecken, sich in diesselbe Lage, so- fern es möglich ist, aus jeder Veränderung zurückversetzen.

[347] Die Verwechselung dieser drey Puncte, in Verbindung mit dem oben bemerkten Fehler in Ansehung der Substanz (206), ist Schuld, wenn man es schwer findet, sich in der Metaphysik und in der Psychologie zu orientiren. Kants Behandlung der Begriffe von Substanz und Ur- sache verräth ein Zeitalter, worin man die Metaphysik kurz abzuthun ge- dachte. Metaphysik läfst sich jedoch ihr Recht nicht nehmen; will man mit ihr kurz verfahren, so macht sie sich desto länger.

6. Wollte Jemand die vorige Gedankenreihe fortsetzen: so müfste er sowohl rückwärts als vorwärts gehn.

Um vorwärts zu gehn, hätte er zuerst die weite Lücke auszufüllen zwischen den Begriffen der Hemmung und der Anstrengung. Die Ent- fernung zwischen diesen Begriffen ist nicht viel kleiner, als man sie zwischen den Paragraphen 41 und 150 der Psychologie finden wird. Denn wenn auch Einiges anders gestellt werden könnte, so würde doch schwerlich etwas dabey 1 gewonnen sevn. Der Begriff von unserer Thatkraft, die wir uns im angestrengten Handeln beweisen, würde nur desto leerer, un- bestimmter, schwankender ausfallen, je mehr von den vorangeschickten Untersuchungen man wegliefse.

7. Wer aber rückwärts zu gehn versucht, dem wird sogleich einfallen, das für die Seele, die wir vorhin mit A bezeichneten, kein einzelnes, be- stimmtes, mit C und D abwechselndes B kann nachgewiesen werden, wo- nach ihre Selbsterhaltungen sich richten. Sondern die Seele wohnt im Leibe, und zwar nicht in den Armen und Beinen, sondern in der Gegend, wo Gehirn und Rückenmark zusammenhängen; ungeachtet des idealistischen

„dabei" fehlt in der II. Ausg.<

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Abweichung der I. Ausg.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 8. Capitel. Von der praktischen Philosophie. 283

Irrthums, der vom Sitze der Seele nichts wissen will. Dort aber, wo sie eingekörpert ist, findet sich keine rohe Materie, sondern Nervensubstanz, von welcher jedes Element selbst schon seine mannigfaltige innere Bildung hat (128.). Wollte man sich nun über den Procefs des Empfindens eine vervollständigte Rechenschaft geben: so müfsten diejenigen Untersuchungen, welche in der Metaphysik die allerletzten und schwersten sind, (dort im § 363 377 und § 426 [348] bis zu Ende,) hier vorgeschoben werden. Sie lassen sich aber nicht vorschieben, ohne völlig unverständlich zu werden.

Wohin deutet dies? Dahin, dafs der Gang der Natur, die wir zu erkennen suchen, ganz ein andrer ist, als der Gang der Untersuchung, wodurch die Erkenntnifs gewonnen wird.

Das ist's, was der Dogmatismus, der die Dinge und Ereignisse an- schauen will, so wie sie sind und geschehen, immer von neuem vergifst. Kein Wunder, dafs er am Ende gar vom Urheber unseres Daseyns be- ginnt, und hier ein Wissen erzwingen will, welches uns ein- für allemal versagt ist. Mit vollem Recht ergänzt der Glaube das Wissen; aber mit grofsem Unrecht verwandelt man die Ergänzung in ein Erkenntnifsprincip.

Alles Treiben des Dogmatismus hindert dasjenige Forschen nicht, welches vom Gegebenen ausgeht. Zwar sucht er es in seinen Kreis zu ziehen ; aber es pafst nicht hinein, sondern bleibt immer frey in seiner eigenen Bewegung, so lange es pünctlich denjenigen Antrieben folgt, die es im Gegebenen findet. Die Mühe, welche sich Diejenigen machen, die einmal durch das vermeinte Anschauen der Natur verwöhnt sind, ist zu bedauern. Sie müssen sich das Angewöhnte wieder abgewöhnen; das ist die Bedingung, unter welcher allein sie zur gründlichen Untersuchung ge- langen können. Ihr ganzer speculativer Gedankenkreis ist verschoben; es ist ihre Sache, ihn wieder in die rechte Lage zu bringen, damit sie in ihrem Nachdenken von demjenigen ausgehn lernen, was uns Allen wirk- lich unbestreitbar gegeben ist. Und von den Schwierigkeiten, die sich im Gegebenen finden, dürfen sie sich nicht abschrecken lassen; sonst werden sie auf halbem Wege stehen bleiben.

[349]. Achtes Capitel.

Von der praktischen Philosophie.*)

207. [= 227 d. IL Ausg.] Um die Methode der praktischen Philo- sophie zu überschauen, stelle man den Syllogismus, welcher den Ursprung der Pflicht aus ästhetischen Urtheil nachweiset (29 und 45.), in die Ein- leitung; bilde alsdann aus der Lehre von den praktischen Ideen [27.) nach

*) Man würde sehr irren, wenn man in diesem Capitel einen Auszug aus einem andern Buche erwartete. Das unter dem Titel: praktische Philosophie [= Bd. II vorl. Ausg.], geschriebene Buch will selbst gelesen und studirt seyn; es kann und soll nicht durch ein andres ersetzt werden. 1

1 Die vorstehende Anmerkung fehlt in der II. Ausgabe.

284 II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

der gegebenen Anleitung (153.) den ersten Haupttheil der Wissenschaft; um aber den zweyten Haupttheil zu finden, mufs man den Menschen und die Gesellschaft als bekannt voraussetzen. Schon die allgemeinste Kenntnifs aus täglicher Erfahrung reicht hin, um zu wissen, dafs der Mensch nicht von selbst den Ideen gemäfs denkt und will und handelt; dafs also ein persönlicher Werth und Unwerth desselben zu unterscheiden ist, und dafs unzählige Ab- weichungen vom richtigen Handeln unaufhörlich neuen Anlafs geben, ihn auf den rechten Weg zurückzurufen. Hieraus entsteht, als Anfang des zweyten Haupttheils der Wissenschaft, einerseits die Betrachtung des mo- ralischen Bewufstseyns gehaltener oder nicht gehaltener Vorsätze, welchem die Tugend (199) als Ideal vorschwebt; andrerseits der Begriff der Pflicht, aber zwiefach unter den wenig passenden Namen der [350] vollkommenen und unvollkommenen, worüber wir zuvörderst eine kurze Bemerkung ein- schalten.

Ursprünglich drücken die praktischen Ideen nichts andres aus, als ästhetische Urtheile über irgend einen Willen. Es ist gar nicht nöthig, dafs dieser Wille gerade der eigne Wille der urtheilenden Person sey. Kinder, die nach aufsen schauen, beurtheilen oft mit ungemeiner Schärfe die Handlungen 'andrer Menschen, ohne nur daran zu denken, dafs solche Forderungen, wie sie gegen Andre aufstellen, auf sie selbst zurückfallen werden. Da sieht man das nackte ästhetische Urteil, noch ohne moralische Gesinnung. Wer aber schon von Pflicht redet, der macht aus den prak- tischen Ideen eine Regel; er bleibt nicht mehr beym ästhetischen Urtheile stehn, welches sich auf gegenwärtige Bilder des Willens lobend oder tadelnd richtet; sondern er läfst Gegenwart und Vergangenheit hinter sich, um die zukünftigen Gesinnungen und Handlungen an Vorschriften zu binden. Die Zukunft findet ihren Ausdruck in dem Worte Sollen. Und schon diese einzige Zeitbestimmung kann hinreichen, damit die oft verwechselten Be- griffe klar werden. Spricht Jemand von einer Handlung, die da hätte ge- schehen sollen oder nicht sollen : so versetzt er sich in die Vergangenheit, und betrachtet nun die Handlung als bevorstehend, so dafs in Ansehung derselben dem Handelnden eine Vorschrift könne ertheilt werden. Das ist aber nicht die Stellung des Kenners vor einem Bilde. Damit der Kenner sein Urtheil spreche, mufs das Bild gerade jetzt gegenwärtig vor ihm stehn; und diese Stellung in der Gegenwart war die erste, die ur- sprüngliche, des eigentlichen Lobes oder Tadels, das heifst, des ästhetischen Urtheils. Hingegen damit Jemand etwas solle, und Pflichten habe, mufs sich ein Wille erheben, der sich den Zweck setze, das Löbliche zur Aus- führung zu bringen, und sich dem Tadelnswerthen zu widersetzen. Ist nun der, welcher die Pflichten auferlegt, und das Sollen ausspricht, eine andre Person, als der, welcher soll ; so fragt dieser zweyte den ersten : was hast Du mir zu befehlen? Ist hingegen der befehlende Wille in d^r eignen Person [351] des Sollenden, so kann diese Frage nicht mehr im Ernste erhoben werden; vielmehr hat nun der Sollende sich verpflichtet, er hat die Pflicht anerkannt.

Jetzt aber betrachtet er sich als verantwortlich, und zwar auf ver- schiedene Weise, gemäfs der verschiedenen Natur der Ideen. Verant- wortlich überhaupt ist er demjenigen, der ihn zur Rede stellen kann; denn

2. Abschnitt. Methodenlehre. 8. Capitel. Von der praktischen Philosophie. 285

die Antwort richtet sich nothwendig dorthin, woher die Frage kommt. Er hatte nun sich selbst versprochen, den Ideen gemäfs zu leben, um rein zu bleiben von Flecken. Im Gegenfalle liegt der Ankläger in ihm selbst; er hat Unrecht erlitten, indem seine Reinheit befleckt wurde; ihm ist das gegebene Wort gebrochen worden; freylich von keinem Andern, sondern von ihm selbst. Dieses innere Verhältnifs, dessen Grund in dem früher anerkannten, die Zukunft vorausbestimmenden Sollen klar vor Augen liegt, hat eine eben so offenbare Analogie mit dem Rechtsverhältnifs zwischen zwey Personen. Wird ein Recht verletzt: so klagt der Verletzte; und man ist wegen der Antwort verlegen. Diese Verlegenheit ist Bewufstseyn der Schuld. Man weifs, dafs man Unrecht that. Der Aufrichtige legt nun das vollkommene Bekenntnifs dem Andern laut ab. Unvollkommen aber bleibt die Sprache derjenigen Bekenntnisse, welche blofs im Innern ab- gelegt werden, weil nur die eigne Reinheit, und keine zweyte Person, um deren Klage man sich zu bekümmern braucht, verletzt wurde.

Hieraus ergiebt sich nun nicht blofs der Unterschied der sogenannten vollkommenen und unvollkommenen Pflichten, sondern auch die Ver- stärkung der Moial durch die Religion tritt ins Licht; indem dadurch eine neue und starke Verantwortlichkeit entsteht.

Alles dies aber sind Worte ohne Sinn, wofern nicht die praktischen Ideen schon als bekannt vorausgesetzt werden. Hat man nicht dorthin zuerst seine Aufmerksamkeit gerichtet: so ist nichts Klares gegeben, dafs oder weshalb man sich zu verantworten hätte; mithin verlieren die Verhält- nisse zwischen den Personen, welche Verantwortung fordern und ab- [3 5 2] legen, ihr Licht; und sie können in Verdacht gerathen, überall nichts zu bedeuten. Das ist die Folge ; man möge nun die Vernunft oder den Staat oder Gott als den Gebieter darstellen, von wo die Pflicht ausgehe. Mit dem Befehlen, mit dem Imperative darf man nicht anfangen, wenn nicht die ganze Sitten- und Rechts -Lehre ihre Haltung verlieren soll. Glück- licherweise warten die praktischen Ideen, nicht auf die Schulen, sondern erzeugen sich unaufhörlich von selbst in jeder menschlichen Brust. *

208. [= 228 d. IL Ausg,] Hieraus ist zu ersehen, was es bedeutet,

1 Hier hat die II. Ausg. folgenden Zusatz : Ueberall schätzt und preiset man zuerst die Kraft, die Stärke, die Tapferkeit, Beharrlichkeit, das planvolle Wirken. Ueberall, wo nur die erste Rohheit und Wildheit sich legt, lobt und liebt man neben der Stärke auch die Milde, die Güte, das Wohlwollen; ja man erkennt in der Güte den besten Kern des Guten. Und wenn irgendwo eine Spur von geselliger Ordnung sich den Lebens-Gewohnheiten vest und deutlich eingeprägt hat, dann versteht man auch, was das Wort: suum cuique, sagen will; und neben ihm jenes andre Wort: quod tibi non vis fieri, alteri ne feceris. So hat man die vier praktischen Grund-Ideen, zu welchen die fünfte in wissenschaftlicher Anordnung die erste, hinzutritt wie die Besinnung zu den Vertiefungen. Die Schulen brauchen das Alles nur nicht zu verkünsteln; sie haben für den allgemeinen, ab- stracten Ausdruck und für dessen formale Richtigkeit zu sorgen, und da- hin zu sehen, dafs mit gleich vertheilier Aufmerksamkeit die verschiedenen Ideen neben einander vestgehalten werden.

2g6 H- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

wenn der Begriffe von Tugend, Pflicht, und Gütern schon in der Einleitung zur praktischen Philosophie Erwähnung geschieht. Abgehandelt werden können sie dort nicht; ihr Platz ist erst im Vordergrunde des zweyten Theils der Wissenschaft, wo sie sammt ihren mancherley Gegentheilen erörtert werden müssen. Aber die Einleitung knüpft an beym gemeinen Verstände. Unter den Namen Tugend und Pflicht verstecken sich die ästhetischen Urtheile, deren, abstracte Aufstellung zwar der Schule anzumuthen ist, aber für's tägliche Leben nie eine gebräuchliche Form werden kann. Die ästhetischen Urtheile sind die wahre Substanz der Sittenlehre; aber Substanzen pflegen sich als Kräfte zu äufsern; und dieses Gleichnifs pafst hier vollkommen. Denn es ist die Kraft des Gewissens, worin jene Urtheile, verschmolzen mit dem Ich (143.) sich ankündigen; und damit vermischt der psychologische1 Mechanismus noch die Verantwortung, in welche der Mensch gegen Staat und Kirche verfällt, die zu den Ermahnungen selbst Drohungen hinzufügen. So vermengt findet der Sittenlehrer die moralischen Vorstellungen ; 2und es kostet nicht wenig Mühe, das Gewirre, worin alle Unterscheidung der einzelnen Ideen völlig untergegangen ist, so zu zersetzen, dafs klare Be- griffe herausgefunden werden mögen.3

Statt dessen verwickeln sich die Systeme in die Frage nach dem Princip der Sittenlehre; und da sie keins finden können, (denn es giebt keine Monarchie der Ideen, sondern nur [353] eine Aristokratie,) so bleiben Philosophen, Juristen und Theologen getrennt, indem sie an die Personen, gegen welche man wegen der Pflicht verantwortlich ist, also an die eigne Vernunft, an den Staat und an Gott, sich wenden, um von dort her sich den ersten Befehl zu hohlen, den man befolgen solle. Dafs vor allem Befehlen, vor allem Sollen, dasjenige schon veststehn mufs, was dem Gebote seine Würde, dem Gehorsam seine Achtbarkeit, der Tugend ihren Ruhm, der Pflicht ihre Verbindlichkeit ertheilt, und den Vorwurf des Despotismus und der Knechtschaft abwehrt, das pflegen sie nicht zu bemerken. Sie streiten demnach untereinander auf eine Weise, wobey sie alle gleichviel Recht und gleichviel Unrecht haben. Denn weifs man nur erst den Inhalt der Gebote, so versteht sich freylich von selbst, dafs, wenn man dreyfach, durch die Vernunft, durch den Staat, und durch die Gottheit, daran gemahnt wird, man auch die dreyfache Züchtigung des Gewissens, der zeitlichen und der ewigen Strafe erwarten möge, und dafs es nichts helfen könne, die Verantwortlichkeit in irgend einem dieser Puncte ablehnen zu wollen. Die Wahrheit der Ermahnung ist die Hauptsache, und wenn ein Höherer die Wahrheit ausspricht, so kann man ihm nicht widerstreiten. Aber der weite Raum, worin Jemand seinen Befehl kann erschallen lassen, giebt dem Imperativ keine Würde. Der Umfang des Gebots ist flicht sein Inhalt.

1 „psychische" statt „psychologische" IL Ausg.*

2 Statt der Worte: „und es kostet nicht wenig Mühe" hat die II. Ausg.: „und es kommt nur darauf an".b

:l Die II. Ausg. setzt hier noch hinzu; „die nämlichen, welche ursprünglich zum Grunde lagen.0

a, b, c, s\V meiken die Abweichung nicht an.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 8. Capitel. Von der praktischen Philosophie. 287

209. [= 229 d. IL Ausg.] Leider!1 Hier ist der Punct, wo alle mög- lichen2 Irrthümer ihren Sammelplatz haben, während die Wahrheit, die ihnen gegenüber steht, keinesweges neu und verborgen ist. Die fünf praktischen Ideen machen den Inhalt des Gebots. Zwar nicht mit der gebührenden Genauigkeit (153.). aber doch mit einer verständigen Popularität, ist, wie früher bemerkt, die wahre Ideenlehre in den meisten ihrer Hauptpuncte schon in dem allbekannten Buche des Cicero von den Pflichten aller Welt gepredigt worden. Dennoch hat Kant, sich verlierend von dem Gebote zum Gebieter, von dem Lobe und Tadel zur leeren Logik, die blofse Hülse der Allgemeinheit als das [354] Werk der praktischen Vernunft angepriesen. Und es fehlte nicht an solchen, welche meinten, sie be- säfsen nun das Schwerdt, weil man ihnen die Scheide in die Hand gab. Noch nicht genug! 3 Statt wahrer Menschenkenntnifs, wahrer Psychologie, und wahrer Metaphysik, welche, ausgehend von der Stellung des Menschen in der Mitte seiner Beschäfftigungen, seiner Dienst- und Familien- und Gesinnungs-Verhältnisse (7.), fortschreitend durch genaue Untersuchung seines Ich und seiner Persönlichkeit (143 146.), die Begriffe4 von Tugend und Laster mit den ursprünglichen sowohl als den hievon sorgfältig zu unterscheidenden psychologischen Causalbegriffen (186.) in die gehörige Verbindung setzen,5 hiebey aber die leeren Abstractionen von Grund und Folge überhaupt (174.) ganz vermeiden mufste;6 verwickelte sich Kant in den unlautersten aller Causalbegriffe, der an der Zeitlichkeit vestklebt; und um diesem zu entkommen, ersann er, als ein Nothmittel in der äufsersten7 Bedrängnifs, seine transscendentale Freyheit. Aber nicht als ob er wisse, es gebe eine solche, so arg konnte der scharfsinnige Mann sich nicht täuschen; sondern mit allen Zeichen ängstlicher Verlegenheit windet und dreht er sich mit Sophismen, die kaum im Stande sind ihn selbst zu über- reden; in der Kritik der reinen Vernunft hin und her, um nur soviel zu erzwingen, dafs für die transscendentale Freyheit, die freylich kein mög- licher Gedanke ist, doch die Glaublichkeit eines Glaubens- Artikels er- langt werde. Was geschah? Die Nachfolger begriffen bald nichts mehr von der Verlegenheit eines Kant. Anstatt ihr abzuhelfen, wie es durch Metaphysik und Psychologie hätte geschehen müssen, nahmen sie das enge Plätzchen eines Glaubensartikels für den sehr weiten Raum eines eingebildeten Wissens. Fin Leichtsinn, ähnlich dem, welcher den Staat für blofses Werk eines Vertrags nimmt, wie wenn das Werk der Notwendig- keit und der Pflicht sich nach der Willkühr (gleichviel ob eines Despoten

1 „Leider!" fehlt in der II. Ausg.

2 Die II. Ausg. setzt „die" statt „alle möglichen".

3 Die folgenden Worte bis 4 Zeilen weiter: „Statt wahrer Menschenkennt- nifs, .... seiner Persönlichkeit (143 146.)" fehlen in der II. Ausg.

4 „Anstatt die Begriffe" II. Ausg.

5 „zu setzen" II. Ausg.

6 „zu vermeiden": statt „vermeiden mufste" II. Ausg.

7 „äufsersten" fehlt in der II Ausg.a

a SW geben die Abweichung nicht an.

2§8 H- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 T .

oder eines souverainen Volks) bequemen könne und dürfe, setzte sieh über die Frace hinweg: wie denn wohl die vom Zeitverhältnisse entbundene trans- scenden[355]tale Freyheit es machen solle, im Laufe der Zeit irgend Eins gleichviel welches von den Hülfsmitteln zur Besserung, von den Heilmitteln des Irrthums und der Sünde sich anzueignen?

Das ist die Frage! Die erste und wichtigste aller Fragen, welche der Mensch für sich, für Andre, für den Staat, für die Erziehung, für die Welt, ja sogar in Beziehung auf Vorsehung und Erlösung aufwerfen kann, ist die Frage nach der Möglichkeit des Besserwerdens.

Und das offenbarste aller Hindernisse ist die Unzugänglichkeit der Gemüther für das Bessere.

Und das Unzugänglichste wäre jene Freyheit, wenn sie nämlich überhaupt wäre.

Ohne das zu merken, kommen die rationalistischen Theologen mit ihrer gratia Dei resistibilis. Denn die Möglichkeit des Widerstandes liegt ja in der Freyheit! Aber während sie von einem ehrlichen Pelagianismus reden, kommt von der andern Seite jetzt August in wiederum zur Herr- schaft. Statt der Erbsünde hatte ja schon Kant das radicale Böse; es drang sich ihm auf,' dafs er durch eine reine, ungefärbte Freyheit den Menschen, wie er uns Allen in der Erfahrung vor Augen steht, nicht beschreiben könne. Die Freyheit würde sich weder hierhin noch dorthin vorzugsweise neigen; sie würde aller Wahrscheinlichkeit gemäfs gerade so oft, und, was die Hauptsache ist, gerade so leicht, die eine als die andre Rich- tung zeigen. 1Aber die Erfahrung widerspricht der falschen Theorie; sie lehrt unwidersprechlich, dafs dem Menschen das Gute schwer wird.

Allein damit das hier Gesagte nicht dergestalt misdeutet werde; als wollte der Verfasser, der nicht gelehrter Theologe ist, sich in theologische Partheykämpfe mischen, mufs für diejenigen Rationalisten, die mehr und besser sind als Partheymänner, noch eine nähere Erläuterung über den philosophischen Gegenstand hinzugefügt werden, den sie nicht genug zu kennen scheinen. Bey gehöriger Ueberlegung können sie sich leicht in Kenntnifs von der schlüpfrigen Stelle setzen, bey der [356] sie Gefahr laufen auszugleiten. Nur das Nöthigste über die Berührung der Metaphysik und der praktischen Philosophie soll hier gesagt werden. Vielleicht finden beide theologische Partheyen darin Stoff zum Nachdenken, und zur Er- wägung der Vortheile und Nachteile, worin sie sich gegenseitig gesetzt haben.

210. [= 230 d. IL Ausg.] Kein Theologe wird läugnen, dafs die Bibel zur Erbauung dient. Die transscendentale Freyheit aber, wenn es eine solche gäbe, würde keiner Erbauung bedürfen. Noch mehr, sie würde davon ganz unberührt bleiben. Dafs sie der Gnade Gottes widerstehen könne, wäre eine unpassende Rede; denn wo keine Berührung, da ist auch kein Wider- stand. Die Bibel redet zwar vom Ewigen ; aber sie selbst ist in der Zeit irgend einmal geschrieben; und sie erzählt Begebenheiten, die sich zugetragen haben. Dabey hat sie einer frühern Zeit sich angepafst, und ihre Wirkung

1 Der nun folgende Schlufs dieses § 209 „Aber die Erfahrung .... gegen- seitig gesetzt haben" fehlt in der II. Ausg.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 8. Capitel. Von der praktischen Philosophie. 280

geht in die Zukunft. Die Menschen waren schlechter; sie sollen besser werden. Und, was die Hauptsache ist: nachdem sie gebessert sind, sollen sie auch gebessert bleiben. Ein Wechsel also soll vor sich gehn. Dieser Forderung widerstreitet es, wenn die Freyheit in die Substanz der Seele hineingesetzt wird; denn kein Wechsel ist möglich im Beharrlichen. Aber später, nachdem das Geforderte geschehen^ soll ein von jetzt an vorhandener Zustand, nämlich die geivonnene Besserung, ein Gewinn für immer sein; er soll beharren. Dieser Forderung widerstreitet es, wenn die Freyheit in ein ewiges Gesetz des Werdens, oder gar des Lebens, hineinversetzt wird; denn kein Beharren ist möglich im Wechsel; er reifst den Gewinn mit sich fort, er bringt zwar Blüthen und Früchte, aber auch den Tod.

Die Theologen mögen sich also hüten vor zwey Klippen.

Erstlich: vor dem metaphysischen Begriffe des Seyn. Dieser leistet ihnen gar wenig. Er ist starr, und von allem Lobe und Tadel völlig leer. Zeitlich darf man ihn gar nicht fassen. Zu ihm pafst unmittelbar kein Begriff vom Schlecht 5 7] tern, welches war, und vollends keiner vom Bessern, welches seyn werde.

Zweytens: vor dem pantheistischen Begriffe des Werden. Dieser taugt den Theologen nur scheinbar, indem er ihnen ein beständiges, gleich- förmig fortgehendes Besserwerden vorspiegelt. Denn Besserwerden ist eine Zusammensetzung aus Besser und Werden, das heifst, aus einem ethischen und einem metaphysischen Begriffe. Aber der metaphysische Theil be- steht für sich, und giebt keine Bürgschaft für den andern, in ihn hinein- gepfianzten Theil. Läge das Besser schon im Werden: so brauchten sie, die Theologen, sich gar nicht zu bemühen; es würde dann ohne ihr Zuthun von selbst besser.

Nun mögen sie drittens überlegen, was sie mit der Freyheit eigent- lich meinen und wollen. Sie meinen aber, dafs sie durch ihre Lehren das Leben der Menschen von Grund aus bessern wollen. Der Mensch, sagen sie, ist ohne uns auf schlechtem Wege. Der Mensch lebt aber, und Leben ist Werden. Dieses Werden hat eine Richtung; darin geht es, sich selbst überlassen, immer fort. Jetzt soll es eine andre Richtung bekommen. Soll es sich etwa diese andre Richtung von selbst geben? Warum nicht? Der Mensch ist ja frey ! Wozu denn die Religionslehre ? Lasse man die Freyheit doch machen ! Nein, sprechen sie, der Mensch ist ein Sünder.

Und an dieser Stelle hilft ihnen Kant. Die Freyheit, spricht er, ist übersinnlich, das heifst, unzeitlich. Nicht erst heute oder gestern wurde der Mensch ein Sünder, sondern er ist es von jeher. Er hat sich dazu gemacht; nicht irgend einmal, sondern absolut, das heifst zeitlos, und gleichbedeutend für alle Zeit. Wann denn soll der Mensch sich bessern? Wann denn durch Besserung sich die Erlösung zueignen ?

^Diese Frage wird in alle Ewigkeit keine Freyheitslehre beantworten. Nach ihr ist alle Zeit schon besetzt. Denn für alle Zeit hat der Mensch

1 Der folgende Absatz: „Diese Frage .... gleich unnütz" fehlt in der II. Ausg.

Herbart's Werke. IX. 19

2qo II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1.

sich frey , das heilst, ohne Unterschied der Zeit, zum Sünder gemacht. Lehre und Erlösung ist hier gleich unnütz.

[358]. Aber, sprechen sie,1 jeden Augenblick ist der Mensch frey; also eben jetzt kann er sich bessern.

Da sind sie von der kantischen, transscendentalen Freyheit abgesprungen. Sie haben die Freyheit in die Zeit versetzt.

Unsre biblische Lehre, sprechen sie, soll ihn bessern.

Da sind sie abermals von Kant abgesprungen. Denn sie setzen ein Causalverhältnifs zwischen sich und dem Menschen. Die transscendentale Freyheit soll aber, ihrem wesentlichsten Grundmerkmale nach, aufserhalb des Bereichs aller Causalität liegen.

2 Mögen sie nun dies zvenigstens einräumen und vesthalten, dafs sie im Puncte der Freyheit nicht Kantianer seyn können und dürfen. Jetzt aber mögen sie sich hüten, nicht in neue Fehler zu verfallen.

Sie haben die Freyheit in die Zeit versetzt. Nicht 3als ob die Freyheit erst in diesem Augenblicke entstanden wäre; auch nicht als ob sie im nächsten Momente schon aufhören sollte. Denn, der Mensch, sprechen sie, ist immer frey, immer zugänglich für unsre guten Lehren.

Also wenn er heute drauf hört, so kann er morgen schon das Heutige wieder vergessen haben! Darauf, in der That, rechnen sie stark; denn sie predigen heute und morgen und alle Tage. Sie wundern sich, wenn Einer von der Lehre einmal voll wird, und eben deshalb nicht weiter hören kann, was er sich jeden Augenblick selbst sagt.

Gleichwohl kann ihr Lehren keinen andern Zweck haben, als eben den, eine so heilsame Sättigung hervorzubringen. Denn es gebührt sich, dals der Mensch einen moralischen Charakter habe. Aus dem zuvor Be- weglichen ist alsdann ein Beharrliches geworden. * Dieses gewordene Beharr- liche ist [359] sehr weit verschieden von jeder Substanz; dem an sich und ursprünglich Beharrlichen. Die Substanz beharrt schlechthin; das Erworbene, der Charakter, ist nicht schlechthin zuverlässig; sondern der Mensch behält immer nur zuviel Grund, in sich selbst Mistrauen zu setzen. 5Dennoch

1 ,Jetzt, sprechen sie, und" statt „Aber, sprechen sie," II. Ausg.

2 Der folgende Absatz: „Mögen sie nun .... Fehler zu verfallen" fehlt in der II. Ausg.

:; „als wäre die Freyheit erst in diesem Augenblicke entstanden" statt „als ob die Freyheit erst in diesem Augenblicke entstanden wäre"; II. Ausg. *

* Gerade bey diesem höchst wichtigen, alle Metaphysik überschreitenden, aber durch die Causalbegriffe der mathematischen Psychologie in volles Licht gesetzten Gegen- stande möchte man populär schreiben; aber es hilft nichts, wo das mathematische Ge- schick fehlt.*

4 Die vorstehende Anmerkung fehlt in der II. Ausg.

5 Für den nun folgenden Schlufs dieses sowie für den ersten Absatz des folgenden Paragraphen: „Dennoch ist die erworbene Beharrlichkeit .... die darin liegt, wird vergessen" (bis S. 292 Z. 7 v. o.) hat die II. Ausg. mehrfach mit 211 der I. Ausg. übereinstimmend :

Hieher gehört die Unterscheidung des Charakters überhaupt vom moralischen Charakter; ferner die höchst nöthige Sonderung des objeetiven

a SW merken die Abweichung nicht an.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 8. Capitel. Von der praktischen Philosophie. 201

ist die erworbene Beharrlichkeit in praktischer Hinsicht unendlich viel wichtiger als die ursprüngliche, welche den Gegenstand der metaphysischen Betrachtung ausmacht. Nichts Unglücklicheres aber kann begegnen, als wenn die eine mit der andern verwechselt wird; das heifst, wenn Meta- physik schon für sich allein als die Quelle der Ethik angesehn wird. Schon darum wollen wir uns nicht wundern, dafs die Religionslehrer uns immer von neuem auffordern, auf sie zu hören. Sie haben im Ganzen recht, wenn auch einzelne Uebertreibungen nicht vermieden werden.

211. Um nun kurz zu seyn, (denn wir gedenken den Leser nicht mehr lange aufzuhalten,) überschlagen wir die, an diesem Orte sehr wichtige, Unterscheidung des Charakters überhaupt vom moralischen Charakter; ferner die höchst nöthige Sonderung des objectivcn und subjectiven Theils, in welche beide Theile der Charakter nach Analogie des Begriffs vom Ich mufs zerlegt werden, damit der natürliche Wille von den hinzukommenden Vorsätzen, die ihn zu beherrschen unternehmen, getrennt, zur Untersuchung komme. Alle Hauptbegriffe hierüber sind schon vor langen Jahren am gehörigen Orte geliefert worden.* Wir übergehen endlich die nähern Be- stimmungen, welche aus der Psychologie sich schöpfen lassen, sobald man begreift, dals der natürliche Wille und die hinzugekommenen Vorsätze nicht etwa blofs in zwey, zusammen oder wider einander wirkenden, [360] Vor- stellungsmassen ihren Sitz und ihre Kraft haben, sondern dafs es solcher Massen sehr viele, und mit grofsen Unterschieden der Menge und der Beschaffenheit, in verschiedenen Individuen giebt; daher das moralische Leben der Menschen sich äufserst vielförmig zeigt, und eben so ver- schiedene Behandlung erfordert, nicht blofs in der Erziehung der Kinder, sondern auch in der Selbstbildung und Selbst-Beaufsichtigung des reifen Mannes. Wollten wir in dies weite, ja unübersehliche Feld der schwersten praktischen Untersuchungen tiefer hineinschreiten: wo fänden wir das Ende? Und für wen würden wir uns bemühen? Von allen Seiten würden die Ungeduldigen und Ermüdeten, die alle Untersuchung scheuen, uns alles Protestirens ungeachtet immer wieder das eine Wort: Freyheit ! Freyheit! zurufen. Denn dazu gerade scheint das Wort erfunden, dafs

und subjectiven Theils, in welche beide Theile der Charakter nach x\nalogie des Begriffs vom Ich mufs zerlegt werden, damit der natürliche Wille von den hinzukommenden Vorsätzen, die ihn zu beherrschen unternehmen, getrennt, zur Untersuchung komme. Der natürliche Wille und die hinzu- gekommenen Vorsätze haben nicht etwa blofs in zicey, zusammen oder wider einander wirkenden, Vorstellungsmassen, ihren Sitz und ihre Kraft, sondern es giebt solcher Massen sehr viele, und mit grofsen Unterschieden der Menge und der Beschaffenheit, in verschiedenen Individuen; daher das moralische Leben der Menschen sich äufserst vielförmig zeigt, und eben so verschiedene Behandlung erfodert, nicht blofs in der Erziehung der Kinder, sondern auch in der Selbstbildung und Selbstbeaufsichtigung des reifen Mannes.

* Pädagogik, im Anfange des dritten Buchs. Nicht eher, als bis diese päda- gogischen Begriffe auf's genaueste mit der mathematischen Psychologie verglichen werden, kann über die allerdringensten Angelegenheiten des Menschen ein gründliches Nach- denken Statt linden, während sie jetzt dem gröbsten Empirimus anheim fallen.

19*

2Q2 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1 .

man sich von der Mühe des Nachdenkens über die allerwichtigsten An- o-eleoenheiten des sittlichen Lebens befreven und lossagen könne. Dafs dies Wort nichts als eine Negation aussagt, dafs die Allermeisten, wenn man sie im äufsern Leben frey hinstellt, nichts mit ihrer Freyheit anzu- fangen wissen, dafs sie sich sogleich in alle Unfreyheit der Thorheit und des Lasters zu stürzen pflegen: das weifs zwar Jeder aber die Warnung, die darin liegt, wird vergessen.

An die erste Haupt- und Grund -Frage wie ist der moralische Cha- rakter möglich? knüpft sich sogleich die zweyte Frage: genügt der Mensch sich selbst? Oder rnufs er aufser sich Hülfe suchen?1

Nun wird zwar schwerlich irgend ein heutiger Theologe mit Fichte sprechen: Mein ganzer Trieb geht auf absolute Unabhängigkeit und Selbst- ständigkeit.* Aber die supranaturalistischen Theologen sind diejenigen, welche ihm entschieden und aufs lebhafteste widersprechen. Und die [301] Wahrheit, welche in diesem Widersprechen liegt, dürfte wohl eine ihrer stärksten Stützen ausmachen.**

Die Rationalisten aber mögen sich zuvörderst die historische Be- lehrung, was aus der kantischen transscendentalen Freyheit damals, da der eben so redliche als scharfsinnige Fichte sie bearbeitete, geworden ist, in des Letztern eigner Sittenlehre aufsuchen; auch dabey Fichte's spätere Schriften vergleichen, um die etwa vorgefallene, nachmalige Veränderung zu beobachten.

Alsdann ferner mögen sie das Buch der Lebens- und Amts -Er- fahrungen aufschlagen. Haben sie dort etwa die eine und gleiche Frey- heit des Willens, die sie allen Menschen beylegen, angetroffen? Oder hat sich ihnen die gröfste Mannigfaltigkeit im Empfangen des göttlichen Wortes, und in dessen Wirkung, aufgedrungen? Welche Individuen waren die Empfänglichsten? Etwa Diejenigen, die am meisten auf Freyheit drangen? Oder die Andern, welche den Mangel in sich selbst fühlten?

Und wie lauteten die Ermahnungen, etwa zum Genuls des heiligen Abendmahls, die sie selbst, die Geistlichen, aussprachen? Waren es Worte zum Ruhm der Willensfreyheit? Gewiß! werden sie erwiedem, denn es waren keinesweges Ermahnungen zum knechtischen Gehorsam!

Jetzt mögen sie die Reihe der praktischen Ideen durchlaufen. Sind etwa diese tauglich, zum knechtischen Gehorsam zu ermahnen? 2Das wird Niemand zu behaupten wagen. Es sind ja3 Vorbilder des Willens, dem sie Lob oder Tadel weissagen, je nachdem er sich so oder anders wenden werde. Die Frage ist nur nach der Kraft des Motivs, welches davon ausgehn kann.

[362] Eine strenge und genaue Freyheitslehre setzt diese Kraft ganz

1 Hier hat die II. Ausg. den Zusatz: Die Frage beschäftigt Theologen

und Philosophen.

* Fichte's ganze Sittenlehre ist von diesem Satze voll und durchdrungen.

** Grofsentheils ist der heutige supranaturalistische Eifer eine natürliche Reaction gegen den überhandnehmenden Spinozismus. Aber diese Reaction gebührf der Philo- sophie, welche jetzt das Versäumte nachhohlen mufs.

2 Der folgende Satz: „Das wird Niemand zu behaupten wagen" fehlt i. d. II. Ausg. und :: „ja" fehlt in d. II. Ausg. (SW merken diese Abweichungen nicht an.)

2. Abschnitt. Methodenlehre. 8. Capitel. Von der praktischen Philosophie. 2 93

bey Seite. Man glaube ja nicht, dafs eine solche den Motiven die Ehre lassen würde, den Willen zu bestimmen. Dieser Punct war schon der Gegenstand des Streits zwischen Leibxitz und Clarke. Letzterer spricht: „der ganze Irrthum rührt daher, dafs man das Motiv mit dem Princip des Handelns verwechselt; und dafs man meint, der Geist habe aufser dem Motive kein Princip des Handelns. Eine Wage kann bey gleichen Gewichten sich nicht bewegen; aber ein freyes Wesen mag sich immer- hin zwey vollkommen gleich vernünftige Handlungsweisen vorstellen, (when there appear two, or more, perfectly alike reasonable ways of acting,) es hat dennoch in sich selbst das Vermögen zu handeln; denn es besitzt das Vermögen, absolut anzufangen (by virtue of its Seif- Motive Principle)." Diese Stelle ist aus Clarke's fünfter Gegenschrift; nachdem also Leibnitz, der weit gröfsere Denker, nicht weniger als fünfmal, und zwar jedesmal stärker und ausführlicher geschrieben hatte; vergebens bemüht, seinen Gegner zu überzeugen! :Auch heute noch droht man der mathe- matischen Psychologie im Namen der Freyheit mit „Strichen durch die Rechnung"; die jedoch wohl nur Luftstreiche seyn dürften.

Denn von dem Vermögen, absolut anzufangen, gilt Alles, was von den Seelenvermögen überhaupt zu sagen ist. Und wenn alle Motive, welche nach den praktischen Ideen zu beurtheilen sind, hinweggenommen werden, so mag man zusehn, wieviel Werth die Handlungen aus jenem, von den Motiven vorgeblich unabhängigen Princip noch besitzen mögen! Was wäre eine Tugend, die aus Liebe zur Freyheit sich weigern würde, das Gute um des Guten willen zu thun? Den Geist des Widerspruchs gegen jedes Sollen kennt man längst.

Die Extreme berühren sich. Augustins unbedingter Rathschluis legt der Gottheit eine Wahl ohne Motiv bey. Warum wollen Diejenigen, welche im Menschen jenes Princip zu [363] handeln, das von den Motiven frey seyn soll, unbedenklich finden, der Gottheit -weniger einräumen?

Unstreitig sollen die praktischen Ideen die Motive des eigentlich moralischen Handelns seyn, welches Kant als ein Handeln nicht blofs der Pflicht gemäfs, sondern aus Pflicht, 2ganz richtig und mit vieler Würde beschrieben hat. Aber zum Unglück hat der Mensch neben den moralischen Motiven, ohne sie gerade auszuschliefsen, noch andre Motive; und dazu kommt das zweyte Unglück, dafs die Stärke und Wichtigkeit, womit ein Motiv im Nachdenken erscheint, weit verschieden ist von dem Gewicht und der Spannung, womit im Augenblick des Handelns die That geschieht. Wir brauchen kaum noch daran zu erinnern, dafs im Nach- denken die Vorstellungsmassen auf eine Weise thätig sind, die ein ganz andres Verhältnifs im Handeln anzunehmen pflegt. Aber hier kommt es darauf an, den psychologischen Mechanismus genauer zu studiren.* Die

1 Die Worte: „Auch heute noch .... zu sagen ist. Und" (4 Zeilen weiter) fehlen in der II. Ausg.

2 Die folgenden Worte: „ganz richtig und" fehlen in der II. Ausg.

* Wir wollen hier das einzige Wort darüber sagen, dafs beynahe (obgleich nicht ganz) wie die Substanz der Seele zu den in der Zeit erzeugten Vorstellungen, so die Vorstellungen sich zum Wollen verhalten; welches erst Vestigkeit erlangt in dem Maafse, wie die Verbindung der Vorstellungen sich bevestigt.

2Q4 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

gemeine Psychologie läfst ihre Seelenvermögen, die ein für allemal eine ge- schlossene Gesellschaft bilden, und als eine solche bey einander sind und bleiben, eine gar schlechte Rolle spielen. Beym ruhigen Denken (sagt sie) ist die Vernunft thätig; aber im Augenblicke des Thuns wird von der Aufsenwelt die Sinnlichkeit gar zu mächtig aufgeregt; daher zieht die schwache menschliche Vernunft sich zurück, und so bleiben die besten Vorsätze unausgeführt. Aber diese schwache menschliche Vernunft ist nichts andres, als eine schwache menschliche Erfindung. Wären da wirk- lich zwey Seelenvermögen, genannt Vernunft und Sinnlichkeit, deren Natur es so mit sich brächte, dafs sie im Handel zusammenwirkten: so würde einerley Gelegenheit sie beide zugleich, und in gehörigem Verhältnisse, in Wirksamkeit setzen. Wie kommt's denn, dafs bey der Gelegen[364]heit, wo die Sinnlichkeit sich hervorthut, die Vernunft weniger das Ihrige thut, dafs sie sich zurückzieht? iDas, was sich da zurückzieht, und noch viel weiter wird zurückziehn müssen, ist kein wirkliches Ding, sondern eine grundfalsche Hypothese.

Man kennt nicht etwa den Menschen durch die gemeine Psychologie, sondern man verkennt ihn ganz und gar. Und wehe dem, der nach ihr sich richten würde, wo es darauf ankommt, Menschen zu behandeln! Da- mit sie nur nicht in den offenbarsten Widerstreit mit der Erfahrung sich versetze, hat man sie mit solchen Inconsequenzen belasten müssen, wie jene, dafs von zwey Vermögen, denen zugleich Veranlassung gegeben wird, ihrer Natur gemäfs zu wirken, das eine vortritt und das andre rück- wärts geht. Vor lauter moralischem Bedauern merkt man den Fehler der Theorie nicht, der um desto ärger ist, wenn sogar die Freyheit, welche doch der schwachen Vernunft zum Succurs herbeyeilen sollte, sich in den meisten Fällen nicht regt noch rührt. Oder welche Rolle spielt diese Freyheit, deren der Mann sich rühmt, in dem gemeinen sinnlichen Menschen, in gewöhnlichen Kindern, und Frauen, und Greisen? Sie schläft! Denn das kostet der gemeinen Psychologie nichts, die Freyheit als schlafend, das heißt, als unfrey, zu denken. Der Mensch, sagen sie, hat Freyheit; es ist seine Schuld, wenn er sie nicht braucht. Also dieses Grundver- mögen, welches alle andern Vermögen haben und brauchen sollte, wird selbst gehabt und gebraucht oder nicht gebraucht. Wer denn ist Der- jenige, der es hat und braucht? Vermuthlich das Ich! Man löse erst die Widersprüche im Begriff des Ich; man verhehle sich nicht länger, dafs in den Wissenschaften Derjenige zu kurz kommt, der einen gordischen Knoten mit dem Schwerdte wegschaffen, - - oder, was dasselbe ist, ignoriren will. 22i2. Es ist im gelehrten Deutschland überhaupt nicht Sitte, dafs ein Praktiker seine Studien auf das das allernächste Bedürfnifs der Praxis

1 Die folgenden Worte:' „Das, was sich zurückzieht rückwärts geht"

(10 Zeilen weiter) fehlen in der II. Ausg.

' Statt des § 212 steht in der IL Ausg. folgender §:

231. Mögen nun die vorstehenden Betrachtungen * nicht blofs zeigen,

sondern lebhaft fühlbar machen, wie nothwendig die praktische Philosophie,

falls sie wahrhaft praktisch werden soll, sich mit wahrer Psychologie in

Ausführlicheres in einer neuern Schrift des Vfs. : Zur Lehre von der Freyheit

des menschlichen Willens.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 8. Cap. Von der praktischen Thilosophie. 205

beschränke. Man darf also voraus[365]setzen, dafs die Theologen, Medianer und Juristen hören werden, wenn man ihnen im Namen der Philosophie etwas zu sagen hat. Ihr Widerwille gegen neue Systeme wird sich mäfsigen müssen, aus dem einfachen Grunde, weil sie nicht im Stande sind, die Fortschritte der Philosophie zurückzuhalten, und ihnen das Zurückbleiben

Verbindung setzen mufs. Die Wichtigkeit dieser Verbindung wird dereinst noch weitergreifend befunden werden, je mehr man einsehen wird, dafs sich die psychischen Gesetze nicht blofs im einzelnen Menschen, sondern auch im Staatsleben gelten machen; und dafs hierauf die wahre Philosophie der Geschichte beruhet. Für jetzt müssen wir uns begnügen, die Hin- weisung auf Psychologie als das Wesentlichste zu bezeichnen, was über Methode der praktischen Philosophie zu sagen ist; nämlich vorausgesetzt, daß die Sonderung und richtige Bestimmung der praktischen Ideen bereits geschehen, und in ihren nächsten Folgen gehörig erkannt sey\ denn was daran fehlt, läfst sich durch nichts Anderes ersetzen. In der That aber mahnt die transscendentale Freyheit, von der nur eben zuvor gesprochen worden, an eine andre Art von Freyheit, die sich's wohl gefallen liefs, mit jener in Verbindung tretend einen bedeutenden Theil der praktischen Philosophie zu beherrschen, nämlich die Rechtslehre; so dafs eine Methode begünstigt wurde, welche der Sonderung der praktischen Ideen eben nicht förderlich ist.

Nichts scheint fafslicher, als der Unterschied zwischen innerer Frey- heit und äufserer Freyheit. Der Mensch hört gern von der innern Frey- heit seines Willens, aber noch lieber von der äufsern Freyheit seines Handelns. Dafs diese beiden Freyheiten vollkommen disparat seyen, haben wohl die Wenigsten von Denen begriffen, welche sich gern die Kantische Lehre von der äufsern Freyheit für's Naturrecht, neben der innern Frey- heit für die Moral, gefallen liefsen. Und doch soll (wie oben schon er- innert) die innere Freyheit unzeitlich seyn, und der intelligibeln Welt an- gehören, während die äufsere Freyheit in der Zeit und im Räume, also mitten in der Welt der Erscheinungen, ihr Reich ausbreitet.

Die Trennung des Naturrechts von der Moral, welche von gehöriger Unterscheidung und Verbindung aller fünf praktischen Ideen sehr weit entfernt ist, geschah zwar zu einer Zeit, wo noch nicht an Kantische Lehren zu denken war. Allein die fafsliche Rede von der äufsern und innern Freyheit pafste vortrefflich zu den Zwangsrechten der Juristen, und den Gewissenspflichten der Theologen; so dafs nun unwiderruflich die praktische Philosophie in zwey Theile zerlegt schien. Die Studirenden der Jurisprudenz brauchten nun keine wissenschaftliche Moral; und die Theologen bekümmerten sich nicht um's Naturrecht.

Möge denn wenigstens die Philosophie mit sich selbst in Ueber- einstimmung bleiben. Aber auf der einen Seite Kantischer Rigorismus, der kein sittlich -Schönes kennt, vielmehr behauptet, der Mensch könne nie mehr thun als seine Pflicht, auf der andern Seite ein Naturrecht, welches ausgeht von Rechten die Jemand habe, als ob es Güter wären; und sich herabläfst auf den Standpunct des Privatmannes, wie wenn die Motive des rechtlichen Verhaltens gleichgültig, und blofs die Sicherheit

2q6 II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1.

hinter den Fortschritten der Zeit unfehlbaren Naehtheil bringt. Es hilft ihnen nichts, dafs sie etwa meinen, Hegel ignoriren zu dürfen, weil sie freylich das, was er ihnen darbietet, unmittelbar so wie es ist, wenig ge- brauchen können. Durch Hegel ist ein Fortschritt geschehn, indem durch ihn die Widersprüche in den Erfahrungsformen, die schon die Alten zum

der äufsem Verhältnisse von Bedeutung wäre,* das pafst nicht zu- sammen. Der Eudämonismus, durch ein kategorisches Gebot verbannt, hält durch das offene Thor eines solchen Naturrechts im Triumph seinen Einzug. Denn wie willkommen der Arzt, eben so sehr und noch mehr willkommen ist der Anwalt, der die Schäden des Vermögens und des Ansehens in rechtlicher Form zu heilen oder zu verhüten verspricht. Rauh klingt die Rede von den Pflichten, aber lieblich die von den Rechten. Es kann begegnen, dals über beiden der eigentliche Sinn des Rechts, was über Allen schwebt, vergessen wird.

Die Idee des Rechts ist in der Reihe der praktischen Ideen weder die erste noch die letzte. Sie steht unter fünfen an der vierten Stelle; und an dieser Stelle darf sie nicht fehlen; sonst wird sie nicht blofs im Gerichtshofe •vermifst, sondern auch im Gewissen.

„Das Naturrrecht besitzt eben so wenig die Macht des Staats, und der in ihm geltenden positiven Rechte, als die philosophische Tugend- und Pflichtenlehre im Stande ist, den mächtigen Einflufs der Kirche auf die Gemüther auszuüben. Das Naturrecht, wenn es irgend auf Un- abhängigkeit vom positiven Rechte Anspruch macht, kann nur durch Gründe wirken ; auf Gründe aber, mit Beyseitsetzung des Vortheils und der Stärke, hört nur der moralische Mensch. Daher darf es sich von der Moral nicht dergestalt absondern, als ob es, ohne sie, Eingang finden könnte. Denn es ist weder bestimmt, dem Stärkern zu schmeicheln, noch den Schwachem aufzureizen."**

Nachdem aber Kant gelehrt hatte, die rechtliche Gesetzgebung ver- lange nicht, dafs die Idee der Pflicht Bestimmungsgrund der Willkühr sey; behauptete Fichte vollends gar, auf dem Gebiete des Naturrechts habe der gute Wille nichts zu thun; das Recht müsse sich erzwingen lassen. Die Nemesis blieb nicht aus ; bald darauf erklärte Schleiermacher das Naturrecht für eine Unform, welche von einer rechten Ethik müsse zerstört werden.

Das gröfste Uebel bey dieser Confusion lag darin, dafs man die Staatslehre nun zum Naturrecht zog, und was darüber hinausgeht, einer blofsen Klugheitslehre unter den Namen Politik zuwies, an welcher natürlich die Psychologie fehlte; denn die alten Seelenvermögen haben einen Politiker wenig oder nichts zu sagen.

Den Staat, die mit Macht bekleidete bürgerliche Gesetzgebung, erachtete Kant so nöthig selbst für's Eigenthum, dafs er im Natur- stande nur ein provisorisches Mein und Dein wollte gelten lassen. Im Falle des Streits sollte Jedem erlaubt seyn, den Andern zu nothigen, dafs

* Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral, §. 92 u. s. f. ** Analytische Beleuchtung des Naturrechts etc. §. 27.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 8. Capitel. Von der praktischen Philosophie. 207

Theil sehr deutlich sahen, der heutigen Zeit wieder kund geworden sind: ein Fortschritt, welcher freylich nicht der letzte seyn wird; denn mitten in Widersprüchen kann man nicht stehen bleiben. Der philosophische Apparat, dessen sich jene Facultäten zu bedienen gewohnt sind, mufs jetzt

er mit ihm in eine bürgerliche Verfassung trete. Aber keine Macht steht sicher, so lange es Krieg geben kann. Also ewiger Friede! Aber der ewige Friede ist nach Kant selbst eine unausführbare Idee. Schlimm für's Mein und Dein!

Wenn dagegen die praktischen Ideen als Ideen wissenschaftlich dar- gestellt und gesondert werden, so findet man weder im Rechte die Be- fugnifs des Zwanges, noch kann bey dem Zwange gleich auch von der zwingenden Macht gesprochen werden, sondern alles dies steht weit genug aus einander.

Man unterscheide (um nur eine kurze Andeutung zu geben) Recht, Befehl, Zwang, und Macht. Das Recht gehört der Lehre von den ein- fachen, ursprünglichen Ideen; der Befehl kommt dem Richter zu, und gehört in die Rechtsgesellschaft; der Zwang (etwa im Falle des Un- gehorsams gegen den Befehl) bedarf zu seiner Begründung der Idee der Billigkeit, und gehört ins Lohnsystem; von diesem Allen weit verschieden aber ist die Lehre von der wirklichen, zwingenden Macht im Staate, deren Betrachtung gar nicht in die Ideenlehre kann gezogen werden ; denn wirk- liche Dinge sind keine Ideen, sondern richten sich nach Gesetzen der Natur und des Geistes, das heilst hier, grofsenteils nach dem, was die Psychologie zu untersuchen hat.

Die praktische Philosophie ist zwar bey weitem leichter als die Metaphysik sammt den von ihr abhängenden Wissenschaften; sie verlangt nicht eine so grofse Mannigfaltigkeit verschiedenartiger Methoden und Hülfsmittel; aber sie fodert doch, dafs man ihre verschiedenen Partieen aus einander halte, und jedem Begriffe seinen Platz anweise.

Grotius, etwas freygebig mit Beschränkungen des Eigenthums, will überdies, dafs Länder, Flüsse, Meere, bei gerechter Ursache zum Durch- gange offen stehen sollen, für Vertriebene, oder des Handels wegen; er will keine Zölle; er verlangt Erlaubnifs zu Wohnsitzen, zur Occupation leerer Plätze. Fichte behauptet Jim Naturrechte, Jedermann solle von seiner Arbeit leben können; der Arme habe ein absolutes Recht auf Unter- stützung; das Eigenthum der Objecte besitze Jeder nur so weit, als er dessen für die Ausübung seines Geschäffts bedürfe, u. s. w. An ähnlichen Behauptungen leidet unsre Zeit keinen Mangel; nur Schade, dafs man nicht überlegt, wohin sie gehören. Die Begriffe gerathen in Verwirrung, und können ihre Dienste nicht leisten, wenn man vom Rechte da redet, wo von höherer Cultur, von Veredelung der Gemüther, von Billigkeit und gegenseitigem Wohlwollen zu reden wäre. Das Recht bezieht sich auf Vermeidung und Schlichtung des Streits; nicht selten aber begegnet es Denen, welche das Recht verbessern wollen, dafs es sie unsicherer stellen, als es zuvor stand; und dafs sie den Saamen der Streitigkeiten, den sie wegschaffen sollten, erst recht aussäen und verbreiten.

Gegen solches Uebertreiben und Uebereilen dessen, was nur sehr

2q8 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

verändert werden; er ist nicht blofs rostig, sondern vom Roste zerfressen, und man würde umsonst versuchen, ihn von neuem zu poliren.

Diesen philosophischen Apparat brauchen zwar die Theologen nicht auf der Kanzel, die Juristen nicht im Gerichtshofe, die Medianer nicht am Krankenbette. Aber der Theologe ist auch nicht blofs Kanzelredner, der Jurist nicht blofs Richter, der Medianer nicht blofs Arzt. Sie sind sämmtlich Gelehrte, und führen gelehrte Streitigkeiten; sie theilen sich in Partheyen. Welche Parthey nun in der Philosophie zurückbleibt, diese wird gar bald neben sich eine andre Parthey erblicken, deren Anfälle ihr unbegreiflich vorkommen, daher sie dieselben anfangs gering achtet, während sie doch mehr und mehr von jener bedrängt wird, je leichter sie mit abgenutzten Formeln Alles gethan und abgethan zu haben meint. Dabey kommen die offenbarsten Misgriffe vor. Zufällig bietet sich eine ganz neue Probe dieser Art dar, welche beyspielsweise hier mag ange- führt werden. Eine theologische Recension beginnt so:

[366] „Wenn die Empiriker in der Philosophie die Frage aufstellten: ob auch die Idealisten für Philosophen zu halten seyen, was würde

man sagen?

Der Ungenannte, welcher so schreibt, weifs ohne Zweifel, was Idealis- mus ist. Kurz darauf redet er weiter:

„Unbegreiflich ist es, wie man die Vernunft (die doch etwas Anderes ist, als der abstrahirende Verstand,) zurückweisen will; deren Forschung nothwendig ist, um Gewifsheit zu erlangen, welches die Aussprüche der göttlichen und nicht Wahngebilde der menschlichen, durch Sinnlich- keit getrübten Vernunft seyen." Was wird nun der Gegner sagen? Er wird sich nicht lange besinnen; die Antwort ist ihm in den Mund gelegt. Ihr räumt ein, (wird er sagen,) die menschliche Vernunft sey durch Sinnlichkeit getrübt, also seyd ihr ge- fangen. Denn mit Eurer getrübten Vernunft könnt ihr die ungetrübte nicht erkennen; und Eure Vertheidigung ist nichts als ein Bekenntnifs, dafs ihr vom Idealismus redet, ohne ihn zu verstehn. Schlagt Fichte's Schriften nach; seht zu, ob dort noch Vernunft und Verstand und Sinn- lichkeit an derselben Stelle stehn, wie Eure Reminiscenzen aus Wolf und Kant es Euch vorspiegeln.

langsam gedeihen kann, warnt die Wissenschaft, wenn man, wie sich's gebührt, erst vom ästhetischen Standpuncte aus jede praktische Idee einzeln und nach ihrer Eigenthümlichkeit, unbekümmert um die andern, betrachtet; dann die Gesammtheit der Ideen zu den Begriffen der Tugend und Moralität verknüpft; endlich mit Hülfe der Psychologie, der Geschichte, der Menschcnkenntnifs, den notwendigen Bildungsgang untersucht, durch welchen die Annäherung an das Gefoderte möglich ist. Dies giebt drey Regionen der Wissenschaft, eine der Sonderung, die zweyte der Ver- einigung, die dritte der Anwendung; deren jede ihre Gränzen hat, und innerhalb welcher man stets orientirt seyn mufs, wofern man sich nicht in mishelligen Meinungen verwickeln, ja wohl gar vom Treiben der Par- teyen will fortreifsen lassen.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 8. Capitel. Von der praktischen Philosophie. 299

Wollten wir nach ähnlichen Probestücken suchen*, wir würden sie zu hunderten in Büchern und Zeitschriften antreffen. Allein weshalb sollten wir suchen? Die Religion leidet nicht bey den Redensarten des gemeinen Lebens, zu dessen Angelegenheiten sie ohnehin sich herablassen mufs; es ist nur der Gelehrte, welcher leidet, wenn er unter Gelehrten eine Sprache führt, die zur Sache nicht pafst. Was jener Gelehrte eigent- lich sagen wollte, der die Vernunft wie ein getrüb[3Ö7]tes Glas beschrieb, das konnte auch ungetrübt durch falsche Psychologie, ja es konnte ohne alle Psychologie gesagt werden; und er hat es wirklich gesagt, indem er von dem Unterschiede der innern und änfsern Beweise für das Christen- thum redet. Wollte er indessen mit Bestimmtheit die Anerkennung der innern Beweise beschreiben, so gehörte auch mehr dazu, als folgende Fort- setzung jener Rede:

„Der Streit dreht sich um die Frage: ob in Sachen der Religion, be- sonders einer positiven, von der Vernunft blofs ein formaler oder auch ein materialer, halber oder ganzer Gebrauch zu machen sey." Hiebey entsteht sogleich die Frage, Wer denn Derjenige sey, der die Vernunft, wie ein Werkzeug gebrauchen solle? Der Mensch vermuthlich. Wer ist denn dieser Mensch? Ist er Leib oder Seele? Der Leib kann die Vernunft nicht gebrauchen; die Seele ist eine unbekannte Substanz, an welche der Befehl, irgend etwas zu gebrauchen, auf keinem unbekannten Wege kann abgesendet werden. Es wird also wohl, damit doch irgend Jemand die Botschaft dieses Befehls in Empfang nehmen möge, das Ich hervortreten müssen; wie in dem Ausdrucke, Du sollst Deine Vernunft gebrauchen, vorausgesetzt wird. Wer nun vom Idealismus redet, der sollte wissen, in welche Widersprüche das Ich gerade durch den Idealismus, der darauf bauen wollte, ist verwickelt worden. Aber auch abgesehen hievon: was war denn die eigentliche Absicht der Rede? Doch wohl dies, dafs man in sich nichts andres über die Vernunft stellen könne, dafs es keinen Herrn gebe, welchem die Vernunft zum beliebigen Gebrauch diene, sondern dafs sie selbst, überall wo von ihr gesprochen wird, als das Active gedacht wird, welches braucht, nicht aber als das Passive, welches sich brauchen läßt. Jene Rede lautet femer also:

„Wenn der Stifter des Christenthums von einem Innewerden, von einer Gnosis seiner Lehre spricht, wenn er kühn Jeden auffordert, ihm einen Irrthum nachzuweisen; wenn er Glauben fordert, darum weil er die [368] Wahrheit rede: so fordert er ja offenbar Vernunft- Erkenntnifs, und behauptet, dafs Jedermanns Vernunft mit der seinigen überein- stimmen, dafs Jeder in seiner Vernunft dasselbe finden werde, was er in der seinigen. Wir überzeugen uns aber nur dann von einer Lehre, wann wir finden, dais die Aussprüche der Vernunft eines Andern auch Aussprüche unserer Vernunft, dafs beide identisch, mithin Aussprüche der Vernunft überhaupt sind."

Man wird hier wohl nicht veranlafst, die Vernunft überhaupt in

* Dafs nach dem vorstehenden nicht erst gesucht ist, wird man leicht glauben; denn es steht ganz nahe neben der meisterhaften Recension der Metaphysik, wodurch Herr Professor Drobisch sich ein neues Verdienst um den Verfasser erworben hat. (Jen. A. L. Z. August 1830.)

tqo U- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

einem pantheistischen Sinne zu nehmen; obgleich schon in diesem Puncte die Rede hätte vorsichtiger lauten können. Aber jenes Innewerden, jene Gnosis, der Vernunft beyzulegen. ist wiederum eine Blöfse, die man den Gegnern giebt. Wer wird das Innewerden bezweifeln? Ohne Zweifel soll die Religion (werden sie sagen) nicht draufsen bleiben, sondern hinein- dringen. Damit ist aber keineswegs zugestanden, dafs Jeder in seiner Vernunft die Religion finden werde, als ob sie schon darin gewesen wäre, und nur noch mit dem, was sich von aufsen darbietet, brauchte verglichen und als identisch anerkannt zu werden. Solche Sprache verwirrt blofs den Streit, statt ihn aufzuklären. Man zeige zuerst die Vernunft, deren Aussprüche man rühmt. Was ist sie? Welche Einheit des vorgeblichen materialen und formalen Gebrauchs derselben kann man nachweisen? Erschlichen ist diese Einheit; und der Begriff derselben ist nichts weiter, als eine grobe Analogie mit den Dingen der Sinnenwelt, an denen man ganze Summen von disparaten Merkmalen aufzählt, welche beym ersten metaphysischen Blick von der Substanz müssen verneint werden, anstatt dafs dieselbe durch ihre vorgeblichen Attribute sollte bekannt geworden seyn. Nichts als Empirismus konnte einen Begriff der Vernunft erzeugen, der nicht die erste aller metaphysischen Proben bestehen kann.

Anders kommt theilweise die Sache zu stehen, wenn die praktischen Ideen zu Hülfe gerufen werden. Diese sind und waren vorhanden, noch ehe die Lehren der Religion hinzu[36g]kommen. Nicht ohne Absicht haben wir oben des Cicero, das heilst, der Stoiker, Erwähnung gethan, die wiederum auf Platonische Quellen zurückweisen. Wer die praktischen Ideen mit den Eigenschaften der Gottheit vergleicht, der hat allerdings zweyerley, dessen Identität sich leicht darthun läfst (199.).

Es ist aber Vernachlässigung der Genauigkeit, die man so wichtigen Gegenständen schuldig ist, wenn die praktischen Ideen der Vernunft bey- gelegt werden. Wir haben gezeigt, dafs sie aus ästhetischen Urtheilen entspringen (45.)- Auf diesen beruht das, was an dem oben gerühmten Innewerden wahr ist. Von dort bis zur Vernunft ist noch eine weite Strecke zurückzulegen. Die ästhetischen Urteile sind oftmals bey Kindern völlig wach und klar ; daher sie alsdann auch sehr leicht der Eeligiofi inne werden. Vernunft aber ist nicht der Ruhm des kindlichen Alters; dazu gehört mehr. Vernunft ist reife Ueberlegung, in welcher die praktischen Ideen aus der Vermengung mit andern ästhetischen Producten, und über- dies mit den sämmtlichen andern Triebfedern des Willens, herausgehoben werden. Vernunft ist die Mutter der Moralität, welche durch die blofsen Ideen noch gar nicht gegeben war. Nicht in der Vernunft wird Etwas- (es sey was es wolle) gefunden, sondern sie selbst mufs als diejenige be- zeichnet werden, welche findet, ordnet und dadurch herrscht

Hinwiederum schafft dieselbe keine vollständige Erkenntnifs. Der Glaube, den sie hervorbringt, würde gar sehr schwanken, wenn nichts von aufsen hinzukäme. Darum haben wir oben der Proben gedacht, welche die Natur darbietet, um den Glauben zu bestätigen (200.).

Die Fehler, welche durch den beständigen Fortgebrauch der alten Psychologie entstehen, wären minder auffallend, wenn die philosophische Untersuchung sich erst neuerlich ihrem verführerischen Einflüsse zu ent-

2. Abschnitt. Methodenlehre. 8. Capitel. Von der praktischen Philosophie. 30 1

ziehen angefangen hätte. Aber, wie vorhin bemerkt, der Idealismus Fichte's störte schon das Reich der Seelenvermögen. Die vorgebliche Receptivität [370] der Sinnlichkeit verschwand schon vor der Annahme einer produktiven Einbildungskraft; und was mehr ist, Fichte's ganze Me- thode, unrichtig wie sie war, konnte doch zur Entwöhnung von den alten Vorurtheilen dienen. Aber der Starrsinn, welcher durchaus nichts Neues an sich kommen läfst, ist so grofs gewesen, dafs nach allem Wechsel der Systeme selbst das an sich Unhaltbarste noch auf der alten Stelle steht. Was meinen denn Hegels Gegner, die von den Widersprüchen in seinem Systeme den baldigen Untergang desselben erwarten? Meinen sie, die zum materialen und formalen Gebrauche eingerichtete Vernunft sey überzeugender, als Hegels Zusammensetzung des Seyn und des Nichts? Was sie bey ihren Worten denken, mag Wahrheit enthalten; bleibt man aber bey den Be- griffen, welche zunächst durch die Worte bezeichnet werden, so findet man jene Vernunft so unhaltbar, wie diese Zusammensetzung; nur diese scharf- sinniger, jene platter. So erscheint der Unterschied. In den härtesten Widersprüchen kann sich grofser Scharfsinn zeigen, aber freylich nur, wenn sie mit Besonnenheit aufgestellt und behandelt werden. Wer das nicht glauben will, der frage die Mathematiker. Was aber das Reich der alten Vorurtheile anlangt: so scheint unser Zeitalter eben nicht sehr gelaunt, es noch lange zu dulden. Nicht blofs die politische, sondern auch die lite- rarische Welt hat ihre Erfahrungen; wenn man nämlich darauf wartet, anstatt zur rechten Zeit zuvorzukommen.

Vom Rationalismus der Theologen ist, in Betreff seines philosophischen Ausdrucks, Einiges gesagt worden; man könnte sich nun veranlafst finden, von dem der Juristen und der Mediciner zu fragen, ob er glänzender sey vertheidigt worden, (im philosophischen Sinne,) als jener theologische. Es scheint nicht; denn wir sehen da und dort den Empirismus zum Uebergewichte gelangt. Was nun die Juristen anlangt; so darf man sich zuvörderst nicht wundern, dafs jenes Naturrecht, welches über die positiven Rechte hinaus sich eine Auctorität anmafsen wollte, (ungefähr wie wenn ein alter Wald, auf einmal umgehauen, durch lauter junge Bäume könnte ersetzt werden,) [371] bey ihnen in Übeln Ruf gekommen ist. Die Juristen sind zunächst verpflichtet, das Bestehende zu erhalten, so wie es besteht. Wahre Rechtsphilosophie ist die Freundin des Bestehenden, in so fern die gegenwärtige Generation der Menschen einmal darauf eingegangen ist. Es ist nur schlimm, dafs immer eine Generation nach der andern zum Vorschein kommt, und dafs, wenn für die Zufriedenheit der neuen nicht im Voraus die möglichste Sorge getragen wurde, alsdann Explosionen zu erfolgen pflegen, gegen welche die gesammte Jurisprudenz nicht mehr ver- mag, als Processionen gegen einen brennenden Vulcan. Aber die Ge- setzgebung, wird man sagen, hat diese Sorge zu tragen! In der That. wohl uns, dafs sie es thut! Auch ist, wenn man blofs die abstracten Be- griffe erwägt, nichts einzuwenden gegen Unterscheidung und Absonderung der Jurisprudenz von der Gesetzgebung und von der Staatsgewalt über- haupt. Die Gerichtshöfe, sammt allem, was ihnen anhängt, haben nur eine bedingte Existenz. Sie sollen das Gesetz nicht machen, sondern das gegebene, dessen Schutz ihnen anvertraut wurde, in Anwendung bringen.

,0, II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

Kämen neue Gesetze: sie würden nach den neuen Gesetzen Recht sprechen, wie jetzt nach den alten! Warum denn aber steht die historische Jurisprudenz in so hohen Ehren? Es scheint doch, die Juristen seyen sich eines Einflusses bewufst, den sie, wenn nicht für Neuerungen, als- dann desto mehr wider dieselben in Anwendung zu bringen gedächten.

Das ist ihnen nun gar nicht zu verdenken. Sie wissen wohl, dafs ein weiser Herrscher guten Rath gern hört, und dafs neue Gesetze niemals ohne vorgängige Rücksprache mit den Sachkundigen zu erscheinen pflegen.

Aber noch mehr! Die Jünglinge, welche Jurisprudenz studiren, haben nicht blofs den engbeschränkten Wirkungskreis des eigentlichen Sach- walters und Richters im Auge. Sie wissen wohl, dafs aus ihrer Mitte gerade die einflufsreichsten Staatsämter sollen besetzt werden. Sie wissen, dafs mit solchen Stellen im Staate noch etwas mehr, als eine blofs amt- liche Wirksamkeit verbunden ist. Das Amt giebt Ansehn; und [372] der Angesehene findet am leichtesten Gehör. Die öffentliche Meinung, wiewohl keinem einzelnen Stande dienstbar, hängt dennoch vorzugsweise ab von dem Reden und Thun derer, die an der Spitze stehn. Sie läfst sich von ihnen gewinnen oder zurückstofsen.

Und Diejenigen, welche in den höhern Staatsämtern stehen, wornach bilden sie ihre Meinung von dem, was besteht, und was sich ändert? Wenn nicht nach der Philosophie, um welche sie sich nicht viel kümmern, dann vielleicht nach der Geschichte. Aber das Buch der Geschichte ist noch viel weitläuftiger und schwerer zu verstehen, als die Bibel; es wird weit weniger sorgfältig gelesen als diese, und noch weit mannigfaltiger interpretirt. Auch hat in jedem Augenblicke die Geschichte eine starke Nebenbuhlerin an der neuesten Zeitung, und an den Gesprächen, welche dadurch veranlagt werden.

Mag nun die Jurisprudenz die Vorzeit loben, mag sie in der Ge- schichte studiren; die Juristen sind nicht immer die Freunde des Be- stehenden; man will Beyspiele haben, dafs gerade sie, wenigstens ihrer Meinung nach, die Geschicktesten gewesen seyen, mit dem Strome der Zeit zu schwimmen, ja selbst ihn zu lenken.

Dafs nun in solchen Fällen zuweilen die Metaphysik die Ehre ge- habt hat, citirt zu werden von Leuten, die nicht die ersten Anfangsgründe der Metaphysik kennen, ist kein Wunder. Unbesonnene Neuerer plaudern gerade am liebsten von dem, was sie nicht verstehn. Inhärenz, Ver- änderung, Materie, Ichheit, wenn man will, Raum und Zeit, und über- haupt Continuität: das sind die Gegenstände der Metaphysik. Sie sind keiner Behörde behülrlich oder gefährlich. Das Problem der Veränderung möchte man allenfalls in Verdacht haben; allein selbst hier hat die Meta- physik nur das Geschafft, das Bestehende gegen alle vermeinte innere Revolution zu vertheidigen. Darin liegt jedoch kein Verdienst ' um den Staat; denn, die Wahrheit zu sagen, die Metaphysik denkt gar nicht an den Staat, sondern an die Natur.

[373] Sehr viel passender wäre, hier auf die Psychologie das Augen- merk zu richten. Diese betrachtet allerdings den Staat als Phänomen, in welchem die Gesetze des psychologischen Mechanismus sich auf's klarste spiegeln; so dafs man, um dieselben dem Unkundigen ohne Rech-

2. Abschnitt. Methodenlehre. 8. Capitel. Von der praktischen Philosophie. 303

nung begreiflich zu machen, wirklich nichts Besseres thun kann, als ihn auf das vom Staate stets dargebotene Schauspiel verweisen. Auch ist wahre Interpretation der Geschichte nicht möglich ohne Psychologie. *

Allein das dringendste philosophische Bedürfnifs des Juristen geht auf die praktische Philosophie. So lange von den verschiedenen prak- tischen Ideen auch nur Eine im Dunkeln bleibt, schwanken immerfort die gangbaren Vorstellungen über Moral und Naturrecht, wo man Gränzen gezogen hat, die weder moralisch noch rechtlich sind. Doch hierüber wollen wir nicht jetzt, noch am Ende dieses Buchs, den Streit eröffnen, der im Vorhergehenden sorgfältig ist vermieden worden, in der Hoffnung, ihn durch unmittelbare Darlegung des wahren Verhältnisses der Ideen (wie sie theils hier, theils längst in der praktischen Philosophie gegeben ist,) vielleicht unnöthig zu machen.

An Diejenigen sind noch einige Worte zu richten, welche mehr Ge- walt über Leben und Tod besitzen, als selbst die Juristen. Schon oben (21.) haben wir bereitwillig anerkannt, dafs den Aerzten in Ansehung des Ernstes, den sie den philosophischen Studien (zvenn sie einmal darauf ein- gehn) zuzuwenden pflegen, der Vorzug gebührt.** Sie wissen am besten, [374] wieviel ihnen fehlt, und suchen am sorgfältigsten nach allen Hülfs- mitteln, wodurch ihr schweres Studium kann erleichtert, ihre schwere Ver- antwortung wegen der gefährlichen Praxis gemildert werden. Mit ihnen nun dürfte man nicht blofs von praktischer Philosophie und Psychologie, sondern auch von Metaphysik reden. Scheuen sie das Wort: so liegt die Schuld an jener Naturphilosophie, die aus dem Schoofse des Idealismus emporzusteigen gedachte, anstatt dessen Vorurtheile von sich zu werfen. Damals verwirrte sich die ganze Kunstsprache der Philosophie; und man bildete sich ein, die Metaphysik sey nicht mehr nüthig, während nichts weiter geschehn war, als dafs sich der vierte Theil dieser Wissenschaft (die Eidolologie) von hinten, wohin er gehört, nach vorn gekehrt hatte. Jene Zeit des philosophischen Tumults ist vorüber; mit der Logik hat auch die Metaphysik ihren alten Platz wieder eingenommen. So nothwendig aber schon deshalb die Metaphysik den Aerzten ist, weil in ihr der Grund- begriff der Materie vestgestellt wird (135.): so haben wir doch die Be- trachtung des Lebens, worauf unmittelbar der Blick des Arztes gerichtet ist, vorangehn lassen, um ihn an die Begriffe von der geistigen Regsam- keit, welche der Psychologie gehören, anknüpfen zu können. Darin liegt die Andeutung, dafs Metaphysik für sich allein, ohne Psychologie, dem Arzte so wenig als dem Juristen und Theologen, wird nützen können. Das Leben ist das Mittelglied zwischen Materie und Geist. Es mufs als

* Aber was soll man von solchen Juristen denken, die da meinen, man wolle ihnen durch Psychologie das Schwerdt der Gerechtigkeit aus der Hand winden? Ver- muthlich sind sie bey solchen Philosophen in der Schule gewesen, die theoretische und praktische Philosophie aus einem Princip hervorwachsen lassen. Dann freylich ist die Verwirrung nicht zu vermeiden. Principiis obsta!

** Dafs hiemit nicht den gewöhnlichen Ansichten der Aerzte, als sey etwa Seele und Leib die doppelte Erschcinungsfown Eines Princips das Wort geredet wird, versteht sich von selbst. In den Meinungen der Aerzte spiegelt sich die Zeitphilosophie. Ihnen kann man nicht zumuthen, dafs sie dieselben verbessern, und schärfer als die Philosophen untersuchen sollten.

tq4 H- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1 .

verminderter Geist in einer, über ihre chemische Constitution erhobenen Materie gedacht werden. Die Verminderung liegt, wie sich von selbst versteht, nur in dem Laufe unseres Denkens, indem wir von den psycho- logischen Begriffen, die uns vorher klar seyn müssen, zu den physiologischen übergehen; jedoch in der Voraussetzung, man wisse nun schon, was Materie sey, oder man sey doch auf dem Puncte, es zu erfahren; denn Leben ohne Materie ist [375] ein uneigentlicher Ausdruck, so sehr üblich er auch geworden ist. Uebrigens sollen die, in diesem Buche gegebenen Notizen von der Metaphysik (welche Wissenschaft dem praktischen Interesse am wenigsten zusagt) keinen Anspruch auf besondere Aufmerksamkeit der Aerzte begründen; eine blofs encyklopädische Darstellung würde ihnen, selbst wenn sie beträchtlich weitläufiger wäre, nicht genügen können.

Endlich mögen alle drey obern Facultäten sich selbst sagen, dafs die Philosophie keiner von ihnen, einzeln genommen, angehören kann, sondern ihnen allen zugleich vorarbeiten mufs. Und während jene sämmt- lich der Praxis zugewendet sind, für welche sie ihre Lehrlinge bilden sollen, hat die Philosophie noch andere, theoretische Angelegenheiten. Sie mufs sich mit den Mathematikern und Naturforschern in Gemeinschaft setzen. Dem Philosophen fiel das schwere Loos, nach allen Richtungen schauen zu müssen, während jeder andre Gelehrte seinen Kreis so eng, als ihm bequem dünkt, um sich zusammenzieht.

[376] Neuntes Capitel.1

Rückblicke, und Bemerkungen über die Form der Philosophie.

213. [= 236 der IL Ausg.] Für das praktische Interesse ist dies Buch mit dem vorigen Capitel völlig geschlossen; 2und wollte man sich

1 Das 9. Cap. der I. Ausg. ist in der II. Ausg. 10. Capitel geworden. Als Neuntes Capitel hat die II. Ausg. den folgenden Text :

Neuntes Kapitel.

Von dem Verhältnisse der allgemeinen praktischen Philosophie zu andern philosophischen Wissenschaften.

232. Die beiden angewandten Theile der praktischen Philosophie, nämlich Politik und Pädagogik, sind Verbindungen der allgemeinen prak- tischen Philosophie mit der Psychologie; bey welcher letztem die Er- fahrung schon vorausgesetzt wird. Aehnliches gilt aber auch von der philosophischen Religionslehre, die man eben so füglich zur angewandten praktischen Philosophie als zur angewandten Metaphysik rechnen könnte, wenn nicht letzteres passender wäre, um die Betrachtung eines Realen an-

2 Statt der folgenden Worte: „und wollte man sich denken .... in dem Worte Encyklopädie. Eine solche", (n Zeilen weiter) hat die II. Ausgabe: und von dem, was aufser dem Kreise desselben liegt, kann hier nur sehr Weniges anhangsweise berührt werden. Eine Encyklopädie.

2 Abschnitt. Methodenlehre. 9. Capitel. Rückblicke, und Bemerkungen etc. 305

denken, die Schrift sey verwandelt in mündliche Rede, die einzelnen Capitel in eben so viele Vorlesungen vor einer gemischten Versammlung: so liefse sich annehmen, die Mehrzahl der Zuhörer habe sich nun entfernt; ein kleines Häuflein aber sey etwa noch zurückgeblieben, um sich mit kritischen Bemerkungen zu unterhalten, welche natürlich bey so leichten Vorträgen

zukündigen. Hier wenigstens können wir uns füglich erlauben, die Religions- lehre, nachdem sie im sechsten Kapitel als in die Metaphysik eintretend, nämlich so wie das Zweckmäfsige in das blofs Natürliche eintritt bezeichnet worden, jetzt auch von einer andern Seite anzusehen; nämlich so, dafs zu vorhandenen religiösen Vorstellungsarten die praktische Philo- sophie teils bestätigend, teils berichtigend hinzutrete. Diese Betrachtung wird Kirche und Staat berühren; sie mag demjenigen vorangehn. was weiterhin von Politik und Pädagogik soll erwähnt werden.

Bekannt ist das alte: timor fecit Deos; allein dies trifft nicht den Hauptpunct. Allgemeiner ist die Neigung, von jeder plötzlichen Auf- regung, nicht blofs in der Aufsenwelt, sondern auch im eignen Innern, den Grund in einem Lebenden vielmehr als im Todten zu suchen. Und nicht blofs Bakchus und Ceres traten an die Stelle des Weins und Ge- traides, sondern so oft sich der Mensch über eine Veränderung seiner Gemütslage, über einen plötzlich in ihm aufsteigenden Gedanken wunderte, eben so oft glaubte er sich von einer unsichtbaren Kraft berührt; wovon ganz deutlich noch in den homerischen Gedichten die Spuren uns über- all entgegenkommen. Die Frömmigkeit erlaubt dem Dichter nicht, irgend eine bedeutende Handlung einem Menschen zuzuschreiben, wenn nicht eine Gottheit innerlich und äufserlich mitwirkt, ja den Anstofs giebt.

Dies vorausgesetzt: so konnte es nicht fehlen, dafs der Mensch nicht blofs fürchtend und bittend, sondern auch dankend sich demüthigte, so oft, was wohl that oder ein Wehe abwendete, ihn dazu aufforderte. Kam geselliger Gemeingeist hinzu, so wurde der Dank wie die Bitte zur öffent- liehen Handlung; und solches Handeln wurde mehr und mehr zur öffent- lichen Sitte, welche mancherley öffentliche Einrichtungen, und hiemit Foderungen an die Mitglieder der Gesellschaft nach sich zog.

Dafs man hierin zu weit ging, war auf niedern Stufen der Bildung natürlich und unvermeidlich; später mufsten Rückschritte erfolgen. Man hatte Menschenopfer gebracht; es mufste ausgesprochen werden, dafs die Gottheit keine Menschenopfer begehre. Man hoffte noch, durch Opfer die Gottheit zu gewinnen und zu versöhnen; es mufste ausgesprochen werden, dafs Sünden nur durch Besserung aufzuwiegen seyen, und dafs die Vorsehung nicht auf Bitten warte. Man hatte blofse Naturerfolge ver- kannt; es mufste klar werden, dafs die Natur gesetzmäfsig wirkt.

Man ging aber wiederum andrerseits zu weit, indem man in Allem, auch im Zweckmäfsigen, den blofsen Mechanismus vermuthete. Davon ist oben gesprochen; und wir brauchen hier nicht noch den Übermuth zu tadeln, welcher sich an die Stelle der frühern Demüthigung setzt, wenn der Mensch, der blind wirkenden Natur gegenüber, nichts Anderes als sich und seinen eignen Geist anerkennen will.

Aus der Psychologie soll man wissen, dafs keinesweges die psychischen

Herbart's Werke. IX.

,q5 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

mehr die Form als die Sache betreffen, und in Vergleichungen mit ander- wärts beliebten Formen übergehn würden.

Dals nun der Verfasser zurückkehrt, um sich bey diesen Herren noch

Gesetze den Grund enthalten können, weshalb uns in der äufsem Natur das Zweckmäfsige begegnet; dafs keinesweges hier in blofsen Erscheinungen ein Spiegelbild der eignen Vernunft zu suchen ist. Aus der Natur- philosophie soll man wissen, dafs ganz und gar nicht alles Leben sich schon als Leben zweckmäfsig entwickeln und gestalten müsse; den Traum von der Einheit der Lebenskraft in jedem Organismus soll man aufgegeben haben. Irrthümer dieser Art unterhalten den Übermuth; und nur durch bessere Untersuchung kann er verschwinden.

Allein dies Alles zeigt, dafs Religions-Ansichten nicht auf einmal vest stehen können, dafs sie vielmehr mit dem Ganzen des menschlichen Meinens, Denkens, Forschens in einem innigen Zusammenhange stehen. Darum mufs man Geduld haben, Nachsicht üben, sich selbst und Andern Zeit zur Überlegung gönnen. Man mufs Toleranz üben, und sich nicht schämen, auch wiederum Toleranz anzunehmen.

Befragen wir nun die praktische Philosophie: so sagt sie uns sogleich, dafs dem Wohlwollen Dank, dem höhern Verdienst Ehrerbietung ge- bühre; dafs Dank und Demuth wachsen müssen, wie das Verdienst und die Güte wachsen; dafs also auch der Gemeingeist sich richtig äufserte, wenn er öffentlich dankte und sich demüthigte vor Dem, welcher der Ge- sellschaft den Boden und die ganze Möglichkeit ihrer Existenz verschaffte. So war es nicht blofs, sondern so ist es, so soll es seyn, und so mufs es bleiben. Zum Staate gehört die Kirche; zur Kirche gehört Einheit;1 nur darf diese Einheit die Toleranz nicht ausschliefsen.

Die Kirche macht jedoch ihrer Natur nach Anspruch, ohne Ver- gleich gröfser zu seyn als der Staat, auf dessen Boden sie steht. Sie kann sich nicht begnügen mit einem Nationalgott, wenn schon ihre Ein- richtungen nur innerhalb Eines Staats und seines Machtgebiets zur Aus- führuno- kommen. Dieselbe Verehrung, welche sie dem Allerhöchsten widmet, gebührt demselben überall; der Idee nach darf nichts aufserhalb der Kirche bleiben.

Wendet aber die Kirche Mittel an, die nicht im Stande sind, die Gemüther zu vereinigen; macht sie wegen der Glaubenspuncte Bedingungen, die zur Spaltung der Meinungen führen: so entstehen mehrere Kirchen statt Einer; und jede derselben läuft Gefahr, kleiner zu werden als der Staat der sie neben einander nur in so weit schützen kann, als sie sich unter einander vertragen. Nun kommt unvermeidlich eine Unterordnung des geistlichen Ansehens unter die weltliche Macht zum Vorschein, welche der religiöse Gemeingeist ursprünglich nicht kannte. Kein Wunder, wenn die Kirche fühlt, dals sie in eine für sie eigentlich nicht passende Stellung gerathen ist. Die Frage nach dem Ucbergewicht hätte gar nicht ver- anlafst werden sollen; in der ursprünglichen Neigung der Gesellschaft, sich gemeinschaftlich vor dem Allerhöchsten zu demüthigen, liegt nichts von einem Unterschiede zwischen Kirche und Staat; der Staat ist

1 gehört die Einheit SW.

2. Abschnitt. Methodenlehre, g. Capitel. Rückblicke, und Bemerkungen etc. 307

von neuem Gehör zu erbitten, hat seinen Grund zunächst in dem Worte Eticyklopädie. Eine solche, nach theoretischen Gesichtspuncten entworfen, würde ganz anders aussehn, als dieses Buch; sie würde aber dennoch von den üblich gewordenen Formen weit abweichen, und zwar deswegen, weil

es selbst, der sich auf kirchliche Weise offenbart. Selbst dafs die Kirche den Staat überschreitet, führt an sich kein Uebel herbey; käme sonst nichts dazwischen, so wäre einerley Kirche in mehreren Staaten nur wie in mehrern Exemplaren vorhanden.

Und hiebey dürfen wir nicht unterlassen, des höchst wohlthätigen Einflusses zu gedenken, welchen die Kirche, sofern sie in mehr-ern Staaten Eine ist, gegen den Streit der Staaten ausübt. Sie ist es vorzugsweise, welche im Kriege zum Frieden mahnt, und die Gemüther zur Ver- söhnung stimmt.

Eben so ist es innerhalb des Staats die Kirche, welche das Drückende der Standesverschiedenheit mildert.

Allein solche Wohlthaten vermag die Kirche nur zu spenden, wofern sie sich hütet, selbst ein Princip des Streits zu werden. Will sie mehr als ermahnen, so wird sie beherrscht.

Andre Ansprüche macht die Kirche dann, wenn sie mehr wissen will, als die Naturforschung erreichen kann. Wie oft wird man noch an den Unterschied zwischen Glauben und Wissen erinnern müssen ! Wie schwer wird es gefafst, dafs die Zuversicht des Glaubens wesentlich ver- schieden ist von der Schärfe einer Demonstration, und dafs der Glaube an seine eigne Kraft nicht glaubt, wenn er die Demonstration mit einer Art von Eifersucht betrachtet!

Der Glaube ist nun einmal nicht Naturwissenschaft; er kann es und soll es nicht seyn. Ein supranaturalistischer Grundzug liegt in ihm, und wird ihm willig zugestanden, so lange er nicht Ansprüche macht ähnlich jenen, da er die Astronomie nicht wollte neben sich aufkommen lassen. Naturphilosophie und Psychologie ziehen sich, wie schon oben bemerkt, von selbst zurück, wo sie im Gegebenen eine Kunst voraussetzen müssen, die alle menschliche Erklärung übersteigt. Alle Kunst, die wir begreifen, setzt den Gebrauch der Organe voraus; alle Bildung des Geistes, die wir kennen, geschieht unter Bedingung des sinnlichen Wahrnehmens; für eine Kunst und für eine geistige Macht, die vom Organismus den ersten Grund enthält, fehlt uns jede Analogie; es ist unvermeidlich, hier bewundernd still zu stehen vor Dem, der unendlich über uns ist. Dies um so mehr, wenn wir bedenken, dafs wir das Wirken solcher Kunst nicht auf die kurze Spanne Zeit, von der wir eine Geschichte haben, auch nicht auf die Erde, die kein Vorrecht vor andern Weltkörpern hat, beschränkt er- achten durften ; dafs vielmehr eine Unendlichkeit offen liegt, worin unser Forschen sich verlieren würde. Verzichtleistung auf alles Erklären ist hier der Grundzug einer Welt-Ansicht, die nicht mehr theoretisch, sondern nur ästhetisch seyn kann.

An einer andern Stelle aber behauptet die Psychologie ihre Rechte. Die Religionslehre kann nicht umhin, den Menschen in Hinsicht seiner Bestimmung in Betracht zu ziehen; und hier soll sie sich nicht mit un-

20*

oq8 II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1.

überall in der Philosophie die Form dem Gegenstande dienen, und niemals über ihn herrschen soll.

Gehn wir dagegen zurück in den Anfang der neuern Systeme, das heifst, ins Jahr 1795, oder noch etwas früher: so finden wir dort

bestimmten Begriffen vom Guten, nicht mit mythischen Vorstellungsarten vom Bösen begnügen; selbst wenn solche zur blofsen Ermahnung passend seyn möchten. Man wird sich hier einigen Unterschied der Volkslehre von der Einsicht der Gebildeten müssen gefallen lassen; denn für die letztere kommt es darauf an, dafs man die Möglichkeit des Besserwerdens erkenne. *

Immerhin mag man nun auch die Einsicht als fortschreitend und wachsend denken; niemals wird solcher Fortschritt, solches Wachsen in irgend einem angeblichen Verhältnisse zu jener Unendlichkeit des Un- begreiflichen stehen ; immer wird in praktischer Hinsicht der erste not- wendige Grundbestandteil dieser Einsicht in Demjenigen liegen, was wir uns nur gemäfs den Ideen der praktischen Philosophie deutlich machen können.

2 33- Von der Politik wird man wohl einräumen, dafs sie nicht füglich dabey stehen bleiben könne, sich aus einigen Rechtsbegriffen und historischen Reflexionen zusammenzusetzen; unser Zeitalter strebt, sie wissenschaftlich zu construiren. Vielleicht wird man auch das einräumen, dafs sie Jeden, der sich ihr zu nähern sucht, in Versuchung setzt, zwischen zweyerley Auffassungen zu schwanken; der einen, da man sich in Gedanken als Lenker des Staats betrachtet, der Alles allein anzuordnen hätte, und dem unbedingte Folgsamkeit entgegenkäme; (etwa so, wie in alter Zeit zuweilen ein weiser Mann gebeten wurde, Gesetze zu geben, die man von ihm annehmen wolle, ohne es auf eine Majorität ankommen zu lassen); der andern, da die ganze Gesellschaft als begriffen in Bewegung erscheint, und es nun in Frage kommt, wie man die Gesammtrichtung erkennen werde, welche allen Bewegungen am nächsten entspreche?

Bleibt man bey der ersten Auffassung, so merkt man keine besondere Schwierigkeit, die wissenschaftliche Gestaltung der Politik anzugeben. Zu- erst sagen dann die praktischen Ideen: der Staat soll seyn eine Rechts- gesellschaft, ein Lohnsystem, Verwaltungssystem, Cultursystem; ist er dies Alles, so verdient er den Namen einer beseelten Gesellschaft (2/.). Ferner ist sehr leicht hinzuzusetzen: alle Hülfsmittel und Einrichtungen, alles Zu- sammenwirken der verschiedenen Stände, ja die Jugendbildung und die Kirche, sollen dahin zielen, jene Ideen zusammengenommen zu realisiren. Um diese Foderung auszuführen, mag eine reiche Erfahrung und eine grofse Gelehrsamkeit nöthig seyn; allein die Art der Ueberlegung bleibt immer die nämliche: sie sucht immer das Verhältnifs der Mittel und Hindernisse zum vestgestcllten Zwecke.

Aber die zweyte Art der Auffassung gestattet nicht, dafs man von einem vestgestcllten Zwecke ausgehe. Wie nun, wenn die Gesellschaft jenen Zweck entweder nicht anerkennt, nicht will, nicht einmal recht be-

Analytischc Beleuchtung d. Naturr. u. d. Moral, § 135 142.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 9. Capitel. Rückblicke, und Bemerkungen etc. 309

Schellings erste Schrift: über die Möglichkeit einer Form der Philosophie. Darin wird gleich Anfangs eine, allen einzelnen Formen zum Grunde liegende Urform, und ein nothwendiger Zusammenhang derselben mit den einzelnen, von ihr abhängigen Formen, ohne Weiteres [377] vorausgesetzt.

©reift, oder von einer Macht beherrscht wird, die ihr nicht erlaubt, an einen selbstgewollten Zweck zu denken? Dann kommen politische Betrachtungen von ganz anderer Art zum Vorschein. Es fragt sich nun: was ist vorherzusehen? was ist zu erwarten, wofern die thätigen Kräfte so fortwirken, wie jetzt? Der Politiker wird nun froh seyn, wenn er mit Wahrscheinlichkeit einen Zeitpunct von fern erblickt, in welchem über- haupt nur irgend etwas Zweckmäfsiges geschehen könne. Der Schmeichler hingegen (sey es des Volks oder der Höheren) sucht eben jetzt im Trüben zu fischen; jeder gelegene Augenblick ist für ihn dieses Jetzt, denn eine Zukunft kennt er nicht. Apres nous le dcluge !

Will man beiderley Auffassungen verbinden, so findet sich, dafs die erste nichts helfen kann, wenn die zweyte es nicht zuläfst. Es scheint also, eine wissenschaftliche Politik werde für besondere Fälle von der zweyten ausgehn müssen; es mag nicht ganz überflüssig seyn, den Gang, welchen die Gedanken alsdann nehmen können, etwas näher zu be- zeichnen.

Schon oben (50.) ist die Unterscheidung der Dienenden, Freyen, Angesehenen, Herrschenden, berührt worden. Der psychologische Grund dieser Unterschiede findet sich, wenn man den Druck beachtet, welchen die Menschen (meistens wegen streitender Interessen) wider einander aus- üben; und dieser Druck ist analog den Hemmungen unter den Vor- stellungen, von denen die Psychologie zu reden hat (115.)- Angenommen, man hätte die Wirkungen solches Drucks hinreichend untersucht: so würde nun die Psychologie daran erinnern, dafs nach geschehener Hemmung die Reste sich verbinden. Und die Erfahrung würde zu Hülfe kommen, indem sie zeigt, dafs die Menschen sich aus vielen Gründen eingeladen und selbst angetrieben finden, sich unter einander so eng und so mannig- fach als möglich zu verbinden; ja dafs eigentlich Keiner allein leben mag und kaum allein leben kann. Was sich dem Politiker zur _ Beobachtung darbietet, das sind zwar Conflicte, aber weniger zwischen Einzelnen, viel- mehr durchgehends zwischen Verbindungen hier und Verbindungen dort; und die Kräfte dieser Verbindungen sind es, deren Resultate er sucht.

Blofs zur Probe erwähnen wir ferner die auffallendsten aller Ver- bindungen in ihrem Gegensatze gegen die mehr vereinzelten Menschen; nämlich die Städte, gegenüber den Landleuten.

In den Städten, wo die Einwohner sich fortdauernd berühren, treiben, unterstützen, wo Jeder sich am Andern mifst, übt, reibt, wo der Erwerb mannigfaltig, oft leicht ist und immer gehofft wird, wo die Glückswechsel häufig sind und zuweilen fast zur Gewohnheit werden: hier bildet sich der politische Geist, der immer zum Gleichgewicht strebt, und bey stets veränderten Kräften es doch niemals erreicht; der Geist, der die An- gesehenen empor zu tragen pflegt, doch manchmal auch sie beneidet, beargwöhnt, herabdrückt, und mehr und mehr nach demokratischer Gleich-

3IO II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

Die Voraussetzung ist seitdem ein mächtiges Vorurtheil geworden. Jenes Ich, welches gesetzt ist, weil es selbst das Setzende ist, sollte die Forde- rung erfüllen, dafs in dem Einen, obersten Grundsatze Form und Inhalt sich wechselseitig begründen; „die Form (sagt Schelling) kann durch nichts

heit trachtet. Anders verhält sich das Land, dessen Bearbeitung einen gleichförmigen Kreislauf von Geschafften, und zu deren Besorgung einen gesicherten äufsern Zustand fodert, wobey die Menschen in weit kleinerer Anzahl sich berühren, und die Distanz der grofsen Gutsherren von den eigentlichen Bauern eben so bedeutend als beharrlich ist. Die Erfahrung lehrt, dafs, wo Neuerungen versucht werden, die Städte ihnen hold, die Landleute abhold sind. Die Provinzen aber bestehen aus Städten und dem Lande; der Staat besteht aus Provinzen. Der Staatsmann sieht den verschiedenen Geist, der antreibend von einer Seite, mäfsigend und zu- rückhaltend von der andern auf das Ganze wirkt; mit Uebergewicht hier oder dort nach den Umständen,

Wenn er nun dies, und noch Vieles von ähnlichen Folgen, wenn schon aus andern Gründen, wahrnimmt: so begreift er, dafs seine Pläne, wofern sie gelingen sollen, in den vorhandenen Trieb der Kräfte, und in die Resultante ihrer Richtungen hineinpassen müssen; und dafs er sich in weit abweichender Richtung zu bewegen vergebens versuchen würde. Er sieht, dafs seine Fügsamkeit oft sogar die Bedingung der Ruhe, zuweilen das erste Erfordernifs ausmacht, um die schon gestörte Ruhe wieder her- zustellen. Soll alsdann seine Politik sich probehaltig zeigen, so mufs Menschenkenntnifs in ihr vorherrschen, das heifst, sie mufs schon längst (nicht erst jetzt) durch richtige psychologische Ansichten bestimmt seyn; während vielleicht viel daran fehlt, dafs sie auf einen idealen Zielpunct könnte gerichtet werden.

"Will man noch etwas weiter in die Psychologie hineinschauen, so mag man der Reproductionen gedenken, die sich, wie im Einzelnen, so oft genug auch in der Gesellschaft wirksam erweisen. Alte Staaten haben eine lange Geschichte; junge Staaten nur eine kurze; aber diese wie jene schauen bey zweifelhaften Fällen in ihre Vergangenheit zurück, und finden darin, was fortzuführen, was zu erneuern, was zu vermeiden ihnen wünschenswerth scheint. Es ist ein Unglück, wenn die Vorzeit keine heilsamen oder keine passenden Beyspiele darbietet; es ist ein grofser Vortheil, wenn es Denkmale der Vergangenheit giebt, wohin Aller Augen sich richten.

Je mehr aber alle Ueberlegung darin zusammenläuft, dafs psychische Gesetze den Gang der menschlichen Angelegenheiten oft nur zu streng beherrschen : desto mehr wird der Staatsmann zu vermeiden suchen, was ihre Gewalt noch vermehren könnte. Insbesondre also wird er 'verhüten, dafs nicht die Willkühr der Menge sich noch mehr, noch zügelloser und ungestümer als schon geschehen, erhebe; sich noch eigensinniger an die Stelle sittlicher Beurtheilung dränge. Konnten praktische Ideen nicht das Ziel setzen, so mufs Beschämung der Willkühr wenigstens das Uebel mildern; und niemals darf ein Zustand gepriesen werden, worin die Majorität der Stimmen das höchste Gesetz, die oftmals bessere Minorität

Abschnitt. Methodenlehre. 9. Capitel. Rückblicke, und Bemerkungen etc. ?n

anderes, als durch das Ich, und das Ich selbst nur durch die Form ge- geben seyn." Eben dieses idealistische Ich, welches zu seiner Zeit das von Reinhold angeregte Streben nach einer bessern Form der Kantischen Philosophie (deren Inhalt dadurch nur bestätigt und bekräftigt werden

aber blofs darum, weil sie Minorität ist, zu schweigendem Gehorsam ver- wiesen wird. Je gröfser die Menge Derer ist, welche sprechen: stat pro }-atione volunias, desto schlechter ist der öffentliche Zustand.

234. Dafs Politik und Pädagogik stammverwandt sind, braucht kaum noch gesagt zu werden. Einerley praktische Philosophie zeigt beiden das Ziel; einerley Psychologie beiden die Mittel und Hindernisse; ohne prak- tische Philosophie und Psychologie sind beide nichts als Routine, die, wenn auch grofsen und genialen Künstlern nachgeahmt, sich doch nicht zu allgemeiner Wissenschaft erhebt. Aber auch jene zwiefache Auffassung, da sich der Staatsmann bald als allvermögenden Lenker des Staats, bald als blofsen Beobachter dessen, was ohne ihn, und unbekümmert um ihn, durch die vorhandenen, in Wirksamkeit schon begriffenen Kräfte geschieht und geschehen wird, betrachtet, diese Verschiedenheit des Gesichtspuncts kann auch der praktische Erzieher nicht abweisen. Daher mufs die Wissen- schaft einerseits ein hohes Ziel aufstecken, und alles Thun als dorthin gerichtet bezeichnen; andrerseits bekennen, dafs sehr oft das Mögliche viel mehr, als das was seyn soll, in Frage kommt, damit die Beobachtung lehre, was man thun könne, und was man dagegen nicht unternehmen solle, um nicht die Zeit zu verderben.

Indessen bey allem Parallelismus zwischen Politik und Pädagogik läfst sich doch auch ihre bedeutende Verschiedenheit nicht verkennen. Zwar der Erzieher regiert im Kleinen und Kleinsten, der Staatsmann im Grofsen und im Gröfsten; allein die Regierung hat das Gegenwärtige im Auge ; wenn nun dies dem v Staatsmann viel, dem Erzieher weit weniger Sorge macht, so liegt der Grund nicht blofs in dem verschiedenen Um- fange eines sehr grofsen, und des andern ohne Vergleich kleinern Wir- kungskreises, sondern die pädagogische Thätigkeit hat auch, ihrem gröfsern Theile nach, eine andre Richtung. Zwar beide haben aufser der Gegen- wart, die ihren Blick nicht beschränkt, auch die entfernte Zukunft zu be- denken; allein der Staatsmann weifs, dafs auch die kommenden Jahre und Jahrhunderte ihre Staatsmänner haben werden; hingegen die Erziehung hört irgend einmal auf, und was in reifern Jahren der Zögling aus sich selbst machen werde, machen könne, eben dies soll durch die Erziehung vorbereitet seyn. Dazu dient vorzugsweise der Unterricht, welcher den Gedankenkreis des Zöglings ordnet und bereichert. Die Politik wird hiezu kaum ein passendes Seitenstück aufweisen können und wollen; der Ge- dankenkreis ganzer Staaten ist eines höhern Bildungsprocesses, als dafs Jemand denselben planmäfsig vorzeichnen könnte. Daher überwiegt nicht für die Politik, wohl aber für die Pädagogik, die Sorge um die Zukunft.

Dies nun wurde in früherer Zeit von den Pädagogen nicht gehörig erkannt. Darum galt entweder die Zucht mehr als der Unterricht und dabey wurde sie mit der Regierung der Kinder vermengt und ver- wechselt, — oder den Unterricht behandelte man als eine Sache des

7.12 II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

sollte) und nach dem obersten, herrschenden Grundsatze aller philo- sophischen Disciplinen, zu befriedigen bestimmt war: dieses Ich hat sich späterhin nicht nur in Schellings Absolutes und in Hegels Idee verwandelt, sondern überall seinen Einflufs in den Systemen geäufsert, und Ansprüche

Wissens viel mehr als der Bildung. So lange die Psychologie an den sogenannten Seelenvermögen klebte, konnte sie nicht viel dagegen aus- richten. Ihr zufolge hätte man diese Seelenvermögen in die Schule nehmen müssen; danach konnte man Bücher abtheilen, aber nicht eine wirkliche Praxis anordnen.

Vergleicht man nun, was über Politik und Pädagogik gesagt worden, mit dem, was oben über Religionslehre zu bemerken war, so ergiebt sich eine ganz verschiedene Stellung der Psychologie zur praktischen Philo- sophie. Bey der Religionslehre hat die Psychologie zunächst nur die religiösen Vorstellungsarten zu beleuchten; die praktische Philosophie da- gegen, in Verbindung mit der Naturbetrachtung, kommt bestätigend und berichtigend hinzu. Anders gestaltet sich das Verfahren dort, wo zuerst die Ideen den Zielpunct vestsetzen, der entweder soll erreicht oder doch so wenig als 'möglich verfehlt werden. Da tritt die praktische Philosophie voran; die Psychologie, welche bey der Religionslehre sehr bald in den Hintergrund zurückweicht, erbietet sich für Politik und Pädagogik zum Dienst; und es findet sich, dafs sie mehr, als man wünschen möchte, zu leisten hat, wenn Umstände der wirklichen Welt, wie sie vorzukommen pflegen, das Streben nach Idealen nicht begünstigen. So leicht diese Be- merkung ist, so kann sie doch einigen Nutzen haben, indem sie von neuem an das längst zuvor Gesagte erinnert, dafs nämlich sorgfältig ver- hütet werden mufs, einerley Verfahren in verschiedenen Wissenschaften zuzulassen, deren jede ihren eignen methodischen Forderungen zu ent- sprechen sich zur Pflicht machen soll.

235. Es bleibt noch übrig, von dem Verhältnifs der praktischen Philosophie zur Metaphysik, und zu dem, was man gewöhnlich Aesthetik nennt die Lehre von den schönen Künsten, etwas beyzulügen. Von dem Letzten fangen wir an; das Erste ergiebt sich dann leicht von selbst.

Die praktische Philosophie ist selbst ein Theil der Aesthetik, wenn dieser Ausdruck den Umfang für seine Bedeutung gewinnt, welcher ihm wissenschaftlich zukommt. Um dies leicht einzusehn, überlege man vor- läufig die Mannigfaltigkeit der schönen Künste. Wer diese von der Seite ihrer Ausübung und der damit zusammenhängenden Lebensweise der Künstler betrachtet, der wird kaum begreifen, wie so vielerley Verschiedenes dazu komme, von einerley Wissenschaft, die man Aesthetik nennt, ge- leitet zu werden. Oder was hat denn das Thun der Maler, die" an der Staffeley sitzen, der Architekten, welche auf den Baugerüsten wandern und klettern, der Musiker, welche blasen und geigen, der Dichter, welche bequem lustwandeln oder schreiben, mit einander gemein? Etwa einer- ley Idee des Schönen? Man zeige diese Idee, und man weise sie nach als die nämliche in Farben, Figuren, Gebäuden, Tönen, in den durch Worte dargestellten Phantasieen. So lange man einerley Gutes statt der

2. Abschnitt. Methodenlehre. 9. Capitel. Rückblicke, und Bemerkungen etc. ?i?

an eine Systematik erzeugt, die, wie ein Irrlicht, Jedem vorschwebt und sich von Niemandem erreichen läfst.

Solche, von Einem Puncte ausgehende, mit drey oder vier Strahlen sich verbreitende, und aus jedem Strahle wiederum baumähnlich fort-

fünf praktischen Ideen suchte, mochte man allenfalls auch nach einerley Schönheit in gänzlich heterogenen Gegenständen suchen; wir können uns auf diese Träumerey weiter nicht einlassen. Das aber ist richtig, dafs überall das Schöne in Verhältnissen liegt; eben darum läfst der eine Name Aesthetik sich rechtfertigen; und wieder eben darum gehören die prak- tischen Ideen, die sich auf Willens- Verhältnisse beziehen, zur Aesthetik. Wenn nun eine allgemeine Aesthetik, wie sie soll, die sämmtlichen Grundverhältnisse, welche Beyfall oder Misfallen ursprünglich erwecken, sammt demjenigen, was sich noch ohne Rücksicht auf den künstlerisch zu behandelnden Stoff aus ihnen ableiten läfst, zusammenstellte: so würden sich die praktischen Ideen vergleichen lassen mit den übrigen Grund- verhältnissen; und man würde Aehnliches und Abweichendes leicht er- kennen. So viel aber ist von selbst klar, dafs die praktischen Ideen nicht zum successiven, sondern zu dem, weit einfachem, simultanen Aesthe- tischen gehören; dafs man sie eher harmonisch und disharmonisch als melodisch nennen kann; dafs sie sich aber mit dem, was auf räumliche oder zeitliche Weise schön oder häfslich ist, nur sehr entfernt vergleichen lassen. Denn das räumliche Schöne erscheint zwar auch simultan; dennoch ist die Auffassung desselben nicht frey von Succession, wie die Psychologie von aller Raum-Auffassung darthut. Bey krummen Linien verweilt der Blick; gerade Linien schnellen ihn fort; in verwickelten Figuren findet er Arbeit; mit dem Einförmigen ist er bald fertig; alles dies deutet auf Succession; und bey schönen Gegenständen liegt in der Einladung zu mannigfaltigem Hin- und Herwandeln des Auges etwas Aehnliches, wie in Spielen, die ebenfalls mehr oder weniger einen ästhetischen Charakter an sich tragen, obgleich sie nicht selbst Kunstwerke, sondern eben nur Einladungen sind, etwas Kunstreiches zu thun. Dieser Zweig des Aesthe- tischen, der sich dem Spiele nähert, weicht am weitesten ab von dem Ernste des Sittlichen; allein er ist weder der einzige noch der vor- herrschende; und man mufs das weite Gebiet der Aesthetik sehr schlecht kennen, um ihn dafür zu halten. Die Künste selbst verstehn recht gut, streng zu seyn; nur die Poesie ist bisher noch so unvollständig durch- dacht, dafs es scheint, für sie sey keine Schule möglich. Seltsam, dafs es Kritik geben soll, wo keine Schule, also keine vesten Grundsätze an- erkannt sind. Danach läfst sich das Ganze der Aesthetik nicht beur- theilen; die Poesie selbst ist etwas so Vielfaches und Verschiedenartiges, dafs man ihr grofses Unrecht thäte, wenn man ihr, weil sie spielen kann, den Ernst, und weil sie ihrer Regeln1 sich wenig bewufst ist, die Regel mäfsigkeit abspräche. Wo sie die Regel kennt, da pflegt sie dieselbe nicht gering zu schätzen. Sie legt sich selbst gern die Fesseln des Sylben- maafses an, und mag nicht als poetische Prosa erscheinen.

1 „Regelmäfsigkeit" statt „Regeln" SW.

,I;, II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

wachsende Systematik ist nun weder in dieser, noch in irgend einer von den Schriften des Verfassers auch nur versuchsweise zu finden; und zwar deswegen, weil sie zugleich mit dem idealistischen Ich in die Verbannung mufs geschickt werden.

Alles Reden von der Möglichkeit einer Form, bevor man den Inhalt kennt und reiflich erwogen hat, ist blofs eine Vorbereitung, um Luft- schlösser zu bauen. Die Philosophie ist dadurch nicht erbaut, sondern in allen ihren Disciplinen von Grund aus erschüttert worden. Das sollte man nun endlich aus dem Erfolge gelernt haben; wenn man es nicht voraus gesehen hatte.

214. [= 237 der IL Ausg.] Der rein theoretische Vortrag, welcher jetzt noch soll nach allgemeinen Gesichtspuncten über das Verfahren in der Philosophie, und über die daraus entstehende Form, also über philosophische Kunst, gehalten werden, mufs, wie [378] überall in diesem Buche, vom Leichtern anfangen, und zum Schwerern fortschreiten; dabev aber auf frühere Schriften verweisen. rEs wird scheinen, als ob wir von hinten anfingen.

Aus der Logik* soll die Lehre von den Classificationen bekannt seyn. Sie setzt voraus, es seyen mehrere Reihen von Begriffen gegeben. Wenn eine Menge von Gegenständen vorliegt, deren Classification man sucht: so finden sich allemal die Begriffsreihen, indem die Merkmale der Gegenstände geordnet werden. Der Botaniker findet sie in den Pflanzen, der Mineral og in den Fossilien, der Grammatiker in den Sprachformen, u. s. w. Das Geschäft des Classificierens beginnt da, wo die Reihen der Merkmale welche durch Abstraction gesondert waren, nunmehr durch Deter- mination wieder verbunden werden sollen. Hier entsteht gewöhnlich die Einseitigkeit, dafs nur einige wenige von den Formen, welche die Deter-

Wäre nun die praktische Philosophie ein Baum; so könnte man sagen, dieser Baum wurzelt im ästhetischen Boden, wo es neben ihm mancherley anderes kleineres Gewächs giebt; aber seine Zweige hängen hinüber in ein benachbartes Gebiet, nämlich in das psychologische, welches mit einem allgemeinem Namen auch das metaphysische heifst. Dies Gleichnifs bedarf keiner weitern Erklärung. Jedermann weifs, dafs, wo es gilt zu handeln, nicht blofs Ideen in Frage kommen, sondern auch die Natur des Menschen und der Dinge. Wir wollen also nicht die prak- tische Philosophie von der Metaphysik losreifsen, indem wir ihre Principien trennen; es kommt nur darauf an, dafs man die Methoden sondere, also nicht Widersprüche, an denen die Metaphysik ihre Arbeit findet, in die praktische Philosophie hinein versetze, und nicht ästhetische Urtheile, welche bestimmen was seyn solle, zu Kriterien dessen mache was seyn kann und seyn mufs.

1 Statt des folgenden Satzes „Es wird scheinen .... anfingen" hat die II. Ausg. Das Leichteste ist die Logik; und sie soll nicht ganz übergangen

werden. a

* Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, § 48. [Bd. IV vorl. Ausg.]

a SW merken die Abweichung nicht an.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 9. Capitel. Rückblicke, und Bemerkungen etc. ? t c

mination annehmen kann, bemerkt, und wohl gar streitend1 einander gegenüber gestellt werden; während das Geschafft seiner Natur nach com- binatorisch2 ist, und, wenn es ganz vollzogen wird, eine grofse Menge möglicher Classificationen zur Auswahl darbietet.

Will man die angewandten Theile der Philosophie bis ins Einzelne durchführen: so giebt es auch in ihnen mancherley Begriffsreihen, die combinatorisch in einander greifen. Das ausgeführteste Beyspiel dieser Art findet sich in der Pädagogik, wo die Hauptklassen des Interesse, welche oben (83.) angeführt sind, mit den formalen Grundbestimmungen der Lehrkunst verbunden werden.* Man könnte sich hier ein Beyspiel schaffen, wenn man die Reihe der praktischen Ideen (27.) mit den Prin- cipien des Rückgangs und Fortgangs (7 und 151.) in Verbindung setzen wollte. Dabey würden aber noch andre Reihen mit einzuflechten seyn. Die Andeu[379]tung davon findet man in den letzten Capiteln der prak- tischen Philosophie**, deren Form noth wendig auf dieser Methode beruht.

Der Vortrag nach dem combinatorischen Schema wird aber allemal beschwerlich. Die Systematik soll hier nicht etwa ihre Schwingen glanz- voll aus einander breiten; sondern sie soll dem Schriftsteller einerseits, dem Leser andrerseits zur Leitung dienen, um im Stillen alle Verbindungen zu überschauen, und die wichtigsten auszuheben, falsche Formen der Untersuchung aber, die sich ohne sie leicht einschleichen würden, zu verhüten.

215. [= 238 der IL Ausg.] Wie nun hier die Logik auf gleiche Weise die Reihen der Begriffe verbinden lehrt, gleichviel ob von empirischen, oder ethischen, öder metaphysischen Begriffen die Rede sey: so gleichgültig ist sie überhaupt gegen den Ursprung und gegen den Werth der Begriffe.

Sie selbst, die Logik, hat ihren Sitz nicht im Ich, nicht im Absoluten, nicht in irgend einer Idee; sondern sie wird Bedürfnis, wo man über Begriffe streitet, und erzeugt sich aus den dabey entstehenden Bemerkungen über das Verhältnifs und die mögliche Verbindung der Begriffe. Nun streitet man aber nicht etwa blofs und allein in den Schulen der Philo- sophen, sondern man streitet auch in den Gerichtshöfen, und bey allen öffentlichen Verhandlungen. Man stritt in Athen, in Rom; man streitet in London, in Paris. Dort braucht man bestimmte Begriffe; dort fällt man Urtheile; dort zieht man Schlüsse. Dafs manches in diesen Ge- schafften besser gelingen würde, wenn man Ethik und Metaphysik dazu mitbrächte, mag seyn; aber noch weit gewisser ist's, dafs es ungleich besser gehn würde, wenn die empirische Kenntnifs der Dinge, die man behandelt, vollständig vorläge. Daraus wird aber Niemand schliefsen, die Logik hänge von der Erfahrung ab. Eben so wenig nun gründet sie sich auf Ethik oder Metaphysik; und es ist lediglich ein Misgriff falscher Syste-[38o] matik, die Logik, die seit zweytausend Jahren da ist, an Streitpuncte

2 nur combinatorisch II. Ausg. statt combinatorisch. a * Pädagogik, im fünften Capitel des zweyten Buchs. [Bd. II vorl. Ausg.] ** Praktische Philosophie, im achten, neunten, zehnten und elften Capitel des zweyten Buchs. [Bd. II vorl Ausg.]

1 „streitend" fehlt SW.

a SW merken die Abweichung nicht an.

,j6 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

heutiger Schulen knüpfen zu wollen, um welche die Mathematiker sich so wenig kümmern, als die Staatsmänner. Die Reflexion des Logikers irrt von ihrem Gegenstande ab, wenn sie, statt des Begriffs, den Begreifenden ins Auge fafst, dessen Person und Ursprung sie in keinem möglichen Sinne etwas angeht, sondern den sie gerade bey Seite setzen soll.

216. [= 239 der II. Ausg.] Die nähere Betrachtung der logischen Formen wird uns nun zuerst auf den Unterschied des philosophischen und des mathematischen Forschens führen, womit die Forderung einer anschauenden, statt einer discursiven Erkenntnifs, die man oft gemacht, aber schlecht entwickelt hat, auf's engste verbunden ist.

Die Trennung der kategorischen von den hypothetischen Urtheilen war ein Grundirrthum 1 der Logik, 2 welcher zuerst fortgeschafft werden mufste, wenn über den erwähnten Unterschied ein Licht aufgehn sollte.

Alle, der Sprachform nach kategorischen Urtheile, sind ihrer logischen Natur nach hypothetisch. Der Satz: A ist B, heifst nichts anders, als: zuenn der Begriff A gedacht wird, so kommt ihm das Prädicat B zu.*

Hiebey versteht sich von selbst, dafs auch der disjunctive Satz: A ist entweder B oder C, nichts anderes heifst, als: Wenn A gedacht wird, so kommt ihm B zu, wenn nicht C, und C, ivenn nicht B.

Dies vorausgesetzt: so sieht man, dafs allen Lehren, denen die Ur- theilsform wesentlich ist, eine hypothetische Natur anklebt; und dafs um- gekehrt diejenigen Forschungen, zuelche die hypothetische Beschaffetiheit nicht ertragen, auch nicht ursprünglich auf Urtheile gerichtet werden dürfen.

Nun ist aber die ganze reine Mathematik ihrem Wesen nach hypo- thetisch. Wenn eine gewisse Construction A (Kreis, [38 ij Dreyeck, Gleichung, Differential, u. dgl. m.) gemacht ist: so kommt ihr das Merk- mal B zu. Wenn ein rechtwinklichtes Dreyeck gedacht wird, so gilt der Pythagoräische Lehrsatz. Wenn eine kubische Gleichung aufgesetzt wird, so hat sie entweder eine oder drey mögliche Wurzeln, u. s. w.

Die Construction selbst ist hier niemals eine Erkenntnifs, sondern nur das Urtheil ist eine solche.

In der altern Metaphysik der Schulen wurde diese Form von Be- griffen, die man definirte, als ob man sie gleich den mathematischen be- liebig construirt hätte, und von Urtheilen, als ob es nur nöthig wäre, der Construction einige neue Bestimmungen zu geben, den Mathe- matikern nachgeahmt. 3Das war in formaler Hinsicht der Grund ihres Verderbens.

1 Irrthum statt „Grundirrthum" II. Ausg. *

2 Die folgenden Worte: „welcher zuerst fortgeschafft .... aufgehn

sollte" fehlen in der II. Ausg.

* Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, § 53. [Bd. IV vorl. Aus.g.]

3 Statt der folgenden zwei Sätze : „Das war in formaler .... eine an- schauende forderte" hat die II. Ausg.:

In neuerer Zeit wurde, um diesen Fehler zu vermeiden, statt der discursiven Erkenntnifs durch Urtheile und Syllogismen, eine anschauende gefedert. Aber

a S\V merken die Abweichung nicht an.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 9. Capitel. Rückblicke, und Bemerkungen etc. 2 17

Aber es war eben so verkehrt, als man in neuerer Zeit, um diesen Fehler zu vermeiden, statt der discursiven Erkenntnifs durch Urtheile und Syllogismen, eine anschauende forderte. Anschauungen können rvir nicht machen. Dagegen haben wir Anschauungen; und diese Anschauungen würden, blofs theoretisch betrachtet, uns genügen, wenn die Begriffe, worin sie nach Beyseitsetzung der zufälligen Zeitlichkeit des Empfindens und Re- producirens sich verwandeln, als Begriffe genügen könnten. Dies ver- hindern die Widersprüche, die in ihnen liegen (177.). Und aus diesem ■einzigen Grunde giebt es eine Metaphysik als theoretische Wissenschaft. Die Forschungen, wodurch sie zu Stande kommt, richten sich weder auf Urtheile, noch auf Anschauungen, sondern auf verbesserte Begriffe, als auf ihren Zielpunct.

Was die praktische Philosophie anlangt: so ist sie zwar der Meta- physik im höchsten Grade unähnlich; schon deshalb, weil sie nicht von der Erfahrung ausgeht, sondern in Vorschriften für eine künftige Er- fahrung durch den Begriff des Sollens übergeht. Dennoch trifft sie, was die logische Form ihrer ersten Hauptgegenstände anlangt, einigermafsen mit der Metaphysik zusammen. Sie sucht zwar Urtheile; aber nicht durch Schlüsse. Sie sucht ästhetische Urtheile über den Willen. Das heifst, zu den Prädicaten löblich und schändlich1 [382] sucht sie die Subjecte; nämlich Bilder des Willens, worin er gelobt oder getadelt werde. Diese Subjecte, blofs für sich, und theoretisch betrachtet, sind Begriffe. Erst das ästhetische Urtheil erhebt sie zu Ideen. Aber das ästhetische Urtheil wird nicht gesucht, sondern es kommt ganz von selbst, sobald man seine Gegenstände gefunden hat. Die Technik des methodischen Verfahrens, wovon (153.) gesprochen worden, bezieht sich blofs auf das Finden der Reihe von Verhältnissen, worin der Wille gedacht werden inufs , um Gegenstand des ästhetischen Urtheils zu seyn. Die Begriffe dieser Ver- hältnisse sind das Gesuchte. Also auch hier ist die discursive Erkenntnifs und Forschungsweise des Mathematikers weit entfernt.

Dafs nun dennoch der Vortrag in der Form von Sätzen, also von Urtheilen, fortschreitet, ist die Wirkung der Sprache, welche beständig den Gedanken Gewalt anthut, sobald man sie mittheilen will. Eben so ver- wandelt sich die Anschauung eines Zeugen in Beschreibung; aber die logische Form der Beschreibung ist nicht die Form des Bildes, welches ihm von den beobachtenden Dingen und Ereignissen innerlich vorschwebt. Der Leser eines philosophischen Buches ist niemals eher mit dem Buche fertig, als bis er die Sprachform vergessen hat; so wie mit Beschreibungen der "Leser nicht eher fertig ist, als bis er das Bild des beschriebenen Gegenstandes innerlich anschaut.

Sowohl die verbesserten metaphysischen Begriffe mit ihren mannig- faltigen Beziehungen, als die praktischen Ideen, schweben dem Denker, indem er sie anhaltend betrachtet, so vor, als wären sie anschauliche Gegenstände. Diese Aehnlichkeit der Contemplation mit der Anschauung

- „tadelhaft" statt „schändlich" II. Ausg.*

a SW. merken die Abweichung nicht an.

ojg II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

gereicht Denen, welche im Ernste Anschauung in der Philosophie forderten, zu einiger Entschuldigung ihres Irrthums, x den sie freylich hätten sorg- fältiger vermeiden sollen.

217. [= 140 der IL Ausg.]. Wir haben bisher von den Begriffen, als von den vorhandenen oder gesuchten oder gefundenen Gegenständen [383] des philosophischen Denkens gesprochen. Wie aber verhält es sich mit dem Suchen und Finden? Diese Frage zerfällt in drey sehr verschiedene Fragen. Erstlich: wie sucht und findet man die Erklärung solcher Begriffe, die längst im Umlauf sind, und deren Sinn man nicht verändern will? Zweytens: wie findet man die richtige Bestimmung solcher Begriffe, die zwar im Gebrauche sind, aber aus praktischen Gründen von diesem Gebrauche nicht abhängen dürfen ? Drittens : wie macht man es, neue Begriffe zu erzeugen, wo die alten nicht ausreichen?

Der erste Fall ist der einer blofsen logischen Analyse. Der zweyte bezieht sich auf die praktischen Ideen, und deren Anwendung. Der dritte kommt bey den metaphysischen Begriffen vor. Im ersten Falle wendet man sich an den Sprachgebrauch, im zweyten zunächst an das ästhetische Urtheil, im dritten an die Motive des fortschreitenden Denkens.

218. [= 241 der IL Ausg.]. Zum ersten Falle gehören ein paar wichtige Beyspiele aus der praktischen Philosophie und der Psychologie. In der praktischen Philosophie findet sich nothwendig ein einziges, rein theoretisches Capitel.* Es ist das über den Begriff des Staats. Diesen Begriff liefert die Geschichte. Und da man sie als ein Ge- gebenes auffassen mufs : so ist es in so fern auch nicht erlaubt ihn zu verändern, als er eben das Gegebene darstellen soll. Zwey Merkmale nun ragen hervor: Gesellschaft, und Macht. An dieselben knüpfen sich die Untersuchungen: wie ist Gesellschaft möglich? Und worauf be- ruht die Natur der Macht? Beide Fragen lassen sich aufwerfen, ohne dafs man im geringsten eine praktische Bestimmung dessen was seyn solle, drein mische. Und sie müssen untersucht werden, damit man nur erst den Gegenstand habe, an welchen die praktischen Bestimmungen an- zubringen sind. Denn mit einem blofsen Gedankendinge sich zu be- schäfftigen, nützt der Staatslehre zu nichts. Verbindungen von Men-[384] sehen sind gegeben, die man von jeher Staaten genannt hat. Freylich standen nicht alle Staaten vest; und es mag wohl seyn, dafs eine gewisse Gebrechlichkeit in ihnen lag, die man schon im blofsen Begriffe des Staats würde erkannt haben, wenn man das Verhältnifs der Macht zur Gesellschaft gehörig erwogen hätte. Diese Erwägung sieht einer meta- physischen (noch immer rein theoretischen) Untersuchung ähnlich; und sie geht allerdings aus von einem Widerspruche im Begriffe des Staats.*1 Allein es ist nicht einerley Geschafft, diesen Widerspruch zu behandeln, und jene logische Frage, was heißt Staat? zu beantworten, welches noth- wendig das erste seyn mufs. Von beiden wiederum völlig verschieden ist

1 Die folgenden Worte: ,,den sie freylich . . . vermeiden sollen" fehlen in der II. Ausg.

* Praktische Philosophie, fünftes Capitel des zweyten Buchs. [Bd. II vorl. Ausg.] ** Praktische Philosophie, am Ende des sechsten Capitels im zweyten Buche.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 9. Capitel. Rückblicke, und Bemerkungen etc. -21g

die praktische Bestimmung des Staats nach allen Ideen zugleich. Aus der Vermengung dieser Fragen und Untersuchungen ist in der Staatslehre das gewöhnliche Unheil aller Vermengung entstanden, dafs man nämlich keine einzige derselben mit der gebührenden Genauigkeit behandelt hat, sondern sich aus dem Begriff in die Idee verliert (wie Rousseau), und wiederum aus blofs idealen Constructionen (wie bey Platon und Fichte) die wirkliche Natur eines so schwer zu behandelnden Dinges, wie der Staat ist, zu erkennen gemeint hat. Lauter Verirrungen von sehr gefähr- licher Art!*

Das zweyte Bey spiel giebt der Unterschied zwischen Verstand und Vernunft. Wir wollen hier nicht fragen, ob solche Seelenvermögen vor- handen sind, sondern nur: was heifst beydes, und warum gebraucht man nicht beide Worte als gleichbedeutend? Was nun bey Kant und Wolf Verstand und Vernunft heifse, mag man in ihren Schriften nachsehn; wir aber fragen die allgemein übliche Sprache, welche vom Verstehen, von verständigen Männern, von unverständigen Träumen redet; desgleichen von vernünftigen Handlungen, [385] Entschliefsungen, Urtheilen, von un- vernünftigen Thieren. Dabey ist nicht gemeint, welche Begriffe der Ver- stand, und welche Ideen die Vernunft habe; obgleich hinten nach die Philosophen ihre Begriffe in den Verstand, und ihre Ideen in die Vernunft hineinsetzen, weil sie eben keinen andern Ort dafür wissen. Der Umstand, dafs Einer in seinem Verfahren sehr verständig, 1 und doch dies Verfahren selbst unvernünftig seyn kann, zeigt deutlich den Verstand als ein gelingendes Denken innerhalb einer gewissen Sphäre; die Vernunft aber als ein Hinzukommendes. Jenes mislingt dagegen im Traume ; diese fehlt im Thiere. Beide aber, Verstand und Vernunft, kommen nach allgemeiner Behauptung erst mit den Jahren, lange nachdem die so- genannten Kategorien, und die Ideen sammt der Religion, im Bewufstseyn gerade so vollständig entwickelt sind, als sie bey den verständigsten und vernünftigsten Menschen, die nur nicht in eine philosophische Schule gehn, im Laufe des ganzen Lebens überhaupt zur Entwicklung zu gelangen pflegen. Hier nun, wo es auf Wortbestimmungen ankommt, soll man sich an den Sprachgebrauch halten; und eben deswegen nicht den Kindern und Jünglingen, so lange sie unmündig sind, weil man ihnen keine Reife des Verstandes und der Vernunft zutraut, darum auch Klarheit der Kate- gorien und Ideen und der Religion absprechen; welches offenbar nach den Erklärungen, welche die meisten Philosophen von Verstand und Ver- nunft geben, unvermeidlich seyn würde. Das Weitere hievon suche man am gehörigen Orte.

219. [= 242 der IL Ausg.] Im zweyten und dritten Falle (217.) sucht man neue Begriffe, oder doch neue Bestimmungen und Bevestigungen derselben.

* Für dies Beispiel sowohl als für das folgende vergleiche man die Einleitung zum zweyten Bande der Psychologie. [Bd. VI vorl. Ausg.] 1 vollständig statt verständig II. Ausg.*

a SW. drucken nach der I. Ausg. ohne die Abweichung der II. Ausg. anzumerken.

t?o II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1 .

o

Wir können nicht umhin, uns hier der doppelten Art von Systematik zu erinnern, die wir vorfinden. Die eine legt die Begriffe neben einander, die andre hinter einander. Jene hat Alles, auch das was ihr fehlt; diese findet Alles, auch das was man längst hat. Jene breitet ihre Schätze aus, diese übt ihre Kraft an Allem was vorkommt. Von besondern [386] Entdeckungen, welche die eine oder die andre gemacht hätten, wird eben nichts Bedeutendes aufzuzeigen seyn; die Entdeckung, selbst die Erzeugung des Irrthums, pflegt nicht nach allgemein vorgeschriebenen Regeln zu ge- schehen. Bey jenen beiden getrennten Arten von Systematik, deren eine nur den linken Fufs, die andre nur den rechten zu besitzen scheint, ist das natürlich; denn auf Einem Fufse kann man nicht gehen; zum Ent- decken aber gehört freye Bewegung nach allen Richtungen.

Beyspiele würden in den Lehrbüchern zweyer entgegengesetzten Schulen anzutreffen seyn; wir begnügen uns, an die Kategorientafel zu erinnern, deren viereckige Gestalt

Quantität

Qualität Relation

Modalität

in die lineare Reihe: Qualität, Quantität, Modalität, und Relation, zu bringen, uns fast verdacht worden ist; vielleicht mit Recht, denn an der Kategorientafel, man mag sie psychologisch oder metaphysisch betrachten, ist jede Verbesserung verschwendet.1 Soll aber doch einmal das alte Vorurtheil einer geschlossenen Reihe von allgemeinen Hauptbegriffen fort- bestehn, als hätten Metaphysik und Psychologie keine neuen Begriffe, die aufserhalb der Kategorientafel liegen, zu erzeugen, nöthig gehabt, so wäre es doch das Mindeste, was man verlangen könnte, dafs den Quan- titätsbegriffen des Mehr und Minder die sogenannte Qualität des Posi- tiven und Negativen vorausgehe; denn alle Welt nennt die Plusgröfsen positiv, die Minusgröfsen aber negativ; ferner dafs Möglichkeit, Wirklich- keit, und Notwendigkeit, so lange dieser Klimax des gemeinen Verstandes noch einen Platz in der Wissenschaft behält, unmittelbar auf die Quan- titätsbegriffe folge, damit doch das Bekenntnis des Klimax, nach welchem die Wirklichkeit eine Steigerung des Möglichen, und das Nothwendige noch vornehmer als das Wirkliche seyn soll, deutlich [387] hervortrete;** und endlich, wenn man einmal keinen andern Begriff von der Sub- stanz hat, als dafs Attribute in ihr wirklich, und Accidenzen in ihr mög- lich sind, desgleichen die Accidenzen durch Kräfte aus der Möglich- keit nothwendig zur Wirklichkeit emporsteigen, dann sollte man so aufrichtig seyn, diese Voraussetzung der Modalitäts-Begriffe bey der Sub- stanz und Ursache auch in der That voranzusetzen, und sich des Aus-

1 Hier schiebt die II. Ausg. folgenden Zusatz ein: wenn sie nicht in ein viel weiteres Gebiet von Untersuchungen versetzt wird.*

* Man vergleiche den Aufsatz über Kategorien und Conjunctionen, im zweyten Hefte der psychologischen Untersuchungen. [Bd. III vorl. Ausg.]

Der erste Band der Metaphysik ist voll von Proben und Formen des alten Unsinns, der aus diesem Klimax zu entstehen pflegt, und den selbst Kant nicht ganz vermieden hat.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 9. Capitel. Rückblicke, und Bemerkungen etc. 32 1

drucks nicht zu schämen, wenn man nicht lernen will, behutsamer zu Werke zu gehn.

Es ist gar nicht gleichgültig, in welcher Ordnung eine Reihe von Begriffen aufgestellt wird. Die Bedeutung erhellet aus der Stellung; und hier gerade liest die Beantwortung der Frage unseres zweyten Falles. Will man die Bedeutung eines schwankenden Begriffes veststellen, und liegt der Fehler nicht etwa (wie bey Substanz und Ursache) an innern Widersprüchen, (in welchem Falle man nicht anders als durch Erzeugung neuer Begriffe fertig wird,) so erlangt man seinen Zweck dadurch, dafs man die Nachbarn im Gebiete der Begriffe zu Hülfe ruft, welche den schwankenden gehörig begränzen werden.

Nur beyspielsweise wollen wir hier des schwersten Puncts in der ganzen praktischen Philosophie erwähnen, nämlich der Bestimmung des Rechtsbegriffs, der durch Occupation und Formation, durch Sachenrechte und Urrechte, durch abwechselnde Berufung auf die Natur und auf den Staat, so weit aus seiner eigentlichen und ersten Bedeutung herausgetrieben wird, dafs man bey der Wichtigkeit des Gegenstandes wohl Ursache hätte, davor zu erschrecken. Aber das schwankende Schiff liegt vest an zwey Ankern, sobald man rechts den Begriff der Billigkeit, und links den Be- griff des Wohlwollens daneben stellt. Die Abgränzung durch beide, und die Nothwendigkeit, die Rechtslehre von der Verurteilung des Streits [388] zu beginnen, tritt alsdann so deutlich hervor, dafs man weiterhin sich nur der natürlichen Fortbewegung der Wissenschaft von den ein- fachsten zu den mehr und mehr zusammengesetzten Verhältnissen zu über- lassen braucht, um die Verwirrung zu lösen.

220. [= 243 der II. Ausg.] Die Betrachtung des zweyten Falles läfst sich füglich dergestalt erweitern, dafs sie bis zu dem wichtigen Ver- hältnisse zwischen der Synthese und Analyse fortlaufe, und zugleich das. was über den dritten Fall zu sagen ist, vorbereite.

Zurückblickend auf die beiden vorhin erwähnten Manieren der Syste- matik, wollen wir zuvörderst anerkennen, dafs die Bemühung schon vor- handene Begriffe von neuem zu finden, um sie bey der Gelegenheit in ihrem urspiünglichen Sinn zu bestimmen, immer noch den Vorzug ver- dient, vor der Steifheit, welche selbst das, was nur im fortschreitenden Denken entstehen kann, was nur als ein Werk desselben seine Be- deutung hat, gleich Anfangs wie ein Fertiges hinstellt, und sich des Mon- strirens rühmt, um die Arbeit des Demonstrirens zu sparen. Freylich begegnet es jener Manier oft genug, bekannte Worte zum Gefäfs zu brauchen, wohinein das Gefundene passen soll, wenn es auch mit dem Inhalte, den das Gefäfs schön hatte, nicht richtig zusammentrifft. Aber die Gedanken sind doch in Bewegung; und Bewegung läfst sich eher verbessern, als Trägheit.

Damit jedoch der eben erwähnte Fehler, den Worten einen Sinn aufzudringen, den sie nicht annehmen können, vermieden werde, mufs zu L der Synthesis, die den alten Begriff neu finden und erzeugen wollte, das analytische Geschafft hinzukommen, welches von dem alten Begriffe aus-

] Die II. Ausg. hat statt „zu" „in", was wohl auch richtiger ist. Herbart's Werke. IX.

-122 II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

geht, indem es ihn in der Sprache, oder, wenn von Naturgegenständen die Rede ist, in der Erfahrung aufsucht. Pafst nun nicht genau das Alte zum Neuen, so bedarf die Synthesis entweder einer Revision, oder auch einer Fortsetzung, bis sie genau die bekannte Stelle trifft. Letzteres kann sehr oft der Fall seyn, wo Unkundige voreilig Fehler zu entdecken glauben, weil sie nicht [389] die leichtesten Schritte, die man ihnen vielleicht in gutem V ertrauen überliefs, selbst zu machen verstehen.

Zu den vergeblichen Ermahnungen aber, die man zuweilen zu hören bekommt, gehört auch die, man solle von der Analyse, die für sicherer gehalten wird, anfangen, und die Synthese lieber darauf folgen lassen. Oder noch lieber, (fahren wir fort,) die Synthese ganz weglassen! Das ist das wahre und probate Mittel, um gar nicht von der Stelle zu kommen, im alten Meinungskreise stecken zu bleiben, und höchstens zu wissen, dafs man nichts weifs, und nichts zu finden vermag. Für Leute, die ihre Ruhe finden, wäre das der allerbeste Rath. Die regressiven Tendenzen des Zeitalters befinden sich wohl dabey.

Es ist übrigens nicht wahr, dafs die Analyse sicherer ist. Ihr drohen alle Gefahren der Erschleichung. Und diese lassen sich selbst in der empirischen Physik nicht ohne Mühe, nicht ohne Zusammenwirkung vieler geübten Forscher vermeiden. Wieviel schwerer in der Mitte philosophischer Partheyen! Jede Parthey sieht, was sie sehen will. Die Synthesis aber, besonders wenn sie Rechnung zu Hülle nimmt, sieht, was herauskommt, und wird dadurch aus dem Kreise blofser Einbildungen herausgetrieben; statt dafs der analytische Spiegel den Einbildungen ihr eignes Bild zurück- strahlt, und die Verführung der Selbstbejahungen veranlafst.

221. [= 244 der IL Ausg.] Die Synthesis gehört dem dritten Falle; denn sie ist es, welche neue Begriffe erzeugt. Hier können wir uns nicht mit Bey spielen begnügen, sondern müssen geradezu die Haupt- punete anzeigen, nämlich die Begriffe von der Causalität und vom * Räume.

Dem Widerspruche im Begriffe der Veränderung (178.) schafft der gemeine Verstand eine vorläufige Hülfe, indem er die Schuld, sich selbst ungetreu zu seyn, von dem veränderten Dinge abwälzt, und behauptet, etwas Anderes müsse dem Dinge die Veränderung angethan haben. Hier ist, psychologisch betrachtet, der Sitz des Causalbegriffs mit der ihm an- [3 90] hängenden Notwendigkeit, wobey der Weg des Denkens nicht von der Ursache zur Wirkung, sondern von der Wirkung zur Ursache geht.*

Einfach, wie der Begriff der Veränderung, erscheint nun auch der Causal begriff. Und als wäre er in der That einfach, so ist er von Hume und Kant behandelt, 2diese Behandlung aber, obgleich sie von Fehlern strotzt, von den Spätem gepriesen worden. Falsche Systematik hat diese wichtigste aller metaphysischen Untersuchungen in Grund und Boden3

* Psychologie II, § 142. [= Bd. VI vorl. Ausg]

2 Statt der folgenden Worte: „diese Behandlung aber, obgleich sie von Fehlern strotzt" hat die II. Ausg. „und diese Behandlung."

:1 Die Worte: „in Grund und Boden" fehlen in der II. Ausg.a

1 „dem" statt „vom" SW.

a SW merken die Abweichung nicht an.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 9. Capitel. Rückblicke, und Bemerkungen etc. ? 2 "•

verdorben. Schon als Leibxitz sein ptincipium Talionis sufficientis in drevfacher Bedeutung als Axiom aussprach, war das Verderben im vollen1 Gange. In der Anmerkung zum Capitel von der Psychologie (206.) haben wir ganz kurz den Begriff der Selbsterhaltung erwähnt, dessen Deduction in der Metaphysik mufs nachgesehn werden. Dieser sagt nicht, dafs ein Ding als Ursache thätig, ein andres leidend sey, und von jenem eine Ver- änderung annehme; sondern er sagt, dafs jede Substanz bleibt was sie ist. Es ist also darin nicht der gemeine Causalbegriff zu finden, und das darf auch nicht seyn, weil im Thun und Leiden sowohl Thätiges als Leidendes aus sich herausgehn, sich in ihrer wahren Natur umkehren, und den Vor- wurf der Untreue gegen sich selbst nicht vermeiden würden.

Ebendaselbst ist ferner der psychischen Causalität erwähnt, welche nicht unmittelbar zwischen einem Dinge und einem andern, wohl aber zwischen entgegengesetzten innern Zuständen einer und der nämlichen Substanz vorkommt. Der Erfolg dieser Causalität wird uns in der innern Erfahrung zunächst durch die Verdunkelung unsrer Vorstellungen gegeben. Endlich ist daselbst von der Anstrengung gesprochen, welche wir mit dem Bewufstseyn des Kraftgefühls innerlich vornehmen; dergestalt, dafs der gemeine Verstand veranlafst wird zu glauben, den Dingen, die Ge- walt gegen [391] andre Dinge üben, müsse ungefähr so zu Mut he seyn, wie uns, wenn wir uns anstrengen.

Nun füge man zu diesen drey ganz verschiedenen Causalbegriffen noch die ganz oder doch theilweise räumlichen Naturkräfte der Attraction und Repulsion, der Arzneyen und Gifte, und wie sie weiter heifsen: so wird man sich bald in einem solchen Walde von allerley Causalitäten be- finden, dafs der allgemeine Gattungsbegriff: Causalität, sich in seiner wahren Natur bey der mindesten Ueberlegung'2 verrathen mufs. Er ist für die Wissenschaft nichts weiter als eine leere Abstraktion; gerade wie der all- gemeine Begriff des Grundes und der Folge (174.), der noch eine Stufe über jenem einnimmt, nämlich im Gebiete der leeren Begriffe, an denen gar Mancher die Mühe seines Denkens verliert.

Gesetzt, es wollte ein Systematiker, wie sie wohl gewöhnlich nach blofser Logik, ohne genaue Erwägung der Eigenheit des Gegenstandes, zu verfahren pflegen, unsre Darstellung verbessern: so würde er uns etwa folgendermafsen belehren :

„Nach logischer Regel gebührt sich's, das Allgemeinste an die Spitze zu stellen; es zu definiren, und alsdann einzutheilen. Setzet also den allgemeinen Begriff des Grundes obenan, mit gehöriger Erklärung. Ordnet ihm die species, welche man Ursache nennt, unter; und als- dann, wiederum untergeordnet, lafst Eure manch erley Causalitäten, wie sie nun eben seyn mögen, folgen; diese aber müssen coordinirt werden. So wird man eure Lehre übersehen können; dafs ihr aber in der Metaphysik von den Selbsterhaltungen, in der Psychologie von den Hemmungen und den Anstrengungen, und alsdann gar wiederum

1 „vollen" fehlt in der II. Ausg.a

- Die Worte „bey der mindesten Ueberlegung" fehlen in der II. Ausg.

SW merken die Abweichung nicht an.

21

^24 H' Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

in der Metaphysik von den Attractionen und Repulsionen, endlich aber in diesem Buche von der Freyheit redet, die doch ein negativer Causalbegriff ist , mithin auch der allgemeinen Abhandlung von der Causalität zugehört: das ist arge Unordnung, die euch schwerfällig und dunkel macht. '

[392] Was darauf zu antworten ist, beurtheile man aus dem Folgenden. 222. [=245 der II. Ausg.] Erstlich: alle abstracten Begriffe werden unbrauchbar, sobald man die Abstraction so weit getrieben hat, dafs die Merkmale, worauf es bey der Untersuchung ankommt, verschwunden sind. Das ist bey der Causalität der Fall, sobald man nicht mehr weifs, ob man sie zwischen mehrern Substanzen, oder zwischen den mehrern innern Zu- ständen eines und des nämlichen Wesens suchen soll; und im ersten Falle, ob dabey die Erscheinung im Räume in Betracht kommt, oder nicht; im zweyten, ob die innem Zustände vermöge der gegenseitigen Hemmung, oder vermöge der Verbindung, oder durch beides zugleich auf einander zu wirken bestimmt sind.

Zweytens: die verschiedenen Causalitäten als coordinirt in eine Reihe zu legen , mag in einer Encyklopädie , für die willkührliche Reflexion, allenfalls erträglich seyn. Man sieht dann wenigstens den Unterschied, dafs Substanzen in Wechselwirkung bestehen als das was sie sind, innere Zustände hingegen sich hemmen und dadurch in ein Streben verwandeln, welches Streben nur, wenn die Hemmung ganz entwiche, eine völlige Reproduction des Zustandes, wie er war, ergeben würde. In solcher Ver- gleichung mag man von den innern Zuständen sagen, ihr Streben zur Reproduction sey eine Art von Surrogat, wodurch sie mit dem Bestehen der Substanzen eine entfernte Aehnlichkeit erreichen.

Drittens: im systematischen Vortrage die verschiedenen Causalbegriffe zu coordiniren, kann Niemandem einfallen, der von der Art, wie die Be- griffe derselben erzeugt und gefunden werden, nur einige Kenntnifs hat. An das übliche Ausgehn von Einem Princip ist dabey gar nicht zu denken. Die Selbsterhaltung der Substanzen wird gefunden aus den Problemen der Inhärenz und der Veränderung. Die Hemmung der innern Zustände würde man daraus nur problematisch und schwankend ableiten; aber sie er- giebt sich mit grofser Be[393]stimmtheit aus der Untersuchung des Ich. Fafst man endlich die beiden Untersuchungen zusammen: so tritt jene voran; denn es zeigt sich nun, dafs erst die Substanzen in Wechselwirkung be- stehen, ehe die innern Zustände da sind, die sich unter einander theils hemmen, theils verbinden. Die räumlich erscheinenden Causalitäten einer- seits, die innern Anstrengungen andrerseits, sind vollends entfernte Folgen; jene vom Bestehen der Substanzen, diese vom Streben und von den Ver- bindungen innerer Zustände.

Im Systeme hat jeder Begriff, den man neu erzeugen mufste, seine Stelle da, wo er gefunden wird. Die willkührliche Reflexion, die wir uns hier erlaubten, um einmal zur Vergleichung das Entlegenste zusammen- zurücken, würde dort zu den weit ausschweifenden Digressionen gehören; während selbst näher sich darbietende Digressionen zuweilen schon die Klage veranlassen, man störe den Leser, indem man ihm eine Hülfe leisten wollte. Hierüber noch folgende Bemerkung.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 9. Capitel. Rückblicke, und Bemerkungen etc. 325

225. [= 2%6 der II. Ausg.] Wäre die Philosophie nicht genöthigt, sich aus dem Irrthum zur Wahrheit hervorzuarbeiten; bezeugte nicht ihre Geschichte, dafs der Reiz, eigne Meinungen zu haben, jeden Augenblick durch mancherley mögliche Vorstellungsarten kann befriedigt werden, in welche der Leser nur auszuweichen braucht, um sich der Führung zu entziehen, die ihm angeboten wird: so wäre nicht nöthig, ihn beständig an dies und jenes zu erinnern, was er theils berücksichtigen, theils ver- meiden solle. Aber in der Philosophie gilt es, nicht blofs durch den Wald zu gehen, sondern stets die Augen rechts und links zu haben, um auch die Orte zu sehen, wohin man nicht gehen kann, ohne den vesten Boden und die Richtung des Weges zu verlieren. Hierauf bezieht sich die Kunst der Darstellung* welche zu der systematischen, im eignen Denken nüthigen Kunst, beym Vortrage hinzukommen mufs.

Der philosophische Vortrag macht nur zu oft, und zu natürlich, den Eindruck problematischer Meinung, ungeachtet der strengen Nothwendig- keit, die in den Motiven des fortschrei [3 94] tenden Denkens liegt. Jeder nimmt sich gern Zeit, erst einmal zu versuchen, ob er nicht auch noch andre Wege finden könne? Er will den Sumpf, gegen den man ihn warnt, aus eigner Erfahrung kennen lernen. Die Gefahr, zu ertrinken, ist ja nicht dringend ! Haben es doch Andre vor uns eben so gemacht, und sind nicht davon gestorben! Haben doch die Behutsamsten lieber alle Bewegung des Denkens vermieden, und sind berühmte Männer dabey geworden! Mit Einem Munde sprechen die Juristen und die Physiker, und wer weifs wie viele sonst: diejenigen, zvelche nicht philosophiren, schreiben die gelehrtesten Bücher, voll von Citaten und von Beobachtungen. Also mufs man den Motiven des fortschreitenden Denkens ja nicht nach- geben! In der That: die Anstrengung, die es kostet, sich diesen Motiven zu widersetzen, ist unter allen möglichen Anstrengungen für die Mehr- zahl der Menschen die kleinste.

Die Philosophen nun, welche wissen, wie schwer es hält, Gehör zu erlangen, pflegen das Praktische mit dem Theoretischen so innig als möglich zu verbinden, um ihren Worten Gewicht zu geben. Das stört aber wirklich die Untersuchung, und darf in systematischen Schriften über Psychologie, vollends über Metaphysik, nur selten vorkommen.

Umgekehrt, wo das praktische Interesse vorherrschen soll, da können die theoretischen Gegenstände nur wie in einer perspectivischen Ver- kürzung erscheinen. So ist's in diesem Buche, auf dessen Gang wir jetzt zurückblicken wollen.

224. [= 247 der IL Ausg.] Dem strengen Idealismus (i/i-)> und nur ihm allein, können wir verzeihen, wenn er dem täuschenden Bilde einer Urform und Einheit alles Wissens (213.) nachgeht, und dem gemäfs seine svstematische Architektonik einrichtet. Von dieser Architektonik

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des idealistischen Zeitalters kann aber jetzt gar Nichts übrig bleiben. Darum haben wir gleich Anfangs die sämmtliche Bearbeitung der Be- griffe, das heifst, alle Philosophie, als dreyfach verschieden anerkannt. Denn verschieden ist die blofse Anordnung und Verknüpfung unserer Be[395]griffe, das heifst, unseres Gedachten, da, wo sie ohne Zusatz und ohne Hindernifs, mithin blofs logisch geschieht, von den beiden Arbeiten,

-,?A II. Kurze Encyklopädie der Philosophie.

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deren eine aus hinzutretenden ästhetischen Urtheilen, das heifst, Werth- bestimmungen ohne Willkühr, die andre aber aus metaphysischen Schwierig- keiten, welche die Hoffnung des Erkennens zu vereiteln drohen, hervor- geht. Von der Logik haben wir nun überhaupt nur als von einem be- kannten Hülfsmittel dieser beiden grofsen Arbeiten reden können; denn ihr eignes theoretisches Interesse ist an sich schwach, und dem praktischen völlig fremd. Dafs aber das praktische Interesse uns unmittelbar auf das ästhetische Gebiet versetze, durfte Anfangs im Dunkeln bleiben. Dem praktischen Menschen schweben die Gege?istätide vor, die er bearbeitet, und die Umstände, die er berücksichtigt; und dabey sondert sich das praktische Urtheil noch nicht genau ab vom theoretischen Auffassen und Beurtheilen. Auch in den allgemeinen Begriffen und gangbaren Lehren der Moral, worin Pflichten und mittelbare Tugenden die Hauptrolle spielen, liegt das gewöhnliche menschliche Leben, wie es ist, vor Augen; und selbst Ideale steigern nur das Gemeine zum Ungemeinen, ohne die Art der Betrachtung zu ändern. Diesen Blick auf Gegenstände, ohne alle Form des Systems, eine Zeitlang zu unterhalten, war uns wichtig, um über die Form nicht streiten zu müssen. Aber die gebieterische Notwendig- keit, worin bl'ofse Gegenstände durch ihre Natur den Menschen zu ver- setzen scheinen, mufste gelüftet werden, und so kamen nun allmählich Tugend und Religion, mit beiden aber ästhetische Urtheile zur Sprache. Von ihnen die theoretische Auffassung scharf zu scheiden, und zwischen beiden die Stellung des moralischen Urtheils richtig zu erkennen, darf nicht für leicht gehalten werden, da es vielen Denkern des ersten Ranges bald mehr bald weniger mislungen ist. Es war eine Hauptrücksicht, die unsere Darstellungen leitete, Betrachtungen des Staats, der Kunst, und der Erziehung so zu benutzen, dafs in voller Besinnung an diese be- kannten Gegenstände diejenigen Fehler möchten leicht vermieden werden, welche sonst [396] an den Abstraktionen zu kleben, und mit ihnen sich einzuschleichen pflegen. 1 Allein solche Bemühung gelingt jedem Buche nur in so fern, als sein Leser nachhilft, oder vielmehr in eigner An- strengung den gegebenen Reiz in sich aufnimmt und wirken läfst.

Die aufgeregte politische und pädagogische Besinnung wurde nun ferner dazu benutzt, den Leser in die Psychologie zu versetzen. Freylich nicht gleich zu den metaphysischen Fragen nach der Seele und dem Ich. Diese schwierigen Gegenstände kennt der Staatsmann und Erzieher viel zu wenig, um darüber urtheilen zu dürfen. Aber er kennt die geistige Regsamkeit besser, als die gemeine empirische Psychologie, -die sich alle Mühe giebt, sie recht systematisch zu verkennen. 3Dies ist ein Punct,

1 Der folgende Satz „Allein solche Bemühung .... wirken läfst". fehlt in

II. Ausg.

■-' Der folgende Satz lautet in der II. Ausg.: „die sich Mühe ZU geben

scheint, sie systematisch zu verkennen.1

;! Die folgenden Sätze: Dies ist ein Punct, seh vvierigern Gegen- ständen mitbringt (S. 327, Z. 9 v. o.) fehlen in der II. Ausg.

a SW merken die Abweichung nur teilweise an.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 9. Capitel. Rückblicke, und Bemerkungen etc. 327

worin der Verfasser keineswegs gesonnen ist, mit seinen Gegnern Friede zu machen; und wenn die Kriegslist, aus der Politik und Pädagogik in die Psychologie mit Einem Schritte hinüberzutreten, hier nicht vollständiger ausgeführt ist, so liegt der Grund zum Theil an der Kürze dieses Buchs, anderntheils aber an dem schon zuvor bezeichneten Umstände. Alle solche Wendungen nämlich helfen nur dem Leser, der sie benutzt; das heifst hier dem, welcher die ganze, zuvor angeregte Thätigkeit seines im Lebai selbst vorgeübten, praktischen Verstandes beybehält, und sie zu den schwierigem Gegenständen mitbringt. Die sehr interessanten Erfahrungs- gegenstände, welche sich der geistigen Regsamkeit zunächst anreihen, das Leben und die Materie, haben uns fast umsonst den schönsten l Stoff dar- geboten, um naturphilosophische Untersuchungen auf eine populäre Weise zu besprechen, 2die jetzt in den Winkeln der Metaphysik vergraben bleiben werden. Ausführlichkeit in solchen Dingen drängt eine Encyklopädie zu sehr aus einander, und verhindert ihren Endzweck, der in der Zusammen- fassung besteht. Die Metaphysik durfte überhaupt unserer Elementarlehre nur wenige Beyträge liefern; denn ihre Gegenstände liegen für den praktischen Menschen nicht hell genug am Tage. Hatten wir das sinnliche Ding, die Materie, einmal genannt, so mufste freylich auch das ganz unsinnliche, die Seele, schon deshalb genannt werden, damit [397] ihr nicht, wie zu geschehen pflegt, das Ich untergeschoben werde. Denn in diesem Puncte ist eine seltsame Eintracht und Ver- brüderung zwischen Idealismus und Empirismus; der Eine empfiehlt das Ich als Urquelle alles Wissens; der andre nimmt die Empfehlung an, zwar nicht in ihrer ganzen Ausdehnung, aber doch, um die ihm lästige Substanz der Seele los zu werden.

Bey Gelegenheit der Materie und des Lebens wurde nun zwar von zusammengehörigen innern und äufsern Zuständen gesprochen; es wurde erwähnt, dafs die Wechselwirkung unter mehrern Substanzen nichts anderes ist, als eine gegenseitige Bestimmung ihrer innern Zustände; und dafs danach die äufsere Lage sich richten mufs. Auch war die Hemmung und Verbindung der mehrern innern Zustände Einer Substanz schon bey der Betrachtung der geistigen Regsamkeit nicht blofs berührt, sondern so, wie sie in einer populären Psychologie müfste ausführlich beschrieben werden, mit einigen Grundstrichen bezeichnet worden. Allein hiebey ist absichtlich von aller systematischen Form abgewichen. Freye Bewegung im vesten Systeme diese war zu zeigen, in Folge der gleich Anfangs angegebenen Zwecke. Angenommen nun, der Leser3 wolle nicht blofs die Gegenstände der Philosophie besehen, sondern auch von deren regelmäfsiger Unter- suchung etwas hören: so kam die wissenschaftliche Form an die Reihe. Daher trat die Methodenlehre ein. Nicht aber, um Grundrisse von Lehr- gebäuden zu zeigen, die man als äufsere Gegenstände anzuschauen liebt, wenn sie auch nur Hirngespinnste sind; sondern um von dem Verfahren zu

2 Die folgenden Worte: die jetzt .... bleiben werden fehlen in der II. Ausg.

3 „man" statt „der Leser" II. Ausg.*

1 „schönen" statt „schönsten" SW.

a SW merken die Abweichung nicht an.

•3 2 8 II- Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

reden, durch welches etwa ein Lehrgebäude entstehen könne. Hier mufste zwar von vorn angefangen werden, jedoch nicht in schwer verständlichen Abstraktionen, sondern mit Anknüpfung an das Vorhergegangene; dem- nach so, dafs nunmehr fast gleichzeitig sowohl vom Aufbau der theo- retischen als der praktischen Philosophie die Frage war; weil man schon mit beiden sich zuvor beschäfftigt hatte. Allmählich mufste sogar die Metaphysik in den Vordergrund treten, weil sie in den philosophischen Schulen die stärkste und vorherrschende Geschäfftigkeit veranlafst, wenn [398] auch unter andern, oft gewechselten Benennungen.1 Wer nun etwa erwartete, der Verfasser würde jetzt wenigstens die systematischen Umrisse seiner eignen Metaphysik in ein helles Licht stellen, der wird sich wenig befriedigt gefunden haben. Es ist von aufsen wenig daran zu sehen; auch im Innern ist kein Schmuck zum Vorzeigen. Eher hätte die Psychologie einige Versuchung erregen können, von ihr eine ausführliche Beschreibung zu machen. Allein das kleine Lehrbuch ist vorhanden für Diejenigen, denen das gröfsere Werk zu schwerfällig seyn möchte. Selbst die Zusammenstellung der Psychologie und Naturphilosophie ist schon im Lehrbuche zur Einleitung in die Philosophie zu finden.

225. Wiewohl es scheinen möchte, dafs hiemit Alles Nöthige gesagt wäre; so kann es doch Leser geben, welche sich befremdet finden, dafs die Encyklopädie der Philosophie andre Umrisse zeige, als die Philosophie selbst; und welche klagen, sie hätten noch immer nicht die Wissenschaft gleichsam mit ihren Augen angeschaut. Dieses nun halten sie wohl für leichter als es ist; verführt durch allerley Ansichten, denen keine wahre Untersuchungen zum Grunde liegen, denn solche lose Waare ist heutiges Tages häufig auf dem Markte. Jedoch, um die Resultate der ganzen Betrachtung kenntlicher vor sich hinzustellen, können sie nochmals die verschiedenen philosophischen Wissenschaften ganz kurz durchmustern.

Zuerst kommt alles darauf an, ob sie sich überzeugt haben, dafs praktische Philosophie und Metaphysik zwey völlig disparate Wissen- schaften sind? Haben sie daran noch den geringsten Zweifel: so bleibt nichts übrig, als auf die beiden, unter jenen Namen vorhandenen, frühern Schriften zu verweisen, welche so lange verglichen werden müssen, bis der Unterschied unmittelbar ins Auge springt.*

1 Statt der folgenden Worte; Wer nun etwa erwartete .... Ist dies ge- sichert: (S. 329, Z. 1 v. o.) hat die II. Ausg.:

Was nun ferner über das Verhältnis der allgemeinen Metaphysik und praktischen Philosophie zu andern Wissenschaften, und über das Verhältnifs der Psychologie zu beiden, gesagt worden, das kann schon zur Bezeichnung des systematischen Zusammenhangs in der gesammten Philosophie in den Hauptzügen dienen; indessen, um die Resultate der ganzen Betrachtung kenntlicher hinzustellen, können wir nochmals die ver- schiedenen philosophischen Wissenschaften ganz kurz durchmustern.

248. Zuerst kommt Alles darauf an, dafs praktische Philosophie und Metaphysik zwey völlig disparate Wissenschaften sind.

Ist die Ueberzeugung in diesem Hauptpuncte gesichert:

f Insbesondere vergleiche man Metaphysik I. §124 [= Bd. VII vorl. Ausg.] und das dort Vorhergehende.

Abschnitt. Methodenlehre. 9. Capitel. Rückblicke, und Bemerkungen etc. 329

Ist dies gesichert: so überlege man die Stellung, welche zunächst die Logik dadurch bekommt, dafs sie für jene beiden [399] disparaten1 Disciplinen, und für jeden andern Zweig der Gelehrsamkeit die gemein- same Vorschule seyn mufs. Das Gemeinsame kann sich auf die Unter- scheidungsmerkmale seines Untergeordneten nicht einlassen. Daher ge- hört Nichts von Allem, was die Methoden betrifft, nach denen hier ästhetische und dort widersprechende Begriffe müssen behandelt werden, in die Logik. Alle Versuche, die Logik in einem ausgedehnteren Sinne, als bisher, zur Methodenlehre zu erheben, müssen aufgegeben werden. Jede besondere Methode gehört dahin, wo ihre Probleme vorkommen. Die Sphäre ihrer Anwendbarkeit aber reicht so weit, als man mit mehr oder weniger Sicherheit der Bedingungen wiederfindet, die sie voraus- setzt.* [400] Die sogenannte transscendentale Logik aber, welche vorgiebt, ursprünglich eingeborne Begriffe oder Erkenntnifsformen des Verstandes

1 disparaten fehlt in der II. Ausg.*

* Daher gehört die Methode der Beziehungen in die Metaphysik ; denn dort liegen die Probleme, durch welche sie geiordert wird; nämlich gegebene Widersprüche, die dennoch Erkenntnifsbegriffe eines Realen sind. Wendet man die Methode anders an: so geschieht dies, weil in die Stelle der eigentlichen Realität eine factische Wirklichkeit tritt, und zwar eine solche, die ein Merkmal an sich trägt, dessen Nothwendigkeit nicht gleich einleuchtet. Das leichteste Beyspiel hievon giebt das ästhetische Urtheil, welches objektiv ist, d. h. einen theoretisch erkennbaren Gegenstand hat, während die Gefühle des Angenehmen rein subjektiv sind. Zugleich sieht man ohne Mühe, dafs solche Gegenstände Verhältnisse in sich tragen; als da sind Verhältnisse des Umrisses an der Bildsäule, der Charaktere im Drama, der Töne in den Accoiden der Musik. Nun fragt sich: ist es nothwendig, ist es allgemein, dafs jedes ästhetische Urtheil auf den Verhältnissen seines Gegenstandes beruhen mufs ? Dies weifs man nicht. Die Noth- wendigkeit läfst sich nur durch die Unmöglichkeit des Gegenteils beweisen. Dafs heifst: wenn der ästhetische Gegenstand keine Verhältnisse in sich trüge, so wäre im Begriffe desselben ein Widersprach. Und so ist es. Denn zu der theoretischen Auf- fassung mufs etwas hinzukommen, damit sie übergehe in eine ästhetische. Zu dem Gegen- stande soll aber nichts hinzukommen; sondern er mufs so wie er ist, ohne Weiteres, unmittelbar, (nicht etwa vermöge eines Beweises,) gefallen oder ausfallen. Also wäre die unmittelbare Auffassung des Gegenstandes zugleich theoretisch und ästhetisch. Aber das widerspricht sich. Die theoretische (etwa des Geometers, der die Bildsäule als einen blofsen raumerfüllenden und bestimmt gestalteten Körper betrachtet,) ist gleich- gültig, d. h. nicht ästhetisch. Die nämliche, stets unmittelbare Auffassung des Gegen- standes wäre also ästhetisch und nicht ästhetisch zugleich, ohne irgend einen Grund des Unterschiedes. Nun sind gleichwohl die ästhetischen Gegenstände factisch vor- handen ; und dies Factum erträgt keinen Widerspruch in sich selbst. Wendet man die Methode der Beziehungen an: so erfährt man das, was man schon wufste; nämlich: man soll nach ihr den Gegenstand nicht einfach, sondern vielfach setzen; und in der Vielfachheit, im Zusammen des Vielen, soll das Gefallende und Misfallende liegen, das heifst: in den Verhältnissen. Dieses eben wufste man; aber man wufste nicht, es müsse nothwendig so seyn. Die Nothwendigkeit lehrt die Methode. Und das ist in der praktischen Philosophie, nachdem schon bekannt war, dem moralischen Urtheil liege ein ästhetisches zum Grunde (45.), der Fingerzeig geworden, welchem gemäfs die ganze Reihe der Verhältnisse gesucht wurde, in denen der Wille Gegenstand des Lobes oder Tadels werden kann. 2 Vor mehr als zwanzig Jahren sind diese Dinge in der prak- tischen Philosophie gelehrt worden.

2 Der folgende Satz: „Vor mehr als zwanzig Jahren .... gelehrt worden." fehlt in II. Ausg.

a SW merken die Abweichung nicht an.

00

O II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 r .

nachzuweisen, ist nichts. Anderes, als ein mishandeltes 1 Capitel der Psycho- logie; und auf diese allein mufs deshalb verwiesen werden.

Jetzt wenden wir uns zur praktischen Philosophie. Was von dieser nicht in seinen mannigfaltigen Einzelheiten konnte vor Augen gelegt werden, das ist der Kreis von Rechtsbegriffen, welche man Naturrecht nennt. 2Es hätte zu nichts geholfen, wenn wir darauf hier eingetreten waren; denn der Zusammenhang unter den Hauptteilen der Philosophie hängt nicht davon ab. 3Nur der Hauptpunct, dafs nämlich der Grund- begriff des Rechts unter den praktischen Ideen die vierte Stelle einnimmt, mufste gezeigt werden; und dies ist geschehen (153.). Auch die Nach- weisung, dafs in gröfsern geselligen Verhältnissen sich Recht und Billig- keit stets beysammen finden müssen, ist nicht übergangen worden (154.); woraus folgt, dafs beide sehr leicht verwechselt werden; und dies ist in so hohem Grade der Fall gewesen, dafs der Name Billigkeit, (obgleich ihn schon das Sprichwort: was dem Einen [401] recht, ist dem Andern billig, in seiner Bedeutung veststellen konnte,) seinen wahren Sinn bey- nahe verloren hat, wodurch nun5 auch die wahre Natur des Rechts, das jenen durchaus heterogenen Begriff mit in sich aufnehmen sollte, im hohen Grade verdunkelt wurde. In praktischer Hinsicht das Wichtigste aber ist, dafs auf bloße Begriffe des Rechts durchaus13 keine brauchbare Staats- lehre kann gegründet werden; welche vielmehr dereinst ihrem gröfsten Theile nach auf Psychologie, unter Beyhülfe der Geschichte wird zurück- zuführen seyn (50, und 89 101.).

Da die ästhetische Grundlage des moralischen Urtheils hier als bekannt vorausgesetzt wird: so bleibt in systematischer Hinsicht für Denjenigen, der die Umrisse der philosophischen Disciplin richtig auf-

1 „mislungenes statt mishandeltes II. Ausg.* Die folgenden Worte: Es hätte zu nichts .... eingetreten wären; denn fehlen in der II. Ausg.b

' Statt der folgenden Sätze : Nur der Hauptpunct, .... im hohen Grade verdunkelt wurde (11 Zeilen weiter) hat die II. Ausg.:

Dafs der Grundbegriff des Rechts unter den praktischen Ideen die vierte Stelle einnimmt: dafs in gröfseren geselligen Verhältnissen sich Recht und Billigkeit stets beysammen finden müssen; dafs beide sehr leicht ver- wechselt werden; dafs4 der Name Billigkeit, (obgleich ihn schon das Sprich- wort : was dem Einen recht, ist dem Andern billig, in seiner Bedeutung veststellen konnte,) seinen wahren Sinn beynahe verloren hat; dafs hie- durch auch die wahre Natur des Rechts, welches jenen durchaus heterogenen Begriff mit in sich aufnehmen sollte, im hohen Grade verdunkelt wurde: dies ist im Vorhergehenden theils angegeben, theils sehr leicht -aus dem Gegebenen zu schliefsen.

,; „durchaus" fehlt in der II. Ausg.c

a, b u. c SW merken die Abweichungen nicht an. * „dafs" fehlt SW. 6 „nun" fehlt SW.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 9. Capitel. Rückblicke, und Bemerkungen etc. ly

zufassen und zu vergleichen wünscht, nach allem Vorhergehenden* eigent- lich nur eine Vorsicht zu empfehlen übrig; diese nämlich, dafs man die Bewegung des Denkens, welche in der systematischen Form gleichsam starr wird, ja nicht für gleichartig in der praktischen Philosophie und in der Metaphysik halte, und sich hier vor übereilten Analogien sorgfältig1 hüte. Liegt einmal das Fundament der praktischen Philosophie gehörig vest, nämlich die praktischen Ideen: so kann zwar die alsdann folgende Anwendung auf den Menschen und seine Verhältnisse, im Einzelnen noch Schwierigkeiten machen, die meistens von mangelhafter Psychologie her- rühren werden; allein im Allgemeinen ist doch eine solche Anwendung den gewöhnlichen logischen Regeln unterworfen, 2wovon oben 214.) das Nöthige gesagt worden. Die Geschichte der Philosophie giebt dies deutlich zu erkennen. Man hat von jeher weit mehr über die Be- gründung der Ethik, als über die Ausführung gestritten. Das absicht- liche3 Verkennen der ästhetischen Grundlage, (weil man zu Imperativen forteilte, um mit der Kirche und dem Staate gleiche [402 J Sprache zu führen,) war Schuld an aller4 Verwirrung; und das Wesentlichste der Systematik besteht hier in derjenigen Heuristik, die vom Begriffe der Pflicht ausgehend (29.), auf ästhetische Urtheile hingewiesen, mit Hülfe des Satzes: dafs solche Urtheile nur auf Verhältnisse gehen können, den Willen in allen seinen Verhältnissen betrachtet, und die Reihe derselben vollständig darstellt.

Hiebev entsteht nun die Frage: ob die andern Theile der Ästhetik nach dem Vorbilde der praktischen Philosophie können gezeichnet werden? welche Frage mufs verneint werden. Denn in ihnen, wenn sie auch von den Eigenheiten der Apperception (70.) sorgfältig rein gehalten werden, überwiegt doch das successive Schöne (nach Art der Melodie) bey weitem das simultane (die Harmonie), und die aus Raum und Zeit entspringenden Verhältnisse sind von ganz andrer Art, als diejenigen, in welchen der Wille sich dem sittlichen Urteile darstellt. In dem Capitel von der schönen Kunst ist soviel, als hier Platz fand, darüber gesagt worden. Besonders achte man auf die Absonderung dessen, was nicht streng zum objeetiven Schönen gehört (nach 76.). Die mühsamste Arbeit aber ist hier analytisch; und die Bewegung des Denkens, indem sie Verschieden- artiges trennt, den Aehnlichkeiten aber nachfolgt (46.), geht weit mehr in die Breite, als in die Tiefe.

* Insbesondre nach dem, was oben über Vernunftkritik, Fundamentalphilosophie, und über ein vorgebliches allgemeines System ist gesagt worden, 1 denn das soll hier unvergessen seyn.

1 Die folgenden Worte ,,denn das soll hier unvergessen seyn" fehlen in der II. Ausg.

2 „sorgfältig" fehlt in der II. Ausg. a

3 Die folgenden Worte: wovon oben .... gesagt worden fehlen in der II. Ausg.

4 „absichtliche" fehlt in der II. Ausg.b

5 der statt aller II. Ausg.

a u. b SW merken die Abweichung nicht an.

Ti2 n. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 1831.

Ganz anders verhält sich's mit der Metaphysik. Wer in dieser das Prinzip absolut setzen will, der macht die ganze Wissenschaft zum Kirn- gespinnst. Ihr Grund und Boden ist das Gegebene. xAber wer da meint, Gegebenes und Vorgefundenes nur blofs gleich Mauersteinen an einander fügen und auf einander legen, oder gar den gegebenen Gründen andre Begründungen unterschieben zu dürfen: der hat vom System der Metaphysik nicht den geringsten Begriff. Die Bewegung des Denkens mufs hier, nachdem sie durch unzählige Schwierigkeiten auf den Satz: Alles Gegebene ist mir Erschei7inng ! zurückgedrängt wurde, von dem so- gleich folgenden Satze: Aller Schei?i deutet aufs Seyn, wieder vordringend, jeden Begriff von vorn an schaffen; dazu [403] aber müssen die Motive des fortschreitenden Denkens in voller Kraft wirksam seyn; das heifst: die Widersprüche in den Begriffen der Inhärenz, der Veränderung, der Materie, und des Ich, müssen klar vor Augen liegen. -So lange man sich dieselben nicht gestehen wollte, war Metaphysik so viel werth, als sie dem Publicum galt, das heifst: Nichts. Je mehr man von Ontologie redete, desto deutlicher kam zu Tage, dafs man das wahre Seyn vor dem zerstörenden Wechseln und Scheinen nicht zu retten wufste.

Die Logik schafft zwar auch in der Metaphysik bedeutende Er- leichterungen, aber diese sind noch immer nicht leicht, und überdies sind sie nicht das Wesentliche.

So hat man die Methode der Beziehungen in abstracto schwierig ge- funden. Was ist aber diese Methode? Nichts als der Ausdruck für die- jenige Richtung des Denkens, welche durch gegebene Widersprüche noth- wendig wird. Hätte nun Heraklit unter den Alten, hätte Fichte unter den Neuern, diesen Ausdruck gekannt: so wäre wenigstens ihr Denken vor seiner falschen Wendung3 gewarnt worden. 4Sie hätten alsdann eine unsägliche Mühe sparen können. Der logisch allgemeine Ausdruck, welcher anzeigt, was bey Widersprüchen, die Realität prätendiren, zunächst zu thun sey, ist eine sehr grofse Erleichterung desjenigen Nachdenkens, was sonst in jedem einzelnen Falle von vorn an beginnen müfste, und ge- wöhnlich ganz verfehlt wird. Gleichwohl wäre es zuviel behauptet, wenn man sagen wollte, die Methode der Beziehungen sey durchaus unentbehr- lich. Man nehme sie hinweg: die Metaphysik wird noch immer die nämlichen5 Resultate liefern, vorausgesetzt, dafs man das Problem der

1 Der folgende Satz: „Aber wer da meint, .... nicht den geringsten Begriff" fehlt in der II. Ausg.*

2 Statt der folgenden Sätze: So lange man sich .... nicht zu retten wufste hat die II. Ausg.: Es kommt alsdann darauf an, das wahre Seyn vor dem zerstörenden Wechseln und Scheinen zu retten.

3 Die Worte: vor seiner falschen Wendung fehlen in der II. Ausg.b

4 Der folgende Satz: Sie hätten alsdann eine unsägliche Mühe sparen können fehlt in der II. Ausg.

a SW dnicken nach der II. Ausg. ohne Angabe des Zusatzes der I. Ausg. b SW merken die Abweichung nicht an. 6 „dieselben" statt „die nämlichen" SW.

2. Abschnitt Methodenlehre. 9. Capitel. Rückblicke, und Bemerkungen etc. 333

Inhärenz, der Veränderung, und des Ich, jedes einzeln genommen richtig zu behandeln verstehe. Möglich ist das; denn jedes dieser Probleme enthält das Motiv des fortschreitenden Denkens vollständig in sich selbst. Aber hier wäre ein Fehler in der Systematik, wofern versäumt wäre, durch die Methode der Beziehungen dasjenige zuvörderst im allgemeinen Ausdrucke voran[40-i]zuschicken, was in der nothwendigen Behandlung eines jeden von jenen drey Problemen als das Gemeinsame vorkommt.

Uebrigens werden Diejenigen, welche die Methode der Beziehungen schwer finden vollständig zu verstehen, doch bekennen müssen, dafs sich soviel davon, als wir für gut fanden1 hier darüber zu sagen (185.), sehr Jeicht begreifen läfst. Es kommt nur darauf an, dafs man sich der frucht- losen Hartnäckigkeit begebe, mit welcher Manche es lieben, in Wider- sprüchen stecken zu bleiben, und dieselben entweder mit Hegel offen- herzig zu beichten, oder aber sie, 2was weit schlimmer und tadelnswerther ist, künstlich zu läugnen und zu verschleyern, während es frey stand, zur offenen Thür hinaus zu gehen. Der Hauptgedanke: dafs ein zusammen- gefafstes Vieles Aufschlüsse darbieten kann, die ein für einfach Gehaltenes nimmermehr würde er rathen lassen, ist ganz leicht. Es fragt sich nur noch, ob man ihn zu brauchen wisse?

Und hier hätten die zufälligen Ansichten, welche in der Mathematik aus Beyspielen bekannt sind, einigen grofsen Denkein wohl zu Hilfe kommen können, wenn sie sich am rechten Orte darauf besonnen hätten.

3 Allein wir haben in diesem Buche nicht nöthig gehabt, Metaphysik eigentlich zu lehren. Dafs allgemeine Metaphysik, ehemals Ontologie ge- nannt, der Psychologie, Naturphilosophie und Religionslehre vorausgehn mufs, ist eben so wahr, als längst bekannt. Dafs zur allgemeinen Meta- physik, aufser der Methodologie, noch drey Theile gehören, nämlich eigent- liche Ontologie, Synechologie, und Eidolologie, haben wir angezeigt (190.). Was nun der Leser vermissen wird, ist die Beschreibung des systematischen Zusammenhangs dieser Theile. Darüber läfst sich freylich negativ leicht soviel sagen , dafs die Gegenstände derselben , Substanz und Ursache, Raum und Zeit, Subject und Object, keinesweges also neben einander auf- treten, wie etwa die Capitel in der Vorkantischen Metaphysik, die davon handeln; oder wie die Formen der Sinnlichkeit, des Verstandes, und der Vernunft, in Kants Kritiken; oder wie [405] bey uns die fünf praktischen Ideen. Auch das könnte Jeder nach dem Vorhergehenden sich selbst sagen, dafs an Ausstrahlung aus Einem Princip dabey nicht zu denken ist.

Wir haben am gehörigen Orte versucht, dem Leser aus der Meta- physik etwas zu erzählen. Diese Erzählung lautet zwar wie eine positive Nachricht: aber damit hat man noch keineswegs einen Begriff von dem worauf es ankommt: nämlich von der Bewegung des Denkens in jedem

1 „als passend schien" statt „als wir für gut fanden" II. Ausg.*

2 Die folgenden Worte: „was weit schlimmer .... künstlich" fehlen in der II. Ausg.b

3 Der folgende Satz: Allein wir haben .... zu lehren fehlt in der II. Ausg.

a u. b SW merken die Abweichungen nicht an.

334 ü- K-urze Encyklopädie der Philosophie. 1 83 1.

Puncte der Metaphysik. Sie aber ganz allein ist hier das Wesen der Systematik. Aus ihr nur läfst sich erkennen, dafs die vier Theile der Wissenschaft nicht dürfen in eine andre Stellung und Folge gebracht, viel- weniger durch einander gemengt oder auf ein einziges Princip reducirt werden, wie man so oft versucht hat; dafs sie vielmehr gerade so stehn bleiben müssen, wie sie stehn, ohne mögliche Gefälligkeit gegen irgend ein Meinen, Wünschen, Seufzen oder Zürnen, wie wir dergleichen oft ge- nug vernommen haben und noch jetzt vernehmen. Hierüber Denjenigen näher zu belehren, der nicht die1 Metaphysik selbst zur Hand nehmen will, darauf müssen wir Verzicht thun; wohl wissend, dafs Jeder so lange Skeptiker seyn und bleiben wird, wie lange er nicht durch eigne An- strengung sich durchgearbeitet hat.

Den einzigen Vortheil hat die Metaphysik, nämlich die allgemeine, welche eine geschlossene Wissenschaft ist, ohne mögliche Erweiterung ihres Umfangs,* vor der Psychologie voraus, dafs sie, gerade ihres Dunkels wegen, nicht mit so vielem falschen Lichte leuchtet, wie die letzt genannte, die gar Manche anlockt, und bald zu Wagstücken verleitet, bald durch Plattheiten scheinbar befriedigt.

Es ist unmöglich, in der Psychologie die Bewegung des Denkens so streng vorzuschreiben, wie in der praktischen Philosophie und Metaphysik. Daher wird noch lange die systematische Form der Wissenschaft schwanken, und mancherley [406] fruchtlose Versuche veranlassen. Sondert man den empirischen, mathematischen, und metaphysischen Theil streng von einander : so ist keiner von ihnen für sich allein zu gebrauchen. Verbindet man sie, wenn auch durch die gewählteste Verknüpfung, so leidet doch am Ende die logische Deutlichkeit. Daher mufs hier die Form des Vortrags vom System unterschieden werden. Darf man indessen gebildete Männer voraussetzen, denen schon Menschenkenntnifs und geübte Selbstbeobachtung eigen ist, so behält das System der Psychologie diejenige Form, welche oben bezeichnet wurde. Der mathematische Theil, welcher synthetisch von den einfachsten denkbaren Annahmen ausgeht, und an Aufschlüssen, die sich nicht errathen lassen, am reichsten ist, tritt voran; entweder an die Eido- lologie der Metaphysik geknüpft, oder, falls man es für sicherer hält, zuerst blofs hypothetisch. Der empirische Theil in seinen Hauptumrissen folgt nach, um Analysen darzubieten, die sich mit jener Synthesis vereinigen und sie bestätigen. Aber keiner von beiden Theilen läfst sich vest begränzen; sowohl die Synthesis als die Analysis sind immer noch der Erweiterung fähig. Dazu kommt, dafs die Psychologie als ein Vorrath von Kenntnissen mannigfaltig benutzt werden mufs; bald für die Metaphysik in Form der Vernunftkritik, bald für die sämmtlichen Theile der praktischen Philosophie und der gesammten Aesthetik. Hier brechen wir ab; da sich die Natur- philosophie in diesem Buche ganz im Hintergrunde halten mufste.

1 „die" fehlt II. Ausg.»

N Geschlossen? Wenn die Principien nur ein zufälliges Aggregat (157.) bilden? So wird der aufmerksame Leser fragen. Es wird ihm auch nicht zugemuthet, dafs er die Geschlossenheit voraus >ehe. Er studire die Metaphysik, so wird er sie finden!

a S\\" merken die Abweichung nicht an.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 9. Capitel. Rückblicke, und Bemerkungen etc. ^^

226. x Sind nun hiemit die vesten Hauptumrisse der Philosophie ver- zeichnet: warum denn sind nicht eben sie zugleich die Umrisse des Buchs? Warum ist nicht der Raum desselben unter Logik, Ethik, Aesthetik. Metaphysik, Psychologie, Naturphilosophie, und Religionslehre gleichmäfsig vertheilt? Warum ist nicht die Gestalt jeder Wissenschaft in verjüngtem Maafsstabe beibehalten worden ?

Es mag etwas mislich seyn, die Beantwortung zu übernehmen. Be- richt über die Philosophie war versprochen. Wer [407] Berichte annimmt, behält sich vor, nach eignem Gutfinden darauf zu verfügen, oder doch sie beliebig zu benutzen. Das dazu nöthige richtige Urtheil traut man sich zu. Wird man geneigt seyn anzuhören, dafs in Ansehung der Philo- sophie das eigne, selbstvertrauende Urtheil leicht täuschen könne? Und doch mufs diese Antwort gegeben werden.

Dem Leser wurde soviel Ueberzeugung gewünscht, als eine Encv- klopädie gewähren kann. Von derjenigen vollständigen Ueberzeugung, welche nur aus einem beharrlichen Studium der Philosophie entspringt, darf hier nicht die Rede seyn. Oberflächlich angesehen aber schaffen die kunstgerechten Formen der Wissenschaft gar keine Ueberzeugung; so wenig als etwa ein physikalischer Apparat, dessen man sielt nicht zum Experi- mentiren bedient. Sie befremden nur! Lange genug ist die Philosophie als eine Summe paradoxer Meinungen betrachtet worden, nur dazu taug- lich, unnützen Streitigkeiten stets frische Nahrung zu geben.

Ueberzeugung mufs haften an den geselligen Lebensverhältnissen, und an demjenigen Nachdenken, welches dadurch schon längst in Bewegung gesetzt, längst in täglichen Gebrauch gekommen war. Von diesen Lebens- verhältnissen, diesem Nachdenken gingen wir aus. Die Vestigkeit der Anknüpfung eines langen Gedankenfadens an den Punct des Ausgehens läfst sich freylich nicht verbürgen; manches früher Angeregte mag wieder hinweggedrängt seyn durch den nachfolgenden Vortrag. Dann aber wird desto eher eine Warnung Platz finden, man möge die Aneignung der Philosophie nicht für leicht abgethan halten. Sie erfordert ganz andre Uebungen, als die Uebung im Schnelllesen und im Geltenmachen eigner Meinung gegen das gelesene Buch. Häufig zu den Hauptpuncten zurück- kehrendes Denken, wobey sich neue und wieder neue Seiten und Ver- knüpfungen der Gegenstände entdecken, wobey die Anfangs loseren Verbindungen sich allmählig bevestigen, während das Entgegenstehende mehr und entschiedener sich trennt, dies hebt am bequemsten die Abstraction von Stufe und Stufe, und gewährt dabey das Bewufstseyn,. dafs man [408] stets vesten Boden, ja sogar eine breite Basis behalte. Jedoch dazu gehört Geduld, die es nicht übel empfindet, dafs manchmal Schwierigkeiten, die Anfangs absichtlich vertheilt waren, späterhin näher zusammenrücken und eine vermehrte Anstrengung erheischen.

Uebrigens wird wohl jeder Schriftsteller, der öfter misdeutet wurde, endlich dahin kommen, einen Unterschied zu machen zwischen den Formen

1 Von § 226 [=249 der II. Ausg.] fehlen die ersten fünf Absätze (Sind nun hiemit .... Mittheilung passend scheinen) in der II. Ausg.

336 II. Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1 .

und Hülfsmitteln, deren er für sich zum Erfinden und Prüfen bedarf, und andern Formen, die mehr zur Mittheilung passend scheinen.

Man erwartet vielleicht, dafs am Ende dieses Buchs noch etwas über die Geschichte der Philosophie gesagt werde. Wenige Worte müssen genügen. Für Diejenigen, welche Metaphysik gründlich studiren wollen, ist Geschichte der Philosophie ein nothwendiges Uebel. Sie müssen den Umfang des Irrthums kennen lernen, aus dessen Mitte die Wahrheit als nothwendig hervortritt. Sie werden finden, dafs die Motive des fort- schreitenden Denkens, welche in den gegebenen Formen der Erfahrung liegen, sich schon längst, schon in sehr alter Zeit geregt haben; aber ohne durchzudringen, weil es bald an Entschlossenheit, bald an Fleifs, bald an unbefangener Wahrheitsliebe, bald und in der Vorzeit durch- gehends, an den nöthigen Hülfsmitteln fehlte. * So lange 2 die höhere Mathematik nicht zum bequemen Gebrauche ausgebildet war, konnte die Psychologie nicht gedeihen; so lange die Psychologie nicht in den rechten Gang der Untersuchung kam, lag sie der Metaphysik im Wege; ja sie stellte sich ihr recht absichtlich in den Weg! So ist es dahin gekommen, dafs noch heute 3 Metaphysik mit Naturlehre des menschlichen Erkennens verwechselt wird; welches nicht klüger ist, als ob Einer Ostindien und Westindien verwechselte. Zu solchem Irrthum würde Kant, dem die

1 Hier hat die II. Ausg. folgenden Absatz eingeschoben:

Woran es dem Aristoteles eigentlich gefehlt habe, ihm, der mehr als irgend ein Andrer während vieler Jahrhunderte, auf die philo- sophischen Schulen wirkte, darüber genauer zu sprechen ist hier nicht der Ort; allein das darf man seinen heutigen Verehrern sagen, dafs sie nicht Mehr aus ihm heraus lesen werden als in ihm liegt. Platon hatte es ihm leicht genug gemacht, für die praktischen Ideen den ästhetischen Standpunkt, für die Metaphysik den Widerspruch des absoluten Werden vestzuhalten ; er hat beides nicht benutzt.* Dem Schaden nachzuspüren, welchen sein Einfiufs den spätem Systemen gebracht hat, wird für künftige Bearbeiter der Geschichte der Philosophie ein Haupt- Augenmerk seyn müssen. Unter den neuern berühmten Denkern ist vielleicht Locke allein von diesem Einfiufs frey geblieben ; und hieraus vorzugsweise mag sich's erklären, dafs Locke so mächtig auf sein Zeitalter wirkte; während man nicht von ihm rühmen kann, er sey der philosophischen Probleme mächtig geworden.

.Man vergleiche den Schlufs des ersten Bandes der Metaphysik, und die eisten Blätter der analytischen Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. Ganz neuerlich hat Hr. Prof. Hartenstein eine Abhandlung geschrieben: de psychologiae vulgaris origine ab Aristotelc repetenda. Die Abhandlung schliefst mit folgenden Worten : Aristoteles ea quidem disquisitionis incitamenta, quae in notionibus rci _per varias qualitates tanquam suas cogitandae, et rei mutatae insunt, et quae etiam Aristotclis placitis tacite subsunt, ita abcondidtt, utpermulta saecula metaphysicam et psycho logiam, ei'us exemplum secutam, magis in verbis, fingendis quam in notionibus corrigendis patam conspü iamus.

- „So lange übrigens" statt „So lange" II, Ausg. » ,, neuerlich" statt „heute" II. Ausg.t»

u. b SW merken die Abweichungen nicht an.

2. Abschnitt. Methodenlehre. 9. Capitel. Rückblicke, und Bemerkungen etc. 537

Verehrung aller Zeiten gewifs ist, keine Veranlassung gegeben haben, wenn ihm die rechten Hülfsmittel zu Gebote gestanden hätten. Ihm fehlte sogar theilweise das, wovon wir reden; die Geschichte der Philo- sophie, die erst nach ihm, und in Folge der von ihm gegebenen Auf- regung des gesamm[409]ten philosophischen Studiums, mit Geist und Ge- schmack, und in ihrem gehörigen Umfange bearbeitet wurde. Das ist ein Hauptgrund, weshalb heutiges Tages die Rückkehr zu Kant nicht mög- lich ist. 1

Wäre in diesem Buche Metaphysik die Hauptsache gewesen: so müfsten wir allerdings auf Geschichte der Philosophie uns einlassen. Da jenes nicht der Fall war, so ist auch dies nicht nöthig; sondern es reicht hin, auf den ersten, historisch-kritischen Theil der Metaphysik zu ver- weisen, 2 worin der Verfasser für die Mehrzahl der heutigen Philosophen dasjenige niedergelegt hat, was sie am wenigsten hören wollen.

Blofse Liebhaber der Philosophie müssen gegen das Studium der Geschichte derselben eher gewarnt als dazu ermuntert werden. Sie laufen Gefahr, die Wissenschaft aus den Augen zu verlieren über den Personen, die man Philosophen nennt. Zwar wird jede gutgeschriebene Geschichte sie dagegen zu schützen suchen; aber der Eindruck von Verwirrung, welchen die Systeme machen, die als eben so viele streitende Personen auftreten, läfst sich durch keine Schreibart vermeiden. Dals die erofsen Denker der frühern Jahrhunderte schon oft sehr nahe daran waren, das Rechte zu treffen; dafs eine kleine Erinnerung, wäre sie im Augenblicke der Meditation dargeboten worden, gar vielem späterhin lang aus- gesponnenem Irrthum hätte vorbeugen können; dals überhaupt der meta- physische Irrthum mehr vielgestaltig als mannigfaltig ist, weil Metaphysik im engern Sinne (allgemeine Metaphysik) nur einen kleinen Kreis von Begriffen hat, in welchem sie alle möglichen Bewegungen versucht, bevor sie gerade aus gehen lernt: dieses, und so vieles Andre, was man wissen mufs, um zu begreifen, woran es lag, dafs auf Fortschritte wieder Rück- schritte folgten, kann man dem blofsen Liebhaber, der zum anhaltenden Studium die nöthige Mufse nicht hat, unmöglich ins gehörige Licht stellen.

Ihm ist höchst nöthig zu bemerken, dafs Philosophie nicht Geschichte ist. Wer viel umherhorcht, was Andre gesagt haben oder noch sagen,

1 Hier hat die II. Ausg. folgenden Zusatz:

Es giebt freylich der Gründe mehrere; wie dies bey einer Lehre, welcher verschiedene kritische Ansichten zu Grunde liegen, nicht ganz un- erwartet seyn kann, so sorgfältig auch ihr Mannigfaltiges veibunden ist.*

* Aufser demjenigen, was in der Metaphysik, der Psychologie, der analytischen Be- leuchtung d. N. u. d. M. an verschiedenen Stellen gesagt worden, kann noch auf den letzten Aufsatz im zweyten Hefte der psychol. Untersuchungen hingewiesen werden. Uebrigens darf hier das historisch - kritische Werk des Dr. Taute, die Religions- philosophie (erster Theil) nicht unerwähnt bleiben. Die dortige sehr strenge Kritik über die neuern Systeme möchte doch in einem mildern Lichte erscheinen, wenn man abrechnete, was Aristoteles einerseits, was Spinoza andrerseits, zu verantworten haben.

- Die folgenden Worte: „worin der Verfasser .... hören wollen." fehlen in der II. Ausg.

Herbart's Weike. IX. 2 2

Tig IL Kurze Encyklopädie der Philosophie. 183 1.

wer darauf wartet was sie wohl sagen [410] werden: der wird zwar Mancherley zu hören bekommen, aber philosophische Einsicht kann er auf diese Weise nicht erhorchen. Diese beruhet auf der Deutlichkeit der Begriffe, und auf der Arbeitsamkeit, womit man die von ihnen geforderte Bewegung des Denkens vollführt. Geschichte aber läfst sich als Auctorität für alle mögliche Meinungen gebrauchen; sie giebt der Wahrheit Licht, aber auch dem Irrthum, und läfst Denjenigen schwankend stehn, der nicht am Ende selbst zu entscheiden weifs.

Für praktische Gegenstände besitzt der praktisch gebildete Mensch hinreichendes Licht in sich selbst, um ohne lange geschichtliche Vor- bereitung eine richtige Darstellung aufzufassen und sich anzueignen. Hat er die Hauptpuncte begriffen, so hat er hiemit auch den Maafsstab, wornach er die Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit dessen was man ihm sonst noch vorträgt, für seinen individualen Gebrauch bestimmen mufs. Die Einsicht, die man bietet, mufs ihm dienen; fördert sie ihn in seinem Thun und Denken, so ist sie gut für ihn; findet sich das Gegentheil, so mufs er die Entscheidung schwieriger Puncte den geübtem Denkern an- heimstellen. •

III. BRIEFE

UEBER DIE

ANWENDUNG der PSYCHOLOGIE

AUF DIE

PAEDAGOGIK.

[Unvollendet.]

[I83I.]

[Text nach dem Msc. 2054 der Königsberger Universitätsbibliothek.]

Bereits gedruckt in:

SW = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. X), herausgegeben von G. Hartenstein . KlSch = J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. II), herausgegeben von G. Hartenstein. R = J. F. Herbart's Pädagogische Schriften (Bd. II), herausgegeben von Karl Richter. W. = J. F. Herbart's Pädagogische Schriften (Bd. II), herausgegeben von Otto Willmann.

22*

I.

Zu lange nach so vieljähriger Erfahrung, mein theurer Freund! schieben Sie es auf, die Ergebnisse Ihres pädagogischen Denkens und Beobachtern zu sammeln, und öffentlich mitzutheilen. Fürchten Sie etwa kein Gehör zu finden? Vergessen Sie diese fast allgemeine Gefahr, und richten Sie Ihren Blick auf das Zeitalter, das so wenig weife, was es will ! Schon Ihr ruhiger und gehaltener Ton ist wohl geeignet, wenigstens hie und da Ueberlegung zu veranlassen, wo Vorurtheile mit einander streiten. Und da wir in Grundsätzen übereinstimmen, so erlauben Sie mir die Hoffnung, dafs auch Ihre Erfahrungen mir nicht widerstreben. Vielleicht steht es in Ihrer Hand, mir schätzbare Belege und Erläuterungen zu demjenigen herbeyzuschaffen, was ich, nach meiner Gewohnheit, in all- gemeinen Begriffen hinstellen werde.

Nicht blofs aber um Sie zu mahnen, schreibe ich diese Briefe. Auch mir liegt etwas im Sinne, das ich eine alte Schuld nennen würde, wenn es mehr wäre, als ein Versprechen, das ich vor vielen Jahren mir selbst gegeben habe. Sie kennen meine allgemeine Pädagogik. Sie wissen, das Buch blieb unvollständig, weil es, wie der Titel besagt, zwar aus dem Zwecke der Erziehung abgeleitet wurde, aber der Psychologie ermangelte, die ich damals erst suchte. Seitdem haben wir über und wider meine Psychologie so mancherley gelesen, dafs, wenn sie noch nicht davon ge- storben ist, sie billig ein Lebenszeichen von sich geben sollte; wäre es auch nur, damit nicht Personen, die viel jünger sind als wir beyden, x uns alte praktische Pädagogen in die Schule ihrer empirischen Psychologien nehmen mögen. Aber in meinen Jahren liebt man die Bequemlichkeit. Nun errathen Sie wohl das Uebrige. Briefe an Sie zu schreiben, ist mir sehr bequem ; auch kann es vollkommen hinreichen, nicht blofs, um der Psvcholosie einige Nachträge zu liefein, sondern auch um so eine un- eigentliche Schuld, wie jene pädagogische, zu tilgen.

Ein System in Briefen wäre fast so lächerlich als ein System in Versen, jedoch ganz ohne systematischen Apparat möchten Sie vielleicht mich auch nicht gern kommen sehen; denn formlos über Pädagogik zu plaudern, ist oder scheint wenigstens gar zu leicht, als dafs ich Ihnen so etwas anbieten dürfte. Je mehr die Erziehung im Kreise der täglichen Erfahrung sich als etwas Alltägliches darstellt, desto nöthiger ists, das Nachdenken darüber in eine bestimmte Ordnung zu bringen, und es daran zu binden, damit es nicht im Strome der Meinungen sich verliere. Frey- lich verhielte es sich ganz anders, wenn meine Absicht auf irgend welche sogenannte Methoden, und auf2 deren Empfehlung im Publicum gerichtet wäre. Dann aber schriebe ich nicht Briefe an Sie.

1 „Beide" SW. „auf" fehlt SW.

s42 HI. Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

Lassen Sie uns sogleich beginnen mit einer Abstraction, die keinen andern Werth hat, als nur den, einen Begriff deutlich zu machen, und eine Untersuchung vorzuzeichnen.

Durch die Zweckbegriffe des Erziehers ist die Pädagogik an die praktische Philosophie geknüpft. Durch die Erwägung der Mittel und Hindernisse wird sie hingewiesen auf Psychologie. Jene erste Anknüpfung nun werden Sie nicht mehr verlangen; was zu solchem Behuf e an meinen früheren Schriften etwa den Worten nach zu ändern wäre, das wird sich Ihnen bey der mindesten Aufmerksamkeit von selbst darbieten. Aber das Psychologische der Pädagogik ist so schwierig und so bunt, dafs wir wohl thun werden, uns fürs erste einmal mit dem blofsen Allgemeinbegriff desselben zu beschäfftigen, und ihn ganz nackt auszuziehen, selbst un- bekümmert darum, welche Misgestalt uns zu Gesicht kommen möge.

Denken Sie Sich einen grauen Diplomaten, dessen steinernes Antlitz keinen Zug von Theilnahme für das Wohl und Wehe verräth, um welches er wie ein Wahrsager befragt wird. Er merkt, woher der Wind kommt; und dieht seine Fahne darnach. Hierin 1 finde ich ein Bild für die blofs psychologische Pädagogik. Sie durchschaut die Möglichkeit, dafs ein heranwachsender Mensch unter Umständen ein solcher oder ein anderer werde. Dem schlechten wie dem guten Erzieher weifs sie zu sagen, was er wirke; jedem ist sie brauchbar für beliebige Zwecke; nach ihrer An- leitung kann der eine bessern, der andere verderben. Giebt es denn eine solche blofs psychologische Pädagogik? Wäre sie wenigstens zu wünschen? Vielleicht; nämlich um schlechten Erziehern den Spiegel vor- zuhalten. Und wenn wir sie besäfsen: was könnte uns hindern, sie für edle Zwecke um Rath anzusprechen? Wir besitzen sie nun freylich nicht vollständig; eben so wenig als eine solche Philosophie der Geschichte, wie etwa die neu-spinozistischen Schulen gern hätten, welche meinen, die notwendigen Umgestaltungen des Weltgeistes aufzählen und in den Er- eignissen nachweisen zu können. Doch wollen wir einmal überlegen, welche Form wohl, falls uns eine solche Wissenschaft als ein zusammen- hängendes Ganzes zu Theil würde, an ihr zu bemerken seyn möchte.

Wo irgend wir ein Wirkendes gegenüber einem Leidenden erblicken, da erscheint uns eine zwiefache mannigfaltige Möglichkeit dessen, was wohl das Leidende aus sich machen lassen könnte, und was durch das Wirkende geschehen möchte; leichter oder schwerer, je nachdem zum Leidenden besser das Wirkende pafste, oder zum Wirkenden besser das Leidende taugte. Nähere Bestimmungen kommen hinzu, wenn ein Drittes jene beyden in Verbindung setzt, und dadurch aus beyden Möglichkeiten eine wirkliche Begebenheit hervorhebt. Sie errathen schon, dafs ich an die Bildsamkeit des Zöglings dachte, ferner an die Hülfs- mittel der Bildung, die wir anzuwenden pflegen, und drittens an die Veranstaltungen der öffentlichen oder Privat-Erziehung , wodurch die Bildungsmittel in Wirksamkeit treten. Es ist sichtbar, dafs eine psycho- logische Pädagogik zuerst die mannigfaltige Bildsamkeit der Zöglinge, owohl die Natur-Anlagen als die auf jeder Altersstufe erworbenen Fähig-

1 „Hier1 statt „Hierin" SW.

2- Brief- 343

keiten des Weiterkommens, erwägen würde; dals sie alsdann von Büchern und Apparaten, von Ermunterungen und Zwangsmittel zu reden hätte, um diesen gewisse ideale Zöglinge gegenüber zu beschreiben, wie sie beschaffen seyn müfsten, wenn aus jedem Bildungsmittel die ihm eigen- thümliche Wirkung in voller Stärke hervorgehn sollte; und dafs endlich von Schulen, Seminarien u. d. gl. die Rede seyn müfste.

Aber Sie, mein geschmackvoller1 Freund! lächeln Sie etwa schon über das Svstem in Briefen, was wie eine graue Regenwolke heran- gezogen kommt? Greifen Sie nicht zu eilig nach einem Schirm! Eine Abtheilung habe ich Ihnen vorgeschlagen; aber eine Abhandlung habe ich nicht versprochen. Sie werden schon sehen, wie eigennützig ich meine Bequemlichkeit ins Auge gefafst habe, da ich die zwanglose Briefform wählte.

Wenn wir zurückschauen in jene Zeit, da wir zuerst mit einander die allgemeine Pädagogik durchdachten, noch ehe Sie in die Schweiz gingen, so finden wir im Vergleich gegen jetzt, weniger verändert, als man nach Verlauf eines Viertel-Jahrhunderts erwarten könnte. Niemeyers Grundsätze der Erziehung galten schon damals; sie waren allgemein ver- breitet, und wurden wohl sorgfältiger befolgt als jetzt, nachdem Deutsch- land so vielfach ist aufgerüttelt und verjüngt worden. Schwarz fing an zu wirken; Jean Paul folgte bald. Vom erziehenden Unterricht habe ich, glaube ich, zuerst angefangen zu reden. Sie werden Sich erinnern, dafs wir gerade darauf das meiste Gewicht legten, der Unterricht werde zu sehr als das zivcyte bey der Erziehung betrachtet; er sey es gleich- wohl, der am meisten dauerhaft wirke, weil erworbene Kenntnisse bleiben, während Gewohnheit und Sitte sich ändern.

Das Wort: erziehender Unterricht, ist mir späterhin aus dem Munde genommen, und sehr gegen meine Absicht gebraucht worden. Indessen liegt am Worte nicht viel, wenn nur die Sache zur Wirklichkeit kommt. Ob nun der heutige Unterricht den Namen des erziehenden durchgehends verdiene? An Vollständigkeit wenigstens hat er gewonnen. Jene Halb- heit der philologischen Bildung, welche das Griechische neben dem Latein vernachlässigte, ist zwar noch nicht verschwunden, doch sehr gemildert. Die Mathematik hat weit mehr Raum erlangt, und schwerlich wird heute noch vorkommen, was mir damals, während ich die Klassenzimmer eines berühmten Gymnasiums durchging, begegnete, an der schwarzen Tafel nämlich stand eine höchst einfache Gleichung des ersten Grades an- geschrieben, und auf die Frage; das ist wohl Tertia? bekam ich zur Antwort, nein, es ist Prima. Die Thätigkeit der Gymnasien ist un- gemein erhöhet; vornehme Familien haben sich darin ergeben, dafs ihre Söhne sich anstrengen müssen, wenn sie zur Universität reifen sollen.

Die Pestalozzischen Unternehmungen, worauf in unserer frühern Zeit Aller Augen gerichtet waren, kennen Sie genauer als ich. Sie mögen beurtheilen, ob die Sache so werthlos war, wie man dieselbe seitdem dar-

1 „geschmackvoller" fehlt SW. Im Original ist das Wort mit Bleistift durch- strichen (wahrscheinlich von Hartenstein), während sonst Ausstreichungen und Ver- änderungen mit Tinte angebracht sind. Anm. d. Herausg.

344 II1- B"efe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (183 1).

gestellt hat. Wenigstens schäme ich mich noch heute nicht meiner An- schauungs-Übungen, deren Idee mir Pestalozzi darbot; vielmehr sind sie bey mir noch jetzt im Gebrauch. Freylich mufs Alles, was mit Ueber- spannung und Schwärmerey verkündigt und betrieben wird, nothwendig sinken; es hat seine Wirkung gethan, nachdem es die Schlaffheit und Trägheit, welcher es zuerst entgegentrat, in Thätigkeit und Sorgfalt um- gewandelt hat. Könnten wir nur von den philosophischen Schulen jener Zeit eben so rühmlich sprechen! Sähen wir nur hier nicht Schlaffheit als Folge der Ueberspannung ! und theilweise eine Fieberhitze, die zur Auf- lösung führt!

Von der Pädagogik dürfen wir, meines Erachtens, die günstige An- sicht fassen, dafs sie seit Locke in beständigem Fortschreiten, wenn auch nicht auf ganz geradem Wege, begriffen ist. Vieles bleibt freylich zu wünschen; ja, vieles mufs sich ändern nach Zeit und Umständen. Schriebe Niemeyer erst heute : er würde aus einem ganz andern Erfahrumrskreise schöpfen, als aus dem, welcher seinem berühmten Werke zum Grunde liegt. Gleichwohl würden die Grund-Gedanken die nämlichen seyn; sie würden nur für die Anwendung neue Bestimmungen aufnehmen. Die Pädagogik ändert sich langsam; sie folgt niemals blofs der Speculation; auch niemals blofs der Erfahrung; wohl aber empfängt sie Wirkungen von beyden Seiten, die sich gegenseitig mildern und berichtigen.

Ob Sie, mein theurer Freund ! wohl den Kopf schütteln, während Sie lesen was ich soeben schrieb? Wahrlich, ich möchte es wissen, doch weifs ich es nicht genau. Ueber das, was sich in der Zeit verändert hat, pflegen immer die Ansichten etwas Ungleiches zu haben. Soviel, denke ich, werden sie mir einräumen: der heutige Unterricht, besonders auf den Gymnasien, hat eine Fülle und einen Glanz, den unsere Jugendzeit nicht kannte; und es könnte uns wohl die Lust anwandeln, noch einmal wieder jung zu werden, um den Gymnasial- Cursus so vollständig zu machen, wie man ihn jetzt den empfänglichen Köpfen darbietet. Ohne Zweifel empfinden auch die heutigen Lehrer, wie sehr sie geschätzt werden, und so kann sich Lust und Liebe zum Werke weit länger halten als ehemals. Die Lehrer bleiben länger brauchbar; und Reife des Alters, der Erfahrung, des Urtheils verbindet sich besser mit der mehr geschonten Fähigkeit, davon die praktische Anwendung zu machen. Gewifs ein grofser Vortheil gegen die frühere Zeit, die natürlich den schlechter gestellten und weit minder geachteten Lehrer auch viel früher abnutzte, während sie ihn dennoch fortdauernd nutzen wollte, wenn er zu nichts Anderem zu gebrauchen war.

Käme uns nun noch einmal der Jugendtraum, durch Verbesserung des Unterrichts etwas Bedeutendes wirken zu wollen: würden wir auch dann noch so sehr, wie ehemals, darauf dringen, man solle dem Griechischen neben dem Latein, der Mathematik neben den Sprachen, einen breiteren Platz anweisen? Fast glaube ich, die herrschende Richtung unsrer pädagogischen Wünsche würde nunmehr eine andre seyn, eben deshalb, weil ein grofser Theil dessen, was wir ehemals wünschten, erfüllt ist, wenn auch in mancher Hinsicht freylich anders, als wir es nach unsrer Ansicht hätten ordnen mögen.

2. Brief.

345

Aber still vom Wünschen; wenigstens für jetzt! Es liegt uns näher, zu überlegen, was als wahrscheinlicher Erfolg zu erwarten sey.

Als die neuern Erweiterungen des Unterrichts vor nunmehr zwanzig Jahren in Gang gesetzt wurden, da äufserte ein grofser Theil des Publi- cums seine Unzufriedenheit mit der Last, welche man der Jugend auflege; und mit den schwerern 1 Bedingungen, an die jetzt das Eintreten in Staats- Aemter geknüpft werde. Etwas später fand sichs, dafs die Last noch er- träglich, und für gute Köpfe der Gewinn bedeutend sey. Nun wuchs der Muth; die Eltern legten mehr und mehr Werth auf den Unterricht der Gymnasien. Sie selbst, das wufsten sie, waren weit mangelhafter unterrichtet worden; desto mehr schätzten sie das Geschenk, was ihren Kindern sich darbot. Es ist aber nicht schwer in eine Zukunft zu schauen, welche nothwendig das Verhältnifs der Schulen zum Publicum etwas verändern mufs. Die Zeit wird bald kommen, wo Diejenigen in reifen Jahren stehen, denen die Schulen ihre Gelehrsamkeit nach Kräften beygebracht haben. Alsdann werden die Eltern zufrieden seyn müssen, wenn ihre Kinder eben so viel lernen, als sie selbst gelernt haben; denn das Quantum des Unterrichts läfst sich nicht mehr steigern. Mit der Rührung, die jetzt wohl oftmals ein Vater empfindet, indem er sieht, wieviel weiter sein Sohn es bringt als er selbst, wird es alsdann so ziemlich vorbey sevn. Dagegen wird eine andre, schon längst nicht un- erhörte Sprache öfter sich erneuern; nämlich die Trostrede erfahrner Väter, die ihren Söhnen versprechen, ihre Jugendfreuden sollen nicht so arg verdorben werden durch das Unnütze, womit man ehedem gequält sey, ohne im spätem Leben auf die Frage: cui bono? irgend eine ge- nügende Antwort erlangt zu haben. So nämlich werden diejenigen sprechen, an welche der jetzige gelehrte Gymnasial-Unterricht gebracht wird, ohne mit ihren natürlichen Fähigkeiten in das rechte Verhältnifs treten zu können; denen die Bahn zu Staatsämtern durch tüchtigere Mit-Bewerber, bey der heutigen grofsen Concurrenz zu spät geöffnet, wo nicht ganz ver- schlossen wurde, und welche dann hintennach dem Landleben, dem Militär, den Gewerben höherer oder niedrigerer Art sich gewidmet haben. Sollte ich mich darin irren? Liefert uns nicht die Mehrzahl der Abiturienten prüfungen neben vielem sehr Erfreulichem auch eine und die andre traurige Probe, wie schwer es den Gymnasien wird, solche Sub- jecte wieder los zu werden, welche nicht aufzunehmen besser gewesen wäre, als sich mit ihnen zu plagen? Wenn Leute der Art einigen praktischen Verstand haben, so werden sie sich hüten, ihre Kinder der nämlichen Gefahr, der sie unterlagen, ohne gehörige Prüfung dessen was die Natur verlangt und zurückweiset, blofs zu stellen. Die Gymnasien werden ihre Verehrer zwar behalten; aber nur solche, denen sie nützlich wurden; und die Verehrung wird sich etwas abgekühlt haben; denn Leistungen, die jetzt noch Bewunderung erregen, werden mehr und mehr in den Kreis des Gewöhnlichen eintreten.

Sie, mein Freund! waren damals dem PESTALOZZischen Strom und

1 „schweren" SW

2^6 HI- Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (183 1).

Strudel nahe, als das heutige Gymnasial- Wesen sich vorbereitete; aber Sie dürfen nur einen Blick werfen in Fichtes Reden an die deutsche Nation, um Sich zu vergegenwärtigen, was Sie vielleicht nicht bestimmt genug Selbst beobachten konnten. Es gab eine Zeit, da das Geschlecht der Männer von reifem Alter an sich selbst beynahe verzweifelte. Die Hoft- nung richtete sich auf die Jugend, aber auf eine in Deutschland noch vermifste National-Jugend! Dafs Hauslehrer nicht taugten, eine solche zu bilden, lag am Tage. Möchten sie weit tüchtiger seyn, als sie gewöhnlich sind, dennoch sind sie im besten Falle die Gehülfen des Familiengeistes; und statt der Vereinzelung in Häusern und Familien wollte man allgemeine Aufregung gegen den Napoleonischen Despotismus. Darum wurde die Untüchtigkeit der Hauslehrer so stark als möglich an- geschuldigt; und die öffentliche Schule dagegen empor gehoben.

3-

Zwar nicht Sie, aber mancher Andre hat mir verblümt oder deutlich gesagt, dafs ich mich um meine Gegner zu wenig bekümmere. Für dies Vergehen einmal Bufse zu thun, dazu kann ich mich wohl bequemen. Demnach, um die Gelegenheit wahrzunehmen, will ich einen Momus zu meinem vorigen Briefe hinzudenken; der mein gänzliches Ungeschick ver- spotte. Denn thörichter lasse sich nichts denken, als eine Pädagogik so anzukündigen: sie sey nicht Staats-Pädagogik. In unsern Zeiten, wo vom Staatsleben alle Köpfe voll sind, verstehe sichs von selbst, dafs Niemand erziehe und Erziehung fördere, aufser gerade nur um dem Staate, oder doch irgend einer Parthey in ihm zu dienen. Momus wird auch leicht einen Thrasymachus gegen mich aufbieten, der mir etwa folgende Dialektik entgegenstelle:

Das Recht ist der Vortheil des Stärkeren.

Nun ist der Staat weit stärker als die Familie.

Also ist das Recht mehr der Vortheil des Staates als der Familie.

Nun braucht man nur dem Rechte noch die rechte Erziehung zu subsumiren, so ist der Schlufs fertig:

Die rechte Erziehung ist zveit mehr der Vortheil des Staats als der Familie. Folglich mufs sie hierauf eingerichtet werden ; sonst ist sie nicht die rechte.

Solche tolle Logik ist immer noch nicht zu schlecht für den grofsen Haufen derer, die nur die Stärke bewundern, lieben, ehren, anpreisen : und die, nachdem zuerst ihr Urtheil 1- verdorben war, nun klüglich dem Starken sich anschliefsen, und dabey eben so schwer zum Erröthen zu bringen sind, als jener Platonische Thrasymachus; eine Figur, die man auch in Deutschland oft genug unverschleiert zu sehen bekommen wird, wenn das heillose Kunststück gelingt, die politischen Leidenschaften in Harnisch zu bringen. Oder wie weit ist noch von der Bewunderung Napoleons bis zu der Annahme des Satzes: das Recht sey der Vortheil des Stärkeren ? Der Glanz der Macht, der Prunk des Sieges gegenüber

' „Ursprung" statt „Urtheil" SV.

3- B"ef. 347

dem Elende des Besiegten dies Schauspiel verrückt die Köpfe bis zur schaamlosen Behauptung des rechtswidrigsten Unsinns.

Es braucht aber noch lange nicht bis dahin zu kommen, um dem zweydeutigem Satze : die rechte Erziehung ist der Vortheil des Staats, Beyfall zu verschaffen. Denn zuvörderst, dafs es dem Staate vortheilhafter sey, wenn in ihm gut erzogene Bürger leben, als wenn schlecht erzogene, daran zweifelt Niemand. In unserm Zeitalter der Verwechselungen und Paralo<rismen aber stehen die beiden Sätze:

Dem Staate bringt die richtige Erziehung Vortheil, und :

Die Erziehung ist um desto richtiger, je mehr Vortheil sie dem Staate

bringt, einander viel zu nahe, als dafs nicht der eine wahre mit dem an- deren falschen, in den Köpfen der Menschen wie sie sind, häufig genug zusammenfliefsen sollte. Wer hat denn Schulen eingerichtet? Der Staat? Für wen hat er sie eingerichtet? Für sich. Wer benutzt aber die Schulen? Die Familien. Also fällt hier der Nutzen der Familien der- gestalt in den Zweck des Staats hinein, wie etwa bey dem Postwesen. Denn zuerst soll die Post den Behörden ihre Dienste leisten; alsdann aber wird auch dem Publicum angeboten, sowohl die Bequemlichkeiten als die Kosten der Anstalt zu theilen.

Wer ist denn der Staat? Zwischen der berühmten Antwort: l'etat c'est moi, und dem andern Extrem, der Staat sey ein Verein aller Familien, liegt mancherley Schwankendes in der Mitte. Das aber giebt sehr be- stimmt die tägliche Erfahrung, dafs Staatswohl und Familienwohl, Staats- geschäfte und Familiengeschäfte, Begeisterung für den Staat und Sorge um die Familie, ganz verschiedene Dinge sind. An den Vortheilen des Staats haben Einige mehr Antheil, Andere minder; und in diesem Mehr und Minder herrscht ein beständiger Wechsel, den keine Staatskunst, wenn sie schon wollte, zur Gleichförmigkeit bringen kann.

Allerdings ist der Staat ein Verein aller Familien; aber nicht un- mittelbar; sondern so, dafs die Familien erst nach Ständen und Lebens- Arten, nach Vermögen, Ansprüchen, Bedürfnissen, in verschiedene Klassen zerfallen, und solchergestalt Klassenweise dem Ganzen angehören. Die eine Klasse soll nach der Absicht des Staates lernen was zum Gewerbe, die andre was zur Landes-Vertheidigung, eine dritte, was zum Beamten- stande, eine vierte, was zur Cultur der Wissenschaften und Künste ge- hört. Nach solchen Gesichtspuncten werden verschiedene Schulen ge- stiftet. Aber die Verschiedenheit der Individuen liegt tiefer, als dafs sie nach diesen Betrachtungen blofser Tauglichkeit könnte richtig aufgefafst werden; und wenn die Väter durch die Sorge für das Fortkommen ihrer Söhne sich verleiten lassen, hiernach die Anlagen der Ihrigen zu be- urtheilen, so mufs die Pädagogik sie vollständiger belehren. Sie kann sie zuvörderst erinnern, dafs der Staat sich um den minder Tauglichen auch minder bekümmert. Seine Schulen sollen ihm die Subjecte liefern, die er braucht. Er wählt die Brauchbarsten; die Uebrigen mögen für sich sorgen !

Jedoch angenommen, der Staat sey so grofsmüthig, auch von seinen Bedürfnissen abgesehen sich um die Bildung der Einzelnen verdient zu

■5/1 8 EX Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (183 1).

machen, damit Jeder werde was er werden kann: so geht es dennoch, wie bey Wohlthätigkeits- Vereinen. Man bringt die Hülfe dort an, wo sie am wirksamsten ist. Man verlangt, dafs Jeder sich selbst helfe, so weit er kann.

Sollen die Schulen für das Bedürfnifs der Familien Hülfe schaffen, so müssen diese dafür sorgen, dafs die dargebotene Hülfe den rechten Punct treffe. Dem sehr beschäfftigten oder zu nachsichtigen Vater kommt die Strenge der Schuldisciplin wohl zu Statten bey starken, aber nicht bey schwachen und zarten Naturen; sie nützt, wenn Aufsicht in Neben- stunden, in Ferien und an Feyertagen nicht fehlt; sie wirkt schief, wenn ein junger Mensch Auswege findet, und sich wegen des erlittenen Zwanges schadlos zu halten weifs. Der trägere Schüler gewinnt an Munterkeit, Fleifs und Ordnung durch das Beyspiel der Mitschüler, wenn er fähig und willig ist, aufgegebene Arbeit zu machen, aber nicht, wenn ihm der Unter- richt zu rasch, oder zu mannigfaltig ist; auch nicht, wenn Lust und Talent ihn schneller nach andern Richtungen treibt. Einseitigkeit wird im öffent- lichen Unterricht beschämt, aber nicht immer geheilt; es ist oftmals un- vermeidlich, ihr nachzugeben, um doch Etwas zu erreichen; und das fodert besondere Lehrstunden. Mittelmäfsige Köpfe treiben lange Zeit mechanisch fort, was man von ihnen verlangt; sie werden gelobt, er- freuen sich der schönen Zeugnisse, wissen aber den gesammelten Vor- rath nicht zu brauchen, und verlieren ihn sobald sie dürfen. Nicht ge- ringe Täuschung haftet an der Summe des Wissens, die jährlich von den Schulen ausgeht; nicht wenig davon verfliegt schon in den Universitäts- Jahren wie leere Spreu. Die Lehrer an öffentlichen Anstalten erwerben sich eine grofse Summe von Beobachtungen der mannigfaltigsten Schüler; aber nur von der Oberfläche, die sich in der Schule zeigt; und nur in Beziehung auf Disciplin und Lernen; mit seltener Ausnahme solcher Schüler, die ihr Inneres willig öffnen. So sieht ein Historiker die Menschen in Bezug auf die Begebenheiten; er sieht wohl Massen und deren Be- wegungen; was keine historische Folgen hat, das sieht er nicht, und mag es nicht beachten. Menschenkenntnifs erwerben auch die Schüler, die einander nahe stehen; besser wäre für Manchen, er bliebe in diesem Puncte noch lange unwissend. Einen geselligen Geist erzeugen sie unter sich; einige lernen gehorchen, wo sie nicht sollten, andere herrschen, wo es ihnen nicht gebührt. Starke Muskeln schaffen dem Einen, dreistes Auftreten schafft dem Andern die Herrschaft; der schlaue Knabe weifs andere vorzuschieben, damit sie seine Anschläge ausführen; und alle zu- sammen halten auf Ehrenpuncte, auf Heimlichkeit und gegenseitige Hülfe in Verlegenheiten. Je gröfser eine solche Knaben-Gesellschaft, um desto strenger mufs sie beherrscht und beargwöhnt werden; aber je mehr Aehn- lichkeit mit despotischen Maafsregeln, desto mehr verborgener Ingrimm; und desto mehr Neigung und Hoffnung, dereinst selbst despotisiren zu können. Glaubt man, solchen Uebeln zuvorkommen oder abhelfen sey leicht, wenn die Einwirkung des Familiengeistes verschmäht ist?

Sie, mein Freund! werden das sicher nicht glauben; denn Sie be- sitzen pädagogische Erfahrung. Aber was Fichte träumend von seiner neuen Erziehung, „deren Zöglinge, abgesondert von der schon erwachsenen

3- Brief. 349

Gemeinheit, dennoch unter einander selbst in Gemeinschaft leben, und so ein abgesondertes und für sich selbst bestehendes Gemeinwesen bilden sollen"* im Jahre 1808 vortrug, das verdiente wohl noch heute eine schärfere Kritik, als es mit Rücksicht auf die Zeit, da er so sprach, scheint gefunden zu haben. Ehrwürdig war der Mann, der im gefahr- vollen Augenblick den Muth hatte, irgend einen Vorschlag zur Rettung der Nation laut und nachdrücklich zur Sprache zu bringen. Aber ein Vorschlag, der in der bedenklichsten Lage mit aller Würde des feyer- lichsten Ernstes einer ganzen Nation ans Herz gelegt wurde, hätte nicht der Ueberlegung ermangeln sollen. Ueberlegt nun war hier keinesweges das Unheil, was der rohe psychische Mechanismus in jedem grofsen Haufen von Knaben wie von l Männern anrichtet, die ohne die mildernde Einwirkung des Familiengeistes ihre Kräfte an einander messen, bis Einige unterliegen, Andre sich behaupten, und die Meisten sich fügen. Solcher Kampf trägt nicht die mindeste Bürgschaft in sich, dafs etwa das Bessere siegen würde. Bey den zusammengehäuften, abgesondert lebenden Knaben hätten sich von vorn an alle bösen Gesinnungen der Barbarey daraus erzeugen müssen; und selbst nachdem barbarische Strenge des männ- lichen Zwanges dazwischen gefahren wäre, hätten sich die Gesinnungen nur versteckt, ohne gebessert zu seyn. Bewaffnete Banden für den Ge- birgskrieg, geschickt in Schluchten und Wäldern zu kämpfen, hätten auf die Art heranwachsen können; gefährlich zuerst dem Feinde, dann dem eignen Lande. Die Nation brauchte ganz andre Retter; und sie hat sie gefunden. Aber eine Vorliebe für die Schulen ist geblieben; als ob Reibung vieler Schüler an einander keine Gefahr, ja Heil brächte; als ob die Witzigung, welche daraus entsteht, schon Besserung, als ob die Ver- brüderung, die daraus erwächst, frey vom Partheygeiste, als ob der Unterricht schon Erziehung, die Disciplin schon Charakterbildung, als ob überhaupt die Jugendbildung ein Geschafft wäre, das im Grofsen, wie Fabriken durch Maschinenwerk, ohne Berücksichtigung der Individuen, mit Vortheil könnte betrieben werden. Hüten wir uns, diese Ansicht zu begünstigen; sonst möchten wir zwar die Schwärmer für uns, aber die erfahrnen Männer wider uns haben, besonders solche, deren sittliche Be- griffe zur gehörigen Läuterung gelangt sind.

Ein ruhmwürdiges Bestreben und Wirken! aber es trug die Farbe einer verflossenen Zeit.

Scheint es vielleicht, als ob ich den Hauslehrern ihre goldene Zeit zurückwünschte? Gewifs wenigstens nicht auf Kosten der Schulen. Aber das wissen Sie, dafs ich in Sachen der Erziehung jedes Niederdrücken des Familiengeistes als höchst tadelnswerth betrachte; und dies gerade ist der Punct, für welchen in Ihnen jetzt eine etwas verlängerte Aufmerksam- keit abgewinnen möchte. Der gelehrte Eifer, die erhöhete Besoldung, die vermehrte Achtung des Lehrstandes, die Prüfungsgesetze, die patriotischen

* Reden an die deutsche Nation, S. 76 und an vielen Stellen.

1 „xmäu statt „wie von" SW.

350 HI- Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

Antriebe, die Eröffnung der Aussichten auf mancherley Beförderung von Seiten des Staats: das Alles mag zusammenwirkend die Jugend mittel- bar und unmittelbar in Bewegung setzen : es ergiebt etwas Anderes als Erziehung, wenn der Familiengeist entweder gar nicht, oder in einer davon verschiedenen Richtung wirkt. Es giebt Verbrüderung der Mitschüler, oder deren Gegentheile, theils Unterordnung des Schwächern unter den Stärkeren, theils Spannung unter denen, die gleiche Ansprüche machen. Ohne Zweifel kann man der Aristokratie der besten Köpfe, und der noth- wendigen Bescheidenheit aller Andern, welche ihre natürlichen Gränzen frühzeitig kennen lernten, mancherley Lobreden halten: aber das sind politische Lobreden; keine pädagogischen. Der Erzieher vergleicht seinen Zögling nicht mit Anderen; er vergleicht ihn mit sich selbst; er vergleicht das, was der junge Mensch wird, mit dem, was derselbe vermuthlich werden konnte. Er ist mit keinem zufrieden, der hinter sich selbst zurück- bleibt; und mit keinem unzufrieden, welcher soviel wird als man ver- muthlich von ihm erwarten durfte. Wo soll nun der Antrieb liefen, der den Menschen aus sich heraus nach seinem eignen Maafse entwickelt? Jeder hängt 'an den Seinigen zuerst und am entschiedensten. Was aber macht man mit solchen Zöglingen, die als Waisen oder durch ein anderes Unglück dahin kamen, nicht zu wissen, wem sie angehören? Wie schwankend hier die Erziehung wird, das, mein theurer Freund, kann sich Ihrer Erfahrung ebensowenig entzogen haben als der meinigen. Doch genug für den Augenblick, wenn Sie darüber mit mir nicht unzufrieden sind, dafs ich von Familienverhältnissen zu reden, im Gegensatze gegen jede offen oder versteckt politisirende Pädagogik, gleich Anfangs weit passender und nöthiger glaubte, als eine Berufung auf Principien der praktischen Philosophie und der Psychologie. Das Systematische, woran wir uns ge- wöhnt haben, wird uns noch früh genug beschleichen ; wenigstens steht es zu unserm Gebrauche bereit; und auch ungebraucht dient es zur Stütze meiner Hoffnung, dafs ich eine fragmentarische Arbeit bey Ihnen zur Sichtung und gefälligen Benutzung und Förderung ohne Umstände nieder- legen dürfe.

4-

Schon oftmals, mein theurer Freund! bemerkte ich mit Verwunderung, wie schnell und wie bestimmt die Zöglinge während der Ferienreisen durch kurzen Aufenthalt bey den Ihrigen sich einen merklichen Zuwachs an Familien-Aehnlichkeit aneigneten. Wäre die Fortdauer des Besondern in Sitte, Sprache, Interesse, so wie es sich in manchen Häusern kenntlich vestsetzt, einerley mit jenem Familiengeiste, welchem ich das Uebergewicht über dem Staatsgeiste in der Erziehung wünsche: dann brauchte man nicht mehr zu wünschen was sich von selbst macht. Oder ginge auch nur die Anhänglichkeit eines Jeden an den Seinigen gleichen Schritt mit der Familien-Aehnlichkeit: so wäre diese letztere darum schon eines Wunsches werth, weil das Streben des Sohnes, seinen Eltern zur Freude zu leben, gewifs der haltbarste Mittelpunkt ist, um welchen man bey ihm die sittlichen Antriebe sammeln und gleichsam verdichten kann.

Allein weder Sie noch mich will ich mit Erörterungen hierüber lang-

4- Brief- 351

weilen. Lassen wir überhaupt für jetzt die frommen Wünsche! Wir Beyde mufsten ja lernen die Dinge zu nehmen wie sie sind; und wenn die Frage: warum sie so seyen, auch nur unsre Contemplation beschäfftigt, so kann uns wenigstens daraus eine angenehmere Unterhaltung erwachsen, als aus der Betrachtung dessen was anders seyn sollte, und was wir doch nicht ändern können.

Die Familien- Aehnlichkeit erinnert mich an das Individuale der mancherley Gestalten, die sich in die Form eines allgemeinen Erziehungs- plans niemals fügen wollen; also auch an die Mannigfaltigkeit päda- gogischer Erfahrung, die wir machen, indem wir bey unserm Thun die Zurückwirkung eines Jeden nach seiner Art erdulden müssen. Das Angeborne ist ein Erbstück, das Angewöhnte der frühesten Jahre ist häusliche Mitgift; entschuldigen Sie mit dieser Analogie, wenn es nöthig scheint, den Gedankensprung, welchen ich zu machen im Begriff stehe.

Warum wirkt einerley Erziehung so verschieden auf Verschiedene? Worin liegt das Eigne, was sich uns meistens unabänderlich entgegenstellt?

Es bedarf keiner materialistischen Physiologie, um uns zu erinnern, dafs körperliche Verschiedenheiten sich in den geistigen Aeufserungen spiegeln müssen, und es wird Sie nicht verdriefsen, wenn ich Sie ersuche, selbst über die Physiologie hinaus ein Blick in die Medicin zu werfen, damit uns nicht blofs das Allgemeine der Verbindung zwischen Seele und Leib, (dies Allgemeine ist nicht der Gegenstand unsrer Frage,) sondern die Grundzüge der möglichen Verschiedenheit zu Gesicht kommen mögen. Helfen Sie mir schöpfen aus den höchst geistreichen Schriften meines verehrten Collegen Sachs; von welchem aufser den kleineren, zwey grofse

leider noch nicht vollendete Werke vor mir liegen.* Indem ich Sie dazu einlade bitte ich Sie zuweilen in meine Ihnen wohl bekannte Natur- philosophie** zurückzublicken, damit aber die Verknüpfung mit unserm jetzigen Zwecke besser einleuchte, erlauben Sie mir eine kurze Vor- erinnerung.

Die Namen: Sensibilität, Irritabilität, Vegetation, sind bekannt. Kann daran eine medicinische Zusammenstellung der Krankheiten sich knüpfen, so dürfen wir erwarten, es werde selbst innerhalb des Zustandes der Gesundheit ähnliche Abweichungen von der allgemeinen Norm geben, deren entferntere Folgen dem Erzieher als Hindernisse seines Thuns fühlbar werden, und die ihn desto mehr befremden, je weniger ihm die Begriffe zu Gebote stehen, auf die er sie zurückführen müfste, um sie zu begreifen. Zwar wissen Sie, dafs es mir nicht einfallen kann, Psychologie in Physiologie zu verwandeln; aber wo uns der wirkliche, ganze Mensch entgegen kommt, haben wir da ein reines Ergebnifs der Psychologie? Gewifs nicht; sondern wir sehen geistige Thätigkeiten beschränkt und ge- fördert durch stetes Mitwirken des Leibes; und die Mannigfaltigkeit des letzteren in ihren grofsen Umrissen zu überschauen, mufs uns wichtig seyn, auch wenn sich finden sollte, dafs die Ausbeute solcher Be-

* L. W. Sachs. Grundlinien zu einem System der praktischen Medicin. 1 Thl. Leipz. 1821. Derselbe. Handbuch des natürlichen Systems der praktischen Medicin. 1. Bd. 1. u. 2. Abth. Leipz. 1828, 29.

** Allgem. Metaphysik nebst den Anfängen der philos. Naturl. Bd. II.

■jc2 HL Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

trachtungen für Pädagogik nur gering seyn könne. Suchen Andre mehr als billig im Leibe, und verkennen sie den Geist: so ist für uns selbst das negative Resultat, man habe hier weit mehr als dort zu suchen, indem dort weniger zu finden sey, als man meinte, immer noch von Wichtigkeit, um eine minder fruchtbare Nachforschung zu beschränken, und für die bedeutendere den Raum offen zu halten.

Eine ganz leichte Unterscheidung wird die Bahn der Betrachtung eröffnen; die Scheidung des Quäle vom Quantum. Wenn Nerv und Blut der Art nach verändert sind , so mufs eine andre Klasse von Krankheit oder überhaupt von Abnormität entstehen, als wenn blofs die Verhältnisse der Quantität eine Abweichung vom Rechten erleiden. Als Beyspiel der ersten Art könnte ich die Gicht nennen*; aber es giebt ein anderes, welches als häufiges Uebel der Kinder, in unsern päda- gogischen Gedankenkreis nur zu tief eingreift; nämlich die Skrophelsucht.** Für den zweyten Fall hingegen, wo blofs oder doch zunächst ein Ver- hältnifs der Quantität in Betracht kommt, und das Nächste oder Ur- sprüngliche ist für uns allein von Bedeutung, da wir nicht mit ausgebildeten Krankheiten,' sondern nur mit Krankheits- Anlagen zu thun haben, für den zweyten Fall also ist eine neue Unterscheidung nöthig, um die Hauptklassen der Krankheiten zu bestimmen. Wir alle kennen, wenigstens oberflächlich, diejenige Aufregung des Gefäfs-Systems (des Herzens, der Arterien und Venen,) welche man Fieber nennt. Unser Führer*** befiehlt uns, hiebey die Thätigkeit des Nervensystems als gehemmt zu betrachten, während er das sogenannte Wechselfieber in eine ganz andere Stellung bringt; so dafs sich die ganze Klasse der eigentlichen Fieberkrankheiten auf Synocha, Nervenfieber und Faulfieber reducirt. Nun aber bleibt noch eine grofse Hauptklasse übrig, nachdem wir sämmtliche Fieber bey Seite gesetzt haben. Soll nämlich das Nervensystem jetzt nicht mehr als ge- hemmt betrachtet werden, so müssen wir darauf rechnen, dafs mit ihm verbunden zugleich das Gefäfssystem und die ganze Vegetation in kranker Aufregung begriffen seyn werde; dafs also der ganze Organismus sich wider die vorhandene Krankheits-Ursache zu behaupten suche. Und dieses nun giebt eigentlich die erste der drey Hauptklassen; die ich jedoch zu- letzt nannte, um desto bequemer aus den vor mir liegenden Werken be- richten zu können. Es zerfällt Dämlich die erste Hauptklasse in drey Ordnungen, je nachdem die allgemeine Aufregung des Organismus Vorzugs* weise in den Nerven, oder im Gefäfs-Systeme, oder im Gebiete der Vege- tation ihren Sitz hat. Vor aller weitern Betrachtung ist hier schon sicht- bar, dafs diese Klasse uns am meisten interessiren werde. Denn bey gesunden, oder doch gesund scheinenden Zöglingen setzen wir natürlich voraus, die Verbindung der Grundsysteme des Organismus sey nicht wesentlich verletzt; und gewifs werden wir uns auf Nervenfieber und Faulfieber nicht einlassen, sondern deren Behandlung dem Arzte über-

* Sachs und DULK, Handwörterbuch der praktischen Arzneymittcllehre. Zweyter Theil. Artikel: Colchicum.

** A. a. O. 1. Band, Artikel baryta muriatica.

' H . Handbuch des natürlichen Systems der praktischen Median ; erster Band, §45.

4- Brief- 353

weisen. Dagegen kommt uns viel darauf an, ob in einem Individuo das Nervensystem oder das Blutsystem sammt der Irritabilität, oder endlich die blofse Vegetation vorherrsche; die geringsten Verschiedenheiten hierin müssen -wir gefafst seyn in unsern Erfahrungen einflufsreich zu finden. Besonders nahe steht uns das Nervensystem ; jedoch am nächsten das Gehirn; nicht ganz so nahe das Rückenmark; und auf den ersten Blick möchten wir das Gangliensystem, wenigstens denjenigen Theil desselben, der im Unterleibe wohnt und herrscht, wohl geneigt seyn ganz zu igno- riren; doch würde gar bald die Ueberlegung zurückkehren, dafs solche Nerven , welche den geistigen Thätigkeiten keinen unmittelbaren Dienst leisten, ihnen vielleicht desto mehr Hindernisse in den Weg legen könnten. Auch in Ansehung des Blutsystems darf uns der Unterschied nicht ent- gehen, ob dessen Aufregung leichter in dem arteriellen Theile der Ge- fäfse, oder in Venen und Haargefäfsen merklich werde.

Fragen Sie mich nun, ob die vorliegenden Unterscheidungen etwas Pädagogisches darbieten können: so will ich versuchen Ihnen Einiges zu weiterm Nachdenken vorzuschlagen.

i. Die ganze grofse Klasse von Krankheits- Anlagen, wobey der Grundfehler in einer verdorbenen Qualität des Organismus liegt, scheint auf den ersten Blick alle Erziehung so offenbar fruchtlos zu machen, dafs Niemand in die Versuchung gerathen werde, sie überall nur zu beginnen; oder zu veranstalten. Oder wer möchte sich mit der Erziehung eines Blödsinnigen befassen? ein Fall, der ohne Zweifel hieher gehört. Und doch könnte ich daran erinnern, dafs der Blödsinn verschiedene Grade hat; dafs Eltern die Hoffnung einiger günstigen Veränderung nicht zu früh aufgeben dürfen, u. s. w. Allein weit auffallender ist jenes schon er- wähnte Beyspiel der Skrophelsucht; die uns mahnt, wie leicht der Er- zieher in die Lage gerathen könne, sich bey einem Geschafft, das er nicht ablehnen darf, schmerzliche Täuschungen zu bereiten. Nicht selten nämlich ist mit skrophulöser Anlage eine ausgezeichnete Regsamkeit des Geistes verbunden; der Unterricht schlägt an; er scheint sich reichlich zu belohnen, und hebt dennoch vielleicht nur ein unglückliches Wesen empor, das von der erreichten Höhe nothwendig wieder herabsinken mufs, mit dem traurigen Bewufstseyn, sich nicht halten zu können. Vielleicht! Denn auch das Gegentheil kann sich ereignen. Die Krankheit verliert oder verlarvt sich in den Jahren der körperlichen Ausbildung, wemi alle Bedingungen derselben (Bewegung, reine Luft, gewählte Nahrung, Haut- cultur) gehörig zusammenwirken. Der Erzieher wird demnach einen un- sicheren Versuch wagen; ein Fall, den wir ohnehin nur zu oft und zu vielfach eintreten sehen. Aber möchten wir wohl einen Knaben, dessen Familien- Verhältnisse den Wunsch, er möge studiren, nicht ganz von selbst herbevführen, bey ausgezeichneter Fassungskraft, aber mit Skropheln oder ähnlichen Uebeln behaftet, aus der Lage worin er geboren wurde hervor- ziehn, während wir befürchten müfsten, der gebildete Geist werde dereinst den Mangel einer vesten körperlichen Stütze drückend empfinden? Daran zweifle ich für Sie und für mich; vielmehr glaube ich, wir würden bey einem Solchen die Gesundheit als das Erste, die Geistesbildung als das Zweyte betrachten.

Herbart's Werke. IX. 23

zka III. Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (183 1).

2. Mögen alle Fieber, welcher Art sie auch seyen, aus der Er- ziehungssphäre wegbleiben; es ist schlimm genug, wenn sie häusliche Sorge verursachen. Allein die Bemerkung will ich nicht unterdrücken, dafs für den Satz, in Fiebern seyen die Nerven gehemmt, meine pädagogische Erfahrung einige Bestätigung darbieten möchte. Denn ich erinnere mich an Individuen, welchen das Fieber auch während sie gesund sind, doch niemals recht fern zu stehen scheint. Ihre Gefäfse haben eine auffallende Reizbarkeit; sie werden blafs und roth ohne besondern Grund; Verlegen- heit bey Prüfungen, brennend heifse Wangen bey mäfsigen Anstrengungen oder Vorwürfen, mühsam unterdrücktes Weinen bey geringfügigen Ver- sagungen, — dabey Unfähigkeit oder wenigstens grofse Anstrengung, sich wieder zu sammeln, wann einmal der Affect erregt worden: diese und ähnliche Zeichen lassen schliefsen, dafs dem Nervensystem zwar die Fähig- keit zu reizen, aber kein hinreichender Widerstand gegen die Rück- wirkungen des Gefäfssystems, also nicht die Macht zu herrschen und bändigen, in solchen Individuen beywohne. Wenn nun auch Witz, Ge- schmack, Gewandtheit dem Erzieher guten Muth machen: dennoch wird er seine Hoffnung beschränken müssen. Denn selbst bey blühender Ge- sundheit schimmert bey dieser Neigung zum fieberhaften Zustande eine Schwäche durch, die nicht erlauben wird, etwas Zusammenhängendes zu vollbringen. Man darf also auch nicht auf diejenige Sammlung rechnen, die nöthig ist, um durchs Lernen eine veste Grundlage des Wissens zu gewinnen. Man mufs erwarten, Vieles bald vergessen, anderes entstellt zu finden; und dies Uebel wird nicht eher aufhören, als bis vielleicht eine glückliche Stärkung des Gefäfssystems eintritt, sey sie nun ein Ge- schenk der Natur, oder des Zufalls, oder ein Werk der sorgfältigen diätetischen Behandlung.

Vergleichen wir nun diesen Fall mit dem vorigen: so erblicken wir in beyden, Misverhältnisse des Nervensystems; in beyden auch einige Hoffnung zum Besserwerden ; aber unter sehr verschiedenen Nebenbe- stimmungen. Die Skrophelsucht wird weniger nachtheilig auf den Zu- sammenhang der geistigen Thätigkeit einwirken; sie wird erlauben, ein höheres Gebäude der geistigen Ausbildung aufzuführen; aber sie droht ihm den schlimmeren Sturz, je höher es sich erhob. Die Reizbarkeit des Gefäfssystems wird mehr einzelne Störungen anrichten, sie wird weniger Gelehrsamkeit zulassen; dagegen wird sie den Affecten mehr Mannigfaltig- keit, den Gefühlen mehr Spielraum geben, und das Wohl und Wehe beyder herbeyführen. Die schlimmeren Fälle der torpiden Skrophelsucht, oder des wirklichen Kränkeins aus übergrofser Gefäfsreizung mögen hier unerwähnt bleiben.

3. Wollen wir zu der angemessenen Voraussetzung aller -Erziehung übergehn, der Körper sey gesund: so müssen wir unstreitig annehmen, dafs im Falle des Eintritts irgend eines Fremdartigen, welches Krankheit verursachen könnte, sogleich der ganze Organismus eine Reaction auszu- üben bereit seyn würde, wobei nicht blols Hirn, Rückenmark und Ganglien, sondern mit dem Nervensystem auch das Blut sammt den Organen die es lenken und läutern, ja selbst die Vegetation sammt den ihr vorarbeitenden ■Werkzeugen der Verdauung, jedes das Seinige zu thun bekäme. Ich _

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sage absichtlich, im Falle des Eintritts eines Fremdartigen, welches Krank- heit verursachen könnte! Denn so lange keinem Organe zugemuthet wird, den gewöhnlichen Kreis seiner Thätigkeit zu verlassen, und einem fremd- artigen Reize zu entsprechen, gehört es gerade umgekehrt zu den Kenn- zeichen und Erfordernissen der Gesundheit, dafs die Organe abgesondert ihre Verrichtungen nach den jedesmaligen Umständen vollführen, ohne sich eins ums andre zu bekümmern. Zwar auch bey den besten Schrift- stellern lesen wir den Satz: der Lebensact des Gesammt-Organismus sey nur ein einziger. Allein es bedarf kaum der Erinnerung, dafs hierin ein Residuum der spinozistisch -idealistischen Naturphilosophie zu erkennen ist. Wir können uns mit den allerbekanntesten Erfahrungen begnügen. Nichts ist gewisser, als dafs der wahrhaft gesunde Mensch seinen Körper nicht fühlt. Die berühmte Entgegensetzung des Ich und Nicht-Ich ge- schieht ganz unbefangen; auch der Idealist, als ein Gesunder, hält die Frage nach dem Vermittler zwischen Uns Selbst und der Aufsenwelt, dem Leibe, so lange für eine Querfrage, bis es ihm hintennach etwan einfällt, Luft und Licht nach seiner Manier zu deduciren; aber er deducirt weder das verlängerte Mark noch die cauda equina, weder die pia mater noch die dura mater, denn weil er nichts davon lernte, so weifs er auch nichts davon; und darf nichts davon wissen, oder er würde auf- hören gesund zu seyn. Kein Organ darf seine besondere Existenz ver- rathen; keins darf sein Thun oder Nicht-Thun anzeigen; das heilst, keins darf dadurch in dem Zustande der Sinnes-Nerven einen Unterschied hervorbringen. Während der Magen verdaut, mufs das Gehirn dem Denken nachgeben; und was aus dem ganzen Denkgebiete nun gerade den Denker beschäfftige , das mufs dem Magen eben so gleichgültig seyn, als die Verschiedenheit der Speisen, die nun gerade verdauet werden, dem Gehirne gleichgültig seyn soll. Kommt es schon dahin, dafs eine ge- wählte Diät beobachtet werden mufs; wird es wohl gar nöthig, die Zeit nach der Mahlzeit als untauglich zum Studiren von den Arbeitsstunden abzusondern: dann ist keine reine Gesundheit mehr vorhanden.

Sie werden mich nicht so misverstehen, als ob ich hiemit den be- kanntesten Vorsichts- Regeln der Lebensordnung widersprechen wollte. Wer wird zu wissentlicher Unvorsichtigkeit rathen? Krankheit droht immer; sie drohet auch dem Gesundesten. Absolute Gesundheit ist ein Ideal; die Annäherung zu demselben bezeichnet den Grad der jedesmal vorhandenen relativen Gesundheit. Und vergleichungsweise gesund durfte ich mich ohne Zweifel in meinen Jugendjahren nennen, da ich täglich unmittelbar vor der Schulstunde mein Mittagsbrod bekam, dann eilig eine Strafse hinab- lief, um auf der Schulbank zu lernen! Welcher organische Procefs geht leichter von Statten, welcher stört weniger das Ganze des übrigen organischen Daseyns, als im Jünglings- Alter der Verdauungs-Procefs! Und wieviel ist dagegen im späteren Mannes- Alter dabey zu bedenken und zu verhüten! Jahrzehende lang habe ich diejenigen ausgelacht, die mir warnend sagten, es sey nicht gesund, während des angestrengten Denkens rasch zu gehen. Meilenweit bin ich gegangen, recht eigentlich um desto bequemer inner- lich zu botanisiren. Und jetzt doch still davon!

Kurz: je entfernter derjenige Zustand bleibt, worin die verschiedenen

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c6 III. Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

Theile des Nervensystems einander zur Gesammtwirkung auflodern, ja wohl gar das Gefäfssystem erregen und am Ende selbst die Vegetation ins Spiel ziehn: desto besser steht es um das, was wir als Erzieher Ge- sundheit nennen. Der Knabe soll still sitzen können; er soll auch laufen können, je nachdem er will oder Befehl empfängt; ohne Ungemach weder für das Hirn noch für das Rückenmark mit seinen Nerven.

4. So nun finden wir es nicht immer. Sehr oft zeigt sich bey denen, die gern still sitzend arbeiten möchten, ein Bedürfnifs der Be- wegung; sie wechseln die Haltung des Körpers; sie strecken Arme und Beine hierhin und dorthin. Ohne Zweifel eine Reizung, die vom Gefäfssysteme ausgehend sich dem System der Ganglien und dem Rückenmarke mit- theilt. In seltenern Fällen sind jüngere Knaben so gänzlich quecksilbern, dafs sie während der angenehmsten Erzählungen und Gespräche nicht einen Augenblick still halten können. Die Erfahrung sagt, dafs alsdann in spätem Jahren eine Dumpfheit des Geistes, ein Stocken der geistigen Fortschritte, verbunden mit unwillkommenen und voreiligen Aufregungen des Gefälssystems zu erwarten steht. Wer wird solche Fälle verwechseln mit der Munterkeit lebhafter Köpfe, die sich zwar auch sehr behende zeigen im Laufen und Springen, und sehr rührig um etwas zu fassen, zu heben, zu behandeln, aber stets mit einer Absichtlichkeit, die vom Geiste ausgeht; anstatt dafs jenes Quecksilber im Blute lag, und sich geltend machte wider das Gehirn. Hätte man dem Blute seinen Willen gethan, und vom Hirn weniger verlangt: vielleicht hätte man, bey übrigens etwas knapper Kost, die Gefäfse ruhiger gestimmt, und der spätem geistigen Bildung mehr vorgearbeitet. Doch bekenne ich, ein wesentliches Um- ändern solcher Naturen sehr bezweifeln zu müssen.

5. Ohne Vergleich besser gelingt es der körperlichen Pflege, denen aufzuhelfen, bey welchen Schwäche des Gefäfssystems und die dadurch entstandene Abspannung des Geistes merklich wird. Sorgfältige Lebens- ordnung und gute Nahrung helfen allmählig den Mangel ersetzen; und alsdann wirkt auch der Unterricht besser. Doch in dieser Hinsicht ist es nöthig, das nächstvorhergehende zu vergleichen. Jene quecksilbernen Naturen sind nicht gerade schwer zu unterrichten bis in die Jünglings- jahre; alsdann aber verwüstet der Blutsturm die angebauten Felder; der Gewinn des Unterrichts geht grofsentheils verloren. Hingegen die blassen, blutlosen Kinder sah man lange stocken in geistiger Thätigkeit, sie kauten an den Worten, gaben regelmäfsig einige falsche Antworten, bevor die wahre zum Vorschein kam; allein wie das Blutleben sich hob, gewann auch ihr Gedankenflufs ; und wenn die frühern Knabenjahre wenig ge- schafft hatten, so brachten spätere Jahre, die sich dem Jünglingsalter nähern, dafür Ersatz.

Doch das wichtige Verhältnifs zwischen Blutsystem und Nerven er- innert mich an einen Gegenstand von solcher Wichtigkeit für jeden Lehrer, dals daneben oft genug alles Uebrige gering geschätzt wird; an das Ge- dächtnifs; das erste aller Seelenvermögen, auf welches jeder Unterricht, der beste wie der schlechteste, seine Hoffnungen bauet. Denn weder die Sinne noch der Verstand noch das Gefühl helfen dem Lehrer irgend ein merkliches Stückchen Arbeit zu vollbringen, wenn heute vergessen ist,

5- Brief. 357

was gestern gelernt gleichviel ob gesehen, oder begriffen, oder gefühlt wurde.

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Sie sehen, mein Freund! es ist auch mir begegnet, vom Gedächtnifs als einem Seelenvermögen zu reden. Mufste ich nicht darüber erschrecken? Wenigstens legte ich die Feder weg, als mir einfiel, wie oft auch Sie, in der Mitte pädagogischer Erfahrungen, in diesem Punkte Mühe gehabt haben mögen, Ihr gütiges Vertrauen zu meinen psychologischen Unter- suchungen aufrecht zu erhalten. Denn sehen wir es nicht vor Augen, dafs einige Knaben von Natur ein treffliches Gedächtnifs haben, andre nicht? Sehen wir nicht, dafs hiebey der Unterschied des guten Willens gar wenig in Betracht kommt? Die stärksten Anstrengungen des Schülers und des Lehrers vermögen diesen schneidenden Unterschied nicht zu ver- wischen. Auch die andern Seelenvermögen (sehen Sie wie freygebig ich bin!) machen hiebey keinen Umstand begreiflicher. Kein besonderer Verstand oder Unverstand kündigt sich dadurch an, dafs der eine leicht aufsagt, was der andre vergilst; selbst der Mangel an Interesse hindert jenen nicht am Behalten, während freylich dieser um so leichter vergifst was er nicht nöthig findet sich einzuprägen. Doch die Phänomene des Gedächt- nisses sind mir zu bunt, um sie auf einmal zu sondern und zu beleuchten; wir werden öfter darauf zurückkommen müssen. Fürs erste mag es ge- nügen, sie nur im Zusammenhange des vorigen Briefes zu überlegen.

Das Gedächtnifs hängt ab von der Bildung und von der unver- änderten Reproduction der Vorstellungsreihen. Die Hindernisse liegen also entweder in der anfänglichen Reihenbildung oder in der Reproduction. Welche Fehler im Reproduciren liegen, diese kann man gröfstentheils ent- fernt halten, wenn man keine oder nur sehr geringe Zeit verstreichen läfst zwischen Lernen und Aufsagen. Denn was man eigentlich Vergessen nennt, das braucht Zeit; andre Gedanken müssen sich einschieben zwischen dem Memoriren und dem Wiedergeben; auch das schlechteste Gedächtnifs pflegt nach einer Viertelstunde noch treu zu seyn. Und doch vergifst nicht mancher Knabe dieselbe Vocabel schon jetzt, die er nur vor ein paar Minuten im Lexicon aufschlug? Wer nicht an den Gebrauch der Logarithmen-Tafeln gewöhnt ist, der wird kaum sieben Ziffern wohlbe- halten aus dem Buche aufs Papier bringen, ohne mehr als einmal nach- zusehen, und seine Arbeit stückweise zu vollführen. Dennoch werden wir die Beobachtung dessen, worauf es ankommt, wenigstens reiner an- stellen, wenn wir die Zeit verkürzen, während welcher das Aufgefafste soll behalten werden. Es kommt dann wenigstens Etwas von dem so eben Vernommenen wieder zum Vorschein, aber entstellt, wenn schon die Reihenbildung fehlerhaft gewesen war. Entstellt entweder durch ver- änderte Reihenfolge, oder durch Auslassen, oder durch Einschieben fremder Zusätze. Der zweyte dieser Fehler ist der einfachste; der erste und dritte mag einer falscher Reproduction einstweilen zugerechnet werden, ob- gleich beyde recht füglich auch während des Auffassens selbst entstehen konnten.

Was nun das Auslassen anlangt, diese reine Negatation des Be-

tc8 III. Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

haltens, so liegt es am nächsten, zu fragen, ob denn das Ausgelassene überall nur sey aufgefafst worden? Hat eine Lehrstunde dem Schüler zu lange gedauert, so bemerkt man bald, dafs er nun so viel wie nichts mehr vernimmt. Kein Wunder, dafs er nichts behält; auch nicht für eine Minute. Dieser Vorgang kann zwar im Allgemeinen psychisch seyn, nämlich nach Anhäufung vieler sehr neuer Vorstellungen; aber wir be- merken oft genug, dafs die ermüdeten Schüler auch das Bekannteste nicht mehr von sich geben können; sie scheinen Alles vergessen zu haben, auch was sie am nächsten Tage wieder wissen. Hört man noch nicht auf zu lehren (was freylich längst vorher Zeit gewesen wäre), so verräth sich endlich die körperliche Verstimmung ganz unverkennbar und zwar als liegend im Gefäfssystem. Miene und Gesichtsfarbe ermahnen uns, den Schüler aufstehen zu heifsen, damit er sich Bewegung mache, das heifst, damit der Blutumlauf wieder frey werde. Es war ein Affect entstanden, für den es vielleicht keinen passenden Namen giebt, der aber offenbar die zwey Bestandtheile jedes Affects, Reizung der Gefäfse durch die Nerven, und rückwärts Hemmung der Nerven von Seiten des Gefäfssystems, in sich trägt. Dieser Affect will Zeit haben, um wieder zur Ruhe zu kommen.

Ist dieselbe Reizung und Hemmung immer ein Hindernifs fürs Lernen? Man wird uns erinnern an so Manches, was mit Thränen und Schluchzen gelernt, aber doch gelernt und behalten wurde. Wie mancher Baum schon ist gewaltsam gebogen, und hat alsdann fortwachsend die Stellung behalten, die man ihm aufzwang! Und wie ungern wir es aussprechen möo-en: es giebt einen sehr gesunden jugendlichen Frohsinn, den man durchaus brechen mufs, wenn er, gutartig wie er ist, nicht baldige Laster oder mindestens bleibende Unwissenheit ankündigen soll. Allein diese Art von Gedächtnifsschwäche ich möchte sie die übermüthige nennen, weil sie von einer vorhandenen Energie abhängt, die voreilig in ihrer Richtung bestimmt, aus ihrer Bahn getrieben werden mufs, um besser ge- leitet zu werden, dieses in frühern Jahren leicht heilbare Uebel können wir für jetzt bey Seite setzen; denn es ist keinesweges die wahre Schwäche, sondern nur deren täuschendes Bild.

Hievon abgesehen nun, können wir es aussprechen: das rechte Ver- hältnifs zwischen Gefäfs- und Nerven-System ist die erste sehr wesentliche Bedingung des guten Gedächtnisses.

Denn derjenige Zustand des Gehirns, in welchen es sich während des Auffassens versetzt, darf im geringsten nicht gestört werden, wofern nicht die Vorstellung, welche eben jetzt gewonnen ist, sogleich eine Hemmung erleiden soll, die zu plötzlich ist, um der gehörigen Ver- schmelzung mit dem was vorherging und folgt, die verlangte Ausbildung zu gestatten. Kann also das Gefäfssystem irgend wie dazu gelangen, den Zustand des Gehirns nach sich zu bestimmen, ohne durch eine über- legene Rückwirkung von dorther besiegt zu werden: so verdirbt es nicht etwan die Reproduction, die zu andern Zeiten gelingen würde, sondern gleich die erste Reihenbildung; das Behalten wird im Keime erstickt, nämlich im Auffassen.

Es ist noch nicht nöthig, dafs wir hier schon vom Auffassen das

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Einprägen oder eigentliche Memoriren unterscheiden; genug dafs diese weit höher stehende psychische Thätigkeit gewifs auch sehr leiden mufs, wenn schon das Gehirn seine Zustände mufs Preis geben an die Störung durch andringende Blutwellen oder durch Stocken desjenigen Blutes (oder derjenigen Lymphe) wovon eben jetzt das Gehirn sich befreyen sollte.

Wenden wir unsern Blick auf die Erfahrung: so wird es, glaube ich, hier an Bestätigungen nicht fehlen. Zuvörderst mag uns das ganz Be- kannte einfallen, dafs grofse Geister oft in auffallend kleinen Leibern ge- wohnt haben, deren Blutsystem also keinen vorherrschenden Trieb des Wachsens bewirkt hatte; solche grofse Männer aber, wie Friedrich, wie Napoleon, sind gerade ihres Gedächtnisses wegen berühmt, welches die Grundlage ihrer übrigen geistigen Thätigkeit darbot. Umgekehrt schweben mir Individuen vor, deren frühzeitiges Wachsen, nicht blofs in die Höhe, sondern zugleich in die Breite, mit allgemeiner Gedächtnifs-Schwäche ver- bunden war. Und wenn dies nicht als Regel angesehen werden kann: so möchte ein besonders günstiger Bau des Gehirns, und sichtbar schon der Stirn, den Nachtheil des starken Wachsens bey blutreichen Körpern soweit vergüten, als eben nöthig um die Gedächtnifs-Schwäche nicht auf- fallend hervortreten zu lassen.

Sehr nöthig aber ist hier, auch der beyden andern Nervensysteme, aufser dem, Gehirn, zu gedenken. Denn zuvörderst hängt das Gehirn mit dem übrigen Organismus sehr wesentlich durchs Rückenmark zusammen; und andrerseits hängt die Blutbewegung grofsentheils ab vom Ganglien- svteme; daher sich sehr verwickelte Verhältnisse erzeugen können, welche durch ihre Mannigfaltigkeit vermuthlich Schuld sind, wenn die allgemeine Erfahrung nicht schon längst auf durchgreifende Bemerkungen über diesen Gegenstand führte.

6. Ihnen anheimstellend, zu versuchen, ob Sie aus medicinischen Schriften mehr Belehrung über psychische Eigenheiten, die vom Blute abhängen, zu schöpfen Gelegenheit finden können: mufs ich Sie jetzt an meine Naturphilosophie erinnern, worin ich, wie Sie wissen, die Begriffe der Irritabilität und Sensibilität enger begränzt habe, als jetzt gewöhnlich ist; indem ich mehr an Hallern vesthielt, weil ich mich nicht überzeugen konnte, dafs die Erweiterung seiner Benennungen zu wahrer Aufklärung der Sache verhelfe. Für jetzt will ich die physiologischen Fragen nicht weiter berühren. In pädagogischer Hinsicht ist die von der Betrachtung der Störungen, welche ein Blutstrom dem Gedankenlaufe zufügen kann, völlig verschieden von der Rücksicht auf starke oder schwache Muskeln, durch welche das Mehr oder Weniger der körperlichen Rüstigkeit und Thätigkeit unsrer Zöglinge bestimmt wird; und für uns könnte nur Ver- wirrung entstehn, wenn wir Jenes und Dieses durch das blofse Wort: Irritabilität, in Verbindung bringen wollten. Eben so ist eine Sensibilität des Gangliensystems, solange dadurch keine Sensationen ins Bewufstseyn gelangen, für uns etwas ganz Anderes als die offenen Sinne und die Leichtigkeit des Anschauens, woran uns für die Erziehung unmittelbar o-eleo-en ist. Wundern Sie sich also nicht, wenn ich gar Manches, woran

?6o III- Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

wir bey der Irritabilität und Sensibilität zu denken uns nicht veranlafst finden, von jetzt an, lediglich der Vegetation, als dem dritten Factor des thierischen Lebens, zuweise; und das wie es mir scheint, selbst nicht ohne physiologischen Grund. Denn gewifs vegetiren auch die Nerven und die Muskeln. Gewifs haben auch sie ihre vegetative Gesundheit und ihre Veeetations-Krankheit. Sie müssen wachsen, wie alle andern Theile des Leibes; und da sie zunehmen, so ist höchst wahrscheinlich, dafs sie auch abnehmen, also einen Stoffwechsel erleiden, der eben die wesentliche Grundbedingung aller Vegetation ausmacht. Hingegen bey der Irritation und Sensation kommt dieser Stoffwechsel nicht in Betracht ; Muskeln und Nerven wirken hier als etwas Vorhandenes und nicht erst Werdendes. Dabey könnte ich gleichnifsweise an die Grundbegriffe der Mechanik er- innern. Beschleunigende Kräfte erzeugen Geschwindigkeiten; aber das erste Differential des Weges hängt nicht von den Kräften, sondern nur von der schon vorhandenen Geschwindigkeit ab.

Von hier an also verstehe ich unter Irritabilität nichts Anderes als Fähigkeit zur willkührlichen Bewegung; unter Sensibilität nichts anderes als Fähigkeit zu empfinden; alles Uebrige des leiblichen Lebens befasse ich unter dem Ausdrucke Vegetation; die meinethalben unter andern auch eine Vegetations - Bestimmung der Muskeln und Nerven seyn mag. Dies vorausgesetzt: so läfst sich nun eine Untersuchung auf combi- natorischem Wege einleiten. Während immer noch Vegetation, Irritabilität und Sensibilität die Grundlage ausmachen, über welcher das geistige Da- seyn sich erhebt: können wir die Beschränkungen, welche für dieses von dorther zu befürchten sind, auf sieben denkbare Fälle zurückführen. Denn entweder leidet nur Einer ,von jenen Factoren des leiblichen Lebens; oder zwey, oder alle drey. Also:

1. Es leide blofs die Vegetation; jedoch nicht in dem Grade und in der Art, dafs daraus für Bewegung und Empfindung ein merklicher Verlust entstünde. So sehen wir unsern Zögling in voller Thätigkeit des Leibes und des Geistes; wir sehen ihn im Laufen und Tragen, im An- schauen und Denken tüchtig und aufgeregt, aber dennoch verstimmt, wie einen, der gesund scheint, und von verborgener Krankheit gedrückt oder geneckt ist.

Auf diesen Fall glaube ich manche sehr üble Erscheinungen zurück- führen zu müssen, welche den Erzieher in die gröfste Verlegenheit setzen. Die Erfahrung zeigt unleugbar Geister, die verneinen; sie zeigt „deren schon im frühen Knabenalter. Es giebt Kinder, denen nichts recht ist, die in Alles einen bitteren Tropfen hineintragen; überall tadeln, schmähen, ver- läumden ; weil sie überall eine Kehrseite erblicken und selbst im Genüsse nie eigentlich froh werden. Das Böse keimt bey ihnen so leicht und so früh, dafs man unwillkührlich an Erbsünde erinnert wird. Zuweilen, doch nicht immer, läfst sich etwas Disharmonisches in ihrem Körperbau nach- weisen; dafs aber ein solches auch tief verborgen liegen könne, wen wird das wundern? Jeder tüchtige Erzieher wird solche Subjecte zwar unter strenge Regierung nehmen, ihnen Respect, ja Furcht einflöfsen; da- bey sich hüten, sie unnöthig zu reizen, und am wenigsten mit ihnen scherzen. Aber das sind Palliative. Sorgfältige Diät, strenges Maafs im

6. Briet. 36 1

Lernen und Geniefsen, vielleicht Arzeney, ist ihnen nöthig; Erheiterung, wenn man diese nur auf unschuldige Weise schaffen kann, ist heilsam.

Damit contrastiren Andre, welchen von früher Jugend an bis ins spätere Leben die glückliche Neigung beywohnt, Alles im Rosenlichte zu sehen. Zu ihrem Schaden für ihr Denken und Handeln sind sie unauf- gelegt, durch Kritik zur Wahrheit zu gelangen; heitere Täuschung ist das Element ihres Lebens. Mit ihnen hat der Erzieher keine Noth, höchstens als Lehrer, wenn er ihnen das Auge schärfen mufs. Der Arzt wird schwerlich einräumen, diese seyen gesunder als jene. Wenn nur alles Krankseyn sich dem Arzte offenbarte!

Möchte es wenigstens dem Erzieher nicht an Diagnostik fehlen, um bey jenen Ersten sich vor der Verwechselung mit scheinbar ähnlichen, aber weit eher heilbaren Subjecten zu hüten, bey welchen falsche Be- handlung in den frühesten Jahren den Grund des Uebels ausmacht. Dahin gehört Strenge des Vaters bey heimlicher Nachsicht der Mutter, früh durchschaute Kniffe der Umgebung sammt gelungener Nachahmung schlechter Beyspiele. Schwer ist auch hier die Besserung; aber sie liegt doch im Kreise des Erziehers, der nicht in die Nothwendigkeit gesetzt wird, den Arzt mehr zu fragen als dieser beantworten kann.

Um dem angegebenen ersten Falle einen Namen zur künftigen Bezeichnung zu geben, wollen wir uns an die bekannte Unterscheidung der Temperamente erinnern. Der Cholericus, dessen verborgenes Uebel einst in der Galle gesucht wurde, dem man jedoch Regsamkeit des Körpers und Geistes genug zugestand, leidet an Verstimmung ohne hinreichenden äufseren Grund; er mag für jene verneinenden Naturen den Namen her- geben.

2. Blofs die Irritabilität sey der Sitz des Fehlers. So erkennen wir den lebensfrohen guten Kopf; dem aber bey seiner Muskelschwäche mehr innere, als äufsere Thätigkeit eigen ist. Unter seinen Genossen ist er sogleich zu erkennen, indem er durch Leistungen geistiger Art für die- jenige Ehre, welche die Jugend so gerne in der Gymnastik sucht, Ersatz zu gewinnen trachtet.

Nach Piaton ist Musik das Gegenstück der Gymnastik; wir wollen also diesen hier den Musikus nennen. Was der Erzieher thun werde, ihm zu helfen, liegt am Tage; er wird ihm Bewegung, mäfsige Leibes- Uebung, Bäder, wo möglich das Seebad verordnen; und ihm die Bücher zuweilen wegnehmen.

3. Blofs die Sensibilität sei mangelhaft. Aber dieser Factor des leiblichen Daseyns ist uns in psychischer Hinsicht so wichtig, dafs wir uns auf Unterabtheilungen einlassen müssen.

a) Es giebt eine Sensibilität, welche die gewöhnlichen dem inneren Sinne zuschreiben würden. Fehlt diese: so merkt der Mensch wenig von seinem eignen Zustande. Seine Gedanken können wechseln, er kommt darum nicht aus der gewohnten Ruhe. Er weifs, dafs ihm die Wechsel des Lebens Freude oder Trauer gebracht haben; er weiß es zwar, aber es erfolgt keine besondere Bewegung des Gemüths; am wenigsten eine solche Aufregung, die man Affect zu nennen pflegt. Der Grundton seines Fühlens bleibt im Ganzen der nämliche. Wir wollen ihm das so-

362 HI- Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (183 1).

genannte böotischc Temperament zuschreiben; allein ich mufs bemerken, dafs ich es in der Erfahrung nur da sehr kenntlich angetroffen habe, wo es zugleich mit einiger Stumpfheit der äufsern Sinne verbunden war. Vielleicht ist die Möglichkeit desselben an einen Zusatz solcher Art ge- bunden, wo es nämlich als Natur-Anlage und nicht als blofse Folge sehr einförmiger Lebensweise hervortreten soll. Denn an eine organische An- lage zum innern Sinne, welche vorhanden seyn oder fehlen könnte, zu denken, das ist gänzliche Unkunde der wahren Psychologie. Hinder- nisse lassen sich allerdings denken; aber auch schon die äufsern Sinne können mehr oder weniger das gesammte Nervenleben anregen, und hie- mit einen gröfsern oder geriiigeren Wechsel des Lebensgefühls zur Ge- wohnheit machen. Es kann seyn, und ist selbst wahrscheinlich, dafs schon der Geschwindigkeit, womit die Sensationen sich durch das Nerven- system fortpflanzen, verschiedene Grade zukommen; und dafs vermöge der Verzögerung, welche die sonst hinreichende Sinnes-Thätigkeit in manchen Menschen erleidet, der ganze Nervenzustand eine Art von Beharrlichkeit erlangt, die er auch da behauptet, wo sonst vermöge der innern Apper- ception lebhafte Affecten zu entstehen, und das Ganze des Gemüths das heifst, die sämmtlichen Vorstellungsmassen, nach sich zu bestimmen pflegen.

Von dem Falle, wo einzelne unter den äufsern Sinnen schwach sind, wollen wir nicht besonders reden; wohl aber nunmehr eines Misverhält- nisses erwähnen, worin die beyden Hauptzweige der Sensibilität gegen einander treten können.

b) In der Regel soll die Sensibilität des Gehirns sehr grofs seyn gegen die des Ganglien-Systems. Dieses Verhältnifs kann verrückt werden, und zwar nicht blofs durch Fehler der Vegetation, sondern auch gerade umgekehrt durch ihr starkes Gedeihen, während damit das Gehirn nicht gleichen Schritt hält. Hier finden wir Sangiäniais, der sein Wohlseyn, aber auch den geringsten Mangel desselben gar zu sehr fühlt; und dieses Gefühls durchs Denken und Wollen nicht mächtig werden kann.

Der Sanguinicus steht dem Booten naher, als es scheinen mag. Bey ernsten Angelegenheiten zeigt sich der eine leichtfertig, der andre ge- duldig; das heifst, beyde sind sorglos, wenn nicht der Augenblick drängt. Doch wenn es gilt, wird der eine sich schneller rühren, der andre mehr leisten. Nur lassen beyde die Sachen an sich kommen, so lange beim Sanguinicus das augenblickliche Wohlseyn, beym Booten die Ruhe vor- herrscht.

Beyde machen dem Erzieher Noth genug; wiewohl der Boote fleifsig und regelmäfsig lernt, was ihm aufgegeben ist, während der Sanguinicus nur im Fluge erhascht was ihn nicht lange plagt, oder wartet, bis hier erzwungen und dort versüfst wird, was man von ihm fodert. Was hilfts, wenn der Boote lernt und behält? Er fühlt nichts; Alles läfst ihn gleich- gültig; hat er aufgesagt, so ist er fertig. Was frommts, wenn der Sangui- nicus leicht falst, was er gleich vergifst? Auch das Zwingen und das Ver- süfsen wirkt nur auf eine Zeitlang; bald wird er eilen, sich in den Strudel des Vergnügens zu stürzen. Dem einen wie dem andern bleibt das höhere geistige Leben fremd.

7- Brief. 363

Einige habe ich abwechselnd für böotisch und für sanguinisch ge- halten. Ist das ein Wunder? Die höhere Sensibilität fehlt. Fragt man, warum sie fehle? so erblickt man oft gar keinen Grund, sondern den blofsen Mangel; zu andern Zeiten liegt eine Behaglichkeit am Tage, die sichs vollends bequem, oder auch die sich lustig machen will. Bald eine unbegreifliche Geduld, Verweise anzuhören, und das hundertfach Wieder- hohlte nochmals zu wiederhohlen; bald die entschiedenste Ungeduld, die vom persönlichen Respect, aber nicht vom Gegenstande, zwar noch zum Sitzen, aber nicht mehr zum Hören und zum Nachdenken bewogen wird.

Und oft genug steckt wirklich hinter dem Booten der Sanguinicus verborgen; auch ist umgekehrt der Sanguinicus, bey allem äufsern Leben, böotisch genug in seinem Innern.

Die zweyte und dritte Hauptklasse werden uns weniger aufhalten. Denn wo schon mehr als ein Factor des leiblichen Lebens fehlt, da ist der Geist nicht blofs eingekörpert, sondern wahrhaft gefangen.

4. Vegetation und Irritabilität fehlen zugleich in merklichem Grade. So lebt der Melancholie us, oder das kränkelnde Weib; verstimmt, und schlaff; hülfsbedürftig, und unfähig sich nach Hülfe umzusehen. Doch wenn die Sensibilität noch wacht, so findet eine sehr gütige Fürsorge der Erziehung hier Gelegenheit, sich Verdienste zu erwerben; und öfter als man glauben möchte, findet sie sich belohnt, wofern sie nur nicht auf glänzende Erfolge ausgeht. Dafs die Erziehung in solchem Falle zugleich körperlich und geistig seyn mufs, dafs sie nicht blofs stärken, sondern auch erheitern und erfreuen mufs, liegt am Tage.

5. Vegetation und Sensibilität fehlen zugleich in merklichem Grade. Nur die Irritabilität ragt noch hervor. Was kann sie denn schaffen? Sie kann noch zerstören; wenigstens schaden. Der böotische Cholericus der türkische Dummkopf fällt in diese Klasse.

6. Es mangelt zugleich an Irritabilität und Sensibilität; die Vegetation gedeiht noch. Also nähern wir uns dem Pflanzenleben; der Pflegmaticus vegetirt. Der höhere Grad des Pflegma streift schon an die folgende letzte Klasse.

7. Der Fehler ist dreyfach; es fehlt an Vegetation, Irritabilität und Sensibilität zugleich. Das ergiebt Blödsinn. Von den drey letzten Klassen in pädagogischer Rücksicht noch insbesondere zu sprechen, das hiefse die Geduld meines geehrten Freundes misbrauchen.

/ Die Namen der Temperamente haben sich schon manche Auslegungen gefallen lassen; gleich den vier Cardinaltugenden der Alten, die auch den Worten nach die nämlichen blieben bey grofser Verschiedenheit der Be- griffe. Selbst an meine Psychologie könnten Sie mich erinnern; wo das sanguinische und melancholische Temperament auf den Unterschied der Gefühle, hingegen das cholerische und pflegmatische auf den Grad der Erregbarkeit zu Affecten, ist zurückgeführt worden. Und wo blieb denn damals das böotische Temperament? Lassen Sie uns immerhin hiebey anknüpfen, um das Uebrige alsdann ebenfalls ins Licht zu setzen.

7.ÖA HI- Bvieie über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

Das böotische Temperament oder das bäurische, welcher Name gefällt Ihnen besser? Beyde sollen einerley bedeuten. Aber wie ist das möglich? Gesetzt einmal, die Böotier, ein Volksstamm, hätten eine eigne ungünstige Organisation gehabt, als einen gemeinsamen Erbfehler: haben denn die Bauern durchgehends, aufserhalb Böotien, den nämlichen Fehler? Sie bemerken leicht die Verwechselung zweyer völlig verschiedener Be- griffe: angeborne Eigenheit eines Stammes; und erworbene Eigenheit eines Standes. Das ist der Punct, auf welchen es auch bey den übrigen Temperamenten ankommt.

Alan kann ein Kind, ja selbst einen Mann, zum Cholericus machen, durch häufige Neckerey, welcher sich zu widersetzen er genöthigt ist. Vielleicht war er ursprünglich der sanfteste Mensch. Man kann ihn durch Tyranney bis zur Melancholie herabdrücken, wenn er ursprünglich Sanguinicus war. Den nämlichen Wechsel des Temperaments erfährt Mancher durch eigne Schuld, indem er sich in Unglück und Reue stürzt. Und der Bauer, mit geübten Muskeln, abgehärteter Haut, angewöhntem Kreis- lauf zwischen Erndten, Säen, und wieder Erndten, gleichförmigem Leben, ohne Aussicht auf Ehre und Reichthum, wird an jedem Puncte der Erde zum Booten, sein natürliches Temperament, sey welches es wolle. Was bedeutet es nun, wenn Jedermann1 sich rühmt, er sey cholerisch- sanguinisch ? Gewifs nicht der Widerspruch, welcher nach meiner obigen Auslegung darin liegen würde, wenn die Vegetation zugleich des Mangels und des Uebermaafses beschuldigt würde; auch nicht die Auflösung des Widerspruches, die Jemand versuchen könnte, indem er die Vegetation als ungestüm treibend, und gerade darum disharmonisch in ihren ver- schiedenen Theilen ansähe. Vielmehr cholerisch-sanguinisch soll heifsen : thätig und glücklich; denn Niemand hält es für ehrenvoll, pflegmatisch, das heifst träge, zu seyn; und Niemand liebt es, melancholisch, also in kläglicher Stimmung zu leben.

Wegen solcher Verwechselungen aber konnte die Unterscheidung der vier Temperamente, wenn auch in der Psychologie die Gefühle von den Affecten gebührend unterschieden wurden, (Sie wissen, wie hier Alles pflegt durcheinander zu fallen,) der Pädagogik noch immer nichts nützen. Denn in der Erziehung ist der Unterschied zwischen dem Angebornen, was in dem Organismus haftet, und dem Erworbenen, was immer noch auf Besserung zu hoffen gestattet, sehr bedeutend ; und so lange solche Be- griffe noch in Verwirrung liegen, kann die Praxis kein Licht von der Theorie empfangen. Wenn ich mir in der Psychologie erlaubte, die Worte nach gewöhnlichem Sprachgebrauche zu nehmen, und bey der Gelegenheit bemerklich zu machen, dafs Gefühle nicht Affecten, und Affecten nicht Gefühle sind, so darf mich das jetzt nicht hindern, die Temperamente Sämmtlich als Naturfehler zu bezeichnen, sobald in ihnen nur auf das Angeborne gesehn wird; dergestalt dafs ein Zögling, wie wir ihn wünschen müssen, gar kein Temperament habe, gerade weil die drey Factoren des leiblichen Lebens in ihm vollständig und in gehörigem Verhältnils zu- sammenwirken sollen.

SW setzen (wohl richtiger) „Jemand" statt „Jedermann".

8. Briei. 365

8.

Eben komme ich zurück von meinem Ausfluge nach ! **. Dort war noch ein Rest der Gesellschaft beysammen; unter andern einige Fremde, die einander in Erinnerungen an entfernte Bekannte gerne begegneten. Die Rede kam auf Landwirthschaft ; und auf Gegenden, wo sie in vorzüg- licher Blüthe steht. Man verweilte im Gespräch bey einem Herrn, der, als er zum Besitz seiner Güter gelangt war, nur Sumpf, Sand, und halb- verbrauchte Waldung vorgefunden, aber durch Fleifs und Ordnung ein Paradies daraus geschaffen hatte. Man gedachte seiner Strenge gegen jede, auch gegen die kleinste Nachlässigkeit; dabey jedoch auch seines völligen Gleichmuths gegen unverschuldeten Verlust durch Naturereignisse. Man rühmte besonders seine Kunst, die Menschen zu regieren; freylich oft mit grofser Härte, nach dem Grundsatze: aus der Strenge müfse sich die Liebe erzeugen. Man rühmte überdiefs seinen Geschmack, und die Eleganz seines geselligen Lebens; die Liberalität, womit er den Besuchenden das Sehenswerthe gezeigt, die Gunst, die Verehrung, die er bey Hohen und Niedern gewonnen habe. Kurz: man beschrieb einen Mann, dem ich, nach der obigen Auseinandersetzung, vermuthlich gar kein Temperament würde beylegen können; der aber in der gewöhnlichen Sprachweise wohl zuerst cholerisch, dann aber nebenbey auch noch sanguinisch mag ge- heifsen haben.

Auch von den Söhnen dieses Mannes war die Rede; jedoch ziemlich so, wie meistens die Söhne sehr reicher Eltern von sich zu1 reden machen. Hatte etwa die eifrig betriebene Oekonomie den Herrn zu sehr be- schäfftigt, um an Erziehung zu denken? O nein! Es waren viele Lehr- meister gehalten worden. Hatte es an weiblicher Mitwirkung gefehlt? Auch das nicht. Mutter und Vater lebten für ihre Kinder. Woran es eigentlich gefehlt habe, darüber erlangte ich keine Nachricht, sondern blieb meinem Verniuthen überlassen.

Uns beyden, verehrter Freund! liegt wohl am nächsten der Gedanke, dafs die vielen Lehrmeiser etwas verdächtig sind. Denn gesetzt auch, Einer darunter sey als Erzieher verantwortlich gewesen, ja dieser Eine habe wenigstens Niemeyers Grundsätze gekannt und beherzigt, und sey für seine Person darüber hinaus gewesen, von dem Glänze eines reichen Hauses geblendet und verlockt, mehr zu geniefsen als zu wirken: so ist immer noch die Frage, ob ihm die Andern zu gehöriger Mitwirkung bey- geordnet und willig waren; also ob durch Religion das Gemüth so er- hoben, durch Geschichte so in die Vergangenheit, durch Geographie so in die Ferne gelenkt sey, wie es nothwendig war, um dem Besitz einer glänzenden Umgebung, die nur zum Genufs auffoderte, das Gleichgewicht zu halten? Dabey überlasse ich Ihrem Ermessen, ob auch vielleicht die Frage umzukehren sey? Denn man könnte gerade im Gegentheil an- nehmen, die Hinweisung auf das Entfernte, auf das Vergangene, und in solcher Verbindung selbst auf das Höhere, möge, falls sie nicht tief ein- drang eine Art von Zerstreuung bewirkt, und den praktischen Sinn von

1 „zu" fehlt SW.

^66 HI. Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (183 i).

den nächsten Angelegenheiten abgezogen haben. Sonst hätte ja dem trefflichen Oekonomen wenigstens die Freude werden können, dafs seine Söhne in seine Fufsstapfen tretend, gleich ihm Feld und Wiese und Wald nach den Regeln der Kunst zu bewirthschaften sich geübt hätten.

Anstatt diesen Gedanken hier weiter zu verfolgen, mufs ich Ihnen Rechenschaft darüber geben, weshalb ich nach den vorigen Betrachtungen über die Temperamente etwas scheinbar fremdartiges folgen lasse. Gewifs nicht in der Meinung, als stünden die Söhne jenes Herrn nach der mir gewordenen Mittheilung im Verdacht irgend eines jener Naturfehler, die ich zuvor mit den Namen der Temperamente bezeichnete. Vielmehr können wie annehmen, sie seyen cholerisch wie er, nur nicht mit so zweck - mäfsiger Strenge wir der Vater, hart gegen die Untergebenen. Wir mögen hinzudenken, die Söhne seyen vielleicht noch etwas von dem gewesen, was man sanguinisch nennt; ohne dafs wir nöthig hätten hiebey an meine obigen, vom gewöhnlichen Sprachgebrauche abweichenden Bedeutungen jener Worte zu denken.

Meine Absicht war, daran zu erinnern, dafs in der Reihe der Fehler, an welchen 'die Erziehung leiden kann und sehr häufig zu leiden pflegt, auf Erwähnung der Naturfehler jetzt die Betrachtung der Misverhältnisse folgen müsse, worin auch die gesundesten Naturen sich oft genug der- gestalt verwickeln, dafs treffliche Eltern und tüchtige Erzieher und Lehrer doch am Ende keine Freude an ihrem Werke erleben. Ihre Erfahrungen werden Ihnen gesagt haben, was wir die meinigen, dafs selbst da, wo der Reichthum nicht zur Ueppigkeit, der höhere Stand nicht zur Schmeiche- ley veranlafst, gesunde Kinder dennoch mit den Zeichen der Verwöhnten und Verzogenen heranwachsen; vielleicht einzig darum, weil sie, im Schoofse des Glücks, bey befriedigten Bedürfnissen und wegen der Zukunft sorglos, keinen hinreichenden Antrieb zu angestrengter Arbeit empfanden. Die nordische Pflanze ist dann zu ihrem Unheil im Süden geboren. Ob wohl in Fällen dieser Art die Strenge unserer heutigen Gymnasien mit ihrer furchtbaren Abiturienten - Prüfung, eine wahre Hülfe leistet? Ober- flächliche Beobachter werden das ohne weiteres bejahen ; und ich möchte wohl einräumen, dafs wenigstens eine bedeutende Milderung des Uebels durch die freylich sehr vorübergehende und keinesweges gründliche Hülfe erlangt wird.

Mit innigem Bedauern werden wir uns hier des Gegenstücks erinnern; nämlich der südlichen Pflanzen, welche verkümmern, weil sie im nördlichen Klima geboren wurden. Aber das ist zu bekannt, um hier dabey zu ver- weilen; denn wir können dem nicht helfen. Ueberhaupt wollte ich an die äufsern Misverhältnisse nur erinnern; nicht aber Sie dabey aufhalten; vielleicht wünsche ich Ihre Geduld für Gegenstände aufzusparen, deren Beleuchtung uns mehr Mühe kosten wird.

9-

Ihr Nachdenken wird mir zuvorgeeilt seyn; und mich dünkt, ich höre Sie schon fragen: wie kann es denn südliche und nördliche Naturen geben? Wie könnte es anders wohl äufsere Misverhältnisse geben, wenn nicht auch diese wiederum auf innere Verschiedenheiten zurückführten?

9- Briet. 367

Verhältnisse sind allemal Andeutungen von der Beschaffenheit ihrer Glieder; und wenn hier der Sohn des Handwerkers besser gedeihen würde im Schoofse des Wohlstandes, dort hingegen dem jungen Grafen zu wünschen wäre, er möchte lieber als Sohn eines Pächters geboren seyn, so mufs der Grund davon am Ende doch in einer Verschiedenheit liegen, die wir, falls die Erziehung frey ist von Schuld, nur in den Anlagen suchen können. Diese Betrachtung führt uns zunächst auf das Gebiet der em- pirischen Psychologie; indem wir solche Unterschiede, welche vorhin an die physiologischen Grundbegriffe der Sensibilität, Irritabilität, und Vege- tation geknüpft wurden jetzt bey Seite setzen.

Nicht blofs von Hörensagen, sondern aus eigner jahrelanger Be- obachtung und pädagogischer Erfahrung kenne ich die schon im Knaben- alter deutlich hervortretenden Unterschiede, welche der eben so gangbaren als irrigen Lehre von den Seelenvermögen die stärkste Stütze leihen. Theils ragt oftmals eine besondere Leichtigkeit des absichtlichen Memorirens oder Auswendig-Lernens hervor; die man dem Gedächtnifse zuzuschreiben pflegt, obgleich sie vom unwillkührlichen Behalten des Gesehenen und Ge- hörten weit verschieden ist. Theils findet sich, obgleich sehr viel seltener, eine frühe Disposition, bei abstracten Sätzen und Begriffen zu verweilen (z. B. in die grammatischen Pegeln einzudringen,) wegen welcher der Verstand gelobt wird, obgleich dies Talent von der Klugheit, Schlauheit, Umsicht, Besonnenheit, himmelweit entfernt liegt. Theils kommt eine auf- fallende religiöse Stimmung bei Kindern vor, wodurch der Religions- Unterricht einen Werth erhält und Eindrücke macht, wie man sie bey der grofsen Mehrzahl vergeblich zu erreichen sucht; dann wird die praktische Vernunft gerühmt, obgleich Ehrlichkeit, Wahrheitsliebe, Rechts- gefühl, sich zwar gern damit verbindend, doch oft genug auch bey Denen zu bemerken sind, welche mit ihren Gedanken in der irdischen Sphäre zu Hause bleiben. Eine grofse Vestigkeit des Willens sieht man im Knabenalter zwar selten, doch zuweilen; ich habe sie bey übrigens sehr verschiedenen Charakteren gefunden ; zwar allemal mit Spuren dessen was als Eigensinn pflegt getadelt zu werden, und meistens mit einer ge- wissen Zurückhaltung verbunden, die sich nicht gleich und nicht Jedem öffnen mochte; jedoch mit sehr verschiedenem Zusätze hier von innerer Ehrlich- keit, dort von Verschlagenheit. Hiebey ist indessen zu bemerken, dafs der ganze Unterschied, wenn ich das Bild solcher Erfahrungen vollständig zurückrufe, auf frühzeitige Eindrücke der Umgebung in den ersten Kinder- jahren mit grofser Wahrscheinlichkeit konnte zurückgeführt werden; so dafs diese Anlage, obgleich der sorgfältigen Erziehung sehr bedürftig, doch immer zu den Vorzüglichen zu rechnen ist, wofern sie nur nicht, (was auch vorkommt,) mit einer böotischen Unempfänglichkeit für jede Art des Unterrichts verbunden ist; denn in diesem Falle läfst sie sich vom Er- zieher kaum erreichen. Solchen Naturen gegenüber zeigen sich die so- genannten offenen Köpfe, die Alles leicht fassen, aber nichts streng vest- halten; angenehm plaudern, aber wenig dabey denken; den Genufs zu er- haschen suchen, wo sie ihn finden können; eben deshalb auch in den Lehrstunden sich dem Unterricht anbequemen, um die Zeit so wenig un- angenehm als möglich hinzubringen ; Ermahnungen sich gefallen lassen,

?68 HI. Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik ',1831).

weil es sich für den Augenblick nicht vermeiden läfst; übrigens, wenn sie bald Lob bald Tadel anhören müssen, in ihren Gedanken das Lob phantastisch vergröfsern und den Tadel verkleinern; weil im Grunde kein wahres Interesse und kein wahrer Wille in ihnen ist, sondern das Gefühl bey ihnen vorherrscht, und zwar das Gefühl des Moments, welchem sie keine ernste Absicht entgegen zu setzen haben. Jeder Erzieher, der in seinen Erfahrungskreis zurückschaut, wird auf solche Weise bey den Worten Gedächtnifs, Verstand, Vernunft, Wille, Gefühl, mancherley zu denken finden; und wenn er sich mit oberflächlicher Betrachtung begnügt, wird er glauben, die Annahme verschiedener Seelenvermögen sey nun durch die unläugbarsten Thatsachen bewährt. Versucht er aber, die Sache umzukehren, so wird eine arge Kehrseite zum Vorschein kommen. Denn ausgehend von jenen Seelenvermögen, als den vorausgesetzten Realgründen der erfahrungsmäfsigen Verschiedenheiten, wird er nirgends bestimmte Auf- schlüsse erlangen. Wo Gedächtnifs, Verstand, Vernunft, vorhanden ist, da sollte Alles, was diesen Vermögen als ihre eigenthümliche Function zu- geschrieben wird, auch als deren Thun und Wirken zum Vorschein kommen. Und es lautet ganz artig, ja selbst eindringlich, wenn nun der Erzieher dem jungen Menschen, der schon in kleinen Komödien seine Rolle fertig aufsagt, etwan so zuredet: sehn Sie, mein Lieber, wie gut Ihr Gedächtnifs sich gezeigt hat! Warum denn behalten Sie nicht Vocabeln und Gram- matik? Weshalb bleiben Sie stets zurück in der Chronologie und selbst in der Geographie? Der junge Mensch wird nichts zu antworten wissen; wenn aber der Erzieher in vollem Ernste so redet, und nicht tiefer schaut, so ist er zu bedauern. Vollends lächerlich aber wäre die Anrede: Ge- fühl haben Sie, das sieht man, wenn Sie Sich springend und jubelnd der Lust hingeben; ja sogar, wenn Sie empfindlich werden gegen Verweise, wenn Sie thun, als besäfsen Sie schon eine Art von Ehre, die man nicht antasten dürfte; warum haben Sie denn so wenig Pflichtgefühl? Der Zögling, den man so anredete, würde wohl Mühe haben zu errathen, wie Jemand dazu kommen könne, Pflichtgefühl mit dem augenblicklichen Ge- fühl der Lust und Unlust in Eine Klasse zu setzen; und aus dem Grunde, weil er dieses habe, auch jenes von ihm zu fodern.

In Büchern und Zeitschriften können Sie, mein Verehrtester! es täglich bemerken, wie sich diejenigen benehmen, denen man das Theoretisch- Mangelhafte, und, was die Hauptsache ist, das Praktisch - Unbrauchbare und Irreleitende der Meinung von den Seelen-Vermögen bemerklich macht. Zuerst werden mit grofser Leichtfertigkeit die gesonderten Vermögen, als ob keine erfahrungsmäfsige Veranlassung, an solche zu glauben, vor- handen gewesen wäre, uns Preis gegeben. Man wisse schon längst (heifst es) dafs alle Vermögen zusammen im Grunde nur Eine Kraft des Geistes seyen. Antworten wir nun, dafs mit solcher Ausflucht die unleug- bare Verschiedenheit der Köpfe noch unbegreiflicher, und der meta- physische Fehler im Begriffe der vorgeblichen Einen Kraft, welche gleich seyn soll vielen Vermögen, noch ärger werde als zuvor: so bekommen wir eine andre Rede zu hören. „Still von Metaphysik! Wer wollte sich um Metaphysik bekümmern! Wer wollte gar der Psychologie wegen Mathe- matik studiren! Wir pochen auf Erfahrung! Unsrc Erfahrung müfst Ihr uns

io. Brief.

369

lassen." So reden Leute, deren Erfahrung auf dem Studierzimmer ge- sammelt wurde. Nun lehren sie im Namen der empirischen Psychologie Jeden das, was er schon weifs; und was, falls er es etwa nicht schon wüfste, ihm unverständlich seyn würde. Kommt es aber an den Tag, dafs solches Lehren und Lernen überaus langweilig ausfällt: dann wandert man zu den Irrenhäusern; und stellt sich, als wäre Psychologie eine medi- cinische Wissenschaft. Lassen wir das! Unser pädagogischer Erfahrungs- kreis ist uns zu schätzbar, als dafs wir ihn gegen die hundertfach wiederhohlten und einander aus ganz begreiflichen Gründen stets ähnlichen Erzählungen von Wahnsinn und Tobsucht zu vertauschen geneigt seyn könnten; was aber die Hauptsache ist, uns drängt das praktische Bedürfnifs, für eine Jugend zu sorgen, die noch gar nicht in den Jahren ist, wo Wahnsinn und Tobsucht auch nur möglich sind. Und zum grofsen Heil der Menschheit haben wir auch nicht Ursache zu glauben, dafs hinter der Mehrzahl der Zöglinge die uns Sorge machen, Etwas von Wahnsinn oder irgend einer Geistes-Zerrüttung verborgen läge. Möchten nur Skropheln und Fieber und Krämpfe uns eben so fern liegen ! während selbst die Skrophulösen, und von frühzeitigen Krämpfen Geplagten in unsrer Sphäre nur als Aus- nahmen vorkommen, wie wenig Beruf haben wir, uns um künftig mög- lichen Wahnsinn zu bekümmern; und wie glücklich wären wir, wenn nur erst bey uns die Reihe der Untersuchungen bis an die Ausnahmen vor- geschritten wäre, anstatt dafs selbst das Gewöhnlichste uns noch oft genug die grofsen Mängel unseres Wissens, und die grofse Schwierigkeit der aller- nöthigsten Untersuchungen empfinden läfst! Was endlich die Theologen anlangt, denen die Frage nach dem Ursprünge des Bösen schwer auf dem Herzen liegt, so wissen Sie, mein theurer Freund, dafs ich mit diesen zwar allerdings den Ernst der Frage gemein habe; auch ihre Reden ohne Vergleich passender zur Sache finde, als das von der gegen- über stehenden Parthey stets wiederhohlte Gerede über die Freyheit, welches in pädagogischer Hinsicht nichts anders bedeutet als völlige Un- wissenheit, die zu störrig ist um etwas lernen zu wollen; allein von jenen Theologen irgend eine brauchbare Aufklärung zu erlangen über das was wir zu thun haben, dazu ist leider gar keine Hoffnung. Solche Zög- linge, die von theologischen Heilmitteln erreicht werden können, mögen immerhin dergleichen annehmen; falls gegen den pharisäischen Stolz Deren, die sich vorzugsweise fromm nennen, gebührend vorgebauet ist. Wir wissen nur zu gut, dafs die Zahl Derer, welchen man auf diesem Wege nicht beykommen kann, die bey weitem gröfsere ist und stets bleiben wird.

10.

Wie wäre es, mein Theurer! wenn wir uns bequemten, einen Rück- schritt zu machen? Aufrichtig gesagt, ich habe der Psychologie im nächstvorhergehenden früher gedacht, als für ernstliche Untersuchung auf diesem Gebiete schon die rechte Stelle erreicht scheint. Es war mir um eine vorläufige Uebersicht dessen zu thun, was in Frage kommen müsse; allein die Erinnerung an vorhandene Schwierigkeiten wirft uns zurück auf

Herbart's Werke. IX. 4

. ?q TTT, Briefe über die Anwendung der Psychologie aut die Pädagogik (183 1).

die zuvor berührten phvsiologischen Betrachtungen. Denn gerade die- jenigen Unterschiede der Anlagen, welche bald dies bald jenes einzelne m _en recht hervorstechend für den oberflächlichen Beobachter zu Tage fördern, lassen sich aus reiner Psychologie gar nicht erklären; sie gehören nicht der Seele, nicht den Vorstellungen, nicht den Reihen, die sich daraus bilden, nicht den hohem Producten und Wirkungsweisen derselben. sondern der Einkörpening. welcher die Seele in diesem oder jenem Individuo unterworfen ist. Gar Manches wird für psychologisch gehalten, was der Wahrheit nach physiologisch ist; und solcher Irrthum giebt hintennach Veranlassung, auch das wahre und reine geistige Leben1 für ein leibliches zu halten.

Aber von den Gegenständen, die so recht auf der Gränze zwischen Psvchologie und Physiologie hegen, haben, habe ich eben so wenig bey den Phvsiolosren eine gehörige Aufklärung gefunden als bev denen, die - h für Psvchologen ausseben. Vielmehr bin ich hier weit mehr als mir heb ist, meinen eigenen Versuchen überlassen geblieben. Nehmen Sie vorlieb mit dem Wenigen, was ich darzubieten wag

Schon 'dort, wo ich abbrach bey den Temperamenten, streiften wir vorbev an den Affecten: und Sie werden die Erwähnung derselben zu flüchtig gefunden haben. Zwar nicht hier konnten Sie den eigentlich psvchologischen Begriff derselben Abweichung der Vorstellungen von ihrem Gleichgewichte vermissen; denn das ist eine Abstraction; und die vollständig ausgebildete Erscheinung des Affects, wie wir ihn bey Kindern beobachten, umfalst weit mehr. Kinder lachen und weinen: dabey sind Gefäfse und Muskeln so sichtbar als möglich aufgeregt; ja nicht selten tritt bev ihnen schon wieder die Sonne hervor, während es noch regnet: und ein andermal will das Lachen gar nicht aufhören, während unser Drohen schon die Furcht herbevruft Kurz: der Affect ist offenbar nicht blofs psychisch sondern auch physisch; nur nicht ganz und durchaus . ichzeitig! Vielmehr palst hier die Vergleichung mit dem Meere, welches vom Sturme allmählig aufgeregt, noch eine Weile fortbrauset, und die nächste Luftschicht beunruhigt wenn schon die Atmosphäre still ist. wird vom Geiste zuerst der Leib erschüttert; dann aber dauert in diesem die Bewegung fort und ge- ttet nun ihrerseits dem Geiste nicht sogleich, die natürliche Lage und Thätigkeit wiederzugewinnen. Oder wissen wir etwa nicht aus eigener Erfahrung, dafs. wenn einmal ein Verdrufs unserer mächtig wurde, alsdann der Schmollwinkel unsre beste Zuflucht ist, um den Sturm austoben zu lassen? In Fällen, wo wir das nicht dürfen, droht unserer Gesundheit ein längeres und zuweilen ernstes Leiden.

Nun hören Sie meine Hypothese! Das eben beschriebene Verhältnils möchte wohl nicht blofs zwischen Geist und Leib überhaupt, sondern näher bestimmt zuerst in der Wechselwirkung des Geistes und der Nerven, dann ferner zwischen den verschiedenen Theilen des Nervensystems 1 Ge- hirn, Rückenmark, Ganglien), weiter zwischen diesen und dem Gefäfssystem sammt dem Blute und den übrigen Säften, endlich zwischen den Säften

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neten, heiteren Thätigkeit erfreuen, gar bald in einen Taumel stürzen, worin sie sich selbst nicht wieder erkennen, oder in Schlaffheit versinken, aus der sie sich nicht zu helfen wissen, wenn sie zu lange ohne Aufsicht bleiben. „In jenem Hause" (sagt man uns oft,) „ist der Knabe nicht mehr der nämliche wie hier." Wir wissen zwar auch, dafs Jünglinge, die eine Zeitlang ein wüstes Leben führten, späterhin zu besserer Besinnung, und dann zu eigenem bessern Entschlüsse zu kommen pflegen; aber in der Regel nur dann, wenn etwas Besseres vorausging, woran sie sich be- sinnen können; ungefähr wie gesunkene Nationen, wenn sie sich wieder auf- richten, in historischen Erinnerungen eine Stütze suchen, aber sich nicht zu helfen wissen, wenn diese, leider oft gebrechliche Stütze sie nicht tragen kann.

Wir wissen endlich auch, wie arg das Verkehrte wieder auftaucht, was vor dem Beginn einer sorgfältigen Erziehung in die Kinder hineinkam.

Was ist nun dies Verkehrte? Vorstellungen ohne allen Zweifel; aber nicht blofse Vorstellungen. Solche würden nach den Gesetzen des psycho- logischen Mechanismus sich überwinden lassen durch andre Vorstellungen. Ueberdies bieten dieselben Gegenstände sich Vielen zugleich dar; die nämlichen Beyspiele stehen Vielen vor Augen; die Gelegenheit, sie an- zueignen, ist oftmals für mehrere Brüder von nahe gleichem Alter genau die nämliche; doch wirken sie verschieden. Unter solchen Umständen würden auch Gefühle und Begierden, sofern sie in den Vorstellungsmassen und aus ihnen sich erzeugen, die gleichen seyn, wenn nicht ein starker Grund des Unterschiedes vorhanden wäre. Dieser Grund haftet am In- dividuum; er liegt in seinem Organismus. Mit diesem verändert er sich zuweilen im Laufe der Jahre; der Jüngling lacht, wo der Knabe weinte; der Mann bleibt kalt, wo der Jüngling gerührt war. Dennoch ist wenig- stens in dem reifen Manne noch der Knabe wieder zu erkennen.

Mit dem Organismus ist ein System von Affecten gegeben, die in ihm möglich sind. Der Lauf der Jahre führt die Gelegenheiten herbey, sie whklich zu machen. Gute Erziehung verspätet den Ausbruch der meisten unter ihnen. Das reifere Alter vermindert, besonders im männ- lichen Geschlechte, die ursprüngliche Möglichkeit derselben; dadurch, dafs sich die organischen Systeme der Selbstständigkeit annähern. Kommt nun eine gründliche Geistesbildung hinzu: alsdann leistet der Gedankenkreis seinen Widerstand gegen den innern Aufruhr; und es wird gewonnen, was man im engem, sittlichen Sinne Freyheit des Willens nennt. Fehlt es daran, so kommt zwar auch ein Wille zu Stande, aber nur der, wel- cher im Kreise der frühzeitig erregten Affecten seinen Sitz hat.

1 1.

Es ist doch eine eigne Sache um Briefe, auf die man keine Ant- wort bekommt! Unbequemer als ich Anfangs dachte! Zwar Ihre Antwort, mein Theurer, empfange ich gewifs irgend einmal ; aber ich möchte jetzt gleich wissen, was Sie zu dem Vorstehenden sagen. Wären Sie blofs Pädagoge, so schriebe ich dreist fort; aber Sie sind zugleich ein eifriger Freund der Psychologie; und Sie haben oft genug den Wunsch geäufsert, dafs ich auch so mancherley, was gegen meine Psychologie gesagt worden, selbst antworten möchte, während ich der Meinung bin, Sie könnten das

II. Briet.

373

in mancher Hinsicht mit mehr Erfolg übernehmen als ich selbst. Eben fällt mir nun ein, dafs Manche sich in meine Unterscheidung der Affecten von den Gefühlen nicht haben finden können. Fast möchte ich es Ihnen zuschieben, mich deshalb zu vertheidigen. Aber ich besorge, Sie werden mich beschuldigen, Ihnen dies gerade durch das Vorstehende noch er- schwert zu haben. Was dort von den Affecten gesagt ist, wird von Jenen auf die Gefühle gedeutet werden; und da es doch offenbar auch von den Affecten gilt, so wird man gerade deshalb uns auf den alten Satz zurück weisen : Affecten seyen eben nichts Anderes als stärkere Gefühle. Nicht wahr ?

Hoffen Sie nur1 ja nicht, ich wolle nun meine Zumuthung zurück nehmen! Gerade in solchen Dingen, die nicht eben Rechnung erfodern, verlasse ich mich auf Sie, und auf Ihre logische Uebung. Wollen Sie mir damit aushelfen, so ists gut; wollen Sie nicht, nun so heifst das so viel, als: Sie finden es nicht für nöthig; und dann mag auch meinet- halben Jedermann bey seiner Meinung bleiben. Denn wahrlich! ich sehe gar nicht ein, wodurch ich verpflichtet wäre, Anderer Meinungen zu be- richtigen, nachdem ich die wissenschaftlichen Hülfsmittel, deren ich selbst mich zu bedienen pflege, längst schon zum öffentlichen Gebrauche dar- geboten habe.

Indessen wiewohl ich hier kein psychologisches Capitel einschalten will, so finde ich doch in meinen Papieren einen Satz, dem ich eigent- lich eine andre Stelle zugedacht hatte; der aber hier füglich dazu dienen kann, jeden Schein von Verwirrung in meinem vorigen Briefe zu heben; und der überdies eben so sehr ein pädagogischer Satz ist, als ein psychologischer. Der Satz lautet also :

Affecten machen das Gefühl platt. Für Sie, mein Theurer, ist der Satz gewifs kein Räthsel. Sie kennen eben so genau als ich selbst die verschiedenen praktischen Ideen. Was hat denn die Unterschiede unter diesen Ideen so lange versteckt gehalten? Die Einerleyheit des Affects, welcher entsteht, wenn nach irgend einer von den Ideen gleichviel nach welcher Jemand sich selbst lobt oder tadelt. Böses Gewissen thut weh; und in diesem Schmerze merkt man nicht, wie er entstehe; fast so wenig, als Jemand, der sich gestochen fühlt, davon merkt, ob ihn ein Dorn sticht oder eine Nadel. Darum sage ich, das Gefühl ist platt geworden. Aber war es denn ursprünglich eben so platt? Wenn wir uns die Idee des Wohlwollens denken, so fühlen wir deren Schönheit; wenn wir statt deren uns die Idee des Rechts vergegenwärtigen, so fühlen wir deren Strenge. Ist nun jenes Gefühl und dieses einerley? Gewils nicht! Erst indem das Gefühl der ersten und das der zweyten Art sich mischt mit dem, hiemit gar nicht nothwendig verbundenen, Gefühl des Selbst-Lobes oder Selbst-Tadels, fängt die Eigenthümlichkeit des einen und des andern gewöhnlich an zu verschwinden; kommt aber der Affect, wird dem Menschen heifs und kalt in dieser Selbstbetrachtung, als- dann ist Nerv und Blut in Aufregung, und was der Mensch nun fühlt, das unterscheidet er kaum noch von irgend einer durch fröhliche oder traurige Botschaft erregten Wärme oder Kälte. Daher konnte sogar die

„nun" statt „nur" SW.

■2 74 m* Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

Glückseligkeits-Lehre mit der Moral vermengt werden; an Unterscheidung der ersten Gründe alles Sittlichen war dann vollends nicht zu denken.

Wollen Sie, dafs ich über dergleichen Dinge noch viel Worte mache?

Besser ists, wir wenden jenen Satz pädagogisch an. Vorhin bemerkten wir, es sey die Wohlthat der guten Erziehung, den Ausbruch vieler Affecten zu verspäten. Dies zeigt sich in einem neuen Lichte, wenn wir jetzt hinzufügen, dafs die Gefühle Gefahr laufen, durch die Affecten nicht veredelt, nicht gesondert und geläutert, sondern ins Gemeine herabgezogen zu werden. Sie, als ästhetischer Kritiker, billigen gewifs nicht die so- genannten Rührspiele; und warum nicht? Doch wohl deshalb, weil da, wo es Thränen regnet, bald Niemand mehr weifs, worüber eigentlich ge- weint wird, ungefähr so wie im Gezanke der philosophischen Schulen die Fragepuncte verschoben und allmählig vergessen werden. Würden Sie die pädagogischen Rührspiele mehr billigen? Hiemit, denke ich, ist schon der unrichtige Gedanke, als ob es rathsam wäre, Affecten durch andre und entgegengesetzte Affecten zu bekämpfen, gelegentlich ab- gewendet; wiewohl nähere Bestimmungen die Sache verändern können. Doch davon ist hier nicht nöthig zu reden.

12.

Da wir noch auf der Gränze stehen zwischen Physiologie und Psychologie, so pafst es sich, einen Blick auf die Thiere zu werfen, und den besondern Unterschied des ersten Aftects zu beachten, den unsre beyden gewöhnlichsten Hausthiere zeigen, sobald etwas Neues in ihre ge- wohnte Sphäre kommt. Die Katze fürchtet sich, und läuft davon; der Hund zürnt und bellt. Nach einem Weilchen aber verschwindet dieser Unterschied; sie verrathen nun1 ihre Neugier, jene von fern, dieser ganz nahe und dreist.

Im Allgemeinen freylich ist die Furcht vor dem Menschen bey allen Thieren vorherrschend, sofern sie nicht gereizt sind, entweder durch Be- leidigung oder durch Hunger. Auch der Hund läfst sich bekanntlich in Furcht setzen, sobald er aufser dem Bezirke sich befindet, den er als sein Eigenthum betrachtet; besonders in der Mitte vieler Fremden. Sein Zorn also, den er auf seinem Boden dem Ankömmlinge so laut verkündet, ist die Ausnahme. Furcht ist die Regel. Da jedoch die Ausnahme das ganze Hundegeschlecht befafst, so mufs sie auf der Organisation dieses Geschlechtes beruhen.

Beyde Affecten zeigen den Zusammenhang zwischen Nerven und Gefäfsen. Furcht treibt das Blut nach innen; Zorn nach aufsen.

Was meinen Sie. wenn wir die Sache umkehrten; und so sprächen: wo sich das Blut nach innen treiben läfst, da ist Furcht; wo aber das Herz so tüchtig ist, den Andrang zurückzutreiben, da entsteht Zorn! Wäre das etwas richtiger? Wenigstens wäre es im Geiste der Physiologen, die aus dem Leibe den Geist ableiten.

Aber der Hund, indem er fern vom Hause sich umhertreibt, nimmt sein Herz mit; nur seine Herzhaftigkeit blieb zu Hause. Er weifs wo

1 „nur" SW.

12- Briet. 375

er ist, und nach diesem Wissen richtet sich der Affect. Vom Organismus also können wir die Erklärung nicht anfangen; eben so wenig als wir ohne ihn damit zu Ende kommen. Zuerst wird der Hund gestört in seinem bekannten Vorstellungskreise, und eben dieser Vorstellungskreis, so lange die Anschauung der gegenwärtigen Umgebung ihm zur Stütze dient, das heifst, wenn der Hund zu Hause ist, leistet den ersten Widerstand, gegen den unwillkommenen Störer. So hält sich auch der turgor vitalis, ja er wächst, und dringt vor mit Ungestüm. Wo aber die vorhandenen Vorstellungen sich zurückdrängen lassen, da schwindet auch das rege Leben, und das Blut entflieht in die grofsen Gefäfse, als in blofse Behältnisse, während seine eigentliche Bestimmung, nämlich die Er- nährung, gehemmt ist. Dieses nun gilt auch umgekehrt. Ist das Gefäfs- System schwach, und zu wenig selbstständig, wie bey dem stärksten Manne nach einem Verluste von Blut und Säften, oder wie bey Kindern, und oft bey Frauen, dann unterliegen Blut und Nerven schon dem ersten Stofse, welchen die Vorstellungen empfingen und weiter gaben; und nun folgt sogleich der zweyte Act des Affects: der gestörte Organismus hemmt rückwärts den Geist; Furcht ist schon da, bevor der Zorn sich ausbilden konnte.

Wenn nun die gröfste Katze eher davon läuft, als der kleinste Hund : so werden wir allerdings schliefsen, der Hund besitze mehr Selbstständigkeit des Gefäfssystems; folglich könne er den ersten Stofs, welchen sein Vor- stellungskreis, und darum auch Nerven und Blut, beym Anschaun des fremden Gegenstandes erleiden mufste, besser ertragen und besser darauf zurückwirken. Bey der Katze dagegen leidet das Gefäfssystem, und ver- wickelt in dies Leiden auch die Nerven und den Vorstellungskreis. Doch läuft nicht jede gleich weit; manche dreht sich bald um, und schaut er- wartend, was wohl weiter geschehn werde? zum Zeichen, dafs nun auch die Vorstellungen ihre Spannung wieder gewinnen.

Fiat applicatio ! Es ist von grofser Wichtigkeit, den ersten Affect der Kinder beym Eintreten neuer Gegenstände zu beobachten; aber weder Furcht noch Zorn sind willkommen. Hirn und Gefäfssystem sollen im Menschen so wenig als möglich von einander abhängen.

Vergessen wir nur nicht, dafs beym Hunde nicht eher Zorn entsteht, als bis ein rein psychischer Procefs voranging und sich hinreichend aus- bildete. Er mufste erst seinen Boden, seinen Herrn und dessen Ge- nossen kennen lernen; ja sogar erst diesen Kreis abschliefsen, um die Fremden zu unterscheiden. Ganz junge Hunde sind nicht zornig; und die sehr klugen Hunde, die nach ihrer Art die Welt kennen, sind es weniger, als das kleine Völkchen was den Ofen nicht weit verhefs.

Diesen Brief werde ich Ihnen wohl handschriftlich senden müssen, damit ihn diejenigen, welchen Physiologie soviel ist als Anthropologie, nicht zu sehen bekommen. Und vollends, damit sich die Feyerhchen unter den Päda^oo-en nicht darüber entsetzen, welche stets von der Wurde des Menschen in erhabenen Phrasen declamiren, während ihnen die Zöglinge entschlüpfen Wir wollen sehen; wenn ich nicht nöthig finde, mich aui das hier Gesagte zu berufen, so nehme ich den Brief aus dieser Sammlung heraus.

xjb III. Briefe über die Anwendung der Psychologie ant die Pädagogik (1831).

Der vorige Brief bleibt; aber die Anwendung finden Sie sogleich von selbst.

Es kann Ihnen nicht entgangen seyn, dafs nicht alle Kinder, Knaben, Jünglinge, einander gleich sind in Ansehung der Art, wie sie das Neue aufnehmen, was sich darbietet. Vielmehr, es finden sich darin Ver- schiedenheiten, hinter denen sich Spuren eines zwar nicht heftigen, jedoch einflufsreichen Affects bemerken lassen. Der Deutlichkeit wegen könnte ich mich hier zuerst auf das Weinen der kleinen Kinder berufen, sobald sie nur eine Weile an einem fremden Orte allein gelassen werden; des- gleichen an die Furcht im Finstern, die selbst Erwachsene noch anwandelt. Hiebey werden Sie sogleich an die Hemmung denken, welche der vor- handene Vorstellungskreis1 erleiden mufs, wenn der Sinn einen unge- wohnten Gesammteindruck empfängt. Wir selbst würden auf Reisen eine ähnliche Hemmung empfinden, wenn wir in Gegenden kämen, wo Alles anders aussähe als bey uns; während dem Reisenden auf der ganzen Erde nur selten, ja vielleicht nie solche Orte vorkommen, die nicht wenigstens im Allgemeinen mit bekannten Gegenständen Aehnlichkeit zeigen. Aber solche Beyspiele liegen unserer jetzigen Betrachtung zu fern. Nöthiger ist, zu bemerken, dafs die Neugier, welche wir gewöhnlich bey Kindern hervortreten sehn wo sich etwas Neues darbietet, keineswegs all- gemein, und am wenigsten der erste Affect ist, welchen der fremde Gegen- stand, als solcher zu erregen geeignet war. Manchmal wird die Scheu da merklich, wo wir auf die Neugier hofften; manchmal auch die Abneigung, während wir die Aufmerksamkeit zu erregen wünschten. Und nicht selten geht der Knabe an dem, was wir hinstellen, damit er es betrachten möge, gleichgültig vorüber, als an Dingen, die ihn nichts angehn, um die er nicht nöthig habe sich zu kümmern. Das Entgegenkommen der Kinder kann in der Lehrstunde den Unterricht sehr leicht machen, aber weil es so oft mangelt, darum Befehl, Verdrufs, Drohung! Wir suchen die Lehr- methode zu verbessern, dann stofsen wir auf eine frühere ähnliche Schwierigkeit. Der Unterricht, sagen wir, soll anknüpfen an Bekanntes aus Erfahrung und Umgang; ja, hätten die Kinder nur soviel Erfahrung, als zu sammeln ihnen Gelegenheit wurde! Aber das Entgegenkommen hat schon längst gemangelt; nur die guten Köpfe sahen und hörten; die andern liefsen die Dinge an sich vorübergehn, ohne darauf zu merken. Sie sehn, mein theurer Freund! dafs hier Umstände verborgen liegen, welche ins Licht zu setzen von grofsem Interesse seyn müfste. Die ge- ringsten Verschiedenheiten des Affects, der, wenn er hundertfach und tausend- fach vergröfsert würde, dann erst kenntlich genug seyn möchte, um die Namen Furcht oder Zorn sich anzueignen, können hinreichen, um das Auffassen, theils des absichtlichen Unterrichts, theils schon der gemeinsten Erfahrungsgegenstände zu verderben. Diese Affecten, wo sie vorkommen,

1 „Vorstellungstrieb" statt „Vorstellungskreis" SW.

13. Brief. 377

haben ohne Zweifel physische Ursachen ; aber es wird sich zeigen, dafs auch selbst die rohe Gleichgültigkeit, welche öfter merklich wird, physio- logisch zu erklären ist.

Jetzt nähern wir uns dem Puncte, von wo an wir mit Bestimmtheit an die einzelnen psychologischen Untersuchungen zurückdenken müssen. Dabey wird das Physiologische dergestalt in den Hintergrund treten, dafs wir es unter den ganz allgemeinen Begriff eines Hindernisses fassen, welches dem psychologischen Mechanismus zwar selten einen völligen Stillstand oder eine gänzliche Verkehrtheit aufnöthigt, (denn vom Schlafe und vom Wahnsinn wollen wir nicht reden,) wohl aber ihn verzögert und seinen Rhythmus verändert. Um aber die Mannigfaltigkeit der Erfolge, welche daraus entstehn können, zu überschauen, ist es nöthig, die psychischen Processe selbst vor Augen zu haben; denn in ihnen liegt das Mancher- ley und das Verschiedene, welches durch jenes Hindernifs umgestaltet wird. Das Nächstvorhergehende nun war schon der Anfang dieser Betrachtung. Bevor ich es weiter entwickele, mufs ich die Lücke andeuten, die un- vermeidlich offen bleibt.

Der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Theilen des Hirns unter einander und mit dem Rückenmarke und dem sympathischen Nerven- system, ferner zwischen diesem allen und den Gefäfsen, endlich der Vege- tation mit der Sensibilität und Irritabilität, ist bisher viel zu wenig von den Physiologen erforscht, als dafs die Mannigfaltigkeit der Affecten nach ihren Realgründen klar sein könnte. Allein schon der oben an- gegebene allgemeine Begriff des Affects, nach welchem er allemal in zwey Perioden zerfällt, eine der Beschleunigung des einen Systems durch ein anderes, dann die zweyte der Rückwirkung des Beschleunigten, wobey nun das zuvor Beschleunigende passiv wird, dieser Begriff, bezogen auf die verschiedenen Organe, welche der Sensibilität, Irritibilität, und Vegetation angehören, läfst erwarten, dafs die Mannigfaltigkeit der Afiecten aufserordent- lich grofs seyn müsse. Andererseits, je vollkommener sich der menschliche und besonders der männliche Organismus ausbildet, schon im spätem Knaben- und anfangenden Jünglings- Alter, um desto weniger kann von allen diesen Affecten in der Sphäre der pädagogischen Beobachtung sichtbar wer- den; daher wir wenig dabey verlieren, wenn wir die Rückwirkungen der Leber, der Lunge, des Magens u. s. w. nicht genau unterscheiden können.

Das Hindernifs, welches den Rhythmus des psychologischen Mecha- nismus verändert, mag kommen woher es will : uns interessiert nur die Folge, die es hervorbringt, und wodurch es der Erziehung Schwierigkeiten in den Weg legt.

Nur noch die einzige Vorerinnerung, dafs nicht immer die Gegen- wirkung des Leibes gegen die geistige Thätigkeit sich auf blofse Verhinde- rung beschränkt, sondern dafs zuweilen ein wirkliches, positives körper- liches Leiden eintritt. Dann thut das Lernen weh; ja mir sind Beyspiele bekannt, wo es Krämpfe erregte, die wegen häufiger Wiederhohlung end- lich die geistige Anstrengung untersagten. Gewifs wird in andern Fällen zu- weilen der Schmerz überwunden ; weit öfter aber geht der Erziehung eine kostbare Zeit verloren, bis es gelingt, die Nerven zu stärken, damit sie dem Geiste besser zu Dienste stehen.

■zj8 III. Briefe über die Anwendung der Psychologie aut die Pädagogik (183 1).

14.

'Wünschen Sie etwa, dafs wir uns nun sogleich auf das schon oben (9) berührte Feld der empirischen Psychologie versetzen, und die so- genannten Seelenvermögen nach einander durchmustern? Ich denke, jene Erwähnung des Gegenstandes reicht schon hin, damit es an einer ungefähren Übersicht dessen, was in Frage kommt, nicht gänzlich mangele. Sie mein Freund! möchten es mir wohl nicht danken, wenn ich gerade Linien auf einem Felde abstecken wollte, wo jeder einzelne Punct des Bodens eine besondere Bearbeitung erfordert. Solche logische Künste haben lange genug mit dem leeren Schein des Wissens getäuscht; über- lassen wir sie Denen, die zu ernstlicher Forschung einmal nicht auf- gelegt sind; benutzen wir lieber die Vorarbeit, die wir haben! Lassen wir das Höhere so lange weg, bis wir das Niedere, wovon jenes abhängt, so- weit als unsre jetzige Kenntnifs reicht, zum Behuf der Pädagogik werden erwogen haben! Setzen wir demnach für jetzt alles bey Seite, was sich auf allgemeine Begriffe, auf Urtheil, Sprache, Reflexion, Zusammenwirken mehrerer Vorstellungsmassen, endlich auf das Selbstbewufstseyn bezieht; denn von diesem Allen können wir noch nichts Gründliches in päda- gogischer Hinsicht sagen, bevor die mehr elementaren Gegenstände wer- den erörtert seyn.

Sie erwarten ohne Zweifel, dafs ich die Reihenbildung der Vorstel- lungen in Betracht ziehen wolle? Bald! aber auch dies noch nicht gleich! Es giebt noch etwas Früheres zu bedenken, was mit dem vorigen Briefe zusammenhängt.

Nicht erst die mittelbare Reproduction , worauf die Reihenbildung beruht, sondern schon die unmittelbare veranlafst Bemerkungen, die wir nicht übergehen dürfen.

Zuvörderst bitte ich, aus der Psychologie den Begriff eines physio- logischen Hindernisses zurückzurufen. Sie wissen, dafs ein solches, wenig- stens beym gesunden Menschen, nicht als unfähig alles Nachgebens, nicht starr, sondern als ein solches mufs gedacht werden, welches, indem es die Vorstellungen hemmt, auch seinerseits der Hemmung durch jene zu- gänglich ist* Sonst würde der Schlaf, das bekannteste Phänomen, wel- ches aus solcher physiologischen Hemmung entspringt, nicht überwunden werden können. Starkes Geräusch, starkes Licht, und jeder starke Sinnes- Eindruck ist aber fähig, uns selbst aus dem tiefsten Schlafe zu wecken. Das heifst: es kommt bev demselben auf das Verhältnifs an, welches zwischen der Energie des Vorstellens, und der physiologischen Hemmung Statt findet.

Dies vorausgesetzt, so lassen Sie uns aus derjenigen Rechnung, welche die unmittelbare Reproduction betrifft, den Begriff des freyen Raums hervorheben.*' Gesetzt, eine Vorstellung würde plötzlich von aller Hem- mung frey, so wäre der freye Raum so grofs als das ganze bisher gehemmte Quantum dieser Vorstellung; sie würde aber dennoch nicht

* Psychologie II, § 160. [Bd. VI vorl. Ausg.] ** Ebenda I, § 85. [Bd. V vorl. Ausg.]

M- Briet. 379

plötzlich ihren gehemmten Zustand in den ungehemmten verwandeln, sondern nur allmählig, nach einem mathematisch bestimmten Gesetze, sich dem ungehemmten Zustande annähern,* oder, wie wir uns auch aus- drücken können, den ihr gegebenen freyen Raum nur allmählig ausfüllen.

Der Deutlichkeit wegen zähle ich nun die einzelnen Puncte auf, worauf es bei der unmittelbaren Reproduction ankommt; und dabey werde ich, damit Sie die Psychologie desto1 leichter vergleichen können, die dort gebrauchten Bezeichnungen auch hier anwenden. Also:

i. Es giebt eine ältere Vorstellung H, welche eben jetzt soll wieder erweckt werden. So nämlich drückt man sich gewöhnlich aus; als ob die Vorstellung schliefe: und diese Analogie des Schlafs ist ganz 2 richtig ; nur mit der Nebenbestimmung, dafs, wenn wir schlafen, alsdann alle unsere Vorstellungen aus physiologischen Gründen gehemmt sind; wenn wir aber vollkommen wachen, alsdann kein physiologisch zu erklärendes Hindernils, sondern lediglich der Druck anderer Vorstellungen den Grund enthält, warum die Vorstellung H für jetzt schläft.

2. Da sie schläft, so müssen irgend welche andre Vorstellungen wachen, oder, was dasselbe sagt, im Bewufstseyn gegenwärtig seyn; deren Druck eben den Grund enthalten soll, weshalb jene schläft, und mit ihr unzählige andre auch schlafen. Die jetzt wachenden Vorstellungen mögen mit a und b angedeutet werden, obgleich es deren eine Menge geben kann. Wie manchmal ein dramatischer Dichter, wenn er einen Charakter braucht, der einer unbestimmten Menge von Personen zukommt, denselben repräsentiren läfst durch ein paar Individuen, so werden auch hier ein paar Vorstellungen a und b in Rechnung gesetzt, weil dies genügt, um die allgemeinen Gesetze zu finden, auf die es zunächst ankommt.

3. Solange nun a und b wachen, mufs H schlafen. Also umgekehrt, damit H erweckt werde, müssen a und b gehemmt werden. Dies ge- schieht am einfachsten und leichtesten, wenn eine neue Vorstellung hinzu- kommt, nämlich in der Wahrnehmung oder durch Sinneseindruck, welche den a und b entgegenwirkt, nicht aber zugleich dem H; denn im letztem Falle würde H dadurch eben in so fern, als es von diesem Gegensatze getroffen wäre, keinen freyen Raum erlangen. Also kurz: wir nehmen an, eine neue Vorstellung c werde gegeben, welches c aber dem H gleich- artig ist, so dafs, wenn H die Empfindung des Süfsen war, dann auch c das nämliche Süfs, - wenn aber H grün war, dann auch c grün ist. Oder wollen Sie lieber, so sey H die Vorstellung einer bekannten Person; und wenn diese nämliche Person, an die wir so eben nicht dachten, uns nun beo-e<met, so ist die neue Anschauung dieser Person das eben ge-

nannte c. . . .

4. Jetzt erwacht die gleichartige Vorstellung H. Aber nicht auf einmal cranz und gar! Sondern nur ein Quantum y, welches ein Theil von H ist (oder doch für jetzt so angesehen werden mag, obgleich es eigentlich

* Psychologie I. § 81. [Bd. V vorl. Ausg.]

1 „desto" fehlt SW.

2 „auch ganz" statt „ganz" SW.

?8o HI- Briefe über die Anwendung der Psychologie aui die Pädagogik (1831).

ein Grad des Vorstellens ist) tritt hervor in der Zeit t; so dafs bey längerer Zeit (wenn t wächst), auch y wachsen wird.

5. Dieses y richtet sich in Hinsicht seiner Gröfse, die es in jedem Augenblicke hat, gar sehr nach dem freyen Raum, der dem H gegeben wurde. Und was ist dieser schon vorhin erwähnte, jetzt genauer zu be- stimmende freve Raum? Nichts anderes als die Möglichkeit, dafs H sich in so weit erheben und gleichsam erhohlen könne, als der Druck durch a und b wegfällt. Heifst nun der freye Raum x: so ist dieses x gerade so grofs als Dasjenige, was von a und b zusammengenommen durch c aus dem Bewufstseyn verdrängt wurde. Das Alles haben Sie, mein theurer Freund! nun freylich in meiner Psychologie schon in einem Dutzend Zeilen gelesen ; entschuldigen Sie demnach meine Weitläuftigkeit

die nicht Ihnen * gilt, und doch Ihnen irgend einmal behülflich seyn kann. Sie verstehn mich wohl!

6. Bisher war noch von keinem physiologischen Hindernisse die Rede, jetzt wollen wir ein solches einführen, und mit P bezeichnen.

Von diesem Drucke P gilt nun die oben erwähnte Voraussetzung. Nämlich was- auch der Ursprung dieses Druckes seyn möge, in den Nerven zunächst, und früher vielleicht im Blute oder in der Vegetation

so mufs doch zwischen dem Leibe und Geiste schon Wirkung und Gegenwirkung statt gefunden haben, ja auch zwischen beyden schön eine Art von Gleichgewicht wo nicht völlig eingetreten, so doch dergestalt bestimmt seyn, dafs es eintreten sollte. Also der Druck P würde gröfser, wenn a und b kleiner; oder wenn a und b gröfser, dann würde P kleiner seyn. Sie werden Sich nämlich erinnern, dals wir mit a und b dasjenige Vorstellen bezeichneten, was eben jetzt im Bewufstseyn (ganz oder theilweise) gegenwärtig ist. Gegen dieses hatte sich der leibliche Zustand ins Gleichgewicht gesetzt oder setzen sollen; nicht aber etwa gegen H, welches schlief, oder auf der statischen Schwelle war.*

7. Was geschieht nun, indem c hinzukommt? Es leiden davon a und b; sie sinken im Bewufstseyn. Die Kraft, welche gegen P wirkte, wird geschwächt. Anstatt also, dafs die nächste Folge hätte seyn sollen ein hervortretendes y, indem H freyen Raum bekam, erhebt sich zu- nächst P, welches soviel bedeutet, als eine Verminderung des Vorstellens überhaupt. Es ist nun nichl mehr wahr, dafs der freye Raum für H so- grofs sey, als das was von a und b zusammengenommen sinkt; sondern es kommt noch darauf an, in welches Gleichgewicht P treten werde gegen a, b, und c zusammengenommen.

8. Wenn aber, wie gewöhnlich, die Vorstellung c nicht auf einmal, sondern in fortdauernder Wahrnehmung gegeben wird, so verliert sie selbst an Energie durch den Druck P. Denn jede Vorstellung, die aus dem allmähligen Empfinden oder Wahrnehmen entsteht, büfst fortdauernd etwas

Psychologie I, § 47. [Bd. V vorl. Ausg.]

1 „Ihnen nicht" statt „nicht Ihnen" SW.

14- Brief. 3 8 1

ein durch die Hemmung, der sie von Anfang an schon unterworfen ist.* Was daraus folgt, liegt am Tage. Durch c sollten a und b gehemmt, durch diese Hemmung sollte dem H freyer Raum geschafft werden. Wenn nun c kleiner ausfällt wegen des Druckes P, so leiden a und b weniger Hemmung. Das ist ein neuer Grund, weshalb die Reproduction des H schlechter gelingt. Und da der vorige Zustand des Geistes eben darauf beruhete, dafs a und b im Bewufstseyn waren: so wird eben dieser Zu- stand nun weniger verändert; es bleibt mehr beym Alten; und die merk- lichste Veränderung besteht in der Verdüsterung des Geistes, welche wir schon vorhin durch das Wachsen des P bezeichnet haben.

9. Wofern nun eine ganze Reihe von neuen Wahrnehmungen dar- geboten wird, sey es durch Unterricht oder durch die Erfahrung und Umgebung, so wiederhohlt sich jedesmal das zuvor Beschriebene. Die Verdüsterung nimmt zu; die Reproductionen , das heifst, die An- knüpfungen an das früher Bekannte, gelingen schlecht; der alte Traum wird fortgeträumt, oder doch nur wenig gestört.

Erkennen Sie wohl hierin, was Ihnen und mir unendlich oft be- gegnet ist bey schläfrigen, ermatteten oder gleichviel weshalb übel auf- gelegten Lehrlingen ?

15-

Jetzt einige Nachträge. Es konnte Ihnen keine Mühe kosten, an die Stelle des obigen c Ihren Unterricht, an die Stelle des H den Vor- rath früherer Kenntnisse, bey denen angeknüpft werden soll, an die Stelle der a und b die unzeitigen Gedanken in den Köpfen der Lehrlinge zu setzen, die sich jeden Augenblick vordrängen, sobald der Unterricht eine Pause macht, und die man wenigstens im Anfange der Lehrstunde bey Kindern fast immer vorfindet. Ob aber das vorige P jedesmal eine all- gemeine Negation des Vorstellens überhaupt sey? darnach kann gefragt,

und durch eine Abänderung hierin kann die Bedeutung des Vorigen noch erweitert werden.

P sey jetzt ein partieller Druck; nicht auf alles Vorstellen über- haupt, sondern auf solche Vorstellungsmassen, die einen bestimmten Affect zu erregen geeignet sind. Sie haben zum Beyspiel einen Lehrling vor sich, der mit mühsamen Fleifse Grammatik lernte; mit dieser Beschäftigung, (die ihren eigenthümlichen Affect in sich trägt,) hat sich seine Unlust bereits ins Gleichgewicht gesetzt. Jetzt wollen Sie ihn durch Geschichte oder durch Poesie beleben; Sie suchen ihm diese neuen Gegenstände nahe zu bringen, indem Sie dieselben möglichst seinem Leben, seinen Verhältnissen, seiner eigenen Erfahrung angemessen auswählen und dar- stellen. Was geschieht? Indem Sie ihn für jetzt aus seiner gewohnten grammatischen Beschäftigung herausversetzen, erhebt sich in ihm die Unlust

gerade das nämliche unbehagliche Gefühl, welches bisher durch die gram- matische Aemsigkeit pflegte im Zaume gehalten zu werden. Die sanfteren Töne, die Sie angeben, wollen nicht ansprechen; keine Resonanz kommt Ihnen aus dem Innern entgegen. Und am Ende findet sich, dafs die

Psychologie I, § 95. [Bd. V vorl. Ausg.]

^82 III- Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

Grammatik fester sitzt als Sie dachten. Zwar ohne Liebe betrieben, wird sie doch leidlich befunden; hingegen, was Sie darboten, gewinnt weder Dank noch Erfolg.

Wollen wir etwa das Beyspiel umkehren? Jemand hat ohne die Gunst der Musen Geschichte gelernt; jetzt heifst man die Geschichte bey Seite setzen; Grammatik wird auf die Lehrstunden verlegt, die zuvor jener gewidmet waren. Man glaubte eine Last hinwegzunehmen; aber das vorige Misbehagen tritt nur deutlicher hervor, da es von dieser Last nicht mehr ein Gegengewicht empfängt. Man hoffte ein Studium an die Stelle des andern setzen zu können; aber die Grammatik will nicht munden; sie bleibt fremd, es kommt ihr nichts entgegen, und die frühere Be- schäftigung ist nicht so leicht verdrängt als es schien.

Sollte wohl damit das seltsame Benehmen einer Völkerschaft Aehnlich- keit haben, die sich eben einer Regierung entzogen hat, mit der sie un- zufrieden war, und die nun, nachdem eine andre Herrschaft an die Stelle getreten, sich ihrer Unzufriedenheit nur noch mehr hingiebt, anstatt sich dem neuen Herrn anzuschliefsen ?

In der-That fürchte ich sehr, dafs die angestellte Betrachtung viel weiter reicht, als man auf den ersten Blick glauben möchte. Wer über irgend ein Unwohlseyn klagt, der merkt selten, dafs es aus mehrern Affectionen, welche mit einander ins Gleichgewicht traten, zusammengesetzt ist; er hofft, durch irgend ein Mittel das frühere gesunde Leben wieder auf- zureden; wenn nun die Wirkung dieses Mittels nur den einen Theil des zusammengesetzten Uebels trifft, so erhebt sich nicht zunächst und nicht allein die bessere Lebensregung, sondern der andre Theil des Uebels tritt stärker heraus, und vereitelt, indem er um sich greift, allmählig selbst in Beziehung auf den ersten Theil die Wirkung des Mittels.

Die Versuchung ist grofs, hievon selbst in Hinsicht leiblicher Uebel eine Anwendung zu machen; besonders da diese zum wenigsten eben so sehr auf innern Zuständen als auf äufsern beruhen.* Wir haben nicht nöthig, hiebey an bestimmte, von den Aerzten mit Namen benannte Krankheiten zu denken, wiewohl auch diese schwerlich so einfach seyn mögen, wie es ein bestimmter, einzelner Name anzudeuten scheint. Aber was man relative, mithin unvollkommene Gesundheit zu nennen pflegt, das ist gewifs nicht einfach, sondern es ist ein Zustand des Gleichgewichts unter vielerley, sich gegenseitig verlarvenden Uebeln; von denen nach Umständen bald das eine, bald das andere mehr hervortritt, keins aber eigentlich gehoben wird, wenn schon ein Mittel darauf wirkt, das an sich für einfache Zustände Heilung hätte hervorbringen können.

Indessen wollen wir dergleichen Ausdehnungen des Vorigen, welchen mehr Präcision zu geben hier nicht möglich ist, gern fallen lassen; und uns in die pädagogische Sphäre zurückziehn. Sind Ihnen nicht schon die Verlegenheiten des Erziehers bey verdorbenen Subjecten eingefallen? Ein junger Mensch hat Neigung zum Kartenspiel, zu den Vergnügungen der Wirthshäuser. Sie verbieten ihm diese. Was geschieht? Andre, ge- heime üble Neigungen, die durch jene Zerstreuungen noch im Zaume

* Metaphysik II, § 438 nebst dem, was vorhergeht und was folgt. [Bd. VIII vorl. Ausg.]

ib. Briet. r> g?

gehalten waren, verstärken sich; das Edlere, was Sie an die Stelle setzen wollten, was aber freylich gröfstentheils von innen her hätte entgegen- kommen müssen, bleibt aus; selbst dann bleibt es aus, wenn es vermöge früherer Jugend-Eindrücke vorhanden ist, die nur nöthig hätten von ihren Hindernissen befreyt, und mit neuer Nahrung versorgt zu werden. Das Neue, was Sie darbieten, mufs verkümmern, noch ehe es konnte gehörig aufgenommen werden von dem vorhandenen Gedankenkreise. Daraus ent- steht die Folge, dafs sehr bald auch Kartenspiel und Wirthshausbesuch wieder an die Tages-Ordnung kommt; denn der Mensch war im Innern nicht verändert worden.

Nun bitte ich Sie damit die pädagogischen Vorschriften, wie man sie in den Büchern meistens findet, zu vergleichen. Die Fehler der Zög- linge haben ihre Namen bekommen; gegen jeden Fehler finden Sie ein Heilverfahren angegeben; einige Bände des CAMPEschen Revisions- Werkes haben mich oft an die altern medicinischen Schriften erinnert, welche voll stecken von Recepten, so dafs man meinen sollte, man habe einen eben so reichen als sichern Arzneyschatz, vor sich; und es werde nur darauf ankommen, unter so vielen Mitteln die vortheilhafteste Wahl zu treffen. Hier nur mag man mit vollem Rechte klagen, dafs die Bücher- welt gar weit verschieden ist von der wirklichen Welt. Aber wie kam das? Hatten jene Pädagogen etwa keine Erfahrung?

Oja! Erfahrung besafsen sie wohl; aber sie wufsten sich nicht darin zu orientiren. Die Fehler der Zöglinge, als Gegenstände pädagogischer Reflexion, sollten, wie billig, aus der Psychologie erklärt werden. Die Psychologie bot sich dar, wenn man seine Gedanken ordnen, wenn man ein Buch schreiben wollte. Was bot sich dar? Die wahre Psychologie? Nein, sondern die alte Meinung von den Seelenvermögen. Da sollte und mufste hier die Phantasie krank seyn, dort der Verstand, ein andermal der Wille, und wieder einmal die praktische Vernunft. Nicht ärger konnte der wahre Zusammenhang der Dinge verlarvt, und die eingesammelte Er- fahrung unnütz gemacht werden, als in Theorien, denen von den Gesetzen des psychischen Mechanismus selbst der erste Begriff fehlt, und so gänz- lich fehlt, dafs sogar die heutigen Psychologen ihn noch nicht zu fassen im Stande sind, wegen der vollkommenen Unmöglichkeit, ihn mit ihren angewohnten Vorurtheilen zu vereinigen.

Und was thun unsre heutigen Schulmänner dabey? Sie schreiben Archive für Philologie und Pädagogik. Wer wird solche der Philologie misgönnen?

16.

Jeder Andre, aufser Ihnen, mein theurer Freund, möchte nun von mir verlangen, ich solle sagen, was der praktische Erzieher in solchen Verlegenheiten, wie die vorerwähnten, zu thun habe?

Darum schreibe ich Briefe an Sie. Mögen Sie in meinem Namen weiter sprechen. Sie wissen, dafs kein praktischer Erzieher einzeln steht; dafs, wenn Hülfe möglich seyn soll, diese allgemein seyn mufs. Wird die öffentliche Meinung falsch geleitet von Denen, die für einsichts- voll gelten, so wirkt sie mehr als jedes einzelne Uebel, dem Erzieher ent-

•384 m~ Briefe über die Anwendung der Psychologie aul die Pädagogik (1831).

gegen. Wie lange schon hätte ich über Pädagogik die vor einem Viertel- jahrhundert bey Seite gelegte Feder wieder zur Hand genommen, wenn ich nicht wüfste, dafs zu besserer Erziehung gründliche Pädagogik, zur Pädagogik aber Psychologie nöthig ist, und dafs, wenn diese irgend ein- mal gedeiht, alsdann Pädagogik und praktische Erziehung sich schon ein- stellen werden; vorausgesetzt, dafs man sie vor Allem zuerst in den Familien suche und ins Werk richte; denn so lange man sich über diesen Punct täuscht, giebt keine Wissenschaft gründliche Hülfe.

Kehren wir nun dorthin zurück, wo wir den eisten Affect in Be- tracht zogen, welchen das Neue erregen kann. Allgemein ist es Furcht; seltener Zorn; doch gegen diese sonst natürlichen Affecten schüzt die menschliche Organisation, wenn sie gesund, und wenn der neue Eindruck milde genug ist, so sehr, dafs bey dem gesunden Kinde gewöhnlich die Neugier, die sonst auf Furcht und Zorn folgen würde, (12) schnell genug hervortritt, damit jene Affecten unmerklich werden, denn die Zeit, deren sie bedürften1, um sich auszubilden, wird unendlich kurz. Aber wir haben uns2 schon gestanden, dafs diese Neugier doch nicht allgemein sey, (13) sondern oft genug eine stumpfe Gleichgültigkeit an die Stelle trete; wobey das Neue nicht eindringt, das ihm analoge Alte sich nicht gehörig reproducirt, der eben vorhandene Zustand des Bewufstseyns sich wenig verändert, und die Veränderung fast nur in einer Verdüsterung be- steht, welche zwar schnell vorüber geht, wofern des Neuen nicht zuviel wird, alsdann aber den Menschen beynahe so zurückläfst wie er war, ohne dafs man sagen könnte, er sey von der Stelle gekommen. Hievon nun konnten wir uns den psychologischen Grund angeben, ohne aus der Physiologie mehr als nur den Begriff eines Hindernisses zu entlehnen. Sollte dagegen Furcht oder Zorn merklich werden, so mufsten wir die Erklärung in dem Verhältnisse des Nerven- und Gefäfssystems suchen. Dafs nun Etwas von dem Allen , auch da wo es nicht in auffallenden Zeichen her- vortritt, dennoch in der That bey manchen Individuen vorkomme; dafs Eins mit dem Andern in verschiedenen Verbindungen stehe, dafs die Verschiedenheit der Anlagen, die wir zu untersuchen angefangen hatten, hier- auf grolsentheils beruhe, das werden Sie wohl nicht zu leugnen geneigt seyn.

Oder möchten Sie (um nun das Einzelne näher zu besehen) zu- vörderst von der Furcht bezweifeln, dafs dieselbe sich oftmals der Auf- nahme des Neuen in den Weg stelle.

Natürlich rede ich hier nicht von solcher Furcht, die in Gefahren, bey drohenden Uebeln, aus der Ungewifsheit dessen was etwa kommen möge, hervorgehn kann. Derjenige Erzieher, der eine so begreifliche Furcht, wo sie auf Unkenntnifs der Gegenstände beruhet, nicht auf ähn- liche Weise zu behandeln weifs, wie man ein scheues Pferd an di'e Gegen- stände heranführt, vor denen es erschrickt, ermangelt zu sehr der gemeinen Lebensklugheit, als dafs Theorien ihm helfen könnten.

Aber diejenige verborgene Furcht habe ich im Sinn, die den Schein der Verdrossenheit und Trägheit im Lernen und Arbeiten annimmt; und

1 „bedürfen" SW.

2 „uns" fehlt SW.

i6. Bnef. 385

wobey der Geist davon läuft, während der Leib ruhig vor Uns sitzt. Vor fremden Namen, vor griechischen Buchstaben, vor algebraischen Zeichen, vor geometrischen Figuren erschrecken Manche, welche dem Affect der Furcht ein ganz artiges Mäntelchen umzuhängen wissen; indem sie sich geschmackvolle, geistreiche Beschäftigungen ausbitten, während man gerade Anstalt macht, ihren Geist und Geschmack zu bilden.

Diese Furcht ists, statt deren sich bey den rüstigen Naturen ein verhaltener Zorn innerlich regt. Sie nehmen es übel, dafs man sie mit Ansprüchen an ihre Aufmerksamkeit belästigt.

Soll ich das Gegenmittel gegen diese Furcht angeben? Nur ein gründ- liches ist mir bekannt, welches zu spät gebraucht, sehr wenig bequem und kaum noch anwendbar ausfällt. Es ist geduldiger, äufserst langsam fortschreitender Unterricht in ganz frühen Kinderjahren. Frauen, Mütter, denen ernstlich daran gelegen ist, die fernere Erziehung vorzubereiten, pflegen mit bewunderungswürdiger Geduld die Kinder im Hause und im Garten umherzuführen, sie lesen und zählen zu lernen.1 So fortfahrend wird man ganz allmählig die gefährliche Neuheit der Gegenstände ver- meiden, welche später zusammengehäuft einen unheilbaren Schreck vor der Schule erzeugen könnten. Dagegen, wo ein Lehrer mit ganzen Massen von fremdklingenden Worten und Zeichen vor dem unvorbereiteten Schüler auftritt, wird selbst wohl guten Köpfen angst; und bey jungen Leuten, die in glänzenden Verhältnissen leben, ist späterhin keine Gewalt und keine Ermahnung mehr im Stande, das innere Zurückfliehen der Gedanken zu überwinden.

Wenn unwissende Jugendlehrer die langsame, zuweilen scheinbar spielende Art des Verfahrens im frühesten Unterricht, mit wirklicher Spielerey ohne Zweck und Zusammenhang verwechseln, so geben sie eben so sehr zu falschen Urtheilen über die sogenannte Spielmethode Anlafs, als wenn das scheinbare Spielen zur allgemeinen Methode erhoben, und nun auch bey solchen Naturen angebracht wird, die dessen nicht bedürfen, weil das Neue sie nicht drückt, ihnen weder Furcht noch Zorn erregt. Nur allein bey jenen, aus physiologischen, übrigens unbekannten Gründen allzu be- weglichen Individuen, welche das Neue zurückstöfst (besonders wo es nicht irgendwie versüfst wird,) mufs man durch ein langsames Verfahren das Neue künstlich vertheilt allmählig herbeyführen. Die klaren und vesten Naturen gewinnt man dagegen am besten durch eine Raschheit, die sie auf einmal* in die Mitte einer bald anziehenden Beschäftigung versetzt. Ohne Unterscheidung der Individualitäten aber ist hier gar keine Regel möglich.

Glücklich, wenn jene Beweglichen nur nicht zugleich düstere Köpfe sind! Trifft dies Uebel mit dem vorigen zusammen: so wird man nie weit kommen.

Bey den blofs düstern Köpfen aber, falls sie durchaus willig, das heifst, furchtlos und zornlos sind, wird man durch streng anhaltendes Ar- beiten am weitesten kommen. Ich habe deren gekannt, die nicht eher fafsten, als bis ihnen die Wangen roth glüheten. Das physiologische Hindernifs läfst sich in solchem Falle durch den erregten Affect über- winden; daher läfst sich die bekannte Behauptung, dafs Ruthe und Stock

1 „lehren" SW. Herbart's Werke. IX.

2 86 HI- Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (183 1).

die besten Lehrmeister seyen, mit manchen Beyspielen belegen, ohne doch allgemein wahr, und vollends allgemein empfehlungswerth * zu seyn. Ge- wifs aber sind diejenigen Individuen selten, denen nicht zuweilen wenigstens, und damit sie in der Selbstüberwindung sich üben, ein eifriger Lehrer recht heilsam wäre. Der Zwang darf nicht ganz verbannt werden; sonst erfahren es Manche gar nicht, wieviel sie nöthigenfalls aushalten, und sich selbst zumuthen dürfen.

Wie aber, wenn das physiologische Hindernifs sich hartnäckig zeigt? Wenn es sich entweder gar nicht, oder nicht oft, nicht ohne Gefahr für die Gesundheit, für die Sinnesart, für die äufsern Verhältnisse, durch strenges Anhalten überwinden läfst? Bleibt dann noch etwas Anderes übrig, als dies, die Masse des Neuen, was Eingang finden soll, zu vermin- dern? Und von den Reproductionen, auf die man der Anknüpfung wegen rechnen mufs, nur die leichtesten und geläufigsten zu fodern; auf schwere und entfernte aber Verzicht zu leisten? Und was heifst das? Doch wohl nichts Anderes, als, dem ursprünglichen Gedankenkreise des Individuums so nahe als möglich zu bleiben; die Gelehrsamkeit aber zu beschränken. Ja selbst bey der einseitigsten Gelehrsamkeit bleibt noch die gefahrvolle Frage, ob das Uebel der Verdüsterung im Laufe der Jahre abnehmen, oder zu- nehmen werde? Bey robusten Naturen kann man allenfalls das Erstere hoffen; bey schwächlichen ist das zweyte, der Erfahrung gemäfs, nur zu sehr zu fürchten; besonders nach geistiger Ueberspannung.

17-

Eins bleibt noch übrig zu betrachten; nämlich der günstigere Fall, die Neugier der Kinder. Eine sonderbare Gier! Wie kann das Neue schon Gegenstand des Begehrens seyn? Es heifst sonst, und mit Recht: ignoti nulla cupido.

Also kurz, (denn mit dialektischen Wendungen darf ich Sie nicht lange aufhalten,) das Neue ist nicht der Gegenstand der Begierde, sondern das Alte, welches in verworrenen Erwartungen hervorstrebt, und der Wahr- nehmung bedarf, um geordnet zu werden.

Wie sah das aus? Wie ging es, wie geschah es . ? So fragt die Neugier; und die Kinder fragen sogar bey Mythen und Fabeln: Warum that er das? Warum fing er es nicht lieber so oder so an? Denn die Illusion ist beym Kinde stark genug, um selbst die Puppe zu beleben und den Stock in ein Reitpferd zu verwandeln; vollends also, um einer erdichteten Person ins Herz schauen zu wollen. Wäre der Dichter nicht im Stande, auch uns noch wieder in Kinder umzuschaffen, wie brächte er es wohl dahin, uns durchs Epos oder Drama zu fesseln?

Jetzt wünschte ich, Sie möchten Sich der Ausdrücke Wölbung und Zusjiitztmg erinnern ; die ich öfter nöthig haben werde. Sind Ihnen die- selben entfallen, so ists meine eigne Schuld; denn die Worte stehn in meiner Psychologie nicht an einer günstigen Stelle ; und von den damit, bezeichneten Begriffen ist zu selten Gebrauch gemacht.* Jede unmittel-

* Psychologie I § 100, Anmerkung, B. [Bd. V vorl. Ausg.]

1 „empfehlenswerth" SW.

17- Brief. 387

bare Reproduction kann dazu Gelegenheit geben. Um das zu zeigen, komme ich auf die obige Vorstellung H zurück, (14) welche erweckt wurde, indem a, und b, das jetzt im Bewufstseyn vorhandene, sich einer Hemmung durch c unterwerfen mufsten. Wir wollen jetzt annehmen, es gebe noch andre, dem H sehr nahe ähnliche, also auch dem c bey- nahe gleichartige, ältere Vorstellungen ; so wird von diesen fast dasselbe gelten, was von H gilt; nämlich, indem die Hemmung sich vermindert, können sie sich erheben; und weil sie es können, so thun sie es wirklich. Allenfalls können Sie hier die Buchstaben H und c für die Namen zweyer musikalischer Töne nehmen, wiewohl ich diese Bedeutung ursprünglich nicht beabsichtigte. Schreiben wir einmal h statt H; so wird nun freylich h nicht mehr, wie vorhin angenommen, gleichartig mit c; aber es liegt doch nahe dabey; und Sie werden' nicht lange zweifeln, dafs, wenn Sie den Ton c hören, dann etwas von h, und von Allem was zwischen h und c hörbar ist, aus dem Vorrathe Ihrer Ton- Vorstellungen sich ins Bewufstseyn empor arbeitet. Wäre das nicht : so hätte der Ton h nimmer- mehr den Namen ces bekommen. Denn ces heifst ein erniedrigtes c, folglich kann c als verändert bis in ces aufgefafst werden. Gleichwohl, da der Ton h keinesweges der nächste mögliche an c, sondern um eine sehr merkliche Distanz auf der Tonlinie vom Puncte c entfernt ist, so versteht sich von selbst, dafs jede Vorstellung, die sich als ein zwischen c und h liegender Punct betrachten läfst, auch in demselben Grade leichter empor steigt, wie sie dem c näher liegt; und dafs dieses eben so wohl für Töne zwischen c und eis gilt, als für die zwischen c und h.

Nehmen wir nun das Beyspiel weg! Jede unmittelbar sich repro- ducirende Vorstellung wird andre neben sich haben, die mit ihr zugleich von der bisherigen Hemmung mehr oder minder frey werden, und folglich anfangen sich zu erheben. Aber wie weit können sie damit kommen? Wenn der Ton c jetzt eben wirklich erklänge, so würden Sie je länger desto weniger h im Bewufstseyn behalten. Wenn eine bestimmte Empfindung fortdauernd gegeben wird, so erheben sich zwar ihre Nachbarn, aber eben hiemit erhebt sich eine wachsende Hemmungssumme, das heifst, eine wachsende Notwendigkeit, wieder zu sinken. Einzig und allein diejenige ältere Vorstellung, welche der jetzigen Wahrnehmung vollkommen genau gleichartig ist, macht davon eine Ausnahme; sie braucht nicht wieder zu sinken, sondern, wieviel von ihr sich erhoben hat, soviel vereinigt sich ohne Weiteres mit der durch Wahrnehmung eben jetzt producirten Vor- stellung.

Sind die Worte Wölbung und Zuspitzung jetzt deutlich? Wölbung ist das Steigen, Zuspitzung das Sinken aller Nachbarn zusammen genommen. Denn was sich erhebt, dies Alles zusammen bildet gleichsam eine Figur, wie wenn ein Gewölbe sich erhöbe; beym Sinken aber steigt die Mitte fortdauernd empor, während ringsum die Nachbarn sich senken; und der mittlere Punct bildet gleichsam eine Spitze, die immer schärfer herausragt, je länger dieser ganze Procefs dauert.

Es wäre zu wünschen, dafs hievon einmal eine mathematische Dar- stellung geleistet würde; wozu ich bis jetzt nicht gekommen bin, und um desto weniger kommen werde, da es ähnlicher Wünsche sehr viele giebt, zum

25*

^88 HL Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

Theil mit weit gröfseren Ansprüchen. Für unsern nächsten Gebrauch kann das Vorstehende völlig hinreichen.

Die Neugier der Kinder war unser Gegenstand. Unter einer so allgemeinen Benennung ist nun freylich so Vielerley auf einmal enthalten, dafs in verschiedenen Fällen die mannigfaltigsten Nebenbestimmungen hinzutreten können; allein es bedarf kaum noch der Auseinandersetzung, dafs dabey die eben beschriebene Wölbung und Zuspitzung die Grund- lage ausmacht. Wenn sich ein buntes und bewegliches Object dem Kinde darbietet, oder eine Erzählung den Knaben reizt, so ist freylich nicht etwan nur ein einziger Punct c, und eine einzige Vorstellung H mit ihren Nachbarn im Spiele; auch geschieht nicht immer die Zuspitzung so voll- ständig in dem Puncte wo sie anfing, als ob die Wahrnehmung still hielte bis jene fertig ist; sondern die Wölbung beginnt an allen einzelnen Puncten des Wahrgenommenen zugleich, und die Spitzen verschieben sich jeden Augenblick, während die Begebenheit vorschreitet. Aber dergleichen versteht sich von selbst, und es wäre lächerlich, wenn man bey Be- trachtungen, die der mathematischen Psychologie angehören, darüber noch viel Worte' machen oder verlangen wollte.

Nur eine einzige Frage mag uns hier einen Augenblick beschäftigen; nämlich: wiefern ist in der Neugier eine Begierde, und deren Befriedigung in dem Anschauen des neuen Gegenstandes, zu erkennen?

Ueber die Thorheit Deren, die sich ein besonderes Begehrungs- vermögen, wohl gar ein Aus- und Eingehn des Begehrens und der be- gehrten Gegenstände einbilden, die nicht begreifen, dafs alles Be- gehren und alle Befriedigung lediglich im Kreise der Vorstellungen sich ereignet, indem es den Zustand derselben verändert, darüber ist hier nicht zu reden.

Sondern das ist zu bemerken, dafs nicht in der unmittelbaren Re- production der Grund der Begierde mufs gesucht werden; denn in dem blofsen Steigen oder Sinken der Vorstellungen liegt nichts von dem Ge- fühle, welches mit der Entbehrung, vielweniger also von dem was mit der Befriedigung verbunden ist.* Sehr häufig aber verbindet sich die mittel- bare Reproduction mit der unmittelbaren. Das heifst: es steigt nicht blofs jede Vorstellung durch eigne Kraft, sondern auf dem erreichten Puncte gehalten und getragen wird sie auch durch diejenigen, mit denen sie zum Theil verschmolzen ist. Verweilen wir einen Augenblick hiebey.

Vorhin habe ich von Nachbarn geredet. In grofsen Städten kennen sich die Nachbarn oft gar nicht; dann bewegt sich jeder für sich und von jenen unabhängig. Solch grofsstädtisches Benehmen habe ich vorhin beschrieben; die Nachbarn kamen von selbst, und gingen dann auch ohne Weiteres, als sie wieder nach Hause geschickt wurden. Kehren wir aber nunmehr in eine kleine Stadt ein, wo Jeder den Andern kennt, so halten auch die Nachbarn besser zusammen; und sie empfinden es, wenn einer vom Andern soll getrennt werden. So machen es auch die benachbarten Vor- stellungen, welche zugleich hervorkamen, wenn sie nämlich zuvor schon unter sich verschmolzen sind.

* Psychologie § 104. [Bd. V vorl. Ausg.]

18. Brief. 38g

Bey dem Neugierigen nun strebt nicht blofs Vielerley auf einmal, sondern auch vieles Verbundene hervor. Der Gegenstand aber, der die Neugierde befriedigt, erregt fürs erste dadurch eine Spannung, dafs er Einiges zuläfst, Anderes verweigert. Dann fügt er noch Manches hinzu, welches unerwartet, mithin ganz eigentlich neu, nämlich neu in solcher Verbindung ist, worin es sich jetzt zeigt. Dadurch gewährt er den auf- geregten Vorstellungen neue Haltungspuncte und in diesen stärkere Ver- knüpfungen; und in demselben Augenblicke wo solches geschieht, wird das Emporstreben gegen die] vorhandenen Hemmungen begünstigt ; das heifst, die Neugierde wird befriedigt, indem die Fragen, worin sie sich ausspricht oder doch aussprechen könnte, nun beantwortet sind. Gewifs- heit statt des Zweifels ist im Allgemeinen Befriedigung.

Im engern Sinne befriedigend heifst der Gegenstand, wenn er die Erwartungen erreicht oder selbst übersteigt; letzteres streift schon an ästhetisches Urtheil, wovon wir jetzt nicht reden.

18.

Werden wir wohl verlangen, dafs die Kinder allem dem Neuen, was sich ihnen, oder was wir ihnen darbieten, neugierig entgegenkommen sollen? Die Neugier ist oft ungelegen, oft nicht möglich und nicht nöthig.

Sie ist ungelegen oft nur der Umstände wegen, in denen wir uns befinden; das ist jedoch kein Fehler der Anlage. Manchmal aber zeigt sie einen solchen, indem sie Lüsternheit verkündigt. Dann liegt der Fehler noch immer nicht in der Neugier als solcher, sondern in dem Affect, der in den altern, jetzt aufgeregten Vorstellungen seinen Sitz, und im Organismus seinen Grund hat. Wir werden also diesen, nicht aber die Neugier selbst tadeln.

Beym Unterricht ist die Neugier in ihrer ausgebildeten Gestalt nur da möglich, wo schon Verbindung genug in den altern Vorstellungen das heifst hier, in den Vorkenntnissen, gewonnen ist. Da bezeichnen wir sie durch den Ausdruck Interesse, wiewohl dem letztern noch mehrere Bestimmungen zu kommen. Nöthig aber für den gedeihlichen Unterricht ist nur jene erste Grundlage der Neugier, welche wir als Wölbung und Zuspitzung sinnbildlich bezeichnet haben. Ohne diese fehlt es theils an Verknüpfung des Neuen mit den Vorkenntnissen, theils an Präcision der Auffassung. Die Wölbung vermittelt die Anknüpfung; und in der Zu- spitzung liegt die Präcision, Schärfe, Bestimmtheit, Genauigkeit.

Lassen Sie uns nun noch1 auf den Fehler der Anlage zurückblicken, welchen wir im Gegensatze hiemit antreffen werden, wo uns das früher betrachtete, physiologisch zu erklärende Hindernifs im Wege steht. \\ lr können ihn mit dem Worte Steifheit de? Köpfe bezeichnen.

Stand schon das Hindernifs der einfachen, unmittelbaren Reproduction entgegen (14,15,) so wird es noch weit mehr die Wölbung verkümmern, die nichts anderes ist als eine schwächere und folglich leichter zu ver- hindernde Reproduction.

1 „noch" fehlt SW.

oqo III. Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831)

Was ist die Folge? Diejenigen altern Vorstellungen, welche zu erregen o-elungen ist, (wenn schon in minderem Grade als es beabsichtigt war,) bleiben fast nackt stehen. Sie haben nicht die Bekleidung mit- gebracht, von der sie sollten umgeben seyn. Sie stehn schon spitz da; und können also nicht mehr zugespitzt werden; daher bleibt die Bewegung aus, die man erwartete; und mit ihr das Gefühl, welches darin würde gelegen haben. Es wird also mechanisch etwas gelernt ; nämlich in jedem Augenblick gerade das, was der Lehrer oder die Erfahrung hinreichend einprägt. Gleichgültig, wie es aufgenommen war, wird es auch dem Zurücksinken aus dem Bewulstseyn Preis gegeben. Von allen dem Gleich- gültig- Aufgenommenen bleibt allmählig etwas Weniges haften; dies tritt in Verbindung; und wenn im Laufe der Zeit die Verbindung zu be- deutender Energie gelangt, so erstarrt sie, und läfst nichts Neues mehr zu. Hierin giebt es verschiedene Grade. Der eine lernt mit Mühe die Muttersprache; aber eine fremde Sprache findet daneben nicht mehr Platz. Der andre lernt zwar noch Latein; aber mit dem Griechischen darf man ihn nicht mehr plagen. Französisch klingt ihm wie ein ver- dorbenes Latein, Englisch vollends wie ein verdorbenes Latein und Deutsch. Freylich nicht ohne Grund; aber was hilft das ihm, der sich der neuern Sprachen beraubt?

In spätem Jahren gleichen die Köpfe solcher Menschen fast Beuteln mit Steinen oder Steinchen oder Sand, je nachdem in der Jugend der mechanische Fleifs grofs war oder klein oder gar nicht vor- handen. Für die Fleifsigen giebt es viele Fächer, und in den Fächern verschiedene Lehrmeister. Denjenigen Zusammenhang, den sie in den Wissenschaften vorfinden, fassen sie auf; und erlauben darin später keine Veränderung. Die UnÖeifsigen lernen nichts Zusammenhängendes, und finden auch selbst keine Verknüpfung, wenn sie gleich Vieles Einzelne

wissen.

Das Gegenstück dazu sind Diejenigen, welche als philosophische Köpfe erscheinen, weil ihnen Alles bei Allem einfällt. Die Wölbung ist dann vorhanden. Wenn es aber an der Zuspitzung fehlt, so entsteht eher Affect, ja Enthusiasmus, als Kritik. Dahin gehören Die, welche durch- aus eine Philosophie aus Einem Gusse fodern, und denen man vergebens sagt, dafs Logik, Ethik, Physik drey verschiedene Wissenschaften sind.

Damit wir nicht in Verwechselungen verfallen, bitte ich Sie, die eben beschriebene Steifheit mit dem früher erwähnten böotischen Temperamente zu vergleichen. Beydes ist zuweilen verbunden, aber keinesweges immer, vielmehr können und werden sehr oft die steifen Köpfe neben den böo- tischen Temperamenten vergleichungsweise noch als sehr gute Köpfe er- scheinen. Wo liegt wohl der Unterschied? Bey den böotischen 'Menschen fanden wir einen Mangel an Sensibilität, wenn auch vielleicht nicht immer in den äufsern Sinnen, sondern nur in der Reizbarkeit einer Vorstellungs- masse gegen die andre. Die herrschenden Massen, die gerade vorhandenen Vorstellungen lassen sich alsdann nicht aus ihrer Lage bringen durch das, was, gleichviel ob von innen oder von aufsen dazu kommt. Aber bey den steifen Köpfen ist der ursprüngliche Fehler von anderer Beschaffen- heit. Sie empfangen, was sich darbietet; sie lernen von aufsen und

i8. Brief. 30,1

empfinden von innen. Nur wo die Regung von innen kommen sollte, wo in grofser Breite das vorhin beschriebene Gewölbe aufsteigen und dann erst sich zuspitzen sollte, da ist der innerste Grund nicht beweglich genug, und deshalb wird den appereipirenden Vorstellungsmassen zu wenig ge- geben. Wir Männer finden uns, glaube ich, oft genug in diesem Puncte nach- theilig gestellt im Vergleich gegen kluge Frauen, denen die Auflösung eines Räthsels eher einfällt als uns, und welche eben deshalb gewandter sind, um in geselligen Verhältnissen zu merken, zu spüren, zu berücksichtigen, was sich nur kaum verräth, und was uns leicht entgeht. Böotisch sind wir nicht; denn wir fühlen wohl, was wir verfehlt haben, wenn es hintennach klar an den Tag kommt; aber wir waren steif, als wir unser geistiges Auge in die gehörige Richtung bringen sollten, um es zu erkennen. Wie unsre Bücher uns körperlich kurzsichtig machen, so hat auch die mannigfaltige Anstrengung unseres Lesens und Denkens wer weifs was? an unserm Gehirn verdorben, dergestalt, dafs der Vorrath unserer Vorstellungen seine natürliche Elasticität oft gar nicht, oft zu spät erst gelten machen kann. Es kommt uns Beyden nun hier nicht darauf an, das Gehirn zu er- kennen, und seine möglichen Fehler physiologisch zu ergründen. Aber wohl ist es nöthig, dafs wir psychologisch unterscheiden, ob das Hinder- nifs dort wirkt, wo Vorstellungen von der Schwelle des Bewufstseyn s auf- streben, oder dort, wo die schon im Bewufstseyn vorhandenen Vor- stellungen sich einige Hemmung durch das Hinzukommende sollen ge- fallen lassen.

Welcher von diesen beyden Fällen mag wohl ein gröfseres Hinder- nifs voraussetzen? Das läfst sich schätzen nach der Energie, welche von dem Hindernisse getroffen und zurückgehalten wird. Wenn schon Vor- stellungen im Bewufstseyn zusammen kamen, die eine Hemmungssumme ergeben, so gehört ein Hindernifs von sehr derber Natur dazu, um der Hemmungssumme das Sinken, und hiemit der ganzen Gemüthslage die entsprechende Abänderung zu verwehren. Ganz anders verhält es sich, wenn blofs an der Wölbung etwas soll gehindert werden. Sie kennen aus meiner Psychologie den Satz: die reproducirten Vorstellungen richten sich Anfangs nach dem Quadrate der Zeit; ja gar nach dem Cubus der Zeit, wenn die erweckende neue Wahrnehmung, wie gewöhnlich, eine kleine Weile braucht, um nur bemerlich zu werden. Was heifst das, und worauf bezieht sich der Satz? Erstlich heifst es soviel als: in den ersten Augenblicken, oder für eine sehr kleine Zeit, mufs man diese Kleinheit doppelt und dreyfach derjenigen Energie beylegen, womit die reproducirte Vorstellung sich regt. Also ist es sehr leicht, eine so kleine, so geringe Energie zu hindern. Aber eigentlich bezieht sich der Satz auf diejenige reproducirte Vorstellung, welche der neuen Wahrnehmung vollkommen gleich- artig ist. Diese nun hat immer noch mehr Energie, als ihre Nachbarn, welche das bilden sollen was wir oben das Gewölbe nannten Folglich wird um desto leichter auch ein geringes Hindernifs die Wölbung ver- derben oder wenigstens verunstalten können, indem sie nicht in allen Puncten gleichmäfsig erfolgt. Daher finden wir sehr natürlich die Steil- heit weit öfter, als das böotische Temperament, welches eine viel grolse Abweichuno- vom Normalzustande voraussetzt.

■2Q2 III. Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

19.

Eine geringe Abänderung in der bisherigen Annahme des Hinder- nisses wird uns jetzt in eine ganz andere Gegend unseres pädagogischen Erfahrungskreises versetzen; und wir werden ein Beyspiel gewinnen, wie nahe verwandt oftmals die Ursachen sind, wo die Wirkungen eine weite Verschiedenheit zeigen. Solche Beyspiele sind wichtig zur Warnung, dafs man nicht in der Ferne suche, was vor den Füfsen liegt; und vor Allem, dafs man nicht in Erstaunen gerathe, wo die einfachsten Erklärungen zureichen.

Ohne allen Zweifel, mein theurer Freund, kennen Sie eine Klasse von Köpfen, die recht dazu geschaffen zu seyn scheinen, um den Er- zieher mit falschen Hoffnungen hinzuhalten und zu täuschen. Lebhafte, freundliche, leicht fassende, fein bemerkende, gewandte und rüstige Naturen, die man zwar Mühe hat im Zaum zu halten, die sich aber doch lenken lassen, und bey denen, so lange man sie beaufsichtigt, und Verkehrtes abschneidet, das Rechte und Gute freywillig in mancherley erwünschten Zeichen hervortritt. Nur Schade, am Ende will sich Nichts verdichten und bevestigen; sondern das Fleisch ist und bleibt mächtiger als der Geist.

Die alte Psychologie wird sagen: Seht da die Sinnlichkeit! und seht den Unterschied des Verstandes und der Vernunft! Seht den klugen Kopf, der, sobald von Pflicht die Rede ist, alsdann die Vernunft der Sinnlich- keit unterordnet!

Liefse sich die Thatsache mit so groben Zügen richtig zeichnen, so würden wir nun freylich uns mit der ein für allemal untergeordneten Ver- nunft keine Mühe geben, sondern nichts Besseres erwarten, als einen durchweg egoistischen Verstand, wie er l auf dem Theater oft genug und in Romanen, glaube ich, noch öfter gezeichnet wird. Denn die poetischen, oder nach der alten Psychologie zugeschnittenen Charaktere sind ungemein consequent; aber in wirklicher pädagogischer Erfahrung schillert und schimmert oft eine so mannigfaltige Färbung durch einander, dafs man doch etwas mehr Mühe hat, um die Begriffe zu finden, welche den That- sachen hinreichend entsprechen.

Was zuvörderst den Verstand der angedeuteten Menschenart anlangt, so ist er, genau betrachtet, nicht von der besten Art, wenn er gleich oft genug leuchtet und blitzt. Ganz abgesehen von Pflicht oder Genufs, zeigt er sich springend und planlos; daneben bemerkt man ein eben so wunder- liches Gedächtnifs, welches für eine Menge von Einzelheiten vortrefflich, aber dem Zusammenhängenden ganz abhold ist; so dafs, um mit der alten Psychologie zu reden, in den Lehrstunden der Verstand vieles auiser- ordentlich schnell fafst und begreift, wovon das Gedächtnifs wenig oder nichts behalten will. Ich sage mit Fleifs, behalteti will; denn so scheint es, als ob das sonst gute, ja ausgezeichnete Seelenvermögen förmlich eigen- sinnig wäre. Daher entsteht eine natürliche Täuschung beym Erzieher. Er untersucht: Hat der junge Mensch Übeln Willen? Nein; er weifs nicht einmal recht, was er will; jedenfalls fügt sich sein Wollen nach den Um- ständen; warum sollte man ihm denn nicht soviel und auf so lange Zeit guten Willen abgewinnen können, als nöthig ist, um das zu behalten und

1 „er" fehlt SW.

19- Brief. 3Q3

= m

sich ein für allemal einzuprägen, was mit dem Verstände schön hinreichend gefafst war? Er behält ja doch so vieles Einzelne; warum sollte er das Zusammenhängende wieder los lassen, nachdem er es einmal richtig er- griffen hatte?

Wenn die aus der Erfahrung geschöpften Züge meiner Beschreibung Ihnen, mein verehrter Freund! deutlich genug hervorgehoben erscheinen, so werden Sie nun schon wissen, wie ich dazu komme, diesen Gegen- stand dem vorigen anzureihen. Zwar auf den ersten Blick kann nichts unähnlicher seyn, als die Gewandtheit, von der ich jetzt spreche, und die Steifheit, die mich im vorigen Briefe beschäftigte. Allein Sie werden schon bemerken, dafs gerade hinter der Gewandtheit sich eine eigen- thümliche Art von Steifheit verbirgt, die keinesweges vom Willen abhängt und ausgeht, wohl aber sehr stark und nachtheilig auf den Willen ein- fliefst. Es fehlt nämlich in dem jetzt betrachteten Falle gerade wie im vorigen am Zusammenhange. Hier, wie dort, haben sich die Auffassungen vereinzelt, zerstückelt;1 und statt der continuirlichen Uebergänge entstehn Sprünge und Risse.

Und worauf deutet denn wohl diese Klasse von Phänomenen? Viel- leicht hätte ich das gleich aussprechen sollen.

Jenes Hindemifs, welches uns schon so lange beschäftigt, ist nicht allemal ein fortdauerndes, sondern es entsteht und vergeht. Der Organis- mus erträgt einen gewissen Grad oder eine gewisse Dauer der An- spannung von Seiten des Geistes; aber nicht mehr und nicht länger, wofern er nicht feindlich zurückwirken soll. Das ist bekannt genug in allen den Fällen, wo eine geistige Anstrengung absichtlich zu lange fortgesetzt wird. Jetzt denken Sie Sich Menschen, die alle Minute eine kleine Erhohlung nöthig haben; und deren Organismus sich diese Freyheit wirklich schafft, noch ehe sie es selbst merken und beschliefsen. Gleich darauf sind sie wieder frisch, wohl aufgelegt, geistig thätig; aber der Ge- dankenfaden ist während der Pause, welche eben vorher ging, zerschnitten und verändert. Solche können alles erreichen, was sich im Fluge erreichen läfst; sie scheinen selbst reich an Gedanken, wenigstens an Einfällen; und sie sind noch reicher an Worten. Aber ein böser Umstand verräth ihre Schwäche: sie mögen nicht allein seyn. Immer mufs Gesellschaft, oder mindestens2 ein Buch, ihnen zu Hülfe kommen. Und nur nicht gar zu ernste Gesellschaft; kein systematisches Buch; das nennen sie trocken und langweilig, so bald sie sich offenherzig äufsern. Doch nicht immer sind sie offen; nicht immer unfähig zur Selbstüberwindung; vielmehr, eine be- stimmte Absicht, oder ein bestimmtes Verhältnifs gewinnt ihnen manchmal Anstrengung genug ab, um ihre Schwäche zu verdecken. Kommt man ihnen durch Abwechselungen zu Hülfe, indem man sie von verschiedenen Seiten her öfter auf denselben Punct zurückführt: so gewinnen ihre Ge- danken leicht eine scheinbare Haltung, einen augenblicklichen Zusammen- hang läfst man sie aber allein, so reihen sie flüchtige Einfälle an einander; dann' misfallen sie sich selbst, und suchen Zerstreuung oder eigentlich

1 „verstückelt" statt „zerstückelt" SW.

2 „wenigstens'' statt „mindestens" SW.

■iQA III. Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (183 1).

Aufregung. Daher ein Schein von vorherrschender Sinnlichkeit, die oft gar nicht durch sanguinisches Temperament, gar nicht durch ungewöhnlich starke Vegetation kann nachgewiesen werden, sondern nur deshalb an- geklagt wird, damit der Fehler einen Namen bekomme, auf welchen man durch entfernte Folgen geleitet wird. Was für Böses ist nicht schon der Sinnlichkeit angedichtet worden, in Fällen wo sie sehr unschuldig ist!

Aber warum haben diese Menschen ein schlechtes Gedächtnifs neben dem vortrefflichen? Ein schlechtes für den Zusammenhang, ein gutes für Einzelheiten? Warum selbst da noch, wo ihr Nachdenken schon in den Zusammenhang eingedrungen war, ein schlechtes Gedächtnifs? Eine vorläufige Antwort ist leicht. Sie schienen in den Zusammenhang einzu- dringen, weil sie die äufsersten Enden der Gedankenfäden zusammen- knüpfen konnten; aber das Frühere war ihnen entfallen und das Spätere noch nicht vorausgesehen, als sie einem bündigen Unterricht für den Augenblick folgten. Ihr Geist erzeugte also auch keinen Zusammenhang; sondern man führte sie über schmale Brücken, auf denen sie in jedem Moment gerade nur die Puncte sahen, die sie nun eben betreten sollten.

Eben so wenig, als man bey diesen Naturen die Sinnlichkeit oder das Gedächtnifs anzuklagen hat, liegt bey ihnen die Wurzel des Uebels im Willen. Sie gleichen keinesweges jenen verneinenden Geistern, die wir oben als behaftet mit dem cholerischen Temperament bezeichneten; sie sind zu windig dazu. Dennoch nehmen sie im Jünglings- Alter gern etwas Stachlichtes an, was zwischen Eitelkeit und Rechthaberey schwebt; indem sie, falls es ihnen einmal gelingt, einen Gedanken vestzuhalten und eine längere Folgenreihe daran zu knüpfen, hierauf im Gefühl ihrer gewöhn- lichen Schwäche einen besondern Werth legen; so gern sie übrigens dem Wahne nachhängen, sie könnten das strenge Denken und das genaue Wissen füglich Andern überlassen, da sie es ja nicht^nöthig hatten!

20. Kehren wir nun zurück zu den Begriffen der Wölbung und Zu- spitzung! Die Wölbung soll eigentlich so grofs seyn, dafs sie alle diejenigen Vorstellungen umfafst, welche irgend einen Grad von Freyheit, irgend einen freyen Raum, (wie ich es früher nannte) durch das gegebene Neue erlangten. Das obige Beyspiel (17) mag dies erläutern. Sie wissen, dafs ich auf der Tonlinie die Distanz der Octave als diejenige betrachte, welche durchlaufen werden mufs, bevor man zu dem Puncte des vollen Gegen- satzes* gelangt. Dies vorausgesetzt, so sollte, wann der Ton c vernommen wird, Alles, was von Ton- Vorstellungen innerhalb der obern und der untern Octave jemals war gehört worden, in Aufregung versetzt werden. Die Basis des Gewölbes müfste also nicht weniger als zwey Octaven um- fassen. Es ist aber gewifs, dafs bey weitem der gröfste Theil dieses Ge- wölbes, wofern die Wahrnehmung des eben jetzt erklingenden Tons c nur die geringste Dauer gewinnt, sehr schnell wieder niedergedrückt wird, wegen des Gegensatzes zwischen c und den übrigen Tönen. Dies Nieder- drücken gehört schon der Zuspitzung an; welche jedoch eine merkliche

* Psychologie I, § 41. [Bd. V vorl. Ausg.]

20. Brief.

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Zeit verbrauchen wird, um sich zu vollenden. Versucht Jemand, den eben gehörten Ton c nachzusingen, und singt er falsch, während er glaubt, den Ton richtig zu treffen, so hat sich bey ihm die Zuspitzung sicher nicht vollendet.

Ohne uns nun um dies Beyspiel weiter zu bekümmern, bemerken wir hier zwey Begriffe, von sehr allgemeinem Gebrauche; nämlich aufser jenem von der Basis des Gewölbes noch den von der Zeit, deren die Zuspitzung bedarf, um einen bestimmten Grad von Genauigkeit zu erlangen.

Ferner nehmen wir hinzu, dafs, wenn eine gegebene Wahrnehmung nicht einfach ist, alsdann auch die von ihr veranlafste Wölbung mannig- faltig, 1 und dafs, wenn viele Wahrnehmungen einander schneller folgen, als die zugehörigen Zuspitzungen geschehen können, alsdann auch der hieraus entspringende Procefs sich sehr verwickeln mufs.

Es ist der Mühe werth, hier der Sprache und des Verstehens der- selben zu gedenken. Jedes Wort (ja eigentlich jeder Buchstabe eines jeden Wortes) bewirkt die ihm angehörige Wölbung und Zuspitzung; das Verstehen eines ganzen Satzes geht von allen diesen Puncten aus, und ist das Gesammt-Resultat, welches dadurch erst möglich wird.

Um nun den vorigen bildlichen Ausdruck beybehalten zu können, müssen wir in Gedanken gar viele Gewölbe in einander hineinzeichnen, die in beständiger Bewegung des Steigens und Sinkens begriffen sind, bis das volle Verstehen zu Stande kommt.

Wer wird sich wundern, dafs ein solcher Procefs leicht verletzlich ist? Gesetzt, wir sprächen ganz fehlerfrey : so würde dennoch schwerlich Einer unsrer Zuhörer uns ganz genau verstehen. Es zeigen sich aber jetzt gleich drey Quellen möglicher Fehler:

1. In dem Grunde selbst, aus welchem die Wölbung aufsteigen soll;

2. In der Verhinderung der Wölbung, und

3. in der Unterbrechung der Zuspitzung.

Die beyden letzten Fehler können von dem physiologisch zu erklären- den Hindernisse abhängen, mag es nun anhaltend oder abwechselnd ein- treten; der erste Fehler aber, wenn die Vorstellungen, die sich er- heben sollten, selbst nicht die rechte Construction haben, weiset zunächst auf die Psychologie zurück; auch mufs er von älterem Datum seyn, indem der Grund und Boden, welchen die Gesammtheit der vorhandenen Vor- stellungen bildet, ohne Zweifel früher da war, als zur Reproduction Ge- legenheit eintrat.

Sie sehn nun schon, mein th eurer Freund, dafs ich Sie bald ein- laden werde, mit mir in der Betrachtung mehr in die Tiefe zu gehn; da ich jetzt nicht blofs die Reproduction selbst, indem sie geschieht, son- dern auch die Construction dessen in Frage bringe was schon da seyn mufs, ehe es zum wirklichen Reproduciren kommt.

Vergessen darf ich aber nicht, dafs eine Bemerkung über die Form, welche das Zu-Reproducirende annehmen konnte, ganz in der Nähe liegt. War ein Hindernifs von abwechselnder Art, welches Pausen in seiner Wirksamkeit macht, im Organismus von der Geburt an begründet:

1 mannigfaltig sein, und SW.

■iqf) III. Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

konnte selbst die Reihenbildung der Vorstellungen, die wir nun bald in Betracht ziehen müssen, nicht umhin, unter einem solchen Einflüsse zu leiden. Durchgehends mufsten die Gedankenfäden kurz ausfallen, wenn sie häufig abgeschnitten wurden. Hatten sie in jenen Pausen sich ge- bildet, so kam das wieder eintretende Hindernifs des Vorstellens gleich- sam wie eine Scheere, und machte ein Ende, wo der Sache nach das Ende noch nicht eintreten sollte. Die Gedanken mufsten dann ausfallen, wie eine falsch interpungirte Schrift. So fallen sie ja bey zerstreuten Zu- hörern allemal aus. Gleicht nun auch die Erfahrung und der Unterricht manchmal einem Buche, welches gestattet, dafs man die Lesung wieder- hohle, so ist dies nicht immer der Fall; auch wird das nöthigste Wieder- hohlen oft versäumt. Im Allgemeinen also werden wir einen Unterschied antreffen zwischen Menschen, deren Gedankenreihen kurz, und andern, bey denen sie länger sind. Wo nun aus kurzen Reihen etwas kann zu- sammengesetzt werden, da können jene etwas leisten; aber wo lange Reihen durch die Natur des Gegenstandes gefodert werden, da werden sie zurückbleiben und ihre Unfähigkeit verrathen. Sollten Sie zufällig hie- bey schon an griechische und lateinische Auetoren denken, und an deren theils innerlich verwickelte, theils durch allerley Bindungsmittel an ein- ander hängende Perioden; oder auch an den Zusammenhang mathe- matischer Demonstrationen, oder an historischen Pragmatismus: so würde mir eine solche Nebenbetrachtung gar nicht ungelegen scheinen, wie- wohl ich sie jetzt nicht verfolgen kann.

21.

Wenn Sie Sich von mir liefsen spazieren führen, so würden Sie schon erlauben, einmal seitwärts, blofs einer interessanten Aussicht wegen, vom rechten Pfade abgelenkt zu werden. Auch jetzt bitte ich um einen Gang zur Seite, einer psychologischen Aussicht zu gefallen, die ja wohl irgend einmal, wie ohne Ausnahme alles Psychologische, auch eine Bedeutung für Pädagogik wird zu erkennen geben, wenn ich schon für jetzt eine solche nicht darzuthun wüfste.

Wölbung und Zuspitzung haben wir bis jetzt immer als einen zu- sammenhängenden Procefs betrachtet; und doch sind nicht blofs die Be- griffe gerade entgegengesetzt, sondern wir wissen auch, dafs eins nach dem andern geschehen mufs. Sollten sich denn diese Zwillinge nicht trennen lassen? Vielmehr, die Möglichkeit liegt klar vor Augen.

Sähen Sie irgend wo plötzlich einen Lichtschein, einen Blitz, ent- stehn und schwinden, was würde sich in Ihnen ereignen? Wölbung! Sähen Sie ihn noch einmal, gerade so, und an derselben Stelle, was würde erfolgen? Zuspitzung!

Belieben Sie nur zu erwägen, dafs selbst eine völlig momentane Empfindung, falls es wirklich dergleichen gäbe (was niemals kann nach- gewiesen werden,) keinesweges einen solchen Effect haben würde, der lediglich auf den Augenblick des Empfindens beschränkt wäre. Betrachten wir noch einmal jene Vorstellung H, von welcher ein Theil y hervortritt! (14.) Zu diesem Hervortreten gehört allemal Zeit, wenn auch wirklich die Hemmung durch a und b plötzlich verschwinden könnte; aber auch das

2 1. Brief. ^Q7

kann nicht seyn, denn die Hemmungssumme (zwischen a und b einer- seits und c andererseits,) sinkt nur allmählig, wenn schon c eine momentane Empfindung wäre oder dafür gelten könnte. So gerade nun, wie y all- mählig wächst, erheben sich auch die Neben- Vorstellungen, deren Er- wachen dasjenige ausmacht, was wir die Wölbung nennen. Und der zu- nächst liegende Unterschied, zwischen der jetzigen und der früheren Voraussetzung, zeigt sich darin, dafs die Wölbung frey bleibt von dem, worauf sonst die Zuspitzung beruht; so lange nämlich, bis dieselbe Empfindung zum zweytenmale eintritt. Denn alsdann erst beginnt die Hemmung der Nebenvorstellungen durch diese1 Empfindung, der sie nicht völlig gleichartig sind. Dagegen würde die früher betrachtete, fortdauernde Empfindung schon während ihrer ganzen Dauer zuspitzend gewirkt haben. (17.)

Aber Sie, mein trefflicher Kenner der Aesthetik! sollten Sie nun wohl schon errathen , zu welcher Untersuchung ich Sie hiemit einlade? Zwar nicht zu einer ästhetischen ; denn in der Beurtheilung des Schönen und Häfslichen verändert sich nicht das Geringste, man möge nun die Möglichkeit solches Urtheils psychologisch einsehen oder nicht. Aber interessant möchte es Ihnen doch seyn, wenn ich etwa im Stande wäre, Ihnen das Räthsel der Auffassung des Zeitmaafses zu lösen, welches in der Poesie wie in der Musik so höchst wichtig ist!

Sehen wir einmal nach, ob wir ich will noch nicht sagen, die Lösung, aber doch eine Vorkenntnis zu dieser Lösung gewonnen haben? Denken Sie Sich inzwischen andre Beyspiele, als das vorige vom Lichtschein, was ich nur deshalb wählte, damit die nachfolgenden be- quemeren Beyspiele nicht einsam stehen, und den Gesichtskreis nicht auf eine nachtheilige Weise beschränken möchten.

Die Glocke schlägt. Oder: Sie hören die Tropfen fallen von einer Dachrinne. Oder: Sie trommeln tactmäfsig auf dem Tische; oder was sonst Ihnen beliebt, um eine Reihe von Empfindungen zu haben, welche gleichartig sich nach gleichen Pausen wiederhohlen.

Hier fällt Ihnen nun gewifs das ein, was in der Metrik und Musik durch die Worte Hebung und Senkung (Arsis und Thesis) bezeichnet wird. Ich nehme hier Hebung für gleichbedeutend [mit Wölbung, Senkung für gleichbedeutend mit Zuspitzung; und durch diese Erklärung wird nicht blofs der mögliche Mis verstand der Worte vermieden, sondern auch die Sache selbst beleuchtet seyn. Durch den ersten Schlag, den Sie vernehmen, wird Ihre ältere Vorstellung des nämlichen Tons saramt allen benachbarten ge hoben; durch den zweyten werden die Nachbarn zurückgewiesen oder gesenkt.

Aber das Zeitmaafs! wo bleibt das? Offenbar können Sie das erst mit dem dritten Schlage vernehmen, falls dessen Zeitdistanz vom zweyten gerade dieselbe ist, wie die Zeitdistanz des zweyten vom ersten.

Also müssen wir die Betrachtung fortsetzen. Der zweyte Schlag wirkte nicht blofs senkend auf die Nachbarn, sondern zuspitzend auf die Hauptvorstellung. Hatte der erste Schlag Sie dahin gebracht, dafs Sie horchten, ja vielleicht sich fragten: was höre ich? so giebt der zweyte Schlag Ihnen die Antwort, indem Sie nunmehr den Ton ganz bestimmt

1 „die-' statt "„diese" SW.

■jqS HI» Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

als diesen und keinen andern erkennen. Allein das ist nicht Alles. Die Senkung beym zweyten Schlage bezog sich nur auf die Nebenvorstellungen; was aber die Hauptvorstellung anlangt, so wirkt das zweyte c gerade wie das erste c dahin, dem älteren gleichartigen H freyen Raum zu schaffen; also: beym zweyten c wird der zuvor schon durchs erste ge- wonnene freye Raum für H plötzlich gröfser; und es ist, als bekäme da- durch H einen Stofs, damit der Theil von ihm, den wir y nannten, plötzlich wachse, oder genauer gesagt, plötzlich einen Zusatz an Ge- schwindigkeit des schon vorhandenen Wachsens bekomme.

Wüfsten wir jetzt nur, was das eigentlich sey, was wir ein Vorstellen der Zeit nennen! Zwar der metaphysische Begriff der Zeit hülfe uns hier nichts. Sondern was wir, und mit uns jeder Soldat, der nach Commando marschirt, oder jeder Trommelschläger, welcher seine Kunst versteht, - was wir alle uns als Pause zwischen zweyen nächsten Schlägen vorstellen, indem wir den Tact wahrnehmen oder abmessen, was dieses Vor- gestellte sey, das ists, wornach ich jetzt frage. Unbekannt wie es ist, mufs es doch jedenfalls ein Quantum seyn, welches wir, die wir in der Auf- fassung des Tactes geübt sind, gröfser und kleiner nehmen können, um ein Adagio oder Allegro nach Belieben zu spielen. Schon zwischen dem ersten und zweyten Schlage mufs dies Quantum abgeschnitten seyn, da- mit es alsdann zwischen den zweyten und dritten eintretend anzeige, der dritte Schlag erfolge genau im rechten Moment. Aber was hier als Maafs- stab dient, das mufs in der That ein allmähliges Geschehen in uns selbst seyn, welches sich eben in dem Augenblick vollendet, wo wir den dritten Schlag fodern und als richtig eintreffend anerkennen.

Was nun auch das Material seyn möge, von welchem ein gröfseres oder kleineres Quantum hier zum Mafsstabe wird: soviel ist klar, dafs der erste Schlag das Material mit dem vorgenannten y hervorhob, der zweyte es abschnitt und zugleich wiederum von vorn an hervorhob, der dritte aber es nochmals gerade an der Stelle abschnitt, wo es zuvor schon abgeschnitten war; welches bestimmte Abschneiden dann auch der vierte und jeder folgende gleichzeitige Schlag erneuern wird.

Dafs die genauere Untersuchung dieses Materials uns in die Lehre von der Reihenbildung der Vorstellungen hineinweisen wird, sehn Sie ohne Zweifel voraus. Zwar wenn wir von der Zeit sprechen, das heifst, im zusammenfassenden Denken, da brauchen wir nicht länger bey dem Gedanken einer Stunde, als einer Minute, uns aufzuhalten; und wiederum von der Minute sprechen wir eben so geläufig, wie von einer Secunde. Aber möchten Sie wohl ein Orchester dirigiren, wenn ein Musikstück aufzuführen wäre, worin lediglich nur lange Noten, jede von der Dauer einer Minute, vorkämen? Wenn Sie das auch könnten -ich für mein Theil hätte nicht Lust zuzuhören; und zwar deswegen nicht, weil ich für eine Minute zwar den Begriff, nämlich sechzig Secunden, habe; hingegen mein Zeitmaals, vermittelst dessen ich unmittelbar den Tact auf- fasse, nicht einmal sechs, vielweniger also gar sechszig Secunden erreicht; während ich mit Leichtigkeit ganze, halbe und viertel - Secunden ' abmesse.

1 ,,Viertelsecunden" SW.

2i. Brief. 399

Im Bezirke dieser bequemen Zeitmaafse nun geschieht in uns ein wirklich successives Vorstellen, welches gerade soviel Zeit verbraucht als es ab- zumessen dient; und dafs für die wirkliche Succession dieses Vorstellens das Gesetz und die ganze Möglichkeit in der Lehre von der Reihenbildung müsse gesucht werden, dies, mein Freund! brauche ich Ihnen nicht erst zu sagen. Später werden ich Sie daran ausführlich genug erinnern. Fassen wir nun das Bisherige zusammen, um zu sehen, wie weit es uns führt! Irgend eine Reihenbildung die wir noch nicht näher kennen hat uns, schon längst, mit einem gewissen Material versorgt, von welchem der erste Schlag, indem er den Theil y von H reproducirt, ein unbe- stimmtes Quantum successiv hervorhebt. Der zweyte Schlag giebt dem y eine plötzliche Beschleunigung; hiemit wird jenes Quantum, genau so grofs, wie es bis zu dem Momente des zweyten Schlages angewachsen war, plötzlich mehr hervorgehoben, indem das beschleunigte y es mit sich hebt. Dadurch gerade wird nun dieses Quantum abgeschnitten, und los- getrennt von dem folgenden Theile des Materials, welcher eben im Be- griffe war, hervorzutreten; und auf welchen jetzt eine solche Hemmung wirkt, wie jene, die wir als den Grund der Zuspitzung kennen.

Doch hier mufs ich mich deutlicher machen. Unterscheiden Sie: i. von dem Material, was als Zwischenzeit, als Pause vorgestellt wird, die Nebenvorstellungen, welche in der Senkung eine Hemmung

erleiden.

2. von der Reproduction des y die Reproduction des ersten c durch das zweyte c; und überhaupt diejenige der sämmtlichen vorhergehenden c durch das nun folgende c.

Nämlich jenes, als Zwischenzeit vorgestellte Material darf gerade in so fern, als die Zeit gemessen wird, keine Senkung erfahren; denn das hiefse soviel, als: die Vorstellung des Maafsstabes wird gehemmt; gerade gegen den Sinn unserer Betrachtung. Es ist aber auch, wenn Sie zurückblicken, nicht schwer, den Unterschied zu fassen. Was waren das für Nebenvorstellungen, welche sollten gesenkt werden? Die Nachbarn; die Sie in unserm obigen Beyspiele (20) fanden, wenn Sie von c eine Octave aufwärts und abwärts durchliefen. Aber jenes Material, was sich für uns in die Vorstellung einer Pause, einer leeren Zeit verwandelt, kann unmöglich etwas so bestimmtes seyn ; sonst liefse sich eben dadurch bestimmen, was das sey, das wir in die Zeitdistanz hineinschieben, um sie damit auszufüllen und abzumessen. Aber unser Zeitmaafs hat keinen Ton, so wie unser Augenmaafs keine Farbe.

Ferner: beym zweyten und jedem folgenden Schlage geschieht zweyerley Reproduction zugleich. Erstlich: die ältere Vorstellung H, welche schon in dem Vorrath unserer Vorstellungen lag, bekommt einen neuen An- lafs zur Reproduction; oder: ihr reproducirter Theil y wird gröfser. Aber zweytens: auch das erste, und überhaupt jedes vorhergehende c erhebt sich beym Eintreffen des zweyten und jedes folgenden c.

Nun bemerken Sie noch, dafs während y das ihm anhängende Zeit- Material schon beym ersten Schlage anfing mit sich empor zu heben, hiedurch Gelegenheit gegeben wurde, dafs sich das erste c mit diesen Material verbinden, verschmelzen, compliciren kann; nämlich geraden soviel von demselben, als wieviel zwischen dem ersten und zweyten Schlage

400 in. Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831V

hervortreten kann. Beym zweyten Schlage nun wird vermöge der ent- standenen Verbindung auch gerade das Verbundene, aber nicht Mehr, in Reproduktion durch das erste c gesetzt. Käme also der dritte Schlag zu spät: so würde zwar diejenige Reproduction, welche von y ausgeht, noch mehr von dem unbestimmten Material mitbringen; aber die andre Re- production, welche vom ersten c anhebt, würde nicht weiter folgen; denn sie reicht nicht weiter; und wo sie abbricht, da veranlalst sie das be- kannte Gefühl von Leere, welches wir empfinden, wenn wir die Glocken- schläge zählen, und während es unsrer Meinung nach schon acht Uhr seyn sollte, die Glocke uns sagt, es sey erst sieben Uhr.

Es wird Ihnen nun von selbst einfallen, dals beym dritten Schlage es einen wichtigen Unterschied macht, in welchem Grade der Stärke der- selbe im Verhältnifs gegen den ersten und besonders gegen den zweyten. erfolgt. Soll nämlich nach der Senkung, welche der zweyte verursachte, eine neue Hebung eintreten, so gehört dazu ein ictits ; aber was kann dieser wirken ? Fragen wir nur zuerst, was er wirken mufs ? so bietet sich aus dem Vorigen von selbst die Antwort dar: eine neue Wölbung; denn ohne -diese giebt es keine Hebung. Nun läfst sich wohl denken, dafs der erste Schlag zu schwach gewesen sey, um die ganze Wölbung, welche überhaupt möglich war, zu veranlassen; der zweyte aber noch schwächer, also unfähig die Wölbung zu vergröfsern; alsdann kann ein stärkerer dritter Schlag sie unstreitig, falls er nur noch mehr freyen Raum schafft, vervollständigen. Wenn dagegen der dritte sammt dem zweyten Schlage beyde schwach sind im Vergleich mit dem ersten, so vereinigen sich beyde in der Zuspitzung, also in der Senkung. Hiebey liegt die Beziehung auf den Daktylus und dessen Unterschied vom spondäischen Metrum am Tage; desgleichen in der Musik der Unterschied, ob der dritte Schlag im Dreyvierteltakt der letzten Taktnote angehört, oder ob mit ihm, wie im Zweyvierteltakt, nun schon der folgende Takt beginnt. Allein in der Anwendung auf die Künste dürfen wir nicht die Qualität dessen was dem Gehör dargeboten wird, vergessen. Keine Musik und keine Poesie wird uns blofse Trommelschläge, oder gar den Klang des einförmigen Tropfenfalles einer Dachrinne zu vernehmen geben; sondern es kommen Abwechselungen der Worte, der Melodie und Harmonie hinzu, welche uns an die psychologische Untersuchung über die Ab- nahme der Empfänglichkeit erinnern müssen. l Wenn der Musiker uns mit dem Eintritte des neuen Tactes auch eine neue Harmonie, oder nur einen Fortschritt der Melodie bringt, so liegt ein Theil der nöthigen Kraft, um eine neue Wölbung zu erzeugen, schon in der frischen Em- pfänglichkeit, die er jetzt, nachdem die vorige meist erschöpft war, in An- spruch nimmt; und solchergestalt fortfahrend bewirkt er mit geringer Bey- hülfe des ictus den Wechsel zwischen Hebung und Senkung, dessen die Kunst bedarf. Noch mancherley wird sich Ihnen hiebey von selbst auf- dringen, allein für mich ist es Zeit, diesen langen Brief und die darin enthaltene Abschweifung zu schliefsen.

* Psychologie I, § 94 99. [Bd. V vorl. Ausg.]

22 Briet- 401

22.

Dafs eine Sache, die man nicht finden kann, sich an einem Orte finden läfst, wo man sie bisher nicht suchte, dies gehört zwar zu den täglichen Erfahrungen. Aber die Anwendung hievon auf die Psychologie verfehlen nicht blofs Diejenigen, welche, wenn sie von mathematischer Psychologie hören, sich der Affecten der Furcht und des Zorns nicht ganz erwehren können, sondern auch mir, der ich seit so langen Jahren weifs, dafs in der Mathematik die Schlüssel zur Psychologie zu suchen sind, haben sich oft die leichtesten Sachen verborgen gehalten, die ich plötzlich einmal fand, wenn mir die rechte Stunde kam, um am rechten Orte darnach zu suchen.

Noch nicht viel über ein Jahr wird verflossen seyn, seitdem Sie mir Glück wünschten, dafs ich nun endlich zur Untersuchung der zugleich steigenden Vorstellungen den Faden der Rechnung fand; wodurch die in meiner gedruckten Psychologie enthaltene Betrachtung der zugleich sinkenden das nöthige Seitenstück erhält. Sie bemerkten damals, dafs auf den zugleich steigenden sowohl die Wirkung des Unterrichts, als die Selbsttätigkeit des Zöglings, unmittelbar beruhen müsse; daher brauche ich Ihnen von der Wichtigkeit des Gegenstandes keine ausführliche Nach- weisung zu geben; und nur darüber ist ein Wort nöthig, weshalb hier der Ort sey, davon zu reden.

Zuvörderst nun war schon die Wölbung, die uns bisher beschäftigte, ein gemeinsames Steigen; und wenn Sie jetzt von der Veranlassung dieses Steigens, nämlich der Reproduction des H durch das gleichartige c, ab- strahiren wollen, so sind Sie schon bey dem Begriffe des Problems, mit welchem ich Sie nun beschäftigen mufs; daher ich nur noch zu bemerken habe, dafs die Gröfse des Hemmungsgrades, welche bey der Wölbung als sehr wesentlich in Betracht kommt, (weil die Nachbarn des H es eben sind, die sich emporwölben,) in meinen sogleich zu erwähnenden Rech- nungen bey Seite gesetzt wird; nicht etwan als unbedeutend an sich, sondern um vorläufig den Mechanismus des Calculs von einer lästigen Ver- wickelung zu befreyen. Von der mathematischen Psychologie mufs man nicht Alles auf einmal verlangen, sondern man soll froh seyn, wenn nur überhaupt da, wo bisher weder Weg noch Steg zu sehen war, die Möglich- keit eines regelmäfsigen Fortschreitens sich aufthut.

Ferner müssen wir, um unsre Kenntnisse der verschiedenen Anlagen zu vervollständigen, das schon oft erwähnte physiologische Hindernifs noch von einer neuen Seite betrachten; nämlich in wiefern es dem Rhythmus der zugleich steigenden Vorstellungen verändert. Doch es bedarf keiner weitern Gründe zur Rechtfertigung, dafs ich Ihnen eben jetzt Etwas mit- theile, wovon Sie längst nähere Nachricht wünschten.

Belieben Sie nun zuvörderst den §. 93 meiner Psychologie aufzu- schlagen. Dort finden Sie für die Voraussetzung, dais zwey Vorstellungen a und b zugleich steigen, den ersten Grundgedanken; nämlich den, dafs beyde Vorstellungen zusammen steigend, einen höhern Grad der Klarheit, oder einen höhern Standpunct erreichen können, als denjenigen, auf welchen

26

Herbart's Werke. IX.

402 HI. Briefe über die Anwendung der Psychologie am die Pädagogik (183 1).

sie, aus dem ungehemmten, ursprünglichen Zustande zugleich sinkend, einander herabzudrücken genöthigt sind. Die Ursache hievon wird Ihnen ohnehin erinnerlich seyn; nämlich dafs die Hemmungssumme beym gemeinsamen Steigen erst allmählig entsteht, welche beym Sinken gleich Anfangs vollständig vorhanden ist. Ein paar streitende Kräfte, die neben einander emporstreben, setzen zwar jede der andern eine Gränze, welcher sie sich nur annähern kann, ohne dieselbe zu übersteigen; und daher gelangt keine zu der vollen Wirksamkeit, die jeder einzelnen, ihrer natürlichen Stärke nach, eigen gewesen wäre. Allein gesetzt, beide Kräfte seyen in voller Wirksamkeit begriffen, indem jede der andern begegnet, so thun sie einander noch beträchtlich mehr Abbruch; eben weil der Streit gleich Anfangs mit voller Gewalt beginnt. Hüten Sie Sich aber, Sich hier von dem gemeinen falschen Begriffe der Kraft beschleichen zu lassen! Sie wissen, dafs Vorstellungen nur in so fern als Kräfte wirken, wiefern sie einander entgegengesetzt sind. Der Grad des Gegensatzes nun soll jetzt, wie vorhin gesagt, nicht beschränkt werden; blofs um die Rechnung nicht zu belästigen. Mit andern Worten, es wird volle Hem- mung angenommen; also in dem angeführten § der Psychologie setzen Sie m = 1 , so fällt es aus der Rechnung weg.

Durch die Buchstaben a und ß ist dort das Quantum von a und b bezeichnet, welches sich im Laufe der Zeit t ins Bewufstseyn emporhebt. Man soll nun durch Rechnung bestimmen, wie « und ß abhängen von a, b, und t. Sehr leicht war es, dieses für ß, den hervorgetretenen Theil der schwächeren Vorstellung b, zu leisten; daher finden Sie am angeführten Orte schon die Formel

ß = \ (i-e-*)*

a wenn k = 1 -j-

a+b

Den Sinn dieser Formel werden Sie sich erst vergegenwärtigen. Nämlich ß erhebt sich anfangs zwar mit der ihm eignen Kraft; (wie Sie beym Differentiiren der Formel sogleich übersehen;) aber seine Geschwin- digkeit nimmt ab; dergestalt, dafs selbst wenn zum Steigen unendliche Zeit vergönnt wäre, (wobey die Exponentialgröfse e~ kt völlig verschwände,

die schon in kurzer Zeit sehr klein wird,) doch ß =.—- der äufserste

k

Werth sein würde, welchen ß erreichen könnte. Einen solchen äufsersten Werth werde ich künftig die Erhebungsgränze nennen; sie wird nie völlig erreicht; aber die Annäherung dahin geht schnell, falls nicht eine ent- gegengesetzte Bewegung eintritt.

Hätten wir nun eine ähnliche Formel auch für die stärkere Vorstel- lung a, so wüfsten wir Alles was von zwey zugleich steigenden Vorstel- lungen zu fragen ist. Dabey wird Ihnen wohl einfallen, dafs beym Sinken zweyer Vorstellungen der Procefs sehr einfach, hingegen, wo deren

b -^

22. Brief. 403

drey zugleich sinken, die Sache weit verwickelter ist, indem hier gar leicht die schwächste von dreyen auf die Schwelle des Bewufstseins kann ge- worfen werden; und zwar auf die statische Schwelle, welches so viel heifst als: sie verschwindet nicht blofs völlig aus dem Bewufstseyn, sondern auch '"sie schläft so vest, dafs sie auf das, was nun noch ferner im Bewufstsein vorgeht, gar keinen Einflufs hat. Wie aber (werden Sie fragen,) wenn drey Vorstellungen von verschiedener Stärke zugleich steigen ? Alsdann wirken sie ja einander weit minder entgegen, als beym Sinken! Also wer- den wohl auch ihrer drey, deren eine von den beyden andern beym ge- meinschaftlichen Sinken auf die Schwelle getrieben war, dann zusammen bestehen können, wenn alle drey zugleich von der Schwelle sich erheben? welches natürlich voraussetzt, dafs zuvor aus irgend einem Grunde alle drey waren völlig gehemmt worden.

Bey einiger Ueberlegung läfst sich ungefähr errathen, was die Rech- nung lehren wird. Nämlich es können zwar drey Vorstellungen zusammen steigen, auch wenn die schwächste neben den beyden andern sehr ge- ringe Kraft besitzt. Allein bald kommt ein Zeitpunkt, wo sie zurück- getrieben wird, während die andern fortfahren zu steigen. Und nun giebt es verschiedene Fälle. Entweder die dritte, wieder im Sinken begriffene, würde selbst in unendlicher Zeit nicht ganz zurückgetrieben werden. Oder, dies könnte geschehen, würde aber unendliche Zeit brauchen, und geschieht deshalb nicht. Oder endlich, es geschieht wirklich, und zwar in kurzer Zeit.

Diese Vorerinnerungen können genügen. Von der Sache selbst wird Ihnen ein kurzer mathematischer Aufsatz Bericht erstatten, den ich zu lesen bitte, sobald Sie Mufse und Laune haben.

B e y 1 a g e. Ueber die zugleich steigenden Vorstellungen.

I.

Von a und b sollen in der Zeit t die Quanta a und (i ins Be- wufstseyn hervortreten, nachdem beyde auf der Schwelle waren; auch soll keine andre Kraft auf sie wirken, als nur ihr eigner voller Gegensatz. Nach den, hier als bekannt vorauszusetzenden Elementen der Statik und Mechanik des Geistes ist

d/^b^-^dt

also ß =~ (1— e -kt), wo k = 1 + ^-^ [A]

ferner eben so

b/5f \ J

d u = (a— « f—r d t.

v a + b/

In dieser Gleichung substituire man den schon gefundenen Werth von ß; so findet sich durch Integration, die sich nun vollziehen läfst,

« = (a-}').(.-e-')+^(.-e-*)

26*

404 m> Briefe über die Anwendung der Psychologie aui die Pädagogik (1831).

oder « = (a ).(i— e"4)-] ß [B]

a / a

Die Integration geschieht nach bekannten Regeln ; und von der Richtig- keit wird man sich sogleich durch Differentiiren überzeugen, wobey man nur den Wert von k im Auge haben mufs.

IL Von drey Vorstellungen a, b, c, sollen in der Zeit t die Quanta «, ß, y, ins Bewufstsein hervortreten. Unter Voraussetzung vollen Gegen- satzes ist die Hemmungssumme = ß-\-y, die Hemmungsverhältnisse* sind

bc

71'

b<

; -\- ac ac

+

ab

bc

-f- ac ab

+

ab

TV

TV"

bc -f- ac -f- ab mithin bekommt man folgende, den vorigen analoge Gleichungen:

= (a- «— n'lß + yj) dt

d/?=(b— ß— 7i"[ß + Yl) dt

dy === (c— y 71'" + 7]) dt

Man addire die zweyte und dritte Gleichung, so geht hervor

d + 7) = (b + c— (/?i + y)—(n" + W") . + y) dt

woraus /i + y = ^— ( 1 e~kt) [C]

K

,„ bc -(- 2ac -\- 2 ab

wo k = 1 + n" -j~ 57= : j

1 ' bc -\- ac -J- ab

Den Werth von ß -f- y substituire man in die drey Gleichungen für

d«, d/i, und dy, so findet sich nach der Integration

« = (a--) (i-e-t) +\C (i-e-kt) [D]

a / aK

/?=(b- c) . (i-e-*)+ £ (i-e-kt) [E]

y = (c-b) . (i-e-t) + -| (1 -e-kt) [F]

Nun sey c die schwächste der drey Vorstellungen: so ist c b eine negative Gröfse; und es ist offenbar, dafs y, nachdem es wuchs, wieder abnehmen, und für gewisse Werthe von a, b, c, auch gleich Null werden kann. Dann aber hört die Bedeutung der drey ursprünglichen Gleichungen auf; denn es hat keinen Sinn, dafs y negativ würde. Um also den Um- fang der Brauchbarkeit für diese sämmtlichen Gleichungen zu bestimmen, mufs man denjenigen Werth von y suchen, wofür es = o wird, falls ein sol- cher vorhanden ist.

* Psychologie § 44. 1 „b" SW.

22- Briet- 405

Zuvörderst bemerke man, dafs für unendliche Zeit die beyden Ex- ponentialgröfsen verschwinden ; und dafs sie sehr bald unbedeutend werden.

Es wird also sehr bald beynahe : y = b -f- c [G]

Ferner ist nahe k = 2 ; indem durch a die stärkste der drey Vor- stellungen bezeichnet wird. Also nahe y = c b, welches gleich Null

ist, wenn c nahe = b. Doch ist der Grenz werth von y ein wenig

2 '

gröfser; weil k < 2.

Da sich die Gleichung

o=(c— b) . (1— e-t + y- (1— e~kt)

wegen der Exponentialgröfsen nicht unmittelbar auflösen läfst: so mufs man für e~kt, welches zuerst dem Verschwinden nahe kommt, einen vor- läufig anzunehmenden Werth suchen; und dieser findet sich folgendermafsen : Wenn e— * = x gesetzt wird, so hat man für k = 2

o = c b 4- (b c)x bx2

2 2

b c c

woraus x = \-

b b

b 2 c

oder vielmehr x = , denn das positive Zeichen vor dem letzten

b

Gliede gäbe x = 1 und folglich t = o, was auch b und c seyn möchten.

Findet sich, dafs x oder e— l sehr klein ist, so ist e— kt noch viel kleiner,

und kann weggelassen werden; alsdann ist

k (b c) -.

t = log. nat. K ' LH]

k (b c) b

Hat aber e—t einen mäfsigen Werth, so mufs dessen Potenz k in obige Glei- chung gesetzt werden, oder zu vorläufiger Uebersicht nur die zweytePotenz. Was das Maximum der Gröfse y anlangt: so findet sich aus

^1 = be-kt - (b c) e-' =0 dt v ;

t = . log. nat. [I]

k— 1 b c

Diese Gröfse ist immer möglich; also giebt es allemal ein Maxi- mum. Gerade im Gegentheil wird man bey näherer Betrachtung der Glei- chung H finden, dafs dieselbe oftmals auf einen unmöglichen Werth von t führen könne; nämlich wenn k (b c) < b.

Um nun den Gegenstand gehörig aufzuklären, gehe man zurück zu

der Gleichung, für den Grenzwerth von y. Dieser war (nach G):

b . (bc 4- ac 4- ab) , . ' b -4- c;

bc -{- 2 ac + 2 aD*

indem für k sein Werth gesetzt worden. Man versuche nun, ob dieser,

* ab statt 2 ab SW.

406 HI- Briefe über die Anwendung der Psychologie aut die Pädagogik (183 1).

erst in unendlicher Zeit zu erreichende Gränzwerth sich = o setzen lasse ? Und es findet sich dafür

ab 1/ a2b2 ab2

2 (b + 2a)"1" I7 4 (b + 2a)2 ~1~b-f-2a L J

wo sich von selbst versteht, dafs vor der Wurzelgröfse kein Minuszeichen brauchbar ist, weil c nicht negativ sein kann.

Diesen Werth von c mufs man für angenommene a und b zuerst aufsuchen. Zwar nicht, als ob ein kleineres c sich neben jenen nicht er- heben könnte; im Gegentheil, die Gleichung I ergab ein jedenfalls mög- liches Maximum. Aber nachdem das Maximum erreicht worden, mufs y wieder sinken; und nun fragt sich, ob es in endlicher Zeit gleich Null werde? Das geschieht allemal, wenn c kleiner ist als die Gleichung K anzeigt. Aber es geschieht nicht, wenn c gröfser ist, vielmehr führt als- dann der Ausdruck für y = o auf unmögliche Gröfsen; wie schon der abgekürzte Werth (in H) deutlich genug zeigt.

Sucht man übrigens Genauigkeit in Zahlen, was bey psychologischen Rechnungen selten einen Zweck haben kann, so bietet sich hier die sehr bequeme Hülfe des TAYLORschen Lehrsatzes an; weil die Differential- quotienten von y äufserst einfach ausfallen.

Vergleichungen dieser Rechnungen für steigende Vorstellungen mit der in der Psychologie geführten für sinkende, und für die Schwellen des Bewufstseyns, werden sich dem aufmerksamen Leser ohne Mühe darbieten. Aber einige Beyspiele zur Erläuterung dürften nicht überflüssig seyn.

1 . Es sey a = b, so ergiebt die Gleichung K, wenn a = 1 gesetzt wird,

= 0,4342 . . . ; dagegen für

6 a = 2, b = 1, c = - = 0,4633

Vn

V 93 3

a = 3, b = 1, c = = 0,4745

V2 3 "5 5

a = 10, b = 1, c = = 0,491

21

V9— 1 a = oc, b = 1, c = = 0,5.

4 2. Nimmt man nun beliebige Werthe für a, b und c an: so wird sich entscheiden lassen, ob dafür y ■= o werden könne oder nicht. Ge- setzt z. B. es sey a = 4,b = 3,c = 2, so bringe man zuvörderst diese Werthe auf das Maafs der oben angenommenen Einheit- zurück. Es sey also für alle drey Vorstellungen das Maafs ihrer ursprünglichen Stärke drey mal so grofs, so werden die Verhältnifszahlen dreymal so klein; das hcifst, man setzt nun a = i/:i, b = I, und c = 2/3. Nun läfst sich der Fall mit dem vorstehenden Täfelchen vergleichen; er liegt zwischen a = 1 und a = 2, also müfste ein entsprechendes c liegen zwischen c = 0,43 und c = 0,46. Aber c = 2/3 = 0,666 ... ist weit gröfser; mithin kann in diesem Falle y niemals = o werden. Eben das zeigt

23. Brief.

407

die Gleichung H ; denn für b = 3 und c = 2 wird k (b— c) nicht völlig = 2: also k (b c) b wäre negativ; folglich würde die Zeit, in welcher 7 = o werden soll, durch einen unmöglichen Logarithmen gegeben; das heifst, es kann in keiner Zeit y = o werden. Hiebey bemerke man jedoch, dafs die Gleichung nur den Begriff dieser Unmöglichkeit kurz an- deuten soll; die genaue Bestimmung würde sie nicht geben, weil in ihr die Gröfse e ~ kt ausgelassen ist.

Statt dieses Falles wollen wir nun setzen a = 4, b = 3, und c = 1 ; oder für dreyfach gröfseres Maafs,

a = % b = 1, o = 73 welcher Fall eben dort, wo der vorige, zu suchen ist. Nun zeigt sich, dafs c = 1/3 = 0,333 weit kleiner ist als c = 0,4; also mufs y in endlicher Zeit = o werden, die noch überdies sehr klein ausfällt; denn

b 2 c 1

nach gehöriger Rechnung findet sich zuvörderst x = = ,

3

und hieraus durch Anwendung des TAYLORschen Satzes

t = 1,384

Aber dabey wird einem Jeden die Frage einfallen, was das wohl bedeuten möge: t = I? Ob diese Einheit ein Jahr, oder eine Stunde, oder eine Minute oder Secunde bedeute?

Gesetzt nun, es liefse sich darauf gar nichts antworten: so würde man sich inzwischen begnügen, Verhältjiisse der Zeit zu bestimmen. Die nächste Veranlassung dazu liegt schon in der Gleichung für das Maximum (I). Im vorliegenden Beyspiele findet sich daraus t = 0,481 . . . welches zeigt, dafs die Vorstellung, welche mit c bezeichnet worden, beynahe doppelt so viel Zeit zum Sinken braucht, als zum Steigen. Denn 1,384 ist nahe an dreymal 0,481.

Ferner können wir diesem Beyspiele andre, soviel man will, gegen- über stellen, es wird aber an zweyen genug seyn.

a = 10, b = 9, c =■ 1 giebt t = 0,0 ig ... fürs Maximum, und t = 0,280 .... für }' = o.

a = 10, b = 9, c = 3,956 . . . giebt t = 0,150 . . . fürs Maxi- mum, aber t = 9,50 .... für y = o.

Im letztem Beyspiele zeigt die ungewöhnlich lange Zeit des Sinkens, dafs ein nur wenig gröfseres c in gar keiner Zeit hätte zum völligen Sinken können gebracht werden. In der That ist das Beyspiel darnach gewählt worden, gemäfs der Formel K.

23- Nicht länger als nöthig, mein theurer Freund, sollen Sie durch Rech- nungen aufgehalten werden. Sie Selbst haben ohne Zweifel schon hinzu- gedacht, dafs von vier, fünf, oder mehreren Vorstellungen etwas Aehnliches gelten müsse wie von dreyen. Alle können zugleich steigen, allein die Zeit des Steigens wird sich für die meisten schwächeren so sehr ver- kürzen, dafs nichts Merkliches davon übrig bleibt. Andrerseits wird der Druck, welchen die Vorstellungen gegen einander ausüben, gar sehr ver- mindert werden, sobald die Hemmungsgrade kleiner sind; denn das Vor- stehende bezog sich auf den gröfsten möglichen Hemmungsgrad. Was

j.o8 III. Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (183 1).

aber die Verbindung, Complication oder Verschmelzung der Vorstellungen darin abändern möge, das zu betrachten müssen wir uns noch vorbehalten; während wir längst wissen, dafs alle die Bilder von Gegenständen, die man im gemeinen Leben Vorstellungen nennt, aufserordentlich mannig- faltig zusammengesetzt sind. Lassen wir das für jetzt; und seyn Sie nun so gefällig, mir zu dem was zunächst liegt, mit Ihrer Aufmerksamkeit zu folgen.

Was wird wohl geschehen, wenn jenes aus physiologischen Gründen zu erklärende Hindernifs, von dem wir so oft schon geredet haben, sich in den eben beschriebenen Procefs einmischt? Um dies zu finden, bitte ich Sie zuvörderst Sich das Steigen solcher Vorstellungen, wie vorhin a und b, ja auch c in den Fällen, wo es nicht merklich sinkt, recht deut- lich zu denken. Die Formel I zeigt Ihnen, dafs wenn c fast gleich grofs ist wie b, alsdann die Zeit des Steigens auch für die schwächste der drey Vorstellungen sich sehr verlängert; so dafs der ganze Procefs für alle drey ziemlich gleichartig ausfällt; wenigstens so lange, bis die Exponentialgröfse e kt als verschwunden kann betrachtet werden. Aber so einfach wird die Sache nicht bleiben, wenn eine fremde Hemmung dazu kommt.

Sie erinnern Sich, dafs wir diese fremde, feindliche Kraft als nach- giebig auch von ihrer Seite gegen den Druck des Vorstellens, aber eben hiedurch einer Anspannung zu stärkerem Gegenwirken fähig, uns denken müssen. Anfangs werden ihr ohne Zweifel die schwächsten der steigen- den Vorstellungen am meisten nachgeben. Also zuerst verliert c; dann b, endlich a in merklichem Grade. Hiedurch versetzt sich die fremde Kraft in Spannung gegen a, von welchem sie am meisten leidet. Aber dadurch gewinnt bald c freyen Raum; indem nun diejenigen Energien, von welchen es gedrückt war, sich gegen einander gekehrt haben; und sich nicht eher wieder aufrichten können, als bis zwischen ihnen die Hemmungssumme gesunken ist. Wofern b der Stärke nach bedeutend hinter a zurücksteht, so hat auch dieses wenig Antheil an dem Zurückdrängen des Hinder- nisses, und je minder es im Streite wider dasselbe befangen ist, um desto eher kann und wird es bald nach c den entstandenen freyen Raum be- nutzen. So treten c und b wieder hervor; aber das Gleichgewicht ist damit nicht hergestellt, sondern die stärkeren Kräfte müssen aufs Neue ihren Vorrang geltend machen, meistens aber wird nun schon der Zustand des Nervensystems selbst in eine Schwankung gerathen seyn, welche nach Art der Affecten fortwirkt. Ohne uns jedoch hierauf einzulassen, wollen wir nur bemerken, wie das Aufsteigen der Vorstellungen, welches sich einer durch die obigen Gleichungen bestimmten Gränze nähern sollte, statt dessen in einen Wechsel hineingeräth, wobey bald die eine bald die andre Vorstellung sinkt und steigt.

Also: gleichförmig anhaltende Klarheit der stärksten Vorstellungen können wir da nicht erwarten, wo das Steigen derselben mit dem fremden Hindernisse zu kämpfen hat. Und umgekehrt, wo wir statt einer stetigen Besonnenheit einen unruhigen Wechsel, und besonders ein Anschwellen der schwächern und deshalb unhaltbaren und flüchtigen Gedanken häufig wahrnehmen: da werden wir gerade in dieser Succession dessen was sich bleibend veststellen sollte, das Zeichen eines Hindernisses erkennen, was in der organischen Anlage des Nervensystems seinen Grund hat, einen

23- Briet. ]0g

Grund, mit welchem vielmehr die physische als die intellectuale Er- ziehung zu kämpfen hat, falls überhaupt derselbe sich überwinden läfst. Wenn nun die physische Erziehung das geleistet hat, was sie konnte, wenn der Knabe munter spielt, gut verdaut, gehörig wächst, und dennoch die stetige Besonnenheit fehlt: werden wir nun gar nichts weiter zu thun haben? Werden wir uns begnügen, die Sprache der Mütter zu führen, welche über Leichtsinn klagen? Eine alte, sehr allgemeine Klage, die wohl selbst da vernommen wird, wo man eher über Tiefsinn klagen sollte!

Gleich zunächst wird Ihnen auffallen, dafs ich hier gar nicht etwan be- sonders schlechte Köpfe beschrieben habe. Von zugleich steigenden Vorstel- lungen war die Rede. Wiefern dadurch Jemand charakterisirt werden kann, in so fern ist er wenigstens ein selbstthätiger Kopf; und das bleibt er noch, wenn auch statt ruhigen Gleichgewichtes entgegengesetzter Vorstellungen vielmehr ein Wechsel der Entgegengesetzen vorherrscht.

Mit solchen Köpfen läfst sich immer noch arbeiten ; wenn man gleich das Uebel, woher ihre Beschränkung rührt, nicht heben kann. Es kommt nur darauf an, zu erforschen, was und wieviel sich unter vorhandenen beschränkenden Umständen noch thun läfst; die erste Bedingung aber hievon ist, dafs man das Uebel richtig erkenne und von andern, die etwa äufserlich ähnlich seyn mögen, gehörig unterscheide.

Schon früher haben wir von sogenannten guten Köpfen gesprochen, die gleichwohl stark beschränkt sind. (19) Vergleichen wir einmal jene dort mit diesen hier! Jene standen den steifen Köpfen nahe, ungeachtet eines Scheines von Gewandtheit. Wir sahen die Steifheit begründet im Mangel der Wölbung, also in der Nacktheit, womit bey der Reproduction ältere Vorstellungen durch Erfahrung und Umgang gerade immer nur das hervortritt, woran eben direct erinnert wird; ohne die natürliche Um- gebung des Naheliegenden, was dem bessern Kopfe zugleich, wenn auch dunkel, vorzuschweben pflegt. Solche Steifheit nun (bemerkten wir) sey oftmals dergestalt vorhanden, dafs sie Pausen mache, und dafs in glück- lichen Augenblicken Vieles richtig gefafst werden könne, woran jedoch der Zusammenhang fehle, so dafs nur ein kraftloses Resultat hervorgehe; daher ein Schein von Gewandtheit, hinter welchem sich die geistige Armuth verberge, die nach vielem Lehren und Lernen endlich als trauriges Resultat hervortreten müsse.

Wo liegt nun der Unterschied zwischen dort und hier? Zu- vörderst, die° Vorstellungen, von welchen wir reden, sind dort ganz andre, als hier. Dort nämlich war eine Reproduction vorausgesetzt, während unsre Formeln in der Beylage sich gar nicht auf irgend eine Reproduction durch neues Wahrnehmen, sondern vielmehr auf solche Vorstellungen beziehen, wie sie jeden Morgen beym Erwachen von selbst emporsteigen, ohne dazu irgend eines vorgängigen Hörens und Sehens zu bedürfen. Dort dachten wir an Schwierigkeiten, welche der Lehrer beym Unterrichte findet wenn er das Alte weckt, um Neues daran zu knüpfen. Hier im Geeentheil versetzen wir uns ins Anschaun der geistigen Selbsttätigkeit, wir denken, wenn Sie wollen, uns den Menschen als sinnend oder träumend vielleicht aber auch als handelnd nach eignen Gedanken; hie-

4io HL Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

bey aber vermissen wir die Besonnenheit, welche sich gleich bleiben sollte, und finden dagegen einen Wechsel von Einfällen, die, wofern sie handelnd hervortreten, planlose Versuche seyn werden. Und was das Hindernifs anlangt, aus welchem beyderley Uebel entspringt, so ist es dort als abwechselnd eingreifend, hier aber als fortwährend betrachtet worden.

Noch mehr! Im vorigen Falle war es die Wölbung, welche ver- dorben wurde, also waren es die zunächstliegenden Vorstellungen, deren Gesammt-Erhebung mislang. Hier aber sprechen wir von entgegen- gesetzten, ja möglichst stark entgegengesetzten Vorstellungen, deren gleich- zeitiges Steigen nicht etwan, wie dort, geradezu verhindert, sondern in eine successive Bewegung, in ein Schwanken versetzt wird.

Sollten aber wohl beyderley Fehler zugleich vorkommen können? Jeder Mensch, der nicht völlig zu den Stumpfsinnigen gehört, hat einen ge- wissen, wenn auch nur engen, Kreis von Vorstellungen, in denen er selbst- thätig ist. Findet sich nun in seinem Nervensystem ein Hindernifs, welches bey Reproductionen die Wölbung verkümmert, so wird noch viel eher dieses nämliche Hindernifs beym eignen Denken und Handeln das ruhige Ueberschauen des Entgegengesetzten, welches zusammengefafst werden sollte, sehr erschweren, wo nicht unmöglich machen. Aber die steifen Köpfe, unschlüssig wie sie manchmal sind, werden doch eine Art von Vortheil vor jenen Gewandten haben. Wer gleichförmig beschränkt ist, der gelangt in seinem engen Kreise allmählig zur Stetigkeit; er ver- sucht nicht leicht mehr, was über seine Kräfte geht; er giebt es auf, zu- sammenzufassen, was er nicht zusammenhalten kann. Wo aber das Hindernifs oft nachläfst, oft ganz aussetzt, da fühlt sich das Individuum manchmal dem wirklich guten Kopfe ähnlich; es beschliefst und unter- nimmt, was nur ein solcher würde ausführen können, woraus dann Ver- wickelungen der unangenehmsten Art entstehen.

24.

Auf den Leichtsinn kamen wir vorhin : auf denjenigen Fehler, welcher vor andern häufig der Jugend pflegt vorgeworfen zu werden. Wie er- kennt man den Leichtsinn ? In die Bewegung der Vorstellungen pflegen die gewöhnlichen Erzieher nicht eben tief hineinzuschauen ; aber aus Reden oder überhaupt aus Handlungen (wozu ja die Reden auch ge- hören) schliefsen sie auf Leichtsinn.

Uns brachte umgekehrt die Betrachtung schwankender Vorstellungen auf den Gedanken an das nicht blofs innere geistige, sondern auch äufsere körperliche Handeln. Und dadurch wird sich die vorige Betrachtung in der That sehr erweitern. Die Jugend kennt noch wenig Zurückhaltung; das jüngere Kind besonders spricht was ihm einfällt, und greift nach Allem was es erreichen kann. Wo nun Gelegenheit ist, den innern Wechsel der Vorstellungen äufserlich handelnd zu verkörpern, da zieht sich im Allgemeinen der geistige Procefs in die Länge; so dafs man ihn wie durch ein Vergröfserungsglas erblicken kann. Denn die Aufsendinge setzen mehr oder weniger Widerstand in den Weg; und während das Anschauen die vorhandene Vorstellung verstärkt, verzögert sich im Handeln der Fort- schritt, welchen der psychische Mechanismus zu machen im Begriff stand.

24- Brief. 4 1 1

Daher läfst sich die Jugend in Handeln hierhin und dorthin ziehen; und dies um desto mehr, je weniger von ruhiger Besonnenheit vorhanden ist; und je gewisser vollends in der Gesellschaft vieler Kinder die Un- ruhe des Einen sich den Andern mittheilt.

Sind denn aber alle Kinder unbesonnen? Gerade im Gegentheil, man findet deren, wiewohl selten, die frühzeitig schon in dem engen Kreise ihres Wissens und Könnens sehr auffallend planmäfsig handeln. Diese waren also im Stande, das Mannigfaltige zusammenzuhalten, ohne dafs die Gegensätze der einzelnen Vorstellungen einen unruhigen Wechsel der Gedanken zur Folge gehabt hätten.

Das ist die Probe davon, dafs nicht in dem reinen psychischen Mechanismus die Phänomene des Leichtsinns begründet sind. Sonst würden ohne Zweifel die Vorstellungen, welche einer gewissen Sphäre des Handelns entsprechen, in allen Köpfen das gleiche Spiel treiben; und so mochte man fragen, wer denn am Ende planmäfsig handeln solle? Doch von den Vorzügen des reiferen Alters ist hier noch nicht die Rede. Aber wie nur wenige Menschen schön, und vielleicht nur wenige vollkommen gesund geboren werden, so wird auch nur Wenigen gegönnt, einen ganz freyen psychischen Mechanismus in sich walten zu lassen. Wenn vollends diese Freyheit des Mechanismus von natürlicher Hemmung verwechselt wird mit erworbener Freyheit des sittlichen Wollens: was wird dann aus der Pädagogik?

Vielleicht werden Sie mir antworten: in diesem Puncte sey der Irr- thum unschädlich. Denn am Ende müsse doch die Freyheit der sitt- lichen Entschliefsung aufgeboten1 werden gegen das Handeln aus Leicht- sinn; wenn also der Erzieher den Leichtsinn gleich einer Unsittlichkeit tadele, so sey daran nicht viel verloren; es komme nur darauf an, die moralische Achtsamkeit und Selbstbeherrschung zu stärken. Ohne hier im Allgemeinen zu widersprechen, (denn es ist etwas Wahres daran,) frage ich zweyerley. Erstlich: wird der Erzieher mit solchem Tadel durch- dringen, und' mufs er nicht oftmals fürchten, durch vergeblich angewandte Heilmittel das Uebel schlimmer zu machen? Zweytens: sind Sie über- zeugt, alle Selbstbeherrschung, mithin auch die, welche nach häufigem Tadel des Leichtsinns vielleicht gewonnen wird, sey eben deshalb auch moralisch? Letzteres werden Sie gewifs nicht behaupten.

Doch genug für jetzt, wenn Sie meinen neulich mitgetheilten mathe- matischen Formeln einräumen, der Leichtsinn bestehe in einer Abweichung von dem durch jene dargestellten regelmäfsigen Procefs. Indessen will ich Ihnen nicht anmuthen, zuviel einzuräumen. Wenn wir uns zu dem allgemeinen Namen Leichtsinn ein Bild entwerfen, so tragen wir un- streitig noch eine Menge andrer Züge hinein; genug also, wenn jene Abweichung als Grundlage des Bildes mag anzusehen seyn.

Gern möchte ich ein passendes Gegenstück des Leichtsinns auffinden. Versuchen Sie, ob Ihnen folgendes zusagt: die ächte ästhetische Auf- fassung eines gröfseren Kunstwerkes. Sie wissen, wie die Meisten ein Stückln Stücke zerfallen lassen; Sie bemerken leicht, dafs kein Dämon

1 „aufgehoben" SW.

412 HI- Briefe über die Anwendung der Psychologie aui die Pädagogik (1831).

dabey im Spiele ist, der etwan ein neckendes Wunder thäte; sondern dafs im Kunstwerke mancherley Entgegengesetztes liegt, welches die ächte ästhetische Auffassung zusammenhält; jedoch nur unter der Bedingung, dafs sie ungestört bleibe. Von Kindern, mit denen wir die Odyssee lesen, werden wir nicht verlangen, dafs sie dem Versinken ins Einzelne sich entziehen sollen; vielmehr verlangen wir Theilnahme für die einzelnen dargestellten Personen und Begebenheiten. Eben so wundern wir uns ja nicht, wenn in der schönsten Landschaft der Knabe nur eine Menge von Thürmen, Hügeln, Bäumen, Gewässern wahrnimmt. Freylich wird ein solcher Knabe schwerlich Künstler werden. Auch wird ihn unsre Päda- gogik dazu nicht machen können, noch machen wollen; denn eines organischen Hindernisses kann sie nicht mächtig werden.

Fragen Sie mich, weshalb ich statt der ästhetischen nicht vielmehr die ächte speculative Auffassung genannt habe ? so erwiedere ich : weil die speculative eine nothwendige Bewegung des Vorstellens in sich schliefst, wobey das Vorgestellte sich ändert; und das liegt weit ab vom Vorigen.

Eher könnte ich die ächte empirische Auffassung, etwa des tüchtigen Geographen und Historikers anführen. Aber darin liegt Raum und Zeit, mithin Reihenbildung, und Bewegung des Vorstellens durch Reihen. Das war noch nicht unser Gegenstand, jedoch er soll es nun werden.

25-

Dafs ich Ihren Glückwunsch zu der endlich begonnenen Untersuchung über die zugleich Steigenden so ernsthaft nahm, und ihn sogar noch jetzt im Gedächtnifs habe: ob Sie wohl ein wenig lachen werden, wenn Sie das lesen? Wer weifs! Ihre Freundschaft möchte mich dagegen schwer- lich schützen. Eher wohl schützt mich Ihre Sachkenntnifs, Ihre Einsicht in den Ernst des Gegenstandes.

In der reinen Mathematik ist ein Lehrsatz fertig, wenn er bewiesen ist; in der angewandten, wohin die Psychologie gehört, mufs man erst Proben haben, wie weit die Anwendung reicht und wohin sie führt; nirgends aber vielleicht mag es so nöthig seyn, die ganze Sphäre der mög- lichen Fälle, welche eine Formel unter sich befafst, zu durchsuchen, als gerade in der Psychologie. Und wie sehr uns dazu die Pädagogik auf- fodert, das, mein Freund, wissen Sie so gut als ich. Diese kurze Er- innerung, und die daran geknüpfte Bitte um Ihre Aufmerksamkeit, zu- gleich aber um Ihre Nachsicht mit der bis jetzt noch unvermeidlichen Unvollkommenheit dessen was nun folgen soll, mag immerhin die Stelle einer Anrufung der neun Musen vertreten.

Käme es zuvörderst darauf an , die Wichtigkeit des Gegenstandes mit Einem Worte zu bezeichnen: so würde ich um das Wort nicht ver- legen seyn; es heifst: Gestaltung. Dies Wort pafst auf ästhetische, mathe- matische, logische, wie auf empirische und rein sinnliche Gestalten. Und wenn wir auch nicht von unsern Zöglingen im Allgemeinen fodern dürfen, dafs sie etwas Neues gestalten sollen, so müssen sie doch selbstthätig das- jenige nachbilden, was wir schon gestaltet ihnen darbieten. Wir aber sollten billig den Procefs des wichtigen geistigen Handelns, das wir Ge- staltung nennen, vollständig psychologisch begreifen, bevor wir denselben

25. Briet. .} 13

in den Köpfen, die wir zu bilden haben, auch nur einzuleiten unter- nehmen.

Das einfachste Element jeder Gestaltung ist eine Reihe, denn während in einer Gestalt auf sehr mannigfaltige Weise Eins zwischen Anderem liegt: zeigt sich das Zwischen ganz einfach da, wo in einer Reihe etwas den Platz, den es einnimmt, sich bestimmen läfst durch ein vorhergehendes Glied und durch ein folgendes. Die Begriffe, Rechts, Links, Oben, Unten, sind hievon nur nähere Bestimmungen. Hierüber müfste ich Sie auf meine Psychologie verweisen, wenn Sie das nicht längst wüfsten; auch können wir uns hier auf die entgegenstehenden alten Vorurtheile nicht einlassen; wir haben nicht hinter uns, sondern vorwärts zu schauen. Ob uns Andre nachkommen können, oder nicht, das ist ihre Sache, und geht uns nichts an.

Zu einer vorläufigen logischen Sonderung der Fragepuncte dient Folgendes.

1. Die Reihen unterscheiden sich schon ihrer Länge nach. Wenn die Vorstellung a verschmolzen ist mit b, und minder mit c, noch minder mit d, u. s. w. so sey p das letzte Glied, womit a, bevor es aus dem Bewufst- seyn verdrängt wurde, möglicherweise noch verschmelzen konnte. Diese Länge von a bis p wollen wir die Normallänge nennen. Alsdann zeigt sich, dafs eine Reihe, welche von a bis r oder s reicht, nicht mehr durch a zusammengehalten wird, sondern durch die Verschmelzung des b, oder c, oder d, u. s. w. mit den folgenden Gliedern. Soll nun eine Reihe, welche über die Normallänge hinausgeht, im Bewufstseyn reproducirt werden, so kann die Kraft dieser Repioduction nicht in a allein gesucht werden, und da wir nicht die Thorheit begehen werden, diese reproducirende Kraft im Gedächtnifs oder einem andern Seelenvermögen zu suchen, so müssen wir sie in b, oder c, oder d, u. s. w. voraussetzen. Das ist nun zwar möglich, aber es verwickelt die Untersuchung. Wir betrachten zunächst die Reproduction der Reihe nur in so fern als sie von dem ersten Gliede ausgeht; folglich beschränken wir uns auf die Normallänge; und damit der Unterschied des ersten reproducirenden Gliedes von den folgenden reprodu- cirten uns nicht entschlüpfe, wollen wir das erste mit P, alle folgenden aber mit LT, LT', LT", LT" u. s. w. andeuten; welche Bezeichnung Ihnen aus der Psychologie geläufig seyn wird.

2. Der Grad der Verbindung unter den Reihengliedern ist stärker oder schwächer. Wenn a im Bewufstseyn schnell sank, während nach einander b c, d, u. s. w. gegeben wurden, so mufsten die Reste von a, welche mit' den nachfolgenden Gliedern verschmolzen, sämmtlich kleiner ausfallen, als wenn a langsam sinkt. Die Reihe mufste demnach schlechter gerathen; und kein Seelenvermögen kann den Fehler ersetzen. Wohl aber wird dem Erzieher das alte Sprichwort: repetitio est mater studiorum einfallen; denn bey der Wiederhohlung wächst der Grad der Verbindung unter den Reihengliedern. Mit Rücksicht auf eine Zeichnung, die Sie im § 100 meiner Psychologie finden, will ich die schiechter verbünd, Reihen steil, die besser verbundenen flach nennen; und die Flachheit wird

hier ein Lob bezeichnen.

3. Die Reihen können gleichartig seyn oder ungleichartig; und zwar

6

AlA HI- Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

sowohl in Ansehung ihres Verbindungsgrades als auch der Stärke ihrer einzelnen Glieder. Bey den ungleichartigen können entweder am Anfange, oder am Ende, oder irgendwo in der Mitte die stärkeren Glieder ihren Platz haben. Wollen Sie hiebey schon auf den Rhythmus sehen, in welchem eine Reihe (etwa poetisch oder auch musicalisch) gegeben wurde : so haben die stärkeren Glieder ihren Vorzug entweder durch Energie oder durch Dauer erlangt.

4. Oftmals gelten viele Reihen für eine. Was zehnmal wiederhohlt wurde, das mufs, wenn es eine Reihe in sich schliefst, diese Reihe zehn- fach ins Bewufstseyn bringen, wobey die vorigen Verschiedenheiten Statt finden können. Wenn z. B. Ihr Zögling ein langes und schweres Wort sich einprägen soll, so werden Sie, da er es das erstemal nicht recht be- hält, es langsamer sprechend wiederhohlen. Nun ist aber das Wort eine Reihe von Vocalen und Consonanten. In Folge Ihres Sprechens bildet sich diese Reihe im Kopfe des Lehrlings anders und anders. Die daraus entspringende Reproduction, wenn er das Wort nun endlich gelernt hat, erscheint Ihnen als einfach, während sie wirklich der Complexus aller derjenigen R'eproductionen ist, welche eben so vielen Auffassungen der nämlichen Reihe entsprechen.

5. Die Reproduction kann unter verschiedenen Umständen geschehen. Es begegnet uns oft, dafs ein Knabe heute scheint vergessen zu haben, was er morgen, ohne es von neuem gelernt zu haben, dennoch wieder weifs. Und die Naturen unterscheiden sich gar sehr in Ansehung der Reproduction, so dafs Mancher, der eine gröfsere Intensität seiner Vor- stellungen innerlich besitzt, dennoch äufserlich schwächer scheint, als ein Anderer, dem die Reproduction leichter gelingt. Dahin gehören die Klagen, dafs, wer leicht lerne, nicht lange behalte.

6. Um uns jetzt den zusammengesetzten Reihen zu nähern, wollen wir zunächst uns erinnern an Reihen, die in sich zurücklaufen, indem entweder ihr Anfangsglied sich wiederhohlt, oder eins der folgenden. Das kommt vor bey Allem, was als rund in irgend einem Sinne, oder als periodisch soll aufgefafst werden.

7. Bey ungleichartigen Reihen bilden oftmals einige hervorragende Glieder wiederum unter sich, und herausgehoben, eine Reihe. So bey Classificationen, wo die Gattungsbegriffe unter sich coordinirt sind. Die grofse Erleichterung, welche dem Behalten durchs Classificiren zu Theil wird, beruhet hierauf.

8. Bey zusammengesetzten Reihen hat oftmals ein Glied, oder es haben mehrere Glieder eine Seitenreihe, d. i. eine solche, deren Verlauf den Fortschritt in der Hauptreihe nicht fördert. So in Gleichungen, wo die Coefficienten selbst Reihen bilden. Denken sie etwa an den Haupt- satz von den algebraischen Gleichungen, und an die Zusammensetzung der Coefficienten aus den Wurzeln. Wollen Sie die Reihe verfolgen, welche zur Bildung eines Coefficienten gehört, so steht Ihr Denken so lange still bey derjenigen Potenz der unbekannten Gröfse, wozu der Coefficient gehört. Dabey geschieht dem psychischen Mechanismus eine Gewalt, die unangenehm empfunden wird, und viel zu dem beyträgt, was in den Wissenschaften schwer und trocken zu heifsen pflegt.

26. Brief.

l'.S

9. Es kann aber auch einerley Glied mehrere Seitenreihen haben, die strahlenförmig von ihm ausgehn. So in der Geschichte eines grofsen Staats der Moment seines Zerfallens in viele kleinere; oder die Wirksam- keit eines grofsen Mannes nach verschiedenen Richtungen.

10. Die Seitenreihen können unter einander communiciren. So die Radien eines Kreises durch die Sehnen.

11. Bey Complexionen von Vorstellungen (dergleichen alle unsre Begriffe von Sinnen -Gegenständen sind,) kann jedes Element der Com- plexion (jedes sinnliche Merkmal) Anfangspunct einer Reihe (z. B. von Veränderungen) seyn.

12. Es können Reihen, die einfach anfingen, weiterhin gleichsam einmünden in eine Complexion. Ein brennender Schwefelfaden, der am Ende eine Mine entzündet, kann hier als Symbol dienen. Endlich giebt es Reihen, deren eine die Umkehrung der andern ist; wie bey allem, was als räumlich aufgefafst wird. Doch die bisherige Sonderung mag einstweilen genügen, um die grofse Mannigfaltigkeit dessen anzudeuten, worauf die Untersuchung der1 Reihenbildung Einfiufs hat; so dafs der Lehrer, der sie nicht kennt und nicht einmal darnach fragt, nirgends recht weifs was er thut, indem er dem Zöglinge solche Reihenbildung und deren Repröduction zumuthet.

26. Sie erwarten hoffentlich nicht, dafs ich die im vorigen Briefe gesonderten Puncte nun einzeln abhandeln werde. Das sey ferne ! Ihrem Nachdenken habe ich ein Feld bezeichnen wollen, worin es für Sie gewifs viele schon längst wohlbekannte Stellen giebt, die Sie jedoch vielleicht noch nicht in solchem Ueberblick zusammengefafst hatten. Allein das blofse Sondern und Zusammenfassen hilft nicht hinweg über die gewöhnliche Empirie; also auch nicht über die gewöhnlichen Bekenntnisse, man wisse eben nicht, wie es zugehe, dafs ein Schüler das Eine leicht, das Andre schwer fafst, dafs der °eine hier, der andre dort stockt; und es sey eben so wenig klar, was eigentlich für den Lehrer und Erzieher dabey zu thun sey. Ohne Ihnen nun grofse Aufklärungen zu verheifsen, kann ich Ihnen wohl eine Uebung unseres Nachdenkens über dergleichen Fragen anbieten, wenn Sie nämlich noch einige mathematische Geduld haben. Denn ohne solche wird zuverlässig Niemand den Eingang in dies Gebiet der Unter- suchung finden.

Im § 86 meiner Psychologie erblicken Sie die Buchstaben I und U in dem oben erwähnten Sinne gebraucht; nämlich so. dafs P allemal die reproducirende Vorstellung, 17 aber die reproducirte bedeutet. Gesetzt, Sie fragen einen Knaben, wie heifsen die römischen Könige? und er antwortet nun vom Romulus bis zum Tarquinius hin, so ist der Ge- danke der römischen Könige im Kopfe des Knaben unser P; hingegen Romulus, Numa, Tullus u. s. w. sind unsere 77, JT' IT", u. s w

Am angeführten Orte der Psychologie erblicken Sie auch den Buch- staben w, welches einen Theil von n bedeutet; desgleichen »•, einen Theil

1 „Untersuchung der" fehlt SW.

416 HI- Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

von 77'; to", einen Theil von 77", u. s. f. Nämlich von 77 soll in der Zeit t der Theil u>, von 77' in der Zeit t' der Theil w', von 77" in der Zeit t" der Theil ew" ins Bewufstseyn getreten seyn.

Warum sind denn nicht alle diese Theile gleich? Was bestimmt die Vorstellung P, dafs sie nicht Romulus, Numa, Tullus, u. s. w. alle auf einmal gleich weit ins Bewufstseyn vorrücken läfst? Wirklich antwortet Ihnen der Knabe, der schlecht lernte, alles durcheinander; er spricht etwa: Romulus, Ancus, Tullus, Tarquinius, Numa, u. s. w. Wenn er nun so spricht, woran liegt das? und was soll in seinem Kopfe sich ändern?

Sie wissen es! Der Fehler mufs in der Verschmelzung der Vor- stellung P mit den verschiedenen 77 liegen. Hatte Ihnen der Knabe da- mals, da Sie von Römischen Königen kurz erzählten (bey ausführlichem, darstellenden Unterrichte in der Geschichte, wie er sich für jüngere Knaben eigentlich gebührt, wird jener Fehler nicht leicht sich erzeugen,) abwechselnd bald gut bald schlecht zugehört: so war die Vorstellung eines römischen Königs in seinem Bewufstseyn bald auf bald abgestiegen, unter mancherley Zerstreuungen und Hemmungen. So konnte es geschehen, dafs nicht blofs die kurz genannten Namen unter emander sehr wenig verschmolzen, sondern dafs auch ein gröfserer Theil von P mit II" als mit 77", und mit diesem mehr als mit 77' verschmolz; und dann kam die Reproduction in verkehrter Ordnung ganz natürlich zum Vorschein.

Denn es sind ja die Reste r, r, r" u. s. w. auf welche Alles an- kommt! Diese Theile der Vorstellung P mufsten in solcher Ordnung einander folgen, wie es bey völliger Aufmerksamkeit geschehen wird, wenn Jemand hört: Römische Könige sind Romulus, Numa, Tullus, . . . Tar- quinius Superbus. Alsdann nämlich sinkt die Vorstellung des Römischen Königs allmählig, während die Namen genannt werden. Freylich darf sie nicht so tief sinken, dafs am Ende, wo Tarquinius Superbus genannt wird, der Begriff eines Römischen Königs ganz verschwunden wäre, wie es so oft Denen geht, die am Ende einer zu langen Reihe nicht mehr wissen wovon die Rede ist. Darum sprach ich vorhin von einer Normal- länge; die in Fällen, wie das vorliegende Beyspiel darstellt, schon viel zu lang seyn würde. Aber noth wendig mufs eine Abstufung eintreten, ver- möge deren, wenn von Römischen Königen gesprochen wird, dem Knaben früher Romulus einfällt als Numa, und wiederum die Vorstellung des Numa eher zum Worte gelangt als die des Tullus, u. s. f.

Und welches ist diese Abstufung? Von der Vorstellung P sind die Reste

r mit 71

r' mit 77'

r" mit 77" u. s. w.

damals verschmolzen, als die Reihe sich bildete. Aber in der Psychologie steht die Formel

o) = q\i e /

daher ich nicht vergessen darf, dafs nicht nothwendig die ganzen 77, 77',

26. Brief. , j -j

Jl" u. s. w. brauchen verschmolzen zu seyn, sondern dafs von 77 ein Rest p, von 77' ein Rest p', von 77" ein Rest p" mit den entsprechenden Resten r der Vorstellung P kann verschmolzen seyn.

Jedoch dies Alles sollte ich hier als bekannt voraussetzen; desgleichen auch die Bedeutung der Formel, welche anzeigt, dafs w sich der Gränze p nähert, und zwar schnell, jedoch ohne sie völlig zu erreichen; oder mit andern Worten, dafs die Vorstellung P allemal die geschlossene Verbindung mit irgend welchem 72 so weit, aber nicht weiter, strebt wieder herzu- stellen, als wie weit die Verbindung zu Stande gekommen war.

Jetzt aber wollen wir nicht gleich die schwierigem Rechnungen be- rühren, welche in der Psychologie am angeführten Orte folgen: sondern wir wollen ein leichtes Gegenstück zu jener Formel aufsuchen, dessen Voraussetzung hier ganz in der Nähe liegt. Denn sprachen wir nicht früher schon von steifen Köpfen? In solchen findet natürlich die Repro- duction ein Hindernifs, welches in der Regel mehr oder weniger nach- giebig ist. Setzen Sie aber den äufsersten Fall: es sey gar nicht zum Weichen zu bringen. Das dürfen Sie Sich freylich nicht so denken, als ob darin eine absolute Negation des Vorstell ens läge, sonst wäre ja der Mensch, von dem wir reden, ganz im Schlafe! Nur soviel soll das Hinder- nifs wirken, dafs eine Vorstellung, welche eben jetzt zu anderen ins Be- wüfstseyn tritt, die ganze Hemmungssumme, die sie herbeyführt, allein tragen müsse. Was daraus folgen wird, sage ich Ihnen der Hauptsache nach voraus: die Gränze p, welcher sich w sonst annähert, wird erniedrigt; die Annäherung an dieselbe aber beschleunigt. Da ich wünsche, dafs Sie dies Resultat erst genauer kennen und durchdenken mögen, bevor ich fort- fahre, so breche ich hier ab; schalte aber einen kurzen mathematischen Aufsatz ein, dem Sie eine beliebige Aufmerksamkeit gönnen mögen.

Beylage.

Im § 88 der Psychologie wird untersucht, was die. Folge davon seyn müsse, dafs im Bewufstseyn jederzeit irgend etwas den reproducirten Vor- stellungen Entgegengesetztes anzutreffen seyn werde? Es entsteht nämlich, in wiefern der Hemmungsgrad dieses Entgegengesetzten durch a aus- gedrückt worden, aus dem durch Reproduction hervorgetretenen w die Hemmungssumme « «). Sie soll sich in jedem Zeittheilchen dt vertheilen zwischen dem Entgegengesetzten, was eben vorhanden, und zwischen der

r p

hervorgehobenen Vorstellung II sammt ihrer Verschmelzunghülfe .

Am angeführten Orte sind die Buchstaben m und n gewählt, um das Verhältnifs dieser Verth eilung auszudrücken; so zwar, dafs m den Theil m a m dt der Hemmungssumme bezeichne, der nach Ablauf der Zeit t eben jetzt von der reproducirten Vorstellung Tl gehemmt wird; n « w dt da- gegen das, was jenes Entgegengesetzte verlieren soll.

Wenn nun eine gewisse Steifheit vorhanden ist, die nicht leicht irgend eine Veränderung in dem vorhandenen Zustande der Vorstellungen gestattet, so wird, je grölser diese Steifheit, um desto kleiner n; folglich um desto gröfser m; denn m -\~ n = i, das heifst, die Hemmungssumme « w sinkt

Herbart's Werke. IX. '

ai 8 HI- Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

nothwendig in diesem Augenblick um a ca dt , ihre Vertheilung sey nun, welche sie wolle. Setzt man durch eine Fiction ein Maximum der Steifheit, so wird n = o ; das heifst, von dem Entgegengesetzten läfst sich gar nichts hemmen. Also wird m = 1 ; das heifst, die Hemmungs- summe u (o, welche aus der Reproduction des o) entsteht, mufs gänzlich dem (o selbst zur Last fallen.

Man fragt, wie unter solchen Umständen das Steigen des u> bestimmt werden möge? Und die Antwort ergiebt sich von selbst, dafs man a to dt von d o) abzuziehen habe. Also am angeführten Orte der Psychologie kommt :

r (q w) dt u ü) dt = d oj.

/ r + a II

und daraus (0 = ; *"— =. I 1 e x -\- a IL \

Es nähert sich also jetzt w nicht mehr der Gränze q, sondern der

r Bruch ; '—— zeigt an, um wieviel dieselbe ist erniedrigt worden, r -\- a IL

an

Man differentiire diesen Bruch nach r, so kommt d r

(r + « IT)2

daher, wenn r grofs ist, ein kleiner Unterschied in demselben nur wenig an der Gränze verändert, bis zu welcher sich o erheben könnte; allein je kleiner r schon ist, um desto näher dem Verhältnisse, worin r abnimmt, wird auch die Gränze erniedrigt.

Wiewohl nun die jetzige Annahme das Gegenstück ist zu der andern, als ob den reproducirten gar Nichts im Bewufstseyn entgegenstünde: so haben doch beyde Annahmen das gemein, dafs (o einer Gränze sich nähern soll, die es nie ganz erreicht, obgleich es fortwährend im Steigen begriffen ist. Allein der Deutlichkeit wegen mag eine Angabe bestimmter Zahlen hinzukommen, damit der Unterschied klärer werde.

Giebt es gar kein Hindernifs, so ist die Formel bekanntlich

w = Q \i e /

Es sey JT = 5, q = 4,1, und r durchlaufe die Werthe der ganzen Zahlen von 10 bis 1, so würde in allen Fällen <o = 4,1; wenn ihm un- endliche Zeit gestattet wäre. Da nun hierin kein Unterschied ist, so wollen wir, um doch einen solchen zu zeigen, die Frage so stellen: wie- viel Zeit braucht o>, um = 4 zu werden? Die Formel giebt:

für r =

10,

t = 1,856

r =

9,

t = 2,063

r =

8,

t = 2,321

r =

7>

t = 2,652

r =

6,

t = 3.094

rall \

*.«

s\v.

ii e

26. Brief.

419

für r = 5, t = 3,713

r = 4, t = 4,642

r = 3, t = 6,189

r = 2, t = 9,284

r = 1, t = 18,568

Während nun hier die äufserste Gränze = 4,1 immer die nämliche bleibt, wie schnell oder wie langsam auch Anfangs die Annäherung zu ihr geschähe : ändert sich im andern angenommenen Falle die Gränze

(0

folgendergestalt für n =

r + « n

0 = 4, 1; u = 1.

für r = 10 ist die Gränze 2,7

00

so müiste man r

r = 9 2,635

r = 8 2,523

r = 7 2,391

r = 6 2,236

r = 5 2,05

r = 4 1,822

r === 3 » ') » Iö37

r == 2 1,171

r = 1 0,683

Sollte aber nach dieser Formel w = p werden, unendlich grofs nehmen.

Beyde Annahmen sind nun selbst nur Gränzbegriffe, zwischen denen dasjenige liegt, was wirklich vorkommt, aber schwerer durch Rechnung darzu- stellen ist. Setzt man statt der vorerwähnten Steifheit nur die geringste Beweglichkeit: so wird w in endlicher Zeit etwas höher steigen, dann aber wieder sinken; wie in der Psychologie am angeführten Orte gezeigt ist, ohne dafs dort die Reihenbildung ganz ins Licht gesetzt wäre. Man stöfst nämlich beym Gebrauch der dortigen Formeln auf eine Schwierig- keit, die sich nach vorstehender Rechnung für die Gränze von w schon hätte vermuthen lassen. Die Maxima, bis zu welchen diese Gröfse sich hebt, fallen bey abnehmendem r so niedrig aus, dafs man aus der in der Psychologie gegebenen Entwicklung eher auf ein Hinzukommen einer Vor- stellung zu einer andern, als auf Zurücktreten der früheren Glieder, um den folgenden Platz zu machen, schliefsen würde.

Mit der vorhergehenden Zahlenreihe lassen sich nachstehende Rech- nungen vergleichen. ,

Man setze n = 5; 0 = 4, IJ « = *> und> um eine sehr 8ennSe _ weglichkeit der altern Vorstellungen anzudeuten, n = o,oi; folglich m 09*9 Man lasse ferner den wirksamen Rest der reproducirenden Vor- stellung welcher mit r bezeichnet worden, dergestalt sich verändern, dafs sein Werth = 10 abnehme bis 9, oder sein Werth = 6 abnehme bis S oder sein Werth 2 bis 1. Um dies darzustellen, sind sechs Formeln nöthig, die man aus der Hauptformel [A] im §. 88 der Psychologie abzu- leiten hat. Es sind folgende:

27*

420 in. Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

,9866t")

1. wenn r = 10 (o = 2,7487 (e-0-0033St _ e-

2. wenn r = 9

(0 = 2,652 (e-°'0036t _e-2>7864t)

3. wenn r = 6

w = 2,2546 (e-0'o°4St e-2'1^*)

4. wenn r = 5

(o = 2,0707 (e-0'00?* e-1^8*1)

5. wenn r = 2

« = 1,1921 (e-^^^t _ e -'.3828t)

6. wenn r = 1

1,1816t

= 0,69895 (e-°'oo838t e

)

Um das Feld der Vergleichung noch zu erweitern, setzen wh gerade umgekehrt eine grofse Nachgiebigkeit dessen, was der Reproduction ent- gegenwirkt, voraus ; indem wir n = 0,9 ; m = o, 1 nehmen, in nachstehen- den Formeln, wo die übrigen Werthe den vorigen gleich sind:

7. wenn r= 10

ro = 4,0748 (e-°>°438t e-2'°s62t)

8. wenn r = 9

(o = 4,103 (e-°>°486t e-1'8«11)

9. wenn r = 6

<o = 4,2662 (e-°>°73t e"1-2261) 1 o. wenn r = 5

w = 4,447 1 (e-0-08?4 e-1'010?*)

1 1 . wenn r = 2

(o = 9,8897 . sin. 0,16583 t . e_0'25t

1 2 . wenn r = 1

0) = 3,1562 . sin. 0,25981 1 . e-0'^1 Letzte beyde Formeln aus der Hauptformel [B] am angeführten Orte. Aus diesen Formeln ergeben sich nun vorzüglich die Zeiten, wann jede der reproducirten Vorstellungen im Bewufstseyn ihr Maximum erreicht; des- gleichen diese Maxima selbst; nach folgender Tafel:

für n = 0,0

[; m = o,99

für n = 0,9;

m = 0. 1

Zeit des Maximum

Maximum

Zeit des Maximum

Maximum

r*= 10

2,2768

2,7247

1,9126

3,6719

r = 9

2,3902

2,6259

2,0191

3,623

r = 6

2,831

2,22l6

2,442

3,3571

r= 5

3,0222

2,0345

2,6357

3,2l65

r = 2

3,825

1,1542

3,53H

2,267

r = 1

4,218

0,67007

4,0307

i,493

1 = io, 1=9, 1=6 u. s. w. statt r = 10, r = 9, r = 6 u. s. w. SW.

26. Briet. 42I

Jetzt läfst sich die Frage leicht beantworten, ob nach dem hier zum Grunde liegenden Gesetze der Reproduction eine Reihe ablaufen könne? Dann müfste von zwey nahe gleichen Resten der zweyte nicht blofs später das Maximum der Reproduction bewirken als der erste; (und so verhält es sich nach allen diesen Rechnungen wirklich): sondern das zweyte Maximum müfste auch kälter liegen als der gleichzeitige Stand der vorhergehenden Vorstellung im Bewufstseyn; welche zwar sinkt, aber nicht blofs überhaupt sinken, sondern tief genug herabsinken sollte, um der fol- genden alsdann, wenn sie am höchsten steht, Platz zu machen.

Um zu untersuchen, ob dies geschehe, setze man die Zeit für das folgende Maximum in die nächstvorhergehende Gleichung, um dort den zu dieser Zeit gehörigen Werth von o> zu finden.

Also I. t = 2,39 m die Gleichung i. Es ergiebt sich w = 2,7246 > 2,6259

2. t = 3,0222 in die Gleichung 3. Giebt to = 2,2206 > 2,0345

3. t = 4,2i8 in die Gleichung 5. Giebt w= 1,1534 > 0,67007

4. t 2,0191 in die Gleichung 7. Giebt = 3,6628 > 3,623

5. t= 2,6357 m die Gleichung 9. Giebt = 3>35°7 > 3,2165

6. t 4,0307 in die Gleichung 11. Giebt 0^ = 2,238 > 1,493.

Das heifst: es findet sich in allen diesen Fällen, die ein beträcht- liches Gebiet der möglichen Fälle zwischen sich einschliefsen, dafs die vor- hergehende Vorstellung zu der Zeit, wo die nachfolgende ihren höchsten Stand erreicht, noch immer dieselbe überragt; und ihr nicht also weicht, wie in einer Reihe das vorhergehende Glied dem folgenden weichen mufs. Vielmehr zeigt sich, dafs jede Vorstellung kurz nachdem sie ihr Maximum erreicht hatte, nur sehr langsam sinkt; wie sich auch erkennen läfst, wenn man die Gleichungen differentiirt.

Für den Umfang der Geltung dieser Rechnungen ist noch zu be- merken, dafs, wofern das Verhältnifs zwischen r und 11 das nämliche, auch «, m und n gleich bleiben, alsdann w in gleichem Verhältnisse mit q wächst und abnimmt.

Hieran knüpft sich ein Umstand, der nicht unbeachtet bleiben darf, dessen Darlegung aber einen Rückblick auf die Verhältnifszahlen m und

n fodert.

Wir haben dieselben hier, wo nur ein Rechnungs- Gebiet sollte ab- gesteckt werden, willkührlich angenommen. In der Wirklichkeit aber er- giebt sich das damit ausgedrückte Verhältnifs aus den übrigen Gröfsen. Obgleich eigentlich in dem Reste r die erhebende Kraft liegt, wodurch die mittelbare Reproduction der Vorstellung TI geschieht: so erhält sich doch gegen den Widerstand, der sie wieder herabzudrücken strebt, dieselbe Vorstellung zum Theil durch ihre eigne Energie; so dafs die Verhältnifs -

zahl m abhängt von JT -f ^; denn dies ist die Gröfse, welcher m um-

A22 HI- Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (183 1).

gekehrt proportional ist.* Folglich: je gröfser q, desto kleiner wird m, das heilst, desto günstiger gestaltet sich jenes Verhältnis für die Repro- duction des dazu gehörigen II.

Ferner ist aus den ersten Elementen der mathematischen Psychologie bekannt, dafs die Reste in weit grösserem Verhältnisse wachsen, als die Vorstellungen selbst, denen sie entnommen sind.

Endlich erinnere man sich, dafs in den vorigen Rechnungen stets II = 5 gesetzt, oder dafs die zu reproducirenden Vorstellungen immer als gleich stark angenommen wurden.

Von solchen also ist gesagt, dafs niemals die zweyte, durch ein schwächeres r hervorgehobene, werde die vorige übersteigen können.

Hingegen wenn II' gröfser als II, und II" gröfser als TT, und IL' gröfser als II" genommen, so mögen immerhin die zugehörigen r, r', r", r'" eine fallende Reihe ausmachen : es können dennoch die verschiedenen IT, indem sie successiv hervortreten, einander übersteigen. Denn die

Gröfse II -| =y wird wachsen, sobald man II gröfser nimmt, weil unter

übrigens gleichen Umständen $ einen weit bedeutenderen Werth bekommt, wenn ein gröfseres, als wenn ein kleineres II der Hemmung damals unter- worfen war, als der Rest q von U bestimmt wurde.

Also kurz: Reihen mit wachsenden Gliedern können sehr viel leichter ablaufen, als solche, deren Glieder von gleicher Stärke sind.

Was aber die gleich starken TL anlangt: so haben wir im Vorigen für sie eigentlich noch zu günstig gerechnet. Denn wir liefsen r ab- nehmen, ohne dem gemäfs m und n zu ändern. Wenn aber einerley x Vorstellung P, zwey Reste, r und r', mit TL und IT verschmolzen hat, so mufs die oben erwähnte Gröfse, wornach m und n sich richten,

nämlich IL -f- offenbar abnehmen, während statt r das kleinere r1

gesetzt wird. Also wächst m, das heifst, das Verhältnis wird ungünstiger für die Reproduktion des IT. Ohnehin aber fanden wir schon, TL' könne U nicht übersteigen; und dies gilt nun um so mehr wegen des hier nach- träglich angegebenen Umstandes.

2-j.

„Aber was in aller Welt gehn solche Berechnungen den praktischen Erzieher an? Soll etwan aller Unterricht in steigenden Reihen ertheilt werden? Wie wäre das möglich!"

So höre ich Sie reden, mein theurer Freund! und verhehle mir nicht, dafs der sonst starke Faden Ihrer Geduld doch wohl endlich könne gerissen seyn. Wird es mir etwas helfen, wenn ich Sie auf das vielbe- deutende Wort: Gestaltung, zurückzuschauen bitte?

* Psychologie § 88.

„von einerley" statt ,, einerley" SW.

27. Brief. 423

Haben Sie denn auch wirklich den vorstehenden Aufsatz gelesen? Wo nicht, so lassen Sie ihn noch ein Weilchen liegen. Vielleicht dient er Ihnen künftig. Für jetzt müssen wir den nämlichen Gegenstand an einem andern Puncte angreifen. Dafs Sie die Gleichung

(,i = o \i e

noch in Gedanken haben: daran wenigstens darf ich nicht zweifeln; denn ohne diese giebt es nun einmal für mich keine Psychologie, und soviel mufs ich schon als von Ihnen zugestanden voraussetzen. Wie wäre es, wenn wir einmal auf den Differentialquotienten derselben, nämlich

rt

d ( 0 r 0 Yt

p * *■

dt II

unsre Aufmerksamkeit richteten? Sie wissen schon aus der Psychologie (dort §. 86), was dieser Quotient zu bedeuten hat. Er zeigt nämlich die Geschwindigkeit, oder was hier dasselbe ist, die Energie des augenblick- lichen Hervortretens an; und die Exponentional-Gröfse mit dem negativen, von t abhängenden Exponenten sagt so deutlich als irgend eine Sprache es ausdrücken kann, dafs diese Energie mit der Zeit abnimmt, ohne jemals völlig aufzuhören.

Nun beschäftigt uns aber für jetzt nicht irgend ein einzelnes 10, sondern es müssen deren zum mindesten zwey zugleich in Betracht gezogen werden, damit wir sehen, ob dieselben als Glieder einer Reihe können nach einander ins Bewufstseyn kommen. Zwar das blofse Nach-

einander macht uns schon längst keine Schwierigkeit mehr; darüber sprechen vielmehr unsre Rechnungen klar und offen. Nur schwebt noch in Frage, unter welchen Umständen das zuerst ins Bewufstseyn getretene Glied dem nachkommenden weichen, und Platz räumen möge? Diese Frage aber läfst, wie Sie nun sehen werden, keine einfache Antwort zu. Nothwendig mufs dabey ein Punct ins Auge gefafst werden, der bey Allem, was Be- wegung heifsen kann, das zunächst Entscheidende ausmacht, und das ist die Geschwindigkeit; die wir nun für zwey verschiedene w zu ver- gleichen haben. Zu w und co' denken Sie die zugehörigen r und r', U und J7', Q und tV hinzu. Nun mag die anfängliche Geschwindigkeit des co gröfser, ja immerhin viel gröfser gewesen seyn, als die des co': so kann ich doch fragen, ob es nicht irgend eine Zeit geben werde, worin sie beyde gleich werden? Um dies zu entscheiden, setze ich versuchsweise folgende Gleichung an:

rt r't

woraus folgt

rp " n ry - n

ro r'o' /r r' \

log. nat. Jl- log. nat. -^ = ^[ff- ff)

So schreibe ich fürs erste der Deutlichkeit wegen. Aber der Be- griff des Verhältnisses zwischen r und II, den man, wäre nicht ein Mis-

424 m> Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (183 1\

verständnifs zu befürchten, beynahe als den Begriff des Verhältnisses

zwischen Kraft und Last ansehen möchte, dieser Begriff verdient wohl

ein eignes Zeichen, welches zur Abkürzung dienen kann. Wir wollen

r also schreiben: =g; so haben wir

log gso log gy = t (g— g')

oder _±- (log4 + log^) = t

ff— K' V £ Q'l

Ö Ö x o

Es wird Ihnen nun sogleich einfallen, dafs t nicht negativ seyn könne; denn die Zeit geht immer vorwärts; und wir können sie in der Pädagogik eben so wenig als in der Politik rückwärts schieben. Wenn also die Formel sagt, etwas würde in einer negativen Zeit geschehen, so geschieht es sicher gar nicht.

Setzen wir nun fürs erste q = q\ so bleibt t jedenfalls positiv, wenn gleich g' gröfser wäre als g. Also giebt es dann allemal einen Augen- blick, in welchem die beyden Geschwindigkeiten gleich werden. Um dieses genauer zu erwägen, wollen wir bedenken, dafs im ersten Augen- blick, in welchem t noch = 0 ist, die beyden Vorstellungen mit den Geschwindigkeiten g q und g' q' sich erheben; also g und g', wenn wir beyde q gleich, und = 1 annehmen. Welche von beyden nun auch die geschwindeste sey, ihre Erhebung wird sich verzögern, und zwar so sehr, dafs die andre sie nicht blofs einhohlt, sondern übertrifft; nämlich an Geschwindigkeit, womit freylich noch kein Einhohlen in Ansehung des Standpunctes im Bewufstseyn verbunden ist.

Anders kann sichs ereignen, wenn zwar g' < g, aber zugleich q' so grofs ist, dafs dennoch g' q' > g q; diesen Fall setzen wir für jetzt bey Seite.

Allein wenn auch t positiv ist, so kann sich doch die Zeit des Ein- hohlens an Geschwindigkeit mehr oder weniger in die Länge ziehn. Nehmen wir q = q', so ist unsre Formel

logi=t

g g'

er'

o

wobey wir uns zuerst an die früher gebrauchten Werthe von r und II

10 9 6 5 2 1 erinnern, welchen gemäfs solche Brüche, wie , , , , , , durch

5 5 5 5 5 5 g oder g' ausgedrückt werden. Für diese g und g' wollen wir nun erstlich das erste Paar Brüche, dann das zweyte Paar setzen, dann das dritte. Das giebt, 1. t = 0,5268. 2. t = 0,9116, und 3. t = 3,465. Wenn Sie diese gefundenen Werthe von t rückwärts durchlaufen, so wird Ihnen auffallen, dafs 0,51 ... kaum mehr ist als das Umgekehrte

10 . 100 99 .

von -— . Hätten wir g = und s' = , also noch näher bei-

5 5 5

10 , 9 , . .

sammen, als vorhin - und genommen, was möchte herausgekommen

0 0

seyn? Vermuthlich -? Ta, so ists; nämlich genauer 0,0502517. Sie

100

27. Briet. 425

werden Sich nicht irren, wenn Sie hieraus den Schlufs ziehen, dafs für g

1 n

= g' allemal

und dafs dieses zugleich der kleinste Werth ist, welchen die Formel

er

o

für t annehmen kann; wobey Sie bedenken mögen, dafs Sie eine ganz vollkommene Gleichheit zweyer reproducirten Vorstellungen in Ansehung des Kraftverhältnisses, wodurch dieselben gehoben werden, nicht behaupten können. Der allermindeste Unterschied aber braucht schon einige Zeit, um in völlige Gleichheit der Geschwindigkeiten überzugehn.

Wenn Sie nun fragen, was ich mit dem Allen wolle: so werden Sie wohl veranlafst seyn, einen Blick in meinen vorstehenden mathematischen Aufsatz zu thun; und zwar auf das Täfelchen, worin die Maxima und deren Zeiten angegeben sind. Dort sieht man, dafs die Zeiten für die Maxima später einzutreffen pflegen, als die jetzt eben betrachteten, worin die Geschwindigkeiten gleich werden. Doch wir wollen uns bey diesem wichtigen Puncte nicht übereilen. Nicht blofs um dies zu verhüten, sondern auch um uns überhaupt den Gegenstand geläufiger zu machen, wollen wir einmal die Rechnung etwas anders wenden. Wir können füglich zwischen II und II' einen Verhältnifs - Exponenten annehmen, der- gestalt dafs

n = m . w

wo m eine beliebige positive Zahl seyn wird. Alsdann ergiebt sich aus

dem obigen

log.

r . p , r' . p' / r r' \

v loo-. ^ = t - z=r) sogleich 11 ° II' l/T 77'/ b

r p r r' m

lnrr ^ t

lug ,-,- L

m r' p' m IL'

r r' m 1^1 7T' t

oüei 11 : . l m log r p

m r' o' wo ins Auge fällt, dafs t und 77' mit einander in geradem Verhältnisse wachsen und abnehmen, wenn man die übrigen Gröfsen gleich bleiben läfst. Ist uns also daran gelegen, uns Fälle zu erdenken, in welchen die Zeit, bis zu welcher die Geschwindigkeiten gleich grofs worden, länger sey als früher gefunden, so gelangen wir sehr leicht dazu, sobald wir ein gröfseres 77' als bisher annehmen. Dann wird II noch gröfser, wofern m eine ganze Zahl oder ein unächter Bruch ist.

Jene andre Zeit hingegen, wodurch das Maximum der Vorstellungen im Bewufstseyn bestimmt wird, wächst keinesweges mit dem Werthe, den wir für 77 annehmen.*

* Wenn 77 grofs ist, mufs m klein werden; nämlich dasjenige m, welches in dem Ausdrucke m««dt die Hemmung anzeigt, die auf 77 fällt. Alsdann wird ,m , § 88 4er Psychologie auch f klein, und dagegen grofser, so dafs a. a. O. die *ormel

426 HL Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

Wir dürfen also nicht sicher2 darauf zählen, dafs unter allen Um- ständen die Vorstellungen früher zur Gleichheit der Geschwindigkeit, als zu ihrem Maximum gelangen; sondern wir müssen darauf gefafst seyn, dafs in vielen Fällen, besonders bey grofsem Werthe von II und II', die Maxima früher eintreten, als die Geschwindigkeiten gleich wurden. Dies veranlafst nun endlich folgende Betrachtungen zweyer wesentlich ver- schiedenen Klassen möglicher Fälle.

1. Wenn einerley Widerstand auf zwey in der Reproduction jetzt begriffene Vorstellungen hindernd einwirkt: so erleiden beyde in dem Augenblicke, da ihre Geschwindigkeiten, oder, was hier dasselbe ist, die Energien ihrer Hervortretens gleich sind, auch gleich starken Druck. War aber vor diesem Augenblicke die Geschwindigkeit der einen hervortretenden

r

wegen eines gröfsern die gröfsere: so wird sie von nun an die kleinere.

Das heifst, sie vermag nun dem fortdauernden Drucke weniger Haltung entgegenzusetzen. Dagegen wird der Druck, den sie leidet, vermehrt, in- dem ihn die andre, jetzt mit mehr Energie vordringende, in gröfsere Spannung setzt. So kann es in vielen Fällen geschehen, dafs die beyden Vorstellungen als Glieder einer Reihe einander folgen; indem die zweyte Vorstellung gerade deshalb, weil sie ihrem Zielpuncte sich langsamer genähert hat, jetzt noch Energie genug besitzt, um das gemeinsame Hindernifs wider die erste zu drängen, und solchergestalt dieselbe zum Sinken zu bringen, noch ehe das derselben eigentlich bestimmte Maximum erreicht ist. Gilt nun dieses von der ersten und zweyten Vorstellung, so gilt es ebenso von der zweyten und dritten; dann wiederum von der dritten und vierten, und so fort von einer ganzen Reihe.

Um aber den Grundgedanken, welcher als der Schlüssel des Räthsels vom Ablaufen der Vorstellungsreihen hier dargeboten ist, scharf zu fassen, müssen wir uns erinnern, dafs die Reste r und r', wodurch die in Re- production Begriffenen gehoben werden, einer und der nämlichen Vor- stellung P angehören; und besonders, dafs der Rest r' nicht etwan ein abgeschnittenes Stück von P ist, welches verschieden wäre von einem an- dern Stücke r; (gegen solchen Misverstand ist in der Psychologie genug gewarnt worden.) Vielmehr, die Energie des kleinern r' liegt ganz und gar in dem gröfsern r; und wenn wir sagen, das kleinere dränge von dem Augenblicke an, da die Geschwindigkeiten gleich wurden, den gemeinsamen Widerstand gegen das gröfsere, so liegt die Gemeinsamkeit gerade darin, dafs eigentlich immer die nämliche Vorstellung P die reproducirende ist,

1 s

B mufs gebraucht werden , womit t = ang. tang zusammenhängt. Hier wird

t =l'n« f'-' nicht viel kleiner seyn als = 1, falls nicht etwan' der Hemmungsgrad a sehr klein genommen wurde. Der Winkel einer Tangente, welcher t angiebt, kann nie sehr grofs seyn. Es scheint nicht nöthig, die möglichen Fälle genauer zu sondern, welches weitläuftige Rechnungen erfodern würde.

1 „etwan" iehlt SW. Desgl. das Gleichheitszeichen (=) hinter dem e am An- fang dieser Zeile.

2 „sehr" statt „sicher" SW.

28. Briet. 427

und dafs sie nur die Art und Weise wechselt, gegen den Widerstand vor- zudringen, indem sie von jenem Augenblicke an mehr Energie in die Reproduction des FL1 als das JT hineinlegt. Allerdings aber trifft die Hem- mung durch den Widerstand nicht blofs die Hülfe der Vorstellung P, sondern auch die Vorstellung JT selbst, denn der Widerstand giebt in soweit nicht nach, als statt seiner noch irgend etwas Anderes zum Weichen kann gebracht werden.

2. Das Vorstehende fällt weg, wenn für ein paar Vorstellungen der Augenblick, in welchem sie frey steigend zur Gleichheit der Geschwindig- keiten gelangen würden, so spät kommt, dafs sie wegen des Druckes, unter welchem sie wirklich steigen, schon früher das Maximum erreichen, wel- ches die Gränze bestimmt, die sie nicht übersteigen können. Dann ist an kein Ablaufen einer Reihe mehr zu denken, sondern beyde sinken nun langsam; jedoch so, dafs die erste der beyden immer höher im Be- -wufstseyn steht als die zweyte; eben so die zweyte höher als die dritte, •die dritte höher als jede folgende.

28.

Sehr gern, mein theurer Freund, möchte ich Ihnen nun die päda- gogische Bedeutung der gefundenen Resultate in ein helles Licht setzen; aber ich gehe mit einiger Schüchternheit an den Versuch. Nicht etwan, als ob es mich schwer dünkte, Sie aus den Buchstaben unserer Formeln heraus, und wieder in den Kreis des gewohnten pädagogischen Denkens zu führen: sondern darin hegt die Schwierigkeit, dafs mir jene Formeln als ein Schatz erscheinen, der an Folgerungen unerschöpflich ist; und dafs ich mir nicht zutraue, einen Gegenstand, der mir selbst noch ziemlich neu ist, schon für die Darstellung hinreichend in der Gewalt zu haben. Verlangen Sie deshalb ja keine pünktliche Ordnung! Es mufs mir erlaubt seyn, zuerst das anzufassen, was am handgreiflichsten ist; mit dem Vor- behalt, später zurückzukommen auf Bemerkungen, die eigentlich näher lagen.

Wir gedachten früherhin oft und lange der verschiedenen Anlagen und Eigenheiten, welche dem praktischen Erzieher bald als unüberwind- liche Hindernisse entgegen stehn, bald aber auch ihm Vortheile darbieten, die er benutzen soll. Zu diesen Eigenthümlichkeiten der Zöglinge gehört unstreitig ihre verschiedene Disposition zum äulseren Handeln. Die einen sitzen geduldig, die andern können nicht ruhen; manche können keinen Gegenstand erblicken, den sie nicht stofsen, drehen, irgendwie in Be- wegung setzen müfsten. Einige sind maulfaul, andere gesprächig; einige unbehültiich, andre behende, gelehrig, geschickt. Diese Fähigkeit zum äufsern Handeln ist nicht etwan einfach, so dafs man kurz und gut sagen könnte sie sey in einem gewissen Grade vorhanden oder nicht: sondern aar sehr vielfach und verschieden, so dafs eine Art derselben vorhanden seyn kann, wo die andre fehlt. Dafs nun dieses äufsere Geschick einen sehr grofsen Einflufs auf die Bildsamkeit der Zöglmge hat, weiis Jeder- mann Sollten wir aber nicht genauer ausforschen können, welche Be- wandnifs es damit eigentlich habe? .

Gleich zuerst fällt Ihnen gewifs ein, dafs doch das Geschick kein blofs und lediglich äufseres seyn könne. Vielmehr werden Hände, Füfse,

428 HI- Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

Sprachorgane, alle bewegliche Theile des Leibes doch erst durch den Geist in eine solche Bewegung gesetzt, die man, wenn auch nur in der allerniedrigsten Bedeutung, als zweckmäfsig und geschickt zu irgend Etwas soll ansehn können. Wo aber Einer ungeschickt ist, da klagt er ge- wöhnlich : ich weifs nicht, wie ich das anfangen soll. Und was antwortet etwa der Erzieher? Den Anfang will ich dir zeigen, oder für dich machen; versuche nun, fortzufahren!

Und Sie, mein Freund! sehen nun wenigstens, wie dies mit dem obigen zusammenhängt. Wer nicht anzufangen oder nicht fortzufahren weifs, in dessen Wissen liegt ein Fehler, und zwar ein Fehler oder wenigstens ein Mangel in Ansehung der Reihenbildung. Und wenn der Schüchterne vor Blödigkeit nicht fort kann, so mislingt ihm für dasmal die Reproduction einer schon gebildeten Reihe.

Mir aber liegt für jetzt nicht daran, dasjenige, was zuvor über die Reihenbildung gesagt worden, auf das äufsere Handeln anzuwenden; sondern von dem äufsern Handeln rede ich deshalb, weil es etwas Sicht- bares, in die Augen Fallendes ist ; so dafs, wenn ich vielleicht dieses- hinreichend Sichtbare an den wohl noch ziemlich unsichtbaren Sinn meiner obigen Formeln anknüpfen könnte, ich einen guten Handgriff gewönne, um hervorzuziehen was sich noch im Dunkel versteckt hält.

Zu diesem Zwecke müssen wir jedoch zuerst überlegen, welchen Ein- flufs wohl das äufsere Handeln auf die Vorstellungs-Reihe ausüben möge, durch die es in Bewegung gesetzt wird? Dafs ganz gewöhnlich eine starke Veränderung in unserem Vorstellen bewirkt wird, sobald wir ver- suchen zu thun, was wir uns ausgesonnen hatten; dafs wir sehr häufig das Bekenntnifs ablegen, Erfahrungen gemacht zu haben, weil die Dinge nicht so gingen, wie wir meinten, sondern ganz anders, davon will ich hier nicht sprechen; vielmehr mag immerhin das äufsere Handeln ein geläufiges und gelingendes seyn; ich fiage nur, welchen Einflufs es auf die Vorstellungsreihe in ihrem Ablaufen ausübe, auch da, wo es sie nicht berichtigt?

Die nächste Antwort ist ohne Zweifel: es ändert ihren Rhythmus; und setzt ihre Glieder weiter aus einander. Denn das Handeln geht in der Regel nicht so geschwind, als das Denken.

Allein auch das will ich bey Seite setzen; denn es ist noch immer nicht das erste Wesentliche, was in den psychischen Mechanismus ein- greift. Sondern darauf kommt es zuerst an: dafs durchs Handeln etwas geschieht, was eine neue Anschauung darbietet. Diese Anschauung ist eben jetzt, indem sie entsteht, den Gesetzen des psychischen Mechanismus, unterworfen. Die Vorstellung, welche sich im Anschauen erzeugt, ver- schmilzt nicht blofs sogleich mit der schon gegenwärtigen, das Handeln regierenden, gleichartigen Vorstellung: sondern sie wird auch von der Hemmung durch die andern, welche im Bewulstseyn sind, vergriffen, und mufs sogleich sehr beträchtlich sinken; wie es in der Psychologie (§. 77) ist beschrieben worden,.

Oftmals freylich stockt nun das Handeln, und verwandelt sich in ein Betrachten, verliert sich in den Eindruck dessen, was soeben war ge- schaffen worden. Dann ist die Vorstellungsreihe noch wenig energisch

28. Brief. 429

im Vergleich gegen den Sinnes-Eindruck ; oder für ihn ist noch eine grofse Empfänglichkeit vorhanden (Psychologie § 94 99).

Aber bey weiterer Ausbildung verwandelt sich das Gethane ins Ab- gethane, was uns nun nicht mehr in Thätigkeit setzen kann, sondern neben welchem die Vorstellung dessen hervordringt, was jetzt zunächst zu thun ist.

Nehmen wir, um die Sache bequemer zu betrachten, das einfachste oder doch für den Erzieher gewöhnlichste Beyspiel. Der Zögling spricht. Welches Wort er ausspricht, das hört er. Das Wort ist nun heraus; darum mufs ein anderes folgen.

Hier sehen Sie ein Handeln, was so leicht gelingt, dafs gar nicht erst die Vorstellung des Gegenstandes, welcher durch das Wort bezeichnet wird, zu ihrem Maximum vorzudringen braucht, damit das Aussprechen erfolge ; vielmehr die mindeste Regung des Gedankens falls nur nicht ein Grund der Zurückhaltung im Spiele ist, genügt schon, um den Mund in volle Thätigkeit zu setzen.

Wie aber, wenn die Vorstellungen, welche das Wort verlangen, schneller hervordringen, als der Mund sprechen kann ? Dann kann uns der Zögling nicht antworten; er verstummt nicht aus Unwissenheit, sondern aus Fülle der Gedanken.

Dies mahnt uns an den Gegensatz und die Hemmung, welche statt findet unter den Worten, sofern sie theils gesprochen, theils gehört werden. Das erste Wort wird zurückgestofsen vom zweyten, das zweyte vom dritten, und so weiter. Mit den Worten aber sind die Vorstellungen ver- knüpft; auch diese also empfinden den Stofs, und müfsen in der näm- lichen Ordnung einander wo nicht ganz, so doch hinreichend weichen, damit die Reihe ablaufen könne; deren Glieder nun alle in ungefähr gleicher Höhe erscheinen, weil sie bis zum Aussprechen gelangt waren. Dafs etwas Aehnliches bey jedem andern Handeln vorkomme, versteht sich von selbst.

Aber ich bitte zu bemerken, dafs die Glieder nur in gleicher Höhe erscheinen! Daraus folgt noch nicht, dafs in den Gedanken eines Menschen eben so wenig Berg und Thal sey, als in seinem Reden und Thun; und wir wissen sehr gut das Gegentheil. Denn Sie und ich, die wir beyde gewohnt sind, in stundenlangen Vorträgen unsere Gedanken zu verlaut- baren: wie übel wären wir dran, wenn der dünne Faden der Worte, den wir aus dem Munde gehen lassen, ein Bild von der Construction unserer Gedanken abgäbe !

Der praktische Erzieher soll nun niemals vergessen, dafs auch in dem Kopfe seines Zöglings ein ganz anderes Gebäude oder Gewebe von Vorstellungen ist und seyn soll, als das, welches in der Reihenfolge der Worte liegt, die man etwan abfragen kann. Doch aber mufs jeder kleinste Theil dieses Gewebes dadurch theils geschaffen, theils geprüft und be- richtigt werden, dafs man es lehrend, oder fragend und antwortend in Form einer Reihe hervorzieht, und an diese Reihe die nöthigen Be- richtigungen anbringt. Während also das Ablaufen der Reihen bey weitem nicht das Wichtigste, noch viel weniger das Ganze ist, was wir unter dem allgemeinen Namen der Reihenbildung in Betracht zu ziehen haben; mufs uns doch an der Möglichkeit dieses Ablaufens viel gelegen seyn, weil es

a?0 HI. Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (183 1).

die allgemeine Bedingung des Lehrens, wie des Lernens, des Ermahnens, wie des Handelns ausmacht. Und besonders wird Ihnen auffallen, wie genau hiemit die Wichtigkeit der Sprachbildung, ja der articulirten Sprache selbst, zusammenhängt.

Zu dem Ganzen der Reihenbildung gehört eben sowohl das Hinzu- kommen einer Vorstellung zur andern, wovon ich in der mathematischen Beylage (zu 26) sprach, als das Zuriicktreten der frühern Glieder, um den folgenden Platz zu machen. Hingegen das Ablaufen der Reihen ist nicht möglich ohne dieses Zurücktreten. Nun war aber von dem Zurücktreten in der Psychologie nicht hinreichende Rechenschaft gegeben; und es zeigt sich jetzt, dafs sich der Gegenstand auch nicht mit wenigen Worten auf- klären liefs. Denn oftmals ist das Ablaufen der Reihen kein reines psychisches Phänomen. Wir sahen eben, wie die Worte einander zurück- stofsen, während die Gedanken vielleicht nur einer zum andern hinzu- gekommen wären1. Sie mögen Sich hiebey noch der grofsen Erleichterung erinnern, welche dem Rechnen durchs Schreiben zu Theil wird; und des Umstandes, dafs selbst das Kopfrechnen gröfstentheils auf einer Uebung beruhet, sich die Zahlen, als ob sie geschrieben stünden, vorzu- stellen. Liefse man statt der successiven Arbeit im Rechnen die Ge- danken blofs zu einander hinzukommen, so würden sie sich sehr bald einander erdrücken, und vermöge ihrer inwohnenden Hemmungssumme so gut als ganz aus dem Bewufstseyn verschwinden, r

Allein das Schon-Gesagte wird Sie noch auf eine andre Bemerkung führen, die ich dem folgenden Briefe vorbehalte.

29.

Es ist der Gegensatz der Vorstellungen unter einander, die eine Reihe bilden, also der verschiedenen TT, worauf wir nun unsre Aufmerk- samkeit zu richten haben. Denn es giebt einen kurzen Zeitraum, inner- halb dessen vermöge dieses Gegensatzes die vorhergehenden von den nach- kommenden können zurückgetrieben werden. Lassen Sie mich aber noch einen Rückblick auf das Vorige werfen.

Jede Vorstellung ist am nachgiebigsten dann, wenn sie ihr Maximum erreicht hat. Denn alsdann ist sie am wenigsten im Zustande des Strebens, welcher Zustand das gerade Gegentheil des wirklichen Vor- stehern ausmacht. Schafft sich nun eine Vorstellung 11 durch äufseres Handeln, durch Sprechen, o. dgl. eine ihr entsprechende Anschauung, so wird sie dadurch schnell zum Maximum, ja vielleicht über das im Vorigen berechnete, durch Gegendruck bestimmte, Maximum gehoben. Desto gewisser mufs sie sinken, sobald die nachfolgende Vorstellung sich durch ihr Wirken eine ihr angemessene Anschauung geschafft hat, die jener ersten entgegentritt. Dies aber fällt weg, wofern das äufsere Handeln fehlt; und es kommt nun darauf an, ob noch in hinreichendem Grade die Bedingungen vorhanden sind, unter denen der blofse Gegensatz, der in den Vorstellungen selbst liegt, das Ablaufen der Reihe bewirken kann. Denn dafs von ihm, falls er stark genug ist, eine ähnliche Wirkung zu er-

,, waren" statt „wären" SW.

29. Brief. 43 i

warten steht, wie von dem Gegensatze unter jenen äufsern Anschauungen, liegt vor Augen; während doch andererseits nicht Alles von ihm allein abhängt, daher ich im Vorigen davon geschwiegen habe.

Um über diesen Gegenstand mich deutlich zu machen, halte ich für nöthig folgende Ueberlegung, die sich mit Zahlen beyspielsweise belegen läfst, hier einzuführen.

In der mathematischen Beylage (zu 26) finden sich zu den dortigen co die Maxima und deren Zeiten berechnet. Es versteht sich von selbst, dafs in dem Augenblicke, wo eine Vorstellung ihr Maximum erreicht, ihre Geschwindigkeit =■ o ist; denn sonst stiege sie noch höher. Gesetzt aber, wir wollten1 für den Augenblick, da die eine ihr Maximum hat, die Geschwindigkeit der andern wissen, die jetzt noch im Steigen begriffen ist, wie würden wir verfahren? Ohne Zweifel würden wir den Differential- quotienten für diese andre suchen, und in denselben für t diejenige Zeit setzen, welche uns als gehörig zu dem Maximum der ersten bekannt ist. So will ich nun einmal mit den dortigen Gleichungen 2.) und 8.) verfahren; indem ich in deren Differentialquotienten die Zeit fürs Maximum aus 1. und 7.) setze. Im ersten Falle finde ich, dafs

d (o

für 2.) um die Zeit t = 2,2768 sich ergiebt = 0,0034

xmd im zweyten Falle

d co für 8.) um die Zeit t = 1,9126 sich ergiebt = 0,0392

Die beyden angegebenen Zeiten sind aus der angeführten Beylage bekannt, als diejenigen, worin r = 10 unter den dortigen Umständen

d (o Tl = 5 zum Maximum erhebt. Die gefundenen Geschwindigkeiten

sind für die Wirkung von r = 9 zu jenen Zeitpuncten noch vorhanden. Aus dem vorigen Briefe aber wissen Sie, dals für t = 0,5168 die beyden, von r = 10 und r = 9 erzeugten Geschwindigkeiten gleich waren; und auf diese Zeit kann der Druck, der erst allmählig durch das Hervortreten der Vorstellungen selbst sich erzeugt, nur wenig Einflufs haben. Also von t = 0,5 bis t = 2 ungefähr hatte die zweyte Vorstellung, die durch r = 9 gehoben wurde, fortdauernd einigen, wenn auch nur geringen Vorzug an Geschwindigkeit vor der erstem, die ihr Anfangs voran geeilt war. Wie nun, wenn gemäls der frühern Entwicklung die gröfsere Energie, welche sich in der gröfsern Geschwindigkeit zeigt, den gemeinschaftlichen Druck auf die erstere Vorstellung hindrängt? Alsdann mufs das Maximum der erstem früher eintreten, und auf einem niedrigem Standpuncte, als dem zuvor berechneten; dagegen wird die zweyte Vorstellung sich höher hervorarbeiten, indem sie den Druck besser überwindet.

Hiemit nun kann sich noch der Gegensatz der zweyten Vorstellung gegen die erstere vereinigen; nur ist zu bedenken, dafs von diesem Gegensatze nothwendig beyde Vorstellungen leiden; und das um so mehr, je stärker

derselbe ist.

Wie lange aber kann der Vorzug der zweyten Vorstellung vor der

1 „wollen" SW.

AX2 HI- Briete über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

erstem, wodurch sie als zweytes Glied der Reihe neben oder nach jener sich gelten macht, wohl dauern? Höchstens doch nur bis zu dem Augen- blicke, wo sie selbst ihr Maximum hat, und nun anfängt zu sinken. Denn alsdann findet sich gewifs, dafs sie im Grunde von der schwächeren Energie emporgetragen wurde; und die Ordnung in der Reihe hört auf, während beyde zusammen sinken.

Dies letztere nun ist der Umstand, auf den ich vorzugsweise den praktischen Erzieher aufmerksam machen würde, der es nur zu leicht ver- gifst, wie bald die Fluth, mit der er schiffen will, sich in Ebbe verwandeln wird.

Sie wissen, mein theurer Freund, dafs mir meine Amtsverhältnisse Gelegenheit verschafft haben, die Lehrweise mancher, besonders junger Lehrer, zu beobachten. Von den Fehlern, welche im zusammenhängenden Vortrage begangen zu werden pflegen, will ich hier nicht sprechen; nur deren will ich hier gedenken, die sich äufsern, während es darauf an- kommt, den Lehrling in den rechten Zug der Arbeit zu bringen, ihn darin zu erhalten und zu unterstützen; so wie es etwa beym Uebersetzen, oder beym Rechnen vorkommt. Hier ists, wo ich oft bemerkt habe, wie wenig die Lehrer von dem psychischen Mechanismus zu begreifen pflegen, an dessen Thätigkeit ihnen am allermeisten sollte gelegen seyn. Denn wäh- rend sie demselben nachhelfen sollten, pflegen sie ihn bald mit Wieder- hohlen, bald mit Corrigiren ohne dringende Noth, oftmals mit Querfragen, oft durch Aeufserungen übler Laune zu stören; zu anderer Zeit aber sorgen sie gar nicht einmal ihn in den rechten Gang zu versetzen, son- dern lassen den Zögling sich unnütz quälen mit Dingen die er nun ein- mal nicht weifs und nicht trifft. Das Alles zeigt, dafs sie von dem Rhyth- mus, in welchem eine Vorstellungsreihe sich entwickeln kann, und der so sorgfältig als möglich mufs geschont werden, keinen Begriff haben. Daher dann so häufig eine Gewohnheit zu stocken, zu stottern, sich und Andre zu martern, die oft nicht blofs ganze Schulklassen, sondern ganze Schulen von der untersten bis zur obersten ergriffen hat, und dergestalt beherrscht, dafs an ein geschmackvolles Lesen und Erklären, an ein gehöriges Zu- sammenfassen des ganzen Sinnes nun vollends nicht zu denken ist. Wäre nur erst irgend ein Begriff davon vorhanden, dafs es überhaupt einen psychischen Mechanismus giebt, der seine eigentümliche Geschwindigkeit, seinen bestimmten Rhythmus hat, worin allein er sich geläufig bewegen kann,1 und dafs die verlorne und verdorbene Zeit der ungelegenen Störungen und der unterlassenen Nachhülfen sich nicht ersetzen läfst; weil, nachdem einmal die Vorstellungen ins gemeinsame Sinken gerathen sind , die Reproduction wenigstens für dasmal schwerlich noch wieder in den rechten Flufs kann gebracht werden; wäre nur erst die Beobach- tung dessen, was hierüber die Erfahrung einem Jeden sagen kann, der auf sie hören will, zur gehörigen Achtsamkeit gestimmt: so würde manches Ungeschick der Lehrer und Schüler von selbst verschwinden, womit sie jetzt einander gegenseitig plagen; und mancher Lehrgegenstand, den man jetzt für zu schwer hält, würde sich leicht genug behandeln lassen, um seine Wirkung früh genug zu thun. Jedoch unsre Absicht war noch nicht,.

1 worin er allein sich bewegen kann SW.

3°- Briet- 433

praktische Regeln vestzustellen; sondern die Bildsamkeit der Zöglinge, und zwar zunächst in Beziehung auf die natürlichen Anlagen, wollten wir unter- suchen. Lassen Sie uns dahin zurückkehren.

30.

Zuerst gingen wir aus von der Annahme einer völligen Steifheit dessen, was der sich erhebenden Reproduction einer Reihe entgegenwirkt. Eine solche Steifheit kann von den im Bewufstseyn gerade gegenwärtigen Vor- stellungen, für sich allein genommen, nicht herrühren; sie sind allemal in gewissem Grade nachgiebig; und der von ihnen herrührende Widerstand geräth erst allmählig in Spannung gegen das, was sich im Bewufstseyn re- producirt. Aber wenn ein Hindernifs nach physiologischer Art hinzu- kommt: alsdann läfst sich wohl denken, dafs auch die darein gleichsam verwickelten, eben jetzt gegenwärtigen Vorstellungen, nicht zum Weichen zu bringen sind; wovon die Beyspiele des Lüsternen, des Schwelgers, des zu Affecten Gereizten sich leicht genug darbieten. Was nun daraus in Ansehung der Reproduction folgen werde, haben wir gesehen. Nämlich in der mathematischen Beylage zeigte sich zuerst, dafs die reproducirten Vorstellungen sich alsdann einer niedrig stehenden Gränze nähern, und dafs sie, was hier hauptsächlich bemerkt werden mufs, an dieser Gränze zu einander hinzukommen , keinesweges aber eine vor der andern reihen- förmig weichen. Eher würde die ganze Masse, worin sich nun die Reihe verwandelt hätte, saramt der sie reproducirenden Vorstellung, die wir mit P bezeichneten, wieder aus dem Bewufstseyn vertrieben werden.

Bey natürlich stumpfen Köpfen nun sehen wir etwas Aehnliches ge- schehen, so oft wir sie mit Dingen beschäftigen wollen, deren Vorstellungen bey ihnen noch zu schwach sind, um sich selbstständig im Bewufstseyn zu halten. Bev allem Lernen oder auch Beobachten dessen, wohin nicht gerade ihr Sinn steht, bey allem, was sich an früher vestgestellten An- knüpfungspuncten (an solchen P, wie wir oben voraussetzten) halten, und mit ihnen wieder hervortreten müfste, um überhaupt hervortreten zu können: sehen wir die Reproduction sehr häufig mislingen; wovon als Beyspiel schon die Worte einer fremden Sprache dienen können, die schwer ge- lernt wird. Denn was sind diese Worte? Es sind Reihen von Buchstaben oder Sprachlauten, geknüpft an ein Wort der Muttersprache. Diese Reihen müssen leicht, und genau in der Ordnung der Buchstaben reproducirt werden, wenn es darauf ankommt, die Sprache zu lernen. Beyspiele von höherer Art würden sich eben so mannigfaltig als reichlich darbieten; ich will dabey nicht verweilen.

Wie' aber, wenn das Lernen der Muttersprache selbst mislingt? wel- ches aus ähnlichen Ursachen leicht geschehen kann, denn hier sollen sich diejenigen Reihen, welche an Begriffe und Anschauungen geknüpft, die Worte der Muttersprache bilden, sicher und genau durch den Gedanken reproduciren. Alsdann fehlt selbst das gewöhnlichste Hülfsmittel aus dem Gebiete des äufsern Handelns, von dem wir oben (28) sahen, wie wich- tige Dienste zur Evolution der Reihen es leistet.

- Kein Wunder also, dafs die Erzieher zuerst nach der Sprachbikiui

Herbaki's Weike. IX.

a-ia III. Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

die ein Knabe schon gewonnen hat, sowohl die natürliche Fähigkeit, als auch die fernere Bildsamkeit zu beurtheilen pflegen.

Unstreitig aber mufs bey dieser Schätzung der natürlichen Fähigkeit auch das übrige äufsere Handeln, sowohl nach seinen Richtungen als nach dem darin hervortretenden Geschick, in Anschlag kommen.

Ferner werden Sie bemerken, dafs unsre Betrachtung der Bildsamkeit der Zöglinge hier ganz von selbst Gelegenheit findet, von den angebornen Anlagen überzugehen zu dem, was von der Benutzung der frühern Jahre abhängt. Denn nicht alle Reihen sind so construirt, dafs sie sich mit gleicher Leichtigkeit reproduciren könnten. *

Unsre Formeln machen uns gar sehr aufmerksam auf das Verhältnifs zwischen den Gröfsen r und II. Was heifst das? Zu einer vorläufigen Erläuterung könnte2 ich sagen: es deutet auf die Wichtigkeit der An- knüpfung alles Unterrichts an Erfahrung und Umgang; wiewohl damit der Gegenstand keinesweges erschöpft ist.

Wollen Sie diese Erläuterung durch einen, Ihnen gewifs durch eigne Praxis höchst geläufigen, pädagogischen Hauptsatz, Sich aneignen: so ver- setzen Sie vor allen Dingen erst die oft erwähnte reproducirende Vor- stellung P (25, 26,) in den Erfahrungskreis des Zöglings. Wir wollen hoffen, dafs Sie dort nicht etwan blofs ein solches P, sondern deren recht viele und tüchtige finden; sonst können wir nichts mit ihm anfangen. Alle diejenigen Hauptvorstellungen des Zöglings gehören dahin, welche mit langen Reihen anderer schwächerer Vorstellungen verschmolzen sind; alle, die als Haltungs- und Angelpuncte seiner übrigen Gedanken können angesehen werden; alle die, welche ihm das Heimweh vergegenwärtigt, falls er lange Zeit von Hause abwesend ist. Die obigen r, r', r", u. s. w. sind Theile oder Reste jener P; je gröfser, desto besser; denn bekanntlich sind sie in den Reproductionen die wirksamen Kräfte. Nun aber lehren die Formeln und die Untersuchungen, dafs die daran geknüpften II, TI', FL", u. s. w. nicht gar zu grofs gegen die r seyn dürfen; und vollends, dafs für abnehmende r die Reihe der TT nicht gleichfalls abnehmen, son- dern eher wachsen mufs, wenn die Reproduktion gelingen soll. (Beylage zu 26, am Ende.) Worauf bezieht sich das? Ohne Zweifel auf jeden Unter- richt, welchen man jenen Erfahrungen, als der nothwendigen Grundlage, hinzufügte. Dahin gehört z. B. dafs Unterricht in fremden Sprachen vor allem Vestigkeit in der Muttersprache voraussetzt, wenn nicht eine so heillose Confusion entstehn soll, wie man sie bey Kindern, die Plattdeutsch und Hochdeutsch, oder Französisch und Deutsch durcheinander plauderten, ehe sie noch eine eigentliche Muttersprache besafsen, wohl findet, oder wie ich sie einst bei einem jungen Engländer antraf, der früh in eine deutsche Pension gethan, dort das allerschlechteste Deutsch gelernt, dar- über sein Englisch grofsentheils vergessen hatte, und nun eigentlich in gar keiner Sprache konnte unterrichtet werden, bis ihm durch eine besondere Fürsorge sein Englisch einigermaafsen wieder zurecht gestellt war.

Allein unsre Betrachtung reicht weiter. Sie sagt uns, dafs über-

1 ,, können" SW.

2 „konnte" statt „könnte" SW.

3°- Brief- 435

haupt und überall, wo es um Erweiterung des Gedankenkreises, ums Lernen im weitesten Sinne, zu thun ist, erst gewisse starke Stützpuncte müssen vestgestellt, und alsdann die anzuknüpfenden Kenntnisse in mög- lichster Zerlegung, aber zugleich in möglichst dichter Folge beygefügt werden; ohne jedoch lange Reihen zu bilden. Warum das? Erstlich sollen die II nicht gröfser seyn als nöthig, also sollen es nicht grofse Massen, sondern durch die Zerlegung verkleinerte Theile der an sich zu- sammenhängenden Ganzen seyn. Zweytens sollen dieselben mit möglichst grofsen Resten der Hauptvorstellungen P verbunden werden; welches nicht gelingen könnte, wenn diese, eben jetzt hervorgerufenen Haupt- vorstellungen in bedeutend langen Pausen Zeit zum Sinken gewönnen; daher mufs die Reihe der1 II eine dichte Folge bilden, um mit möglichst grofsen r, r', r", u. s. w. sich zu verbinden. Drittens sollen die Reihen nicht lang seyn; aus demselben Grunde; weil nämlich je länger sie werden, um desto mehr die Hauptvorstellung P wird gesunken seyn, jedoch ist dies lediglich relativ; denn falls die Hauptvorstellung im Be- wufstseyn vestgehalten wird, so, dafs sie nur sehr allmählig sinkt, alsdann wird sie einer weit längern Reihe zur hinreichenden Stütze dienen können als im Gegenfalle. Ueberdies versteht sich, dafs die Hemmungsgrade der einzelnen Glieder nicht so grofs seyn dürfen, um das aufzuführende Gebäude zum Einsturz zu bringen; doch ist, falls nur die Reihe sich zu- sammenhängend bilden konnte, die Reproduction derselben zum Ablaufen der Reihe gerade durch Hemmung der einzelnen Glieder unter einander desto geschickter; daher die letztere eher gesucht als vermieden, jedoch nicht übertrieben werden mufs.

Sollten Sie wohl in diesen Zügen etwas von Homers, oder von Herodots Erzählungsweise, wieder erkennen? Doch die Erinnerung an die klassische Art des Vortrags kommt wahrscheinlich noch zu früh; denn es fehlt an der bisherigen Untersuchung noch zu vielerley, um darüber schon psychologische Rechenschaft zu geben.

Aber an Gegenstücken fehlt es gewifs nicht. Solche entstehen überall da, wo der frühere Unterricht Fehler aufgehäuft hat. Wie oft unge- schickte Lehrer die Anknüpfung an das Veste im Erfahrungskreise des Zöo-lings versäumen, oder ohne gehörige Zerlegung ganze Massen des Unbekannten auf einmal einpfropfen; öder ihren eignen Vortrag nicht in zusammenhängenden Flufs bringen können, wie oft sie selbst für ihr eignes Lehren nicht einmal darauf bedacht sind, gewisse Hauptpuncte ge- hörig vestzustellen, an welche sich das Folgende lehnen, und anreihen könne: ebenso oft finden wir als Product solches Verfahrens auch die Unfähigkeit zu reproduciren selbst bey guten Köpfen. Die Kenntnisse sind chaotisch in einander geflossen, und wir klagen, indem wir nun weiter fortschreiten wollen, über Mangel an gründlicher Vorbildung.

Hiebey aber kommt nun noch ganz besonders in Frage, wiefern das äufsere Handeln des Zöglings, und sein Geschick dazu, sey benutzt worden. Also zu allernächst: in wiefern man ihn angehalten habe, selbst während der Lehrstunde zu sprechen? Denn dafs ein Unterricht, der den Lehr-

i „der" fehlt SW.

28*

436 HI. Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (183 1).

ling stumm macht, wie ein Katheder- Vortrag thut, für die frühere Jugend nichts taugt, ist allbekannt. Allein überhaupt mufste die äufsere Thätigkeit des Zöglings nach Möglichkeit benutzt werden, er selbst mufste zeigen, aufschlagen, nachweisen, zusammensetzen, was irgend sich so behandeln liefs, so lange man sich auf seine innere Geistesthätigkeit nicht ganz verlassen konnte.

3.1-

Wohl Mancher möchte, beym Anblick so bekannter Dinge, tragen: ist das Alles? Sollen uns die psychologischen Rechnungen nicht weiter führen, als bis zu Wiederhohlungen dessen, was jeder geübte praktische Erzieher schon weifs?

Möge er es wissen, und darnach thun! Aber Sie, mein th eurer Freund, während Sie mich entschuldigen werden, dafs ich in bekannten pädagogischen Vorschriften die Probe der Wahrheit meiner psychologischen Untersuchung nachweise: haben vielleicht eine gewichtvollere Bedenk- lichkeit im Sinne. Ist denn die vorstehende Zeichnung richtig? Hängt alle Reproduction an einer einzigen Hauptvorstellung? Und ist diese Hauptvorstellung immer als erstes Glied einer Reihe anzusehen? Wo bleibt da die früher erwähnte Gestaltung? Geht etwan alle wirkliche Ge- staltung von einem einzigen Puncte aus; gleich den nunmehr veraltenden Philosophieen nach FiCHTEscher Weise?

Angenommen, dafs Sie geneigt wären, so zu fragen: so würde meine nächste Zuflucht in der Erinnerung, dafs ich nichts Vollständiges ver- sprochen habe, leicht genug gefunden werden.

Da wir jedoch Beyde gleich gern die Einseitigkeit vermeiden, und da die bisherige Betrachtungsart der Reihenbildung wirklich zu Übeln Einseitigkeiten führen könnte: so machen Sie Sich nun darauf gefafst, etwas Anderes zwar, aber gerade auch etwas recht sehr Unvollständiges hier folgen zu sehen.

Jene Untersuchung über die zugleich steigenden Vorstellungen (in der Beylage zu 22), veranlafst die Frage, ob, falls unter frey steigenden Vorstellungen Verschmelzung statt fände, dadurch eine Ordnung und Folge des Steigens gemäfs den Abstufungen der Verschmelzung entstehen könne? Dieses würde das Seitenstück darbieten zu der früheren Auffassung des Gegenstandes, nach welcher die hervor gehobenen Vorstellungen nicht frey steigen, sondern, während ihre eigne Energie durch Hemmung am Her- vortreten gehindert ist, ihre ganze Bewegung von den Resten einer sie reproducirenden Vorstellung abhängt. Uns alten Praktikern im Lehr- geschäffte schwebt zwar zunächst die grofse Menge der Gegenstände vor, wo- mit die Lehrlinge sich nur gerade so lange und in so fern beschäfftigen, als sie lernen; und dabey ist noch an kein freyes Steigen ihrer Vorstellungen, mithin auch an kein selbstständiges Bilden und Gestalten zu denken. Allein unsre Lehrlinge mögen nun wohl oder übel gedeihen, so erzeugt sich doch endlich auch in ihnen ein Kreis solcher Gedanken, in welchem sie nach eignem Sinnen, Meinen, Wollen thätig sind; und von wo aus auch ihr äufseres Thun seine Bestimmung empfängt. Auch der Ge- lchrteste hat den gröfsten Theil seines Wissens in Büchern, oder was er,

31. Briel. (.37

wie man sagt, im Gedächtnisse mit sich trägt, davon steigen ihm die Er- innerungen nur auf gegebenen Anlafs hervor, jedoch nicht Alles kann solchergestalt ein passiver Vorrath in ihm seyn ; sonst wäre kein Lebens- princip vorhanden, von welchem der Gebrauch dieses Vorraths abhängt und seine Richtung empfängt. In dem verhältnilsmäfsig nur kleinen Kreise nun, worin die Selbstthätigkeit ihren Sitz hat, wollen wir jetzt nach- sehen, ob es auch dort eine Reihenbildung geben möge. Sie finden hier zu solchem Zwecke wieder einen mathematischen Aufsatz.

Beylage.

Ueber freyes Steigen verschmolzener Vorstellungen. Obgleich Reihenbildung das Gegentheil ist vom Zugleich-Steigen, so mufs doch die obige Untersuchung über die zugleich steigenden Vor- stellungen hier zum Grunde gelegt werden. Es ist nöthig, hiebey die Rücksicht auf den Hemmungsgrad* nicht ganz auszuschliefsen; um jedoch schwierige Verwickelungen zu vermeiden, soll angenommen werden, der Hemmungsgrad sey unter allen Paaren der zugleich Steigenden der näm- liche; und = m, welches bekanntlich ein ächter Bruch, oder höchstens = 1 ist. Alsdann verwandeln sich die obigen Differentialformeln in folgende:

= (a « n' m -\- >]) dt

d ß = (b ß n" m + )']) dt

dy = (c y n •" m -f- y]) dt weil nun nicht die ganze vorige Hemmungssumme, sondern nur derjenige Theil von ihr, welcher durch den Bruch m angezeigt wird, den auf die verschiedenen Vorstellungen zu vertheilenden Druck hervorbringt. Oder mit andern Worten: die jetzige Hemmungssumme ist gleich der vorigen multiplicirt mit m.

Da es hier blofs 1 darauf ankommt, eine Untersuchung zugängli h zu machen, so mögen der gröfsern Erleichterung wegen a = b == c, sämmtlich = 1 gesetzt werden; daher auch u, ß, y einander gleich seyn müfsten, wenn keine Verschmelzung einen Unterschied hervorbrächte. Unter dieser Voraussetzung wäre dann die Formel

/»+r=--:^-c-('~e-k')

bc -{- 2ac -f- 2ab

für k = : ; {—

bc-f- ac + ab

zu verändern in

3-|- 2 m

«=/?=y=

. t

1 e

3 -f- 2m , Offenbar läfst sich dies sehr leicht auf mehrere Vorstellungen

weitern. Bey vieren käme

_ 4 -f 3 m

« = /? = y = <? =

4 + 3m

* Psychologie § 52.

1 „blofs" fehlt SW.

4^8 HI- Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik ("1831).

Bey fünfen

5 + 4

+ 4m

-

- 3 -

Es ist nämlich k erst = 1 ^ m, dann 1 -j m, femer 1 -| m,

3 4 - u. s. w.

Allein die einfachste aller Voraussetzungen ist die von zwev Vor-

Stellungen ; wo k = r -j m, und

2 -f- m

« = 3

2 -f- m

An diese Voraussetzung müssen wir hier anknüpfen; indem wir sie auf folgende Weise abändern:

Es sollen a und b nicht gleichmäfsig, sondern dergestalt steigen, dafs dabey ihre Verschmelzung in Betracht komme. Auch diese Ver- schmelzung soll dergestalt ungleich seyn, dafs von a nur ein Theil = a' mit b verschmolzen ist. Man mag annehmen, es sey a im Sinken be- griffen gewesen, als b zuerst gegeben wurde; dann konnte das von a noch übrige a' mit b verschmelzen, soweit es die gegenseitige Hemmung des a und b erlaubte. Die bekannte Hemmungsrechnung* erforderte dann statt der Hemmungs - Summe mb eine kleinere, nämlich ma', und zwar deshalb weil nur der Theil a' in Hemmung trat gegen b. Daraus mufste folgende

Hemmungsrechnung entstehen:

**

(a + b) :

b

= ma'

fma'b

a-{-b ma'a

la-f b

woraus die beyden Reste

ma'b mä'a

a' ; , und b ; - oder nach unsrer jetzigen Voraussetzung, dafs

a -\- b a -j- b

a = b sey:

m a' , ma'

a' , und a

2 2

Wir nehmen nun diese Hemmung, und die nach ihr bestimmte Ver- schmelzung als geschehen an: so ist die Verschmelzungshülfe***, welche jede der beyden Vorstellungen von der andern empfängt,

(*-?)■(-?)

* Psychologie 5 54. " Ebendaselbst § 63 und 69.

(a + b): Jj=ma' ... SW.

3*- B"et. 439

woraus zunächst die Wirkung zu bestimmen ist, welche dadurch eine vi in der andern Vorstellung empfangen kann.

Jede Verschmelzungshülfe wirkt nur bis zum Verschmelzungspuncte.*

111 M '

Also a kann von b nur gehoben werden bis a' : ; und b kann von a

2

ii i ma' gehoben werden bis a ; wo der Unterschied zwischen a und a'

2

ergiebt, dafs b höher von a, als a von b werde ins Bewufstseyn gebracht werden.

Wenn nun diese Verschmelzungshülfen zur Wirksamkeit gelangen, so

ist nach bekannten Grundsätzen der Mechanik des Geistes, ganz ähnlich

ro o co1

der Formel . .dt = dw, wo sich p im Nenner und Zähler

IL Q

hebt, hier

da i / ma'\ / ma'

dt a ' \ _ 2 ) \ ~2~

d ; i / ma'\ / ma'

und = . a' . a ß

dt a V 2 ) \ 2

wobey sogleich mag bemerkt werden, dafs, weil für t = o auch u und ß

= o sind, im ersten Beginn der Hebung, falls dieser wirklich durch die

Verschmelzungshülfen geschähe, und gleich seyn würden; hingegen

ma' .

weiterhin ist d,j allemal gröfser; indem der Factor a' « sich der

ma' Null schneller nähert als a ß.

2

Jetzt aber kommt in Frage, ob denn die Geschwindigkeit, womit a und b sich erheben, von der Verschmelzungshülfe überall könne bestimmt werden? Die Bewegung der steigenden Vorstellungen geschieht immer, wenn mehrere Gründe dafür zusammentreffen, nach dem Rhythmus des- jenigen Grundes, welcher die gröfste Geschwindigkeit hervorbringt; die andern Antriebe aber können alsdann nur gegen Hindernisse Widerstand leisten, jedoch nicht beschleunigen.** Folglich wird in unserm Falle die Verschmelzung nicht eher helfen, bis etwa das freye Steigen jeder Vor- stellung durch sich selbst, seinem Zielpuncte so nahe gekommen ist, dafs es langsamer wird als diejenige Bewegung, welche von der Verschmelzungs- hülfe kann bewirkt werden. Ob ein solches Nachlassen des freyen Steigens, und ein Uebertreffen desselben durch die Hülfe möglich sey, mufs nun untersucht werden.

Zu diesem Zwecke versuchen wir, was herauskomme, wenn beyde Geschwindigkeiten, die des freyen Steigens und die von der Hülfe be- wirkte, gleich gesetzt werden? Demnach

i. Anstatt der Gleichung

* Psychologie § 86. ** Ebendaselbst §87.

1 r_ZT^" s\V.

■>•>

e

440 HI. Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (183 1).

= (a a 7i'm -\- y) dt schreiben wir jetzt, da nur zwey Vorstellungen in Betracht gezogen werden, auch a = b, und, solange die Verschmelzung unwirksam ist, gewifs a = ß seyn mufs, =

(a I 1 -| mj u) dt; indem, wie schon oben bemerkt, k = 1 -| m.

So wird, indem die Geschwindigkeiten für irgend -ein a gleich werden sollen,

da / 1 \ 1 / ma'\ / ma'

= a 11 1 m a = . I a . a' -

dt \ 2 / a\ 2 J ' \ 2

oder u

1 \ / ma'

a a'i m.i

1 \ / ma'

2 / \ 2a/J 2 / \ 2 a,

Nun kann aber a nicht kleiner seyn als a', welches ein Theil von a

seyn soll. Setzen wir beyde gleich: so kommt « = a 1 ml, ein

unbrauchbarer Werth, weil, wofern a so grofs werden mufs, damit die Ge- schwindigkeiten gleich werden, es die Höhe übersteigen würde, wohin es durch die Verschmelzung kann gehoben werden, denn diese ist, wie schon

gezeigt, a' ( i m j. Also steigt a fortwährend frey, das heifst, mit der

Geschwindigkeit, deren Grund in ihm selbst liegt.

2. Anstatt der Gleichung d/i=(b ß n" m -\- y]) dt gilt

ebenfalls, so lange b durch eigne Kraft steigt, die Formel =

1

i-| m

2

weil dadurch die zweyte Vorstellung soll bezeichnet werden; während doch

der Gröfse nach b = a gesetzt ist. Sollen nun hier die Geschwindig- keiten gleich seyn, so hat man

( 1 \ 1 / ma'\ / ma' \

/j dt; wo der Buchstabe b nur deshalb gebraucht wird,

oder ß

I + 7ra)-f(I-7m

--T'-7-H'-3

Hier ist zwar der Theil rechter Hand des Gleichheitszeichens völlig der nämliche wie im vorigen Falle, da b a seyn soll; allein der Coefficient von ß ist gröfser, sobald a gröfser genommen wird als a\

Gesetzt, es wäre b = ( 1 -j mj.fa j, so könnte die Gleichung

dividirt werden durch den Coefficienten von ß, nämlich durch ( 1 -| ml

a' / 1 \ ma' I 1 ml; und es fände sich alsdann ß = a , welches ge- rade die Höhe ist, wohin b von a kann gehoben werden. Es sey aber

b kleiner, nämlich

/ . I \* / ma'

a = b<^i+-mj .(a--

(1 = im) statt (1 +.-1) SW.

3^ Brief. , , x

so mufs seyn m < 2 . ( 1 ], oder a' < -

\ a' / 2-fm

Diese Annahmen sind zulässig; und zeigen, dafs es Fälle gebe, in

welchen für ein solches ß die Geschwindigkeiten gleich werden können,

dessen weitere Erhebung von der Verschmelzungshülfe abhängen wird.

Hätte man auf den vorigen Fall eine ähnliche Betrachtung übertragen

wollen , so wäre für a = a' ( 1 m ] . ( 1 -| ml herausgekommen

« = a' ( 1 ml, und zu dieser Höhe könnte a durch die Hülfe ge- hoben werden; aber a = a' I 1 m2 ist ungereimt, da a' ein Theil

von a seyn soll.

Bis zu der Zeit nun, wo die Verschmelzungshülfe anfängt zu wirken, steigen u und ß ganz auf gleiche Weise nach obiger Formel.

2 + m.t)

m

«=Ä = =— i-c ^ / [I]

1 Hingegen von diesem Zeitpuncte an gilt das Integral von

1 / ma'\ / ma'

dT = 7'la'-— )■(»- -"

nämlich fl- (a - 5*\ . (. - e ~ » (' _ T "> '' M

Bevor man jedoch von diesem Integral Gebrauch macht, mufs man zuvörderst in dessen Sprache den erwähnten Zeitpunct übersetzen; als ob durch die Verschmelzungs-Hülfe, ß wäre dahin erhoben worden, den zuvor bestimmten Werth zu erlangen, für welchen die Geschwindigkeiten gleich geworden sind.

Bev spiel: a = b= 1; a' = ;m = ; giebt für dasjenige ß, bey - r 2 10

welchem die Geschwindigkeiten gleich werden, den Werth 0,93369. £ man diesen in die Formel I, so findet sich für den Zeitpunct der erwähnten Gleichheit t = 3,7433; hingegen nach der Formel II würde dazu fast die doppelte Zeit nöthig gewesen seyn, nämlich t = 6,6559. Nehmen wir :etzt t=7 in der zweyten Formel so bedeutet dies nur den Zuwachs an Zeit 7 - 6,6559 = °>344i 5 es findet sich aber dafür, das heifst für die wahre Zeit 3,7433 + 0,3441 = 4,o874, der Werth von /?= 0,96 Hätte statt dessen noch die erste Formel ihre frühere Geltung, so er- gäbe sie für den nämlichen Zeitpunkt ß == 9,9392. Dieser letz Werth ist richtig für «, welches in seinem Gange durch die Ver- schmelzungshülfe nicht abgeändert wird, folglich nach Verlauf 1 Zeit t = l 7zm hinter ß um etwas zurückbleibt. Die Gränze, welch- sich in diesem Beyspiele nähert, ohne sie jemals völlig zu erreichen,

ist 39 = 9,975. Hingegen « nähert sich der Gränze —=0,95238. 40

442 in. Briefe über die Anwendung der Psychologie aul die Pädagogik (1831).

Vor tieferem Eingehn in die, etwas verwickelte Untersuchung wird es zweckmäfsig seyn, noch ein andres Beyspiel dem vorigen gegenüber zu stellen. Man behalte a = b = 1 ; m = x/io > a^er es seY nun a' === 0,65. So findet sich der Zeitpunct, wo die Geschwindigkeit der Ver- schmelzungshülfe anfängt die eigne Bewegung von b zu übertreffen, bey dem Werthe ß= 0,93081; alsdann nämlich ist t = 3,6060, nach der Formel I. Hingegen hätte die Verschmelzungshülfe, um diesen Werth von ß hervorzubringen, nach der Formel II hiezu eine Zeit = 5,2991 gebraucht. Man setze nun eine etwas gröfsere1 Zeit t == 5,7 ; in die Formel II, so bedeutet dies nur den Zuwachs an Zeit 5,7 5,2991 = 0,4009; dafür, das heifst für die wahre Zeit 3,6060 -\- 0,4009 =4,0069 Avird alsdann /i = 0,93886. Für die nämliche Zeit gäbe die Formel I einen etwas kleineren Werth, ^=0,93818, welches der jetzige Werth von a ist.

Vergleicht man dies Beyspiel mit dem vorigen: so zeigt sich, dafs a' = 0,65 ein wenig früher anfängt, sein b zu beschleunigen, als a' = o,5; dagegen mag man es befremdend finden, dafs für t = 4,0069 der Werth von ß noch nicht gröfser ist als 0,93886. Dies erinnert an eine für die jetzige Untersuchung wesentliche Frage, nämlich nach dem Zeitpuncte, wann die später beginnende Beschleunigung durch ein kleineres a' wohl die vorige einhohlen würde, wenn bey de zugleich wirkten ?

Fingen beyde Verschmelzungshülfen ihre Wirksamkeit zugleich an,

so hätte man eine Gleichung von folgender Form:

ß = p (1 e -i1) = p' (1 e -i'')

p 1 e i'1

also =

p' 1 e - il

p e-qt _ Q-q't ! e (q - q') t

oder 1 = ■; = e i* .

p' 1 e - 1' 1 e - 1'

/p \ 1 _ e(q-q')t

folglich log. nat . 1) = qt -4- log. nat.

0 ° \p' / h -r O ! _e-qt

woraus wenn der Werth von t schon nahe bekannt ist, und vorläufig in

1 e (q q') *

den Bruch = kann gesetzt werden, sich dasselbe genauer

finden läfst.

Allein wegen der imaginären Zeiten, worin die Verschmelzungshülfen würden gewirkt haben, während in der That die Vorstellungen durch eigne Kraft empor stiegen, bedarf das angegebene Verfahren einigei Ab- änderung, die sich am bequemsten an den schon gebrauchten Beyspielen zeigen läfst. Es kommt nämlich darauf an, die imaginären Zeiten, nach ■welchen das Wirken der Verschmelzungshülfen mufs berechnet- werden, gehörig zusammenzufassen; als ob eine nach der andern, aber jede von vorn an ihr Wirken begonnen hätte.

Man nenne 0,5 = a'; aber 0,65 = a"; so entspricht der wahren Zeit 3,606 für a" die imaginäre Zeit 5,2991; und der wahren Zeit 3,743 für a' die imaginäre Zeit 6,6559. Der Unterschied beyder

1 „höhere" S\V

31. Brief. 443

wahren Zeiten ist 0,137. Hätte nun die imaginäre Zeit 5,2991 ablaufen müssen, um ß durch Wirkung der Verschmelzungshülfe zu dem Werthc 0,93081 zu heben: so käme alsdann zu ihr der wirkliche Interschied 0,137 hinzu; und gäbe eine Zeit = 5,4361. Am Ende dieser Zeit wäre für a' seine imaginäre Zeit 6,6559 abgelaufen. Es ist aber 6,6559 5,4361 = 1,2198. Um so viel früher also müfste die Wirkung des a' begonnen haben, als die des a"; und nach dieser Voraussetzung mufs die so eben in allgemeinen Ausdrücken gezeigte Rechnung abgeändert werden, um das Fortwirken der Verschmelzungshülfen in derjenigen Zeit zu bestimmen, da ß als von ihnen abhängig zu betrachten ist.

-r, ,,. ma' a' X\ r

Es sey nun das obige p = a >q = -- (l m)> so muls

2 a 2

dieses q nicht mit t, sondern mit 1,2198 -f- t multiplicirt in die Formel1

, , ma" , a" x

gesetzt werden; alsdann ist p' = a , und q'= . (1 - - m).

2 a 2

Wird hiernach die Rechnung abgeändert, so findet sich

p 1 _ gi-MigS + Cq-qOt

log. nat. \— I j = - - q (1,2 198 + t) + log. nat. - 1 _ e-q(,,„9g+o

Nun war für die wahre Zeit 4,087, und für a' = , der Werth

von ß== 0,9618; aber für die wahre Zeit 4,0069, und für a" = 0,65, der Werth von ^ = 0,93886. Die Zeiten sind einander sehr nahe; und die Beschleunigung durch a" fängt früher an als die durch a'; folglich mufs der Zeitpunct, wofür man aus beyden Rechnungen einerley ß erhalten hätte, schon vorüber seyn; und es mufs dafür t gröfser als 3,743» aber kleiner als 4,0069. Die imaginäre Zeit 5,7 entspricht der wahren 4,0069; man setze demnach etwa t=5,5; um vorläufig den von t abhängenden Logarithmen zu berechnen, während t in der Gröfse —9(1,2198 + 0 noch als unbekannt betrachtet wird. So findet sich dieses 1 = 5,5634: eine imaginäre Zeit, die sich sogleich auf die wahre zurück führen läfst, indem man überlegt, dafs zu der imaginären Zeit 5,4361 die wahre 3,743 gehört. Es ist nämlich der Unterschied 5>5634 5>4301 = °>12 73, welcher zu der wahren 3,743 addirt ergiebt 3,8703- Und dies liegt, wie voiausgesehen war, zwischen 3,743 und 4,0069. Also kann es nicht mehr befremden, daß die früher begonnene Beschleunigung sehr bald hinter der später eingetretenen zurückbleibt.

Man sieht in dem Beyspiele, dafs es leicht ist, einen vorläufigen Werth von t zu treffen, der die Näherangs - Rechnung einleiten kann: sonst möchte dieselbe weit mühsamer ausfallen.

Der Schlufs aber von beyden Beyspielen auf andre Werthe von a' kann leicht irre führen, wenn nicht eine neue Betrachtung mit der vorigen

verbunden wird. Ar

Um den Werth zu bestimmen, wobey ß anfängt von der Ver- schmelzungshülfe abzuhängen, ist oben die Gleichung aufgestellt:

1 „Formeln" statt „Formel" SW.

ä „verändert" statt „veränderlich" SW.

444 m- Briefe ürjer die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

ä

.i.(i-.i-n

a' / I \ / ma'

b 1 m

a \ 2 /• \ 2

Man setze hierin, wie zuvor, a = b= 1, und suche nun, wie ß von a' abhängt; indem man a' als veränderlich2 betrachtet, und nach dem- selben differentiirt. Es wird sich finden, dafs alsdann könne = 0 ge- setzt werden, welches, wie die Umstände zeigen, ein Minimum von ß er- geben mufs für

a'

I_|__m_l/Am_

4

m

= 0,69419 für den vorhin angenommenen Werth von m = . Hätten

10

wir also im Vorhergehenden a' = 0,7 oder noch gröfser gesetzt: so wäre

dasjenige ß, welches anfängt von der Verschmelzungshülfe bestimmt zu

werden, nicht kleiner, sondern gröfser gefunden werden. Z. B. für a' = o,9

erhebt sich b durch eigne Kraft bis ^=0,9409, und von hier an erst

wird es durch die Verschmelzungshülfe beschleunigt; jedoch durch dieselbe

nur der Gränze 0,955 angenähert. Der Zeitpunct, wo die Beschleunigung

beginnt, ist t = 4,208. Dagegen fand sich für a'=— , derselbe Zeit-

2

punct bey 1 = 3,743; es war alsdann /i = 0,93369; und für t 4,0874 fand schon der Werth ß= 0,9618 statt. Demnach ergiebt sich für solche a', welche gröfser sind als 0,69419, nur eine späte und geringe Erhe- bung des ß.

Wäre mit einer Vorstellung a = I für alle möglichen Reste = a' eine Menge von b, sämmtlich = 1, verbunden, und hinge die Beschleunigung dieser b lediglich von a ab, so würde dasjenige a', welches =0,69419, die Beschleunigung des ihm angehörenden b zuerst beginnen; darauf würden zu bey den Seiten eben dieses nämlichen a' die Beschleunigungen der zugehörigen b allmählig gleichsam zun sich greifen ; mit dem Unterschiede jedoch, dafs für gröfser e a' dieselben minder bedeutend, für kleinere dagegen, wenn auch später begonnen, doch weiter fördernd ausfielen. Für a' = o,l be- ginnt die Beschleunigung erst bey /tf" = 0,94814 und 1 = 5,1656; aber sie reicht bis zu der Gränze ß= 0,995.

Für andre Weithe von m würde jenes Minimum von ß auch ein

andres a' erfordern. Für m= 1 findet man a' = 0,3544; da aber, wie

2 a oben erwähnt, a' kleiner seyn mufs, als -, so fällt der oben an-

2 -|- m

gegebene Punct doch nicht ganz in die Mitte der Gegend, worin Be- schleunigung statt findet, sondern nach derselben Seite hin wie zuvor; denn diese Gegend fängt hier erst an bey a' = 0,66 . . . Hingegen für m = o würde sich das erwähnte Minimum des ß bey a' = 1 , also am äufsersten Endpuncte befinden. Ist m nicht o, aber sehr klein, so läfst der Ausdruck

3I- Brief- 445

i+-m-l/ini + - m2

i i m

sich sehr abkürzen; es kann nämlich neben der Quadratwurzel von m die erste Potenz vernachlässigt werden; also

I

1/ Äm = i 1,2247!/

I

Z. B. wenn m = , so ist nahe a' = 0,0^877.

400 'vo ' '

Der Vergleichung wegen wollen wir auf beyde zuletzt erwähnte Fälle noch einen Blick werfen.

1. Es sey m =

400

Man nehme a' = o,cj; so beginnt das Wirken der Hülfe erst bey ß = 0,9749; und für 1=3,725.

Man setze a ' = o, 1 ; so wirkt die Hülfe nicht früher als für ß = 0,9986; und t = 9,104.

2 . Es sey m = 1 .

Man nehme a' = 0,3. Jetzt wirkt die Hülfe schon von dem Werthe ,#=0,6463 an, und 1 = 2,3278.

Für a' = 0,1 findet sich /i= 0,6569, und t= 2,8194. Im ersten dieser Fälle, nämlich für a' = 0,3 nähert sich die Erhebung des ß der Gränze 0,85. Hingegen für a' = 0,1 der Gränze 0,95.

Die Hülfen sind hier gleichsam auf einen engen Raum beschränkt, aber innerhalb dieses Raumes desto wirksamer. Es läfst sich daraus ver- muthen, was geschehen würde, wenn die frey steigenden Vorstellungen, bey geringer gegenseitiger Hemmung (also bei geringen Werthen von m) irgend einen Widerstand gegen sich in Spannung setzen. 1 Je mehr sie dadurch am Steigen gehindert würden, desto mehr würde die Wirkung der Hülfen hervortreten, obgleich die Gränzen, denen sich dieselbe nähert, erniedrigt werden möchten. Denn was bey kleinen Hemmungsgraden diese Wirkung verspätet, das ist nur das freye Steigen selbst, welches erst so weit nach- lassen mufs, bis die Hülfen merklich werden können.

Versucht man nun, das Bisherige auf mehr als zwey Vorstellungen aus- zudehnen, unter der Voraussetzung gleicher Stärke und gleichen Hemmungs- grades: so ist zuvörderst bekannt, was gleich Anfangs gezeigt worden, dafsje mehr der Vorstellungen sind, um desto niedriger die Gränze steht, welcher jede im freyen Steigen sich nähert; und auch die Bewegung dahin desto weniger gleichmäfsig ist; indem sie zuerst rascher, allein desto eher verzögert wird. Die Wirksamkeit der Hülfen, welche dadurch nicht vermindert werden, tritt also eher hervor. Aber jede Vorstellung wirkt auf die nachfolgenden; dergestalt, dafs c, d, u. s. w. sich nicht von a sondern von b beschleunigt finden, falls dessen Wirksamkeit eher eintritt. Bis zu jenem Minimum

1 „setzen-' statt „setzten" SW.

446 III. Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (1831).

hin, wo a zuerst anfing ß zu beschleunigen, statt dessen man jetzt y oder S setzen mag, kann nun die zunächst auf a folgende Vorstellung, die jetzt b heifsen wird, nicht vorgreifen; aber weiterhin fortgehend in der Reihe können wir erwarten, dafs die von b abhängende Beschleunigung auf solche Glieder treffen wird, bey denen sie der von a ausgehenden Wirkung zuvorkommt. Jedoch diese Beschleunigung nimmt ab, und für a wird noch eine Nachwirkung übrig bleiben, vermöge deren am Ende jedes spätere Glied die vorigen überragen wird, ohne sie darum zurückzudrängen. Es ist also auch hier eine Reihenbildung vorhanden, wiewohl kein eigentliches Ablaufen einer Reihe, weil die früheren Glieder nicht zurücktreten.

Anders wird sich dies verhalten, wenn irgend eine Hemmung, deren Grund aufserhalb der Reihe liegt, sich einmischt. Denn alsdann wird aus früher entwickelten Gründen allerdings in den vordem Gliedern die Nach- giebigkeit gröfser seyn. als in den hinteren, bey welchen die Energie des Steigens noch stärker ist; und so wird ein eigentliches Ablaufen der Reihe erfolgen können. Nur ist dabey nicht zu vergessen, dafs die Bildung der Reihe nicht _ lediglich von der Zeitfolge abhängt, worin die Glieder der- selben ursprünglich gegeben wurden, sondern dafs jeder Grund, wodurch die gröfsere oder geringere Verschmelzung je zweyer Glieder bestimmt wurde, sich hier gelten macht.

Die nächste Frage wäre nun: was geschehen werde bey ungleichen Hemmungsgraden? Wenn z. B. drey Vorstellungen so beschaffen sind, dafs ihre Hemmungsgrade in gerader Linie liegen; wie auf der Tonlinie, wo allemal zwey Hemmungsgrade addirt den dritten ausmachen? Es ist ein- leuchtend, dafs beim freyen Steigen der Ton- Vorstellungen c, e, g, die mittlere weniger gehemmt wird, als die äufsersten, welche von ihrem Gegen- satze unter einander (dem gröfsten Hemmungsgrade) am meisten leiden. Setzen wir nun dieses c und e in die Stelle der zuvor betrachteten a und b, so kann in solchen oder ähnlichen Fällen die eigne Geschwindig- keit des c wohl übertroffen werden durch die Wirkung der Hülfe des e.

Es kommt jetzt noch darauf an, den Umfang der vorhergehenden Untersuchung auf die Voraussetzung zu erweitern, dafs a und b von un- gleicher Stärke seyn mögen. Hier sind mehrere Fälle zu unterscheiden. Es sey immer a die stärkere Vorstellung; diese aber kommt entweder nur für ihren Teil a' in Verbindung mit b, oder es ist umgekehrt ein Theil b' von b, welcher mit dem ganzen a Gemeinschaft hat. (Den Fall, wo nur Theile von beyden in Verbindung getreten wären, lassen wir un- berührt.) In der ersten Annahme liegen wiederum zwey; es ist nämlich entweder a' kleiner als b, oder gröfser.

I. Es sey a' kleiner als b; wobey hinzugedacht werden mag, dafs etwan das im Sinken begriffene a bis auf den Theil a' aus dem Bewufst- seyn verschwunden war, als b gegeben wurde. Die Hemmungssumme war alsdann = ma', wie in den frühern Rechnungen; und die Ver- schmelzungshülfe für b, welche sich daraus ergab, war

1 / ma'b\ / ma'a\

bT-i+bMb-r+bj'

folglich, wenn deren Wirkung für irgend einen Werth von ß gleich werden soll der Geschwindigkeit, womit b von selbst steigt, so mufs seyn

3i. Brief.

447

dt

i

a'

ma'b a + b

ma

a +

-4 +=£}-?(■

a + b' Wäre nun b

mb

a~+l am

'a \ / am \

mb ä~+b

b-_(i

+ b-

ma'a\ ä+b/

i +- )• (b , so liefse sich durch den

k ^a + b/ V a + b/

Coefficienten von ß dividiren; und man hätte ß = b r-, folglich

J 0

= o. Also mufs b kleiner seyn, woraus folgt, dafs

LI C

aa'm

< b a', oder

a + b'

a+b

m <

(b a') (a + b)

und a' <

aa'

b (a + b)

a + b + am

Differentiirt man ß nach a' zu dem schon bekannten Zwecke, so findet sich,

nachdem das Differential ■■ ■- o gesetzt worden, das Minimum von ß für

b

. (a + b + am |/(a + b) . (2 a + b) . m + a2m 2) 1

a + b bm welches für ein grofses a beynahe wäre

a' = b (1 + m V2 m + m2) Hingegen für a = b = 1 verwandelt sich die Formel in

a'

= . (2 + m i/o m + m2)

2 m ' '

-m.(i+-m

]'Am + Am2)

2 A 1

oder = 1 wie oben für diesen Fall schon gefunden worden.

IL Es sey a' gröfser als b. Alsdann war die Hemmungssumme = mb;. die Verschmelzungshülfe für b ist daher

I / mb2 \ /. raab

b"-la'-a~+bV

und folglich das gesuchte

+ b/ V a + b / V ' a + b/

1 2/ mb2 m 1 / mb2x / mab

-)*.'

also

1 +

a + b b ia' ~ rfb)J = b - b -(a'-a-+b) lb - aTb)' Hier kann man nun freylich nicht setzen

/ am \ / am \

a + b/

a + b/

a2m2

Denn gewifs ist (j . , J b kleiner als b; allein eben deshalb

a+b bm

a + b + am V....) SW.

2 4. SW. b

_i 18 III. Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (183 1).

setze man

/ am \ /, amb \ a2m2b ,

b = (' + ^Fb)-(b-^+i;) + (7+b)-2-b

so findet sich

amb , a2m2b

ß = b-— r-r +

a + b ' (a + b)2

am 1 / mb2

a -j- b b \ a + b'-

welches zwar auf einen Augenblick widersinnig scheinen kann, da ß

nicht vollends == b - seyn, vielweniger diese Gröfse übersteigen

a + b

darf. Allein der Divisor des letzten Gliedes ist negativ. Statt

am 1 / mb2 \

1 J a' schreibe man

~a + b b \ a + b/

am a' . mb . a' . .

t _J = 1 4- m . , so ergiebt sich, dafs

x^a + b bTa4-b ^ b' b

a' .

seyn müsse. Unter dieser Voraussetzung ist, besser geschrieben,

am a2m2b 1

3 = b

a + b ~(a + b)2.(a' (1 +m).b)J Aber nun fragt sich: bevor dieser Werth von ß, und mit ihm die Gleich- heit der Geschwindigkeiten eintritt, welche Geschwindigkeit ist gröfser, die eigne des b? Oder vielmehr die der Hülfe? Dann hebt sie die Vor- stellung b bis zum jenem Werthe von ß; nun aber überläfst sie dieselbe ihrem eignen langsamem Fortschritt; welches von dem früher be- trachteten Vorgange das Umgekehrte ist. Der genauem Bestimmung

a' wegen setze man = i-fmx, und suche nun, wie grofs x sein müsse,

damit Anfangs, für $ = o, die Geschwindigkeiten gleich seyen.

Es ist nämlich zuerst, indem noch ß—o, wofern jetzt die Ge- schwindigkeit gleich seyn sollen,

'z' mb \ / ma

a -}- b' "\ a -f- b

- (\er\ Werth b

a' hierin statt den Werth i-fmx gesetzt, giebt

ma mb , m2ab

I— : = I

/ ma \

a~+~bV ^ T- " a + b " " a + b ^ (a + b)*

/ ma \ m2ab

oder m 1 r— x == m - j— rrr

\ a + b/ (a + b)2

(a + b)2 mab

das heifst x =

(a + b)2 mab ma2 Sobald also x gröfser genommen wird, ist die Verschmelzungshülfe

Anfangs die geschwindere; und b wird von ihr schneller gehoben, als es

durch eigne Kraft steigen konnte.

Um nun vor unpassenden Voraussetzungen möglichst sicher zu seyn,

31- Brief. ,

bestimme man zuerst willkührlich die Werthe von a und b; prüfe alsdann, welches m dazu taugt, damit nicht x so grofs werde, dafs a' = b(l-f-mx) den angenommenen Werth von a übersteige. Ist nun ä' ge- hörig bestimmt, so geben alsdann die Formeln sowohl die Anfangs-Ge- schwindigkeit, als auch den Werth von ß, wobey der Wechsel des Be- wegungsgesetzes eintritt.

z. B. Es sey a = g, b=i, so ist x =

i oo 9 m 8 1 m

Wollte man hier m=i setzen, so würde x = 9,i, woraus ferner a'=io,i, welches unmöglich, weil a' ein Theil von a seyn soll. Wählt

man statt dessen m = ; so folgt x = - -. Es sey nun x ein wenig

2 ° 11 J °

gröfser, etwa = 2 ; alsdann ist auch a' = 2 ; und daraus Anfangs

TT = I,°725 vermöge der Verschmelzungshülfe; aber das obige ß = 0,145.

Bis dahin hebt also die Hülfe ; weiterhin ist b seinem freyen Steigen über- lassen. Man konnte jedoch auch für m = füQ-lich a' = 8 setzen :

2

woraus Anfangs -- = 4,3725, und jenes /?= 0,5188. Endlich war nicht

durchaus nothig, den Werth von m auf die Warnung des zuerst gefundenen

1 8

x so tief, bis auf , herabzusetzen. Es sey m = . Daraus ergiebt

sich für x = 5 und a' = 5,444 die Anfangs-Geschwindigkeit = 1,07 1 1 ; immer noch ein wenig gröfser als das anfängliche Steigen des b durch sich selbst seyn würde (da b= 1 genommen war): allein hier sind wir hart an der Gränze der brauchbaren Werthe, denn ß=o,02 ist der sehr geringe Werth, über welchen hinaus die Hülfe nicht mehr wirkt.

Uebrigens zeigen die Formeln sogleich, dafs für ein sehr kleines m die Anfangsgeschwindigkeit beynahe = a', und jener Scheidewerth von ß beynahe b selbst ist.

Wäre a' = b oder diesem Werthe nahe, so könnte, wie schon ge- zeigt, die Gleichheit der Geschwindigkeiten nicht statt finden. Der Aus-

/ mb \

druck für die Verschmelzungs - Hülfe wird alsdann 1 : -I

D \ a -f- b

( 1 Ü^L. ) . b welches offenbar kleiner ist als b ; Anfangs also steigt b

\ a-j- b'

aus eigner Kraft, und dabey bleibt es unter der jetzt angenommenen

Voraussetzung auch fernerhin.

Es spaltet sich also der Fall II in drey Fälle; nämlich, wenn man sich a' denkt als allmählig wachsend, dergestalt, dafs zuerst die Hülfe un- wirksam ist; dann, dafs ihre Wirkung erst eintritt, nachdem aus eigner Kraft b schon den vorhin bezeichneten Werth ß erreicht hat; und endlich, dafs die Hülfe gleich Anfangs die Vorstellung b mit sich bis zu einen gewissen Puncte empor hebt. Um der Frage willen, ob noch der vierte

2Q Herbart's Werke. IX.

a KO HI. Briefe über die Anwendung der Psychologie aut die Pädagogik (183 1).

Fall, wo die Wirkung der Hülfe immer fortdauern würde, vom nächst

vorhergehenden unterschieden werden müsse, setzen wir a und a' sehr

grofs ; alsdann fällt a aus dem Scheidewerthe von ß heraus, aber es bleibt

/ m2b\ , m2b

/?=bli m I; und wenn man auch wegläfst, so bleibt

noch immer der Scheidewerth ß = (1 m) b, wie lange aber ein solcher noch statt findet, mufs eingeräumt werden, dals sich b aus eigner Kraft um etwas höher heben könne, wie wenig es auch seyn möchte. Nämlich ohne Verschmelzung ist für zwey Vorstellungen a und

b bekanntlich ß = ( 1 e ~~ kt), also ß nähert sich der Gränze , wo k k

am

k == 1 | -, welches, wenn b neben einem grofsen a wegfällt, ergiebt

a f d

k= 1 -j-m; es ist aber = b (1 rn -\- m2 u. s. w.) also gröfser

als jenes ß = (i m) b.

Was die Scheidepunkte zwischen den verschiedenen Fällen anlangt,

a' so ist derjenige, wo = 1 -f- m, noch nicht der erste, denn es würde

dafür der Scheidewerth von ß einen unendlich grofsen negativen Wert erlangen.

Man setze aber

am a2 m2 b

1 = a~+~b + (a + b)2.(a' [1 + m] . b)

a2 m2 b 1 / 1 \ 1

woraus a' = - ; r-r-r -f- (1 -j- m) . b

(a -f- b)2 am (a -f- b) v

man nehme ferner a == a', als den höchsten Werth, welchen a' haben könnte, also

b am2 b 1 (1 -h m) - == (a + b)2_am(a_|_b)

So wird sich nach willkührlicher Annahme des a und b der höchste brauchbare Werth für m bestimmen lassen, da m mit a' wächst. (Die allgemeine Formel wird unbequem weitläuftig.) Da nun dieses voraus- setzt, ß sey = o, so wird ein gröfseres a und a' diejenigen Fälle herbey- führen, worin der Scheidewerth von ß stattfindet.

III. Es sey von b aus ein Theil b' mit a in Verbindung getreten. Als- dann war die Hemmungssumme = m b ' ; die Verschmelzungshülfe ist

/ mb' b\ /, mb' a. 1 . . , ,

I a 1 . b' ; \ . und es fragt sich, ob

\ a-fbyV a-j-bjb

mb' b\ r mb' a

a--bj

/ mb'b\ I mb'a /lf 1 . / . am v

a . y ; ß1 . = b I + r-^r) ß sein könne?

I a + bj [ a+b ' . b [ ^ a + b) '

a + b/ L a+b

Der früher gebrauchte Kunstgriff würde blofs zeigen, dafs

1 „b" S\V.

31- Brief. 4-,

. am i / mb' bv m a

1 + a~+ b - b ia " T+b) - l + rf "b * (a + b ° " " b nCgativ S6yn

müsse ; mithin a gröfser als m b 4- 1/ m 2 b '- -4- b - m b ' b ; wofern die

2 f 4

angenommene Gleichung stattfinden solle.

Jedenfalls mufs also a beträchtlich gröfser seyn als b und dies um so mehr, je gröfser m und b' genommen werden.

Setzen wir a sehr grofs, so wird die Gleichung nahe

£ . [b' (i-m) - ß] = b (i -f m) ,S, oder

ß [i-j-m —\ = b T-'3' ^ m)' oc*er

ß (£_(i+m))=£b'(i-m)-b,

wo man, nachdem schon b neben a wegfiel, noch weiter abkürzend schreiben kann

ß = b' (i— m).

Die obige Gleichung ist also für ein hinreichend grofses a zulässig. Wenn nicht b' oder i m sehr klein sind, so wird die Anfangs-Geschwin- digkeit von der Hülfe abhangen; mithin von letzterer b bis zu einem, dem eben angegebenen Q nahe kommenden Werthe gehoben, dann aber sich selbst überlassen werden.

Nach dieser Betrachtung der drey Fälle ist nun zu erwägen, wie sie vorkommen können. Vorzüglich starke Vorstellungen müssen es seyn, die dazu Anlafs geben sollen; aufserdem wäre kein freyes Steigen möglich. Ist unter diesen eine beträchtlich stärker, als die übrigen, und der Hem- mungsgrad nicht so grofs, um die schwächeren auf die statische Schwelle zu bannen: so mögen einestheils von den minder starken einige voran- gegangen, und noch im Sinken begriffen seyn, indem die stärkste eintritt: alsdann ereignet sich für sie der Fall III; und zwar so, dafs von den früher vorausgegangenen kleinere Reste, die wir b' nannten, mit a in Verbindung geriethen. Anderntheils mögen einige schwächere nachfolgen: so giebt es für jede derselben einen Rest a', der ihr Steigen bestimmen kann. Gelangen nun späterhin diese Vorstellungen zum freyen Steigen, so ereignet sich mit dem Falle III zugleich der Fall II; indem a sowohl die verschiedenen b', als auch die nachfolgenden b durch seine verschie- denen a' hervorheben wird, wofern die in den Rechnungen angegebenen Bedingungen statt finden. Um zu sehen, wie dies auf Reihenbildung führen könne, ist noch nöthig, auf die Zeitbestimmung des Steigens zu achten.

Wenn nämlich im Falle III, a grofs genug ist, damit die Anfangs- Geschwindigkeit von der Verschmelzungs- Hülfe abhänge: so findet sich

r _ ± / _ mb'bv

, / ma \ b \ a -4- bJ

ß = b' i r— . ^

l a -f- b/ Li e

woraus sogleich klar ist, dafs gröfsere b' bey hinreichend starkem a und

29*

4C2 ni. Brieie über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (183 1).

nicht zu grofsem m (so dafs gering sey neben a) in gleichen Zeiten

a \— b

höher gehoben werden, folglich die Abstufung grofsentheils von den ver- schiedenen b' abhängt.

Ferner ist für den Fall II

, / ma \ 1

c-" ,--jr+bH.-

mb2

a^-bj \i— e /

woraus hervorgeht, dafs gleiche b geschwinder gehoben werden, wenn sie mit gröfsern a' in Verbindung traten.

Dies zusammengenommen zeigt eine starke Analogie mit demjenigen Reproductions - Gesetz , nach welchem Vorstellungen von der statischen Schwelle durch andere stärkere hervorgehoben werden; und es kommt hiezu noch Folgendes, welches die Analogie vollständiger macht.

Man weifs schon (aus der Beylage zu 22), dafs jede Vorstellung, die sich als die dritte zu zweyen stärkeren betrachten läfst, folglich gewifs auch jede vierte, fünfte, u. s. w. ein Maximum hat, bis zu welchem sie steigt, um alsdann durch die bey frey steigenden Vorstellungen stets wachsame Hemmungssumme wieder zum Sinken gedrängt zu werden. Sind also die schwachem Vorstellungen bis gegen jenen Scheidewerth hin reihenförmig gehoben, so werden sie auch in der Ordnung, wie sie gehoben, wieder sinken, nachdem die Wirkung der Hülfe soweit nachläfst, um der an- gewachsenen Hemmungssumme die Herrschaft zu überlassen; wiewohl hiebey manche noch nicht untersuchte Modificationen vorkommen mögen.

Andererseits zeigt sich die angeführte Analogie doch auch sehr be- schränkt. Vorstellungen von nahe gleicher Stärke erheben sich, wie gleich im Beginn dieser Untersuchung klar wurde, anfangs nicht reihenförmig sondern massenweise; und erst gegen das Ende ihres Steigens nehmen sie mit sehr geringer Bewegung die Reihenform an, wobey sie vielmehr zu einander hinzukommen, als vor einander weichen. Hieraus mufs eine unendliche Mannigfaltigkeit entspringen, wenn jede von den nahe gleich starken Vorstellungen andre schwächere mit sich empor hebt, deren Reihen- Entwickelung die Hemmungssumme jeden Augenblick verändert.

Über die ganze hier geführte Untersuchung ist endlich noch zu be- merken, dafs die Verschmelzungen gemäfs der ursprünglichen Hemmung beym Sinken gegebener Wahmehmungs- Vorstellungen, (Empfindungen) sind bestimmt worden. Öfteres gemeinsames Steigen aber vermehrt die Ver- schmelzung, und wird also auch die Wirksamkeit der Verschmelzungs- hülsen vermehren. Hiemit wird sich die mannigfaltigste Veränderung der reihenförmigen Anordnung einstellen, weil alle Abweichungen von der ur- sprünglichen Folge der Empfindungen, mögen solche nun aus den durch die Rechnung schon bestimmten, oder aus Nebengründen herrühren, sich bey jeder Wiederhohlung des gemeinsamen Steigens von neuem gelten machen, und jede schon abgeänderte Verbindung hiemit der Grund einer weitern Abänderung werden mufs. Dies geht so fort, bis die grüßte mög- liche Verschmelzung erreicht ist. Dann aber entsteht ein Product, welches, wofern nichts Neues hinzukommt, sich nicht mehr ändert; selbst durch Zu-

32. Briet. ====== 453

Sätze aber nur mit Schwierigkeit einer Umformung nachgiebt, weil die einmal geschehenen Verschmelzungen nicht wieder aufgehoben, sondern höchstens in ihrer Wirkung aufgewogen werden können, welches, um merk- lich zu werden, eine bedeutende Gegenkraft erfodert.

32-

Wo sind wir nun, mein theurer Freund? Ich denke, wir sind im Gebiete der Phantasie und des Glaubens; weil doch einmal bekannte Namen müssen genannt werden, um uns nach der Windrose der alten soge- nannten empirischen Psychologie zu Orientiren. Freylich haben wir damit nicht die Sphäre des Gedächtnisses verlassen; vielmehr ergab sich aus der Rechnung, dafs selbst frey steigende Vorstellungen noch grofsentheils die Ana- logie mit der Reproduction nach der Zeitfolge des Gegebenen beybehalten. Allein wie bunt, wie abenteuerlich auch manchmal die Bildungen der Phantasie seyn mögen, immer besteht das Neue aus alten Stücken, und jedes solche Stück enthält eine Menge kleiner und kleinster Partial -Vor- stellungen, die wenig oder gar nicht aus ihren alten Fugen sind gerückt worden, also den Stempel des Gedächtnisses in der That auch noch bey- behalten; daher die Phantasie, wäre sie etwa vornehmer als das Gedächt- nifs, doch dessen nützliche Dienste nicht verschmähen dürfte.

Wie kommt aber der Glaube in die Gesellschaft der Phantasie? Sollte ich wohl in diesem Puncte Einwürfe von Ihnen zu erwarten haben? Im Gegentheil, Ihre Kenntnifs der Mythologie, worin Sie mir weit über- legen sind, würde mich zurechtweisen, wenn ich nicht durch Rechnung und pädagogische Erfahrung schon genug gewarnt wäre, um nicht die Phantasie eines heutigen Romanschreibers für ein ursprüngliches Seelen- vermögen zu halten. Wer irgend etwas mit Willkühr, und wissend um diese Willkühr, erdichtet, der freylich mag lange lügen, bevor er es dahin bringt, an seine eignen Lügen zu glauben. Hingegen das ursprüngliche Phantasiren endigt von selbst mit dem Glauben, in wiefern nicht Be- obachtung und Erfahrung sich widersetzen. Die letzten Worte des vorstehenden Aufsatzes sprechen hoffentlich deutlich genug von dum Product, womit die fortgehende Verschmelzung der oftmals frey steigenden Vorstellungen endigt. Dies Product ist ein nothwendiges, wofern der Kreis von Vorstellungen, aus welchem1 er entspringt, geschlossen ist, und der Anlafs zum freyen Steigen sich oft und mannigfaltig genug erneuert, damit aus den gegebenen Vorstellungen werde was daraus werden kann. Als- dann schwebt dies Product im Bewufstseyn gleich den Vorstellungen Erfahrungsgegenständen; es wird für ein Reales gehalten wie das was man hört und sieht; oder mit einem andern Worte, es wird daran geglaubt. So etwas Fertiges, oder doch beynahe fertig Gewordenes, nur noch theil- weise einer absichtlichen Ausschmückung Zugängliches, ist im Grofsen der Mythenkreis eines jeden Volkes.

Allein wir sprechen hier nicht von Völkern, sondern von Kindern. Wie nothig diesen der Religions-Unterricht ist, und zwar in jedem

Alter gerade in dem Maafse, als die Gefahr nahe ist, dafs sie außer- dem sich aus eigner Macht etwas Götzenhaftes schaffen würden, das

1 „welchen" statt „welchem" SW.

454 m* Bri^ aber die Anwendung der Psychologie aut die Pädagogik (1831).

bedarf hier keiner Entwickelung ; denn Niemand zweifelt daran, und Sie am wenigsten.

Schon bey kleinen Kindern, sobald sie sprechen können, bemerken wir oft mit Erstaunen, zuweilen mit Besorgnifs, wie sie phantasirend nicht blofs plaudern, als ob sie ihrem Erfahrungskreise entrückt wären, sondern auch dabey lachen und weinen, sich selbst Lust und Schmerz bereitend. Denn die Reizbarkeit des Organismus mengt sich hinein; und mancher Affect gräbt sich ein Bett, gleich einer Quelle, von welcher ein Bach aus- geht, um dereinst, mit anderen Bächen vereinigt, zum mächtigen Strome heranzuwachsen. Hier ist der Schoofs, in welchem die geistige Indi- vidualität erzeugt, und durch die leibliche bestimmt wird.

Indessen die frühesten Producte der Phantasie bleiben nicht lange Gegenstände des Glaubens; sie werden bey gesunden Sinnen von der Erfahrung zurückgestolsen ; und durch neues Phantasmen meist vollends verdrängt. Der zehnjährige Knabe erzählt schon lachend, was er alles geglaubt habe, da er noch klein war. Er weifs nicht, wie oft es ihm noch bevorsteht, gröfser, und in seinen eignen Augen weiser zu werden. Neue, und abermals neue Formationen der Phantasie lagern sich über einander; und nicht selten bereitet sich daraus ein vulkanischer Boden, dessen Er- schütterungen Alles durch einander zu werfen bestimmt sind.

Die Gefahr ist um desto geringer, je besser der Knabe, in dem Alter wo er schon nicht mehr Kind heilst, es sich selbst sagt, dafs er spielt, während er sich den Illusionen hingiebt; dafs er im Gegentheil mit ernsten Versuchen beschäftigt ist, wenn er einen Erfahrungs-Gegen- stand behandelt, der ihn durch guten oder schlechten Erfolg belehren wird. Hier kommen wir auf die höchst wichtige Wechselwirkung zwischen dem innern Thun, wodurch sich der Mensch die Grundlage seiner geistigen Persönlichkeit schafft, dem Phantasmen, und dem äufseren, wodurch er zuerst lernt, dafs er zurecht gewiesen werden kann und mufs. Das Verbindungsglied zwischen bey den die Aufmerksamkeit, werden wir bald genauer in Betracht ziehen ; allein zuvor ist ein Rückblick auf die Beschränktheit der Individuen nöthig, die uns schon so oft beschäftigte.

Die allermeisten Menschen glauben das, was ihnen mit Nachdruck gesagt und versinnlicht wird. Warum? Die nächste Antwort ist, weil sie nicht Phantasie haben, die es bis zu fertigen Producten bringen könnte. Aber was heifst denn das, Phantasie haben oder nicht haben? Wir sahen im Vorigen, dafs zugleich steigende Vorstellungen desto vester ver- schmelzen, je öfter sie steigen, und desto gewisser ein reihenförmiges Ganzes bilden, je mehr sie verschmelzen. Phantasie-Bilder sind eben nichts Anderes als das Vorgestellte solcher verschmolzenen Vorstellungen. Demnach hat Jedermann Phantasie in dem Kreise seiner frey steigenden Vorstellungen, falls er nicht daran gehindert ist. Die Phantasie des Kauf- manns mag freylich eine andre seyn als die eines Hirten, oder eines Soldaten; aber die Verschiedenheit der Gegenstände, gemäfs den Be- schäftigungen, erklärt kein Mehr oder Weniger.

Dafs es überhaupt frey steigende Vorstellungen gebe, das versteht sich nicht von selbst. Die meisten Thiere scheinen durchgehends von leiblichen Zuständen dergestalt bestimmt, dals sie nur selten etwas anderes

33. Briet. 455

vorstellen, als was im Kreise ihrer augenblicklichen Begierden und Affecten liegt. Der träge Wilde, der mülsig ruhet, sobald er satt ist, unterscheidet sich wenig von ihnen. Und der ausgebildete Egoist, welche andre Vorstellungen gelangen in ihm zur freyen Regung, aufser denen, die sein begränztes Interesse angehen? Von da aus werden seine Gedanken geformt; dort ist die Herrschaft, die nichts von unnützen Künsten neben sich aufkommen läfst.

Will man pädagogische Beobachtung, so mufs man vor allem die Kinder in den frühen Jahren beobachten, wo die Herrschaft einen be- stimmten Egoismus sich noch nicht gebildet hat. Um diese Zeit auch verheimlichen sie am wenigsten; ihr Sprechen und Handeln ist der un- mittelbare Ausdruck ihrer Phantasien. Würden den Lehrern der späteren Jahre aus jener frühen Zeit unbefangene und genaue Beobachtungen mit- getheilt: dann sähe man eher und sicherer, was von der Geistes- Richtung und Thätigkeit der Zöglinge zu erwarten stehe. Statt dessen concentrirt sich sehr lange diejenige Beobachtung, welche der Lehrer des heran- wachsenden Knaben anstellen kann, auf die bessere oder schlechtere An- eignung des Neuen, was der Unterricht darbietet; aber es dauert Jahre, bis in dem Kreise des Lehrers und Lernens frey steigende Vorstellungen sichtbar werden. Das Meiste selbst von dem, was gut gelernt wird, er- hebt sich lange Zeit nicht ohne Bücher und Fragen ins Bewufstseyn. Darum ist der Schüler zu Hause ein Andrer, als in der Schule.

Betrachten Sie, wenns gefällig ist, den Anfang der Beylage zum vorigen Briefe. Dort, wo am wenigsten von Herrschaft einiger über- nächtiger Vorstellungen, wo so viel wie nichts von Analogie mit dem Gedächtnifs zu spüren ist, wo unter den Vorstellungen Freyheit und Gleichheit statt findet; sehen wir da das Erwachen der einzelnen ab- hänrior von anderen? Nein; sie kommen massenweise; und erst zuletzt, wenn sie schon hoch ins Bewufstseyn empor gestiegen sind, nehmen sie Form an. Was ist nun die Folge, wenn irgend ein fremder Druck sey es das früher oft besprochene Hindernifs aus physiologischen Gründen, oder die Auctorität eines Lehrers, oder was immer für eines geselligen Einflusses, die letzten Entwickelungen des bis dahin massenweise empor gestiegenen Vorstellungen hindert? Natürlich bleibt die Formung aus; und der Mensch wird desto weniger Er Selbst, je mehr fremde Form ihm aufgedrungen oder auch nur dargeboten wird. Verhehlen wir es uns nicht : je mehr Schule, desto phantasieloser die Zeit. Je mehr Muster, desto weniger eignes Erzeugnifs. Und dann klagt man noch über das Langweilige dessen was sich stets eintönig wiederhohlt.

Mancher hat bey mir weniger Schule gefunden, als erwartet wurde. Warum? ich wollte den Menschen so viel wie möglich ihr eigenes Gesicht lassen. Freylich schade, wenn nun von ihnen wenig hervortritt! ich liebe nun einmal denjenigen Unterricht nicht, der an den freyen Vorstellungen mehr hindert als fördert.

33- Es ist durchaus nöthig, und es kann gewifs mit Ihrer Bewilligung geschehen, dafs wir uns noch etwas mehr in die Psychologie vertiefen, als

4^6 HI. Briefe über die Anwendung der Psychologie aut die Pädagogik (183 1).

schon durch das Vorhergehende zu erreichen stand. Was ist dem Päda- gogen wichtiger, als die Aufmerksamkeit ? Diese habe ich nur eben zu- vor berührt; und zwar nicht die willkührliche, auch nicht die ursprüngliche, wovon in meiner Abhandlung de attentionis mensura die Rede war, sondern die appercipirende, welche für den praktischen Erzieher wo möglich noch wichtiger ist als jene beyden Arten. Das appercipirende Merken aber, wenn Sie alte Namen wollen, ist eine Zusammensetzung aus der Phantasie, die von innen her wirkt, und der Sinnlichkeit, welche mit äufsern Eindrücken dazu kommt. Mit andern Worten: es treten dabey die frey steigenden, und die dem Sinken bis zu völliger x Hemmung an- heim fallenden Vorstellungen in Wechselwirkung. Gemerkt wird vermöge der Apperception auf dasjenige Gegebene, welches sich selbst überlassen würde vergessen werden. So geschiehts, wenn der aufmerksame Schüler dem Unterrichte oder auch der Erfahrung, die man ihm bietet, entgegen- kommt. Seine Fragen verrathen sein Phantasiren; nur bleibt dies nicht frey, es bildet keine fertigen Producte, sondern es unterwirft sich der Lehre zur Berichtigung und zugleich zur Erweiterung. Ein Andrer als Sie, mein Freund,' möchte mir einwerfen: der fragende Schüler phantasire nicht, sondern er denke. Sie aber werden einen solchen Gegensatz wohl sicher nicht machen. Könnten die Gedanken der Phantasie nicht die Form von Begriffen und Urtheilen annehmen: wo bliebe dann wohl die Poesie? Vor tieferem Eingehen in die Untersuchung lassen Sie nur überlegen, welche Vorstellungen denn wohl als frey steigende zu betrachten seyn? Setzen wir einmal den im Laufe unseres Erdenlebens unmöglichen Fall, dafs keine Umgebung durch Sinnes-Eindrücke, kein im leiblichen Zustande wurzelnder Affect, keine fremde Bestimmung irgend einer Art sich in die Wirkung und Gegenwirkung der Vorstellungen einmischte: dann würden in der völlig isolirten Seele alle vorhandenen Vorstellungen allmählig mit einander ins Gleichgewicht treten; sie würden sich also gleichsam an- einander messen; und die allerstärksten, sammt deren Verbindungen, würden ihre Oberherrschaft gelten machen. So etwas kommt in unserm jetzigen Zustande nicht vor. Der leibliche Zustand und die Umgebung bereiten jedesmal eine bestimmte Beschränkung, vermögen deren grofse Massen und Klassen von Vorstellungen jetzt nicht frey steigen können. Hiemit fällt der Druck weg, welche eben diese, für jetzt ausgeschlossenen Vorstellungen würden ausüben können, wenn es auf ihre Stärke allein ankäme. Also setzt sich derjenige Vorrath von Vorstellungen, der für jetzt keine allgemeine Hemmung erleidet, in Bewegung, die aller- meisten, welche zu steigen gleichsam versuchen, gelangen unmerklich zu einem sehr niedrigen Maximum , weil die in ihnen selbst begründete Hemmungssumme sich schnell anhäuft, und sie sogleich wieder 'zurück- drängt. Dennoch haben sie durch ihr Gesammtwirken einen bedeutenden Einflufs auf den leiblichen Zustand, den sie noch mehr, als zuvor, für sich disponiren. Inzwischen geschieht etwas innerhalb der Umgebung; die einzelnen Objecte derselben, das was man gerade hört und sieht, sind mehr oder minder zudringlich, und in dieser Zudringlichkeit mehr

1 ,,zur völligen" statt „zu völliger" SW.

33- Briei. , - -

oder weniger flüchtig. Daraus entstehen vorübergehende partielle Hem- mungen innerhalb der allgemeinen dauernden Hemmungs-Sphäre der ganzen Umgebung; so werden manche Vorstellungen, die im Begriff waren zu steigen, auf der mechanischen Schwelle gehalten, (Sie wissen aus der Psychologie was das heifst). Allein nach kurzer Frist treten sie hervor, sammt ihrem Anhange, und in dem Rhythmus, welchen die Verschmelzungs- und Complications-Hülfen bestimmen.

Dies ist nur der Hintergrund für ein Gemälde, was wir jetzt zu ent- werfen haben; es kam fürs erste mir1 darauf an, zu bemerken, wie sehr relativ der Begriff der frey steigenden Vorstellungen ist. Denn die Stärke, welche als Bedingung der Freyheit mufs vorausgesetzt werden, ist nicht etwa die absolute, eigne Stärke, sondern das Verhältnifs, wodurch sie bestimmt wird, empfing eine vorläufige Begränzung durch die Um- gebung und den leiblichen Zustand, wodurch der Einflufs sehr vieler andern Vorstellungen entfernt wird. Daher gelingen Arbeiten im Studir- zimmer, welche nicht gedeihen im Gesellschafts-Saale: ja es giebt bekannt- lich Personen, denen Schlafrock und Tabackspfeife zu Hülfe kommen müssen, wenn sie wissenschaftlich denken sollen. Nicht ganz so arg machte es einer meiner Zöglinge, der sich in den Ferien an kubischen Gleichungen hatte üben sollen, und bey der Rückkehr bekannte, das sey wohl bey mir möglich, aber nicht im Vaterhause.

Für unsern Zweck, das appereipirende Merken zu beleuchten, müssen wir Gegenstände voraussetzen, die sich darbieten um bemerkt zu werden. Was heifst nun dies Bemerken? Da wir von der ursprünglichen Auf- merksamkeit — der Möglichkeit, dais unser Vorstellen einen Zuwachs erlange, ohne Rücksicht auf Apperception, hier nicht reden wollen, so bezeichnen wir mit dem Worte Bemerken die von innen vordringende Thätigkeit, durch welche dieser Gegenstand, der sich eben darbietet, vor- zugsweise vor andern, die sich auch darbieten, ergriffen wird, so dais die Auffassung desselben mehr Stärke und mehr Dauer erlangt, dafs der Gegenstand gerade als ein solcher und kein anderer betrachtet, und vielleicht, gelobt und getadelt wird, welches letztere sehr in der Nähe liegt, obgleich es auch fehlen kann. Dabey wird bekanntlich jede änderung und Bewegung, also jede Abweichung des Gegenstandes von sich selbst, mit besonderer Genauigkeit wahrgenommen ; auch Vergleichungen mit andern, ähnlichen, früher wahrgenommenen bleiben nicht aus. Ein solches Merken wird ferner sehr begünstigt durch vorgängige Ankündigung oder Beschreibung, wodurch dem Merken das Erwarten vorausgeschickt war. Das Alles verräth, dafs hiebey eine Reproduction älterer, gl. artiger Vorstellungen in Thätigkeit ist.

Diese Reproduction nun, wäre sie blos die in der Psychologie trachtete, von der Ihnen der Satz: sie geschehe Anfangs proportional dem Quadrate oder noch öfter dem Cubus der Zeit, erinnerlich seyn wird, möchte dem Begriff des scharfen Aufmerkens wenig genügen, wir auch in unsern Lehrstunden froh seyn müssen, wenn wenigs

i

4? 8 HI- Briefe über die Anwendung der Psychologie aut die Pädagogik (1831).

solches Merken unsern Vortrag begleitet, so schlägt doch das keine Funken, woran sich ein Licht entzünden könnte.

Sondern jene frey steigenden Vorstellungen sind es, an die wir uns wenden müssen. Zwar werden Sie fragen: warten denn die frey steigen- den Vorstellungen, bis sie reproducirt werden? Darauf antworte ich durch die schon geschehene Hinweisung auf die mechanischen Schwellen. Gar mancher Vorstellung ist das Steigen ganz nahe, und sie kommt doch nicht dazu, weil das Vorübergehende, was von aufsen oder selbst von innen her ins Bewufstseyn tritt, obgleich einzeln genommen unhaltbar, doch in einer so langen Reihe fortläuft, dafs die mechanische Schwelle sich scheinbar in eine statische verwandelt. Wofern aber jetzt der bekannte Gegenstand, dessen Vorstellung dem freyen Vortreten nahe war, neu ge- geben wird, so beginnt der Procefs des appercipirenden Merkens.

Er beginnt, indem die reproducirte, vielleicht gar schon durch vor- gängiges Erwarten theilweise ins Bewufstseyn gerufene Vorstellung nun vollends losschnellt, und, indem sie sich mit dem gleichartig Gegebenen vereinigt, dagegen das Ungleichartige kräftig zurückstöfst. Dieses Zurück- stofsen anderer, zugleich und ebenso stark dargebotener Anschauungen ist das Charakteristische des appercipirenden Merkens. Darin liegt das Heraus- heben, Losreifsen, Isoliren des Bemerkten aus seiner Sphäre, seiner Gesellschaft.

Von hieraus erklärt sich nun sogleich das scharfe Wahrnehmen der geringsten Veränderung, wenn der Gegenstand sich rührt, oder von seiner früheren Erscheinung abweicht. Es ist der Kampf der reproducirten Vorstellung mit derjenigen, die sich aus dem Gegebenen erzeugt.

Jedoch dies bedarf einer Erläuterung, indem wir zuerst darauf achten, wie der Erfahrung gemäfs das appercipirende Merken beschränkt ist. Der Herrschsüchtige und zugleich Eitle, berauscht von seiner Hoheit, sieht nicht die Zeichen der nahenden Gefahr. Der Schriftsteller zeigt manch- mal in Antikritiken, wie genau er die wenigen Worte des Lobes aus misfälligen Recensionen herauszufischen verstand, und unsre Zöglinge fassen die kleinsten Zeichen des Beyfalls, während der Tadel ihre Ohren kaum berührt. Eltern sehen Genies in ihren Söhnen; für die Fehler sind sie blind. Im Alterthum sah man gar die Bildsäulen der Götter mit den Augen winken und den Kopf schütteln. Solche Erschleichungen erlaubt sich das appercipirende Merken, um einseitige Beobachtungen zu ergänzen. Wenn nun dagegen der Empfindliche umgekehrt nicht den kleinsten Zweifel an seinem Werthe erträgt, der Grammatiker jeden un- gewöhnlichen Ausdruck rügt, der Hypochondrische sogar mitten unter Freunden allerley Stimmen hört, die ihn verspotten und beschimpfen: welcher Unterschied liegt in der Apperception ? Jedenfalls ein solcher, welcher verräth, dafs die appercipirende Vorstellung nicht einfach war; und dafs von ihrer Zusammensetzung, nebst den Verschmelzungen wor- auf diese Zusammensetzung beruht der ganze Erfolg abhängt. Zum wirklichen Beobachten gehört nicht blols die einfache Reproduction, sondern jene schon früher beschriebene Wölbung; (17) die wir jedoch hier noch etwas näher zu bestimmen Ursach haben. Denn die Gestalt des gleich- förmigen Gewölbes möchte wohl selten dem appercipirenden Merken ge- nau angemessen seyn; die mathematische Betrachtung hat uns auf einen

34- Brief.

schärferen Begriff geführt. Wir sahen, dafs die frey steigenden Vor- stellungen, in Folge ihrer Verschmelzung, dahin streben, sich auf bestimmte Weise zu gestalten. Nun begegnet dieser, im Innern erzeugten Gestaltung eine andre davon unabhängige, nämlich die der sinnlichen Wahrnehmung. Von dem Verhältnifse zwischen beyden hängt der Erfolg ab. Ist die innere Gestaltung übermächtig, so wird die Beobachtung einseitig, mangel- haft, oder geht gar in Erschleichung über. Bietet sich dagegen von innen her eine schon früher mannigfaltig begründete Übung, so oder anders zu gestalten, zur Anschauung dar, dann wird der äufsere Gegenstand als ein solcher und kein anderer, wie er gerade ist, wahrgenommen, unter- schieden, fixirt und eingeprägt. Hiebev ist die Vielseitigkeit des Be- obachtens wesentlich, welche darauf beruht, dafs nachdem eine Apper- ception geendet war, eine andre beginnt, die von andern Puncten des Gegenstandes ausgeht; wie wenn ein Knabe den ihm neuen Gegenstand von allen Seiten dreht und wendet, die Beweglichkeit desselben erforscht, ihn umher wirft und so fort. Das weiset ebenfalls auf eine frühere Reihen- bildung hin, vermöge deren zu der Vorderseite eine Kehrseite, zur Ober- fläche ein Inneres, zur vesten Stellung mancherley' mögliche Bewegung hinzugedacht und dabey vorausgesetzt wird. Der Knabe, wenn er solcher- gestalt Hände und Sinne braucht, thut wesentlich nichts Anderes als der Chemiker, der ein neues Gestein durch eine Reihe von Proben mit allen ihm als wirksam bekannten Reagentien herdurchführt. Der ganze Unterschied liegt hier in den appercipirenden Vorstellungs-Massen; da- gegen ist die Apperception ihrer Form nach die nämliche.

Und wie nun, wenn das schon rasch besprochene Hindemifs aus physiologischem Grunde sich auch hier einmischt? Dann haben wir Fälle, die sich dem Blödsinn nähern. Nur ist nicht jeder blöde Knabe blödsinnig, und nicht jeder Unwissende darum unfähig. Das mag uns erinnern, wie verschieden der Grund seyn kann, wo die gewünschte Apperception aus- bleibt. Den blöden Knaben drückt nur die neue Gesellschaft; hat er sich in ihr erst orientiert, so wird er in ihr nicht blofs appercipiren, sondern auch dem gemäfs sprechen und handeln. Der Unwissende wird fähig werden zum Appercipiren, sobald er gehörig lernt, und durchs Lernen sich die appercipirenden Vorstellungen anschafft.

34-

Sollten wir wohl jetzt einer psychologischen Erkenntnifs des Zu- Standes, worin gewöhnlich Zöglinge und Lehrlinge sich befinden, und hie- mit auch der Orientirung unter den vorkommenden Verschiedenheiten, auf der Spur sevn? Lassen sie uns versuchen!

Mit dem appercipirenden Merken ist allemal, so weit die Umstände es gestatten, ein äufseres Handeln verbunden. Sprechen, wo nicht Gründe der Zurückhaltung eintreten, ist das Mindeste; aber Laufen, Werfen, Her- beyhohlen, wohl auch Hohlen-Lassen, ja selbst Fangen und Schiefsen, ge- hört eben dahin; die ganze Freude an gymnastischer Übung desgleichen Auch das Vergnügen an der Bearbeitung irgend eines Stoffes beruhet der Wechselwirkung zwischen dem Beobachten des Werkes wie es wird, und dem Fortarbeiten gemäfs der innern Gestaltung, die sein Werden vorzeichnet.

460 III. Briefe über die Anwendung der Psychologie aut die Pädagogik (183 1).

Aber unsere Zöglinge realisiren nicht die ganze Weite dieses Be- griffs. Das "Werk und der Wirkende begränzen sich gegenseitig. Wo Einer sein Geschick spürt, da ist er geschäfftig, anderwärts desto unlustiger. Steckt den Jünglingen die Jagd im Kopf, oder den Knaben eine Dar- stellung von Taschenspielern und Seiltänzern, so ist sonst nicht viel mit ihnen anzufangen.

Und was wird aus den Lehrstunden? Hier glänzen die Knaben mit starkem Gedächtnifs. Was ist dies Gedächtnifs ?

Sie werden mir sogleich sagen: es ist auch eine Art von apper- cipirendem Merken. Was für eine Art denn? Durch frey steigende Vor- stellungen? Wie wäre das möglich bey Gegenständen, zu denen nicht schon sehr reife Vorkenntnisse mitgebracht wurden. Die Fälle, wo der Schüler mit Fragen entgegenkommt, sind die seltenern; wie könnte er das bey fremden Sprachen, bey Thatsachen, Jahreszahlen, selbst bey mathe- matischen Formeln? Diese letztern zeigen die Sache am klarsten. Der junge Mensch, dem ich heute einen neuen Lehrsatz beweise, ver- steht mich so vollständig, dafs man glauben könnte, er habe apper- cipirt durch frey steigende Vorstellungen; vielleicht gelingt es ihm sogar noch nach einigen Stunden, das Gelernte zu wiederhohlen; aber ist eine Woche dahin, so weifs er kaum noch, wovon die Rede war. Wo sind da frey steigende Vorstellungen ? Glücklich, wenn hie und da ein An- knüpfungspunct von solchem Werthe, etwa durch Beyspiele, konnte benutzt werden. Aber dasjenige, für den Unterricht so wichtige Arbeiten des Schülers, was man Memcriren nennt, und in dessen Leichtigkeit aller- meistens das glänzende Gedächtnifs seinen Sitz hat, läfst sich durch frey steigende Vorstellungen nicht erklären. Eher durch deren Abwesenheit; denn sie stören das Memoriren. Die meisten Menschen sind zu unruhig, um jener anderen Reproduction, die von der statischen Schwelle empor- steigt, Zeit zu lassen, damit schwache Vorstellungen in neue Verbindung vest eingefugt werden. Und doch besteht eben hierin das Memoriren. Der Lehrer oder das Buch sagen Worte vor, die man einzeln schon kannte, oder wenn nicht die ganzen Worte, so doch deren Bestand- theile, die einzelnen Sprachlaute. Diese an sich schwachen Vorstellungen werden nun in neue Verbindung eingeführt ; und die Verbindungen müssen haltbar genug seyn, uns sich später auf Erfodern unversehrt wieder darzubieten. Hier stellt das Bewufstseyn sich uns dar, gleich einer Ebene, auf der niedriges Kraut wächst; hohe Berge und tiefe Ströme dürfen nicht in der Nähe seyn, wofern nicht eine neue Energie, die willkührliche Aufmerksamkeit, von der wir bisher noch nicht redeten, zur Mitwirkung gelangt.

Das Memoriren erfodert gar nicht, dafs die einzelnen Vorstellungen hoch ins Bewufstseyn emporsteigen. Thäten sie dies: so würden sie eine desto l gröfsere Hemmungssumme bilden ; ja sich in Folge ihrer frühern Verbindungen seitwärts ausbreiten: nichts aber ist dem Memoriren nachtheiliger, als Nachgiebigkeit gegen den Zug der eignen Gedanken. Auch der Gegenstand mufs gleichgültig seyn, oder als solcher behandelt werden; die Gefühle, die er aufregen könnte, würden nur schaden. Nicht

1 ..desto" fehlt SW,

35- Brief. 46 1

zu schnell darf das, was memorirt werden soll, einander folgen; sonst hat die Reproduction, welche von innen entgegenkommen soll, nicht Zeit, sich zu erheben; nicht zu langsam darf es gegeben werden, sonst versinkt das Vorige zu tief, bevor das Folgende dazu kommt.

Wenn man die ans Wunderbare gränzenden Erzählungen lieset von Solchen, deren Gedächtnifs bis zur Virtuosität ausgebildet war: so wird man geneigt zu glauben, es sey dabey ein thätiges Mitwirken des Organis- mus im Spiele. Und worin müfste dies Mitwirken denn wohl bestehen? Lediglich im Vesthalten desjenigen Zustandes, welchen die Vorstellungen bewirken. So etwas läfst sich denken, ohne materialistische Thorheit. Das Wirken der Seele auf den Leib ist bekannt; unstreitig entspricht jeder Aufregung von Vorstellungen ein bestimmter Zustand des Gehirns oder der Nerven. Kann dieser durch irgend eine Anstrengung fixirt werden: so werden rückwärts die nur schwach reproducirten Vor- stellungen in dieser Stellung sich länger halten, und in längern Reihen verschmelzen, als der psychische Mechanismus, sich allein überlassen, es hätte leisten können. Umgekehrt, das geringste Hindernifs (etwa durch Aufregung des Gefäfssystems) was der Reproduction schadet, verdirbt un- fehlbar das Memoriren.

Erfahrungsmäfsig steht das Memoriren in gar keinem vesten Ver- hältnifs zur übrigen geistigen Fähigkeit: daher ist es einer der ersten Puncte, worauf die pädagogische Beobachtung sich richtet, wie bey den gegebenen Individuen jedesmal dies Verhältnifs beschaffen sey; also, wie lange Reihen ein Knabe auswendig behalten kann, wieviel Zeit er braucht, und wie bald er vergifst. Hiemit ist jedoch keineswegs das Ganze er- forscht, was man Gedächtnifs nennt; denn nicht alles mufs erst memorirt werden, um für immer gefafst zu seyn; es wäre schlimm, wenn Er- fahrung, Umgang, Uebung, Interesse, nicht kräftiger wirkten. Auch täuscht man sich durchaus, wenn man aus der Masse dessen was memorirt worden, solche Wirkungen erwartet, wie sie den Gegenständen entspriefsen könnten, falls das ihnen gebührende Interesse wach gewesen wäre. Wer kennt nicht Gelehrsamkeit ohne Geist und Geschmack? Dennoch läfst man sich immer von neuem durch den Glanz des memorirten Wissens blenden.

35-

Nun mein gütiger Freund! möchte ich mir fast Ihren Beyfall ver- sprechen für die Uebersicht, die Sie aus der Zusammenfassung des Vor- stehenden schon gewonnen haben, oder leicht gewinnen können.

Die Sonderung der frey steigenden Vorstellungen einerseits, der Re- production von der statischen Schwelle andrerseits, war der Stützpunct unserer Betrachtung. Wir verknüpften mit beydem 1 die Auffassung des Gegebenen. Dann fanden wir auf der einen Seite das appercipirende Merken mit doppelter Gestaltung, und meistens mit äufserem Handeln; auf der andern Seite aber das so eben besprochene Memoriren. Jenseits des Gegebenen endlich erblickten wir die Producte der Phantasie, gelagert in mancherley Formationen über einander, und getragen durch den Glauben.

1 „beiden" SW.

462 HL Briefe über die Anwendung der Psychologie aul die Pädagogik (183 1).

Vergleichen Sie nun damit den Gegensatz des Lebens und der Schule bey der Jugend, so werden Sie sehn, wie die verschiedenen Naturen einander gegenüber stehen. Gesunde, rüstige Knaben gehn allenfalls ohne Widerwillen zur Schule; jedoch lieber sind sie draufsen, jeder in der Sphäre seines appercipirenden Merkens und der davon abhängigen äufseren Thätigkeit. Ein Stoff wird ergriffen und geformt. Ballschlagen und Sol- datenspielen, Jagen, Reiten, Turnen, das belebt den Knaben; auch manchem Handwerker möchte er nachahmen, wäre die Arbeit nicht zu lang, und forderte sie nicht zu viel Ausdauer und Pünktlichkeit. Der Kreis dieses Merkens und Thuns ist oftmals eng, seltsam, jedenfalls be- schränkt; anhaltende Nöthigung, aus ihm heraus zu gehn, wird meistens peinlich empfunden. Aber die Schulstunde schlägt; die Schul -Arbeit drängt. Hier zeichnen sich zwey verschiedene Gattungen von Schülern vor der Menge aus; die, welche leicht memoriren, die andern, welche Nahrung finden für Phantasie und Glauben. Glücklich der Seltene, der beydes vereint.

Zweyerlei werden Sie nun sogleich vermissen: Reflexion und Gefühl. Vielleicht auch die willkührliche Aufmerksamkeit. Indessen errathen sie wohl, weshalb diese Gegenstände bis jetzt aufser der Sphäre meiner Be- trachtung blieben; deshalb nämlich, weil wir, als praktische Erzieher, schon längst gewarnt sind, ja nicht Zuviel zu fodern von dem, was der Reife des Erwachsenen wesentlich angehört. Die jugendlichen Knospen sind noch grün, noch unentwickelt, noch gar sehr den äufsern Einflüssen unter- worfen. Wenn der Erzieher das vergifst, wenn er nicht sehr sorgfältig sich auf die niedern Bildungsstufen zurück versetzt: wie will er es an- fangen, der Jugend die Hand zu reichen? Jedoch räume ich gern ein, dafs jene drey Puncte uns nothwendig noch beschäfftigen müssen; allein auch jetzt schon werden Sie den Hauptgedanken, der mich längst im Stillen beschäfftigte, nicht verkennen; die Frage nämlich: was wird wohl aus den Schulen ohne Sonderung der verschiedenen Naturen? Haben wir etwa eine pädagogische Universal-Methode, und können wir jemals hoffen, dafs eine solche sich finden lasse? Oder zeigen unsre psychologischen Untersuchungen so viele Puncte, wo vermöge unübersteiglicher Hinder- nisse eine genügende Bildung vereitelt, eine richtige verschoben wird, dafs wir Beobachtung der verschiedenen Naturen zur Grundlage aller prak- tischen Thätigkeit eines Erziehers machen müssen ?

Wenn aufs Sorgfältigste regelrecht bestimmt wird, wieviel ein Primaner, Secundaner, Tertianer, u. s. w. wissen müsse: glauben Sie, das stehe in irgend einem bestimmbaren Verhältnisse zu der im Vorhergehenden er- wähnten Verschiedenheit des Phantasirens, des appercipirenden Merkens, und des Memorirens, sammt dem, was weiter daraus hervorgeht ?. Aber freylich, war das Klassenziel der Tertianer bestimmt, so kann nun da- nach der Lehrer in Secunda seinen Lehrplan ordnen; daran ist nicht zu zweifeln. Und wenn das Abiturienten - Zeugnifs die Kenntnisse des Primaners genau bezeugt, so erfährt der akademische Lehrer, wessen er sich bey den Studirenden zu versehen hat! Wirklich? Ist etwa die Uni- versität eine höhere Schulklasse, und verbürgt das Memorirte wohl die Selbstthätigkeit des Studirenden? Soll es auch nur. so seyn?

Druck von Hermann Beyer & Sohne in Langensalza.

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