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JOH. FRIEDR. HERBART' s

SÄMTLICHE WERKE.

JOH. FR. HERBART'S

SÄMTLICHE WERKE.

IN CHRONOLOGISCHER REIHENFOLGE

HERAUSGEGEBEN

VON

KARL KEHRBACH.

ZEHNTER BAND.

LANGENSALZA

HERMANN BEYER & SÖHNE

(BEYER & MANN)

Herzogl. Sachs. Hofbüchhändler

1902

MICROFORi

PRI ER\ >N SERVICES

DATE N0V2 2 1990

Alle Rechte vorbehalten.

5

VORREDE

des Herausgebers zu den Schriften des zehnten Bandes.

Citierte Ausgaben :

B = J. F. HERBART'S Pädagogische Schriften, herausgegeben von Fr. Bar- THOLOMÄI, 6. Aufl. neu bearbeitet von E. von SaIXWÜRK. HR = Herbartisclie Reliquien, herausgegeben von Ziller KlSch = J. F. HERBART'S Kleinere Schriften, herausgegeben von G. HARTENSTEIN. = Originalausgabe. Göttingen. Dieterich. R = J. F. Herbart' - Pädagogische Schriften, herausgegeben von Karl Richter. SW = J. F. HERBART'S Sämn Werke, herausgegeben von G. HARTENSTEIN.

\V - |. F. Herbart'- Pädagogische Schriften, herausgegeben von OTTO WlLL- MANN.

I.

Ueber das Verhältnis des Idealismus zur Pädagogik 1831 1832.

(S. 1—20.)

Das Manuscript, das dem vorliegenden Abdrucke zu Grunde gelegen hat, trägt keine Ueberschrift. Diese ist erst von G. Hartenstein in Kl Seh und SW hinzugefügt worden und von da aus in die übrigen Ausgaben übergegangen.

Aus praktischen Gründen ist der von Hartenstein gewählte Titel beibehalten worden, obwohl jetzt feststeht, dafs Herbart „Fichtes pädagogische Ansichten" als Ueberschrift gesetzt haben würde.

Wir haben es in dem vorliegenden Aufsatze mit dem mehr- fach erwähnten „Sendschreiben an Brandts" zu thun, das Herbart angekündigt, aber nicht vollendet und abgeschickt hatte.

Dieses geht aus den neuerdings veröffentlichten ,, Ungedruckten Briefen von Joh. Fr. Herbart" hervor \ durch die einzelne Er- gänzungen und Berichtigungen in der Angelegenheit der Meta- physik-Rezension dargeboten werden (vgl. Vorrede zu Bd. VIII vorl. Ausgabe). Neues Material hierfür wird auch durch die neuer- dings von Dr. Th. Fritzsch veröffentlichten Briefe Herbart's an Drobisch dargeboten (Jahrb. d. Vereins f. wissenschaftl. Päda- gogik, 34. Jahrg., 1902, S. 226—278).

Herbart schreibt an Brandis in Bonn am 21. Nov. 1831 „Aber ich habe auch etwas geschrieben, und in der hiesigen Deutschen Gesellschaft vorgelesen; ein Sendschreiben an Sie über Fichte's pädagogische Ansichten". Vorher spricht er davon, dafs ein „junger Mann" (gemeint ist STRÜMPELL) die öffentliche Erwiderung auf Brandis' Rezension der Flerbart'schen Meta-

1 Mitgctheilt von Karl Georg Brandis, Pädagog. Blätter XXVII, Gotha, Thienemann. Es werden da 17 Briefe veröffentlicht, von denen 16 an Prof. Christian Ai'gust Brandis in Bonn, einer an den Prof. Dr. med. Nasse in Bonn gerichtet sind.

VIII Vorrede des Herausgebers zum X. Bande.

physik übernommen habe. (Vgl. Bd. VIII, S. IX vorl. Aus- gabe.)

Die Vorlage, das Manuscript 2072 der Königsberger Uni- versitätsbibliothek, besteht aus 43 Seiten und rührt von HekBART'S

Hand her.

Von den Aenderungen des Textes, die im vorliegenden Abdruck selbst nicht an- gegeben wurden, sind nachzutragen: S. K>. '/.. ~ v. u. fremder Vorfahre (mit SW) . . . statt fremder Vorfahrer 0. (Vgl. S. 17, 2. Absatz, ferner Bd. VIII, 411 Z. 6 v. o. und BRANDIS Ungedruckte Briefe, S. 313 (29. Aug. 183 1) wo „fremder Vorgänger" steht.) SW drucken S. 8, Z. 1 7 v. u. würde sich versuchen . . . statt . . . würde sie versuchen.

II.

Rede, gehalten am Geburtstage KANTS, 22. April 1832. (S. 21—28.)

Das Manuscript Nr. 2108 40 der Königsberger Bibliothek besteht aus 4 Bll. und rührt von Herbart's Hand her. In dem Texte der vorliegenden Ausgabe sind einige Stellen angeführt, die im ersten Abdrucke, in den von Ziller herausgegebenen Herbartischen Reliquien, fehlen (s. S. 36 u. 37). Die in den Herbart'schen Manuscripten vielfach sich vorfindenden mit Bleistift bewirkten redaktionellen Bemerkungen rühren theils von HARTEN- STEIN^ theils von Ziller's Hand her. Wahrscheinlich gilt das auch von den mit Bleistift ausgeführten Streichungen einzelner Textstellen. Ich habe solche Stellen meistens mit abgedruckt, unter dem Text aber auf die Abweichung von SW aufmerksam gemacht.

III. Rede, gehalten am Geburtstage Kants, 22. April 1833. (S. 29—38.)

Das Manuscript 2056 [9] der Königsberger Universitäts- bibliothek besteht aus 6 Blättern eines Convolutes, in dessen fort- laufender Paginierung es die Blätter-Ziffern 120—125 trägt.

Es verdient nachgetragen zu werden, dafs S. 36, Z. 14 v. o. die Stelle: „mich von der Kantischen Freiheitslehre. . .t: im Manuscript ursprünglich gelautet hat: „mich um Etwas von der Kantischen Freiheitslehre . . ." Die Worte „um Etwas" sind mit Bleistift durchstrichen, wahrscheinlich von Hartenstein.

S. 37, Z. 20 v. u. steht . . . „im engsten Sinne Kantianer"; im Manuscript stand ursprünglich „im strengsten Sinne Kantianer". Die Buchstaben „str" sind aber radiert

worden.

Wie aus den Anmerkungen zum Text des vorliegenden Abdruckes hervorgeht, hat

Hartenstein den Text nicht wortgetreu und vollständig dargeboten und es ist darum

wahrscheinlich, dafs die Bleistift-Streichungen von ihm herrühren.

Vorrede des Herausgebers zum X. Bande. IX

IV.

De principio logico exclusi medii inter contradictoria non

negligendo commentatio 1833. (S. 39 51.)

Mit dem vorstehenden Antrittsprogramm begann Herbart

die zweite Periode seiner Thätigkeit an der Universität Göttingen.

Verbessert wurde S. 42. Z. 23 v. o. : ,,auch ausgedrückt worden ist'' . . .statt . . . „ausgedruckt worden ist".

Von den Abweichungen in SW gegenüber dem Original wurden im vorliegenden Abdrucke nicht angemerkt, die in den Formeln mehrfach von Hartenstein gesperrten „non", so S. 46 (gegen die Mitte) non B = non-B; S. 49, Z. 2 v. o. und Z. 7 v. u. non B und non A; S. 50, Z. 18 v. o. non-B. Diese Abweichung vom Original war ganz unnöthig.

V. Oratio ad capessendam in Academia Georgia Augusta professionem philosophiae ordinariam habita 1833. (S. 53 64.) Das Manuscript 2055 der Königsberger Universitätsbibliothek von Herbart's Hand herrührend, besteht aus 18 Bll., 40. Bl. 16 bis 18 sind leer. Das Atanuscript ist an einer Anzahl von Stellen durchstrichen, theils mit Tinte, theils mit Bleistift. Hinsichtlich der Streichungen mit dem Bleistift glaube ich annehmen zu können, dafs sie von Hartenstein herrühren (s. oben Nr. II. u. III). Ich habe auf S. 64 daher die mit Bleistift durchstrichenen Schlufssätze hier abgedruckt. S. 55, Z. 3 des Textes „omnium ordinum". Diese Worte sind ergänzt worden. In der Handschrift waren sie nicht zu erkennen. Hartenstein hat den ganzen Ein- leitungssatz weggelassen.

Aufser den Aenderungen des Hartenstein'schen Textes, die im vorliegenden Drucke angegeben worden sind, seien noch folgende Abweichungen wohl nur Druckfehler) nach- getragen — S. 60, Z. 11 v. u. hat SW ea ipsa . . . statt ex ea ipsa S. 61, Z. 7 v. o. hat SW sive, ut argumentum („ut" mufs wegbleiben) S. 62, Z. 3 v. u. hat SW cite . . . statt . . . cito S. 63, Z. 4 v. o. SW druckt nostris . . . statt . . . nostri S. 63, Z. 11 v. u. hat SW die Wortstellung morum, reprehenderem , in qua. . . statt . . . morum, in qua .... reprehenderem.

VI.

Umriss pädagogischer Vorlesungen 1835 u. 1841. (S. 65—196).

Ueber den Zweck der Schrift giebt das Vorwort (S. 67) und

der § 44, (S. 82) Auskunft. Die allgemeine Pädagogik war vielen

Mißverständnissen ausgesetzt, denen Her baut in verschiedenen

seiner Schriften zu begegnen versuchte, in zusammenhängender

X Vorrede des Tierausgebers zum X. Bande.

Weise in dem Umrisse. In der analytischen Beleuchtung des Naturrechts stellt er das Verhältnis des Umrisses zur Allgemeinen Pädagogik so dar: Der Umrifs ergänzt die Allgemeine Pädagogik durch genaueres Eingehen auf die Altersstufen der Zöglinge, die Verschiedenheit der Lehrgegenstände und der Lehranstalten, die Mannigfaltigkeit der vorkommenden Fehler, welche zu bessern sind. Da die Leser des Umrisses genöthigt waren, die allgemeine Pädagogik, auf die Herbart vielfach verwies, zum besseren Ver- ständnis heranzuziehen, und daraus „manches Unbequeme" ent- stand, so stellte er das Werk in seiner zweiten Auflage ganz auf eigene Füfse. Er fügte hier als Anhang hinzu: einen Umrifs der allgemeinen Pädagogik (S. 136 196).

Verwiesen sei hier auf Herbart's Selbstanzeige des Werkes in seiner 1. Auflage in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen 1835, Stück 69.

Aufser den auf S. 65 citierten Ausgaben des Umrisses sind noch folgende Abdrucke zu verzeichnen:

1) In der Reclam'schen Universalbibliothek, Bändchen 2753 und 2754.

2) In der Bibliothek der Gesamtlitteratur des In- und Aus- landes, Nr. 1353— 1355. Halle a. S., Hendel. Kritisch durch- gesehene Ausgabe mit Einleitung und Anmerkungen von D. Hans Zimmer.

3) In Band II, S. 190—221 der bedeutendsten pädagogischen Schriften J. F. HERBART'S.

4) In Band X, S. 301 474 der Sammlung der bedeutendsten pädagogischen Schriften u. s. w., herausgegeben von Schulz, Gänsen, Keller. Paderborn, Schöningh. (Diese Ausgabe ist von J. J. Wolff bearbeitet.)

VII. Oeber die Subsumtion der Psychologie unter die ontologischen

Begriffe 1835. (S. 197 206.)

Diese nicht für den Buchhandel bestimmte Schrift verdankt ihre Entstehung einer Anzahl von Einwürfen, die gegen Herbart's metaphysische Begründung einiger Hauptbegriffe der Psychologie erhoben worden waren. Es handelt sich hier besonders um eine Wiederlegung von Strümpells Einwendungen. Allerdings kann es sich dabei nicht um Strümpells Schrift: Die Hauptpunkte

Vorrede des Herausgebers zum X. Bande. XI

der Herbart'schen Metaphysik kritisch beleuchtet. Braunschweig 1840, wie man nach HARTENSTEIN Kl Seh III, S. VII annehmen könnte, handeln, wohl aber ist STRÜMPELL in dieser Schrift auf denselben Gegenstand wieder zurückgekommen. Strümpell hatte seine Auffassung einzelner Probleme der Metaphysik, wie er mir mittheilte, Herbart schriftlich und mündlich dargelegt.

VIII.

Zur Lehre von der Freiheit des menschlichen Willens. Briefe an Prof. Griepenkerl 1836. (S. 207 313.)

Ueber die Veranlassung zu der Herausgabe dieser Schrift und über deren Form wird von Herbart im ersten Briefe (S. 218) das Nöthige mitgetheilt Zur Ergänzung hierzu kann herangezogen werden: Herbart's Rezension des Werkes von J. P. RoMANG über Willensfreiheit und Determinismus. Berlin 1835, verbunden mit Herbart's Selbstanzeige des vorliegenden Werkes in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen 1836, 7. Stück.

IX.

Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

(S. 315—460.)

Ueber Zweck und Charakter des Werkes giebt Herbart in der Vorrede (S. 317 ff.) die nöthigen Aufschlüsse. Man beachte besonders die Seiten 321—323. Weitere erläuternde Bemerkungen enthält auch die Herbart'sche Selbstanzeige. (Göttin gische Gelehrte Anzeigen, 1836, Stück i8q.)

„Obwol die analytische Beleuchtung u. s. w. an vielen Stellen, sehr wesentliche Erläuterungen der allgemeinen praktischen Philo- sophie darbietet, so setzt sie doch die Kenntnis der letzteren vor- aus und kann ohne diese kaum verstanden werden. Rücksichtlich der in ihr gewählten Form der Darstellung wird man einiges Gewicht darauf legen müssen, dafs sie, wie ihr Titel anzeigt, zum Gebrauch beim mündlichen Vortrag bestimmt war, dem es überlassen bleiben durfte, die fragmentarischen Umrisse derselben auszufüllen und zu einem Ganzen zu verknüpfen." SW VIII, S. XIII.

Ich habe im Anstehenden es unterlassen, den Text der citierten Herbart'schen Selbstanzeigen (zu Xo. VI, VIII und IX) ganz oder

XII Vorrede des Herausgebers zum X. Bande.

theilweise darzubieten, wie es in früheren Bänden der Fall war; ebensowenig habe ich, wie es im Vorwort zu No. i hätte ge- schehen können, den Wortlaut Herbart'scher Briefe mitgetheilt.

Der letzte Band der vorliegenden Herbart -Ausgabe wird eine möglichst vollständige Sammlung von Schriftstücken dieser Art enthalten.

Berlin, im Dezember 1902.

Prof. Dr. Karl Kehrbach.

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Inhalt des zehnten Bandes.

Seite

Vorrede des Herausgebers zu den Schriften des zehnten Bandes . . V XII

I. Ueber das Verhältnis des Idealismus zur Pädagogik. 1831 33. 1 20

II. Rede, gehalten am Geburtstage Kants, 23. April 183a .... 21 28

III. Rede, gehalten am Geburtstage Kants, 22. April 1833 .... 29 38

IV. De prineipio logico exclusi medii inter contradictoria non negligendo commentatio. 1833 39 51

V. Oratio ad capessendam in Academia Georgia Augusta pro-

fessionem philosophiae ordinariam habita. 1833 53 64

Oratio ad capessendam in Academia Georgia Augusta professionem philosophiae ordinariam die XXVI. Octobris MDCCCXXXIII

habita 55 64

VI. Umris3 pädagogischer Vorlesungen. 1835 u. 1841 ..... 65 206

Einleitung .... 69 70

Erster Abschnitt. Von der Begründung der Pädagogik . . 71 83 Erstes Kapitel. Von der Begründung durch die praktische Philo- sophie 71 73

Zweytes Capitel. Von der psychologischen Begründung . . . 73 83 Zweyter Abschnitt. Uebersicht der allgemeinen Pädagogik

nach den Altern 83 93

Erstes Capitel. Von den ersten drey Jahren 83 84

Zweytes Capitel. Vom vierten bis achten Jahre 84 88

Drittes Capitel. Knabenalter 88 92

Viertes Capitel. Jünglingsalter 92 93

Dritter Abschnitt. Pädagogische Bemerkungen zur Behand- lung besonderer Lehrgegenstände 93 119

Erstes Capitel. Zum Religionsunterricht 93 95

Zweytes Capitel. Geschichte 95 10 1

Drittes Capitel. Mathematik und Naturlehre 10 1 108

Viertes Capitel. Geographie 108 110

Fünftes Capitel. Unterricht im Deutschen 110 112

Sechstes Capitel. Griechische und lateinische Sprache . . . 112 117

Siebentes Capitel. Von nähern Bestimmungen 117 119

Vierter Abschnitt. Von den B'ehlern der Zöglinge; und von

deren Behandlung 119 131

Erstes Capitel. Vom Unterschiede der Fehler im Allgemeinen 119 123

Zweytes Capitel. Von den Quellen der Unsittlichkeit . . . 124 127

Drittes Capitel. Von den Wirkungen der Zucht 127 129

Viertes Capitel. Von einzelnen Fehlern 129 131

Fünfter Abschnitt. Vom Veranstalten der Erziehung . . . 131 133

Erstes Capitel. Von der häuslichen Erziehung 131 133

Zweytes Capitel. Von Schulen 133 135

Anhang. Zweyter Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik 136 196

Erster Abschnitt. Regierung der Kinder 136 140

Erstes Capitel. Anordnung 136 137

Zweytes Capitel. Ausführung 137 14°

XI Y Inhalt des zehnten Bandes.

Seite

Zweyter Abschnitt. Unterricht 140— 176

Erstes Capitel. Vom Verhältnisse des Unterrichts zur Regierung

und Zucht 140 142

Zweytes Capitel. Zweck des Unterrichts 142 143

Drittes Capitel. Bedingungen der Vielseitigkeit 143 [45

Viertes Capitel. Bedingungen des Interesse 145 152

Fünftes Capitel. Ilauptklassen des Interesse ...... 152 158

Sechstes Capitel. Verschiedene Gesichtspunkte in Ansehung der

(ii^enstände des Unterrichts 158 ib2

Siebentes Capitel. Gang des Unterrichts 162 174

Achtes Capitel. Vom Lehrplan im Allgemeinen 174 176

Dritter Abschnitt. Zucht 176 196

Erstes Capitel. Vom Verhältniss der Zucht zur Regierung und

zum Unterricht 176 177

Zweytes Capitel. Zweck der Zucht 177 178

Drittes Capitel. Unterschiede im Charakter 178 179

Viertes Capitel. Unterschiede im Sittlichen 180

Fünftes Capitel. Hülfsmittel der Zucht 181 183

Sechstes Capitel. Verfahren der Zucht im Allgemeinen . . . 183 196 VII. Ueber die Subsumtion der Psychologie unter die ontologischen

Begriffe. 1835 197 200

Vorerinnerung 199 200

Erstes Capitel. Beleuchtung von der ontologischen Seite . . 200 201

Zweytes Capitel. Beleuchtung von der psychologischen Seite . 201 203

Drittes Capitel. Annäherung der Ontologie an die Psychologie 203 206

VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. i8jö 207 313

Erster Brief 218 227

Zweyter Briet 227 236

Dritter Brief 236 245

Vierter Brief 243 255

Fünfter Brief 255 201

Sechster Brief 261 278

Siebenter Brief 278 290

Achter Brief 290 305

Neunter Brief 305 313

IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836. 315 460

Einleitung 325—341

A. Historische Vorbereitung 325 332

B. Erste Uebersicht des Naturrechts und der Moral 332 341

Erster Abschnitt. Von der Begründung der praktischen

Philosophie 341 356

Erstes Capitel. Von der Begründung nach spinozistischer Richtung 341—347 Zweites Capitel. Von der Begründung der praktischen Philo- sophie nach Kant und Fichte 347 356

Zweyter Abschnitt. Analytische Beleuchtung des Naturrechts 356 400

Erstes Capitel. Von der ältesten Gestaltung des Naturrechts . 356 370 Zweytes Capitel. Von der Gestaltung des Naturrechts in der

; Kantischen Periode 370 400

Dritter Abschnitt. Analytische Beleuchtung der Moral . . 400—460

Erstes Capitel. Vom Umrisse der Moral 400 410

Zweytes Capitel. Von den einzelnen Hauptpuncten der Moral 410 439

Drittes Capitel. Von der teleologischen Richtung der Moral . 439 460

I.

UEBER DAS

VERHAELTNIS des IDEALISMUS

ZUR

PAEDAGOGIK.

[1831/34

[Text nach dem Msc. 2072 der Königsberger Universitätsbibliothek (O).]

Bereits gedruckt in:

S\V = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. XI, S. 319—342), herausgegeben von G. Hartenstein. KlSch = J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. II, S. 695 720), herausgegeben von G. Hartenstein.

B = J. F. Herbart's Pädagogische Schriften, herausgegeben von Fr. Bar- tholomäi, 6. Aufl. neu bearbeitet von E. von Sallwürk (Bd. II, S. 319 bis 341 ').

R = J. F. Herbart's Pädagogische Schriften, herausgegeben von Karl Richter (II, S. 125—144).

W = j. F. Herbart's Pädagogische Schriften, herausgegeben von Otto Will- mann- (II, S. 199—222).

Herbart's Werke. X. l

Theorien, wahr oder falsch, haben zwar wohl niemals ihren Ur- hebern bedeutenden Einflufs nach eigner Wahl geschaftt; denn bey ihrem ersten Hervortreten sind sie in der Regel unwillkommen. Aber später finden sie ihre Zeit, um sich in wirksame Kräfte zu verwandeln; wenn auch weit entfernt von der Absicht, aus der sie hervorgingen. Vieles, was ehedem unfruchtbare Speculation hiefs, gewann allmählig die Meinung für sich, und aus dem Schoofse der Meinungen entspringt das Handeln.

Man hat den Idealismus verlacht, den Spinozismus gescheut; aber jenes Lachen und diese Scheu sind zusammen in ernste und weit ver- breitete Betrachtung übergegangen. Fichte, der Idealist, fand selbst für pädagogische Pläne aufmerksames Gehör, als er politisches Heil für Deutschland in einer neuen National-Erziehung suchte.

Doch hier mag man mit Recht erstaunen. Kann aus idealistischen Grundsätzen eine pädagogische Theorie herfiiefsen? Zwar sucht sich jeder gute Erzieher in den Geist und in das Gemüth seines Zöglings hinein- zuversetzen; ja ein jeder Lehrer, [2] während er auf das didicisse fideliter artes rechnet, stöfst bey dem mindesten Nachdenken auf die Frage, wie denn wohl diejenigen Vorstellungsmassen, welche er durch seinen Unter- richt dem Zöglinge beybringt, es anfangen mögen, bis in die Sitten, bis in den Willen bis in das Ich des Zöglings einzuwirken? Unter welchen Be- dingungen dieser geforderte Erfolg eintreten oder ausbleiben werde? Eine

OD D O

psychologische Theorie darüber ist ihm Bedürfnifs, wofern er nicht seinem Unterricht eine ihm selbst unbegreifliche Zauberkraft zumuthet. Aber eine idealistische? Nach dieser wäre ihm sein x Zögling nur eine Er- scheinung. Oder wenn über solches Bedenken die Theorie ihn wirklich hinwegsetzen könnte, so wären wenigstens die Bücher, die Bilder, die Charten, die sämmtlichen Lehrmittel und das ganze Verfahren beim Unter- richt, nur Erscheinungen. Wer dem Idealismus etwas einräumt, ja wer ihm nur die geringste Aufmerksamkeit gönnt, der sollte doch diese Frage- puncte nicht leichtsinnig beseitigen; er hätte wenigstens Ursache in Fichtes Schriften diejenige, wenn auch mangelhafte, Auskunft aufzusuchen, die sich hierüber etwa darbietet.

[3] Es findet sich nun eine solche Auskunft gerade in demjenigen Buche, welches von allem, was Fichte geschrieben, wohl den gröfsten Kreis von Lesern dürfte angesprochen haben.

Fichtes „Reden an die deutsche Nation" waren das Erzeugnifs einer Zeit, die glücklicherweise längst vorüber ist: allein ihre oratorische Kraft, und noch mehr das Andenken an den Mann, der im Augenblicke

1 S\V ein Zögling.

I. Über das Verhältnis des Idealismus zur Pädagogik. [1831/32.]

der Gefahr so zu reden wagte, sichern ihnen eine lange Dauer. Was ihren philosophischen Gehalt betrifft, so bedarf es dessen nicht, um Fichtes Lehren dem heutigen Zeitalter gegenwärtig zu erhalten; der grofse Denker hat sich in wichtigeren Werken verewigt. In pädagogischer Hinsicht kann man ganz andrer Meinung seyn, ohne darum das Bedürfnifs des Wider- Sprechens zu empfinden, denn Vorschläge, die von der Ausführung weit entfernt stehn, können auf keine Weise Besorgnifs einflöfsen. Fichtes Reden sind aber im nachstehenden Briefe als ein willkommener Stoff zu einer Unterhaltung benutzt, die leicht polemisch hätte werden können, und es doch nicht werden sollte. Denn eine Recension in der Hallischen Literaturzeitung,* welche [4] von denen, die sich für Metaphysik in- teressiren, ohne Zweifel als ausgezeichnet ist anerkannt worden, sollte nicht sowohl widerlegt, als vielmehr durch ein Zeichen der Aufmerksamkeit ver- dankt werden. Dafs nun ein offener Brief keine förmliche Abhandlung enthält, wird um so leichter Entschuldigung finden, weil das Wesentliche des Inhalts nicht sowohl auf der Pädagogik, als auf der Erinnerung an Fichten und an seine Lehre beruht; welche bekanntlich vom Ich aus- ging und jederzeit von neuem in Betracht kommt, so oft sich über diesen wichtigen Punct eine Differenz der Meinungen erhebt. Die denkenden Pädagogen werden übrigens wohl darin übereinstimmen, dafs, wenn auch Fichte sich niemals über Erziehung geäufsert hätte, doch seine Unter- suchungen des Selbstbewufstseyns ihnen nicht gleichgültig sey; schon des- halb, weil der Egoismus als eine Ausartung desselben zu betrachten ist, deren Verhütung gewifs jedem praktischen Erzieher am Herzen liegen mufs. !Der Anfang des Briefes ist weggelassen; er würde nur ein persön- liches Interesse haben.

Allmählig, mein verehrter Freund ! fange ich an zu glauben, dafs ich meinen Hauptzweck erreicht habe. Dieser bestand, wie Sie wissen, darin, dem philosophischen Untersuchungs-Geiste neue Nahrung darzubieten. Die stagnirenden Wasser mufsten in Bewegung kommen. Wird das erreicht ° was schadet die Beschuldigung, ich könne nicht begreifen, was ich längst nur zu gut begriffen habe, um es mir gefallen zu lassen ? Die Manier, wie man mich angreift, wird sichtbar um Vieles verständiger, als in früheren Jahren, und es läfst sich hoffen, dafs die Angreifer gelegentlich selbst etwas lernen werden. Alles Weitere kann man der Zeit überlassen.

Ihre Opposition gegen meine Metaphysik ist unstreitig die würdigste und durchdachteste, die ich bis jetzt gefunden habe; obgleich nicht frey von Misverständnissen. Ihrem scharfen historischen Blicke können diese r nicht lange verborgen bleiben; ich beschränke mich daher, um Ihnen so- gleich das eigentliche Thema dieses Briefes anzuzeigen, auf die einfache Bemerkung, dafs jeder Angriff, wobey das Ich als ein Reales vorausgesetzt wird, gegen mich eine petitio principii ist. Und Sie, mein [6] Verehrtester, werden sich gewifs nicht mit der völlig undankbaren Mühe plagen wollen,

* Es handelt sich um eine Recension von Chr. A. Brand is über Herbart'S Allgem. Metaphysik Bd. II. (H. Lz. 1831, August Nr. 141 145.)

1 Der folgende Abschnitt bis S— Z— „Der Anfang des Briefes Zeit vor- über ist" fehlt in SW.

I. Über das Verhältnis des Idealismus zur Pädagogik. [183 1 32.]

mich zum Idealismus zurück zu bekehren; Sie könnten höchstens auf Augenblicke vergessen, dafs ich der entschiedenste Realist bin, den es geben mag. Oder würde etwa der Mathematiker, welcher Kräfte zerlegt und zusammensetzt, Ihnen darum Idealist heifsen, weil er wohl weifs, dals solche Zerlegungen und Zusammensetzungen lediglich seine, im Allgemeinen zufälligen, für jeden vorkommenden Fall aber zur Erklärung des Phänomens notwendigen Ansichten sind?

Nicht die Ansicht macht den Idealisten, sondern die Meinung von dem Gegenstande, dessen Ansicht man ausbildet. Der Mathematiker hegt die Meinung, jede von ihm zerlegte Kraft sey in der Wirklichkeit nur Eine; wenn Sie ihm aber diese Wirklichkeit bestreiten, so wird er sich abwenden, und mit solchen Zweifeln nichts zu schaffen haben wollen. Eben so, mein teurer Freund bin ich es müde, von Dingen reden zu hören, die nur für das Ich, nur in Gedanken vorhanden seyen; wofern nicht die Beziehung der Gedankendinge auf die realen Elemente, welche unabhängig von uns waren und seyn werden, klar vor Augen liegt. Der Idealismus hatte seine Periode; er hat Zeit genug gehabt, sich zu ver- suchen, sich der Welt anzupassen; ja sich wo möglich, berichtigen zu lassen. [7] Offen gesagt, mein verehrter Freund, vom eigentlichen Disputiren mit Ihnen schreckt mich Ihre anscheinende Neigung ab, eine Zeitphilosophie zu behalten, deren rechte Zeit vorüber ist.

Damals, als Kant selbst und mit ihm die Kantianer, jeden philo- sophischen Gegenstand nach der Kategorientafel abhandelten, mochte nun von Naturphilosophie, oder von Ästhetik, oder von Naturrecht, oder wovon immer sonst die Rede seyn, damals war die Zeit der Kate- gorien. Heute zu Tage findet man dergleichen Abhandlungen pedantisch. Wahre Gründlichkeit wird jedoch nie pedantisch. Wäre hier wahre Gründlichkeit zu finden gewesen, sie hätte längst ihr Recht überall geltend gemacht. Das nämliche ist von allen den andern Formularen zu sagen, die man den Gegenständen hat aufdringen wollen. Wie nach den Kate- gorien, als vermeintlichen Urgesetzen unseres gesammten Denkens, ent- weder Alles oder Nichts mufste abgehandelt werden; so zeigt sich bey jeder Methode, die auf Allgemeinheit Anspruch macht, ihre Falschheit in den einzelnen Wissenschaften, die fortwährend einen anderen als den vor- gezeichneten Gang gehen. Anstatt aber dieses Misgeschick zu beachten, halten die philosophischen Schulen die alten Formeln vest, weil sie eben nichts Besseres wissen. In ihnen sieht es aus wie in den Cabinetten alter Physiker, wo sich ein unnützer Apparat anhäuft, den Niemand braucht, weil er nicht leistet, was gefordert wird. [8] Wollen Sie solchen Apparat behalten? Aber, wenden Sie ein, das Ich samt den Thatsachen des Be- wufstseyns, veraltet niemals. Gewifs nicht! Darum beschäftigt in der That das Ich nicht blofs Fichten, sondern auch Sie und mich. Aber wer seinen Untersuchungen den Stempel der Zeit durch die Art der Be- handlung aufdrückt, der giebt sie dem Wechsel Preis. Als Kant den menschlichen Verstand in Kategorien für die Sinnenwelt einsperrte, und der theoretischen Vernunft ihre Dialektik verwies : damals gab er sich dem Eindruck hin, welchen die mechanische Physik durch ihr Übergewicht machte; Chemie und Physiologie waren noch nicht, was sie heute sind.

I. Über das Verhältnis des Idealismus zur Pädagogik. [1831/32.]

Jetzt aber ist das Leben zum Thema des Tages geworden; es zeigt uns das Mittelglied zwischen dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen. Wer jetzt noch Attraction und Repulsion als blolse Raumbestimmung für sinn- liche Erscheinung behandelt, der hat von lebender Materie sicher keinen Begriff"; ja nicht einmal von chemischer Verwandtschaft. Wir sind jetzt "enötigt, uns in das Innere der Elemente, in ihre wechselnden inneren

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Zustände hineinzudenken; es hilft uns nichts mehr,1 der Materie eine all- gemeine Attraction und Repulsion ohne inneren Grund beyzulegen. Und als Fichte seine Wissenschafts- [9] Lehre entwarf, doch hier mufs ich ausführlicher werden. Wir müssen den Mann, an welchen Sie durch Er- wähnung des Ich so oft erinnern, genauer betrachten, 2 sollten wir auch da- durch von Ihrer Recension weit abkommen.

Welches war die theologische Stimmung der Zeit, als Fichte mit seiner Kritik aller Offenbarung auftrat? 3Sie wissen es. Welches war die politische Stimmung der Zeit, als gleich darauf der nämliche Mann die französische Revolution beurtheilte? 4Sie wissen es. Man wollte auf- klären; und man nahm dies Wort im ausgedehntesten Sinne. In der nämlichen Zeit in wenigen Jahren, entstand die Wissenschaftslehre. Kurz darauf folgten Naturrecht und Sittenlehre. Glauben Sie wirklich, derjenige, der sich so ganz und gar in praktische Interessen vertieft zeigt, habe mitten im Sturm die speculative Ruhe besessen, welche die Behand- lung eines metaphysischen Problems erfordert? Hat er diese Ruhe etwa späterhin gewonnen? Der Vorwurf des Atheismus verwundete ihn, wie natürlich, im Innersten. Die Hoffnungen des Enthusiasmus, welchen die französische Revolution erregt hatte, verschwanden bis zur äufsersten Er- niedrigung Deutschlands. Und Fichte verlor sich nun bis in die düstern Phantasien von einer allgemeinen Sündhaftigkeit der Zeit. Das Asyl der Mathematik und Naturwissenschaft [10] was jeden Denker zur Ruhe ein- ladet, war ihm verschlossen. Aber die Neigung aus allgemeinen Begriffen zu construieren, ohne um genaue Auffassung der Thatsachen besorgt zu seyn, leuchtet aus allen seinen Schriften hervor. Die Gewalt, welche er in sein Denken legte, sollte ihm, dem Idealisten, die Gültigkeit der Be- griffe verbürgen. Dafs ein solcher Mann etwas Grofses leistete, war

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natürlich; ob aber dies Grofse näher der Wahrheit, oder näher der Dich- tung stand und stehen mufste, das bitte ich zu überlegen. Jeder grofse Dichter findet Nachahmer; und Fichte hat die seinigen gefunden. Aber jede Dichterschule blühet eine Zeitlang; dann wird sie matt und bald stirbt sie aus. Das erste Zeichen der Ermattung pflegt Schwulst zu seyn. _5Ob das zutrifft, bitte ich abermals zu überlegen. Die Zeit, mein theurer Freund6 wird Geständnisse erzwingen, an die schon längst die Schulen gemahnt werden von der umgebenden Welt; und welche um desto trauriger lauten werden, je länger sich der Stolz dagegen sträubt.

1 ,, nicht mehr" S\V , .nichts mehr" O.

2 Die folgenden Worte: „sollten .... abkommen" fehlen in SW.

3 Der Satz: „Sie wissen es" fehlt in SW.

4 ,,Sie wissen es" fehlt in SW.

6 Der folgende Satz fehlt in SW.

6 „mein theurer Freund" fehlt in SW.

I. Über das Verhältnis des Idealismus zur Pädagogik. [1831/32.] y

Zufällig fand ich mich neulich vcranlafst, Fichtes Reden an die deutsche Nation wieder aufzuschlagen. Gern verweile ich [11] hier bey dem eigent- lichen Glanzpuncte seines Lebens. Seine moralische Energie, das Lebens- princip seiner Lehre, taugte besser fürs Handeln mitten in grofser Gefahr, als für irgend eine Theorie. Und im Jahre 1808 hatte er die Gelegenheit, sich zu bewähren; denn sein freymüthiges Lehren war jetzt ein Handeln. Er sprach Worte zur rechten Zeit, jedoch die Zeit bestimmte auch hier seine Gedanken. Pestalozzi blühete, und Fichte, weder in Hoffnungen noch in Befürchtungen den wahren Erfolg voraussehend, ward auf einmal zum Pädagogen. Gewifs eine schwere Metamorphose für den Idealisten!

Das Erste, was er nun vorbrachte, waren Äufserungen des voll- kommensten Determinismus; eben so übertrieben als seine Freyheitslehre. Die neue Erziehung, im Gegensatze der alten, müsse die wirkliche Lebens- regung und Bewegung ihrer Zöglinge, nach Regeln sicher und unfehlbar bilden und bestimmen. Im Rechnen auf einen freyen Willen des Zög- lings liege der erste Irrthum der bisherigen Erziehung, das deutliche Bekenntnifs ihrer Ohnmacht und Nichtigkeit. Denn sie bekenne, den Willen, und hiermit die eigentliche Grundwurzel des Menschen, nicht bilden zu können, sondern dies für unmöglich zu halten. Dagegen werde die neue Erziehung gerade darin bestehen müssen, dafs sie auf dem Boden, dessen Bearbeitung sie übernehme, die Freyheit des Willens gänzlich vernichte, und strenge Nothwendigkeit der Entschliefsungen an die Stelle setze. Sie finden diese merkwürdigen Behauptungen gleich im Anfange der zweyten Rede.

[12] Zwey ganz verschiedene Betrachtungen dringen sich hier zu- gleich auf; die 'eine des Moralisten, die andere des praktischen Erziehers. Jene setzt voraus, es sey geleistet was gefordert werde; und fragt alsdann ob eine solche rein determinirte Sittlichkeit des Zöglings irgend einen Werth habe? Der praktische Erzieher hingegen, dem seine wirklichen Sorgen zur Grübeley keine Zeit lassen, und der in den zahllosen Äufserungen bald der Unbesonnenheit, bald der Verschlagenheit, bald der Lüsternheit die wahre Unfreiheyt seines Zöglings fortwährend vor Augen sieht, überläfst recht gern Fichten die Beantwortung jener moralischen Frage, er würde das Geforderte gern leisten, wenn er nur könnte. Aber der unfreye Wille seines Zöglings ist nichtsdestoweniger ein Wille; ein wirk- lich selbstthätiger, eigener Wille; der bald unbeugsam sich der Besserung widersetzt, bald schlau sich verbirgt, bald nach kurzer Rührung ohne wesentliche Veränderung nach alter gewohnter Weise wieder zum Vor- schein kommt. Alle diese Wahrnehmungen sind jedoch weit entfernt, dem praktischen Erzieher das Bekenntnifs abzupressen: er vermöge gar- nichts über den Willen des Zöglings; denn es giebt nicht blofs Einen Zögling, sondern viele und verschiedene; und an diesen Vielen giebt es viele, sehr verschiedene Erfahrungen, die nirgends durch veste Gränzen von einander gesondert sind.

[13] Auf dem rein praktischen Standpuncte noch einen Augenblick ver- weilend, wollen wir nun vor allen Dingen bey Fichten uns erkundigen, welches grofse Mittel er denn erfunden habe, um die neue, viel versprechende, ja geradezu die Welt verbessernde Erziehung an die Stelle der alten zu setzen?

8 I. Über das Verhältnis des Idealismus zur Pädagogik. [1831/32.]

Die Antwort ist 1 Ihnen ohne Zweifel erinnerlich; er wollte gänzliche Absonderung der Jugend von den Erwachsenen; und ein für sich selbst bestehendes Gcmcinivescn der Zöglinge, das seine genau bestimmte, in der Natur der Dinge gegründete, und von der Vernunft durchaus geforderte Verfassung h$be. Kein Wunder! Wer von der Politik getrieben, die Pä- dagogik als ein Hilfsmittel benutzen will, der schaut stets zur Politik zu- rück. Wird denn auch der praktische Erzieher, welchen die Aufgabe seines Thuns unmittelbar durch den Blick auf den Zögling klar wird, jene hohen Ansichten zu den seinigen machen können?

Nichts in der Welt erschwert so sehr die eigentlich moralische Er- ziehung, als Anhäufung vieler Kinder auf einem Puncte. Die unmittel- bare Folge davon ist ein geselliger Geist, der sich unter ihnen mit möglichster Ausschliefsung der Erzieher bildet, welche als Fremde betrachtet, beobachtet, beurtheilt, und nach Möglichkeit umgangen werden. Das offenste Kind vertraut sich doch dem Gespielen lieber als dem Lehrer; wo aber vollends eine Menge gegenübersteht ihrem Lenker, da berathschlagt sie allemal unter sich [14] es sey denn, dafs man durch militärischen Zwang sie in eine Armee verwandele. Jeder Director einer Lehranstalt kennt die Schwierigkeiten der Disciplin; wie weit aber ist noch von der guten Disciplin bis zum sichern Einwirken auf das inwendige, sittliche oder unsittliche Wollen der einzelnen Zöglinge! Den Schulen helfen überdies die Familien nach; aber wo das Band der Anhänglichkeit an Vater und Mutter aufgelöset ist, da gerade erfährt der praktische Erzieher seine Ohnmacht. Mit abstracten Begriffen regiert man keinen Knaben. Warum sollte ich nicht? fragt der unbesonnene Jüngling, den man bey leichtsinnigen Äufserungen warnt. Die Bedeutung seines Thuns, wenn es dereinst in gröfsere Weltverhältnisse übergeht, begreift er nicht; er will sich versuchen! Und in der That, versuchen würde sich jene FiCHTEsche Gemeinschaft der angehäuften Jugend ; alle mögliche Verkehrtheiten würde sie versuchen, durch welche jemals irgend eine Gesellschaft roher Menschen herdurch- gegangen ist, wenn nicht ein heilsamer Zwang von aufsen hinzukäme, dessen Heil jedoch zunächst nur in äufserer Ordnung besteht, und die Gemüther zwar bändigt, aber zugleich verschliefst. Wo bliebe da die sichere Bildung des Willens? Der beste Fall wäre eintönige Gutmüthigkeit durch gleichförmige Gewöhnung.

[15] Fichtes Vorschlag ist daher nicht blofs chimärisch, wegen der Unausführbarkeit, sondern er ist geradezu das Gegentheil dessen, worauf seine eigene Forderung ihn führen mufste; und geführt hätte, nach Be- seitigung der politischen Rücksichten und Wünsche. Die eigentlich mo- ralische Erziehung geht nie sicherer, als da, wo Vater und Mutter nur ein einziges Kind haben, auf das sie gemeinschaftlich dergestalt wirken, dafs sie ihm die nächsten sind und lange Zeit bleiben; mit allmähligem Zulassen andrer Gesellschaft, die sie nöthigenfalls wieder entfernen können. Bekommt aber das natürliche Bedürfnifs, Jemanden zu haben, 'Jdem man sich frey äufsern und hingeben könne, einen andern Ausweg als zu Eltern

1 Das Folgende ,, Ihnen ohne Zweifel erinnerlich'' fehlt in SW.

2 Das Folgende: „dem man sich .... hingeben könne" fehlt in SW.

I. Über das Verhältnis des Idealismus zur Pädagogik. [1831/32.] g

und Erziehern : dann ist sogleich jene Sicherheit verloren, aus der Fichte sogar Unfehlbarkeit machen wollte. Und dies ist ein starker Grund, warum der erfahrene Erzieher niemals von Unfehlbarkeit zu reden wagen wird.

An ein praktisches Interesse ist daher bey Fichtes pädagogischen Vorschlügen nicht zu denken; wenn wir nicht etwa noch heute zum Ge- deihen des Staats nothwendig erachten, dafs man die Kinder den Eltern entreifse. Aber xfür uns beyde, mein verehrter Freund! behält alles, was von Fichten kam, sein theoretisches Interesse, 2und es war ja die Meta- physik, die uns zu ihm führte. [16] Lassen wir daher alles bey Seite, was sich für eine öffentliche Erziehung, (die jedes Individuum nach seiner Art zu witzigen und weltklug zu machen pflegt,) sagen läfst, und was mit o-rofsen und leicht erklärlichen Übertreibungen der Weltverbesserer oft genug ist gesagt worden. Die grofsen Pläne, welche man freylich nicht auf Privat- erziehung bauen kann, werden, ohne dafs ich es zu hindern vermag, die wahren Grundsätze der Pädagogik noch lange in Schatten stellen; allein das macht mir für jetzt keine Sorge. 3Sie, mein verehrter Freund! sind der Gegen- stand, den ich im Auge habe. Mit Ihnen wollte ich nicht disputiren; aber mit Ihnen unterhalte ich mich, um Ihnen wenigstens soviel abzugewinnen, dafs Sie klärlich einsehen mögen, wie fremd mir der Idealismus ist.

Gemildert war bekanntlich auch bei Fichten der Idealismus durch die Annahme andrer Vernunftwesen, aufser dem eignen Ich; jedoch mit dem Beding, dafs Alle in Urwesen verknüpft und im Grunde Eins seyen. Für die Natur aber fand sich bei ihm keine Gnade. Mit finsterm Ernste, als ob frühere Schriften denselben noch nicht genugsam verkündet hätten, wiederholt er in seinen Reden: „Der Wahn, dafs in die Natur Gottes Wesen auf irgend eine Weise unmittelbar, und anders, als durch Zwischen- glieder vermittelt [17] eintrete, stammt aus Finsternifs im Geiste, und aus Unheiligkeit im Willen." Gegen Wen diese Erklärung eigentlich gerichtet ist, das wissen Sie, mein Freund, 4 sogut wie ich ; allein wozu sollten wir eine alte Ungerechtigkeit aufdecken? Wir würden die Kreuz- und Quer- züge unsrer Literatur, die so oft ihren Ursprung und ihre Triebfedern verkennt, damit doch nicht bessern. Genug, „jene todtgläubige Seyns- philosophie, die wohl gar Natur- Philosophie wird, die erstorbenste von allen Philosophieen", würde doch unstreitig in Fichtes Augen noch un- endlich besser gewesen seyn als die meinige; wenn nicht etwa, wie man zuweilen behaupten hört, die Extreme sich berühren. Wenigstens in der Consequenz pflegen die 5 Systeme der rechten und linken Seite einander ähnlicher zu seyn, als die aus der Mitte. Werden wir denn strenge Consequenz, die Fichte unstreitig mit rühmlichem Eifer suchte, auch wirk- lich bev ihm antreffen? Das wird sich allmählig zeigen.

Überaus milde, ja über alles gerechte Maals der Erfahrung eben so wohl, als der Theologie,0 zutrauensvoll und selbst gütig und liebreich

1 Die folgenden Worte: „für .... Freund! behält" fehlen in SYV.

- Die folgenden Worte: „und es war zu ihm führte" fehlen in SW.

3 Die folgenden Schlufssätze: „Sie, mein verehrter Idealismus ist" fehlen in SW.

4 „mein Freund" fehlt in SW.

5 „die" fehlt in SW.

G „eben so wohl als der Theologie" fehlt in SW.

jO I. Über das Verhältnis des Idealismus zur Pädagogik. [1831/32.]

finden wir Fichten da, wo er uns von der [18] ersten Bedingung aller Erziehung, nämlich von dem Causal - Verhältnifs zwischen Erzieher und Zögling einigen Bericht darbietet. Dies wichtige Causal -Verhältnifs würde uns freylich äufserst schwierig erscheinen, da wir den eignen Willen des Zöglings doch gewifs beyde, wenn auch in einem näher zu bestimmenden Sinne, einen freven Willen nennen würden. Wie soll denn irgend eine Art von Freyheit, nicht blofs gewonnen, gelenkt, bewogen, sondern nach obiger Forderung schlechthin unfehlbar bestimmt werden? Floren wir zuvörderst Fichten über das Wesen der Freyheit, nicht etwan nach Erklärungen, die er anderwärts giebt, sondern nach dem Buche, was vor mir liegt.

,,Die Freyheit im Sinne des unentschiedenen Schwankens ist nicht Leben, sondern Vorhof und Eingang zum wirklichen Leben. Endlich mufs es doch einmal aus diesem Schwanken heraus zum Entschlüsse, und zum Handeln kommen; und erst jetzt beginnt das Leben. Nun erscheint auf den ersten Blick jeder Willens -Entschlufs als erstes, keineswegs als zweytes. Aber es sind zwey Fälle möglich; entweder nämlich erscheint in ihm nur die Erscheinung abgetrennt vom Wesen, oder aber das Wesen tritt selbst erscheinend ein; und zwar ist zu merken, dafs das Wesen nur in einem Wiliensentsclilusse zur Erscheinung werden kamt , dafs aber um- gekehrt es auch solche Willensentschlüsse [19] geben kann, in denen keineswegs das Wesen, sondern nur die blofse Erscheinung heraustritt."

Wie, möchte jemand fragen, blofse Erscheinung tritt heraus, und zwar in einem Willens-Entschlufs? Wer, und wem erscheint sie denn? Wo ist ihr Object, wo ihr Subject? Halten wir uns nicht dabei auf! Denn Fichte versichert uns sogleich weiter, die blofse Erscheinung sey fähig, selbst zu erscheinen. Eine solche Erscheinung der zweyten Potenz aber sey unabänderlich bestimmt, und nothwendig also wie sie eben ausfällt. Hiebey vermisse ich nun zunächst Erscheinungen der dritten, vierten Po- tenz, und so ferner, in welchen vermuthlich die Notwendigkeit noch um vieles nothwendiger werden würde. Dann aber fällt mir ein, dafs jede Potenz immer noch von ihrer Wurzel abhängt, und daher das Wesen unausweichlich die Schuld aller Erscheinungen, auch solcher, die es los- gelassen hat, wird tragen müssen. Jedoch auch dies sey dahingestellt; ja es mag meinethalben (für jetzt wenigstens) in der freyen Handlung noch ein Mehr als das aus dem Ganzen der Erscheinungen erklärbare enthalten seyn, und dieses Mehr mag auch so sichtbar werden als man verlangt und vorgiebt: was beginnt nun mit dem Allen der Erzieher? Wer an ein vestes, beharrliches, und todtes [20] Seyn glaubt, (sagt Fichte) der glaubt daran, weil er in sich selbst todt ist; und nachdem er einmal todt ist, wird diese Ausländerey, (erinnern wir uns an die deutsche Nation !) sich auch zeigen als Aufgeben aller Verbesserung unsrer selbst oder Andrer. Wie nun, wenn unser Zögling ein Solcher ist, der also glaubt? Wenn er nicht zu den ursprünglichen Menschen gehört; was macht alsdann der Erzieher?

Antwort: „Die Sittlichkeit ist ursprünglich, und <w aller Erziehung vorher, in allen menschlichen Kindern, die zur Welt geboren werden.'1, 1Be-

1 „Belieben Sie das mit eignen Augen" fehlt in SW.

I. Über das Verhältnis des Idealismus zur Pädagogik. [1831/32.] 11

lieben Sie das mit eignen Augen (S. 317 des angeführten Buches [Fich'i i , SW VII, S. 414]) zu lesen.

Und damit ja kein Zweifel übrig bleibe, dafs es mit dieser gütigen, milden Beurtheilung des Menschengeschlechts Ernst sey: findet sich an mehreren Stellen die strengste Verwerfung der Lehre von der Erbsünde. „Was läfst sich von solcher Belehrung anders erwarten, als dafs jeder Einzelne sich in seine Natur ergebe? Es ist eine abgeschmackte Ver- läumdung der menschlichen Natur, dafs der Mensch als Sünder geboren werde."

So wird dann auf einmal Alles leicht! Der Erzieher bestimmt den Willen seines Zöglings wozu? dazu, dafs er sey, was er ist, nämlich sittlich. Diejenigen, welche in sich selbst todt sind, belästigen den Er- zieher nicht, denn sie verschwanden, und wurden nicht mehr gesehen, indem von der Erziehung die Rede anhub. Die [21] Ausländer, die Völker der unlebendigen Sprachen, sollten ja nicht erzogen werden, sondern nur die deutsche Nation! Das mag die Zeit entschuldigen, worin jene Reden geschrieben wurden.

Der Erzieher also soll die deutsche Jugend lassen wie sie ist? Wozu denn jene hohen Verkündigungen einer neuen Erziehung? Dabey ist offenbar ein Widerstand, oder ein verderbendes Princip vorausgesetzt, welches abzuwehren dem Erzieher eine wenigstens negative Thätigkeit kosten wird. Wir fragen demnach zuerst: wo liegt denn das verderbende Princip? Und die Antwort wird uns nicht vorenthalten:

„Der Mensch lebt sich zum Sünder. Das bisherige menschliche Leben war in der Regel eine im steigenden Fortschritte begriffene Entwickelung der Sündhaftigkeit. Allenthalben, wo die Gesellschaft verdorben ist, mufs dasselbe erfolgen. Nicht die Natur ist es, die uns verdirbt, diese erzeugt uns in Unschuld : die Gesellschaft ists."

Wodurch verdarb denn wohl die Gesellschaft? So wird jeder Theologe mit mir fragen.

Und ich frage weiter: mit welcher Hoffnung wollte denn Fichte es wagen, aus der Jugend eine Gesellschaft zu bilden? Meinte er wirklich, diese würde nicht verderben ?

\_22~\ Aus Gründen, an welche Fichte nicht entfernt dachte, die Sie aber in meiner Psychologie werden zu finden wissen, behaupte ich: dals jeder Haufen von Menschen, die in Confiict geraten, seyen sie alt oder jung, eine natürliche Neigung in sich trägt, in vier Klassen zu zerfallen: Dienende, gemeine Freye, Angesehene und Herrscher.

Beispielsweise wollen wir hier nur die Dienenden ins Auge fassen; und für jetzt nur in der Erfahrung. Da könnte ich, weil doch von der Jugend die Rede ist, an den alten Unfug des sogenannten Pennalismus erinnern. Oder, um von Zeitbegebenheiten zu reden, an den Unfug, welcher neuerlich oftmals von der niedrigsten, arbeitenden Klasse ausging. Aber ganz nahe liegt mir das Unheil, was die Cholera eben kürzlich unter meinen Auejen, und so auch in mehreren Städten und Ländern sichtbar gemacht hat. Da sie die niedrigste Klasse am härtesten traf, so hat sie auf Menschen, die man sonst in der Gesellschaft kaum zu bemerken pflegte, ein trauriges Licht geworfen; sie hat Einheit in diese Klasse gebracht,

12 I- Über das Verhältnis des Idealismus zur Pädagogik, [i 83 1/ 32.]

deren Mitglieder man sonst nur vereinzelt erblickt, weil sie am Gemein- geiste der Gesellschaft keinen Theil haben, so zahlreich sie auch in ihr vorhanden sind. Welche Einheit? Die eines gemeinsamen, aller Wider- legung trotzenden Vorurtheils: man wollte sie [23] vergiften; aus dem Wege räumen; dazu seien die Arzte angewiesen, befehligt, gedungen, be- zahlt. Selbst solchen Ärzten, deren wohlthätiges Helfen die armen Leute aus langer Erfahrung kannten, selbst den Geistlichen, den Beichtvätern, trat dies Vorurtheil starr entgegen. Es kam zu den Waffen. Es mufste Blut fliefsen. Aber diejenigen, welche sich als freye Bürger im Staate fühlten, blieben von dem Wahn unberührt. So zeigte sich eine von den Scheidewänden, deren ich erwähnt habe. Wo liegt der Ursprung dieser unglücklichen Scheidewand? Hatte Jemand sie absichtlich aufgebaut? Wünschte Jemand sie in dieser furchtbaren Gestalt zu erblicken? Nein. Aber ihr Grund liegt im psychologischen Mechanismus. Das zufällige Übel hat sie nur zur Anschauung gebracht.

Ob nun Fichte in seiner Jugend-Gesellschaft die natürlichen Aristo- kraten und Herrscher dulden möchte, kann allenfalls in Frage gestellt werden; dafs er aber die so eben nachgewiesene Scheidewand, welche die ganz Herabgedrückten hinter sich verbirgt, unmöglich dulden könnte, springt eben so gewifs in die Augen, als es gewifs ist, dafs hiegegen jeder tüchtige Erzieher und Schulmann seine Kraft aufbietet; eine Kraft, die als ein Höheres, als ein fr eres moralisches Princip die Gesellschaft von dem natürlichen [24] Übel erlöset, in welches sie sonst schon bei ihrem Ursprünge hineingerathen würde, und wodurch im Orient wirklich manche Staaten unheilbar sind verderbt worden. An die Sklaven, selbst bey Griechen und Römern, brauche ich hier nicht zu erinnern. Aber die Natur, wie wenig sie auch dem Übel bey Erwachsenen vorbeugt, hat doch die Jugend dagegen geschützt, indem sie keine Jugend-Gesellschaft stiftet, sondern die Kinder den Eltern anvertraut. Und von Erziehungs-Anstalten fordert man allgemein, sie sollen die häusliche Gesellschaft möglichst nachahmen.

Welches war denn über diesen Punct die Sprache des Idealismus ? Schon oben führte ich die Worte an: „ein Gemeinwesen der Zöglinge, das seine genau bestimmte, in der Natur der Dinge gegründete, und von der Vernunft durchaus geforderte Verfassung habe."

In der Natur der Dinge ist iener psychologische Mechanismus ge- gründet, der das Übel erzeugt. In der Natur des Menschengeschlechts ist aber auch die Familie gegründet, welche die Kinder getrennt hält. Die Vernunft fordert, dafs es hiebey sein Bewenden habe, und dafs man die Gefahren grofser Gesellschaften von den Kindern möglichst fern halte. Sie will keine Verfassung für die Jugend. Die Erziehung ist ohnehin schwer ge- nug; man braucht sie nicht noch mit künstlichen Hindernissen zu belasten.

[25] Aber den Idealismus charakterisiert das Verkennen des psy- chologischen Mechanismus. Wenn er ihn nur nicht sieht, dann, meint er, sey derselbe auch nicht vorhanden. Er construirt aus der Idee; wie die Wirklichkeit dazu passe, das fragt er nicht eher, als bis das Wirkliche ihm feindlich entgegentritt. Dann werden lange Reden über Sündhaftig- keit gehalten; und hinter der Rhetorik verbirgt sich die Unwissenheit. Man streitet mit Worten gegen Übel, deren Quellen man nicht kennt;

I. Über das Verhältnis des Idealismus zur Pädagogik. [1831/32.] 13

und welche durch die angegebenen Vorkehrungen nicht verhütet, sondern eben herbeygeführt werden würden.

Doch jener Zeitpunct, da Fichte die deutsche Nation anredete, um sie zu begeistern, war nicht der gelegene Zeitpunct, um sein früher ge- bildetes, aus bekannten geschichtlichen Anlässen leicht erklärbares System einer Revision zu unterwerfen. In Zeiten der Noth tröstet man sich mit Idealen; und sie wirken wohlthätig wenigstens auf die, welche sich ihnen hingeben. Zur That kam es nicht, denn das Glück wendete sich, und zwar durch ein ganz anderes Thun. Möge nur nicht hinter dem Schleier, der unsre Zukunft deckt eine erneuerte Noth verborgen seyn, worin wir uns abermals müfsten durch Worte und Gedanken zu trösten suchen! Jedenfalls wollen wir den hochherzigen deutschen Patriotismus in Ehren halten, der Fichtes Lehren und Reden belebte. Und da wir uns hier nicht ins Politische verlieren dürfen [26] so lassen Sie uns wenigstens von seiner pädagogischen Ansicht die bessere Seite aufsuchen.

Wo es darauf ankommt, das unmittelbar sittliche Streben in kräftigen Worten zu beschreiben, da finden wir den Idealismus weit mehr in seiner rechten Sphäre, als dort, wo die Veranstaltungen zur sittlichen Wirksamkeit im zeitlichen Handeln den Gegenstand der Frage ausmachen. Gern hören wir Fichten reden von dem Triebe nach Achtung, als der reinsten Ge- stalt, worin das Sittliche schon beym Kinde hervortrete. Gern lassen wir uns von ihm einschärfen, dafs in der Behandlung des Kindes kein Eigen- nutz hervortreten, kein Verlust, den etwa dessen Unvorsichtigkeit uns zu- fügt, hart geahndet werden solle. Unbedenklich räumen wir ihm ein, dafs, wo Bestrafung von keiner Schaam begleitet wird, es mit der Erziehung zu Ende geht. x\m schönsten, wenn auch nicht allgemein richtig, ist seine Beschreibung der Kindlichkeit. „Das Kind geht aus von unbedingter Achtung für die erwachsene Menschheit aufser sich; an ihrer wirklichen Achtung nimmt es ab, in wiefern es auch sich selbst achten dürfe. Dieses sich Vertrauen auf einen fremden, und aufser uns befindlichen Maafsstab der Selbstachtung ist der eigenthümliche Grundzug der Kindheit und Un- mündigkeit, auf dessen Vorhandensein ganz allein die Möglichkeit aller Belehrung, und aller Erziehung der nachwachsenden [27] Jugend zu vollendeten Menschen1 sich gründet. Der mündige Mensch hat den Maafs- stab seiner Selbstschätzung in sich selbst, und will von Andern geachtet seyn, nur inwiefern sie erst selbst seiner Achtung sich würdig gemacht haben; und bey ihm nimmt dieser Trieb die Gestalt des Verlangens an, Andre achten zu können; und Achtungswürdiges aufser sich hervor- zubringen. Diesen Grundzug der Mündigkeit nun soll der Erzieher dar- stellen, so wie auf den ersten bey den Zöglinge sicher zu rechnen ist." Sicher? Nein; das bestätigt die Erfahrung nicht. Nur soviel be- stätigt sie, dafs da, wo die beschriebene Gesinnung des Zöglings sich entweder gleich Anfangs vorfindet, oder wo sie doch früher oder später gewonnen wird, von diesem Puncte an, das Geschäft der Erziehung leicht und glücklich von statten geht. Ein erstes, vorläufiges Ziel ist also hiemit richtig aufgesteckt, welches zu erreichen die Sorge des Erziehers seyn mufs.

1 Statt „zu vollendeten Menschen'- haben SW „zu vollendeter Menschheit."

jt I. Über das Verhältnis des Idealismus zur Pädagogik. [1831/32.]

Ein Ziel, das gleichwohl niemals dann erreicht wird, wenn einmal eine jugendliche Menge begonnen hat, ihrem Gesammt-Urtheil mehr zu trauen, als dem Urtheil des ihr fern stehenden Erwachsenen. Und selbst den besten, einzeln stehenden Zögling dünkt oft genug das Urtheil des Er- ziehers, wenn nicht falsch, so doch zu stark, zu hart, zu streng. Ab- gesehen davon, dals [28] kein Erzieher vollkommen ist, dafs also der Zögling in einzelnen Fällen sich ein richtig abweichendes eigenes Urtheil bildet, abgesehen hievon ist zwischen dem nothwendigen Ernst des

Erziehers und dem Leichtsinn der Jugend eine weite Distanz, die durch kein, noch so grofses Vertrauen, ganz ausgefüllt wird. Und in der Erfahrung sind Fälle genug vorgekommen, wo ein Knabe, ja ein noch sehr junges Kind, eine Art von Stolz darin setzt, unartig seyn zu können. Wäre Fichtes Behauptung allgemein wahr: woher käme es denn, dafs selbst Kinder, die man noch zu den guten zählen mufs, dennoch eine Freude darin finden, zuweilen allein zu seyn, um thun zu können, was ihnen unter Aufsicht nicht gestattet wird? Manches wird verboten, und mufs verboten werden, was dennoch heimlich geschieht. Ein so reines pädagogisches Verhältnifs, worin dergleichen gar nicht vorkäme, gehört zu den seltenen Ausnahmen; und diese setzen ein Zartgefühl, ein frühes geistiges Leben voraus, dessen nur glückliche Naturen fähig sind. Der- gestalt sind wir genöthigt, auch hier dem Idealisten zu widersprechen, wo wir ihm gern beystimmen möchten.

Dem Idealisten? War denn Fichte wirklich Idealist, als er das Vor- stehende schrieb? Oder schob sich ein fremder Gedanke ein, [29] welchen das System selbst nach strenger Consequenz wird ausscheiden müssen? Diese Frage wird Sie vielleicht näher berühren als das Vorhergehende. Denn mir fällt Ihr „durchaus fremder Vorfahr im Amte"1 dabey ein, Sie werden bald sehen wie das zugeht.

Nach strengem Idealismus ist der Zögling eine blofse Erscheinung, ein Nicht-Ich für den Erzieher; ohne alle Realität, aufser in wiefern der Erzieher einen solchen Zögling in sich setzt. Oder auch umgekehrt: dem Zögling ist sein Mentor eine bloise Erscheinung; ein Nicht-Ich, ohne alle Realität aufser in wiefern das Ich des Zöglings jenes Nicht -Ich in sich setzt. Diesen Idealismus dürfen wir von Fichten keineswegs fordern. Er hatte ihn längst verlassen, bevor an unsre Reden gedacht wurde. Wir

1 Die Stelle, auf welche sich diese Worte beziehen, lautete a. a. O. S. 514 so: Vorzüglich aber erweifst sich die Annahme (von der Apperception der Vorstellungs- massen und Vorstellungsreihen unter einander und der davon abhängigen Entstehung 1 des Selbstbewufstseyns) als ttngenügend, wenn wir die Thatsachen der sittlichen Zu- rechnung ins Auge fassen. Was der Verfasser darüber sagt, bezieht sich nur auf die Atiwendung des Begriffs und erklärt keineswegs, wie die jedesmal appercipirende Vorstellungsmasse sich zurechnen könne, was unter der Herrschaft einer andern, von der jetzt vielleicht nur wenige vereinzelte Elemente übrig, geschehen ist: an die Stelle reuevoller, oft zerknirschender Zurechnung könnte höchstens ein Bedauern treten, dafs die früher appercipirende Vorstellungstnasse gethan, was die jetzige nicht zu billigen vermöge: ein Bedauern ähnlich de?n, das uns begegnet, wenn wir Fehler wahrnehmen, die ein uns übrigens durchaus fremder Vorgänger in der Amtsführung sich hat zu Schulden kommen lassen. Bei solchem Bedauet n läfst es aber das strafende Gewissen nicht bewenden, und kann ei nicht dabei bewenden lassen, soll es zugleich treibend und anfordernd seyn.u Anmerkung in SW.

I. Über das Verhältnis des Idealismus zur Pädagogik. [1831/32.] 13

müssen hier gemäfs dem zuvor angeführten Fichte sehen Dogma voraussetzen: das Wesen trete in beyde Willensentschlüsse ein, sowohl in den des Einen, zu erziehen, als in den entsprechenden des Andern, sich erziehen zu lassen. Denn mit Willens-Entschlüssen, in denen die blofse Erscheinung heraustritt, abgetrennt vom Wesen, könnten wir in guter Erziehung nichts anfangen. Allein sehen Sie nun, was mir begegnet. Traue ich dem Zögling einen ächten Willens -Entschlufs zu, sich erziehen zu lassen, so wird er mir gleichsam vor Augen so grofs, so männlich, so mündig, [30] dafs er bald keine Erziehung mehr braucht. Gehe ich rückwärts in seine Kindheit, so finde ich keine ächten Willens-Entschlüsse, also nichts, worin das Wesen nach obiger Vorschrift hervortreten könnte. Ja bey der Geburt gränzt der Zögling so nahe an die bloisen Naturdinge, dafs durchaus Zwischenglieder nöthig werden, wenn wir nicht in die bekannte Erstorben- heit der Naturphilosophie verfallen wollen. Diese Zwischenglieder sind am natürlichsten die Eltern. Sie denken in die Erscheinung, welche sie ihr Kind nennen, eine künftige Vernunft hinein, lange vorher ehe eine solche wirklich darin ist; womit ich denn, beyläufig gesagt, auch auf meinem Standpuncte sehr wohl zufrieden und völlig einverstanden bin. Blieben wir nun stehen bey der Erziehung der ersten paar Jahre: so möchte uns keine auffallende Schwierigkeit begegnen. Allein jener Trieb nach Achtung, jene Kindlichkeit, die schon ein Gewissen, wenn auch aufser sich, hat, das Alles mahnt uns an den Knaben, der längst darüber hinaus ist, von sich in der dritten Person zu reden. Das Ich ist in ihm; er weifs von Sich. Wie machen wir es nun, dafs er sein Gewissen und den Maaisstab seines Werthes dennoch aufser sich habe? [31] Etwa so, wie das idealistische Ich Stein und Holz und überhaupt die Sinnenwelt aufser sich setzt ? Gehört denn das Gewissen auch in diese Klasse der gemeinen Dinge? Gesetzt dem sei also: dennoch will es mir nun immer noch nicht gelingen, das Fehlende in dem eigentlichen Ich des Zöglings gerade in den Erzieher hineinzubringen; vollends, da es un- bestimmt bleiben mufs, wer der Erzieher sey? ob der Vater oder ein an- genommener Erziehungs - Gehülfe, oder beim Autodidakten ein Buch, oder bey dem wild herangewachsenen Jüngling eine Geliebte. Nehmen wir noch hinzu, dafs schlechte Erziehung wohl eben so häufig ist als gute, und dafs die Mehrzahl der Menschen eigentlich gar nicht merklich von diesem oder jenem erzogen wird, sondern statt aller Erziehung eine Menge von Einwirkungen theilweise annimmt oder abstöfst: so wird das [32] Ich des Zöglings, der den Maafsstab seiner Selbstachtung aufser sich bald hier bald dort hat, und ihn vielleicht bis ins späteste Alter noch an Er- innerungen einer 1 früheren Auctorität heftet, vor meinen Augen etwas so Buntes und Zufälliges, dafs ich darauf willig Verzicht thue, in einem fremden System consequent zu denken: und mich gern begnüge, nach eigner Ansicht den Anknüpfungspunct der Ichheit in jedes Thun und in jede Hingebung ohne Mühe zu verlegen,- oder besser, ihn so vielfach annehmen zu können, als er sich darbietet.

1 SW „irgend einer" statt „einer" O. SW ..verlegen" statt „zu verlegen" O.

l6 I. Über das Verhältnis des Idealismus zur Pädagogik. [1831/32.]

Um kurz und ernst zu sagen, was ich denke: der Begriff der Erziehung ist ein gegebener-, keine idealistische Construction kann ihn er- reichen, ohne in die gröbsten und offenbarsten Fehler zu gerathen. Das allein schon ist eine genügende Widerlegung des Idealismus in jeder Form, die er versuchen kann. Und eine von den wichtigsten Proben wahrer Metaphysik und Psychologie besteht gerade darin, dafs sie das pädagogische Causalverhältnifs begreiflich macht.

Fichtes pädagogische Ansicht, dafs der gute, lenksame Zögling den Maafsstab seiner Selbstschätzung nicht mit vollem Selbstvertrauen in sich sucht, sondern sich auf das Urtheil seines Erziehers stützt: bezeichnet richtig das Verhältnis zwischen diesem und jenem; [33] aber iväre das Ich des Zöglings, oder überhaupt irgend ein Ich, anzusehn als ein Reales, und deshalb in sich Vollständiges, so würde ein so wichtiger Iheil des Wissens von Sich, wie der, welcher liegt in de?n Wissen vom eignen Wert he, niemals von dem eignen Ich getrennt, in eine andre Person können verlegt werden; sondern mit dem Sclbstbezvufstsein schlechthin verbunden seyn und bleiben. Und dies ist um desto auffallender, da hierin die Jahre keinen wesentlichen Unterschied machen; vielmehr bey sehr vielen Individuen lebenslänglich der Beichtvater die Stelle des Erziehers behauptet; ohne dafs man ihnen darum die Persönlichkeit absprechen darf. Die pädagogische Thatsache ist richtig; die Erklärung derselben nach idealistischen Ansichten ist un- möglich. Höchstens hätte nach diesen Ansichten der Zögling sich einen Erzieher eingebildet; er hätte sein eignes Gewissen in der Einbildung aus sich hinausgetragen. Aber er hat einen wirklichen Erzieher; und noch mehr! Diesen wirklichen Erzieher hat er sehr nöthig.

Wäre es Ihnen, verehrter Freund 1 vielleicht gefällig, hier einmal an Ihren oben erwähnten Einwurf zurückzudenken? Sie werden, glaube ich, Stoff zu einer interessanten Vergleichung antreffen. Wenn nach meiner Psychologie in Einem Menschen mehrere Vorstellungsmassen sind, deren jede zu eigner Ausbildung gelangt, wenn alsdann eine derselben handelnd hervortritt, eine andre aber dieses Handeln appereipirt, und es lobt oder tadelt ; dann, sagen Sie, kann keine Zurechnung Statt finden. Denn die appereipirende Vorstellungsmasse ist gleichsam eine fremde Person. Sie ist unschuldig. Jene erste, welche den Sitz des Handelns ausmachte, würde allein gelobt oder getadelt [34] werden. Aber wo bleibt nun die Person, welche Sich, das heifst, ihr eignes Ich beurtheilt ? Keine der beyden Vor Stellungsmassen ist das Ich, also ist Niemand da, welchen die Zu- rechnung träfe; folglich müfste es keine Zurechnung geben, was absurd ist. Diesen Einwurf erläuternd, fragen Sie, ob denn Jemand sich das an- rechnen werde, was ein ihm durchaus fremder Vorfahre in der Amts- führung verbrochen hat?

Bevor ich mich zur Antwort anschicke, lassen Sie uns doch jene Beschreibung des Zöglings nach Fichten zurückrufen. Dieser, und eben so alle erwachsenen Beichtkinder, oder die, ihnen ähnlich, einen Ge- wissensrath aufser sich haben, stellen uns das in der Wirklichkeit dar, was jene beyden Vorstellungsmassen Bedenkliches hatten. Wenn der Sohn

1 „verehrter Freund" fehlt in SW.

I. Ober das Verhältnis des Idealismus zur Pädagogik. [1831/32.] 17

einen Fehltritt begeht, so tadelt ihn der Vater. Aber dabey bleibt es nicht. Der Sohn schämt sich: weshalb? Etwa deshalb, weil er den Tadel anerkennt? Vielleicht! Doch das ist nach Fichten nicht die Haupt- sache bevm Zöglinge als solchen. Denn er hat den Maafsstab seiner Selbstschätzung außer sich. Also aufser ihm liegt der Tadel, der ihn ver- wundet! Wollen wir das etwa leugnen? Die pädagogische Erfahrung sagt wirklich, dafs man den Kindern beynahe Alles was man will, zur Ehre und zur Schande machen kann. Woher kämen auch sonst so viele thörichte Ehrenpuncte, die im gemeinen Leben Schaden genug anrichten? Man hat sie [35] erkünstelt. Die Möglichkeit eines solchen Erkünsteins gehört zu den leidigen psychologishen Wahrheiten, die man gern nicht einräumt, und die dennoch wahr sind. Lob und Tadel wirken auf die Menschen, auch wenn sie selbst kein Urtheil über sich fällen; und selbst ohne Rücksicht auf Nutzen oder Schaden. Sie haben wirklich ein Ge- wissen aufser ihrem Ich; und zwar ein solches, wie man es ihnen macht und giebt; schlecht oder gut.

Das ist das Erste; aber auch ein Zweytes dürfen wir nicht vergessen. Wenn der Sohn einen Fehltritt beging, so schämt sich des Sohnes auch der Vater. Giebt er sich Rechenschaft davon? Vielleicht! Denn er hätte durch bessere Erziehung bessere Früchte erzeugen sollen. Aber das pafst nicht immer. Sein Gewissen sagt ihm oft, er habe Alles gethan was er vermochte. Und dennoch schä?nt sich der Vater. Noch mehr! Des Bruders schämt sich der Bruder. Nicht blofs der ältere, der ein Beyspiel geben sollte, sondern auch der jüngere. Auch die Schwester schämt sich. Die ganze Familie zieht sichs zu Gemüthe. Ja die ruhigen Bürger im Staate schämen sich, wenn die Truppen feige waren. So dehnt sich die Zurechnung aus ins Unbestimmte, weit hinweg über das individuelle Ich.

Aber, sagen Sie, der Nachfolger schämt sich nicht dessen, was der durchaus fremde Vorgänger verbrach. Also giebt es einen solchen durch- aus fremden! Daran erkenne ich (wenn Sie das ernstlich meinen,) den Realisten. Der Idealist hätte gesagt: humani nihil a me alienum puto; denn die Menschheit ist Eins. [36] Alle Menschen müssen sich dessen schämen, was irgend Einer verbrach. Ja die Consequenz fordert durch- aus, dafs man sich auch derjenigen Sünden schäme, die im Monde und auf dem Jupiter begangen werden. Denn wie ungelegen immerhin diese Erinnerung seyn möchte das Wesen ist es, ivelches in den Willejis- Entschlüssen heraustritt. Oder wollen Sie den Mond und den Jupiter sammt deren Bewohnern etwa geradezu unter die Erscheinungen der zweyten Potenz rechnen? Doch Ihnen darf ich nicht zumuthen, Fichtes Lehre zu vertreten. Sie räumen im Gegentheil mir ein, dafs, wo Zu- rechnung in Frage kommt, recht füglich Einer dem Andern durchaus fremd seyn könne, womit denn die vei suchte Zurechnung verneint und abgewiesen ist. Allein zugleich geben Sie zu verstehen, dafs sich dies Fremdseyn nicht überall vorfinde; und so dürfte ich fast glauben, wir wären einander etwas näher gerückt.

Und worin näher? Darin, dafs die vorerwähnten beyden Vorstellungs- massen, welche der Voraussetzung nach in Einer Seele seyn sollen, nicht nötig haben, sich mit gegenseitig durchaus fremden Personen vergleichen zu

Herbart's Werke. X.

l8 I. Über das Verhältnis des Idealismus zur Pädagogik. [1831/32.]

lassen. Sie stehen einander gewifs näher als Sohn und Vater, Zögling und Erzieher. Denn der weitläuftige, vielfach bedingte Procefs des Handelns und Beobachtens, des Sprechens und Verstehens, ohne welchen Zögling und Erzieher von einander nichts wissen würden, ist zwischen den mehrern Vorstellungsmassen Einer und derselben menschlichen Seele in der Regel nicht nöthig. In der Regel, sage ich; weil ausnahmsweise auch das Gegentheil vorkommt. Wenn der Geschäftsmann sich etwas aufzeichnet, wenn der Reisende sein Tagebuch führt; so leitet er eine Correspondenz mit sich selbst, ein, die ihren Weg durch die Sprache nimmt. Allein in den Fällen, wo das Gewissen laut spricht, geht die Schamröthe dem Selbstgespräche voran, zum Zeichen, dafs eine Vorstellungsmasse schon weit früher die andre verstanden hatte, bevor der Tadel zum Worte kommt. Alle diese Weitläufigkeit sollte wohl entbehrlich seyn; denn vom Ver- schmelzen der Voistellungsmassen, so weit sie irgend können, ist am ge- hörigen Orte gesprochen; dies Verschmelzen aber, so weit es reicht, hebt alle Vielheit und Sonderung auf; es stellt sich in ihm die Einheit der Seele dar.

Und mit ihm kommt die Einheit des Ich; nämlich beym Gesunden und Besonnenen. Täuschen wir uns aber ja nicht über diesen Punct! Denn aller Angewöhnung an das idealistische Ich zum Trotze, kennt schon längst die Psychologie Zustände genug, in welchem das Ich nicht voll- kommen Ems ist; und sie verfehlen auch nicht, die Zurechnung zu be- gränzen. Doch mit Wahnsinn, Rausch, Nachtwandeln, u. dergl. will ich Sie nicht aufhalten. Die Ichheit erzeugt sich fort und fort; [38] sich sammelnd wächst sie, und als ein wachsender Faden durchläuft sie theils die Lebenszeit, theils den Reichthum der Gedanken, theils Pläne und Maximen; doch sucht sie auch oft mühsam genug sich selbst in den ver- schiedenen Vorstellungsmassen ; und klagt, bey weitem nicht ganz, und nicht von selbst mit sich Eins zu seyn. Diese Klage erschallt bald aus der einen, bald aus der andern Vorstellungsmasse; denn das Ich ist viel- tönend; und vielbedürfend, und vielfordernd an sich selbst, und keines- wegs stets einerley Wissen und Wollen von sich.

Sind diese Sätze etwa neu? Der Idealismus machte sie neu; denn er verkannte sie. Und die alte Psychologie der Seelenvermögen erlaubte ihm das; denn sie unterschied zwar die Substanz der Seele vom Ich; aber nur als Substanz und Accidens; sie begnügte sich, die Acci- denzen nur gerade hineinzuschütten1 in die Substanz. Dadurch wurde die Seele verdächtig. Doch nichts weiter davon ! 2 Sie würden glauben, ich wolle Ihnen aufdringen was Sie verschmähen.

Im Vorigen kam es blofs darauf an, zu begreifen, dafs sich das Ich tadelt oder lobt, indem eine Vorstelhingsmasse die andre beurtheilt. Nun erzeugt freylich nicht das Ich die Vorstellungsmassen, wohl aber wird es selbst in jeder von ihnen vielfach und [39] fortwährend erzeugt; ja die Zurechnung ist grofsentheils selbst der Actus dieser Erzeugung, Ver- knüpfung, Verschmelzung. „Habe ich das gethan und gesagt?" fa, ruft man ihm zu, Du bist schuld durch Dein Tliun und Lassen. So setzt man

1 Statt „hineinzuschütten" haben SW , .hineinzuschalten".

2 Der folgende Satz: „Sie würden .... verschmähen" fehlt in SW.

I. Über das Verhältnis des Idealismus zur Pädagogik. [1831/32.] 19

ihm sein Ich aus Theilen zusammen, wenn eine mühsame Erinnerung nicht von selbst das Einzelne aus verschiedenen Vorstellungsmassen voll- ständig genug verbunden hatte.

Ein andermal hört man Viele zugleich rufen: „Haben wir das ge- than?" Ja, lautet die Antwort, Ihr seyd Schuld, alle zusammen, denn Jeder von Euch that l etwas dabey^ und Jeder von Euch hätte die Andern zurück- halten sollen. Da kommt das Wir und das Ihr zum Vorschein, wo Viele sich gemeinschaftlich zurechnen, was bald Einer von Allen, bald Alle wie Eine Person, gethan oder gelassen haben.

Der Kreis dieses Wir und Ihr bestimmt sich höchst zufällig, und verändert, vergröfsert, verkleinert sich nach den Umständen. Keine Mög- lichkeit ist hier, ein idealistisches Ich zum Grunde zu legen. Gäbe es ein Ich, und dann Vorstellungen des Ich, so wäre sein pluralis, das Wir, durchaus undenkbar. Es entsteht geradezu aus den Vorstellungen, die Jeder im Kreise der Andern sich bildet. Und eben so entsteht das Ich; obgleich, wegen der Einheit der Seele, um sehr Vieles vester und bestimmter als das Wir und das Ihr.

[40] Sie sehen nun ohne Zweifel, mein Verehrtester, dafs es noch einen wichtigen Punct giebt, worin wir beyde einverstanden sind.2 Die Zurechnung steht vest. Darauf baueten Sie, indem Sie mir wegen der verschiedenen Vorstellungsmassen Einwendungen machten. Aber auch meinerseits baue ich darauf, indem ich darauf dringe, dafs es nicht nur eine Zurechnung giebt zum Ich, sondern auch zum Wir; und zwar zu einem solchen Wir, welchem schlechterdings keine ursprüngliche und zu- gleich seinen Kreis begränzende Einheit, als reales Principe zum Grunde liegen kann.

3 Und jetzt, mein verehrter Freund! überlasse ich es Ihnen, darüber nachzudenken, wie vieles in den Behauptungen, die Sie mir entgenstellen, Sie wohl abändern würden, wenn Sie Sich einmal mit mir über Folgendes vereinigten:

Das Ich ist kein reales Princip. Beym reifen Manne zwar ist es ein mächtiger Strom. Aber im Kinde flofs dieser Strom aus tausend Bächen zusammen, welche mit sich führen, was die Umgegend darbot. Und deshalb ist die Erziehung die Bedingung der Humanität.

Jetzt sey das Ich bey Seite gesetzt; aber von dem Wir ist noch ein Wörtchen4 zu reden; denn seine Construction kommt bey der Erziehung gar sehr in Betracht. Und Fichte, in seinem jugendlichen Gemeinwesen, hätte darauf stofsen müssen. Der Zusammenhang mit dem Obigen wird hier von selbst einleuchten.

[41] Das Wir ist das vergröfserte Ich; und es zeigt dessen Veränder- lichkeit nach vergröfsertem Maafsstabe. Weit schwerer noch als das Ich gelangt das Wir zu einem bestimmten, vollends zu einem edeln Character. Zwar fehlt der Ausdruck Wir in keim- Menschen Sprache ganz und gar. Denn Jeder hat irgend Etwas mit Andern gemeinschaftlich gethan m.

1 Statt „thaf haben SW „hat".

2 Der vorstehende erste Satz fehlt in SW.

3 Der folgende ganze Satz: „Und jetzt .... vereinigten- fehlt in SW.

4 Statt „Wörtchen" hat SW „Wort".

20 I. Über das Verhältnis des Idealismus zur Pädagogik. [1831/32.]

und gelitten. Aber vergleicht man die Energie, womit verschiedene Men- schen das Wir aussprechen, so findet man die mannigfaltigsten Ab- stufungen. Nicht bey dem Herrscher, der von sich in der Mehrzahl redet; noch weniger bey dem Schriftsteller, der nur deshalb das Wir gebraucht, weil er gar keine bestimmte Person anzeigen will, erwartet man die eigent- liche Bedeutung des Wir; aber es ist schlimm, wenn sie auch in der Ge- sellschaft nicht überall hervortritt; und eben so schlimm, wenn sie streitende Partheyen in der Gesellschaft anzeigt. Erinnern wir uns jetzt nochmals jener vier Abtheilungen, welche der psychische Mechanismus, sich selbst überlassen, von keinem höhern Geiste geleitet, in der Gesellschaft hervor- bringt. Jene Unglücklichen, welche die Cholera in Harnisch brachte gegen Ärzte und Behörden, weil sie von der wohlthätigen Absicht beyder nichts begriffen, sprachen auf einmal das Wir mit einer Energie, von der sie bis dahin [42] nichts wufsten; denn jetzt hatten sie sich zusammen- gerottet, und meinten bewaffnet durchzudringen. Bald kehrte ihr voriger Zustand zurück; das Wir verschwand; das demüthige Ich trat wieder an seinen Platz; denn diese Leute sind in der Regel froh, wenn sie als Clienten irgend einem Patron sich anhängen können, sonst stehn sie ein- zeln und verlassen. Das Gegenstück zu ihrem demüthigen Ich zeigt uns der Angesehene, und sein vornehmes Ich. Er braucht sich nicht an- zuschliefsen. Die conventionelle Höflichkeit bezeichnet weite Distanzen verschiedener Rangstufen in den Gesellschaften der Angesehenen. Wo denn hat das eigentliche Wir seinen wahren Sitz? Natürlich nur in der Klasse des Mittelstandes; der längst als der dritte Stand pflegt gezählt zu werden, und zugleich als der unterste, weil die vierte Klasse gar nichts dauerhaft Vereinigtes, keinen Stand, in der Gesellschaft bilden kann.

Welche politische Betrachtungen sich hieran knüpfen, das ist be- kannt genug. Aber dafs dieselben nicht blofs in die Pädagogik, sondern bis in die Psychologie zurückgreifen, dies scheint wenig bemerkt zu seyn. Und doch ist es nicht anders. Das Wir zeigt den Gemeingeist an; die Untersuchung des Gemeingeistes, nach seinem Ursprünge, seiner Be- schränkung, seiner möglichen Ausartung, ist eine Untersuchung über das Wir, theils im Gegensatz, [43] theils in Verbindung mit dem Ich. Die Politik hat nicht blofs ihre Ultras, sondern auch ihre Gemässigten; unter diesen besitzt sie manchen ruhigen Denker; und es ist zu hoffen, dafs ein solcher irgend einmal den angegebenen Faden rückwärts bis in die Psychologie verfolgen wird. x Möchten Sie Selbst, mein hochgeschätzter Freund! Sich dazu aufgefordert finden! Dann würden Sie, glaube ich, noch manchmal an meine Metaphysik denken, die ich Ihnen hiemit zu fernerer Berücksichtigung empfehle; und zwar ohne Scheu vor Ihren Ein- wendungen. Denn gewifs bedarf Metaphysik solcher Gegner, von denen sie ernstlich durchdacht wird, weit nöthiger, als der Empfehlung an eine Menge, der sie keine Frucht tragen kann.

1 Der folgende Schlufsabscknitt fehlt in SW.

IL

REDE,

GEHALTEN AM GEBURTSTAGE KANTS, 22. APRIL

1832.

[Text nach dem Msc. 2108 der Königsberger Universitätsbibliothek.]

Bereits gedruckt HR = Herbartische Reliquien, (S. 329 335) herausgegeben von Ziller.

)

Es ist zu schöner Gewohnheit gemacht, den Geburtstag Kants nicht blofs durch die Freuden der Tafel, sondern auch durch Erinnerung an die Verdienste des Mannes zu feyern. Und wenn der ehrenvolle Auftrag, hierüber einige Worte zu sagen, mir nach vielfacher Wiederholung heute wiederum zu Theil wurde, so liegt darin nicht blofs für mich ein schätzens- werthes Vertrauen, sondern weit mehr für den Gegenstand, der in der That unerschöpflich, mir wegen der Neuheit dessen was ich sprechen solle, keine Sorge verursacht. Was nicht veraltet, das ist stets neu genug, und über Kants Verdienste würde die Rede nur desto leichter fliefsen, wenn ihr eine weitere Ausdehnung vergönnt wäre, als hier die Absicht unseres Beysammenseyns gestattet. Schwer ists, nur die Oberfläche zu streifen, wo die Sache selbst zur Tiefe einladet. Um aber an der Ober- fläche zu bleiben, so lassen Sie uns, höchstgeehrte Anwesende! zuerst den Zeitraum ins Auge fassen, der schon seit der Periode des wachsenden Kantischen Namens verflossen ist. Bis in meine Knabenjahre, bis vor dem Ausbruch der französischen Revolution mufs ich in Gedanken zu- rückgehn, um mich in jene Tage zu versetzen, da Kants Namen zuerst an mein Ohr schlug. Was ist seitdem Alles geschehn! Wie oft hat man die verflossenen Jahre der Zwischenzeit bewundert wegen ihres [2] Reich- thums, ja wegen ihrer Überfülle an Begebenheiten. Vieles, was wir sehr ungern erlebten,1 wird einst in der Geschichte zu den glanzvollsten Er- scheinungen gerechnet werden. Die erschütterten Throne, die geschlagenen Schlachten, die umgewandelte Naturlehre, die berühmt gewordenen Schulen hat das Alles den Namen Kants verdunkelt? Mögen andre Be- obachter des Zeitflusses, unparteiischer als ich seyn kann, diese Frage be- antworten. Was mich betrifft, da ich vor einigen Jahren gereizt wurde, mir eine Art von Sortennamen beyzulegen, nannte ich mich Kantianer.* Freylich nicht in der stolzen Meinung, als ob Kant, wenn er heute, wenn er jetzt unter uns hervorträte, mir diese Benennung unbedingt be- willigen würde. Aber wie vieles, das seitdem geschah, würde er mit Kopf- schütteln betrachten ! Die Wissenschaft, in welcher er grofs war, kann ihrer Natur nach nicht hoffen, nur stets gerade fortzuschreiten; sie ist dem

1 was wir ungern erlebten HR („sehr" fehlt).

2 HR haben nach „Kantianer" tolgende Anmerkung: Am Schlufs der Vorrede zur Allgemeinen Metaphysik.

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24 II. Rede, gehalten am Geburtstage Kants, 22. April 1832.

Wechsel der Ansichten unterworfen. Zwar Olbers in Bremen war ge- wohnt, jährlich einmal im dortigen Museum über die Fortschritte der Astronomie Bericht zu erstatten; aber wer möchte dies Beyspiel in An- sehung der Philosophie nachahmen! Und wem würde man darin Glauben schenken? Ob Reinhold, Fichte, Schelling, Hegel, die Philosophie gefördert haben? Verändert gewifs; nur zum Theil auf eine Weise, die sicher nicht in Kants Absicht lag, und jetzt, sollte man vor ihm darüber sich rechtfertigen, auch schwerlich seine Zustimmung erlangen würde. Wie erklären wir uns denn die Thatsache, dafs noch immer Kants Wirken zur [3] Epoche dient, von welcher man die neuere Philosophie zu datiren pflegt? Gleichviel wie man sie erkläre: genug, diese Thatsache ist vorhanden, eine Scheidungslinie hat sich der Geschichte eingegraben, welche rückwärts überschreitend man nicht eher durch grofse philo- sophische Namen angehalten wird als bey Leibnitz und seinen Zeit- genossen; vorwärts aber liegt ein so unsteter Haufen von Meinungen und widerstrebenden Versuchen, dafs man, um deren Geschichte einigermafsen im Zusammenhang zu erzählen, nothwendig bey Kant anfangen mufs. Alle Neuern haben Kant studirt; alle haben an ihm gemeistert; kein geringster Theil seiner Lehre ist den kritischen Versuchen entgangen; sein Stoff hat sich die mannigfaltigsten Formen gefallen lassen. Spinoza ist zu Hülfe gerufen; Platon ist auferweckt, Aristoteles gelangt zu neuem Ruhm; die ganze historische Masse, welche der Philosophie an- gehört, ist in neue Gährung versetzt; unzählige Stimmen die längst ver- stummten, werden von neuem gehört, gefragt, zu Rathe gezogen. Auf der andern Seite aber hat die Menge neuer Namen den Ruhm der Philosophie nicht vermehrt; der Kreis ihrer Freunde ist ungleich enger als zu Kants Zeiten; die Anstrengungen des Denkens werden um desto mehr gescheut, je höher die Forderung derselben steigt; die bloise Em- pirie ist willkommen, weil bequemer; das Positive der Wissenschatten ist mehr geehrt, weil es haltbarer scheint; und je lauter von den Philo- sophen verkündigt wurde, die Sinnenwelt sey nur Erscheinung, desto auf- richtiger gestanden die Weltleute, diese Erscheinung eben sey ihre wirk- liche Welt. Wiederum steht mit solcher Meinung und Gesinnung [4] im scharfen und schroffen Gegensatze die erneuerte Kirchlichkeit, die Neigung zu glauben, wo man früher zweifelte; die Wendung des Geschmacks zum Ernsten, Feyerlichen, Erhabenen; eben diese Wendung, die uns ganz kürzlich Sebastian Bachs grofse Passionsmusik wiederfinden lehrte, als wäre ein vergrabenes verschüttetes Kunstwerk aus Pompeji und Herculanum -hervorgehohlt worden; eben diese Wendung, die zu gleicher Zeit auch traurige und anstöfsige Ausbrüche eines harten Religions - Eifers möglich macht, vermöge deren unter die Theologen eine Polemik fahren konnte, die früherhin vielmehr den Philosophen vorgeworfen wurde. Soll ich noch von den veränderten politischen Richtungen sprechen? Wir preisen uns wohl am liebsten glücklich, dafs wir nur wenig davon erfahren. Nach der sorgfältigem Musterung aller der Gegenstände, die ich hier nur im Überblick andeutete, wer würde sich wundern, wenn er das Verhältnifs der KANTischen Lehre zu den Menschen und den Wissenschaften wesent- lich verändert fände? Wäre Kants Philosophie ein Product wandelbar lite-

II. Rede, gehalten am Geburtstage Kants, 22. April 1832. 25

rarischer Bestrebungen gewesen, so müfste jetzt keine Spur des früheren Verhältnisses mehr vorhanden seyn. Aber seyn wir aufrichtig! In der That sehen die heutigen philosophischen Compendien denen aus der Kantischen Zeit nur wenig ähnlich. Man zählt nicht mehr zwey Formen der Sinnlichkeit, zwölf Kategorien, vier Antinomien u. s. w., sondern unter Kants Lehrformen sind die Trichotomien allein fruchtbar gewesen, so dafs sie sich jetzt ins Unendliche mehren. Einem heutigen Lehrgebäude dient Lichtes Ich, nämlich Subject, Object und Identität beyder, mit veränderten, oft sehr fromm klingenden Namen, zur Grundlage. Ob man nun Hegels Encyklopädie, oder seine Rechtslehre, oder eine Ästhetik aus seiner Schule aufschlage: überall begegnet man einer Dreyzahl, aus welcher [5] in jedem Puncte andre und neue Dreyzahlen emporschiefsen. Auch ist überall vom Universum, und vom Makrokosmus die Rede, man suche nun über die Tragödie Belehrung oder über die Komödie, über abstraktes Recht oder über vaterländische Geschichte, über Gegenstände der Psychologie oder der Naturlehre. Vom Göttlichen, ja geradezu von der Gottheit selbst, wird heutiges Tages mit einer Leichtigkeit, mit einer Zuversicht und Bestimmtheit geredet, die jedem Kantianer (ich nehme mich selbst nicht aus) in Erstaunen setzen mufs. Man sollte glauben die intellectuale Anschauung, von welcher Kant verneinend, einige Spätere bejahend redeten, wäre jetzt allen Philosophen und ihren Schülern ver- liehen und zur Übung und Fertigkeit herangereift. Oder wie könnte Einer (dafs ich ein kurzes Beyspiel anführe) sonst der dramatischen Kunst das Geschafft anweisen: Die Entfaltung des eingeborenen göttlichen Keimes zu einem der objeetiven Wirklichkeit entsprechenden und in ihr enthaltenen Makro- und Mikrokosmus der Erscheinung aufzuzeigen? Die nämliche Ästhetik, die mir dies Beyspiel darbietet, könnte viele Hunderte ähnlicher Art liefern; sie selbst ist eine von hunderten ähnlicher Schriften, deren jede uns erinnern würde, wie weit sich die heutige Philosophie von der Kantischen entfernt hat.

Also kurz: wir dürfen weder leugnen, noch es befremdend finden, dafs Kants Name schon anfängt, in eine Art von historischer Form zu- rückzutreten. Und was folgt daraus? Was anders, als dafs die Sorgfalt, womit in Königsberg sein Andenken aufrecht erhalten wird, stets wachsen muls. Dieser Verein, höchst geehrte Anwesende! wurde zwar ursprüng- lich für einen engen [6] Kreis von Freunden gestiftet, und war vielmehr bestimmt, das Andenken geselligen Vergnügens zu verlängern, als einen Heros der Wissenschaft zu feyern. So lange nun diejenigen Schulen, welche das Kantische Gepräge beybehalten haben, in voller Blüthe standen, mochte man ihnen die wissenschaftliche Sorge ruhig überlassen. Allein je offenbarer es wird, dafs diese Schulen es eben nicht sind, welche vor- zugsweise das Leben der Forschung ernähren und seiner Thätigkeit die Richtung geben; je entschiedener die Hauptstadt ihrem philosophischen Lehrstuhl ein Übergewicht beyzulegen unternommen hat, während die älteste Ehre dem Kantischen Lehrstuhl gebührte, je unsicherer, je bestrittener gerade dies Übergewicht sich zeigt: desto mehr, höchst ge- ehrte Herren ! haben Sie Ursach und Beruf, dem Schwanken und dem Wechsel der Lehrmeinungen, welche für Kants Ruhm einmal nicht gleich-

26 n. Rede, gehalten am Geburtstage Kants, 22. April 1832.

gültig sevn kann, auch nicht gleichgültig zuzuschauen. Aber, wird man fragen, was sollen, was können wir thun? Sollen wir die Wissen- schaft lenken? Wenn sie von der Kantischen Bahn ablenkt, können wir sie halten? Nein, meine Herrn, das können Sie nicht; und es ist fern von mir, Ihnen ein so vergebliches Bemühen auszusinnen. Aber es war mir Ernst, da ich mich Kantianer nannte, ungeachtet ich selbst vielleicht beschuldigt werde, an die Stelle der Kantischen Lehre eine andre und weit verschiedene gesetzt zu haben. Es war mir Ernst, sage ich, und es bleibt mir Ernst, zu wünschen, dafs der Ruhm des Kantischen Namens sich nicht irgend einmal in einen leeren, wirkungslosen Ruhm verwandeln, sondern ein starker Haltungspunct der redlichen, unbefangenen, vorurtheils- freyen Forschung, der acht sittlichen Gesinnung, [7] der besonnenen Bürgertugend, der ungeschminkten Frömmigkeit, seyn und zu allen Zeiten als solcher bestehen möge. Darum nun erlaube ich mir, Ihnen zu sagen, dafs Sie allerdings etwas thun können, und Ursach haben es nicht zu unterlassen. Ein verstorbenes Mitglied dieser Gesellschaft hat bekanntlich die Universität mit einer Stiftung beschenkt, vermöge welcher an Kants Todestage eine Rede gehalten wird nach vorgängiger Concurrenz unter den Studirenden. * Weniger die Rede selbst, als diese Concurrenz hat jetzt eine gewisse Bedeutung erlangt, von welcher zu hören Ihnen, höchst- geehrte Herren, vielleicht nicht weniger angenehm seyn wird, als mir, davon zu sprechen. Es pflegt nämlich durch die Gefälligkeit meines Collegen, des Herrn Prof. Lobeck zu geschehen, dafs mir die eingelaufenen Aufsätze der Studirenden vor der Auswahl zur Durchsicht mitgetheilt werden. Und es ist schon dahin gekommen, dafs die Auswahl anfängt schwer zu seyn; ich habe gefunden, dafs an sich, und wenn man drey Preise statt eines einzigen hätte, wohl drey der eingesandten Entwürfe zugleich die Ehre verdienen könnten, zum öffentlichen Vortrage zu ge- langen. Was nun der gegenwärtige höchstgeehrte Verein dafür thun könnte, diese Stiftung, da sie schon aufblüht, zu pflegen und zu fördern: darf ich das aussprechen? Jeder von Ihnen, meine Herrn, setzt wahrscheinlich voraus, dafs alle Übrigen sich zu dem erwähnten Redeactus gewöhnlich einfinden, dafs folglich die Gegenwart eines Einzelnen entbehrlich sey* Indem nun Jeder solches voraussetzt, entsteht, vermuthlich so, der be- dauernswerthe Umstand, dafs zu jenen akademischen Reden sich nur eine äufserst kleine Anzahl von Zuhörern einzufinden pflegt. Aber es kommt noch ein anderer Umstand hinzu. Kants Todestag ist ein unglücklicher Tag; nicht blofs an sich, sondern auch in Beziehung auf die erwähnte 7 Stiftung. Er fällt [8] gerade in den Monat, wo sich unser nordischer Winter am härtesten empfinden läfst. Und unser akademisches Local, schön geziert wie es ist, muthet uns zu, an jenem Tage für unsre Erwärmung, für unsre Gesundheit selbst zu sorgen. Kein Wunder, dafs der Redner sich ver- gebens nach einer Corona umsieht, die ihn begeistern könnte. Er fühlt eher etwas von der Kälte des Todes, als von der Lebens -Wärme eines Ruhms,

1 Der ganze folgende Abschnitt von den Worten: „Weniger die Rede selbst? Er macht keine." (S. 27, Z. 7 v. o.) fehlt in HR.

II. Rede, gehalten am Geburtstage Kants, 22. April 1832. 27

der zur Unsterblichkeit gelangen soll. Warum denn verwandeln wir nicht den Todestag in den Geburtstag? Warum nicht den 12. Februar in den 22. April? Warum wurde nicht heute der grofse Lehrsal der Akademie er- wärmt durch eine Fülle von Zuhörern für den Redner, welcher für Kants Ehre in Feuer gerathen soll? Vorläufig habe ich erkundet, ob der Herr Curator jener Stiftung Einwendung gegen diese Verlegung machen würde? Er macht keine. Von Ihnen, höchstgeehrte Herrn, l hängt es nun lediglich ab, dafür zu sorgen, dafs die vom Reg. R. Schreibers ver- ordnete Rede an eben diesem Tage des festlichen Mahles gehalten, und eine vollständige Fever an die Stelle zweyer Bruchstücke gesetzt werde, deren keins auch nur den halben Eindruck machen kann, welchen die Fever machen soll, so lange man nicht die beyden Stücke zu einem an- ständigen Ganzen verbindet. Aber auch so noch würde etwas fehlen; was sehr leicht kann geschafft werden. Die Stiftung ist so reich, dafs sie neben dem Haugtpreise gewöhnlich noch ein Accessit bewilligt. Wie leicht wäre es, dies Accessit zu einem zweyten Preise zu ergänzen! Und wenn ich vorhin von dem langen, sich stets verlängernden Zeitraum zwischen Kant und der jedesmaligen Gegenwart nicht leere Worte geredet, wenn ich bei Ihnen, wie ich es wünschte, - einige Sorge erregt habe, ob auch der Ruhm der Kantischen Lehre sich neben der fortschreitenden Wissenschaft stets frisch genug erhalten könne; so liegt es ja wohl vor Augen was dabey zu thun sey. Nur die unbestimmte Sorge ist zu fürchten; keinesweges die Schärfe der Prüfung. Die Frage muls offen vorliegen. Eine zweyte Rede, nicht mehr Lobrede auf Kant, sondern über irgend einen beliebigen, jedoch bedeutungsvollen Gegenstand der Philosophie, muls daneben gestellt, mufs gleich nach der vorigen gehalten werden. Auf die Weise wird ein Unterschied zum Vorschein kommen zwischen dem Ehe- mals und dem Jetzt; der Zeitraum von Kant bis heute wird eine natür- liche Beleuchtung empfangen, wenn einerseits die Kantische Lehre, anderer- seits der jedesmalige Zustand der Wissenschaft sich in den beyden Reden zu Tage legt. Meinen Sie, Kant würde dabey verlieren? Wagen Sie es darauf! Es kann begegnen, dafs er dies Jahr in der Vergleichung zu ver- lieren, aber nächstes Jahr beym Wetteifern der Redner wieder zu gewinnen scheint. Trauen Sie dreist auf den eigenen Werth der Kantischen Werke. Im Innern des Lehrgebäudes war viel zu verändern; aber das Verhältnifs der Lehre zu dem allgemeinen Bedürfnifs der Welt ist so richtig, der Gesammteindruck derselben so stark und so wohlthuend, die Warnungen Kants gegen überspannte Speculation, gegen Schwärmerey und Tiäumerey aller Art sind für jedes kommende Zeitalter so gewifs heilsam und noth- wendig, dafs Sie gar nicht ängstlich fragen dürfen, ob etwan irgend ein- mal dem Lobe Kants durch Entfernung dessen, was Vergleichung herbey- führen kann, eine klägliche Schutzwehr müsse geschaffen werden. Gerade im Gegentheil: wollen Sie Ihr Werk ganz vollenden; so verfügen Sie, dafs in jedem Jahrzehend einmal ein Paar von den gehaltenen Reden ge-

1 häDgt es, wenn ich nicht irre, nun ab, dafür . . . HR.

2 wie ich eben wünschte HR.

28 II. Rede, gehalten am Geburtstage Kants, 22. April 1832.

druckt werde. Dadurch können Sie den Ehrgeiz der jugendlichen Redner noch mehr, als durch Ihre, übrigens sehr nöthige, persönliche Gegenwart, anfeuern; denn die Ehre, in zehn Jahren der Beste gewesen zu seyn, ist mehr vom nachhaltigen Werthe, während freylich für den Augenblick der Anblick zahlreicher und ehrwürdiger Zuhörer die grüfste Spannung des Ehrgeizes hervorruft. Mögen Sie diese meine Vorschläge gütig aufnehmen, erwägen, verbessern, und wo nicht gleich ausführen, so doch der all- mähligen Ausführung näher bringen.

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III. REDE,

GEHALTEN AM GEBURTSTAGE KANTS, 22. APRIL

'«33.

[Text nach dem Msc. 2056 der Königsberger Universitätsbibliothek.]

Bereits gedruckt:

SW = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. XII, S. 157- 166), herausgegeben von G. Hartenstein. Ki Sch = J. F. Herbart*s Kleinere Schriften (Bd. III, S. 1 12— 121), herausgegeben von G. Hartenstein.

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Am 22. April 1833.

Höchst geehrte Herrn!

Bey der vorjährigen Feyer dieses für Königsberg so ruhmvollen Tages nahmen Sie es gütig auf, als ich den Wunsch äufserte, der Geburtstag Kants möge sich die Gedächtnifsrede aneignen, welche jetzt dem Todes- tage, diesem an sich traurigen, und durch die Jahreszeit, in welche er fällt, vollends ungeeigneten und von jeder gröfseren Theilnahme ab- schreckenden Tage, stiltungsmäfsig anheim fallen. Man erkannte es an, dafs dem Festmahle mehr Würde, den jungen Rednern aber mehr Auf- merksamkeit1 zu Theil werden könnte, wenn zwey Hälften einer Jahres- feyer, die jetzt durch fast zehn Wochen getrennt sind, zu einem schöneren, eben sowohl erhebenden als erfreuenden Ganzen vereinigt wären. Es war Herr Universitäts - Richter Grube, der die nöthigen Einleidungen zu machen sich erbot, um wo möglich die gewünschte Abänderung der Schreiber sehen Stiftung zu bewirken, deren Zweck nur dabey gewinnen könnte. Seine Krankheit begann in der Zeit, da ich beabsichtigte, ihn an sein Versprechen zu erinnern. Und jetzt vermissen wir ihn! Unser Kreis ist nicht mehr 'genau der nämliche, der noch vor einem Jahre sich hier versammelte. Die Zeit beherrscht ihn; er schwindet und wächst. So stark nun auch dies Schwinden und Wachsen sich mir heute aufdringt: ich soll nicht reden von dem Wandelbaren, sondern von dem Beständigen. Mögen die Personen wechseln, wenn nur die Ehre Kants den ihr gebührenden Zoll gleichmäfsig empfängt; denn sie ist nicht wandel- bar, sondern dauernd; sie soll dauern, so lange es Menschen giebt, die im Stande sind sie zu schätzen.

Doch möchte Jemand fragen, wozu denn die jährliche Rede jetzt noch nützen solle, da seit einem halben Jahrhundert so unendlich oft das Verdienst Kants ist erhoben und erniedrigt und wieder in seine Rechte eingesetzt worden, dafs ein so vielfach besprochener Gegenstand sich nun von selbst verstehen sollte.2 Ähnlicher Meinung war ich, da ich mich vor einigen Jahren Kantianer nannte. Es schien mir damals nicht der Mühe werth, diesem Ausdrucke eine weitläufige Rechtfertigung bey- zufügen; jeder Sachkenner, glaubte ich, würde von selbst Wesentliches

1 SW „Aufmunterung" statt „Aufmerksamkeif O.

2 verstehen solle SW*.

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^2 HI. Rede, gehalten am Geburtstage Kants, 22. April 1833.

und Abtrennbares in der Kantischen Lehre unterscheiden, oder doch in meine Unterscheidung das Eine vom Andern sich zu linden wissen. Aber was ist mir begegnet? Erst ganz neuerlich habe ich einen Vorwurf ver- nehmen müssen, der mir in dieser höchstgeehrten Versammlung zum Be- weise dienen kann, dafs es nur noch immer nöthig ist, über Kants Philo- sophie zu reden, um in ihr das Bleibende vesthalten zu können, während das Zufällige, oder doch Abtrennbare, sich gegen die Schicksale alles Zeitlichen schwerlich sicher stellen läfst. Das vielgefragte Orakel, Con- versations-Lexicon genannt, wird manchem dieser verehrtesten Herrn wahr- scheinlich schon gesagt haben, was ich meine. Nicht Ernst soll es mir seyn, wenn ich die Benennung des Kantianers mir selbst zuschreibe; vielmehr eine Verhöhnung ja eine Verhöhnung, will man darin finden, oder wenn nicht wirklich finden, sie soll doch aus meinem Munde

nach dem ich beynahe ein Vierteljahrhundert lang den Kantischen

Lehrstuhl zugleich den meinigen nennen durfte, jener Ausdruck fast so klingen. Dagegen, höchstgeehrte Anwesende! protestire ich laut in Ihrer Aller Gegenwart. Und nachdem diese Protestation abgelegt worden: eile ich nun, die Ehre Kants, zwar kurz, aber deutlich, nach meiner Art zu verkündigen; jedoch mich bescheidend, dafs ich nur den Schrift- steller kenne, ein Theil dieser verehrten Gesellschaft aber die Vorrechte der persönlichen Bekanntschaft vor mir voraus hat.

An den Schrifsteller Kant nun wird jeder aufmerksame Leser zuerst die Gradheit und reine Wahrheitsliebe auch da anerkennen,1 wo ein Kampf mit der Sprache sichtbar wird, der hie und da durch neue Wortschöpfung den Sieg zu erringen sucht. Diese Geradheit aber will nicht durch Macht- sprüche überwältigen; vielmehr, sie will überzeugen. Darum legt sie ein reiches Mannigfaltiges weit ausgebreitet vor Augen, aus welchem einige Hauptpuncte sich hervorheben sollen, dergestalt, dafs sie nicht wie bey Fackelschein oder Mondschein aus einem räthselhaften Dunkel, sondern wie am hellen Tage in vollständiger Umgebung und Begränzung mögen aufgefafst werden. Um die Vernunft zu kritisiren, redet er vorher vom Verstände; um die reine Vernunft zu beschränken, macht er die Rechte der Erfahrung gelten, um von der Erfahrung reden zu können, beginnt er von der Sinnlichkeit. Das ganze der menschlishen Erkenntnifs will er überschauen lassen, damit man vollständig überlegen könne, ob die Philo- sophie dazu tauge, im Namen der reinen Vernunft das theologische Ge- biet zu betreten, um dogmatische Stützen des Wissens, (also auch dog- matische Streitigkeiten,) einem Glauben darzubieten, der solcher Stützen 7eben so wenig bedarf, als ihm Streitigkeiten2 heilsam zu seyn pflegen. So betrachte ich die Kritik der reinen Vernunft ihrer Hauptabsicht bey- stimmend, und von hinten nach vorn meinen Blick richtend; denn also weiset mich der Titel selbst, der offenbar von den letzten Theilen des Werkes hergenommen, den Zweck bezeichnet, zu welchem Alles vorher- gehende nur die Mittel, die Zurüstungen und Veranstaltungen enthält. Fasse ich aber jetzt diese Zurüstungen und Veranstaltungen einzeln, und

1 SW ,, erkennen" statt „anerkennen" O.

2 SW „die Streitigkeiten".

III. Rede, gehalten am Geburtstage Kants, 22. April 1833. 33

für sich allein ins Auge: so finde ich allerdings jene Seelenvermögen, Vernunft, Verstand, Einbildungskraft, Sinnlichkeit. In dieser Hinsicht habe ich nie der Lobredner Kants seyn können; vielleicht aber kann ich ihn, den Schriftsteller, dennoch vertheidigen. Der Schriftsteller schlofs sich seinem Zeitalter an ; er fand die Seelenvermügen in der Wolffischen Schule vor; sie waren das Bekannte, Geläufige, woran er seine Darlegung der mannigfaltigen theils wahren, theils vorgeblichen menschlichen Erkenntnisse anknüpfte. Überzeugen wollte er durch eine Musterung aller dieser Er- kenntnisse; darum sprach er von verschiedenen Erkenntnifsvermögen. Dafs er nun cerade diese Vermögen nicht mit der Kraft seines kritischen Scharf- blicks in Frage nahm, mufs ich zwar bedauern; sollte ich aber angeben, welchen andern, ebenso sichern und bequemen Weg er hätte gehen können, um sich in Ansehung dessen was ihm Hauptsache war, seine Zeitgenossen deutlich zu machen, so müfste ich verstummen. Es ist ihm auch so noch schwer genug geworden, verständlich und eindringlich zu sprechen; hätte er sich in den Hauptpuncten der Psychologie von seinem Zeitalter entfernt, so wäre er vielleicht von Niemandem verstanden worden. Meine eigne Erfahrung, die ich schon bey Gelegenheit meiner Pädagogik machte, bestätigt das aufs entschiedenste. Erst Fichtes Untersuchungen, die aus den Kantischen entsprangen, haben in Ansehung der sogenannten Seelen- kräfte einen kritischen Blick vorbereitet, und dennoch ist ein sehr grofser Theil des heutigen Publicums noch heute desorientirt , sobald verlangt wird, man solle Erkenntnisse überschauen, ohne die vermeinten und sehr künstlich gesonderten, gespaltenen, zergliederten Erkenntnifs?ww<?°ra dabey vorauszusetzen. Freylich steht jetzt die Hegeische Schule der Kantischen so schroff gegenüber, dafs Diejenigen, welche noch heute mit den näm- lichen Rüstzeugen, welche einst Kant für sein Zeitalter aus der Wolf fischen Schule entlehnte, bewaffnet auftreten, es aus ihrer eigenen Erfahrung lernen können, wie wenig sie damit ausrichten, und wie sehr sie Ursach hätten, vergängliche Formen des Vortrags zu unterscheiden von der Hauptsache, die nun anderer Hülfsmittel bedarf, um mit Erfolg ins Licht gesetzt zu werden. Das Lob Kants hingegen, als eines Schriftstellers für seine Zeit, die er nothwendig zuerst belehren mufste wenn seine Lehre bis zu uns und zu den Nachkommen gelangen sollte, wird eher gewinnen als ver- lieren, wenn wir sehen, wie geschickt er mit schlechten Messern zu schneiden, das heifst, diejenigen Anknüpfungspuncte zu benutzen wufste, die ihm zu seinem Gebrauche sich damals darboten. Doch ich halte mich dabey nicht auf, ich eile weiter.

Der zweyte Hauptpunct, welchen jede Lobrede auf Kant wird ins Auge fassen müssen, ist seine Vielseitigkeit. Mag er von Naturwissen- schaft oder vom Schönen und Erhabenen, von der Nothwendigkeit oder von der Freyheit, reden, mag er die vermeinte Erkenntnifs der Dinge zu- rückweisen, oder das Primat der praktischen Vernunft vertheidigen; mag er immerhin dabey in gewissen angenommenen Formen des Vortrags, wie in der Kategorienlehre, sich bewegen: stets ist er bey der Sache, stets kennt er den Gegenstand, dessen unmittelbare Betrachtung ihm mehr gut, als die Absicht, den vorliegenden Systemfächern eine Ausfüllung zu geben. Das gerade konnten seine Nachfolger nicht erreichen. Sie

Herbart's Werke. X. 3

34 HI. Rede, gehalten am Geburtstage Kants, 22. April 1833.

meisterten und künstelten an der Gestalt seines Systems; und weil er hie und da die Symmetrie vielleicht mit mehr Liebhaberey als nöthig gesucht hatte, so sollte nun Alles symmetrisch werden. Die ganze Philo- sophie sollte sich in eine Reihe congruenter Figuren verwandeln, während die Kantischen Schriften selbst, weit hinaus über die gesuchte Symmetrie, eine natürliche Mannigfaltigkeit des Vortrags zeigen, wie sie aus dem ur- sprünglichen Rcichthum eines so grofsen und so selbständigen Geistes hervorgehn mufste. Dies Vielförmige wollte man einförmig haben; daher Reinholds leerer Formalismus, der schlechterdings von Einem Grundsatze ausgehn wollte, ohne Überlegung, ob sich Naturlehre und Sittenlehre, Metaphysik und Ästhetik, mit Einem Stempel wolle prägen lassen oder nicht. Daher der einseitige Fichte Idealismus, der das Eine was Noth thue, wonach Reinhold so ängstlich fragte, nun endlich in seinem Ich meinte gefunden zu haben. Selbst Schelling, ein von Natur wahrhaft reicher Geist, und an Reichthum, wenn auch nicht an Tiefe unter den Nach- folgern Kants wohl der Nächste neben ihm, wufste nichts Besseres, als das Fichtesche Ich durch sein Absolutes zu überbieten. Darüber verlor er die kritische Besonnenheit, welche der Schüler Kants vor allem Andern sich aneignen mufs; und stürzte in den Dogmatismus des Spinoza, dessen energische und freymüthige Erhebung aus dem Judenthum, worin er ge- boren war, wohl seine Eigenheiten entschuldigen, aber nimmermehr eine ihm nachgeahmte Eigenheit, die beym Nachahmer zur Beschränktheit wird, rechtfertigen kann. Von den eintönigen Trichotomien der Hegeischen Schule zu reden, vermeide ich, um nicht befangen zu scheinen. Das Bey- spiel dieser Trichotomien gab Kant; aber er verlangte nicht, dafs System- fesseln daraus werden sollten. In allen diesen Vergleichungen erscheint Kant als der einzige wahrhaft freye Geist, der die Verschiedenheit der Gegenstände in sich aufzunehmen wufste, ohne wie mit einem versengenden Plätteisen darüber herzufahren.

Der kritischen Besonnenheit, die fast den eigenthümlichsten Ruhm Kants ausmacht, da sie in solcher Stärke, und dabey so frey von Zweifel- sucht, ihrer gefährlichsten Nachbarin, vielleicht nirgends in der ganzen Ge- schichte der Philosophie wiederzufinden ist, habe ich zwar schon erwähnt; allein hier mufs ich etwas hinzusetzen. Denn wer sie rühmt, der scheint fast die Philosophie selbst zu schmähen; es kann aber unmöglich meine Absicht seyn, den Philosophen auf Kosten der Philosophie zu loben. Un- zweifelhaft ist es leider, dafs Mancher die Philosophie nach dem Eindrucke beurtheilt, welchen der Streit der Systeme hervorbringt, deren x gegenseitige ^Kritik wie ein fortgesetzter Selbstmord erscheint, wodurch die Wissenschaft, kaum aufblühend, immer von neuem sich wieder zerstöre. Unleugbar ist ferner, dafs Kant, der zu seiner Zeit schon der Alles Zermalmende ge- nannt wurde, in dem jetzt erneuerten Spinozismus einen nicht minder ge- ringen Stoff würde aufgehäuft finden, wovon2 er man kann es aus seinen Schriften schliefsen , seine kritische Stärke ganz auf ähnliche Weise wie früher gegen ähnliches Übel zu gebrauchen sicherlich nicht unterliefse,

1 „dem" SW statt „deren".

2 „woran" SW statt wovon.

III. Rede, gehalten am Geburtstage Kants, 22. April 1833. 35

wenn er zu uns sich herablassend nun wiederkehrte. Ist das ein Wunder? Ist es beschämend für die Philosophie? Um das zu glauben, müfste man die Philosophie nicht kennen. Wer etwas von ihr weifs, der weifs auch, sie solle eine Gedankenwelt ordnen und beherrschen. Aber wo ist diese Gedankenwelt? Diese eben mufs erst geschaffen werden, denn mit uns geboren ist sie nicht. Ein poetischer Umschwung des Geistes mufs vor- angehen; dürre, unfruchtbare Köpfe taugen nicht zur Philosophie. Aber wie nicht alle poetische Köpfe Geschmack haben, so besitzen nicht alle philosophische Köpfe zugleich Kritik. Das Werk des Denkens gelingt hier nicht so leicht wie in der Mathematik, für welche uns Allen Raum, Zahl, Zeit, Bewegung, schon vorschweben, damit innerhalb dieser Ge- dankensphäre die Wissenschaft ihre regelrechten Constructionen beginnen könne. Und selbst in dieser Gegend wie lange hat sich die Astro- nomie in vergeblichen Constructionen für die Bahnen und Lagen der Himmelskörper vorher abgemühet, ehe sie die wahre herausfand ! Freylich ist sie früher ans Ziel einer richtigen Auffassung gelangt, als dies von der Metaphysik kann gerühmt werden, die gerade den schwersten und weit- läufigsten Theil der Philosophie ausmacht. Aber wie alt ist denn wohl die Philosophie? Wie lange Zeit hat sie sich bis jetzt zu ihrer Gedanken- schöpfung genommen? Drittehalbtausend Jahre, wird man sagen, denn ihre Geschichte beginnt mit dem Jahre 640 vor Christo. Gewifs eine lange Zeit, worin sie etwas mufste vollbringen können, das vor der Kritik zu bestehen vermöchte; und solcher Rechnung zufolge wären denn frey- lich die Kantischen Kritiken, die unstreitig Kants Hauptwerke sind, etwas spät gekommen, dergestalt, dafs nun wenigstens nichts Neues zu kritisiren mehr hätte zum Vorschein kommen sollen. Aber gegen diese ganze Rechnung ist gar viel einzuwenden. Meiner Zählung nach ist die Philo- sophie nicht älter als etwa vierhundert Jahre. Denn ich zähle die Jahre, worin sie etwas geschaffen hat, und da finde ich nur zwey Jahrhunderte bey den Griechen und zwey Jahrhunderte in der neuern Zeit bis auf uns. Noch mehr! Es ist erst durch Kants Anregungen dahin gekommen, dafs die Geschichte der Philosophie mit der ihr gebührenden Sorgfalt wieder bearbeitet wurde; und gerade jetzt erst sind die Forschungen der Alten unter uns von neuem so lebendig geworden, dafs wir uns wiederum vollständig in sie hinein versetzen, und sie mit unserm Gedankenkreise in genaue Verbindung setzen können. Wird man sich denn wundern, dafs neben einer noch heute wahrhaft jugendlichen Gedankenschöpfung dem kritischen Geiste Kants eine ganz besondere Verehrung mufs zu- gewendet, dafs ihm vor allen Dingen Nachfolge und Fortsetzung mufs gewünscht werden?

Doch weiter! Das Gröfste darf ich am wenigsten verschweigen. Es ist die ruhige, streng sittliche Würde der Kantischen Lehre und des Kantischen Vortrags. Diesen Eindruck empfand das Zeitalter am stärksten; denn es erblickte in Kant einen Denker, der nichts für sich selbst suchte, und der eben deshalb in völliger Einstimmung war mit seiner eignen Lehre, nach welcher kein sittliches Streben seinen Werth in dem Gegen- stande, auf den es gerichtet ist, sondern nur in seiner eigenen Form suchen soll. Wie leicht wäre es mir, in diesem Puncte der Lehre

3*

■i 6 Hl- Rede, gehalten am Geburtstage Kants, 22. April 1833.

wenigstens zu zeigen, dafs ich Kantianer bin. Denn da Kant in der Form des sittlichen Strebens den Werth desselben suchte, was habe ich hieran geändert? Habe ich etwan den alten Fehler erneuert, Güter des Willens an die Spitze der Sittenlehre zu stellen? Habe ich, was Kant verbot, eine Materie des Begehrens hervorgehoben? Vielmehr, welche Form die gesuchte sey, das habe ich zu bestimmen unternommen; eine blofs logische der Allgemeinheit wurde genügend befunden; darum er- innerte ich, dafs diese Form, da sie eine Wertbestimmung enthalte, den Namen einer ästhetischen verdiene; und dafs auf dieser verborgenen Unter- lage die eigentlich moralische Bestimmung erst ruhet, und daraus folgt, womit die Begeisterung für das pflichtmäfsige Sollen, durch welche Kants Schriften wahrhaft erbaulich wirken, ihre wissenschaftliche, nüchterne Er- klärung empfängt.1 Wie leicht aber wäre es mir nun ferner zu zeigen, weshalb ich, von hier ausgehend, mich von der Kantischen Freiheitslehre entfernen mulste! Über diesen so unendlich wichtigen Punct ist sich Kant an verschiedenen Orten in seinen Schriften nicht ganz gleich; es giebt hier bey ihm eine feine Linie des Unterschiedes, die wir ihn stellenweise genau beobachten, anderwärts überschreiten sehen, welches bey seinen psycho- logischen Ansichten nicht füglich zu vermeiden war. Aber Kants Nach- folger — davon muls ich schweigen! Die Unbehutsamkeit darf ich nicht enthüllen, mit der man das Schwere leicht nahm, und eine Steigerung von Mifsverständnissen veranlaiste, gegen die ein akademischer Lehrer sich stets aufs sorgsamste zu hüten alle Ursache hat. Denn nicht blofs auf philosophischen Kathedern wird von der Freyheit gesprochen, und nicht immer mit sittlichen, nicht immer mit rechtlichen Gesinnungen wird das von dort her aufgenommene verarbeitet und angewendet. 2Und Alle erfüllt eben jetzt eine Trauer um süddeutsche Begebenheiten, und eine Besorgnifs, die zu grofs ist, als dafs ich es mir nicht gern sollte gefallen lassen, wenn ich im Puncte der Freyheits-Lehre allzu vorsichtig genannt, oder auch noch schlimmer gescholten werde.

Leicht genug wäre es mir demnach eine Palinodie zu singen, und zu zeigen, ich sey nicht Kantianer; vielleicht eher Leibnitzianer, oder ein Anhänger Lockes, oder was sonst etwa herauskäme, wenn hier Ähnlich- keit, dort Abweichungen hervorgehoben würden. Wohlan denn! Schlägt man die Abweichungen höher an als ich selbst; oder gönnt man mir nicht den Namen des3 Kantianers, so thue ich Verzicht darauf. Denn Er, der allein entscheiden könnte, läfst sich leider, von keinem Sterb- lichen mehr sprechen. Zwar ein Traumbild, ein eben so wichtiger als stolzer Gedanke, schwebt mir zuweilen vor; eine Versammlung, worin Platon, Aristoteles, Parmenides, Cartesius, Locre, Leibnitz, Spinoza, Hume, Kant, zu Gericht sitzen würden, um ein Urtheil über meine Arbeiten zu fällen. Ob sie wohl einig werden möchten? Platon und Aristoteles würden sogleich unter sich zusammentretend in jenen Streit gerathen, der durch sie veranlafst im Mittelalter die sogenannten Realisten

1 empfange SW.

2 Der folgende Satz; ,,Und alle . . . gescholten werde" fehlt in SW. ;l „eines Kantianers" SW statt „des Kantianers".

III. Rede, gehalten am Geburtstage Kants, 22. April 1833. 37

und Nominalisten so lange Jahrhunderte hindurch beschäfftigte ; freylich würden sie ihn geschmackvoller führen als die Scholastiker, doch schwer- lich sich verständigen, aufser etwa mit Hinsicht der heutigen Mathematik und Physik. Wofern Spinoza hingegen, wofern Parmenides mir Anfangs mit einiger Spannung zuhörten, was würde weiter geschehen? Der alte Parmenides würde schweigen wie eine Bildsäule. Spinoza, nach ver- geblichem Bemühn, dem Parmenides ein Wort des Beyfalls für sich ab- zugewinnen, würde sich an seinen Vorgänger Descartes wenden, und mit diesem, wie mit einer sichern und reichen Beute, auf und davon gehen. Locke weit abgewendet von jenem Allen, möchte mir wohl für ein Weilchen seine Aufmerksamkeit schenken, in gelassener Ruhe, so lange von Psychologie die Rede wäre; Leibnitz würde mir seine an- geborenen Ideen entgegenstellen, dadurch aber Locke gegen sich reizen, und im Gespräch darüber wäre ich bald vergessen. Hume würde einigen Witz aussprühen, aber bald abgefertigt von Kant sich entfernen. Wer bliebe mir dann übrig? Kant allein. Dafs er mir gütig zuhören möchte, schliefse ich zum Theil aus dem, was an seinem System in Frage zu stellen ist. Denn dies System ist nicht überall hart; es hat weiche Stellen, wo sichs ergiebt, dafs der Geist nicht gefangen war in der angenommenen Form. So hebt eine höchst scharfsinnige Anmerkung das unsichere Prinzip auf in den Anfängen der Naturwissenschaft; so stellt die Kritik der Ur- theilskraft sich in einen merklichen Gegensatz gegen die Vernunftkritik; und so würde ich Anknüpfungspuncte eines Gespräches eben da entdecken, wo das Lehrgebäude keine felsenfesten Mauern, sondern eine Zugänglich- keit auch für solche Meinungen zeigt, die in das System nicht recht passen. Demnach würde ich versuchen, nachzuweisen, Kant sei nicht überall und im engsten Sinne Kantianer; und auf diese Weise würde ich die Strenge dieser Benennung erst mildern, um sie hintennach bieg- sam genug zu meinem Gebrauche zu finden. Doch was hilft mein Träumen? Kant hört mich auch nicht! So stehe ich denn als ein Unbefangener aufserhalb des Kreises einer bekannten Schule; und in dieser Unbefangen- heit lege ich ein unpartheiisches also desto stärkeres Zeugnifs ab für Kant; in dieser veränderten Stellung wiederhohle ich, dals seine Lehre noch immer als die Grundlage unserer heutigen Philosophie mufs betrachtet, studirt, hochgeehrt werden. Von keiner äufsern Rücksicht mehr gebunden preise ich diese Stadt, den Geburtsort des grofsen Denkers, diese Hoch- schule, seinen nächsten Wirkungskreis; diese Gesellschaft, die Beschützerin seines Andenkens. So theuer mir die Wissenschaft ist, für die ich ge- lebt habe und noch lebe, so gevvifs wünsche ich die jährliche Wiederkehr dieser Versammlung, damit im Nothfall noch Funken unter der Asche glühen mögen, an denen sich ein helles und wärmeres Feuer entzünden könne. Denn die Zukunft ist dunkel, wenn sie nicht eine Bürgschaft empfängt durch die Fürsorge solcher Männer, die das Grofse und Edle kannten, und die Muth und Kraft anwenden, um es den Nachkommen unverkümmert zu überliefern. Die Zukunft 1 ist dunkel ! Darum soll mehr als jemals jeder redliche Mann sich innig anschliefsen an seine Regierung;

1 „Die Zukunft" bis zum Schlüsse fehlt in SW.

,g in. Rede, gehalten am Geburtstage Kants, 22. April 1833.

jeder Preufse an seinen König. Aber auch jeder Deutsche sollte sich an- schliefsen an den Bund der deutschen Könige, Fürsten und Städte. Kein leerer Argwohn sollte Spaltungen erzeugen; die Untersuchung kann frey, ja selbst die Staatsform kann mannigfaltig bleiben ohne dafs der Deutsche nöthig hätte, andre Deutsche zu verkennen. Dem deutschen Bunde fehlt der Gemeinsinn der deutschen Völker. Wäre dieser gewonnen, so schiene der Baier dem Österreicher nicht fremd, der Hesse nicht fremd dem Würtemberger, der Hannoveraner nicht dem Preufsen. Dann dürfte man den vermessenen Frevlern, die auf dem Wege des Verbrechens nach der Einheit Deutschlands umhersuchen, laut zurufen: Ihr Thoren, was Ihr sucht, das ist gefunden und vorhanden.

IV. DE PRINCIPIO LOGICO

EXCLUSI MEDII INTER CONTRADICTORIA NON NEGLIGENDO

COMMENTATIO 1833-

[Text der Originalausgabe, Gottingae, Dieterich. 1833. 29 S. 8°.]

Bereits gedruckt:

SW = J. F. Herbarts Sämmtliche Werke (Bd. I), herausgegeben von G. Harten- stein. KlSck = J. F. Herbarts Kleinere Schriften (Bd. II), herausgegeben von G. Harten- stein.

Vollständiger Titel der Originalausgabe:

DE PRINCIPIO LOGICO

EXCLUSI MEDII INTER CONTRADICTORIA

NON NEGLIGENDO

COMMENTATIO, QUA AD AUDIENDAM ORATIONEM

DIE XXVI OCTOBRIS HORA XI HABENDAM

OMNI QUA PAR EST OBSERVANTIA INVITAT

PRORECTOREM MAGNIFICUM,

PROFESSORES PLURIMUM VENERANDOS, CONSULTISSIMOS, EX- PERIENTISSIMOS, AMPLISSIMOS, DOCTISSIMOS

COMMILITONES HUMANISSIMOS, PHILOSOPHIAE PROFESSIONEM ORDINARIAM

IN

ACADEMIA GEORGIA AUGUSTA

RITE CAPESSITURUS

IOANNES FRIDERICUS HERBART

PHILOS DOCT S. R. M. A CONS. AUL. ORD. BORUSS. AQU. RUBR.

IV TAE CL. EQU.

GOTTINGAE,

SUMTIBUS DIETERICHIANIS

MDCCCXXXIII.

Cx^uum sensibus, intellectu, et ratione omnis humana cognitio effici videatur, ita, ut sensibus notitiae rerum acquirantur, intellectu notiones forrnentur, ratione de rebus, vel quales sint, vel quousque notionibus no- stris cognosci possint, recte statuatur: magnopere cavendum est, ne tripaitita haec cognitionis auxilia vel incuria quadam, vel mala sedulitate detrimenti aliquid eapiant. Animi facultates, quae dicuntur, hie non arguo: de iis enim, quid sentiam, alibi exposui: conficiendae humanae cognitionis negotium ita certe proponi potest, ut notiones rerum et pereipiendae sint, et for- mandae, et corrigendae. Quomodo fiat, ut sensibus aliquid pereipiatur, et quanam via cogitando progredi debeamus in corrigendis notionibus, magnae philosophorum sunt quaestiones et dissensiones : de notionibus formandis minus laborabant philosophi, quoniam in hac quidem media officii parte logices praeeeptis uti posse videbamur; videlicet eiusdem logices, quam ab Aristotele iam [2] plerumque recte constitutam esse Kantius sua confir- maverat auetoritate.

Kantius vero, quum spatium et tempus non modo rebus in se speetatis denegasset, sed etiam in meras sentiendi formas redegisset, et categorias quoque ad phaenomena cogitando persequenda revocasset, tantos motus excitavit, quantos futuros esse ipse non praeviderat. Fichtianum idealis- mum secutus est Spinoza redivivus : at Spinoza, quem in demonstrando logicas regulas strictissime observasse plerique putant, in novas formas adeo mutatus hodie nobis exhibetur, ut prima et certissima logices prin- cipia non solum negligantur, sed aperte et disertis verbis tanquam falsa repudientur. Notissimum est prineipium contradictionis, in rerum notionibus formandis semper observandum, in mathematicorum notionibus interdum ita migrandum, ut statim confiteamur, imaginarias, quae vocantur, quan- titates ad calculi subsidia restringendas, sed nullo modo rebus ipsis esse adhibendas. Ad prineipii contradictionis familiam pertinet prineipium identitatis, atque prineipium exclusi medii: illo concesso, de his dubitari nequit. '

Alio loco* prineipii cuiusdam tertii interve[3]nientis mentionem feci, iamdudum exeogitati, quasi posset in locum prineipii exclusi medii succedere. Ansam tarnen huius dissertationis desumere malui ex libro, qui nunc mul- torum est in manibus: Hegelii encvclopaedia, ubi p. 124. editionis se- eundae leguntur haec:

* Indroductionis meae in philosophiam p. 33 edit. seeundae. [Vergl. Bd. IV, S. 69 vorliegender Ausgabe.]

42 IV. De principio logico exchisi niedii intcr contradictoria non negligendo etc.

„Der Satz der Identität lautet'. Alles ist mit sich identisch; A = A.

Und negativ: A kann nicht zugleich A und nicht A seyn.(t

Hie statim notandum oecurrit, literas mutandas esse ita: A kann nicht

zugleich B und nicht B seyn. Vel ita: A kann nicht zugleich nicht -A

seyn. Non inutilem esse hanc correctionem, mox patebit. Hegelius pergit:

,, Dieser Satz, statt ein wahres Denkgesetz zu seyn, ist nichts als das

Gesetz des abstracten Verstandes. Die Form des Satzes widerspricht ihm

schon selbst, da ein Satz auch, einen Unterschied zwischen Subject und

Prädicat verspricht^ dieser aber das nicht leistet, was seine Form fodert."

Quod non est concedendum. Neque enim in propositione: duo bis sumta

efficiunt quatuor, ulla fit mentio diversitatis inter subiectum et praedica-

tum, nee in alia quaeunque simplici propositione affirmativa. Aliter res

in psychologia se habet, ubi quaeritur, qualis sit mentis actio in iudicando:

[4] sed quaestiones psychologicae non confundendae sunt cum logicis.

,, Namentlich wird es abei durch die folgenden soge?ian?iten Denkgesetze aufgehoben, welche das Gegentheil dieses Gesetzes zu Gesetzen machen." Vix lectorem divinaturum puto, quid hie sibi velit Hegelius. Sed p. 126. haec sequuntur:

vDer Unterschied an sich giebt den Satz: Alles ist ein wesentlich unter- schiedenes!"1 Possis putare, in his verbis latere prineipium indiscernibilium, satis notum, etsi falsum. Auctoris tarnen consilium statim nobis aperietur; pergit enim: „oder wie er auch ausgedrückt worden ist, von zwey entgegengesetzten Prädicaten kommt dem Etwas nur das Eine zu, und es giebt kern Drittes. Dieser Salz des Gegensatzes widerspricht am ausdrücklichsten dem Satze der Identität, indem Etwas nach dem einen nur die Beziehung auf sich, nach dem andern aber die Beziehung auf anderes seyn soll." Quod omnino est negandum. Posito A, nulla ponitur relatio. Posito A = A, res non duplicatur, sed cogitatio. Itaque res non refertur ipsa ad sese, (quasi Fichtianum Ego), sed duplex vel [5] multiplex cogitandi actus, quem iterare licet vel hodie vel cras vel minimo quoque temporis inter- vallo interiecto, semper in idem punctum reverti dicitur sine ullo discrimine, cui relationis aliquid affingi debeat vel possit. Posito A, ut sit vel B vel non B, verbi causa: homo est vel doctus vel indoctus, ne hie quidem inest relatio -in A, neque homo refertur ad doctrinam, sed doctrina refertur ad hominem, atque haec relatio vel affirmatur vel negatur. Itaque si praecesserit propositio, homo est homo, sequente altera, homo est doctus, nullum contradictionis vestigium apparet, quoniam in nomine ipso nihil relationis positum erat, neque etiam nunc ponitur. At hominem doctum indoctum dicere non possumus, nisi adhibita distinetione vel temporis vel doctrinae, cuius plura sunt genera. Verumtamen audiamus Hegeeium, ut ipse nos certiores reddat,' utrum voluerit loqui de principio exciusi medii, nee ne.

,,Es ist die eigen thümliche Gedankenlosigkeit der Abstraclion, ziuey solche widersprechende Sätze als Gesetze neben einander zu stellen, ohne sie auch nur zu vergleichen." De hac insimulatione infra plura dicemus. Pergit ille:

IV. De principio logico exclusi medii inter contradictoria non negligendo etc. 43

[6] „Der Satz des ausgeschlossenen Dritten ist der Satz des bestimmten Ver- standes, der den Widerspruch von sieh abhalfen will, und indem er dies thut, denselben begeht. A soll entweder -\- A oder - A seyn: da- mit ist schon das Dritte, das A ausgesprochen, welches weder + noch ist, und das eben sowohl auch als -j- A und A gesetzt is/.u

Haec sufficiant. Voluisse quidem loqui de principio exclusi medii Hegelius aperte profitetur: ipsius autem prineipii formulam nee reeeptam a logicis nee unquam reeipiendam, sed prorsus falsam et ineptam attulit: scribendum enim erat: A est vel B vel non B; ita ut, posito A, decernendum esset inter eius praedicata B et non B, quae tertium non admittunt. Nunquam autem, posito A, ambigitur, utrum hoc ipsum A sit vel sibi aequale vel sui contrarium; quorum primum affirmaverat prineipium identitatis, alter um negaverat prineipium contradictionis.

Ille autem, positis duabus formulis aeque ineptis, scilicet: A non est simul A et non i\, A est vel A vel non A, [7] contradictionem extorsisse sibi videtur: sed quonam artificio ? Nullo om- nino: nisi hoc, ut rem unam omnium maxime liquidam turbaret. Primo de duabus propositionibus loquitur, quarum altera alteri contradicat: deinde in ipso principio exclusi medii, per se sumto, condiadictionem vana eius vitandi spe commissam affirmat: neque tarnen vel primum vel seeundum ita seorsim traetavit, ut erroris origo appareat. Ipse autem error sponte patet. Quod ille tertium posuit A, id nullo modo tertium haberi potest, sed est primum, sicut apparet in correctis formulis:

A non est simul B et non B, A est vel B vel non B, ubi A neque affirmationis neque negationis signo affectum invenitur. Quod autem illud idem A putavit utroque signo aifici, in hoc erravit, quum loco B poneret A: nee disiunetionem animadverteret, cuius ea est vis, ut contradictioni omnes aditus intercludantur.

Quum itaque prineipium exclusi medii tarn male habitum viderem: operae pretium duxi, superioris temporis auetores aliquot evolvere, ut eo- rum industriam cum illa levitate compararem. Neque ab Aristotele vel ab Stoicis rem repetere volui: quaestio enim eandem tangit logicam, qua [8] nunc in nostris scholis utimur: hanc damnavit Hegelius, haec pro- xime derivanda est inde ab Ulis temporibus, quae Kantium antecesserunt; itaque audiamus Wolfium, de principio nostro disputantem et in logica et in metaphysica. Pauca tarnen videntur praemonenda.

Wolfii auetoritas fere nulla est, ubi de notionibus corrigendis sermo instituitur: multum vero ei tribuendum, ubi formandarum notionum curam gerimus. Nolo hie repetere, quae de metaphysicorum problematum vera indole saepius exposui: tantum dico, magnum discrimen, quod nostri tem- poris philosophiae intercedit cum illa antekantiana, illustrari et intelligi non posse, nisi distinguatur formandarum et corrigendarum notionum labor et negotium. Hominum ingenia hodie non aliter naseuntur, ac saeculo superiori; sed delati nunc sumus in earumdem difficultatum regionem, quibus Graeci iam ante Aristoteles premi philosophiam senserant, neque

44 rV< principio logico exclusi mcdii intcr contradictoria non negligendo etc.

dubitandum est, quin vetcrum placita multo clarius nostris oculis ob- versentur, quam vel ipsi LEIBNITIO, Spinozae, Cartesio. Vagis tan- tummodo rumoribus aeeeptis de Eleaticis et de Heraclito, ne Platonis quidem et Aristotelis scripta recte intelligi potuerunt. Wolfii aetas in formandis notionibus physicis et psychologicis ver[g]sabatur: ipsi autem experientiae inesse stimulos quosdam, ut eins fincs necessario et optimo iure transgrediamur, ne Kantius quidem satis perspexit, quamobrem non de corrigendis experientiae notionibus sollicitum se praebuit, sed critici per- sonarn gerens omnia perfecta fore putavit, si a transscendente ad trans- scendentalem philosophiam homines redirent. Itaque ne miremur Wolfium sie disputantem:

Eam experimur mentis nostrae naturam, ut quodeunque vel esse iudicet, vel non esse. In singularibus casibus idem obvium est. Nemo enim non iudicat: aut Petras fnit Romae, mit non fuit Romae \ aut Venus nativo gaudet lumine, aut non gandet. Aut dies est, aut dies non est. Ponamus, G sub se comprehendere individua A, B, C, D, E, etc. Quoniam igitur in singulari concedis, quodlibet esse vel non esse: igitur negare non potes, quod A vel sit vel non sit, B vel sit vel non sit, C vel sit vel non sit, etc. Quoniam adeo G et A -j- B -j- C -f~ etc. idem sunt: igitur etiam G vel est vel non est. Atque adeo universaliter patet: Quodlibet vel esse vel non esse.* [10] Qui locus si Hegelio perlegendus proponeretur : proeul dubio sie responsurus esset:

Die Gedankenlosigkeit der Sinnlichkeit, alles Beschränkte und End- liche für ein Seyendes zu nehmen, geht in die Hartnäckigkeit des Verstandes über, es als ein mit-sich -identisches, sich in sich nicht wider- sprechendes zu fasseii.**

Certe haec in Wolfium, ad experientiam et singularia confugientem, scripta videri possunt. Attamen Wolfium vix concessurum fuisse arbitror, cum experiamur mentis nostrae naturam in cogitando, id facultati sentiendi esse tribuendum: sed quaereret fortasse, unde Hegelius hoc compertum haberet, intellectus eam esse pertinaciam, ut contradictiones strenue re- spuat? Nisi enim compertum haberet, pronuntiare non potuisset. Et quia compertum habuit, hanc ipsam ob causam repugnare non debuit pertinaciae, quam vincere non potuit; vinci enim omnino non potest. Quod autem a singulari ad universale procedit Wolfius, id longe diversum est a finiti et infiniti discrimine: singularis ille cadit etiam in spatium vel tempus in- finitum. Nee haereamus in formula: A vel est [11] vel non est: alibi enim apud Wolfium invenimus contradictionis formulam : „hoc A est B et hoc A est non B, ut idem de eodem individuo eodem tempore vel sub eadem determinatione una affirmetur atque negetur".*** Nullo autem loco apud Wolfium oecurrit formula Hegeliana: A est vel A vel Non-A. Denique Wolfius comparationem ab Hegelio desideratam inter prineipium iden- titatis et prineipium exclusi medii non omisisse censendus est: nisi forte

* Wolfii ontologia §. 52. 53. ** Hegelii encyclop. §. 113. *** Wolfii logica §. 532.

IV. De principio logico exclusi medii intcr contradictoria non negligendo etc. 4 c

quis serio discrimen statuat inter formulas A = A et A non = Non-A, quarum prior vocatur principium identitatis, posterior principium contra- dictionis. Multus enim est Wolfius in quaestione: utrum rectius dicatur principium exclusi medii prodire ex principio contradielionis, an contradictionis principium fontem esse illius prineipii c.xclusi medii. Tuetur Aristotelis sententiam, primum locum assignantis principio contradictionis: demonstrat, circulum latere in modo, quo colligatur principium contradictionis ex prin- cipio exclusi medii: narrat tarnen, fuisse, qui demonstrandi ordinem con- verterent. * Ceterum suspicatus non videtur, exstiturum aliquem Fichti- anum, qui pa[i2]ginarum quarundam in libro: Wissenschaftslehre, obli- visci non posset; atque pravum abusum illarum formularum in explicanda notione tov Ego, (cuius abusus eulpam sustinet Fichtius,) usque ad nostra tempora esset tradueturus ! Falluntur omnino, qui difficillimam notionem identitatis obiecti et subiecii ad formulam A = A referendam sibi persuadent: habent problema nudum et crudum pro solutione problematis, speciem pro re ipsa: sed nolo hie ad res iamdudum a nie expositas reverti.

Scriptores Wolfianam rationem sequentes eodem fere modo locum nostrum traetare, ac Wolfium, exspeetandum est. Ita v. c. Reimarus, ubi de conclusionibus ad contradictorias propositiones loquitur, a principio contradictionis progreditur ad principium exclusi medii.** Orditur tarnen a verum similium vel dissimilium comparatione instituenda: qua fiat, ut discernamus aequalia et discrepantia: hinc ducitur ad prineipia identitatis et contradictionis. Sed quid dicturum fuisse Reimarum arbitremur, si Hegei.ium audivisset docentem, in formula A = A indicari euiuseunque rei relationem ad se ispsam? Rem du[i3]plicari ad instar obiecti et subiecti in illa Fichtiana conscientia nostri? Duplex vel multiplex cogitatio eiusdem A nullo modo mira videri potest, ubi adest rerum similium multitudo: nam id ipsum, quod efficit similitudinem, ioties ponitur, quoties in rebus oecurrit. Nee ea conditione ponitur, quasi res altera alteram similem re- spiciat, ab altera pendeat, cum altera sit connexa: neque ut via quadam cogitationis necessariae ab altera perducamur ad alteram: verum formula A = A in similium comparatione sie adhibetur, ut unumquodque A per se coneipiatur. et eodem modo coneiperetur, etsi a sui similibus longissime esset remotum. Itaque ne plurium quidem rerum exstat relatio inter se: multoque minus cogitari debet de relatione rei ad sernet ipsam, quasi itinere facto ad sese domum rediret ibique imperaret.

Si tarnen aliquis ex me quaereret, an formula A = A necessario derivanda sit a multitudine rerum similium: id non affirmarem. Nimi- rum tota quaestio vertitur in hoc cardine: qui fit, ut multiplex ponatur A, atque ut scribi possit A = A = A = A etc. in infinitum, cum tarnen iubeamur idem A agnoscere in omnibus? Haec licentia multiplicandi negata videtur ipsius formulae sensu: nihilominus ratio sufficiens patet, [14] ubi adest rerum vel notionum alias diversarum multitudo, quibus omnibus nota A est tribuenda; itaque iam quaeritur, an hac unica ratione suffi- ciente nitatur licentia multiplicandi? Quod non concesserim. Vera enim

* Wolfii antologia §. 54. ** Vernunftlehre von Reimarus §. 163.

46 IV- De principio logico exclusi medii inter contradictoria non negligendo etc.

est formula, etsi nullo respectu habito ad rerum similium multitudinem. Quocirca restat explicandum, quid tum sibi velit illa multiplicatio. Potest autem formula, ut varietatis aliquid in se recipiat, ita resolvi:

A = A, sive A = non non-A,

sive A non = non-A. Quibus in formulis nihil am- plius inest, quam si dicas: A semper manet A, nee umquara a se ipso desciscere potest.

Itaque hoc sensu videmus prineipia identitatis et contradictionis esse aequipollentia: sed subaudiendam esse hanc thesin maxime necessariam:

Positis duabus negationibus eodem sensu aeeeptis, altera tollit alteram:

ut prorsus evanescant, ubi ad ide/n obiectum fuerint applicaiae. Habetur etiam pro concesso, negationem a praedicato transponere ante copulam.

Eiusmodi minutias vix proposuissem, nisi magnae auetoritatis quosdam viros in his logices [15] primordiis viderem in diversas abiisse sententias. Vetuit iam Hoffbauer, ne deriventur prineipia identitatis et medii ex- clusi a principio contradictionis;* et recte quidem, quia formularum aequi- pollentium nulla tanquam prior alteri tanquam ab illa dependenti est ante- ponenda. Nihil tarnen impedit, quominus ostendamus, alteram posse ad alteram reduci : quod quum ostenderim de formula A = A sive A = non non-A, adiieiam pauca de principio exclusi medii. Scilicet formula

A est vel B vel non-B admittit explicationem disiunetionis ; itaque sie resolvitur in duas formulas, vim disiunetionis exprimentes:

1) A, quod non B, est non-B,

2) A, quod non non-B, est B; ut redeat ad formulas:

1) non B== non-B, quae est identitatis;

2) non non-B = B, quam thesin modo proposui.

Apud Hoffbauerum invenio formulam Hegelianam, scilicet allegatam ut reiieiatur: quamobrem paucas lineas, per se satis ciaras, ex eius libro hie apponam:

Um den Satz der Einerleyheit zu beiveisen, schloss man : A ist entweder A oder [16] nicht A ; das letzte ist unmöglich, (iveil es sonst A und nicht A seyn würde), also ist es A." Sponte patet hunc syllogismum non meam esse reduetionem; neque ad prineipium exclusi medii demonstrandum adhibuerim hunc alterum syllo- gismum : r „Um den Satz der Ausschliessung zu beweisen, schloss man: Alles

mögliche ist enhveder A oder nicht A oder keines von beyden. Keines von beyden kann es nicht seyn, also ist es entweder A oder nicht A." Ubi patet circulus in demonstrando ab Hoffbauero reprehensus. Sed non opus erat syllogismis ineipientibus ab ineptis propositionibus. Reductio- num a me1 propositarum ordo postulat, ut ponatur

* Hoffbauer in logica, §. 23.

1 ab me SW.

IV. De principio logico exclusi medii inter contradictoria non negligendo etc. aj

primo loco: A non = non -A

secundo: A = A = A etc.

tertio : A est vel ß vel non B.

Ciaritas enim summa est in principio contradictionis : explicatione opus est in principio identitatis ob multiplicatum A; resolutionem requirit dis- iunctio in principio exclusi medii.

Venio nunc ad duumviros celeberrimos, quorum praesertim in rebus logicis magna est auctoritas: Krugium dico et Friesium.

[17] Krugius eo consilio rem agressus est, ut in artis formam et tria illa et rationis sufficientis principium redigeret, eaque omnia arctissimo vinculo complecteretur: quod his verbis declarat:

,,Die bisher aufgestellten Principien^ als Grundgesetze des Denkens, bilden ein in sich geschlossenes und vollendetes Ganzes; sie greifen organisch in einander und organisirend in alle Wissenschaften ein.'1

Vereor, ne in rebus simplicissimis nimio artificio usus sit. Pergit enim: „Das Princip der absoluten Identität stellt die Möglichkeit einer These, Antithese und Synthese überhaupt dar, indem in demselben A zugleich als gesetzt, sich entgegengesetzt, und sich gleichgesetzt vorgestellt wird. Es eoineidirt demnach in diesem Principe These, Antithese, und Synthese. Die folgenden Principien hingegen beziehen sich jedes einzeln auf die These: setze nichts widersprechendes,

Antithese: Von Entgegengesetzten setze in Einem Denkacte nur Eins, Synthese: Verknüpfe das zu Setzende nach dem Verhältnisse des Grundes zur Folge.

[18] Itaque iheseos partes suseepit principium contradictionis, quo ptohibemur, ne falsi quid ponamus: anthitheseos loco procedit principium exclusi medii, quod potius videtur lungere subiecto A alterutrum praedicatorum B vel non B; synthesin efficit principium ab hac familia alienum, nempe prin- cipium rationis sufficientis. Quorsum autem abiit formula A = A ? Haec scilicet ipsa complectitur omnia, thesin, antithesin, synthesin; quod profecto eget explicatione ! Sensit nimirum Krugius , rationern esse reddendam mirae illius multiplicationis infinitae, quam involvit principium identitatis: neque vero negationes evanescentes adhibet, sed utitur prorsus alio artificio. Intulit discriminis aliquid, quod non apparet in formula A = A, nee sua sponte evanescet, ubi semel fuerit admissum. Ipsius verba afferam:

,, Erstlich setzen wir etwas in Gedanken, was wir durch A bezeichnen, zweytens setzen wir dieses Gedachte sich selbst in Gedanken entgegen (?), drittens setzen wir es in seiner Entgegensetzung sich selbst gleich."* Jam per Krugium Iicebit Hegelio esse logico, qui ubi logicam describit, haec docet:

a) [19] ,,Das Denken als Verstand bleibt bey der ?>esten Bestimmtheil etc.

b) Das dialektische Moment ist das eigene sich Aufheben solcher Bestimmungen, und ihr Übergehn in ihre entgegengesetzten.

* Krugii logica §. 17.

48 IV. De principio logico exclusi medii inter contradictoria non negligcndo etc.

c) Das Speculative oder Positiv -Vernünftige fasst die Einheit der Be- stimmungen in ihrer Entgegengesetztheit auf ; das Affirmative, das in ihrer Auflösung und ihre/u Uebergehen enthalten ist."*

Tantum potuit Fichtius, ut sua thesi, antithesi et synthesi conciliaret viros ceteroquin admodum diversa sentientes! Etenim ad illum omnia vana huius generis artificia sunt referenda: ne queconspirarent Hegelius et Krugius, nisi ex eodem erroris fönte hausissent.

Iure certe suo postulabit Krugius, ut paullo ulterius progrediamur in eius sententia exponenda: habet enim meliora, ab illa identitatis direm- itone et contrariorum aequatione longe aliena: quae tarnen vereor, ne quamvis bona per se, ab hoc, quem traetamus, loco etiam sint aliena.

„Mau kann die Formel A = A, wenn man A als ein Ganzes vor- stellt^ auc hso [20] aussprechen: Das Ganze ist gleich allen seinen Theilen, und die Jhcile zusammen sind gleich dem Ganzen. Denn wir können- uns von einem Ganzen, als solchem, keinen andern Begriff machen, als vermittelst der Zusammenfassung seiner Theile, die zvir als Merkmale in den Begriff des Ganzen aufnehmen. Die Formel A = A kann ur- sprünglich nichts anderes bedeuten als die Identität des Begriffs^- von einem Dinge und aller seiner Merkmale." **

Agnosco logicum: sed non agnosco prineipii identitatis expositionem. Quaero, utrum primum A significet rem, seeundum notas coniunetas, an vice versa? Discrimen in cogitando adest inter notionem rei nondum de- finitam et definitionem notas rei seiunetas enumerantem : sed nihil di- scriminis demonstrat A primum et A seeundum. Deinde formula adhiberi potest notionibus simplieibus; neque enim concedo, omnes notiones esse compositas. Unum est unum; nihil est nihil; album est album. In his desidero nötarum varietatem aequantem ipsius rei notionem. Quam quum non inveniam, salvo principio abesse posse iudico. Itaque nihil iam de- sidero in for[2i]mula simplicissima; ne ipsas quidem illas negationes se in- vicem tollentes, nisi quis postulet, ut comparationem prineipii identitatis et contradictionis instituam, aut multiplicati A rationem reddam.

Profectus a principio identitatis, inde Krugius deducit formulam

non A non A atque pergit: „Man sollte lieber Satz des Nicht -Widerspruchs sagen. Doch in verbis etc. A ist nur darum ?iicht Nicht- A, weil A = A ist, d. h. es ist bloss darum ein Merkmal in Beziehung auf seinen Gegenstand widerstreitend, weil der Gegenstand duich einen mit geiuissen Merkmalen identischen Be- T griff gedacht ist.u

Si in verbis faciles nos praebere placet, haec etiam ita convertere licebit : A, ipsum sibi aequale non poneretur nee animadverteretur, nisi prius repulsam tulissemus, quum periculum fecissemtes repugnantes illi notas ob- trudendi. Sed redeamus ad prineipium exclusi medii; cui praemisit Krugius

* Hegelii Encycl. §. 80. 81. 82. ** Krug 1. c. §. 17.

1 als die Identität der Begriffe SW.

IV. De principio logico exclusi medii inter contradictoria non negligendo etc. 4g

principium, quod dicit, oppositionis, ita fere enuntiatum: posito A = B, negandum A = non B. Monet hoc loco, determinatione non semper opus esse, cum saepe in dubio relinquatur, an alicui rei A conveniat nota B [22] ncc ne. Sequi putat, restringendum esse principium exclusi medii ad res omni ex parte determinatas. Responderi potest, dubiam rerum conditionem non dubias reddere notiones generales: itaque notioni A vel iungendam esse notam B, vel non iungendam, etsi incertum maneat an rei cuidam A conveniat nota B non comprehensa in notione generali A. Quaeratur verbi causa: num homo sit doctus? Negandum id quidem, etsi docti sint viri : in hominis notione certe nulla mentio fit doctrinae. Apparet tarnen, cautionem esse adhibendam.

Friesii logicam evolventes, in tanto omnium, quae ad hanc artem

spectant, ubertate pleniorem fortasse, quam invenimus, principii exclusi

medii atque relationum eius ad principia identitatis et contradictionis ex-

positionem poteramus exspectare: praesertim, cum in aliis multa reprehendat

auctor, et satis longe a more usitato recedat. Saepe falsam, nunquam

omni ex parte sufficientem doctrinam de principiis cogitandi traditam,

anthropologica philosophicis mixta, ipsas formulas in capite logices a

plerisque collocatas, omnia ex uno principio supremo frusra deducta, multas

de formulis enuntiandis controversias motas queritur: suam adeo firmiter

constitutam censet doctrinam, [23] ut sibi in arenam non sit descendendum.

Equidem in ceteris quidem philosophiae partibus nonnulla deprehendisse

mihi videbar, quae non possem quin vel mutarem vel augerem : in logicis

autem plurima satis bene tradita putabam; neque si quid novi ad logicam

attuli, id magni esse momenti iudicavi. In anthropologicis haud parum

a Friesio dissentiens, hoc saltem ei libenter concedo, a logicis illa om-

nino esse separanda. Igitur seposita omni anthropologiae mentione, se-

posita etiam tota de quantitate, qualitate, relatione et modalitate con-

tioversia, taceo Friesii artificium in disponendis logices principiis secundum

quatuor illos tituios: sufficiat indicasse, Friesii et Krugii artificia hoc

loco prorsus esse diversa. Quod ut ante oculos ponam, ordinem, quo

principia illa distribuit, tacere non possum. Primo loco posuit Dictum

de omni et nullo, secundo principium exclusi medii, tertio thesin de ne-

gatione praedicati transponenda ante copulam, (ut formula A non = B

oriatur ex A = non B), quarto principium identitatis, quinto principium

contradictionis, sexto principium rationis sufficientis.* Principium duplicis

negationis nomine adest, revera deside[24]ratur: nam illo nomine tertio loco

legitur principium de negatione transponenda, sed abest formula A = non

non A. Paullo post tarnen suo quasi iure debitum locum sibi vindicant

tria illa principia, identitatis, contradictionis, exclusi medii; neque fieri

poterat, ut simplicissimum omnium, quarto loco absconditum quasi quieta

in sede remaneret. Tautologiam in omnibus agnoscit Friesius: explicandae

vel excusandae tautologiae conamina nulla invenio: itaque comparatione

cum Hegelio instituta assentior Friesio, quoniam hie ab illius peccatis

hoc loco commissis longe abest.

Sunt sane, quibus Wolfii, Reimari, Hoffbaueri, Krugii, Friesii

* Friesii logica § 41.

Hekbar-ts Werke. X.

c0 IV. De prineipio logico exclusi medii inter contradictoria non ncgligendo etc.

auetoritas nihil valeat contra Hegelium: quibus si vel sexcentos alios, ip- sumque Aristotelem proponerem, ne sie quidem obtinerem, ut moveri se confiterentur.

Longe plures fore suspicor, qui tautologias omnino non curandas esse putent. Qui, si placet, adeant, Platonem, ut discant, quanta vis sit in ideis identitatis et diversitatis : vel, si malunt, Schellingiani systematis nomen in memoriam revocent, quod identitatis systema appellatur. Quae- stio est, an Schellingius identitatem, quam servasse prae se fert, vere et recte tueri potuerit: quo loco si defendi posset, statim omnibus [25] philo- sophis in Schellingii vel Hegelii castra ita esset transeundum, ut, si quid controversiae remaneret, id minoris momenti esset habendum.

Principium exclusi medii hoc habet proprium, quod in eo vestigium apparet, exitum ex tautologiis patere. Reiecta enim Hegelii formula, A est vel A vel non A, atque revocata, ut iam monui, formula ab omni inde tempore usitata, A est vel B vel non B, iam conceditur, notionem quandam A in se reeipere notam distinetam B, quae ut ab A distinguatur, aliae quaedam notae in A reperiantur necesse est; quibus iunetis cum B efficiatur notio A: cavet tantum formula, ne addatur non-B, übt iam ad- missum sit B. Neque in logicis ullus movetur scrupulus de admittenda nota B ab aliis notis in A obviis diversa. Confirmatur idem exemplis mathematicis; habere multa propria triangulum, habere multa propria cir- culum, nemo dubitat. Accedit experientia: notarum multitudinem in rebus deprehendisse nobis videmur. Res autem sensibus oecurrentes mera esse phaenome?ia, monet metaphysica! Atque si ad philosophiam naturalem conamur adscendere, ratio reddenda est, quomodo fieri potuerit, ut uni rei non unum et simplex phaenomenon re[2Ö]spondeat, sed ut haec unitas con- vertatur in varietatem notarum, quas in unaquaque re observando collegimus. Solvendum est problema, quomodo aeeidentia vel attributa inhaerere possint substantiis. Quod solvi posse, retento communi verbi inkaerere sensu, si quis negat, phaenomenis quidem, neque tarnen rebus ipsis adhibebit prin- cipium exclusi medii; evanescit enim hoc principium, ubi prohibemur rei A ullam attribuere notam B ab aliis, si quae sunt, attributis eiusdem rei diver sam.

Sed longe maiora (si Diis placet) exoriuntur! Quam experientia cog- novimus naturam rerum, ea non tarn angustis circumscribitur finibus, ut substantiarum stabilitatem solam ostendat: mutationum adeo plena sunt omnia, ut quibusdam etiam vivere omnia videantur. Quid hoc sibi vult, vivere? Non vivitur e formula, A est vel B vel non B. Immo vero vi- vum A iam in eo est, ut procedat mutando notam B in aliam contrariam Nonne vita ipsa respuit principium exclusi medii? Itaque docente Hegelio vivere discat logica: discat etiam natura, nullum esse caput mortuum, nullam corporum inertiam : discant hominum mentes, nullam esse stabilem voluntatem nee cognitionem!

[27] Falsa et absurda haec esse, clamabunt omnes. Hegeliani docebunt varium redire ad unum, mutationem non derogare stabilitati; logici doce- bunt, vitam non repugnare prineipio exclusi medii, nam decedente nota B locum vaeuum relinqui notae non B, vel euieunque contrariae. Audio: nam hie certe rem persequendi locum non habeo; sed quaero, quamnam

IV. De principio logico exclusi medii inter contradictoria non negligendo etc. 51

causam habuerit Hegelius, cur novam conderet logicam, cur principium exclusi medii aggrederetur, cur intellectui id ipsum, in rebus finitis iden- titatem requirere, crimini daret? Hegeliani quid responsuri sint, non curo: sed alii sunt, iique multi, quibus hanc quaestionem etiam atque etiam meditandam censeam.

Logicarum autem regularum tale est robur, ea vis et auctoritas, ut pro abitrio unius scholae philosophicae flecti et frangi nullo modo possint. Receptae sunt non solum a ceteris scholis philosophorum (quibus imperare velle superbum est), verum etiam receptae sunt in ceteris artibus omnibus, in quibus quicquid est ordinis et formae, quicquid bene dispositum et rite conclusum, id vel ipsi debetur logicae, unde profectum est, vel consen- taneum saltem Uli reperitur atque agnoscitur. Vigent eaedem regulae lo- gicae non in doctrinis tantum, verum etiam in omni oratione [28] subtili et ad persuadendum accommodata; neque pro philosophorum, sed etiam pro rhetorum inventis sunt habendae. Plane contrarium dicendum est de rebus metaphysicis, dissensionum ita plenis, ut contentionum atque rixarum vocibus deterriti plurimi doctorum hominum eos fere perhorrescant. Quibus dissensionibus finem imponere vel quaerere saltem si quis velit. quid faciet? Xum logicae mutandae se accinget? Ita si processerit, exiisse censendus est e virorum doctorum coetu. Atque etiam rumpere videretur omnium artium commercium et vinculum, si eius vinculi rumpendi fas esset alicui atque potestas. Immo vero res metaphysicae tum demum recte con- stitutae apparebunt, ubi agnoscetur, naturae explicationem cum regulis logicis iisdem, quas omncs artes sequuntur, satis bene consentire. Id adeo perspicuum est, ut nullam dubitationem movere potuisset, nisi causa quae- dam erroris subesset: eaque mere historica. Fuit quondam tempus, quo in logica non solum normam cogitandi, sed omnium disquisitionum per- ficiendarum organon etiam invenisse sibi viderentur philosophi. Organi autem dignitätem logica non potuit sustinere neque tueri. Ita omni dig- nitate destituta videbatur; nee defuerunt, qui iam ante Hegelium logicam reformandam censerent. Sed huius erroris eadem [29] lere est ratio, ac si quis putet, bonas leges in republica per se solas, ademtis omnibus vitae opibus et auxiliis, sufficere ad salutem omnium proereandam et conser- vandam. Certe non sufficiunt: neque tarnen sunt evertendae, sed reli- giöse colendae atque ad vitam regendam adhibendae. Sic etiam in philo- sophia ceterisque artibus omnibus nihil fieri debet contra logicam, etsi permultis opus est auxiliis nulla cogitandi regula sed meditationum pluri- marum varietate, usu, assiduitate. dexteritate comparandis.

4*

5

V.

ORATIO

AD CAPESSENDAM IN ACADEMIA GEORGIA

AUGUSTA PROFESSIONEM PHILOSOPHIAE

ORDINARIAM HABITA.

1833.

[Text nach dem Msc. 2055 der Königsberger Universitätsbibliothek.]

Bereits gedruckt:

SW = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. XII, S. 267 282), herausgegeben von G. Hartenstein. Kl Sch = J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. II, S. 739 755), herausgegeben von G. Hartenstein.

Oratio ad capessendam in Academia Georgia Augusta pro-

fessionem philosophiae ordinariam die XXVI. Octobris

MDCCCXXXIII habita.

Magnifice academiae prorector, Professores plurimum venerandi, con- sultissimi, experientissimi, amplissimi, doctissimi. Commilitones humanissimi. Auditores omnium ordinum honoratissimi. l

Initio huius saeculi, cum ad prima publice docendi pericula facienda, philosophandique specimina edenda accingerer, hanc musarum sedem, ubi cathedram ascenderem, prae caeteris Germaniae academiis eligebam, hie tanquam inscenam prodire ausus sum; haec alma Georgia Augusta nisi primitias meas benigne excepisset, pendentemque animum confirmassel, desistendum fuisset a proposita vitae ratione. Mutatis temporibus, cum armis Francogallicis omnia cederent, Napoleonisque nutum artes Ger- manicae reformidarent, nee huius etiam loci fanetitas satis tuta videretur, oblata mihi est celeberrima illa cathedra Kantiana; quam et lubens tum aeeepi, et grata recordatione nunc amplector, nee tarnen meis rationibus adeo opportunam esse sensi, ut Georgiae Augustae desiderium tolleretur. Jam cum Regis dementia gubernatorumque huius academiae beneficio id honoris adeptus sim, ut, quo in loco juvenilem ardorem olim exer- cuerim, eodem quid seni mihi relinquatur virium, periclitari liceat : ex- speetationis nonnihil a loci munerisque dignitate profectum esse intelligo, cui sane vereor ne vel hac ipsa oratione parum sim satisfacturus.

Philosophiam commendandam esse sentio, suisque summis laudibus extollendam et ornandam; quam si possem a reprehensionibus et suspi- cionibus liberare, rem praeclare gestam arbiträrer. Quotum quemque enim hodie invenciam, qui philosophiam aliud quiequam esse putet nisi obscurorum verborum vel inanem jaetationem vel insidiosam contortionem? Doctos quidem viros aequum est Platonis, Aristotelis, Leibnitii, Locket, Kantii memoriam recolere, neque, simulac de philosophia sermo instituatur, de rixis scholarum nuperrime agitatis et vulgi sermonibus celebratis cogitare. Sed praeclara illa nomina, praeteritorum temporum ornamenta, hodie nobilem quandam aeruginem contraxerunt; quod malum eo iam processit, ut philosophiae contemtio frangat studia: neglectis autem studiis augeatur contemtio.

Sunt certe, quibus philosophia videatur regina sine ditione, sive im- perium sine territorio; quod haud scio an recte dicatur in quasdam philo- sophorum scholas. imperatoriam quasi potestatem sibi arrogantes; quarum meum non est patrocinium. Sed quam longe meam ab illarum causa separaverim, vix audeo dicere. Nam abiisse philosophos in summam scholarum diversitatem et discrepantiam, hoc ipso nihil maius et gravius,

1 Die Anrede fehlt in SW.

c6 V. Oratio ad cappessendam in Academia Georgia Augusta professionem etc.

si in causas contemtae philosophiae inquirimus, reperietur; quod tarnen quäle sit, fortasse non satis intellectum est abiis, qui hanc rem philosophiae crimini dandam putant. Difficultates enim superandas ignorant: itaque impedita habent pro expeditis; inchoata adspernantur, quoniam nondum sunt perfecta; obliviseuntur, praeclara quaeque esse ardua. Libros et scholas multi adire solent tanquam oracula: quorum effatis sit parendum nulla adhibita meditatione; atque inter ipsos libros ii videntur commodissimi, qui penum quasi porrigunt omnino paratum ita, ut statim in usum possit converti. Sunt autem quaedam animi gymnasia, non ad memoriam com- plendam, sed ad cogitationem acuendam, exercendam, roborandam aecommo- data : eaque gymnasia esse philosophorum scholas, Vobis profecto, Viri cele berrimi, est notissimum; neque ut Vos doceam, haec dixi, sed ut me huius rei memorem esse videatis.

Si tarnen in hoc loco, quem modo tetigi, paullo diutius commorari non dignamini: habeo quaedam ab hac publice divendi occasione, ut mihi quidem videtur, non omnino aliena. Itaque dicam de philosophia ob scholarum diversitatem non contemnenda.

Si quis ex me quaerat, quid aetatis sit philosophiae? equidem non

sie responderim, quasi velim matronae auetoritatem illi assignare; quod

tarnen recusare non possem, si a Thaletis usque ad nostra tempora semper

viguisse eam concederem. Viguit ab Anaximandro usque ad Aristotelem:

nam hoc quidem temporis spatio plerique illius fontes sunt detecti et

aperti. Viguit etiam a Cartesio usque ad nostram aetatem; nam multa

inde ab illo incrementa ad eam accessisse negari non potest. Itaque, si

placet, demus ei quatuor saecula, vel, si quis liberalior est, quinque vitae

ingenuae saecula, pro ipsius dignitate satis bene peraeta. Neque affir-

mare ausim, Aristotele mortuo mortuam statim esse philosophiam: sed

tarnen, si verum fateri velimus, quaenam erat illa vita post Aristotelem,

et qualis philosophandi ratio, cum Stoici miscerent Platonem Heraclito,

Academia seepticismi fere patrocinium suseiperet, Epicurei abuterentur

Leucippi invento per se non contemnendo ad ethices et religionis prin-

cipia pervertenda? Ipse iam Aristoteles, summo ingenio, summa doc-

trina, multorum saeculorum fax, dux, dominus, num tantae dominationis

offieiis gravissimis par fuit, aut vel ipse parem se esse arbitrabatur ?

Fluctuat, haesitat tv nollfi dnoQia inter sensibilia mathematica, et ideas:

Platonem saepe carpens a Platonis ore tarnen pendet: logicae inventor

difficillima quaeque logico more aggreditur: quod primis metaphysices

problematis expediendis non sufheere nostris demum temporibus ita mani-

festum est factum, ut nunc etiam contra logicam peccare ad quorundam

philosophorum laudem pertinere videatur. Scilicet peccatur logicos intra

muros et extra: quorum vitiorum vix dici potest utrum sit ad deforman-

dam philosophiam efficacius. Reliquum est ut respiciamus ad illa medii

aevi tempora, quibus religionis cum praeeeptis tum consolationibus adeo

non solum egebant homines, verum etiam ita obruebantur et custodiebantur,

ut philosophari vel non liberet vel non liceret vel, specie quadam retenta,

res tarnen cessaret, quoniam genuina prineipia longa oblivione premebantur.

Sed quid multa de re notissima ? Placuisse quibusdam audio, Scholasti-

corum similes scholas denuo aperire, sed quamdiu nostrae aetatis homines

V. Oratio ad cappessendam in Academia Georgia Augusta professionem etc. cj

eiusmodi eruditionem facile passuri sint, doceat experientia. Comparatione facta liberam illam et alacrem laetamque animi motionem, cui Graecum Graeci imposuerunt nomen philosophiae, rara quadam videbimus tem- porum opportunitate procreatam et auctam; qua opportunitate deficiente, florem illum ingenii huruani necesse erat flaccescere ita, ut vagae tantum remanerent recordationes, quibus ultro citroque iactandis atque ad varias iniones accommodandis, cum revera nihil proficiatur, nihil ad scientiam addatur, omnia illa saecula, quae meliore nota carent, ab aetate dis- ciplinae sunt detrahenda: unde efficitur, philosophiam multo iuniorem ac vulgo credi solet esse reputandam.

Ulis autem temporibus, quibus vere vixit et crevit philosophia, quan- tum putemus numerum fuisse hominum huic studio deditorum? Ut pau- corum artificum multi solent esse imitatores, ita et philosophorum; certe paucissimorum est, artem ipsam promovere. Quae quidem ars ubi una quadam recta linea potest promoveri, brevi tempore satis longum viae spatium solet emetiri: nee a reliquis artibus philosophia fuisset celentate Crescendi superata, si ut quibusdam videtur, ab uno prineipio profeeta unum potuisset cursum tenere. Sed hoc ipsum prorsus est contra philo- sophiae naturam; et egregie falluntur, quieunque una, quam vocant, methodo omnem complecti se posse diseiplinam gloriantur. Viarum et rationum in philosophia ad hibendarum tanta fere diversitas est, quanta notionum traetandarum ; atque perraro fit, ut eadem quasi formula ad duo proble- mata solvenda sine ulla mutatione uti possimus. Itaque non uno in puncto, sed multis in locis simul est inchoandum; unde confusiones ne oriantur multae cautiones sunt adhibendae. Dein de sunt et verae coniunetiones suo nexu rite servandae, et vanae rerum iungendarum species omnino exterminandae; ne ingenti errorum invectorum vi clarissima quaeque mis- ceantur obscurissimis, quod aeeidisse practicis prineipiis, metaphysico, sidiis piacet, more traetatis, satis constat.

Sed suspicor, fore, qui contradicant : videlicet ut eam tueantur rati- onern, quam secutos multos inde a Reinholdio videmus philosophos re- centiores unum proponentes prineipium, unde omnia sint deducenda. Qua sententia comprobata, equidem nullo certe inter philosophos loco habendus ero, quippe qui per trigmta annos nullam fere praetermiserim occasionem, quin pronuntiarem, hunc ex uno puncto procedendi ardorem non veritatis, verum erroris fuisse fontem uberrimum. Attamen taceo me ipsum: illud quaero: unicum prineipium ab omnibus concessum utrum invenerint, an vero de hoc ipso constituendo adhuc sub iudice lis sit? Acquiescendam quondam videbatur multis in Cartesiano illo : cogilo ergo, sutn ; quod a Spinoza relictum, a Lockio, Leibxitio, Kantio repudiatum, in novam formam conversum prodiit in Fichtiano idealismo, mox ad Spinozismum tradueto, neque suam formam integram conservante. Ipsa autem philo- sophia tantum abest, ut ex hoc fönte prodierit, ut potius Graecis auetoribus eiusmodi* ratio prorsus fuerit ignota, nisi forte ad Sophistas, philosophandi corruptores, velimus confugere. Diversissimos in venimus homines in philosophorum honore habitos; quod nullo modo potuisset fieri, si uno qualicunque prineipio opus esset ad eum honorem obtinendum. Diver- sissimi sunt Plato, Aristoteles, Par.mexides, Heraclitus, Zeno Ele-

cQ V. Oratio ad cappessendnm in Academia Georgia Angusta professioncm etc.

aticus, Zeno Cittiensis, Spinoza, Kantius, Jacobius, ne plura etiam nomina conferam. Qui si omnes aliquid attulerunt ad philosophiam, mi- nime necesse fuit ad unicam normara adstringi, verum in eo nobis est elaborandum, ut hanc varietatem et intelligamus et colligamus, suisque locis collecta distribuamus, distributa iungamus, iuncta ab erroribus inter- positis purgemus, conservemus, atque cum experientia comparemus.

Quod si nullo modo iis est cedendum, qui omnia in philosophia uno nutu regenda putant, et regi posse confidunt: iam id quidem sponte elucescet, philosophiam ob scholarum diversitatem non esse contemnendam. Sunt enim diversa initia; iisque respondent diversae meditationum formae, quibus cum multum tribuendum, tum plus etiam ignoscendum, si qui a migrandis cuiusque meditationis iustis finibus sibi non satis caverunt. Propius tarnen accedamus, ut in rem commodius inspiciamus. Quid sibi volunt illi philo- sophiae contemtores? In omni, inquiunt, sententiarum dissensione plus una vera esse non potest ; sunt autem plurimae ; itaque quamcunque sumas, ea falsa videatur necesse est. Praeclara sane conclusio, si modo hoc recte se habet, omnem systematum diversitatem esse dissensionem. Disputan- tium philosophorum culpa hoc potuisse accidere, ut audientes nihil au- dirent, nihil perciperent, nihil intelligerent, nisi dissensionem, non audeo negare: polemicis enim arteficiis, polemica virtute multi solent instar heroum Homericorum pugnare. Quocirca non admodum est mirum , siqui iudi- cant, tot tantisque bellis literariis nihil amplius subesse nisi ipsam bellandi voluptatem, eaque aliquando satiata hoc quidem bellorum genus finitum iri, et firmam aeternamque pacem esse subsecuturam. Revera autem subest problematum philosophicorum multitudo et varietas: quorum aliud ab alio tractatum inducere solet in nimiam spem, hinc vel illinc aliquando totum philosophiae ambitum collustratum iri. Spem sequitur temeritas, temeritatem dissensio: dissensionibus autem veri aliquid sub esse atque ansam dedisse semper existimandum est, donec probetur contrarium. Inde perspicitur, cautionem quandam necessariam esse adhibendam. Philo- sophorum dissentientium non una ratio aut altera est eligenda pro lubitu, sed spectandae sunt dissensionum origines, ut veritates ibi latentes eruantur. Atque cum systemata nectantur alia ex aliis : primitivis multo plus operae debemus navare, quam secundariis; ideoque etiam respiciendum est potissi- mum ad quatuor illa vel quinque saecula philosophiae florentis, ne sequi- orum temporum erroribus nimis obrutam adipiscamur veritatem.

Etsi autem omnia, quae dixi, mihi concedantur, tarnen meis ipsius verbis ita irretitus videbor, ut vix pateat, quo confugere possim. Non omnem systematum diversitatem esse dissensionem, sed ipsi potius veritati messe quandam varietatem, unde varia, eademque vera potuerint oriri philosophandi initia : id qui libenter concedant vix defuturos puto. At dissensio tarnen, quomodocunque orta, Signum est erroris. Id quidem ipse non possum quin concedam. Sequitur, ut, quatenus ab aliis dissen- tiam, in errore videar versari. Quod si ita est, monendi sunt omnes, qui nie volent audire, ut potius initia spectent, unde proficiscar, quam con- clusiones, si forte quasi ad metas propositas orationem direxero. Initiis enim veritatem sub esse putandum est; conclusionibus autem, si qui fidem adhibere volent, sua meditatione utantur necesse est, nam ipsos oportet

V. Oratio ad cappessendam in Academia Georgia Augiista professionem etc. cq

erroris periculum praestare. Hac conditione, auditores amplissimi, hono- ratissimi! philosophiae docendae munus et officium suscipio; ut, si quid vobis probavero, eius defendendi curam impositam vobis ipsis existimetis. Atque profecto, si veris argumentis usus fuero, iisdem recte intellectis Vos etiam sententias a me acceptas poteritis tueri. Sententias autem sine argumentis, argumenta sine principiis nee vos decet aeeipere, et a me aeeipi nolim: itaque si quando sententias videbitis tamquam metas pro- poni, non philosophandi, sed orationis hoc est artificium, idque non pro- bandi sed clarius loquendi causa adhibetur.

Verumtamen, ne officii mei partem aliquam videar in alios devol- vere, praesertim in eos, qui tali oneri sustinendo minu spares soleant esse: paullo uberius hie locus est explicandus; quod ut fiat, bifariam procedat oratio necesse est; nam initiorum traetandorum alia ratio est, ac con- clusionem argumentis inter se aptis et nexis efficiendarum.

Ut itaque primum dicam de initiis, quae prineipia vocari solent: maxima cura opus est, ne quid in principiis exponendis vel omittatur vel negligatur; deinde ne quid ultra terminos iustos producatur, cuius rei illustrandae causa pauca adiieiam. Logicae prineipia non sunt negligenda verum praeeepta eius semper sunt servanda: attamen cavendum, ne vel Kantiano more honestatem omnem quaeramus in forma voluntatis generali et singularium officiorum subordinatione logica, vel antiquiorum metaphysi- corum errore paene ridiculo de rerum natura decernamus syllogismis freti, antequam primarum notionum difficultates insitas iisque adhibendas correc- tiones rite perspexerimus. Quod honestum, id solum bonum, atque vir- tutem unicam esse, recte dici potest: verum ipsius honesti vis ut recte intelligatur, plures eius fontes, unde oriatur, sunt agnoscendi, et omnes enumerandi: omnes, inquam, fontes nullo neglecto, aperiendi, ut aequitas distinguatur a iure, ut benevolentia iuxta fortitudinem suum obtineat locum, ut Platonica illa dixaioovvi] omnes ideas practicas complectatur quidem, neque tarnen luminibus earum propriis officiat, easque in umbram, ne dicam in carcerem, coniieiat. Ad rerum naturam, experientiae quasi digito in- dice monstratam, nee tarnen penitus reclusam, aliquanto melius cogno- scendam summo iure adhibentur metaphysicae disquisitiones: at summo in errore versantur, qui metaphysices initia, ab ipsa experientia profeeta, aliunde petunt: datis enim principiis neglectis, nullo in loco certo consistere possunt, sed arreptis opinionum commentis in mari vasto iaetantur, donec fluetibus abripiantur et oblivione tradaniur. Dedit autem experientia non unicum tantum metaphysicae prineipium, sed dedit plura. Habemus enim et externam experientiam, et internam : itaque iubemur et hanc et illam consulere, neque fas est, idealistarum more, e conscientia nostri mundum et historiam a priori, ut aiunt, construere, neque eultro anatomico ad con- scientiae sedem ita penetrari potest. ut internam eius naturam sol radiis suis illimiinet oculisque explorandam proponat. Qui autem iustos cuius- eunque diseiplinae terminos observare nesciunt, qui logicam ethicae, ethicam metaphysicae miscendam, atque harum diseiplinarum initia diversissima in unum qualecunque prineipium confundenda putant, ii per me licet misceant etiam mathematicam illis diseiplinis: quam si nossent, adhiberent fortasse, sed non miscerent. Aliud enim est adhibere suo loco, aliud, temere miscere.

6o V. Oratio ad cappessenclam in A.cademia Georgia Augusta profcssionem etc.

Equidem semper sollicitus fui, ne miscerem distinguenda; ne turbarem rerum diversarum ordinem atque dispositionem ; itaque meo iure, ni fallor, postulavi, ut aequabilis omnibus philosophiae initiis adhiberetur attentio, quam attentionis aequabilitatem si obtinuissem, iamdudum ardor polemicus deferbuisset, atque de ipsis forsitan philosophorum dissensionibus non multum superesset dicendum. Initiis enim recte positis, distributis, sepa- ratis, tractatis, argumentorum quoque deducendorum series longe facilius explicantur, atque permulta, quae videbantur humani ingenii modum ex- cedere, sua quasi sponte redeunt in nostram ditionem, et usitatis medi- tandi artificiis se explorari patiuntur.

Pergamus nunc ad illam erroris suspicionem latentis in conclusionibus, argumentorum ope deductis ex initiis quamvis recte cognitis et expositis: quam suspicionem multo magis seriam habendam et tractandam putarem, si ab iis potissimum moveretur, qui ipsi in argumentis nectendis et con- cludendis admodum essent exercitati. At qualem audivimus orationem! Confugiendum esse ad intuitivam quandam philosophandi rationem, quo- niam argumentis nulla sit fides habenda! Itaque gratulemur beatis illis, quibus contigit intueri, quod argumentis frustra tentatum remanserat in- certum: dummodo intellectuales, quae vocantur, intuitiones salvae sint at- que intactae, nee obnoxiae tot dubitationum generibus, quot seimus cora- munem sensuum cognitionem labefaetasse. Manifesto autem intellectuales, si quae essent, intuitiones, in eadem crimina ineurrerent, quibus omnis arguitur experientia; quocirca ad ignavam rationem, inscientia tanquam vallo se munientem, simpliciter sunt ablegandae.

Rem ipsam considerantes, fateamur necesse est, omni argumentandi generi sollicitudinis aliquid, ne fallamur, adhaerescere ; idque tanto magis, quanto plus novitatis habent conclusiones argumentis prognatae; quanto- que longior mit series meditationum mterpositarum. Movetur enim proc- edente attentione animus in cogitando: relinquuntur et evaneseunt ea, quae missa faeimus, cum progrediamur et annitamur a cognitis ad occulti- ora: post exoritur cura, ne quid commutatum atque confusum, ne quid imprudenter vel ommissum vel admissum sit, quod melius animadversum cogitationes nostras in aliam partem dueturum fuisset.

Abundamus etiam exemplis, quibus augeatur ea cura: videmus enim excellentes viros, summo ingenio, summa doctrina et exercitatione, in locis lubricis quasi subita caligine circum fusa lapsos, ut iter optime ineeptum continuare non possent. Neque tarnen omnino desunt remedia huius curae, et quidem eiusmodi remedia, quae ex ea ipsa philosophorum dissensione -)Sint colligenda. Nimirum error saepe magister est veritatis; anteceden- tium periculis et damnis cognoseuntur loca periculosa; atque haud raro inter Scyllam et Charybdin reperitur via media, quam nunc quidem et monstrare et observare licet, modo adsit rerum praeteritärum notitia, medi- tandi usus satis frequens, acumen sine arrogantia, fortitudo sine temeritate. Itaque si quid novi vel nobis in mentem venit, vel ab aliis inventum nuntiatur, novitatis laude seposita id potissimum agamus, ut novitatis peri- cula minuamus; quod fieri solet comparatione instituta cum superiorum doctrinis, earumque vitiis jam satis cognitis, reprehensis, emendatis: sie etiam peccata recens commissa facilius detegentur. Cum autem superiorum

V. Oratio ad cnppessendam in Academia Georgia Augusta professionem etc. 6 1

dissensiones non erroris tantum indicio, sed veritatis etiam esse per- spexerimus: inde aliud quoque commodum augurari licet; si quidem vera philosophandi initia sub dissensionum velamentis latentia satis cognita habeamus. Sunt enim, ut jani clixi, plura initia vera: unde facile colligitur, plures etiam a pluribus initiis argumentorum series exstituras esse : quae sunt quasi totidem viae per campum philosophiae in omnes partes ita porrectae, ut saepe alteri oceurrat altera, sive, argumenta argumentis aliunde petitis comprobentur atque confirmentur: quod in mathematicorum calculis fere semper et usu venire, et Optimum contra errores forte commissos praesi- dium solet praebere. Quamdiu autem argumenta argumentis contrariis videntur pugnare: tamdiu quaerendum est, utrum argumentorum sit pugna, an vero hominum suis praeiudicatis opinionibus faventium : deinde, utrum revera de eadem re sit controversia, an vero distinguendo et suum cuique tribuendo dirimi possint lites atque componi: denique in rebus, quae vel fiunt, vel effici possunt, recte iudicandis maxima vis est experientiae, quam semper ante oculos habeamus necesse est; ipsa enim est, quam et cogitando assequi, et in agendo recte tractare conamur.

Notissima sunt, quae protuli: itaque remediis contra argumentorum er- rores iam inventis atque paratis, quid est, cur philosophorum dissensiones ne nunc quidem finem habeant? Quibus finitis maximam fore philosophiae auctoritatem quis dubitet? Num fortasse prorsus immemores hodierni philosophi sunt veteris proverbii: concordia parvae res crescunt? an potius quod facile fuit dictu, id difficile est factu? Certe ita resse habet: In- primisque id ipsum, cuius mentionem modo inieci, experientiam cogitando assequi, difficillimum est: quod ut paucis illustrem, commode rem sie puto considerari posse. Quotidiana experientia nullam solet admirationem exci- tare: sin praeter consuetudinem aliquid vel aeeiderit vel a physicis in- ventum exhibetur, tum demum omnes mirantur: experti enim eiusmodi ali- quid sibi videntur, quod sit contra experientiam, (scilicet contra eam, quam adhuc usque habuerant, atque familiärem sibi reddiderant, experientiam;) itaque mirantur, experientiam ipsam sibi non consentire. Accuratius tarnen in communem atque quotidianam experientiam inspicientem fugere non potest, permulta illi inesse magis etiam admiranda, quam si quid novi nunc primum insolita specie sensu sperculerit. Quamobrem multo saepius, ac sentiunt homines, mirandum est, experientiam sibi non constare. Neque tarnen hoo ita aeeipi potest ac debet, quasi ipsa rerum natura quae maxime est constans, a sese deseivisset suasque regulas violasset. Itaque magnum interest discrimen inter experientiam hominum et naturam rerum; vitiumque latet in notionibus, quas experientia duce formavimus; iis enim ipsis utentes experientiam cogitando non assequimur, siquidem in contrarias partes di- straeta cogitatio nihil certi est adepta, quod sibi proprium habeat atque firmiter amplectatur. Nimirum natura non tales nos genuit, quasi intima viscera inspicienda nobis esset praebitura: concessit experientiam; negavit cognitionem adeo liquidam, ut statim in sensus in curreret neque ullam desideraret correctionem. Sed ad experientiam in veram cognitionem evehendam magna vis est in physicorum artiliciis et instrumentis, maior etiam vis in mathematicorum figuris et formulis: plurimum tarnen laboris relinquitur philosophiae, cui ineumbit primarum notionutn corrigendarum

52 V. Oratio ad cappessendam in Academia Georgia Augusta professionem etc.

officium: bis enim notionibus nondura correctis nee uti nee earere possumus in experientia cogitatione persequenda. Sed jam vereor, ne omnino ab- sona videar protulisse : baec enim ipsa sunt, quae permulti sibi persuaderi nullo modo patiuntur. Quocirca testes adhibebo satis locupletes: ipsas illas, de quibus iamdudum locutus sum, philosophorum dissensiones gravissimas, diuturnas, minime commodas nee iueundas, nullis preeibus, nullis admo- nitionibus exstinguendas: quibus si experientia sola posset mederi, nostris certe temporibus physicorum experimentis et bistoricorum narrationibus satis medicinae haberemus comparatum et coacervatum. Immo vero ab ex- perientia quotidie aueta, quotidie novi prodeunt Stimuli ad excitandas dissensiones. Quodsi hoc esset malum sine medecina, dolendum esset potius quam contemnendum: mihi vero ne dolendum quidem videtur, sed observandum, atque in humanae naturae phaenomena valde memorabilia referendum. Explicationem huius phaenomem petendam esse a psycho- logia, medicinam vero mali parari in metaphysica, iam uberius ostenderem, nisi loci et temporis rationibus obtemperarem.

Paucis adhuc considerandum est, quales se gesserint philosophi, cum dissensione velut onere omnibus simul imposito premerentur. Neque tarnen multa dicturus sum de iis, qui molestiae communis impatientes ad vim quandam literariam, ad arma polemica confugiendum putarunt, atque omnes aliter sentientes pro inimicis et hostibus habitos magno impetu adorti, triumphos ante victoriam egerunt. De quibus quid ipse iudicem, parvi est momenti : quäle autem iudicium latura sit historia, idquidem non obscurum videtur: non enim de bellorum, sed de artium historia hie loquor, quae conservare ingeniöse inventa, verborum altercationes vel silentio praeterire, vel si quid gravius in de secutum sit, tristi nota insignire solet. Mihi potius speetandi sunt duumviri illi celeberrimi, quorum alter aca- demiam Regiomontanam , alter hanc Georgiam Augustam suo nomine et ingenio illustravit. Uterque sie se gessit, ut libere diceret, quod sentiret; hominum opiniones et gratiam non aueuparetur; ad magnas contentioiies non descenderet; artificiosa oratione parum uteretur; publica laude non anxie quaesita ad summam aetatem usque frueretur. Kantius cum philo- sophiam viribus fraetam invenisset et quasi aeeepisset, tanto eam splendore circumdedit, ut omnes artes novo lumine resplenderent, multique in eam exspeetationem inducerentur, mox finem adfore omnium inter philosophos dissensionum. Quam exspeetationem nimiam esse sensit Schulzius: itaque obstitit iis, qui minus considerate omnia ad Kantianam formam et normam exigere conabantur, dum ipsa Kantianae doctrinae forma adhuc in dubio ~) erat, emendandique causa variis rcodis tentabatur. Obstitit, inquam, Schulzius auetoritati Kantii; condradixit faeundiae Reinholdianae: repug- navit audaciae Fichtianae et Schellingianae; sustinuit varios mobilium opini- onum impetus; suoque loco per longam annorum seriem ita se tenuit ut numquam adversariis victoriae de se reportatae gloriam concederet. Habe- mus hie philosophorum talem dissensionem, qualis est et laudanda et op- tanda: nulla enim alia ratione caveri potest ne systemata magna quidem ex parte praeclare neque tarnen omnino perfecta errorum progeniem cito crescentem spargant atque divulgent. Mea quidem sententia, si plures fuissent Schulzii similes, Kantiana ratio non tarn turbidos motus excitasset;

V. Oratio ad cappessendam in Academia Georgia Augusta professionem etc. 6 3

minorem scribendi et disputandi ambitionem aluisset; a paucioribus fuisset maiori assiduitate et acumine examinata; quantum discesserit ab officiis criticis, non tarn diu latuisset; quid valeat contra Spinozismum, omnium oculis patefactum esset: hinc philosophia nostri temporis longe aliam haberet historiam, multoque melius jam nunc esset constituta. Hodie quidem nihil magis venit in consuetudinem, quam laudatores temporis acti irridendos iis se praebere, qui semper novas res moliuntur: quod tarnen, ni fallor, plerumque indicat, negligentiam peperisse arrogantiam, eiusque rei in philosophicis etiam exempla mihi videor deprehendisse, quae nunc non übet proferre. Hoc dico, Kantii philosophiam vel non minori vel maiori etiam hodie in honore futuram fuisse, si in de ab initio diligen- tius, severius, saepius, a viris gravibus et sagacibus, qualis Schulzius mit, lustrata, expensa, excussa, perpurgata esset, atque ad verum pretium reducta. Est enim ita comparata, ut omni falsa laude abiecta tarnen summa adhuc maneat in dignitate. Kantianum ipse me professus sum, at- que etiam nunc profiteor: quod quo minus pronuntiarem, impedimento mihi non fuit vetus illa psychologia, animum quasi lacerans, animique facultatum bella gesta narrans: cui fabulae quamquam totum systema Kantianum superstructum videtur, ab intimo tarnen ipsius Kantii consilio aliena est judicanda: quae enim ille contra antiquiorum scholarum cosmo- logiam et theologiam habebat dicenda, ea non hausta erant, nee hauriri poterant ex falsae psychologiae fontibus ; verumtamen nota lectoribus psychologia ute- batur Kantius, ut doceret, quae vellet, atque ut intelligeretur a sui temp- oris hominibus, quibuscum certe de mathematica psychologia, etiamsi Kantius hunc locum tetigisset, non erat loquendum. Itaque vehementer ab aliis Kantianis dissentiens, quibus illa fabula totius philosophiae arx et praesidium videri solet, multo minus dissentio ab ipso Kantio: dissen- sionem tarnen velare vel infitiare nolo, quia illud ipsum dissentire mihi non adeo vituperandum videtur, ut ab eo tanquam a macula mihi sit cavendum. Ridiculi sunt, qui in dissentiendo laudem quaerunt, quasi in- dignum esset philosopho, aliena vestigia sequi. Sed aperte dicendum est, si post meditationes ad maturitatem perduetas aliquem in errore deprehen- disse nobis videmur: idque dici potest sine verborum pugna, et salva philosophiae auetoritate: quam ubi deminutam videmus, partium Studium ultra simplicis dissensionis fines jam processit. Kantio plus tribuendum iudico, quam unieuique recentiorum: quem autem psychologiae usum in- troduxit, condonandum potius quam concedentum arbitror: et multo etiam magis illam metaphysicam morum, in qua totam ethicam positam esse voluit, reprehenderem, nisi haec esset verborum potius, quam rerum con- troversia., Animadvertendum est certe, verbis male positis, haud raro hom- inum opiniones aeque fere turbari, ac rebus male cogitatis: itaque diserte pronuntiandixm mihi videtur, metaphysicam speetare naturam, sed ad philosophiae practicae prineipia nullo modo pertinere. Ius igitur meta- physicum nullum est: ius civitatum metaphysice paratum idem valet ac lignum ferreum : si autem timor etiam huius monstri quosdam invasit, eos velim sedulo metaphysicae operam dare, ut vel cognoscant, quam aliena sit a iure constituendo moribusque regendis metaphysica, vel saltem Kantium internoscere discant a Spinozistica ratione: haec enim non verbis tantum-

5 i V. Oratio ad cappessendam in Academia Georgia Augusta professionem etc.

modo male utitur, sed revera atque prorsus aperte id egit, ut vim rerum naturalem cum iure confunderet, eundemque virium et iurium esse am- bitum doccret. Nihil tale Kantius! accurate practicam a theoretica ratione distinguens adeoque practicae rationi primas vindicans partes. En magni momenti exemplum, philosophorum dissensiones interdum plus timoris mo- vere verbis male intellectis, quam rei melius perspecifae consentaneum est. Videtis, auditores venerandi, excellentissimi , quam longe abfuerim a philosophia commendanta laudibusque cumulanda. Maluissem profecto, si tanta orationis gravitate pollerem, philosophiae cum ceteris artibus Omni- bus familiaritatem laudare, eamque maxime necessariam : demta enim hac familiaritate, ipsarum etiam artium inter se vinculum nisi omnino tollitur, remittitur tarnen atque discingitur: tum dilabuntur artes, omnisque doctrina splendoris plus quam luminis spargit, hominumque admirationem potius movet, quam fructus iis praebet, nisi forte ad minutas utilitates descendant viri docti, unde nihil generosum, nihil sublime prodire potest. Maluissem, inquam, philosophiae vim ad ingenia excolenda, corroboranda , monenda, ad curas vulgares superandas affectusque coercendos, ad colligendam et perspiciendam rerum varietatem, ad ipsum summum numen ea qua par est, verecundia agnoscendum, debita diligentia et facundia exponere. Quod cum nimis arduum, his praesertim temporibus, mihi videretur, satis habuide philosophorum dissensionibus ita dicere, ut eas vel excusarem hominum us- que ad nostram aetatem vere philosophantium paucitate, vel explicaremi ni- tiorum multitudine et veritatum occultarum varietate, vel leniendas osten- derem principiis rite dispositis argumentisque apte connexis, vel saltem non condemnandas demonstrarem propter humanae experientiae conditionem, vel accomodandas et ordinandas ad clarissimorum virorum exempla in- dicarem. Breviter multis de rebus erat dicendum : severioris disciplinae formas hoc quidem loco et tempore a me exspectari non putavi: si quae- dam vobis minus probavero, vestro iudicio meum anteponere nolui. Exem- plis usus sum mihi proximis : Kantium et Schulzium honoris causa nomi- navi; quos ofnicii laudisque viam mihi praeivisse omni, quae ipsorum memoriae debetur, observantia libenter confiteor. 1Tibi, magnifice aca- demiae prorector, Vobis, professores plurime venerandi, consultissimi, ex- perientissimi, amplissimi, doctissimi, vobisque commilitones humanissimi, Vobis aud o. o. hon. commendatum etiam atque etiam mecupio: dissensionum molestias longissime nobis abfuturas confido : quae inter collegas com- munia esse aequum est, ea cum tot viris celeberrimis mihi communia fore spero, atque iam nunc gaudeo: si ad amicitias etiam, atque ad •)- familiaritates vestras aditus aliquos mihi patere invenero, inde quantum et honoris et voluptatis sim percepturus, id neque dubiume st, et praesen- sione quadam iucundisima mihi videor cognovisse. Dixi.

1 Der Abschnitt von ,.Tibi, magnifice academiae prorector . . . ." bis zum Schlufs fehlt in SW.

VI.

UMRISS

PAEDAGOGISCHER VORLESUNGEN

1835-

[Text nach der I. Ausgabe 1835 mit Beifügung der Abweichungen der II. Ausgabe 1841.]

Bereits^gedruckt :

SW. = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. X), herausgegeben von G. Har- tenstein. B = J. F. Herbart's Pädagogische Schriften (Bd. I), herausgegeben von Fr.

Bartholomäi. R = J. F. Herbart's Pädagogische Schriften (Bd. I), herausgegeben von Karl

Richter. W J. F. Herbart's Pädagogische Schriften (Bd. II), herausgegeben von Otto Willmann.

Herbart's Werke. X. 5

Vollständiger Titel der Originalausgaben:

a) I. Ausgabe:

Umriss

pädagogischer Vorlesungen

von

Herbart.

Göttingen,

in der Dieterich sehen Buchhandlung.

1835-

b) II. Ausgabe:

Umriss

pädagogischer Vorlesungen

von

Herbart.

Zweyte vermehrte Ausgabe.

Göttingen, Druck und Verlag der Dieterich sehen Buchhandlung.

1841.

Vorwort

[zur I. Ausgabe 1835].

Eine der frühesten Schriften des Verfassers, unter dem Titel: „All- gemeine Pädagogik", hat bisher als Leitfaden zu Vorlesungen gedient. Der Lauf von beinahe drey Jahrzehnden brachte Manches mit sich, was Stoff zu Nachträgen geben könnte. Ob sich noch Müsse genug finden wird, um solche Nachträge, welche besonders mit Psychologie zu verknüpfen wären, nach Wunsch auszuarbeiten, dies muss für jetzt dahin gestellt bleiben. Einstweilen war nur für das Bedürfniss der Vorlesungen zu sorgen, um das Dictiren zu vermeiden. Im § 44 wird man angegeben finden, wie diese Blätter mit jener frühern Schrift in Verbindung zu setzen sind. Im Allgemeinen ist zu bemerken, dass die Pädagogik in mehrern Formen kann dargestellt werden; und dass nicht bloss die Vollständigkeit, sondern auch die Sicherheit der praktischen Anwendung dabey gewinnt, wenn man sich der verschiedenen Formen neben einander bedient.

Vorwort

[zur IL Ausgabe 1841].

Die erste Ausgabe war nur ein Umriss im eigentlichen Sinne, zu dessen Ausfüllung auf ein älteres Buch, die allgemeine Pädagogik, gerechnet wurde. Daraus entstand manches Unbequeme. Die vorliegende zweyte Ausgabe hat nun die Hauptbegriffe der allgemeinen Pädagogik in sich aufgenommen; und ist als Leitfaden bey den Vorlesungen hinreichend vollständig; wiewohl noch immer kurz gefasst, und einer philosophischen Vorbereitung bedürftig. Eigentlich wird praktische Philosophie und Psycho- logie vorausgesetzt; der Verfasser bezieht sich indessen hier zunächst nur auf das Leichteste, die kurze Encyklopädie der Philosophie, welche wenigstens nicht im Stile der Compendien geschrieben ist. Meistens wird in den Händen der Zuhörer* sich das Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie befinden; dieses kann der Repetition wegen mit der Encyklopädie ver- glichen werden, von welcher es der Form nach weit abweicht, während es der Sache nach theils damit zusammentrifft, theils zur Ergänzung dient.

5*

Inhalt.

[zur II. Ausgabe 1841.]

EiDleitung

Seite I

Erster Theil. Von der Begründung der Pädagogik.

Von der Begründung durch die praktische Philosophie ... 6

Von der Begründung durch die Psychologie 11

Zweyter Theil.

Umriss der allgemeinen Pädagogik.

Erster Abschnitt.

Regierung der Kinder.

Anordnung 27

Ausführung 30

Zweyter Abschnitt. *

Unterricht. Vom Verhältniss des Unterrichts zur Regierung und Zucht . . 35

Zweck des Unterrichts 40

Bedingungen der Vielseitigkeit 42

Bedingungen des Interesse 47

Hauptklassen des Interesse 63

Verschiedene Gesichtspuncte in Ansehung der Gegenstände des

Unterrichts 75

Gang des Unterrichts 84

Vom Lehrplan im Allgemeinen 1 1 1

Dritter Abschnitt. Zucht. Vom Verhältniss der Zucht zur Regierung und zum Unterricht . 115

Zweck der Zucht 118

Unterschied im Charakter 119

Unterschiede im Sittlichen 123

Hülfsmittel der Zucht 125

Verfahren der Zucht im Allgemeinen 131

Vierter Abschnitt. Übersicht der allgemeinen Pädagogik nach den Altern.

Erstes Capitel. Von den ersten drey Jahren 158

Zweytes Vom vierten bis achten Jahre 161

Drittes ,, Knabenalter 169

Viertes ,, Jünglingsalter 177

Dritter Theil.

Über besondere Zweige der Pädagogik.

Erster Abschnitt.

Pädagogische Bemerkungen zur Behandlung besonderer Lehrgegenstände.

Erstes Capitel. Zum Religions-Unterricht 180

Erstes Capitel Zweytes ,,

Erstes Capitel. Zweytes

Erstes Capitel. Zweytes Drittes Viertes Fünftes ,, Sechstes ,,

Siebentes ,, Achtes

Erstes Capitel Zweytes ,, Drittes ,, Viertes Fünftes Sechstes ,,

Zweytes

Drittes

Viertes

Fünftes

Sechstes

Siebentes

Erstes Capitel. Zweytes Drittes Viertes

Erstes Capitel. Zweytes ,,

Geschichte 184

Mathematik und Naturlehre 196

Geographie 208

Unterricht im Deutschen 213

Griechische und lateinische Sprache 217

Von näheren Bestimmungen 228

Zweyter Abschnitt. Von den Fehlern der Zöglinge, und von deren Behandlung.

Vom Unterschiede der Fehler im Allgemeinen 231

Von den Quellen der Unsittlichkeit 239

Von den Wirkungen der Zucht 247

Von einzelnen Fehlern 250

Dritter Abschnitt. Vom Veranstalten der Erziehung.

Von der häuslichen Erziehung 255

Von Schulen 259

Einleitung.

§ i.

Der Grundbegriff der Pädagogik ist die Bildsamkeit des Zöglings.

Anmerkung. Der Begriff der Bildsamkeit hat einen viel weitern Umfang. Er erstreckt sich sogar auf die Elemente der Materie. Erfahrungs- mässig lässt er sich verfolgen bis zu denjenigen Elementen, die in den Stoffwechsel der organischen Leiber eingehn. Von der Bildsamkeit des Willens zeigen sich Spuren in den Seelen der edlern Thiere. Aber Bild- samkeit des Willens zur Sittlichkeit kennen wir nur beim Menschen.

§ 2.

Pädagogik als Wissenschaft hängt ab von der praktischen Philosophie und Psychologie. xJene zeigt das Ziel, diese den Weg und die Gefahren.

[2] Anmerkung. Hierin ist auch die Abhängigkeit der Pädagogik von der Erfahrung enthalten, indem theils die praktische Philosophie schon Anwendung auf die Erfahrung in sich aufnimmt, theils die Psychologie nicht bloss von der Metaphysik, sondern von der durch Metaphysik, richtig verstandenen Erfahrung ausgeht. Die bloss empirische Menschenkenntniss aber genügt der Pädagogik um desto weniger, je veränderlicher ein Zeit- alter in Ansehung seiner Sitten, Gewohnheiten und Meinungen ist. Denn hierdurch verlieren allmählig die Abstractionen aus früherer Beobachtung den Kreis, worin sie gültig waren.

§ 3- Philosophische Systeme, worin entweder Fatalismus oder transscen- dentale Freiheit angenommen wird, schliessen sich selbst von der Päda- gogik aus. Denn sie können den Begriff der Bildsamkeit, welcher ein Uebergehen von der Unbestimmtheit zur Vestigkeit anzeigt, nicht ohne Inconsequenz in sich aufnehmen.

§4. Die Pädagogik darf jedoch auch keine unbegränzte Bildsamkeit vor- aussetzen. Die Unbestimmtheit des Kindes ist beschränkt durch dessen Individualität. Die Bestimmbarkeit durch Erziehung wird überdies beschränkt durch Umstände der Lage und der Zeit. Die Vestigkeit des Erwachsenen bildet sich innerlich fort, und wird dem Erzieher unerreichbar.

1 Jene zeigt das Ziel der Bildung, diese den Weg, die Mittel und die Hindernisse. II. Ausg.*

a SW, welche nach der II. Ausg. drucken, geben die Variante der I. Ausgabe nicht vollständig an.

jq VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

§ 5- [3] Indem nun die Erziehung Anfangs an die Natur, später an den

eignen Entschluss des Zöglings anzustossen scheint, und, wenn sie ihre Gränzen nicht beachtet, wirklich anstösst: entsteht hieraus eine schein- bare Bestätigung zugleich für den Fatalismus und für die Freiheitslehre.

Anmerkung. Daher darf man sich nicht wundern, dass die von Kant ausgegangene transsce?identale Freiheitslehre, zugleich Fatalismus ist, nämlich in Ansehung der zeitlichen Entvvickelung aller Handlungen und Gesinnungen. Bei minder scharfen Denkern aber gestalten sich die beiden entgegengesetzten Irrthümer anders, und zwar so, dass zwischen beiden die Meinung fortwährend schwankt. Denn sie kommen auf den Fatalis- mus, wenn sie die Menschheit historisch im Grossen betrachten; alsdann scheint ihnen der Erzieher selbst, sammt dem Zöglinge, in einem grossen Strome nicht etwa selbstthätig schwimmend, welches richtig wäre, sondern willenlos fortgerissen. Sie kommen dagegen auf die Freiheit, wenn sie den Einzelnen betrachten, der sich äussern Einwirkungen, und oft genug den Absichten des Erziehers, entgegenstemmt; hier können sie die Natur des Wittens nicht fassen, sondern verlieren den Begriff der Natur über dem des Willens. Es ist beinahe unvermeidlich, dass jüngere Erzieher in diese, durch allerlei Zeitphilosophie begünstigte, Schwankung des Meinens gerathen; sie [4] haben aber schon viel gewonnen, wenn sie im Schwanken sich selbst beobachten können, ohne in das eine oder andere Extrem zu versinken.

§ 6.

Das Vermögen der Erziehung darf nicht für grösser, aber auch nicht für kleiner gehalten werden, als es ist. Der Erzieher soll versuchen, wie- viel er zu erreichen im Stande sey; aber stets darauf sich gefasst halten, durch Beobachtung des Erfolgs auf die Gränzen vernünftiger Versuche zurückgewiesen zu werden. Damit er nichts versäume, muss er das Ganze der praktischen Ideenlehre vor Augen haben. Damit er die Beobachtungen verstehe und richtig auslege, muss ihm die Psychologie stets gegenwärtig seyn.

§ 7- In der wissenschaftlichen Betrachtung werden Begriffe getrennt, die

in der Praxis stets verbunden bleiben müssen. Denn das Geschärft des Erziehers ist ein fortlaufendes, welches allen Rücksichten zugleich ent- sprechend immer das Künftige mit dem Vergangenen verbinden soll.1

1 Die II. Ausgabe hat noch folgenden Satz angefügt: Darum ist diejenige Form des Vortrags für die Pädagogik nicht genügend, welche nach der Folge der Altersstufen erzählt, was in der Erziehung eins nach dem andern zu thun sey. Nur anhangsweise zur Uebersicht, wird diese Form dienen; die Abhandlung der allgemeinen Pädagogik nach den Hauptbegriffen ge- ordnet, muss vorausgehn. Das Nächste aber ist die zweifache Begründung der Pädagogik, theils durch die praktische Philosophie, theils durch die Psychologie; wovon in der Kürze wenigstens Etwas muss gesagt werden.

i . Abschnitt. Von der Begründung der Pädagogik, i . Cap. Von der Begründung etc. 7 1

[5] Erster Abschnitt.1

Von der Begründung der Pädagogik.

Erstes Capitel. Von der Begründung durch die praktische Philosophie.

§ 8. Tugend ist der Name für das Ganze des pädagogischen Zwecks. Sie ist die in einer Person zur beharrlichen Wirklichkeit gediehene Idee der innern Freiheit.* Hieraus ergiebt sich sogleich ein zwiefaches Ge- schafft, denn die innere Freiheit ist ein Verhältniss zwischen zwey Gliedern : Einsicht und Wille, und es ist die Sorge des Erziehers, erst jedes dieser Glieder einzeln zur Wirklichkeit zu bringen, damit sie alsdann zu einem beharrlichen Verhältniss sich verbinden mögen. Unter dem Worte Einsicht wird zunächst die ästhetische (noch nicht moralische) Beurtheilung des Willens verstanden.

§ 9- Schon hier aber '-darf nicht vergessen werden, dass die beharrliche

Wirklichkeit jenes Verhältnisses nichts Anderes ist als die Moralität selbst; welche zu erreichen weit schwieriger und jedenfalls erst später möglich ist, nachdem das eben erwähnte zwie-[6]fache Geschafft schon guten Fortgang gewonnen hat. Die bloss ästhetische Beurtheilung übt sich leicht an fremden Beispielen; die moralische Zunickiccndung auf den Zögling selbst geschieht dagegen nur insofern mit Hoffnung des Erfolgs, als seine Nei- gungen und Gewöhnungen eine Richtung genommen haben, welche jener Beurtheilung gemäss ist. Sonst läuft man Gefahr, dass der Zögling die ästhetische Beurtheilung des Willens, wenn er sie fasst, doch der ge- meinen Klugheit wissentlich unterordnet; woraus das eigentliche Böse entsteht.

§ 10. Durchläuft man nun die übrigen praktischen Ideen: so erinnert die Idee der Vollkommenheit an Gesundheit des Körpers und Geistes; sammt der Werthschätzung beider, und ihrer absichtlichen Cultur.

§ iL Die Idee des Wohlwollens ermahnt den Erzieher zuerst, alle Reizung zum Uebelwollen so lange fe»i zu halten, als sie gefährlich seyn möchte.

1 Erster Theil. II. Ausgabe.*

* Praktische Philosophie, zweites Buch, erstes Capitel.

2 darf nicht vergessen werden, dass das Streben zur beharrlichen Wirklichkeit jenes Verhältnisses nichts Anderes ist als die Moralität selbst; welches Streben in dem Zöglinge hervorzurufen weit schwieriger und . . .

II. Ausgabe. b

a u. b s\V drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Varianten der I. Ausg.

y2 VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

Aber auch die Achtung für das Wohlwollen muss in dem Zöglinge noth- wendig hinzukommen.

§ 12.

Die Idee des Rechts fodert, dass der Zögling es aufgebe, zu streiten. Sie fodeit überdies die Reflexion über den Streit; damit die Achtung für das Recht sich befestige.

§ 13-

[7] Die Idee der Billigkeit kommt besonders in den Fällen in Betracht, wo der Zögling eigentliche Strafe, als Vergeltung des absichtlichen Wehe- thuns, verdient hat; hier muss das Maass der Strafe scharf beobachtet, und von dem Gestraften als richtig anerkannt werden.

Anmerkung. Die sogenannte pädagogische, durch natürliche Folgen witzigende, Strafe darf damit nicht verwechselt werden.

§ 14.

Rechtsgesellschaft und Lohnsystem im Kleinen bildet sich unter mehrern Zöglingen oder Mitschülern. Damit müssen die Forderungen, welche im Grossen aus den nämlichen Ideen entspringen, in Einstimmung gesetzt werden.

§ 15-

Das Verwaltungssystem hat einen wichtigen Bezug auf Pädagogik, in- dem jeder Zögling, ohne Unterschied des Standes, daran gewöhnt werden muss, sich anzuschliessen, um für ein geselliges Ganzes brauchbar zu seyn. Diese Foderung kann sehr viele verschiedene Gestalten, auch in Bezug auf Körperbildung annehmen.

§ 16.

Vom Cultursystem ist hier noch nicht die Seite der Fachbildung, sondern der allgemeinen Bildung hervorzuheben.

[8] 1 Anmerkung. Es versteht sich von selbst, dass durch diese Andeutungen das genauere Studium der praktischen Philosophie nicht kann ersetzt werden, wenn es mangelt. Besonders aber ist zu merken, dass die rein pädagogische Frage: was aus dem Individuum werden solle und könne, nicht mit den Rücksichten auf Tauglichkeit für bestimmte Plätze im Staate darf vermengt werden.

§ 17. Für das Erziehungsgeschäfft trit die Idee der Vollkommenheit zwar nicht mit einem Uebergewicht, aber durch ihre ununterbrochene An- 1 wendung vor allen übrigen heraus. Denn der Erzieher sieht in dem

1 Die Anmerkung lautet in der II. Ausgabe:

Die Principien der praktischen Philosophie, welche im Vorstehenden kurz angedeutet worden, sind auch die Anfänge der sittlichen Einsicht für die Zöglinge selbst. Kommt der Vorsatz, hiernach den Willen zu lenken, hinzu, und gehorcht der Zögling diesem Vorsatz, so liegt in solchem Gehorsam die Moralität. Davon zu unterscheiden ist derjenige Gehorsam, welcher dem Erzieher persönlich, sey es aus Furcht oder aus Anhänglichkeit, geleistet wird, so lange jener höhere Gehorsam noch nicht vest gegründet ist.

I.Abschnitt. Von der Bekundung der Pädagogik. 2. Cap. Von der psycholog. etc. n-i

noch unreifen Menschen eine Kraft, welche zu stärken, umherzulenken, und zusammenzuhalten seine beständige Aufmerksamkeit erfodert. 1

§ 18. Hierdurch kommt aber2 in die eigentlich moralische Bildung leicht ein falscher Zug; indem der Zögling ein Uebergewicht in den Foderungen des Lernens, Uebens und Leistens zu bemerken, und, wofern er sie er- füllt, im Wesentlichen zu genügen glaubt.

§ IQ- Schon aus diesem Grunde ist es nöthig, dass man die eigentlich moralische Bildung, welche im täglichen Leben fortwährend auf richtige Selbstbestimmung dringt, mit der religiösen verbinde; nämlich [9] um die Einbildung, als wäre etwas geleistet worden, zu demüthigen. Allein die re- ligiöse Bildung bedarf auch rückwärts wiederum der moralischen ; indem bei ihr die Gefahr der Scheinheiligkeit äusserst nahe liegt, wo die Moralität nicht schon in ernster Selbstbeobachtung, mit der Absicht, sich zu tadeln um sich zu bessern, einen vesten Grund gewonnen hat. Da nun die moralische Bildung nur nachfolgen kann, wo die ästhetische Beurtheilung und die richtige Gewöhnung schon vorangingen 9) : so darf auch die religiöse Bildung eben so wenig übereilt, als ohne Noth verspätet werden.

Zweites Capitel.

Von der psychologischen Begründung.

§ 20. Es ist zwar unrichtig, die menschliche Seele als ein Aggregat von allerlei Vermögen zu betrachten. Anstatt aber nach gewöhnlicher Weise

1 Die II. Ausgabe hat noch folgende Anmerkung:

Anmerkung. Der Satz: perfice te, ist weder so allgemein, wie Wolff ihn gelten machte (als ob er der einzige Grundsatz der gesammten praktischen Philosophie wäre,) noch so verwerflich, wie Kant ihn dar- stellte. Das Kommen zum Vollen (daher das Wort Vollkommenheit) bloss quantitativ verstanden, ist überall die nächste Aufgabe, die sich fühlbar macht, wo der Mensch sich geringer, kleiner, schwächer, enger be- gränzt zeigt, als er seyn könnte. Das Wachsen in jedem Sinne ist die natürliche Bestimmung des Kindes, und die erste Bedingung für alles andere Löbliche, was die Zfrkunft von ihm erwarten lässt. Das Princip: perfice te, wurde indessen dadurch aus seiner wahren Bedeutung heraus gedrängt, dass man die ganze Tugend dadurch zu bestimmen suchte; welches überall nicht durch irgend eine einzelne praktische Idee geschehen kann. Von ganz andrer Art ist die gleich folgende Bemerkung, welche lediglich der pädagogischen Praxis gilt.

2 „aber" fehlt in der II. Ausgabe.*

a S\V drucken nach der II. Ausgabe ohne Angabe der Variante der I. Ausgabe.

j* VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

durch den Zusatz: Die Vermögen seyen doch im Grunde nur Eine Kraft, den Fehler noch zu verschlimmern, benutze man vielmehr die bekannten Namen zur Auseinandersetzung dessen, was erfahrungsmässig nach einander mit Uebergewicht hervortritt. So wird man folgende Hauptzüge erhalten, welche zur Erinnerung an die Psychologie tür den nächsten Gebrauch hinreichen.

§ 21.

[10] Nächst der Sinnlichkeit zeigt sich das Gedächtniss als ein unver- ändertes Wiedergeben früher gebildeter Vorstellungsreihen. Dabei ist noch kein Anfang höherer Bildung zu spüren; man muss nur bemerken, dass die Reihen nicht lang zu seyn pflegen, wenn nicht in Folge häufiger Wiederholung. Natürlich können die Reihen nur kurz ausfallen, so lange deren Bildung, bei grosser Empfänglichkeit für alles Neue, beständigen Störungen ausgesetzt bleibt.

§ 22.

Schon sehr junge Kinder verrathen spielend und plaudernd diejenige Selbstthätigkeit, welche man der Phantasie zuschreibt.

Die unbedeutendsten Spielwaaren, wenn sie nur beweglich sind, ver- anlassen einen Wechsel und eine Verknüpfung von Vorstellungen, selbst mit Affecten begleitet, wobei der reife Mann, als Zuschauer, in Erstaunen geräth, und wohl selbst in Sorge, es möchte sich von der Seltsamkeit so bunter Einfälle etwas festsetzen. Allein es ist nichts zu befürchten, wenn die Affecten nicht zu heftig auf den Leib wirken, und wenn sie schnell vorübergehen. Vielmehr ist lebhaftes Spielen ein erwünschtes Zeichen; besonders wenn es bei schwachen Kindern sich noch spät, dann aber kräftig, hervorthut.

§ 23.

Bald darauf folgt eine Zeit, wo die Beobachtung der äusseren Gegen- stände das Kind zu unzähligen Fragen veranlasst. Hier regt sich die- jenige Thätigkeit, welche man Urtheilskraft nennt, in Verbindnng mit dem Verstände; indem das Kind strebt, das Neue unter bekannte Begriffe zu bringen, und mit deren Zeichen, den bekannten Worten, zu belegen. Dabei ist das Kind noch lange nicht fähig, Gedankenreihen von ab- stracter Art zu verfolgen, periodisch zu sprechen, und durchgehends sich verständig zu betragen; sondern das Kindische bricht bei den geringsten Anlässen wieder hervor.

§ 24. r Inzwischen äussern sich nebst den Gefühlen körperlicher Lust und Unlust, auch Zuneigungen und Abneigungen gegen Personen, überdies ein scheinbar starker Wille, in Verbindung mit heftigem Geiste des Wider- spruchs, falls derselbe nicht zeitig erdrückt wird.

§ 25. Das ästhetische Urtheil dagegen pflegt sich Anfangs sehr sparsam und flüchtig zu zeigen, und schon hierin erkennt man die Schwierigkeit, ihm dereinst, sogar wider Eigenwillen und Eigennutz, die Herrschaft zu- zuwenden, worauf theils der höhere Kunstsinn, theils die Moralität beruht.

i. Abschnitt. Von der Begründung der Pädagogik. 2. Cap. Von der psycholog. etc. je

§ 26.

Schon der Knabe, während er weniger fragt, macht desto mehr Ver- suche, die Dinge zu behandeln; [12] dadurch im Stillen zu lernen und sich zu üben. Allmählig wächst die Scheu vor den Erwachsenen, ihrem Tadel und ihrer Ueberlegenheit. Zugleich schliessen sich die Knaben von gleichem Alter enger an einander; und es ist von jetzt an schwerer, sie zu beobachten. Der Erzieher, der sie in dieser Periode erst kennen lernt, kann sich lange täuschen, und erreicht selten eine völlige Offenheit.

In der Zurückhaltung nun liegt mehr oder weniger Selbstbestimmung; welche man gewohnt ist der Vernunft zuzuschreiben.

§ 27.

Die Namen der Seelenvermögen machen sich von neuem um die Zeit gelten, wo ein zusammenhängender Unterricht eintrit; aber jetzt in merklicher veränderter Bedeutung. Das Gedächtniss soll sich zeigen im Memoriren vorgeschriebener Reihen, ohne Auslassung und Zusatz, bald in bestimmter Ordnung, bald ausser derselben; meistens in schwacher Ver- bindung mit älteren Vorstellungen. Phantasie wird erwartet für Gegen- stände ferner Länder und Zeiten. Dem Verstände wird zugemuthet, über einer geringen Unterlage von Beispielen sich allgemeine Begriffe zu bilden, zu bezeichnen , und zu verknüpfen. Auf das ästhetische Urtheil wird selten gewartet, sondern anstatt desselben für Befehle Gehorsam verlangt.

Eine grosse Nachgiebigkeit der älteren Vorstellungen, die auf ge- gebenen Anlass, aber nicht weiter, sich reproducieren und verbinden sollen, ist hiebei [13] die Hauptbedingung. Statt aller andern Affecten wirkt im Nothfall die Furcht vor der Strafe. Aber dadurch lässt sich sehr oft nicht einmal die gewöhnliche Foderung des Memorirens erreichen; viel- weniger Gehorsam ohne Aufsicht.

§ 28. Es entsteht nun der sonderbare Contrast, dass manche Zöglinge viel Gedächtniss, viel Phantasie, viel Verstand zeigen in ihrer Sphäre, während ihnen vom Lehrer und Erzieher dessen wenig eingeräumt wird. Sie herrschen sogar als die Vernünftigsten in ihrem Kreise, sie besitzen wenigstens die Achtung ihrer Gespielen, während sie in den Lehrstunden unfähig sind. Dergleichen Erfahrungen verrathen die Schwierigkeit, den Unterricht in die eigne Entwicklung gehörig eingreifen zu lassen. Zu- gleich aber sieht man, dass in bestimmten Yorstellungsmassen dasjenige vor- geht^ was man den einzelnen Seelenvermögen zuzuschreiben pflegt.

§ 29.1 Die Bildsamkeit hängt also nicht von einem Verhältniss unter mehrern ursprünglich verschiedenen Vermögen ab; wohl aber von einem Verhältniss

1 Die §§ 29 32 lauten in der II. Ausgabe:

§ 29. Wie der Mann für die Kirche, fürs häusliche Geschafft, für Gesellschaften u. s. w. eigne Vorstellungsmassen hat, die zwar zum Theil in einander greifen und sich gegenseitig bestimmen, aber bei weitem nicht vollständig in allen Puncten zusammenhängen: so hat schon der Knabe

76 VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

der schon erworbenen Vorstellungsmassen, * theils unter einander, theils zur leiblichen Organisation. In beiderlei Hinsicht muss jeder Zögling be- obachtet werden.

seine Vorstellungsmassen für die Schule, andre für den Familienkreis, andre für den Spielplatz u. dergl. m. Daher vielmehr als aus ab- sichtlicher Zurückhaltung muss man sich's erklären, wenn gesagt wird, der Knabe sey unter Fremden ein ganz Andrer als zu Hause oder in der Schule.

§ 30. Es besteht aber jede Vorstellungsmasse aus Complexionen von Vorstellungen, (welche, wenn die Complikation vollkommen ist, wie ein ungetheiltes Ganzes im Bewusstseyn kommen und gehen,) und aus Reihen sammt deren Verwebungen, (welche sich gliederweise successiv entwickeln, wenn sie daran nicht gehindert sind.) Je vester die Ver- bindungen in diesen Complexionen und Reihen, desto bestimmter sind die Gesetze, wonach sich die Vorstellungsmassen im Bewusstseyn regen, und desto mehr Widerstand leisten sie Allem, was ihrer Bewegung ent- gegenwirkt. Daher die Schwierigkeit, durch den Unterricht in sie ein- zugreifen. Sie können jedoch Zusätze annehmen, neue Verbindungen ein- gehn, und hierdurch im Laufe der Zeit wesentlich verändert werden; ja sie verändern sich bis auf einen gewissen Punct von selbst, wenn sie auf verschiedene Anlässe wiederholt ins Bewusstseyn treten. (Man denke an das, was Jemand oft und in verschiedenen Kreisen vorträgt.)

Die Vorstellungen der Dinge sind Complexionen ihrer Merkmale. Andre, für den Unterricht wichtige Beyspiele von Complexionen geben Begriffe und Worte. Da aber aus mehrern Sprachen die Worte mit einerley Begriff vollkommen complicirt sein können, ohne doch unter einander eben so innig verbunden zu seyn: so bemerke man, dass, wenn der Gegenstand oder der Begriff zu verschiedenen Zeiten vorkommt, er einmal mit dieser Sprache, ein andermal mit einer andern complicirt wird. Es ist aber das wicderhohlte Vorstellen des Gegenstandes nicht ganz ein und dasselbe Vorstellen, wenn auch grösstentheils frühere Vorstellungen sich mit späteren gleichartigen so verbinden, dass der Unterschied wenig bemerklich wird.

§ 31. Das innere Gefüge der einzelnen Vorstellungsmassen wird einigermaassen dann kenntlich, wenn die Gedanken Sprache gewinnen. Das Allgemeinste daran zeigt sich im Periodenbau. Insbesondere sind die Conjunctionen wichtig, indem sie ohne selbst etwas Vorgestelltes aus- 5 zudrücken, dem Sprechenden dazu dienen, dass er dem Hörenden einige Fingerzeige gebe, in welchem Zusammenhange, in welchen Gegensätzen, mit wieviel Entschiedenheit oder Schwankung seine Aeusserungen auf- zufassen seyen. Denn auf Reihenform, Negation und Gewissheit lässt sich der Sinn der Conjunctionen zurückführen.* Man bemerke, dass dem Verneinen das Vermissen und Verweigern, der Ungewissheit das Erwarten sammt Hoffnung und Furcht verwandt sind; dass also bey den Vor-

1 Die Worte: „theils untereinander beobachtet werden" sind in der II. Ausgabe weggeblieben.

* Psychologische Abhandlungen, zweytes Heft : über Kategorien und Conjunctionen.

I.Abschnitt. Von der Begründung der Pädagogik. 2. Cap. Von der psycholog. etc. 77

§ 30. 1

[14] Bei denen, die frühzeitig von verschiedenen Personen geleitet, wohl gar in verschiedenen Häusern oder Lebenslagen umhergeworfen wurden, finden sich gewöhnlich solche Vorstellungsmassen, die zu einander nicht passen, und schlecht verbunden sind. Auch ist reine Hingebung von ihnen nicht leicht zu erlangen, sondern sie hegen verborgene Wünsche, empfinden Contraste, die nicht leicht zu errathen sind, und nehmen bald Richtungen, auf welche sich die Erziehung oft nicht einlassen kann.

Weit bildsamer sind die, welche lange Zeit nur von einer Person (am besten der Mutter) geleitet wurden, und vor ihr sich nicht zu verstecken gewohnt sind. Es kommt dann aber darauf an, die fernere Erziehung an das Vorgefundene genau anzuknüpfen , und keine Sprünge zu ver- langen.

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§ 31. 34-] 2 In Ansehung der üinfiüsse des Leibes hat man überhaupt das Temperament zu beobachten; insbesondre die Reizbarkeit für Affecten. Bei manchen ist Furcht, bei Andern Zorn die erste natürliche Regung; Lachen und Weinen wandelt Einige leicht. Andere schwer an: es giebt Deren, bei welchen das Gefässsystem auf sehr geringe Anlässe sich auf- geregt zeigt.

§ 32.

Man beobachte ferner:

1) in den Freistunden: ob die Zöglinge noch [15] ganz kindlich jeden sich darbietenden Gegenstand zum Spiel benutzen? oder ob sie mit wechselnder Liebhaberey die Spiele absichtlich verändern? oder ob sich bestimmte Gegenstände eines beharrlichen Strebens entdecken lassen?

Stellungsmassen nicht bloss an das Vorgestellte, sondern auch an Gemüths- zustände zu denken ist. Wie die Gemüthszustände, so ist auch das Ge- füge der Vorstellungsmassen lange zuvor bey Kindern vorhanden, ehe sie es in ihrer Sprache auszudrücken, und dazu der Conjunctionen sich zu bedienen wissen; deren einige (das Zwar, Obgleich, Sondern, Weder = Noch, Entweder = Oder u. s. w.) erst spät bey ihnen in Gebrauch kommen.

§ 32. Eben so wichtig, als das Innere der Vorstellungsmassen des Zöglings, ist für den Erzieher der Unterschied, ob diese oder jene Vor- stellungsmasse leichter oder schwerer hervortrete, und im Bewusstseyn stetiger verharre oder schneller verschwinde. Hierin liegen unmittelbar die Bedingungen der Wirksamkeit für Unterricht und Zucht. Das Nöthigste darüber wird unten bey Gelegenheit dessen vorkommen, was vom In- teresse und der Charakterbildung zu sagen ist.

1 Der § 30 bildet in der II. Ausg. eine „Anmerkung" zum § 33.

2 Der Anfang des § lautet in der II. Ausgabe:

Um nun die Bildsamkeit jedes Einzelnen genauer kennen zu lernen, ist Beobachtung nöthig: welche theils auf die vorhandenen Vorstellungs- massen, theils auf die leibliche Disposition zu richten ist. Dahin gehört das Temperament; insbesondere die Reizbarkeit ....

yg VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

2) In Bezug aufs Lernen: ob der Zögling lange oder nur kurze Reihen auffasst? Ob bei der Reproduction viele oder wenige Missgrilfe zu begegnen pflegen? Ob das Gelernte im Spiel zwanglos nachklingt?

3) Ob die Aeusserungen der Zöglinge oberflächlich sind, oder aus der Tiefe kommen? Dies erkennt man allmählig durch Vergleichung der Worte und Handlungen.

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§ 33-

Bei Gelegenheit solcher Beobachtungen wird man auch noch theils den Rhythmus der geistigen Bewegungen, theils die Beschaffenheit des Gedankenvorraths beim Zöglinge wahrnehmen i und hiernach sowohl die Materie als die Form des Unterrichts zu bestimmen haben.

§ 34- 35-]

Inwiefern durch den Unterricht bloss Kenntnisse dargeboten werden: insofern lässt sich auf keine Weise verbürgen, ob dadurch den Fehlern der Individualität, und den, von jenem unabhängig vorhandenen, Vor- stellungsmassen ein bedeutendes Gegengewicht könne gegeben werden. Sondern auf das [16] Eingreifen in die letztern kommt es an, was und wieviel durch den Unterricht für die Sittlichkeit möge gewonnen werden.

Die Kenntnisse müssen zum mindesten den planmässigen Arbeiten als Stoff zu Gebote stehen; sonst erweitern sie nicht einmal den Umfang der geistigen Thätigkeit. Höher steigt ihr Werth, wenn sie freie Beweg- lichkeit gewinnen, so dass die Phantasie durch sie bereichert wird. Allein ihr sittliches Wirken bleibt immer zweifelhaft, so lange sie nicht entweder das ästhetische Urtheil, oder das Begehren und Handeln, oder beides berichtigen helfen. Und auch hiebei noch sind nähere Bestimmungen nöthig.

§ 35- Im Allgemeinen nimmt die Rohheit ab, wenn der Unterricht den Gedankenkreis erweitert; indem die Begehrungen schon dadurch, dass sie sich in diesem Kreise ausdehnen, an einseitiger Energie verlieren. Wenn ferner der Unterricht ästhetische Gegenstände irgend einer Art fasslich darbietet, so veredelt sich die Gemüthsstimmung dergestalt, dass sie der richtigen Beurtheilung des Willens, das heisst, der Erzeugung praktischer ~> Ideen, sich wenigstens annähert.

Wenn aber das Wissen vorzugsweise zum Gegenstand des Ehrgeizes wird, so können leicht jene Vortheile durch den Nachtheil überwogen werden.

1 und nach dem Allen sowohl die Materie ... II. Ausg.»

a SW drucken nach der II. Ausgabe, ohne die Variante der I. Ausg. an- zumerken.

i . Abschnitt. Von der Begründung der Pädagogik. 2. Cap. Von der psycholog. etc. 70

§ 36. 38.]1

2Sowohl um das ästhetische Urtheil in dem engern Kreise der Be- urtheilung des Willens zu fixiren, als [17] auch um dem Egoismus ent- gegenzuwirken, müssen menschliche Verhältnisse den Hauptgegenstand des gesammten Unterrichts in jeder Schule, welche die Bildung des ganzen Menschen übernimmt vom Gymnasium bis zur Dorfschule noth- wendig ausmachen. Hierauf sind die historischen und philologischen Schulstudien zu beziehen; und nur in sofern ist ihnen ein Uebergewicht einzuräumen.

Anmerkung. Ein andrer Gesichtspunct für die Gymnasien, dass sie für Aufrechthaltung der Kenntniss des Alterthums zu sorgen haben, ist hiemit nicht ausgeschlossen, sondern muss mit jenem vereinio-t werden. (Vergl. § 128 und 131.)3

§ 37-4

Es kann aber weder das ästhetische Urtheil bloss auf Verhältnisse des Willens beschränkt, noch das Ganze der, unabhängig vom Unterricht

1 Folgende beiden §§ sind Zusatz der II. Ausgabe:

§ 36. Damit der Unterricht in die vorhandenen Gedanken und Ge- sinnungen des Zöglings eingreife, müssen ihm alle Pforten geöffnet werden. Einseitigkeit des Unterrichts ist schon deshalb schädlich, weil man nicht mit Sicherheit voraussehen kann, was am meisten auf den Zögling wirken werde.

Die vorhandenen Vorstellungsmassen entstehen aus zwey Haupt- quellen: Erfahrung und Umgang. Aus jener kommen Kenntnisse der Natur, aber lückenhaft und roh, aus dieser kommen Gesinnungen gegen Menschen, aber nicht immer nur löbliche, sondern oft höchst tadelhafte. Dass die letztern gebessert werden, ist das Dringendste; aber auch die Naturkenntniss darf nicht vernachlässigt werden, sonst ist Irrthum, Schwär- rnerey, Extravaganz aller Art zu fürchten.

§ 37. Daher unterscheide man im Unterricht zwey Hauptrichtungen, die historische und die naturwissenschaftliche. Zur ersten gehört nicht bloss Geschichte, sondern auch Sprachkunde; zur andern nicht bloss Naturlehre, sondern auch Mathematik.

2 Der Anfang dieses § lautet in der II. Ausgabe:

Schon um dem Egoismus entgegenzuwirken, müssen menschliche Ver- hältnisse

3 Die Verweisung auf § 128 uqj} 13 1 fehlt in der II. Ausgabe.»

4 Statt der § 37 und 38 hat die II. Ausgabe folgenden § 39.

§ 39. Die mathematischen Studien vom gemeinen Rechnen bis zur höhern Mathematik hinauf müssen sich der Naturkenntniss, und hiemit der Erfahrung anschliessen, um Eingang in den Gedankenkreis des Zöglings zu gewinnen. Denn auch der gründlichste mathematische Unter- richt zeigt sich unpädagogisch, sobald er eine abgesonderte Vorstellungs- masse für sich allein bildet, indem er entweder mit dem persönlichen Werth des Menschen wenig Einfiuss erlangt, oder noch öfter dem baldigen Vergessen anheim fällt.

* SV\" drucken nach der II. Ausgabe ohne Angabe der Variante der I. Ausgabe.

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80 VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

erworbenen, Vorstellungsmassen dem ästhetischen Urtheil unterworfen werden. Vielmehr, je schwerer es ist, dem Unterricht überhaupt das Ein- greifen in den eignen Gedankenkreis der Zöglinge möglich zu machen, und je unbiegsamer sich oftmals *die Individualität der letzteren gelten macht: desto nothwendiger ist es, alle Zugänge, wodurch dieselbe mag erreicht werden können, zu eröffnen.

§ 38. Daher darf nun auch die Auffassung der Natur nicht einem Jeden nach eigner Weise überlassen [18] bleiben; sondern es muss durch Unter- richt in den Naturwissenschaften dazu Hülfe geleistet werden. Hierauf zunächst sind die mathematischen Studien zu beziehen. Dagegen ist selbst der gründlichste mathematische Unterricht doch unpädagogisch, sobald er eine abgesonderte 2Vorstellungsmasse für sich allein bildet; welche meistens dem baldigen Vergessen anheimfällt.

§ 39- 40.]

Im Allgemeinen bleibt es immer unsicher, ob und wie der Unter- richt wird aufgenommen und verarbeitet werden. Schon um diese Un- sicherheit zu vermindern, muss für die, ihm angemessene, Gemüths- stimmung der Zöglinge fortdauernd gesorgt werden.

Dies ist eine Aufgabe für die Zucht.

§ 40. 41-] Aber auch ohne Rücksicht auf den Unterricht hat die Zucht dahin zu sehen, dass Leidenschaften verhütet, und die schädlichen Ausbrüche der Affecten vermieden werden. Zwar nach Verlauf der Erziehungsjahre bricht in dieser Hinsicht allemal die Individualität hervor; allein sie be- reitet sich alsdann auch Erfahrungen ; und in Verbindung mit diesen zeigt sich die Nachwirkung der Erziehung, je nachdem die letztere mehr oder weniger gelungen war, in der Art und dem Maasse der Selbsterkenntniss, durch welche der Erwachsene die ihm natürlichen Fehler in Schranken zu halten sucht. Scheinbare Ausnah-[ic)]men hievon beruhen meistens auf Eindrücken, welche in sehr frühen Jugendjahren entstanden waren, und lange verhehlt wurden.

§ 4L

In der Regel sucht sich der Mensch, sobald er freye Bewegung er- langt, in diejenige Lage des Lebens zu versetzen, die ihm frühzeitig als die wünschenswertheste erschienen war. Die Zucht muss also gemein- schaftlich mit dem Unterrichte dahin arbeiten, dass in der Richtung der Wünsche kein täuschendes Bild erscheine, sondern die Güter und Be- schwerden verschiedener Stände und Stellungen der Wahrheit gemäss auf- gefasst werden.

Was die Zucht gegen die Individualität vermag, das beruhet weniger auf Beschränkungen, (die nicht fortdauern können), als darauf, dass den

1 die Individualität der letzteren zeigt ... II. Ausg.*

2 Vorstellungsmasse bildet, . . . SW (,,für sich allein" fehlt).

a SW drucken nach der II. Ausgabe ohne Angabe der Variante der I. Ausgabe.

I.Abschnitt. Von der Begründung der Pädagogik. 2. Cap. Von der psycholog. etc. 81

besseren Regungen des Individuums zur frühzeitigen Entwickelung ver- holfen wird ; wodurch sie das Uebergewicht erlangen.

§ 42- 42] Der grössere Theil der Beschränkungen, welche in den Erziehungs- jahren nöthig sind, füllt unter einen andern Begriff, den der Regierung. Nämlich abgesehen von der gesammten Ausbildung müssen Kinder eben so nothwendig, als Erwachsene, den Druck erfahren, welchen jeder Ein- zelne von der menschlichen Gesellschaft zu erleiden hat; sie müssen in ihren Schranken gehalten werden. Dafür zu sor-[2o]gen, überlässt der Staat den Familien, Vormündern, und Schulen. x Was hieher gehört, ver- mischt sich in der Praxis mit der Zucht; der Zweck der Regierung aber 2 liegt in der Gegenwart; während die Zucht den künftigen Erwachsenen im Auge hat. Die Gesichtspuncte sind daher so verschieden, dass man Zucht und Regierung in der Pädagogik nothwendig unterscheiden muss.

§ 43-3 Nach dem Vorstehenden lassen sich nun leicht diejenigen Haupt- puncte hervorheben , worauf es bei der sittlichen Bildung vorzüglich an- kommt.

1 Nach „Schulen" fügt die II. Ausgabe ein: Der Zweck der Regierung lieort in der Gegenwart.

3 Statt des § 43 hat die II. Ausgabe folgende beiden §§, welche den Schlufs des ersten Theils bilden:

§ 43. Selbst bey den Maafsregeln der Regierung kommt es darauf an, wie stark sie gefühlt werden. Die rechte Empfindlichkeit ist nur bey guter Zucht zu sichern. Ein leichter Verweis kann mehr wirken als Schläge. Regieren ist zwar das erste Nöthige, wo ungezogene Kinder Unfug stiften; aber es soll sich wenn möglich mit der Zucht verbinden. Die Trennung der Begriffe dient weit mehr dem Nachdenken des Er- ziehers, welcher wissen soll was er thut, als dass sie in der Praxis sicht- bar werden dürfte.

§ 44. Die allgemeine Pädagogik, welcher späterhin manche be- sondere Betrachtungen folgen müssen, wird nun zuvörderst nach den drey Hauptbegriffen der Regierung, des Unterrichts, und der Zucht abgehandelt. Was von der Regierung, als der ersten Voraussetzung des Erziehens, zu sagen nöthig ist, wird zuerst beseitigt. Dann folgt die Lehre vom Unter- richt, die sogenannte Didaktik, ^m Vortrage der Pädagogik bekommt die Zucht den letzten Platz; denn man würde ihrer Wirkung wenig Dauer versprechen können, wenn sie vom Unterricht getrennt wäre; daher muss der Erzieher immer schon den Unterricht im Auge haben, indem er die Maassregeln der Zucht, welche in der Praxis dem Unterricht stets zur Seite geht, zum Gegenstande seines Nachdenkens macht.

Die andere übliche Form, die Pädagogik nach den Altersstufen ab- zuhandeln, welche für die Entwickelung der Begriffe nicht zweckmässig ist, findet dort ihre rechte Stelle, wo man zu speciellen Betrachtungen übergehn will.

2 liegt aber in der Gegenwart SW.

Herbart's Werke. X. 6

82 VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

1) Je mehrere Vorstellungsmassen von solcher Art vorhanden sind, dass sie zu ästhetischen Urtheilen Anlass geben, und je weiter diese Ur- theile in richtiger Ausbildung vorgeschritten sind: desto mehr Annäherung an die Sittlichkeit ist im Allgemeinen gewonnen. Diese Annäherung aber ist um desto entschiedener, je mehr unter den ästhetischen Urtheilen die- jenigen hervorragen, welche das Löbliche und Tadelhafte des Willens be- treffen.

2) Je mehr dagegen in den einzelnen Vorstellungsmassen ein Be- gehren ohne Rücksicht auf dessen Werthbestimmung vorherrscht: desto näher ist die Gefahr der Leidenschaften; alsdann aber entstehen noch bedeutende Unterschiede, je nachdem das Begehren von der richtigen Werthbestimmung mehr oder minder abweicht; und je nachdem die ver- schiedenen Vorstellungsmassen in Ansehung des in [21] ihnen liegenden Begehrens mehr oder weniger zusammenstimmen.

3) Je mehr logische Cultur die selbstthätigen Beurtheilungen des Löb- lichen und Tadelhaften erlangt haben: desto leichter widerstehen sie in Form sittlicher Maximen den im Laufe der Zeit wechselnden Reizungen des Begehrens. Die bloss angenommene Cultur der sittlichen Begriffe be- sitzt aber diese Kraft nur in geringem Grade; mehr wirken gesellige Sitten.

4) Je besser die sittlichen Maximen unter sich vereinigt sind, desto bessern Widerstand leisten sie den bloss klugen Plänen und dem Ver- nünfteln der Leidenschaften; besonders in Verbindung mit religiösen Grundsätzen.

5) Endlich kommt es noch auf den Gebrauch der vereinigten Maximen an, wie stark und wie geartet der sittliche Muth im Selbstbewusstseyn wurzeln könne, oder welche Schwierigkeit das schon verunreinigte Ge- wissen der geforderten Besserung entgegensetzen werde.

Mit diesen Hauptpuncten müssen nun beständig die Aeusserungen der Individualität, die Einwirkungen der Umstände, und die Leistungen der Erziehung verglichen werden. Kenntnisse, Fertigkeiten, Talente und Klugheit sind nie in solchem Maasse zu begünstigen, dass sie in irgend einer jener Rücksichten Nachtheil bringen könnten. Sollen sie als Kraft- Aeusserungen den persönlichen Werth erhöhen, so kommt Alles darauf an, dass man die geistlosen \_22~] Nachahmungen, das Scheinwesen des Ehrgeizes, und den niederdrückenden Zwang, wenn auch dies für kurze Zeiten nicht zu vermeiden ist, doch nicht die eignen kräftigen Regungen überwachsen lasse, vielmehr die letztern stets beobachte, nach psychologi- scher Einsicht benutze, und, wenn sie wenig leisten können, auch nur > wenig verlange. Anhaltende Geduld ist nöthig, nicht bloss weil Vieles gegeben, geübt, eingeschärft werden soll : sondern auch, damit es könne aufgenommen und gehörig verarbeitet werden.

§ 44- Die Abhandlung der Pädagogik nach den drey Begriffen der Re- gierung, des Unterrichts und der Zucht, wird von hier an als bekannt vorausgesetzt*. Es giebt ausserdem eine andre, längst übliche Form dieser

il Aus einer frühern Schrift des Verfassers, unter dem Titel : Allgemeine Päda- gogik; welcher die vorliegende zur Ergänzung dient.

2. Abschnitt. Uebersicht d. allgem. Pädagogik etc. i.Cap. Von den ersten drey Jahren. 83

Wissenschaft, welche zum Eingehen auf das Specielle passender ist ; näm- lich die Angabe dessen, was in den Hauptperioden jugendlichen Alters ?iach einander vom Erzieher zu beachten und zu leisten ist. Man sondert dabey zuvörderst dasjenige Alter, worin ein regelmässiger Unterricht die Hauptbeschäftigung ausmacht, von dem früheren; alsdann zerfällt jede dieser Perioden noch in zwei Abtheilungen, wie im Folgenden wird ge- zeigt werden.

[23] Zweyter Abschnitt.*

Uebersicht der allgemeinen Pädagogik nach den

Altern.

Erstes Capitel. Von den ersten drey Jahren»

§ 45- 195-J

Da in den ersten Jahren der Lebensfaden noch äusserst schwach ist, mithin die körperliche Pflege, (von der hier nicht die Rede seyn kann), allem Andern vorangeht: so entstehn nach den Gesundheits- Umständen grosse Unterschiede in Ansehung der Zeit, welche der geistigen Bildung Gewinn bringt. Wie gering aber auch diese Zeit seyn möge: sie ist äusserst wichtig wegen der grossen Empfänglichkeit und Reizbarkeit des frühesten Alters.

§ 46. 196-]

Man nutze die Zeit, worin das Kind völlig wacht ohne zu leiden, allemal dazu, dass sich ihm irgend etwas zur sinnlichen Auffassung darbiete, aber nicht aufdringe. Starke Eindrücke sind zu vermeiden; schneller Wechsel ebenfalls; sehr geringe Abwechselungen sind oftmals hinreichend, um das schon ermattende Aufmerken wieder anzuregen. Eine gewisse Voll- ständigkeit in den Auffassungen des Auges und Ohrs, so dass diese Sinne in ihrem ganzen Kreise gleichmässig einheimisch werden, ist zu wünschen.

§ 47- I97-] [24] Der eignen Regsamkeit des Kindes sucht man auf unschädliche Weise Raum zu geben; zunächst damit es Uebung im Gebrauch aller Gliedmaassen erlange; dann auch, damit es durch eigne Versuche seine Beobachtung der Dinge und ihrer Veränderlichkeit erweitere.

§ 48. 198.] Unholde, abstossende Eindrücke von Menschen, wer sie auch seyen, müssen sorgfältigst vermieden werden. Niemand darf ein Kind als sein Spielzeug behandeln.

1 Vierter Abschnitt IL Ausg. [Den in der IL Ausgabe hinzugekommenen „Zweyten Iheil: Umriss der*allgemeinen Pädagogik" 45—194) siehe im

Anhang.]

6*

84 VI. Umriss der allgemeinen Pädagogik. 1835.

§ 49- I99-] Eben so wenig aber muss irgend Jemand sich durch das Kind re- gieren lassen; am wenigsten, wenn es sich ungestüm äussert. Sonst ist Eigensinn die unfehlbare Folge; welche sich bei kränklichen Kindern kaum vermeiden lässt, wegen der Aufmerksamkeit, womit man den Aeusserungen ihres Leidens zu entsprechen genöthigt ist.

§ 50. 200.]

Das Kind muss beständig die Ueberlegenheit des Erwachsenen, und oft seine eigne Hülflosigkeit empfinden. Darauf gründet sich der not- wendige Gehorsam. Bey folgerichtiger Behandlung werden Personen, die sich stets in der Umgebung des Kindes befinden, leichter Gehorsam er- langen, als andere, die selten zugegen sind. Den Affecten muss Zeit ge- lassen [25] werden, sich abzukühlen: wenn nicht dringende Umstände etwas Anderes fodern.

§ 51- 201.]

In seltenen Augenblicken mag eine Gewalt hervortreten, die in so weit Furcht erregt, als nöthig ist, um in Nothfälien mit Erfolg eine Drohung aussprechen, und dem Uebermuthe steuern zu können. Denn die Re- gierung muss schon in den frühesten Jahren bevestigt seyn, um nicht späterhin auf höchst schädliche Weise zur Härte gezwungen zu werden.

§ 52. 202.] Sprachbildung der Kinder erfodert von früh an eine ernste Sorgfalt, damit nicht falsche Gewöhnungen und Nachlässigkeiten einwurzeln, die späterhin sehr viel Zeitverlust und Verdruss zu verursachen pflegen. Künst- liche Formen des Ausdrucks, deren Sinn über den Gedankenkreis des Kindes hinausliegt, müssen ganz vermieden bleiben.

Zweytes Capitel.

Vom vierten bis achten Jahre.

§ 53- 203.] Die eigentliche Gränzscheidung liegt nicht in den Jahren, sondern darin, dass die erste Hülflosigkeit aufhört, und ein zusammenhängender Gebrauch der [26] Gliedmassen und der Sprache eintrit. Daraus, dass sich die Kinder von vielem augenblicklichen Unbehagen nun selbst be- freyen können, folgt schon, dass mehr Ruhe und Frohsinn gewonnen wird.

§ 54. 204.] Je weiter nun das Kind sich selbst schon helfen kann, desto weiter muss die äussere Hülfe sich zurückziehn. Zugleich muss die Regierung an Vestigkeit, und bey manchen Individuen an Strenge, zunehmen, so lange, bis die letzten Spuren des früher meist nicht ganz vermiedenen Eigensinns verschwinden. Dies setzt jedoch voraus, dass Niemand das Kind unnöthig reize, irgend eine Art von Gegenwehr auszuüben. Je mehr veste Ordnung das Kind um sich sieht, desto leichter fügt es sich.

2. Abschnitt. Übersicht d. allgem. Pädagogik etc. 2.Cap. Vom vierten bis achten Jahre. 85

§ 55- 205.] Soviel Frevheit, als die Umstände erlauben, muss dem Kinde schon deshalb gelassen werden, damit es sich offen äussere, und damit man seine Individualität studiren könne. x

§ 56. 206.]

Zwey praktische Ideen kommen hier unmittelbar in Betracht, aber auf verschiedene Weise, nämlich die des Wohlwollens und der Voll- kommenheit. Einzelne Auffassungen, welche zur letztern gehören, bildet sich das Kind fast immer von selbst; die erstere gedeiht seltener; sie muss ihm gegeben werden, und das lässt sich nicht immer unmittelbar leisten.

§ 57- 207.]

[2 7] Die Aeusserungen des Uebelwollens, welche bey manchen Kindern häufig vorkommen, sind durchaus als schlimme Zeichen sehr ernsthaft zu nehmen; denn ein Charakter, der von dieser Seite einmal verdorben ist, lässt sich nicht mehr gründlich bessern, und das Verderben fängt zu- weilen früh an. Was dabey zu thun ist, beruht auf Folgendem :

§ 58. 208.]

Zuvörderst wird vorausgesetzt, dass man jüngere Kinder nicht viel allein lasse, sondern dass alle ihre Lebensgewohnheiten gesellig seyen, und dass in dem geselligen Kreise eine strenge Ordnung herrsche. Die Aeusserungen des Uebelwollens sind also ausser der Regel; und sobald sie eintreten, hat das Kind die herrschende Ordnung wider sich. Je mehr es nun gewöhnt ist, einem gemeinsamen Willen anzugehören, im Umkreise desselben sich zu beschäfftigen und froh zu seyn : desto weniger erträgt es, sich allein zu fühlen. Den Uebelwollenden lasse man allein; und er ist gestraft.

§ 59- 209.]

Solche Strafe setzt aber die ganze Empfindlichkeit des jüngeren Kindes voraus, welches weint, sich nicht zu helfen weiss, sich völlig schwach fühlt, sobald man es allein lässt; welchem dagegen sogleich wieder wohl wird, indem man es in den geselligen Kreis wieder aufnimmt. Hat man diese Periode [28] versäumt, hat sich der Uebelwollende den Kreis, in welchem er froh leben konnte, schon abgeneigt gemacht, so erzeugt alsdann eine Bitterkeit die andere; und es bleibt nur übrig, auf strenges Recht zu halten.

§ 60. 210.]

Der Geist der Geselligkeit, welcher das Uebel wollen fern hält, ist nun noch lange kein wirkliches Wohlwollen ; und selbst diejenigen Be- schreibungen desselben, welche sich in gewöhnlichen Kinderschriften finden, laufen Gefahr, als leicht erfundene Fabeln überhört zu werden. Dann

1 Die II. Ausg. hat noch folgenden Zusatz: Die Hauptsache in diesem Alter ist jedoch, dass man üble Gewohnheiten verhüte; besonders solche, die

mit tadelhafter Sinnesart zusammenhängen.

36 VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

kommt es darauf an, fürs erste den Glauben an das Wohlwollen vest- zustellen; und zwar bey dem Kinde, welches durch die Erziehung unauf- hörlich von Wohlthaten überschüttet wird, aber durch die Gewohnheit dagegen abgestumpft ist. Man entziehe ihm etwas von der gewohnten Fürsorge. Indem nun dieselbe sich erneuert, wird das Kind sie als freye That erkennen und verehren. Wenn dagegen Kinder das, was ihnen ge- leistet wird, als Schuldigkeit, oder als Wirkung irgend eines Mechanismus betrachten, so ist dieser Irrthum eine offene Quelle des mannigfaltigsten sittlichen Unheils.

§ 6l. 211.]

Zur nöthigen Strenge muss die Güte, und zur Güte noch die Freund- lichkeit hinzukommen, wenn man nicht das Gemüth des Kindes erkälten, und die [29] Keime des Wohlwollens tödten will. In der Periode, wovon hier geredet wird, hängt die Stimmung noch unmittelbar ab von der Be- handlung; und lange Unfreundlichkeit hat Abstumpfung zur Folge.

Die doppelte Aufgabe, theils die Idee des Wohlwollens hoch genug hervorzuheben, theils wirklich wohlwollende Gesinnungen zu erwecken, lässt sich nun zwar im Kindesalter noch nicht lösen. Aber man hat viel gewonnen, wenn theilnehmendes Gefühl, unterstützt vom geselligen Froh- sinn, sich mit dem Glauben an das Wohlwollen Derer, von welchem das Kind als von höhern Wesen abhängt, verbinden. Alsdann hat die re- ligiöse Bildung ihren Boden, und fördert weiter.

§ 62. 212.] Die Idee der Vollkommenheit, in ihrer Allgemeinheit, steht zwar dem Kinde eben so fern, als die des Wohlwollens; jedoch die ersten An- fänge dessen, was dahin gehört, sind weit weniger mislich. Wie das Kind wächst und gedeiht, so wachsen auch seine Kräfte und Fertigkeiten, und es gefällt sich selbst in diesem Wachsthum. Allein hier giebts unzählige Verschiedenheiten der Art und des Grades, welche beobachtet seyn wollen ; besonders wegen der Anknüpfung des Unterrichts, der schon hier theils synthetisch theils analytisch eintrit,* obgleich er noch nicht regelmässig die Hauptbeschäftigung des Kindes ausmacht.

§ 63. 213.] [30] Während der Kreis, worin das Kind sich frey umherbewegt, sich erweitert, während es durch eigne Versuche sich immer mehr Erfahrung schafft, und überdies noch das, oft höchst nöthige, absichtliche Umher- führen von Seiten des Erziehers hinzukommt; erlangt die Erfahrung ein 5 Uebergewicht über den frühern Phantasien, wenn auch bey verschiedenen Individuen in sehr verschiedenem Verhältniss. Aus dem Bestreben aber, das Neue sich anzueignen, entstehen nun die häufigen Kinderfragen, welche den Erzieher als einen Allwissenden voraussetzen, keinen Zweck haben, sondern von augenblicklicher Laune abhängen, und grösstentheils, wenn sie nicht gleich beantwortet werden, nie wiederkehren. Viele derselben

* Allgemeine Pädagogik S. 194 u. ff.1

1 Die Anmerkung ist in der II. Ausg. weggeblieben.

2. Abschnitt. Übersicht d. allgem. Pädagogik etc. 2.Cap. Vom vierten bis achten Jahre. 87

betreffen bloss Worte, und lassen sich mit irgend einer passenden Be- nennung des fraglichen Gegenstandes beseitigen. Andre gehn auf den Zusammenhang der Ereignisse, besonders auf Zwecke menschlicher Hand- lungen, ohne Unterschied ob von fingirten oder wirklichen Personen die Rede ist. Wiewohl nun manche Fragen nicht können, andre nicht dürfen beantwortet werden: so muss doch im Ganzen die Neigung zum Fragen fortwährend Ermunterung finden; denn es liegt in ihnen ein ursprüngliches Interesse, welches der Erzieher späterhin oft schmerzlich vermisst, und durch keine Kunst wieder erzeugen kann. Die Gelegenheit ist hier dar- geboten, sehr Vieles anzuknüpfen, was künftigem Unterricht den Boden bereiten muss. Nur darf sich [51] die Antwort nicht mit unzeitiger Gründlichkeit in die Länge ziehn, sondern der Erzieher muss schiffen auf den Wellen der kindlichen Laune; die gewöhnlich nicht mit sich ex- perimentieren lässt, sondern oft ungelegene Sprünge macht.

§ 64. 214.]

So lange es für den analytischen Unterricht, der sich in die Be- antwortung der Kinderfragen einwebt, noch keine bestimmten Lehrstunden geben kann: fällt derselbe zusammen mit dem Umherführen, dem Um- gange, den Beschäfftigungen, und den hierdurch veranlassten Gewöhnungen, Abhärtungen, moralischen Urtheilen und frühesten religiösen Eindrücken; zum Theil auch mit den Uebungen im Lesen.

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§ 65. 215.] 1Das Lesen, Schreiben, Rechnen, das Leichteste des Combinirens, und die ersten Anschauungs-Uebungen gehören in die spätem Jahre dieser Periode ; auch wenn das Kind noch nicht eine volle Stunde lang in gleich- massigem Aufmerken zu beharren fähig ist. Man begnügt sich alsdann mit kürzerer Zeit; denn der Grad der Aufmerksamkeit ist wichtiger als deren längere Dauer. 2

1 Der § 215 der II. Ausg. beginnt mit den Worten:

Die ersten Anfänge des synthetischen Unterrichts, das Lesen, Schreiben

2 Die II. Ausgabe hat noch folgenden Zusatz ;

Man bemerke den Unterschied der hier genannten Lehrgegenstände. Zählen, Combiniren, Anschauen, gehören zu den natürlichen Entwickelungen des Geistes, die man durch den Unterricht nicht schaffen, sondern nur beschleunigen soll; daher hier das Verfahren soviel möglich analytisch be- ginnen muss; Lesen und Schreiben hingegen lässt sich nur synthetisch (jedoch nach vorgängiger Analyse der Sprachlaute) lehren.

1) Das Combinieren gemeiniglich ganz und sehr mit Unrecht, vernachlässigt gehört zu den allerleichtesten und Vieles erleichternden Übungen, recht eigentlich für Kinder. Dass zwey Dinge ihre Stellung rechts und links, (hinten und vorn, oben und unten), wechseln können, ist der Anfang. Dass drey Dinge sich sechsfach (in Einer Linie) versetzen lassen, ist die nächste Folge. Wieviele Paare man aus einer Menge vor- liegender Dinge nehmen könne, ist eine der leichtesten Fragen. Wie weit man fortzuschreiten habe, müssen die Umstände bestimmen. Nur sind

88 VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

§ 66. 216.] Aber auch hier schon bleiben manche Individuen zurück; Anfangs befremdet durch die Zumuthung des unlustigen Lernens, später sich er- gebend in das [32] Gefühl ihrer Unfähigkeit. In zahlreichen Schulen, wo stets Einige voraneilen, und die Menge mit dem Strome zu schwimmen sucht, eriangt man die Leistung eher; aber mehr durch Nachahmung als durch innern Zusammenhang der Gedanken. Und auch da noch giebt es Spätlinge, welche der Unmuth tief herabdrückt.

Drittes Capitel.

Knabenalter.

§ 67. 219.P Wie Knaben und Mädchen sich trennen, so scheiden sich auch die

nicht Buchstaben, sondern Dinge, und die Kinder selbst, zu versetzen, zu combiniren und zu variiren. So etwas muss man zum Theil scheinbar spielend lehren.

2) Zu den ersten Anschauungs-Uebungen dienen gerade Linien, senk- recht oder schräg aufeinander gezeichnet, (auch Stricknadeln in ver- schiedenen Lagen zusammengelegt und sich kreuzend, ferner Damenbret- steine und ähnliche Dinge;) alsdann der Kreis in mannigfaltigen Ab- theilungen und Darstellungen.

3) Das Rechnen bedarf gleichfalls sinnlicher Dinge (z. B. Geldstücke), welche gezählt und verschiedentlich gelegt werden, um Summen, Differenzen, Producte vor Augen zu stellen; anfangs nur in kleinen Zahlen, etwa bis zwölf oder zwanzig.

4) Zum Lesen dienen Buchstaben und Zahlen auf Pappstückchen, die sich verschiedentlich zusammenstellen lassen. Geht es langsam mit dem Lesen lernen, so vernachlässige man nur daneben nicht die übrige Geistesbildung, als ob deren erste Bedingung das Lesen wäre; welches oft viel Geduld braucht und niemals die Kinder gegen Lehrer und Bücher verstimmen darf.

5) Zum Schreiben leitet das einfache Zeichnen, welches sich mit den ersten Anschauungsübungen verbinden muss. Ist das Schreiben im Gange,

' so fördert es das Lesen.

1 In der II. Ausg. sind diesem § noch folgende 2 §§ vorausgeschickt: § 217. Die Gränzscheidung des Knabenalters gegen die frühere Kindheit, (sofern eine solche Gränze sich bestimmen lässt), besteht darin, dafs der Knabe sich gern, wenn man ihn gehn lässt, vom Erwachsenen entfernt, indem er nicht mehr, wie das Kind, wenn es allein ist, sich un- sicher fühlt; sondern seinen nähern Erfahrungskreis hinreichend zu kennen glaubt, und von da in unbestimmte Weiten aller Art hinausschaut. Es ist nun die Sorge des Erwachsenen, sich dem Knaben anzuschliessen, und ihn zurückzuhalten, ihm die Zeit einzutheilen, die Einbildungen seiner Zu-

2. Abschnitt. Übersicht der allgemeinen Pädagogik etc. 3. Cap. Knabenalter. 80

Individualitäten; und ihnen gemäss sollte der Unterricht in Materie und Form * die entsprechenden Sonderungen annehmen. Statt dessen macht die Familie das Standes -Interesse gelten; und will bestimmen, wie viel oder wie wenig Unterricht ein Knabe nüthig habe.

Pädagogisch betrachtet, gehört theils zu jedem Studium eine ihm an- gemessene geistige Thätigkeit; theils muss diese Thätigkeit, indem sie wohl gelingt, zu dem Gesammtzustande des Individuums passen; nicht dessen Kräfte erschöpfen oder unzeitig in Anspruch nehmen.

Unrichtig aber sind Schlüsse wie dieser: mit Einem Studium stehe das zwevte, mit dem zweyten das dritte, mit dem dritten das vierte in sachlicher [33] Verbindung; folglich müsse, wer zum ersten angeleitet werde, auch das zwevte, dritte, vierte damit verbinden. Dieser Schluss gilt für Gelehrte, welche für ihre Person über die pädagogischen Vorfragen längst hinweg sind; und auch da noch bezeichnet er nur die Verbindung der- jenigen, welche die Vorsteher ihrer Fächer sind: mit den psychologischen Verhältnissen aber, wonach die Erziehung sich richten muss, hat er nichts gemein. Oft genug bleiben Vorstellungsmassen vereinzelt, deren Gegen- stände in der genauesten und notwendigsten Verbindung stehn; dem In- dividuum hilft es alsdann nichts, ein weites Gewebe der Gelehrsamkeit von verschiedenen Puncten aus bloss angefangen zu haben.

§ 68. Anders verhält es sich da, wo gewisse Studien die nothwendige Vor- bereitung zu gründlichen Kenntnissen mancherlei Art ausmachen. Da

versieht zu massigen, um so mehr, da er die Schüchternheit, womit der Jüngling unter Männer trit, noch nicht kennt. Denn die Gränze des Knaben gegen den Jüngling liegt darin, dass der Knabe noch keine vesten Zwecke hat, sondern spielt, und sorglos in den Tag hinein lebt. Dabey träumt er sich eine Männlichkeit, die in der Stärke der Wilkühr bestehen würde. Das spielende Treiben bleibt lange, wenn man es nicht verkünstelt.

Eben so sind Anknüpfungen des Unterrichts an das Sinnliche noch lange nicht ganz zu unterlassen, wenn auch schon gute Fortschritte im Wissenschaftlichen gemacht sind. Die Unterlagen dürfen nicht wanken.

§ 218. Die Hauptsache für dieses Alter ist, zu verhüten, dass sich der Gedankenkreis nicht vorzeitig abschliesse. Der Unterricht ist es, welcher dafür zu sorgen hat. Zwar der allergrösste Theil des Lernens, wie mannigfaltig es auch sey, geschieht dadurch, dafs Worte verstanden werden, also dass der Schüler aus dem geistigen Vorrath, welchen er schon eingesammelt hatte, den Sinn in die Worte legt. Eben hieraus aber sieht man, dass das Quantum des Vorstellens schon grösstentheils beisammen ist; der Unterricht kann es nur in neue Formen bringen. Und dies muss geschehen, während der Vorrath noch leicht beweglich ist, denn später nimmt derselbe allmählig vestere Formen an.

1 in Materie und Form . . . hat die II. Ausgabe ; sowohl in Ansehung der Gegenstände als der Lehrart. I. Ausgabe, a.

* SW drucken nach der II. Ausgabe, ohne die Variante der I. Ausgabe anzugeben.

go VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

gilt der Schluss: wer sich jener nicht zu bemächtigen im Stande ist, kann auch diese nicht erreichen.

§ 69. 220.] Die Prüfung jugendlicher Fähigkeiten setzt ferner eine richtige Methode des ersten Unterrichts, und zugleich ein angemessenes, nicht ab- stossendes, persönliches Betragen der Lehrer voraus; damit vermieden werde, Unfähigkeit statt des unrichtigen Verfahrens anzuklagen.

§ 70. [34] Die seltenen Fälle später Entwickelung zu berücksichtigen, ist schwer; es sey denn, dass körperliche Pflege, oder Umherführen in einem grössern Erfahrungskreise, und Wechsel der Lehrart, gefehlt haben; welches nach- zuhohlen kann versucht werden. Selbst die anfangs beschleunigten Fort- schritte aber geben alsdann nicht eher ein günstiges Resultat, als bis deutlich ein lebhaftes eignes Weiterstreben hinzukommt.

§ 71. 221.] xUm nun hievon die Anwendung zu machen, muss zu den sitt- lichen Principien zurückgegangen, und hier zuerst der Ideen des Rechts und der Billigkeit erwähnt werden. Diese entspringen aus der Reflexion auf menschliche Verhältnisse; und sind deshalb dem frühen Kindesalter weniger zugänglich, da ihm überall die Unterordnung in der Familie ent- gegentrit. Der Knabe dagegen lebt mehr unter seines Gleichen; und die nöthigen Zurechtweisungen geschehen nicht immer so schnell, dass sie dem eignen Urtheil nicht Zeit lassen sollten. Freywilliges Anschliessen, persönliches Ansehen, und selbst Usurpation der Gewalt, zeigen sich im Knabenkreise nicht selten. Von Seiten der Erziehung ist nun Aufklärung der Begriffe, und überdies noch Regierung und Zucht nöthig; aber auch ein Unterricht, welcher ähnliche Verhältnisse in der Ferne zeige, und ■ohne Partheylichkeit zu betrachten gebe. Dieser Unterricht muss sich an Poesie und Geschichte wenden.

§ 72. 222.] [35] Auf Geschichte weiset auch eine andre Betrachtung hin. 2 Schon oben 56 61) leitete die Idee des Wohlwollens auf die Notwendigkeit religiöser Bildung; diese lehnt sich an Geschichten, und zwar alte Ge- schichten. Hiemit wird eine Ausdehnung des Vorstellungskreises in Raum und Zeit gefodert, welche, wenn sie auch sehr unvollständig geschieht, doch für jeden Unterricht, selbst den in der Dorfschule, einen Punct be- zeichnet, der allgemein erreicht werden muss.

§ 73- 22^.] Der zweyte, eben so vest bestimmte Punct, dessen Wichtigkeit selbst noch das Lesen und Schreiben übertrifft, ist das Rechnen; theils für

1 Der erste Satz des § lautet in der II. Ausgabe: „Zu den sittlichen Principien zurückgehend, erwähnen wir hier vorzugsweise der Ideen des Rechts und der Billigkeit.

2 Schon oben 206 211) leitete. II. Ausgabe.

2. Abschnitt. Übersicht der allgemeinen Pädagogik etc. 3. Cap. Knabenalter. gi

Klarheit der gemeinsten Erfahrungsbegriffe, theils für den unentbehrlichen ökonomischen Gebrauch.

§ 74. 224.] Das Rechnen nach dem dekadischen Systeme würde höchst wahr- scheinlich, die biblische Geschichte ganz gewiss, kein Zögling von selbst erdenken. Beide also müssen als zum synthetischen Unterricht vorzugs- weise gehörig angesehen werden. Bey solchem kommt allemal die Schwierigkeit, denselben in die vorhandenen Vorstellungsmassen 29) sicher eingreifen zu lassen, in Frage. Nun darf man zwar nicht schliessen : mit der biblischen Geschichte stehe die ganze Geschichte, mit dem Rechnen die ganze [36] Mathematik überhaupt, also auch pädagogisch, in Verbindung 67). * Allein soviel ist gewiss, dass die Wirksamkeit einer Vorstellungsmasse mit ihrer Ausbreitung und mehrfachen Anknüpfung wächst. Biblische Geschichte und Rechnen müssen demnach, in soweit Umstände und Fähigkeiten es erlauben, eine grössere Ausdehnung des historischen und mathematischen Unterrichts wünschenswert machen; auch da, wo auf vielseitige Bildung* nicht zu hoffen ist.

§ 75- 225.] Die nächste Rücksicht in Ansehung der zu wählenden Lehrgegen- stände ist nun ferner auf Poesie und Naturlehre 2zu nehmen 35, 37, 38). In den untersten Rang aber würden die fremden Sprachen kommen, wenn nicht besondere Verhältnisse ihnen in manchen Fällen eine vor- zügliche Wichtigkeit ertheilten. Denn was die alten klassischen Sprachen an- langt; so hattet an ihnen das Studium der Theologie, Jurisprudenz, Medicin, ja die gesammte Gelehrsamkeit so sehr, dass sie in den gelehrten Schulen immer die Grundlage ausmachen müssen.3

1 = 2 1 g der II. Ausgabe.

* Allgemeine Pädagogik. S. 142. 4

2 zu nehmen, wobey man sich jedoch sehr hüten muss, nicht die nöthige Stufenfolge zu überspringen. Fabeln und Erzählungen, wie die bekannten von Gellert, wollen ihre Zeit haben; der Geschmack der Knaben darf nicht zu früh dagegen spröde werden. Von der Zoologie knüpft sich das Leichteste und Unbedenklichste schon in den Kinder- jahren an Bilderbücher; dem Knaben passt zuerst das Leichteste der Bo- tanik beim Pflanzensammeln. In den untersten ... II. Ausgabe.

8 Die II. Ausg. hat nach: „ausmachen müssen" noch Folgendes: Uebrigens liegt vor Augen, dass der Umfang des Unterrichts von äufseren Verhältnissen des Standes und Vermögens zu sehr abhängt, als dass man die Lehrgegenstände im Allgemeinen bestimmt vorzeichnen könnte. Weit weniger abhängig aber ist die Entwicklung des vielseitigen Interesse von den Lehrgegenständen; und dem Unterricht bleibt immer noch die Aufgabe, innerhalb gegebener Schranken sich der vielseitigen Bildung an- zunähern; während es in sehr günstigen Verhältnissen darauf ankommt, nicht im Ueberflufs an Hülfsmitteln das eigentliche Ziel des Unterrichts aus den Augen zu verlieren.

4 Die Anmerkung ist in der II. Ausg. weggeblieben.

q2 VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

§ 76. 226.] Das Knabenalter wird durch den theils nöthigen, theils nützlichen Unterricht oftmals auf eine Weise gedrückt, die man zwar im gelehrten Stande sich zu verhehlen sucht, die aber anderwärts auffällt; [37] und wobey Muth, Entschlossenheit, Gewandtheit, Eigentümlichkeit, Körperbildung und geistige Production wesentlich leiden. Einige wenige Stunden gymnastischer Uebung sind kein durchgreifendes Gegenmittel. Die beste Vergütung liegt darin, ivenn die Laster des Müssiggangs vermieden werden. Schon des- halb, weil hierauf eine besondere Aufmerksamkeit zu richten ist, und nach dem Ergebniss der Beobachtung die Maassregeln zu bestimmen sind, doch auch in jeder andern Hinsicht, muss die Familienerziehung gegen jenen natürlichen Druck, welchen auch der gute Unterricht ausübt, mitwirken, und die Schulbildung muss ihr dazu die nöthige Zeit lassen. Von der letztern mag zwar in Nothfällen ausdrücklich verlangt werden, dass sie den Knaben vollständig beschäftige. Sonst aber sollen die häuslichen Schularbeiten nicht das grösste, sondern gerade umgekehrt das kleinste mögliche Zeitmaass ausfüllen; und wie die übrige Zeit anzuwenden sey, darüber haben Eltern und Vormünder nach Beobachtung des Individuums zu bestimmen, und die Folgen zu verantworten.

Viertes Capitel. Jünglingsalter.

§ 11- 227-]

Ob nun der Unterricht geendigt, oder fortgesetzt werde: alles, was er wirken kann, beruht jetzt darauf, dass der Jüngling selbst einen Werth aufs [38] Behalten und Fortlernen lege. Der Zusammenhang des Wissens, theils in sich, theils mit dem Handeln, muss also aufs Deutlichste vor Augen gestellt seyn; und die stärksten Antriebe, um die einmal vor- gesteckten Zielpuncte zu erreichen, sind anzuwenden, so lange es nur darauf ankommt, der Trägheit oder Unbesonnenheit zu begegnen. Aber andererseits sind jetzt gerade die falschen Motive zu fürchten, und zu meiden, welche nur den Schein des Talents erkünsteln würden.

§ 78. 228.] Ueberdies hört die Nachsicht auf, welche man mit dem Kinde und r Knaben hatte. Die ganze Tüchtigkeit des Jünglings kommt in Frage; und seine Stellung in der Gesellschaft soll sich darnach bestimmen; die Schwierigkeit, unter Männern Haltung zu gewinnen, muss ihm fühlbar werden. Plätze, denen er nicht gewachsen scheint, werden ihm streitig gemacht; er ist von Nebenbuhlern umgeben, und wird von Erwartungen gespornt, welche zu massigen oft schwer hält, und alsdann gerade am nöthigsten ist.

§ 79- 229-] Geht jetzt der Jüngling, vertrauend auf günstige Umstände, ungeachtet aller Auffoderung, seiner Bequemlichkeit nach: so ist die Erziehung am

3. Abschnitt. Pädagogische Bemerkungen etc. i. Cap. Zum Religions-Unterricht. 93

Ende; und man kann sie nur mit solchen Lehren und Vorstellungen beschlossen, welche auf den Fall, dass künftige Erfahrungen etwa daran erinnern möchten, berechnet sind.

§ 80. 230.] [39] Hat dagegen der Jüngling ein Ziel im Auge: so bestimmen die Lebensformen, die er sucht, und die Motive, die ihn treiben, was man noch für ihn thun könne. Die Ehrenpuncte, die er sich aneignet, stehen zwischen Plänen und Maximen in der Mitte, je nachdem sie mehr nach aussen oder nach innen1 treiben.

§ 81. 231.] Nur in Fällen, wo er durch seine Fehltritte sich beschämt fühlt, ist er noch biegsam. Diese Fälle müssen benutzt werden, wo etwas nach- zuhohlen ist. Im Uebrigen gebietet die Pflicht, ihm die strengen Foderungen der Sittlichkeit unverhüllt vorzuhalten. Völlige Offenheit ist kaum noch zu erwarten, am wenigsten zu fodern. Die Verschlossenheit des Jüng- lingsalters ist der natürliche Anfang der Selbstbeherrschung.

Dritter Abschnitt-7

Pädagogische Bemerkungen zur Behandlung besonderer Lehrgegenstände.

Erstes Capitel. Zum Religions - Unterricht. § 82. 232.] Das Innere des Religions - Unterrichts haben die Theologen zu be- stimmen; und die Philosophie hat zu bezeugen, dass kein Wissen im Stande ist, die [40] Zuversicht des religiösen Glaubens zu überflügeln. Was aber das pädagogische Verhältniss anlangt, so ist sowohl über das Ende, als über den Anfang dieses Unterrichts etwas anzutühren.

Das Ende oder wenigstens den Gipfel bezeichnet die Confirmation, und die darauf folgende Zulassung zum heiligen Abendmahl. Jene ent- spricht einer besondern kirchlichen Confession; dieses hingegen einer all- gemeinen Verbrüderung aller Christen. Der tiefen Gemüthsbewegung, welche mit dem ersten Gange zum Abendmahl verbunden ist, kommt es

2 Die Überschrift lautet in der II. Ausgabe:

Dritter Theil.

Ueber besondere Zweige der Pädagogik.

Erster Abschnitt.

Pädagogische Bemerkungen ....

1 nach aussen oder innen SW („nach" fehlt).

Q4 VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

zu, über das Gefühl der Trennung von Andersdenkenden einen Sieg zu erringen; besonders da an die Zulassung zum Abendmahl schon die all- gemeine Bedingung des ernsten sittlichen Strebens geknüpft ist, welche also auch als erfüllt von den Andersdenkenden vorausgesetzt wird, sofern sie an dergleichen Fever Theil nehmen dürfen. Der vorgängige Religions- Unterricht nun hat um so mehr hierauf hinzuwirken, da christliche Zu- neigung auch zu Denen, welche in wichtigen Glaubenspuncten abweichen, für Manche zu den schweren Pflichten gehört; deren Einschärfung um desto nöthiger ist, weil der nämliche Unterricht nicht umhin konnte, die Unterscheidungslehren der Confessionen bestimmt anzuzeigen.

§ 83. 233.]

Für den gelehrten Unterricht, wenn er im Griechischen früh genug anfing, ist es möglich, den Eindruck der Christlichen Lehren durch die- jenigen pla[4 ironischen Dialogen zu verstärken, welche sich auf den Tod des Sokrates beziehen; namentlich durch den Kriton und die Apologie. Doch müssen diese Eindrücke, als die schwächern, noch vorangehn, bevor die Einweihung in die christliche Gemeinschaft ihre ganze Gewalt fühlen lässt.

§ 84. 234.]

Geht man nun in Gedanken rückwärts; so setzt derjenige Religions- Unterricht, welcher das Eigentümliche der Confessionen betrifft, den all- gemeinen christlichen voraus; welchem wiederum biblische Geschichten, die auch das alte Testament umfassen, vorausgegangen sind. Es fragt sich aber, ob nicht selbst diesen noch etwas zum Grunde liegen müsse?

§ 85. [235-]

Unmöglich kann die Religion als etwas bloss Historisches und Ver- gangenes, welches nur noch fortgesetzt würde, genügend dargestellt werden. Der Lehrer muss nothwendig auch die gegenwärtigen Zeugnisse der Natur in ihrer Zweckmässigkeit benutzen. Allein selbst dies, was schon einige Naturkenntniss erfodert, und auf Weisheit und Macht hinführt, ist noch nicht das Erste.

§ 86. 236.]

Reines Familiengefühl erhebt sich leicht und ohne Weiteres zur Idee vom Vater des Vaters und der Mutter. Nur wo dies mangelt, ist man genöthigt, [42] von den Kirchen und der Sonntagsfeier als öffentlichen Zeichen der Demuth und Dankbarkeit, auszugehn. Eine überall waltende Liebe, Fürsorge und Aufsicht bildet den ersten Begriff des höchsten Wesens, welcher Anfangs auf den Gesichtskreis des Kindes sich beschränkt, und nur allmählig sich erweitert und erhöhet.

§ 87. 237.] Die Erhöhung und Reinigung von unwürdigen Zusätzen muss aber schon geschehen und vest eingeprägt seyn, bevor mythische Vorstellungen des Alterthums bekannt werden; alsdann wirken diese richtig durch den Contrast des offenbar Fabelhaften und Rohen gegen das Würdige und Erhabene. Hierin nun liegt bey gehöriger Behandlung nichts Schwieriges;

3. Abschnitt. Pädagogische Bemerkungen etc. 2. Cap. Geschichte. ge

aber es giebt andre Schwierigkeiten, welche von der Individualität ab- hängen.

§ 88. 238.]

Während Manche nicht vertragen, dass viel von der Sünde geredet werde, weil sie sonst entweder damit bekannt, oder von phantastischer Angst ergriffen werden : giebt es Andre, die nur durch die stärksten Aus- drücke können erschüttert werden; und noch Andre, welche selbst gegen die Sünden der Welt predigend sich in stolzer Sicherheit der Welt gegen- über stellen. Es giebt auch Grübler, welche, ohne spinozistische Lehren vernommen zu haben, von selbst das Zugelassene für bewilligt, und vom höchsten Richter gebilligt, mithin die Macht als [43] factischen Beweis des Rechts ansehen. Es giebt Verächter der blossen Moral, welche durch Gebet sich zu schlechten Handlungen einzuweihen vermeinen. Von solchen Verkehrtheiten kommen einzelne Spuren wohl schon bey Kindern vor, besonders wenn ihre fertige Wiederholung des gehörten Xanzelvor- trags, oder vollends ihr lautes Beten, einmal gelobt wurde.

Demnach muss die Wirkung des Religions - Unterrichts bey jedem Individuum beobachtet werden. Wiederum eine Aufgabe für die Familien- Erziehung.

Zweytes Capitel.

Geschichte.

§ 89. 239.]

Der allgemeinste Fehler, worin jüngere Lehrer der Geschichte zu ver- fallen pflegen, ist die unwillkührlich wachsende Weitläuftigkeit im Vortrag. Nicht eben das Interesse wächst, sondern das Geflecht der Begebenheiten zieht sie hierhin und dorthin. Schon dies verräth Mangel an Vorbe- reitung; aber nicht bloss Vorbereitung, sondern selbst Vorübungen sind nöthig.

§ 90. 240.]

Soll zuvörderst Geschichte bloss chronologisch, aber in einem vesten Bilde aufgefasst werden, so erfodert dies gleiche Leichtigkeit, sie rückwärts oder vorwärts oder seitwärts (synchronistisch) in Gedanken [44] zu durch- laufen. Die merkwürden Namen müssen bestimmte Gruppen und Reihen bilden; und es muss geläufig seyn, aus den Gruppen die allermerkwürdig- sten herauszuheben; oder aus einer langen Reihe die 1 wichtigsten Puncte in eine kurze * Reihe zusammenzustellen.

§ 91. 241.) Ferner müssen die allgemeinen Begriffe, welche sich auf Stände, Ver- fassungen, Einrichtungen, Religionsgebräuche, Culturstufen, beziehen, und zur Erklärung der Begebenheiten dienen, nicht bloss dem Lehrer ganz

1 „wichtigsten und „kurze" sind in der II. Ausgabe gesperrt gedruckt. »

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne ADgabe der Variante der I. Ausgabe.

g6 VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

deutlich seyn, sondern er muss auch die Bedingungen überlegen, unter welchen er sie den Schülern entwickeln und gegenwärtig erhalten könne. Schon dadurch werden vom frühesten Unterrichte die meisten allgemeinen Reflexionen ausgeschlossen. Und die alte Geschichte, deren Motive ein- facher sind, als die neuern Interessen der Politik, behauptet sich an ihrem Platze im Vortrage für die frühere Jugend.

§ 92. 242.]

Weiter muss die Schwierigkeit erwogen werden, eine verwickelte Be- gebenheit gut zu erzählen. Dazu gehört zu allererst ein reiner Gedanken- fiuss, vermöge dessen der Faden der Erzählung in allen Puncten, die nicht absichtliche Ruhepuncte sind, genau zusammenhänge. Dies setzt ferner eine fliessende Rede voraus ; ohne deren sorgfältige Uebung kein guter historischer Vortrag möglich ist. Der [45] blosse Redefluss reicht aber nicht zu. Es müssen Ruhepuncte eintreten, weil sonst der Wechsel der Ver- tiefung und Besinnung* nicht kann erreicht werden; ja schon weil die Reihenbildung** sonst mislingt, indem das Nachfolgende vom Vorher- gehenden eine Hemmung erleidet. Es ist demnach nicht gleichgültig, wo eine historische Lehrstunde anfängt und abbricht, und wo die Wieder- hohlungen eingeschaltet werden.

Während der Erzähler die Worte nur nacheinander kann folgen lassen, schwebt ihm selbst eine ganz andre Gestalt der Begebenheit vor, und er soll sie dem Zuhörer mittheilen. Diese Gestalt gleicht auch nicht einer ebenen Fläche, sondern ein mannigfaltiges Interesse hebt Einiges und lässt Anderes sinken. Es muss also unterschieden werden, wie weit jedesmal die Rede gerade tortlaufend der Succession der Begebenheiten folgen, wo im Gegentheil sie abbeugen solle, um Nebenumstände in sich aufzunehmen. Es muss im Ausdrucke eine Gewalt liegen, Seitenblicke und Rückblicke zu veranlassen, selbst ohne die Richtung zu verlieren. Der Vortrag muss Beschreibungen hier, verweilende Schilderungen dort anzubringen in seiner Macht haben; und während er den Zuhörer bewegt, doch selbst Besonnen- heit und Umsicht nicht verlieren.

§ 93- 243.]

[46] Zu dem allen kommt noch ein Haupt-Erfoderniss, nämlich die grösste Einfachheit im Ausdrucke. Die gedrängte und abstracte Sprache neuerer Historiker passt kaum für die oberste Klasse eines Gymnasiums; das Sentimentale oder Witzige der neuern Novellenschreiber muss ganz ver- mieden werden. Die einzigen sichern Muster sind die alten Klassiker.

Man übe sich an Erzählungen des Herodot. Man muss sie ganz eigentlich memoriren , in möglichst treuer, nur fliessender Uebersetzung. Die Wirkung auf Kinder ist überraschend. Später können Arrian , und Livius gebraucht werden. Die Weise der Alten, den Hauptpersonen ihre Ansichten und Motive in den Mund zu legen (wobey der Erzähler es

* Allgemeine Pädagogik, S. 1 19. J

** Lehrbuch zur Psychologie, S. 141, 150, [Band IV, S. 395, 402 vorliegender Ausgabe] und an mehrern Orten.

1 Die Anmerkung ist in der IL Ausg. weggeblieben.

3. Abschnitt. Pädagogische Bemerkungen etc. 2. Cap. Geschichte. 97

vermeidet, mit eigner Reflexion aufzutreten), ist sorgfältig nachzuahmen, und nur in so fern zu beschränken, als eine künstliche Rhetorik dabey zum Vorschein kommt.

g 04- 244.]

Sind die erwähnten Vorübungen 90 93) 1 mit einem gründlichen und pragmatischen Studium der Geschichte verbunden worden: so muss alsdann noch in der Anwendung die gewonnene Kunst sich nach den Umständen und jedesmaligen Zwecken2 beschränken. Hierüber lassen sich nun zwar bey der grossen Verschiedenheit vorkommender Fälle keine allgemeine Regeln geben;3 indessen ist folgende vierfache Art des Unter- richts zu bemerken.

[47] § 95- 245-]

1) Zuerst entsteht schon beym frühesten geographischen Unterricht, so oft die Beschreibung eines Landes geendet worden, die Frage: Wie sah es ehemals in diesem Lande aus? Denn es gehört zur richtigen Auf- fassung, dass Städte und andre Menschenwerke nicht gleich alt sind wie die Berge, Flüsse, Meere. 4Kann man sich nun gleich nicht dabey auf- halten, alte Landcharten vorzuzeigen und zu erklären, so ist es doch nütz- lich, etwas Weniges über die Vorzeit des Landes bey zufügen; dabey aber soll man die Kunst des Erzählens nicht anbringen, sondern gerade ver- meiden; indem die Frage, obgleich sie in die Zeit zurückgreift, doch von dem Lande ausgeht. Es soll nur die Vorstellung des ruhenden Bodens dadurch belebt werden, dass von der Bewegung in frühern Völkerzügen und Kriegen etwas erwähnt wird. Anfangs also (z. B. bey der Geographie von Deutschland), sollen die Notizen von der Vorzeit so kurz als mög- lich seyn; während aber Frankreich, England, Spanien, Italien einander

1 Die II. Ausg. verweist ebenfalls auf die § 90—93. (Druckfehler.) Es müsste heissen § 240 243.

2 und jedesmaligen Zwecken ausdehnen oder beschränken. II. Ausg.*

3 Hier schiebt die II. Ausg. Folgendes ein: indessen ist folgendes zu be- merken.

Nicht bloss im Allgemeinen sind alle Hülfsmittel, wodurch historische Gegenstände bildlich dargestellt und versinnlicht werden können (Portraits, Abbildungen von Gebäuden, Ruinen, u. d. gl.) wünschenswerth : sondern als nothwendig muss man insbesondre Landcharten für ältere Zeiten be- trachten, stets zur Hand haben und das Vorzeigen nicht versäumen. Auch gehört dahin wesentlich eine Zeichnung wie die von Strass unter dem Namen: Strom der Zeiten, welche nicht bloss den Synchronismus, sondern zugleich die wechselnde Verbindung und Trennung der Länder vor Auo-en stellt. Entbehrt man solcher Hülfsmittel, so wird mit blossen Ge- dächtnisssachen viel Zeit und gute Laune verdorben.

Ferner bemerke man folgende vierfache Art des Unterrichts.

4 Kann man sich nun gleich in den, der heutigen Geographie be- stimmten Stunden, nicht dabey .... II- Ausgabe, b

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Variante der I. Ausgabe, b SW, welche nach der II. Ausg. drucken, geben die Variante der 1. Aus-. nicht an.

Herbart's Werke. X. 7

gg VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

folgen, knüpfen sich diese historischen Notizen allmählig aneinander, und man lässt die Geschichte 1gleichsam von fern erblicken.

Will man in andern Lehrstunden, wie manchmal empfohlen worden (obgleich dadurch nur Fragmente gewonnen werden) kurze Biographien als erste Vorbereitung auf mittlere und neuere Geschichte vortragen: so wiid dies wenigstens eher ausführbar, wenn der Geographie jene histo- rischen Notizen sind [48] 2beygefügt worden. Alsdann aber muss eine Zeittafel an der Wand hängen; und auf einige Stellen derselben muss man bei jeder Gelegenheit hinweisen, damit die Schüler wenigstens einige veste Zeitpuncte gewinnen. Sonst läuft man Gefahr, durch zerstreute Biographien grosse Verwirrung zu veranlassen.

§ 96. 246.]

2) Der Haupttheil des Geschichts-Unterrichts für die frühere Jugend bleibt immer die Griechische und Römische Geschichte. Einige an- muthige Erzählungen aus Homerischer Mythologie vorausgehen zu lassen, ist der Sache angemessen , da die Geschichte mit dem Volksglauben zu- sammenhängt. Aber zwey Abwege sind zu vermeiden: der eine, in weit- läufige Theogonie, oder in anstössige Fabeln, der Vollständigkeit halber (die keinen Zweck haben würde) zu gerathen; das zweyte, der Mythische auswendig lernen zu lassen. Nur wahre Geschichte soll memorirt werden von Kindern. Mythologie ist ein Studium für Jünglinge oder Männer.

Die Persische Geschichte muss ungefähr in dem Zusammenhange, wie sie bey Herodot erscheint, erzählt werden; ihr ist das Assyrische, das Aegyptische anzuschliessen in Form von Episoden; dabey muss Griechen- land im Vordergrunde bleiben. Die Erzählungen aus dem alten Testa-

1 Die II. Ausgabe schiebt hier Folgendes ein: Dies wird sich genauer be- stimmen lassen, wenn man den ersten und zweyten Cursus des geographischen Unterrichts gesondert betrachtet, Beym ersten kann das Allgemeinste ge- nügen; z. B. dass, noch nicht längst, Deutschland viel mehr als jetzt, ge- theilt gewesen; dass es ältere Zeiten gegeben habe, worin manchmal Städte und angränzende Landesherrn einander bekriegten, dass die Ritter auf schwerer zugänglichen Anhöhen wohnten, dass man aber der bessern Ordnung und Aufsicht wegen Deutschland in zehn Kreise getheilt habe, u. d. gl. m.

Der zweyte Cursus wird schon mehr Thatsachen zulassen, jedoch von älterer Geschichte sehr wenig. An die Geographie lässt sich nur 7 Neueres bequem anknüpfen; ausser wo Monumente noch vorhanden sind, z. B. die Ruinen Italiens, die zusammengesetzte Sprache Englands, die eigenthümliche politische Gestaltung der Schweiz mit ihrem, schon auf der Landcharte sichtbaren, vielgetheilten Boden, und der Verschiedenheit ihrer Sprachen.

Will man in andern Lehrstunden ....

2 beygefügt worden. Alsdann aber ist um desto nöthiger, dass eine Zeittafel an der Wand hänge; und auf einige Stellen . . . II. Ausg. a

SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Variante der I. Ausgabe.

3. Abschnitt. Pädagogische Bemerkungen etc. 2. Cap. Geschichte. gg.

mente bilden dagegen einen Lehrfaden für sich allein. Die Römische Geschichte muss für den frühern Unterricht ihre mythischen Anfänge be- halten.

§ 97- 247-]

[49] Wenn nun ausführliche Erzählungen nach dem Muster der Alten, die Aufmerksamkeit der Jugend gewonnen haben: so darf gleich- wohl nicht fortwährend das blosse Vergnügen, sich erzählen zu lassen, den Eindruck der Lehrstunden bestimmen; sondern es müssen gedrängte Uebersichten nachfolgen, und einige Hauptpuncte darin chronologisch memorirt werden. Hiebey ist folgendes zu merken :

An den eingeprägten Jahrszahlen sollen die Hauptbegebenheiten sich- im Gedächtnisse dergestalt bevestigen, dass keine Verwirrung entstehe. Soweit nun der Zusammenhang einer Hauptbegebenheit reicht, kann eine einzige Jahrszahl hinreichen ; man mag eine zweyte oder dritte hinzufügen, aber je mehr man sie häuft, desto zweckwidriger ist es; denn sie schwächen ihre Wirkung wegen der wachsenden Schwierigkeit, alle zu behalten. In- der Geschichte eines und desselben Landes sollen vielmehr die Jahrszahlen möglichst in weiten Distanzen bleiben; damit nahestehende Zahlen dem Synchronismus desto besser dienen, welcher die Geschichten verschiedener Länder verknüpft. Auch in Angaben aus der alten Geographie sey man sparsam, aber dringe auf genaues Einprägen.

§ 98. 248.] Durch die Uebersichten, welche den ausführlichen Erzählungen nach- folgen, gewinnt der Schüler den Vortheil, dass er bey solchen Perioden, von [50] denen man wenig erzählt, von selbst voraussetzt, es sey sehr Vieles geschehen, wovon die Geschichte oder der Lehrer schweige, Hie- durch sichert man sich gegen falsche Eindrücke, welche da entstehen würden, wo der Unterricht nur compendisrisch fortschreitet; wie es in der That späterhin 1 meistens unvermeidlich ist.

§ 99- 2 3) Die mittlere Geschichte kann, beim ersten Vortrage wenigstens, fast nur chronologisch und geographisch behandelt werden. Denn die

1 späterhin zum Theil unvermeidlich ist. II. Ausg.»

- Der kürzeren Fassung des § 99 und des I. Abschnitts des § 100 der I, Ausg.

(bis S. 101, Z. 5 v. o.) entspricht in der II. Ausg. folgende längere (die §§ 249 und

den ersten Abschnitt von 250 umfassend):

§ 249- 3) Die mittlere Geschichte hat weder Hülfe an der Philologie, noch Verwandschaft mit den heutigen Zuständen; es ist schwer, dem Vortrage derselben eine mehr als chronologische und geographische Klarheit zu geben; und doch darf man sich damit nicht begnügen; es würde eine zu grosse Last blosser Gedächtnisssachen ohne Interesse daraus entstehn. Die Grundlagen: Islam, Pabstthum, Kaiserthum sammt dem Lehrwesenr müssen sorgfältig hervorgestellt und erklärt werden. die meisten That-

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne die Variante der I. Ausg. anzumerken.

:

IOO

VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

Menge der Begebenheiten ist gross, ihr Synchronismus schwer und doch nöthig, ihr sichtbarer Zusammenhang gering. Indessen wird wohl meistens für zweckmässig erachtet werden, den Faden der deutschen Geschichte durch das Ganze zu ziehen, um an diesem den Synchronismus zu be-

vestigen.

Dass einzelne Parthien des Mittelalters, z. B. die Thaten Karls des Grossen, die Kreuzzüge, u. a. m. heller beleuchtet werden müssen, ist kaum zu erinnern.

Sachen bis auf Karl den Grossen können noch Zusätze zu dem Gemälde der Völkerwanderung bilden. Alsdann beginnt der Faden der deutschen Geschichte; es wird meistens für zweckmässig erachtet werden, diesen Faden durch das Ganze zu ziehn, um an ihm den Synchronismus zu be- festigen. Allein hiergegen erhebt sich einiger Zweifel. Zwar die Ottonen, die Heinriche, die Hohenstaufen, sammt dem was einzuschalten ist, er- geben einigermaassen ein zusammenhängendes Ganze; aber schon das Interregnum macht eine traurige Unterbrechung; und wenn auch der Vor- trag bei den Geschichten von Rudolph, Albrecht dem Baiern sich gleich- sam wieder erholt, so bieten ihm doch die Namen der Häupter von Karin IV. bis Friedrich III. nicht solche Anknüpfungspuncte, dass man sie zu Trägen des Synchronismus für die gesammte Geschichte jener Zeit täglich wählen könnte. Es dürfte daher besser seyn, bey dem Bannfluch, der Ludwig den Baiern traf, dem Churverein zu Rense, und bey der Frage: wie die Päbste nach Avignon kamen? abzubrechen. Mann kann nun, zu Karin dem Grossen zurückgehend, Frankreich, Italien, selbst Eng- land vornehmen, die Geschichte der Kreuzzüge vervollständigen; weiterhin synchronistisch Burgund und die Schweiz, desgleichen das zwischen Frank- reich und England wechselnde Kreisglück hervorheben; dann in Frank- reich bei Karin VIII., in England bey Heinrich VII. anhalten; um mit Maximilian wieder die deutsche Geschichte in den Vordergrund zu stellen. Die Hussitenkriege werden als Vorläufer der Reformation zu betrachten seyn. Anderes muss geschickt eingeschaltet werden. Manche veränderte Zusammenstellung ist den Repetitionen vorzubehalten.

§ 250. 4) Für den Vortrag der neuern Geschichte benutze man den Vor- theil, dass sie keine so lange Zeitreihe umfasst wie die mittlere; und dass sie in drey sehr verschiedene Perioden zerfällt, in die Zeit bis zum west- phälischen Frieden, dann von da bis zur französischen Revolution, endlich bis auf unsere Zeit, diese Perioden sondere man sorgfältig von einander; erzähle zuerst synchronistisch die Hauptbegebenheiten einer jeden, und lasse darauf das Nöthigste von den einzelnen Ländern folgen. Erst nach- dem dies für jede einzelne Periode geschehen, und durch die Repetitionen gehörig eingeprägt ist, kann füglich ein ethnographischer Vortrag, welcher für jedes einzelne Land bis ins Mittelalter zurück, und bis zu unserer Zeit fortgeht, in grösserer Ausführlichkeit hinzukommen. Wiederholungen sind nicht schädlich, wenn sie vollständiger für jeden einzelnen Staat das ausmalen, was früher nur im Umrisse war gezeigt worden.

Die Hauptsache ist, dass kein Unterricht . . . . (s. S. 101, Z. 5 v. o.)

3. Abschnitt. Pädagogische Bemerkungen etc. 3. Cap. Mathematik u. Naturlehre. 1 o 1

§ IOO. 250.]

4) Noch viel weniger als die mittlere lässt sich die neuere Geschichte auf einmal in ihr rechtes Licht setzen; sondern der Vortrag muss noth- wendig nach verschiedenen Gesichtspuncten mit veränderter Ordnung wiederhohlt werden.

Die Hauptsache aber ist, dass kein Unterricht, der nur einigermaassen darauf Anspruch macht, voll[ö i]ständige Bildung zu gewähren, für geendet gelten kann, bevor er die pragmatische Betrachtung der Geschichte in Gang gesetzt, und danach suchen gelehrt hat. Dieses nun gilt zwar vor- zugsweise der neuem Geschichte wegen ihres unmittelbaren Zusammen- hanges mit der Gegenwart; allein auch die mittlere und alte Geschichte muss dem gemäss von neuem durchgearbeit werden.

Die Geschichte soll die Lehrerin der Menschheit seyn; und wenn sie es nicht wird, so tragen die Jugendlehrer der Geschichte einen grossen Theil der Schuld.

§ TOI. 251.]

Eine gut zusammengestellte, nicht mit Vorliebe für einzelne Fächer abgefasste kurze Geschichte der Erfindungen, Künste und Wissenschaften sollte in Gymnasien, besonders aber in höheren Bürgerschulen (die nicht durch die Universität ergänzt werden !j den Schluss des historischen Unter- richts machen.

Und während des ganzen Laufes dieses Unterrichts gebührt ihm eine Begleitung durch Proben von Poesie, die, wenn nicht unmittelbar den ver- schiedenen Zeitaltern entnommen, sich doch auf sie beziehen; und wenn auch nur in sehr weiten Distanzen, doch einigermassen die grossen Unter- schiede in den freyesten Regungen des Menschengeistes zu erkennen geben.

Anmerkung. Vaterländische Geschichte ist nicht für jedes Land die- selbe, nicht überall von gleichem [52] Interesse, und wegen ihres Zusammen- hangs mit grösseren Begebenheiten vielfach unverständlich, wenn sie aus deren Mitte herausgerissen, der früheren Jugend vorgetragen wird. Will man ihren frühzeitigen Gebrauch, um das Gemüth zu erwärmen: so ist eine besondere Sorgfalt nöthig, damit man gerade fürs Knabenalter das Verständliche und Anregende aushebe.

Drittes Capitel.

Mathematik und Naturlehre.

§ 102. 252.] Dass die Anlage zur Mathematik seltener sey, als zu andern Studien, ist blosser Schein, der vom verspäteten und vernachlässigten Anfangen herrührt. Aber dass Mathematiker selten aufgelegt sind, sich mit Kindern gehörig zu beschäfftigen, ist natürlich. Ueber dem Rechnen hat man die combinatorischen und geometrischen Anfänge vernachlässigt; und zu de- monstriren versucht, wo keine mathematische Phantasie geweckt war.

-J02 VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

Das erste Wesentliche ist, Grössen und deren Veränderung zu be- achten, wo sie vorkommen. Also Zählen, Messen, Wägen, wo es ge- schehen kann; wo nicht, die Grössen wenigstens schätzen.1

Insbesondere zu bemerken sind einerseits die Anzahlen der Per- mutationen, Variationen und Combinationen, andrerseits die quadratischen und kubi[53]schen Verhältnisse, wo ähnliche Flächen und Körper von ana- logen Linien abhängen.2

1 Die II. Ausg. hat folgende Abweichung : die Grössen wenigstens schätzen ; wenn auch Anfangs nur unbestimmt, was mehr, weniger, grösser, kleiner,

näher, ferner sey. a

2 Zum vorstehenden § 252 hat die II. Ausgabe noch folgende Anmerkung: Anmerkung. Von dem, was den frühern mathematischen Unter- richt unnöthig erschwert, wäre Mancherley zu sagen, was hier nicht Platz Trat. Nur kurz sey bemerkt, dass Einiges an der Sprache liegt, Anderes an der gewöhnlichen Auflassung des Lehrens, Anderes an der Vermengung verschiedenartiger Foderungen.

1) Schon bei der leichteren Bruchrechnung stellt sich die Sprache in -den Weg. Man lieset z. B. 2/3 zwey Dritttheile; daher 2/3 . 4/5 mal vier Fünftel; anstatt: Multiplication mit 2 und mit 4, und Division mit 3 und mit 5. Man bedenkt nicht, dass dei dritte Theil eines Ganzen den Begriff dieses Ganzen in sich schliesst, der kein Multiplicator, sondern nur ein Multiplicandus seyn kann. Darin verwickeln sich die Schüler. Eben so in dem geheimnissvollen Wort Quadratwurzel, anstatt halbe Multiplication. Die Sache wird schlimmer, wenn später noch von Wurzeln der Gleichungen gesprochen wird.

2) Noch mehr wäre zu sagen gegen die falsche Ansicht der Zahlen, als ob sie Summen von Einheiten wären. Das sind sie eben so wenig, als Summen Producte sind. Zwey heisst nicht zwey Dinge, sondern Ver- doppelung, gleichviel ob das Verdoppelte Eins oder Vieles ist. Der Be- griff von einem Dutzend Stühle fasst nicht zwölf Vorstellungen einzelner Stühle in sich, sondern er enthält nur zwey Vorstellungen; den Allgemein- begriff Stuhl und die ungetheilte Verzwölffachung. Der Begriff von hundert Mann enthält ebenfalls nur zwey Begriffe ; den Allgemeinbegriff Mann und ungetheilte Zahl Hundert. Eben so sechs Fuss, sieben Pfund; in solchen Redensarten kommt die Sprache durch den Singularis zu Hülfe. Die Zahlbegriffe sind nicht zur Reife gekommen, so lange man sie mit An- zahlen verwechselt, und am successiven Zählen klebt.

3) Man vermengt in den Rechenexempeln die Schwierigkeit, welche r in der Auflassung des Gegenstandes liegt, mit der Rechnung selbst.

Capital und Zins und Zeit, Geschwindigkeit, Weg und Zeit, u. dgl. m. sind Gegenstände, welche den Schülern schon geläufig seyn, also längst zuvor erklärt seyn müssen, bevor man sie zur Uebung im Rechnen dar- bieten kann. Dem Schüler, welchem die arithmetischen Begriffe noch Mühe machen, sollte man Beyspiele geben, die ihm so geläufig sind, dass er daraus den arithmetischen Gedanken von neuem erzeugen kann, und nicht nöthig hat ihn darauf anzuwenden.

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Variante der I. Ausgabe.

3. Abschnitt. Pädagogische Bemerkungen etc. 3. Cap. Mathematik u. Naturlehre 10^

§ 103. 253.]

Das Messen an Linien, Winkeln, und Kreissectoren (wozu manche Kinderspiele, welche auf Architectonik hindeuten, den ersten Anlass geben mögen,) führt zu Anschauungs-Uebungen; theils ebenen theils sphärischen. Sind diese Uebungen gewonnen, so müssen sie vielfach benutzt werden, sonst gehn sie, wie jede andre Uebung, wieder verloren. Jeder Grund- riss, jede Landcharte, jede Sterncharte, kann Anwendungen veranlassen.

Die Anschauungs-Uebungen werden darauf eingerichtet, dass man, nach Endigung der Planimetrie, sich zur Trigonometrie völlig vorbereitet finde; vorausgesetzt, dass neben der ebenen Geometrie zugleich die Arith- metik bis zu den Gleichungen des zwevten Grades vorgerückt sey. x

1 Zum § 253 hat die II. Ausg. folgende Anmerkung:

Anmerkung. Ueber Pestalozzis Idee eines ABC der Anschauung schrieb der Verf. ein Büchlein vor nunmehr beynahe vierzig Jahren; und liess später oftmals danach unterrichten. Mancherley ist von Andern unter dem Namen Formenlehre angegeben worden. Das Wesentliche ist Uebung des Augenmaasses an Differenzen und Winkeln, und Verbindung dieser Uebung mit ganz leichten Rechnungen. Der Zweck ist nicht bloss, die Beobachtung für sinnliche Dinge zu schärfen, sondern vorzüglich, geo- metrische Phantasie zu schärfen, wecken, und damit das arithmetische Denken zu verbinden. Hierin liegt in der That die gewöhnlich versäumte, und doch nothwendige Vorbereitung zur Mathematik. Die Hülfsmittel müssen sinnlicher Art seyn. Verschiedene sind versucht und wieder zur Seite gelegt; das Bequemste für den Anfang sind hölzerne Dreyecke, von dünnen Brettern aus solidem Holze. Man bedarf deren nur 17 Paare, die sämmtlich rechtwinklich sind und eine Seite von gleicher Länge ge- mein haben. Um diese Dreyecke zu finden, zeichne man einen Kreis dessen Radius vier Zoll beträgt, und ziehe an demselben die Tangenten und Secanten von 50, io°, 150, 20 ° u. s. w. bis 85 °. Die mancherley Zusammenstellungen, welche sich daraus machen lassen, sind leicht zu er- rathen. Die Tangenten und Secanten müssen von den Schülern empirisch gemessen werden, und von 45 ° an, die zugehörigen Zahlen anfangs nur in Ganzen und Zehnteln, gemerkt, und nach einiger Wiederhohlung auswendig gelernt werden. Darauf gründen sich ganz leichte Rechnungen, deren nächster Zweck darin besteht, den Schülern eine verweilende Auf- merksamkeit für so einfache Gegenstände abzugewinnen. Die schärfsten Anschauungen erfodern ein künstlicheres Werkzeug; drey* bewegliche grüsste Kreise einer Kugel. Man würde wohlthun, ein solches beym Unterricht in der sphärischen Trigonometrie zur Hand zu nehmen. Uebrigens versteht sich von selbst, dass die Anschauungsübungen nicht die Stelle der Geometrie oder gar der Trigonometrie vertreten, sondern diesen Wissenschaften die State bereiten. Kommt die Planimetrie an die Reihe, so sind die hölzernen Dreyecke bey Seite gelegt; und die sinnliche Anschauung weicht zurück vor der geometrischen Construction. Zugleich beginnt die Arithmetik, sich über blosse Proportion zu erheben; sie geht über zu Potenzen, Wurzeln und Logarithmen. Kann doch nicht einmal der Pythogoräische Lehrsatz ohne den Begriff der Quadratwurzel gefasst werden!

104 VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

§ 104. 254.]

Hier aber ist ein Hauptpunct zu bemerken, der Schwierigkeit macht, nämlich die Logarithmen. Es ist leicht genug, den Gebrauch derselben zu erklären, und auch den Begriff", soweit er für den Gebrauch eben nöthig ist,1 deutlich zu machen. Allein wissenschaftlich betrachtet, hängen die Logarithmen mit den gebrochenen und negativen Exponenten, auch mit dem binomischen Satze zusammen; welcher letztere freylich für ganze positive Exponenten nur eine [54] leichte kombinatorische Formel ist,* in dieser Beziehung aber gerade am wenigsten Dienste leistet.

Da nun die Trigonometrie zwar in Hinsicht ihrer Haupt -Sätze un- abhängig von den Logarithmen ist, ohne sie aber wenig in Gebrauch kommt; so entsteht die Frage, ob man die Anfänger nothwendig erst wissenschaftlich streng und vollständig in die Lehre von den Logarithmen einführen, den übrigens höchst fruchtbaren Unterricht in der Trigonometrie aber darauf, dass jenes gelungen sey, warten lassen müsse? Oder ob von den Logarithmen ein praktischer Gebrauch vor genauer Einsicht in dessen Gründe zu verstatten sey?3

1 nöthig ist, (arithmetische Reihen, welche den geometrischen ent- sprechen, — wobey jedoch die natürlichen Zahlen als eine geometrische Reihe aufgefasst seyn wollen, ) deutlich zu machen. II. Ausgabe.

2 Zu den Worten: „combinatorische Formel ist" hat die II. Ausg. folgende Note :

* Man bemerke, dass schon dafür das Leichteste von Versetzungen und Com- binationen längst früher dem Schüler ganz geläufig seyn muss.

3 Die II. Ausgabe hat zum § 254 noch folgende Anmerkung: Anmerkung. Die Schwierigkeit, welche die Logarithmen machen,

unstreitig eine der fühlbarsten im mathematischen Unterricht, ist doch nur eine Probe von den schädlichen Folgen früherer Versäumnisse. Vernachlässigte man nicht die geometrische Phantasie, so wäre Gelegenheit genug, nicht bloss den Begriff" der Proportion, wie ihn schon das ge- meinste Rechenen fodert, weit tiefer einzuprägen, sondern auch die Vor- stellung der Functionen frühzeitig zu erwecken. Schon die vorerwähnten Anschauungsübungen zeigen Tangenten und Secanten als abhängig vom Winkel. Sind diese so geläufig, wie es nach halbjährigem Unterricht zu erwarten ist, so zeigt man auch Sinus und Cosinus. Aber hierauf allein darf man sich nicht beschränken. Etwas später, um die Zeit da die Planimetrie eintrit, müssen die Quadrate und Kuben der natürlichen Zahlen hervorgehoben und bald auswendig gelernt werden. Daran knüpfe man das Aufsuchen ihrer Differenzen, und das Addiren der Differenzen, um daraus die Hauptgrössen wieder herzustellen. Ferner behandele man die leichtern figurirten Zahlen auf ähnliche Weise. Man bediene sich dabey kleiner hölzerner Cvlinder, wie Damenbretsteine; und bilde aus diesem allerley Figuren. Die Schüler müssen angeben, wie viel solcher Cylinder man ihnen geben solle, damit solche oder andere Figuren herauskommen. Weiter zeige man das Wachsen der Quadrate und Würfel , wenn die Wurzel wächst, und mache dies zur Vorbereitung auf das Leichteste der Differentialrechnung. Man leite nun zur Betrachtung der Wurzeln, welche

3- Abschnitt. Pädagogische Bemerkungen etc. 3. Cap. Mathematik u. Naturlehre. 105

§ 105 255.]

1 Diese Frage wird meistens nach den Umständen beantwortet werden. In Lehranstalten, wo man vorzugsweise practische Zwecke im Auge hat, wird man 2die Logarithmen etwa durch Vergleichung arithmetischer mit geometrischen Reihen erklären , und dann zum Gebrauch eilen. Aber auch selbst, wenn man den Taylorschen und binomischen Satz zu Hülfe nimmt, wird mancher Anfänger davon nicht viel mehr Gewinn haben. Nicht als ob diese Sätze (sammt den Elementen der Differentialrechnung,) nicht könnten deutlich gemacht werden. Das Uebel liegt nur darin, dass vieles schon Begriffene nicht leicht behalten wird. Der Anfänger hat als- dann, wenn es zum Gebrauch kommt, noch die Erinnerung, der Beweis sei ihm geführt, und von ihm [55] eingesehen worden. Ja mit einiger Hülfe wäre er vielleicht im Stande, den Gang des Beweises Schritt für Schritt wieder aufzufinden. Allein es fehlt ihm die Uebersicht. Und beym Ge- brauch ist es ihm sehr gleichgültig, auf welchem Wege die Logarithmen seyen berechnet worden.

Was hier von den Logarithmen gesagt worden, lässt sich weiter an- wenden. Der Werth strenger Beweise wird nur dann erst vollständig er- kannt, wenn man in der Sphäre von Begriffen, wohin sie gehören, schon einheimisch ist.

§ 106. 256.]

Beweise, welche durch fremdartige Hülfsbegriffe einen unnöthigen Umweg nehmen, sind für den Unterricht ein bedeutendes Uebel; möchten sie übrigens noch so elegant seyn.

Dagegen sind solche Darstellungen zu wählen, die von den einfachen Elementarbegriffen anheben. Denn bey ihnen hängt die Ueberzeugung nicht an der misslichen Bedingung, ob man eine lange Reihe von Vor- dersätzen überschaue.

(So lässt sich der Taylorsche Satz aus der Einschaltungsformel, diese aber aus der Betrachtung der Differenzen ableiten, wozu nichts als Ad- diren, Subtrahiren, und Kenntniss der Zahlen für Permutationen nöthig ist.)

§ 107. 257.] Der pädagogische Werth des gesammten mathemathischen Unterrichts hängt hauptsächlich davon ab, [56] wie tief er in das Ganze des Kreises

immer dichter liegen, wenn man in der Zahlenreihe gleichmässig fortschreitet. Endlich gelangt man zu dem Begriff des Einschaltens der Logarithmen, nachdem die Logarithmen von 1, 10, 100, 1000, u. s. w. desgleichen von V10' V100 u- s- w- vielmal vorwärts und rückwärts durchlaufen sind.

1 Der 1. Satz: „Diese Frage wird .... beantwortet werden" fehlt in der II. Ausgabe.

2 die Logarithmen durch Vergleichung II. Ausgabe („etwa" ist weg- geblieben).»

a SW. drucken nach der II. Ausgabe ohne Angabe der Variante der I. Ausgabe-

lOÖ VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

der Gedanken und Kenntnisse eingreife. 1Es kann also hier nicht etwa bloss von Beyspielen zur Verdeutlichung die Rede seyn ; sondern theils von der innern Verbindung der mathematischen Lehren unter sich, wohin vorzüglich die engste mögliche Verbindung zwischen Geometrie und Rechnung gehört, theils von den Naturkenntnissen überhaupt, welche der Mathematik entgegenkommen.

§ 108. 258.]

Schon kleine Knaben können sich mit Bilderbüchern für Zoologie, dann mit Analyse von Pflanzen, die sie gesammelt haben, beschäfftigen. Sind sie früh daran gewöhnt, so fahren sie bey einiger Anleitung leicht von selbst fort. Später lehrt man sie auf die äussern Kennzeichen der Mineralien achten. (Zoologie lässt sich wegen des Geschlechtlichen nicht so sicher fortsetzen.)

§ 109. 25g.]

Hiemit nun muss sich viel Aufmerksamkeit auf die äussere Natur, auf das was mit den Jahreszeiten wechselt, und auf den Verkehr der Menschen, verbinden.

Dahin gehört auf der einen Seite: Beachtung der Himmelskörper, wo Sonne und Mond aufgehen, wie der Mond das Licht wechselt,

)

1 Statt des Schlusssatzes: „Es kann also .... welche der Mathematik entgegenkommen" hat die II. Ausgabe Folgendes:

Dies führt zunächst darauf, dass man die Selbstthätigkeit der Schüler in Anspruch nehmen, und nicht bloss vortragen soll. Mathematische Be- schäftigungen sind nöthig. Es muss fühlbar werden, wieviel man durch Mathematik vermag. Zu Zeiten sind schriftliche mathematische Aufsätze zu veranlassen; nur müssen die Aufgaben leicht genug seyn, und nicht mit Zwang mehr gefodert werden, als der Schüler bequem leisten kann. Manche reizt schon die reine Mathematik, besonders wenn Geometrie und Rechnung gehörig verbunden werden. Aber sicherer wirkt angewandte Mathematik, zvc/ui der Gegenstand der Anwendung schon das Interesse für sich gewonnen hat. Dafür muss auf anderem Wege gesorgt seyn.

Die mathematischen Uebungen dürfen jedoch den Schüler nicht zu lange in einem engen Kreise aufhalten; sondern der Vortrag muss da- neben fortschreiten. Käme es bloss darauf an, die Selbstthätigkeit zu er- regen, so könnten sehr leicht die Anfangsgründe hinreichen, um eine endlose Menge von Aufgaben herbeyzuführen, bey denen der Schüler sich seiner wachsenden Fertigkeit erfreuen, ja selbst an eignen kleinen Er- findungen sich ergötzen würde, ohne von der Grösse der Wissenschaft einen Begriff zu bekommen. Viele Aufgaben sind mit witzigen Einfällen zu vergleichen, die am rechten Orte willkommen seyn mögen, aber nicht die Zeit der Arbeit einnehmen dürfen. Bey Dingen, die sich bey weiterm Fortschritte von selbst verstehen, sollte man sich nicht aufhalten, bloss um Kunststücke zu machen. Ohne Vergleich wichtiger, als blosse Uebungs- Beyspiele, sind Naturkenntnisse, welche desto besser der Mathematik ent- gegen kommen, wenn sie mit technischen Kenntnissen in Verbindung stehn.

Abschnitt. Pädagogische Bemerkungen etc. 3. Cap. Mathematik u. Xaturlehre. 107

wo der Polarstern stehe, und welche Bogen die hellem Sterne, die auffallendsten Sternbilder beschreiben.

[57] Auf der andern Seite: technologische Kenntnisse, welche theils durchs eigne Sehen, theils in Lehrstunden der Naturbeschreibung mögen erworben werden. 1

2Bevderley Kenntnisse werden von der Geographie aufgenommen; wovon weiterhin.

§ 110. 260.]

Auf die Beachtung der Himmelskörper stützt sich die populäre Astro- nomie; welche zur Probe dient, ob die mathematische Phantasie gehörig geweckt war.

§ in- 261.]

Die ersten Gründe der Statik und Mechanik werden schon als Ein- leitungen in die Physik vorkommen, welche sich mit den leichtesten Theilen der Chemie verbindet. 3 In Bürgerschulen muss von Gebäuden und Maschinen wenigstens soviel gesagt werden, als nöthig, um künftigen weitern Unterricht aufzusuchen. Dasselbe gilt von den Grundbegriffen der Phy- siologie.

§ 112. 262.]

So oft nun ein neuer Gegenstand vorkommt, ist es wichtig, einige Hauptpuncte auszuzeichnen, welche streng auswendig gelernt werden. Ferner müssen sich die Schüler in genauen Beschreibungen üben. Wo es thunlich ist, werden diese Beschreibungen durchs Anschauen wirklicher Gegenstände berichtigt.

Flüchtigkeit beim Anschauen muss streng gerügt werden, so oft etwas vorgezeigt wird. Sonst sind [58] Sammlungen und Experimente unnütz.

1 Die II. Ausgabe hat nach den Worten: „mögen erworben werden" noch Folgendes :

Man betrachte die Technologie nicht bloss von der Seite der so- genannten materiellen Interessen. Sie liefert sehr wichtige Mittelglieder

o

zwischen den Auffassungen der Natur und der menschlichen Zwecke. Mit den bekannten Werkzeugen der Tischler, sollte jeder heranwachsende Knabe und Jüngling umgehn lernen; eben sowohl mit Lineal und Zirkel, Mechanische Fertigkeiten würden oft nützlicher seyn als Turnübungen. Jene dienen dem Geiste, diese dem Leibe. Zu Bürgerschulen gehören ^//•schulen, die nicht gerade Gezc erbschulen zu seyn brauchen. Und jeder Mensch soll seine Hände gebrauchen lernen. Die Hand hat ihren Ehren- platz neben der Sprache, um den Menschen über die Thierheit zu erheben.

2 Jene Kenntnisse werden ... II. Ausgabe. *

3 Hier schiebt die II. Ausg. folgende Worte ein: Die Physik muss lange zu- vor, ehe sie vorgetragen wird, durch Mancherley, was die Aufmerksamkeit reizt, von ferne angemeldet werden. (Dahin gehört das Vorzeigen der Uhrwerke, der Mühlen, der bekanntesten Erscheinungen des Luftdrucks, elektrische und magnetische Spielwerke u. d. gl. m.). In Bürgerschulen muss . . .

a SW drucken nach der II. Ausgabe, ohne die Variante der I. Ausgabe anzugeben.

Io8 VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

Auch darf man mit dem Vorzeigen nicht zu freygebig seyn; es muss oft vorausgesagt seyn, worauf zu merken seyn werde. Gute Beschreibungen, Kupferstiche, und wirkliches Anschauen mögen oft zweckmässig auf ein- ander folgen.

Viertes Capitel. Geographie.

§ Ho- 2(^.-\ In der Geographie lassen sich zum mindesten zwey Curse unter- scheiden; deren einer analytisch an die nächste Umgebung (den Grund- riss des Orts) anknüpft, der zweyte aber vom Globus beginnt. Nur vom ersten soll hier geredet werden, da der zweyte unmittelbar aus guten Lehrbüchern entnommen werden kann. 1

§ 114. 264.] Die Geographie ist eine associirende Wissenschaft; und soll die Ge- legenheit nützen, Verbindung unter mancherley Kenntnissen, die nicht ver- einzelt stehn dürfen, zu stiften. Nicht erst ihr mathematischer Theil, der in der populären Astronomie seine Ergänzung und sein Interesse findet, stiftet ein Verbindungsglied zwischen Mathematik und Geschichte, (im zweyten Cursus): sondern schon in ihren Elementen kann sie sich an die Anschauungsübungen [59] lehnen und nach diesen einige Dreyecke, welche auf den zuerst gebrauchten Landkarten vorkommen, bestimmen; obgleich dies in der Folge, wenn schon das Herausheben merkwürdiger Puncte einige Uebung erlangte, nicht immer nöthig ist. (Die Bestimmung durch Länge und Breite ist für den ersten Cursus eben so unzweckmässig, als wenn es einem in Deutschland oder Frankreich Reisenden einfallen würde, sich das Bild von den Orten, an denen er sich aufzuhalten gedenkt, mit Hülfe der Beziehung dieser Orte auf den Aequator und ersten Meridian zu- sammenzustellen.) Die physische Geographie setzt theils Naturkenntnisse voraus, theils giebt sie Anlass, dieselben zu bereichern. Die politische Geographie bezeichnet die Art, wie der Mensch die Oberfläche der Erde

•5

1 Die II. Ausgabe hat zu § 263 noch folgende Anmerkung: Anmerkung. Das gewöhnliche Anfangen vom Globus wäre minder tadelhaft, wenn man, um die Vorstellung von der Erdkugel fasslicher zu machen, auf die Mondkugel hinweise, und gelegentlich den Mond durch ein Fernrohr betrachten liesse. Aber gesetzt, dies geschehe: so bleibt es noch immer verkehrt, die schwache und schwankende Vorstellung eines übergrossen Balls an die Stelle der unmittelbaren Anschauung zu setzen. Eben so unpassend ist, von Portugal und Spanien anzufangen. Der Ort, wo Schüler und Lehrer eben jetzt stehen, ist der Punct, von wo aus man sich orientiren , und seinen Gesichtskreis in Gedanken ausbreiten soll. Niemals darf die sinnliche Anschauung übersprungen werden, wenn sie von selbst die Anknüpfungspuncte darbietet.

3. Abschnitt. Pädagogische Bemerkungen etc. 4. Cap. Geographie. joo

bewohnt und benutzt. Dies Alles zu verknüpfen, ist die pädagogische Bestimmung des geographischen Unterrichts.

§ ii5- 265.] Der Lehrer soll zu erzählen wissen; ähnlich dem, welcher eine Reise gemacht hat. Mit der Bestimmung gegenseitiger Lage der Orte (theils durch Gruppirung um einen Kauptort, theils bey den Hauptorten durch Dreiecke) darf das Erzählen eben so wenig in Streit gerathen, als bei der Geschichte, wo sich Chronologie mit Erzählung vertragen soll. Die Er- zählung soll ein klares Bild geben; dazu sind einige veste Puncte im Räume als Haltungspuncte nöthig. Aber die Puncte sollen nicht vereinzelt stehn, sondern durch die Züge des Bildes verbunden seyn.

§ 116. 266.]

[60] Es ist nicht gleichgültig, wie viele fremdklingende Namen in Einer Minute oder Stunde genannt werden. Es ist auch nicht gleichgültig, ob dieselben vor, oder nach der Auffassung des Bildes, welches die Land- charte darbietet, ausgesprochen werden. Sondern zuerst kommt es darauf an, dass jede eben vorgelegte Charte als Bild eines Landes vorgestellt sey; dazu gehören drey, höchstens vier Namen von Flüssen, und ein paar Namen von Bergen; Vollständigkeit aber ist am unrechten Orte. Die angegebenen Namen veranlassen schon mancherley Lagenbestimmung merkwürdiger Puncte, theils unter sich, theils gegen die Gränzen des Landes.

Man hebe diese Puncte heraus; man verbinde sie alsdann, (etwa mit Hülfe einer schwarzen Tafel, woran Jemand sie nach dem Augenmaasse erst einzeln zeichnet, dann passend verbindet, welches bey Quellen und Mündungen der Flüsse durch einen Zug zur Darstellung ihres Laufes ge- schehen mag.) Vorausgesetzt nun, dass die Schüler sich in der äussern Natur gehörig umgesehen, insbesondere auf den Fall der Flüsse und Bäche, auf die Abdachungen eines Landstriches gemerkt hatten, (welches sonst vor allem andern muss nachgehohlt werden,) so kann jetzt schon un- gefähr beschrieben werden, welchen Anblick das Land einem Reisenden gewähren würde. Alsdann ist die Zeit, die Namen der Flüsse und Berge etwas vollständiger anzugeben, wobey aber sogleich auf der Stelle diese Namen von den [61] Schülern mehrfach zu wiederhohlen sind. Es wird sich hierdurch verrathen, ob man auch die Reihen fremder Namen zu lang gemacht hatte; welche Unbehutsamkeit oftmals einen grossen Theil der Schuld trägt, wo der geographische Unterricht fruchtlos bleibt oder be- schwerlich wird. Nun folgen besondre Natur-Merkwürdigkeiten, wenn sie vorhanden sind, in ausführlicher Beschreibung Dann einige der wichtigsten Städte, mit Angabe der Einwohnerzahl. Hieran knüpfen sich wiederum Bestimmungen gegenseitiger Lage; wobey die Selbsttätigkeit der Schüler unerlässlich ist. Zuletzt folgt dasjenige, was den menschlichen Kunstfleiss in Bezug auf die Producte des Landes bezeichnet; nebst dem Wenigen, was auf Staats -Einrichtungen hinweisend den Schülern fasslich ist. Die Namen der Provinzen müssen in der Regel aus dem ersten Cursus weg- bleiben.

HQ VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

§ H-7- 2Ö7-1 Bev den häufig anzustellenden Wiederhohlungen muss mehr und mehr dahin gewirkt werden, dass jeder Name seinen Ort bezeichne, und keiner an einer Stelle in der Reihe der Worte kleben bleibe. Die Reihen- folge muss also oft umgekehrt, die Landcharte nach allen Richtungen und Rücksichten durchlaufen werden. Dabey ist nach der Individualität der Schüler zu verfahren, und von manchen nur das Unentbehrlichste zu ver- langen; von andern desto mehr, damit sie sich gehörig anstrengen.

§ 118. 268.] [62] In der Mitte andrer Studien, auf die man mehr Gewicht legt, wird die Geographie von den Schülern durchgehends, und manchmal selbst von den Lehrern vernachlässigt. Dies ist höchst tadelnswerth. Man kann den geographischen Unterricht sehr beschränken, (dies ist beym ersten Cursus sogar nothwendig,) aber man darf ihn nicht geringschätzen. Bey manchen Individuen ist er der erste, der sie zum Bewusstseyn bringt, dass sie so, wie es verlangt wird, lernen können. Bey allen muss er die übrigen Studien verbinden, und in Verbindung vesthalten. Ohne ihn wankt Alles. Den historischen Begebenheiten fehlen die Stellen und Distanzen; den Naturproducten die Fundorte; der populären Astronomie (die so manchen Schwärmereyen wehren muss!) fehlt die ganze An- knüpfung; der geometrischen Phantasie eine der wichtigsten Anregungen. Lässt man auf diese Weise die Theile des Wissens auseinander fallen, so geräth die gesammte Bildung durch den Unterricht in Gefahr.

Fünftes Capitel.

Unterricht im Deutschen.

§ 119. 269.]

Ueber den Sprachunterricht würde weniger Streit seyn, wenn man die Verschiedenheiten gehörig berücksichtigte.

Die allgemeinste Verschiedenheit ist zwischen Verstehen und Sprechen. Die Distanz zwischen beydem [63] wird um die Zeit, da ein regelmässiger Unterricht beginnt, als ein Gegebenes vorgefunden; sie ist oft sehr gross, oft gering. Individualit und frühere Umgebung haben sie bestimmt.

§ 120. 270.]

Zuerst wurde Sprache gehört, angenommen, nachgeahmt; sie war gebildet oder roh: wurde genau oder obenhin vernommen; mit bessern oder schlechtem Organen nachgeahmt. Was darin Fehlerhaftes lag, das verbessert sich allmählig, wenn gebildete Personen täglich das Beyspiel geben und auf richtiges Sprechen dringen. Dieses erfordert iedoch zu- weilen eine Reihe von Jahren.

§ 121. 271.]

Ein andrer Umstand, der tief in der Individualität liegt, ist das grössere oder geringere Bedürfniss, sich durch Sprache zu äussern. Hie-

3. Abschnitt. Pädagogische Bemerkungen etc. 5. Cap. Unterricht im Deutschen. m

durch erhebt sich die eigne Sprache eines Jeden über blosse Nachahmung; und ihre Verbesserung muss von den Gedanken ausgehn, die sie be- zeichnet. Im Jünglingsalter wird diese Art der Verbesserung oft auf- fallend.

§ 122. 272.]

Man könnte nun auf die Meinung kommen, es seyen gar keine be- sondern Lehrstunden im Deutschen nöthig, wenigstens nicht der blossen Sprache wegen, weil einerseits gebildete Lehrer durch ihr blosses Beyspiel und durch gelegentliches, jeden [ü4]falls nöthiges, Corrigiren, ein- wirken; anderntheils die allmählig fortschreitende Bildung von innen heraus auf die Sprache einfliessen müsse, soweit dies nach den besondern indi- viduellen Fähigkeiten überhaupt möglich sey.

Dabey ist fürs Erste zu erinnern, dass der gebildete Lehrer vom ungebildeten Hörer lange Zeit nur mangelhaft verstanden, und dass der Unterricht sehr aufgehalten wird, wenn bey jeder seltenern Wendung erst nach dem Verstehen zu fragen ist. Doch dies ist nicht Alles.

§ 123. 273.]

Die Sprache soll auch gelesen und geschrieben werden. Hiebey wird sie selbst zum stehenden Gegenstande der Betrachtung, und setzt denjenigen, der sie nicht genauer kennt, in Verlegenheit. Man wird also am Gelesenen oder Geschriebenen zuerst analytisch nachweisen, wie es seinen Sinn verlieren oder verändern würde, wenn theils einzelne Worte mit andern vertauscht, theils die Zeichen der Flexion unrichtig gewählt wären.

Dass darauf die Synthesis der Sätze, stufenweise zu grössern Ver- wickelungen (besonders mit Hülfe mannigfaltiger Conjunctionen) aufsteigend, folgen müsse, ist als bekannt vorauszusetzen.

§ 124. 274.]

Wäre nun die Verlegenheit beym Lesen und Schreiben für Alle gleich gross gewesen, so würde [65] auch der ihr abhelfende Sprach- unterricht überall die gleiche Empfehlung und Ausdehnung verdienen.

Allein hier treten die grössten Verschiedenheiten hervor. Man wird demnach, wo Viele zugleich Unterricht bekommen, das Sprachliche mit anderem Lehrstoff in Verbindung zu bringen suchen. Der analytische Unterricht* kann in den nämlichen Lehrstunden für Einige dem Sprach- lichen zugewendet werden, für Andre in ganz verschiedenen Gebieten umherwandern; und sehr verschiedene schriftliche Aufgaben lassen sich daran knüpfen.

§ 125. [ § 275-] Auch durch Uebungen im Vorlesen und mündlichen Wiedererzählen wird man in die nämlichen Lehrstunden eine grössere Mannigfaltigkeit

* Allgemeine Pädagogik.1 S. 232 243.

1 Der Hinweis auf die „Allgemeine Pädagogik" fehlt in der II. Ausgabe.*

a SW drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Variante der I. Ausgabe.

H2 VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

hineinbringen; niemals aber Alle auf den gleichen Punct der Bildung hinführen können, sondern hierin vorzüglich die Macht der Individualität anerkennen müssen.

§ 126. 276.]

Im spätem Knaben- und Jünglingsalter werden die deutschen Lehr- stunden theils dazu benutzt, verschiedene Formen der Poesie und Rede- kunst, in ausgezeichneten Mustern darzubieten; theils schriftliche Aufsätze anfertigen zu lassen. Dies ist um desto verdienstlicher, je reiner die Muster, je genauer [66] angemessen der schon erreichten Bildungsstufe sie gewählt werden, und je sorgfältig vermieden wird, den Individuen einen ihnen fremdartigen Geschmack aufdringen zu wollen. Die mislichsten aller schriftlichen Uebungen sind die im Briefstyl. Vertrauliche Briefe xkann Jeder nur nach seiner Art gut schreiben; alles Angelernte steht hier im Wege. Am besten sind schriftliche Uebungen, wenn ihnen ein bestimmter und reicher Gedankenvorrath zum Grunde liegt, der eine Bearbeitung in verschiedenen Formen zulässt. Dann können Mehrere wetteifernd Das- selbe behandeln; die Berichtigung erlangt dadurch mehr Theilnahme.

Sechstes Capitel. Griechische und lateinische Sprache.

§ 127. 277.] Bekanntlich gewinnt die Nachweisung der grammatischen Unterschiede, und der mancherley Wendungen, wodurch die Sprache ausdrucksvoll werden kann, an Klarheit gar sehr durch Vergleichung des Deutschen mit dem Lateinischen und Griechischen. Man kann schon bey Knaben im achten Jahre versuchen, ob sich dieser Vortheil für die Lehrstunden im Deutschen benutzen lasse; auch wenn noch nicht vest beschlossen ist, dass sie den gewöhnlichen Cursus der Gymnasien machen sollen. Einige Knaben lernen die lateinischen Flexionen ohne viele Mühe soweit, dass sie kurze Sätze aus dem Deutschen ins Lateinische, und umgekehrt, bald übertragen können.

§ 128. 278.] [67] Einen solchen Probe - Unterricht wird man indessen nicht weit fortsetzen; da bey der grossen Mehrzahl der Individuen die Schwierigkeiten desselben so schnell anwachsen, dass sich das Bekenntniss aufdringt, man könne dieselben um blosser Nebenvortheile willen nicht übernehmen. Zu- dem verändert sich von einem Jahrzehnt zum andern immer sichtbarer dasjenige Verhältniss der Sprachstudien zu den Wissenschaften und zu den Bedürfnissen des Zeitalters, an welches man von den Zeiten der Refor- mation her noch gewöhnt war. Die Arbeit, welche die alten Sprachen verursachen, belohnt sich jetzt nur da, wo Talent und ernste Absicht auf vollständige gelehrte Kenntnisse zusammenkommen.

1 „nur" fehlt in SW.

3. Abschnitt. Pädagogische Bemerkungen etc. 6. Cap. Griechische u. lat. Sprache. 1 13

Anmerkung. Man hört oft behaupten: die alten Sprachen geben einen vesten Maassstab, wonach der Fortschritt und das Sinken neuerer Sprachen zu bestimmen sey; auch müsse an den alt-klassischen Werken das Muster für Reinheit und Schönheit der Schreibart erkannt werden. Diese und ähnliche Behauptungen sind unleugbar richtig und höchst ge- wichtvoll; allein sie sind nicht pädagogisch. Sie drücken aus, was über- haupt geleistet werden soll, aber nicht, was Jüngern Individuen zu ihrer Bildung nüthig ist; und die grosse Mehrzahl Deren, welche sich zu Staats- ämtern vorbereiten, kann sich nicht damit befassen, über Sprache und Schreibart zu wachen; sondern muss die Sprache nehmen wie sie ist, und diejenige Schreibart sich aneignen, die [68] zum Geschäftskreise passt. Jene höhern Sorgen kommen den Schriftstellern zu; aber Niemand wird zum Schriftsteller erzogen. 1

§ 129- 279-] Wie die alten Sprachen da gelehrt werden, wo man sie als eine Sache der Noth wendigkeit oder Convenienz betrachtet, und sich über pädagogische Ueberlegung hinwegsetzt: davon ist hier nicht zu reden. Vielmehr muss eingestanden werden, dass es gar keine pädagogischen Mittel giebt, wodurch man diejenigen Naturen, die einmal nur in den Interessen dei Gegenwart leben, dahin bringen könnte, den Inhalt der Werke des Alterthums mit unmittelbarer Theilnahme sich anzueignen.

§ 130. 280.] Pädagogisch betrachtet, bestimmt jeder Unterschied der lebhaftem Vergegenwärtigung des Alterthums, der innigem Verbindung desselben mit andern Hauptgegenständen des Wissens, und der Entfernung widriger Nachklänge von den Plagen der Schulzeit, ein Mehr oder Weniger des Werths, welcher der gewonnenen Kenntniss darf zugeschrieben werden. Liesse sich die nämliche Vergegenwärtigung ohne die alten Sprachen, und ohne die Macht jugendlicher Eindrücke erreichen: so würden die in den vorhergehenden Capiteln erwähnten Lehrgegenstände, welche die Beschäf- tigung der hohem Bürgerschulen angeben, nichts weiter zu wünschen übrig lassen; und das Studium [69] der alten Sprachen wäre ein notwendiges

1 Die II. Ausgabe hat noch folgende zweite Anmerkung :

2) Bekannt ist die Meinung, die Schwierigkeit würde sich vermindern, wenn man die alten Sprachen später anfinge; dann würde man die Fähig- keit zu lernen grösser finden. Im Gegentheil: je später, desto mehr neigt sich der jugendliche Gedankenkreis zur Abschliessung. Gedächtnisssachen müssen früh eintreten, besonders wo der ganze Nutzen von der zu er- langenden Geläufigkeit abhängt. Man muss früh anfangen, um langsam, ohne pädagogischen Zwang, vorrücken zu können. Vier Stunden Latein wöchentlich schaden dem sonst muntern kleinen Knaben nicht, wofern nur daneben die übrigen Beschäftigungen pädagogisch richtig geordnet sind. Neuere Sprachen voranschicken, hiesse das Hinterste nach vorn kehren. Doch nützlich sind einzelne französische und englische Benennungen dessen was im täglichen Leben vorkommt. Das ist der Aussprache wegen zweck- mässig, aber einzelne Worte machen keinen Sprachunterricht.

Herbarts Werke. X.

114 ^' Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

Uebel der Gymnasien; so hoch man auch dessen Nebenvortheile an- zupreisen gewohnt ist.

§ 131- 281.]

Die blossen Sprachen für sich allein aber geben dem Knaben gar kein Bild weder von Zeiten noch von Menschen; sie sind ihm lediglich Aufgaben, womit ihn der Lehrer belästigt. Auch können weder goldne Sprüche, noch Fabeln und kurze Erzählungen daran etwas ändern ; sie haben gegen die Unlust der Arbeit an Wortstämmen, die eingeprägt, Flexionen, die eingeübt, Conjunctionen, die zu Wegweisern in der Periode gebraucht werden müssen, kein bedeutendes Gewicht, selbst wenn sie übrigens der Jugend angemessen sind.

Die alte Geschichte 93, 96 [in II § 242, 246]) ist der einzige mögliche Stützpunct für pädagogische Behandlung der alten Sprachen.

§ 132. 282.] Will man nun mit dem Lateinischen beginnen, so bieten sich zwar Eutropius und Cornelius Nepos dar, um nach den leichtesten Vorbereitungen 127), welche an die deutsche Sprache geknüpft wurden, in Gebrauch zu kommen. Auch ist dieser Gebrauch nicht ganz verwerflich, wofern der Lehrer es übernimmt, die alte Zeit erzählend zu vergegenwärtigen. Allein man kennt die Magerkeit der genannten Schriftsteller; und man findet von ihnen aus noch immer keinen bequemen Weg des Fortgangs.

§ 133. 283.] [70] Die Gründe, 1 weshalb Homers Odyssee den Vorzug hat, sind bekannt.* 2Zwar besitzt sie keine Wunderkraft, um solche zu beleben, denen überhaupt Sprachstudien nicht gelingen oder nicht Ernst sind;

1 weshalb Homers Odyssee zum frühen Gebrauche den Vorzug . . .

II. Ausgabe.1

* Allgemeine Pädagogik.3 S. 217 u. ff. Nur allein von der Odyssee ist hier die Rede; aber durchaus nicht von der Ilias. Auch wird das religiöse Gefühl, als schon längst zuvor hinreichend geweckt, vorausgesetzt. Alsdann schadet das Mythische keineswegs: denn es wirkt, in wiefern es dem religiösen Gefühl widerstrebt, entschieden zurückstossend, und macht alle zu starken Illusionen unmöglich. 87.)

2 Zwischen „bekannt" und „Zwar" schiebt die II. Ausgabe folgenden Abschnitt ein: Jeder kann sie finden, wenn er mit stetem Hinblick auf die ver- schiedenen Hauptklassen das Interesse, welche der Unterricht erwecken soll 83 94), die Odyssee aufmerksam durchlieset. Es kommt aber hier nicht bloss auf eine unmittelbare Wirkung an, sondern noch überdies auf die Anknüpfungspuncte für den weiter fortschreitenden Unterricht. Man kann der alten Geschichte nicht besser vorarbeiten, als indem man durch die homerische Erzählung das Interesse für das alte Griechenland fixirt. Der Geschmacksbildung und dem Sprachstudium bereitet man hier zu- gleich den Boden.

Auf Gründe dieser Art, welche geradezu vom Hauptzweck alles Untet-

3 Die Verweisung auf die „Allgemeine Pädagogik" (am Anfange der An- merkung), sowie die Zurückweisung auf den § 87 (am Schluss derselben) fehlt in der II. Ausgabe.

a SW, welche nach der II. Ausgabe drucken, merken die Abweichung nicht an.

3 . Abschnitt. Pädagogische Bemerkungen etc. 6. Cap. Griechische u. lat. Sprache. j j c

dennoch übertrifft sie, vieljähriger Erfahrung zufolge, jedes andre Werk des Alterthums, welches man wählen könnte, an bestimmter pädagogischer Wirkung. Auch schliesst sie einen frühern Anfang im Lateinischen (und selbst, wo man es nöthig findet, im Griechischen,) nicht aus; nur kann das Latein l nicht so rasch, wie die Gewohnheit es mit sich bringt, da- neben fortgehn. Denn die Odyssee erfodert täglich eine Lehrstunde, und daneben grammatische und lexikalische Arbeit.

2 (Die Erfahrung hat gelehrt, dass die Elementarkenntnisse aus der Grammatik, welche das Decliniren und Conjugiren betreffen, obgleich auf das Notwendigste beschränkt, doch zuvörderst sorgfältig durchgearbeitet werden müssen. Auch sind die ersten Anfänge in der Odyssee auf wenige Verse in der Stunde zu beschränken; und in den ersten Monaten ist kein strenges Memoriren der Vocabeln zu fodern. Dagegen wird späterhin gerade das Vo-[7i]cabelnlernen die nothwendigste, vom Schüler streng zu fodernde Nebenarbeit. Ein beträchtlicher Theil des Sprachschatzes wird dadurch gewonnen; hiedurch erhalten die Sprachformen den Gegenstand, auf den sie sich beziehen, und durch den sie wichtig werden. Der Lehrer muss sehr genau zu treffen wissen, wann es Zeit sey, zu eilen, wann da- gegen wieder anzuhalten; denn jeder fühlbare Zuwachs an Fertigkeit pflegt die Schüler zu einiger Nachlässigkeit zu verleiten, die sogleich muss ge- hoben werden. Will man die ganze Odyssee lesen, welches mit guten Schülern füglich geschehen kann, weil die Fertigkeit gegen das Ende sehr schnell zunimmt, so muss die Zeit 3doch nicht über zwey Jahre aus- gedehnt werden; sonst entsteht theils Ermüdung, theils anderweitige Ver- säumniss. 4 Es ist aber nicht nöthig. die seltenem Eigenheiten der homerischen

richis hergenommen sind, und denen nur das Hergebrachte (das conven- tioneile Latein- Treiben) entgegensteht, werden die Philologen wohl irgend einmal hören müssen, wenn sie nicht wollen, dass, beym Anwachs der materiellen Interessen, das Griechische auf Schulen in ähnlicher Art be- schränkt werde, wie das Hebräische schon jetzt beschränkt ist. (Vor einigen Decennien war es nahe daran, das Griechische denen zu erlassen, die nicht Theologie studieren wollten.)

Zwar besitzt die Odyssee keine Wunderkraft . . .

1 Die Worte „nicht so rasch, wie die Gewohnheit es mit sich bringt" sind in der II. Ausgabe gesperrt, a

* Die II. Ausgabe setzt den folgenden Abschnitt nicht in Parenthese. b

3 doch nicht viel über zwey Jahre .... II. Ausgaben

4 Hier schiebt die II. Ausgabe folgenden Abschnitt ein : Auf Schulen wird man wohl thun, die ersten vier Gesänge einer Klasse (etwa derjenigen Klasse, deren Schüler sich im zehnten oder elften Jahre befinden) zuzutheilen; um alsdann in der nächstfolgenden Klasse beym fünften Gesänge anzufangen. Wieviel Gesänge jede Klasse durcharbeiten könne, bedarf keiner genauen Bestimmung, da man das Fehlende durch die Vossische Uebersetzung zu ergänzen im Stande ist. Der Grund jener Abtheilung wird sogleich ein- leuchten, wenn man die Odyssee genauer ansieht. Einige Gesänge können

a u. *> S\V. welche nach der II. Ausgabe drucken, merken die Variante nicht an. c S\V drucken nach der II. Ausgabe, ohne die Variante der I. Ausgabe anzugeben.

jj6 VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

Sprache weitläuftig zu erklären. Es ist auch nicht nöthig das ganze Werk durchzuarbeiten, da sich verschiedene Arten der Abkürzung von selbst dar- bieten. Wenn die Schwierigkeiten schrecken, der erinnere sich, dass auf jedem andern Wege ebenfalls grosse Schwierigkeiten zu überwinden sind. Man verhüte die Nebenwirkung arabischer Mährchen und ähnlicher Er- zählungen, welche den Reiz des Wunderbaren abstumpfen.)

§ 134. 284.] Nur zwey Dichter, zwey Historiker, zwey Denker brauchen genannt zu werden, um den Fortgang zu bezeichnen. Homer und Virgil; Herodot und [72] Cäsar; Piaton und Cicero. Was man voranschicken, zwischen einschieben, nachfolgen lasse, können die Umstände bestimmen. Xenophon, Livius, Euripides, Sophokles, Horaz, werden wohl immer einen Platz neben jenen behalten; besonders Horaz bietet kurze Denksprüche dar, deren spätere Nachwirkung der Erzieher durchaus nicht gering schätzen darf. Die Erleichterung des Virgil und Herodot durch den vorangehenden Homer ist augenscheinlich; während andererseits dem Jünglingsalter eine Rückkehr zum Homer (zur Ilias) eben so wenig zu erlassen ist (schon der Mythologie wegen), als die Rückkehr zur alten Geschichte in pragmatischer Hinsicht 100) (= § 250 d. II. Ausg.). Ferner wird die syntaktische Form der alten Sprachen, welche noch weit mehr Schwierigkeit macht als Flexionen und Vocabeln, durch das Voranstellen der Dichter vor den Prosaikern leichter gelernt, weil man nicht mit allen Schwierigkeiten des Periodenbaues auf einmal zu kämpfen hat. Wünschenswerth ist es wenigstens, xdass aus der Aeneide der lateinische Sprachschatz geschöpft werde, wie aus der Odyssee der griechische. Das bellum gallicum des Cäsar muss mit einer ganz vorzüg- lichen Sorgfalt durchgearbeitet werden; da es derjenigen Schreibart, die man einem Jünglinge zunächst wünschen kann, näher kommt als die der andern gebräuchlichen Auetoren.2 Vom Piaton sind einige Bücher von der Republik3 der wünschenswerthe Zielpunct. Dass Cicero anfangs von seiner glänzenden Seite, nämlich als Redner, der Jugend gezeigt werden müsse, [73] bedarf kaum der Erinnerung. Später werden seine philo-

geübtere Schüler späterhin für sich lesen; so jedoch, dass sie Proben davon abzulegen haben. Es ist nicht nöthig, die seltenem Eigenheiten der Homerischen Sprache jetzt schon weitläuftig zu erklären. Man kehrt ohne- hin später zum Homer (zur Ilias) zurück. Wen die Schwierigkeiten schrecken .... 7 * dass aus der Aeneide (die man übrigens schwerlich ganz lesen

wird, denn sie kann bei weitem nicht so schnell gelesen werden, wie nach gewonnener Fertigkeit die spätem Gesänge der Odyssee,) der lateinische Sprachschatz ... II. Ausgabe.

2 Auetoren. Nachdem dies geschehen, ist das strenge, systematische Lehren und Auswendiglernen der lateinischen Syntaxis, mit gewählten, kurzen Beyspielen, als eine Hauptarbeit am rechten Platze. Vom Piaton . . .

Zusatz der II. Ausg.

3 Die II. Ausgabe hat nach „Republik" folgende Paranthese: (besonders das

erste, zweyte, vierte, achte).

3- Abschnitt. Pädagogische Bemerkungen etc. 7. Cap. Von nähern Bestimmungen. 117

sophischen Schriften wichtig; nur bedürfen viele Stellen einer weitern Aus- einandersetzung des Gegenstandes. l

§ 135- 285.] Wie viel oder wie wenig in Ansehung des Schreibens der alten Sprachen von der Jugend erlangt werden kann, hat längst die Erfahrung gelehrt: und man wird nie eine Methode finden, welche den Grad von geistiger Reife frühzeitiger herbeyschaffen könnte, der sich in guter lateinischer Schreibart zu Tage legt. So lange die Gymnasien nicht ge- wähltere Schüler haben, wird die Mehrzahl in Ansehung ('des Latein- schreibens etwas anfangen, was nie zu Ende kommt. Besser wäre, das Erreichbare häufig zu üben; nämlich das Schreiben in den Lehrstunden selbst, mit Hülfe des Lehrers und nach gemeinsamer Ueberlegung der Schüler. Dies gewährt die Vortheile der Exercitien ohne den Nachtheil unzähliger Fehler, deren Verbesserung der Schüler sich selten einprägt. Die gemeinsame Arbeit gewährt Unterhaltung, und lässt sich der Bildungs- stufe jedes Alters anpassen. 2

Siebentes Capitel. Von nähern Bestimmungen.

§ 136. 280.]

Zur näheren Bestimmung der Unterrichtslehre kann der Grund liegen in der Beschaffenheit einzel-[74]ner Gegenstände des Lehrens, in der In- dividualität, in äussern Umständen des sittlichen Lebens.

1 Die zweite Ausgabe hat nach den Worten : „des Gegenstandes" noch Folgendes :

Cicero sollte vom Lehrer oftmals laut vorgelesen, oder vielmehr vor- getragen werden. Der Redner fordert die lebende Stimme; und ihm ge- nügt nicht das gewöhnliche, eintönige Lesen der Schüler. Was den Tacitus anlangt, so wird über den Schulgebrauch desselben verschieden geurtheilt. Gewiss ist im Allgemeinen, dass solche Schriftsteller, die in wenig Worten viel sagen, für den erklärenden Lehrer nicht bloss, sondern auch für den empfänglichen Schüler vorzüglich willkommen sind. Das Gegentheil gilt vom Cicero; man muss ihn leicht lesen um ihn zu schätzen.

2 anpassen. Anstatt der Exercitien sind lateinische Auszüge aus dem, was von den Auetoren zuvor interpretirt wurde, zu empfehlen; Anfangs mit Hülfe des Buchs, später ohne dasselbe. Ausziehn ist nicht Nach- ahmen, und soll es nicht sein. Zum Nachahmen des Cicero gehört Ciceros Talent; sonst hat man frostige Künsteley zu fürchten. Schon Cäsar ist nicht so einfach, dafs seine Schreibart gelehrt und gelernt werden könnte. Aber vom Cäsar kann viel auswendig gelernt werden; Anfangs ganze Sätze, dann längere Perioden, endlich ganze Capitel. Der Nutzen hiervon ist durch Erfahrung erprobt. Zusatz der II. Ausg.

Ilg VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

§ 137. 287.] Wo Polytechnik und vielförmige Gelehrsamkeit beabsichtigt wird, da macht jede Wissenschaft ihre Foderungen der Gründlichkeit für sich allein gelten. Dies ist der Gesichtspunct des Staats, der viele einseitig Gebildete gebraucht, um aus ihnen ein Ganzes zusammenzusetzen; daher auch Bil- dung verbreitet, und Lehranstalten dazu anordnet, ohne zu fragen, welche Individuen es seyen, die sich das Dargebotene aneignen; ausser in Bezug auf künftige Anstellung.

§ 138. 288.] Der pädagogische Gesichtspunct, nach welchem aus Jedem das Beste werden soll, was ans ihm werden kann, ist dagegegen von den Familien aufzufassen, welchen an den Einzelnen, die ihnen angehören, gelegen ist. Diesen Unterschied sollen die Familien einsehn; folglich nicht nach der Grösse einzelner Leistungen, sondern nach der Gesammtbildung fragen, welche die Individuen erlangen können.

§ 139- 289.] Hiemit hängt der Unterschied zwischen Interessen und Fertigkeiten zusammen. Manche Fertigkeiten lassen sich erzwingen; aber sie sind für die Gesammtbildung unnütz, wo die entsprechenden Interessen fehlen.1

§ 140. 290.] [75] Ob die Individualitäten ohne Schaden den Zwang ertragen können, welchen das Einüben der Fertigkeiten nöthig machen würde, ist in manchen Fällen2 eine wichtige3 Frage; die zuweilen nicht ohne Versuche entschieden werden kann. Lesen, Rechnen, Grammatik, sind bekannte Beyspiele.

§ Hl- 291.] Je vollkommener der Unterricht, desto mehr Gelegenheit giebt er, die Vorzüge und Fehler der Individuen zu vergleichen, welche ihn zu- gleich empfangen. Dies ist wichtig sowohl für die Fortsetzung desselben, als für die Zucht; indem man dadurch tiefer in die Gründe der Fehler, welche sie zu bekämpfen hat, hineinschaut.

§ 142. 292.]

Das sittliche Leben kann mit Ansichten des Universums in Ver- bindung treten; es kann sich auch in sehr eng beschränktem Gesichts-

1 Die II. Ausg. hat nach „fehlen" noch folgenden Zusatz:

Mit Rücksicht auf diesen Unterschied ist mancher unberufene Tadel, und manches eingebildete Besserwissen in Bezug auf mangelhafte Erfolge eines früheren Unterrichts zurück zu weisen. Wäre dies und jenes (so meint man) früher zur Fertigkeit gebracht, so würden gröfsere Fortschritte erlangt seyn. Allein wo das Interesse nicht erwacht, und nicht kann ge- weckt werden, da ist das Erzwingen der Fertigkeit nicht bloss werthlos, weil es zu einem geistlosen Treiben führt, sondern auch schädlich, weil es die Gemüthsstimmung verdirbt.

2 u. 3 „in manchen Fällen" ... „wichtige*' fehlt in der II. Ausgabe. *

a SW, drucken nach der II. Ausg. ohne Angabe der Variante der I. Ausgabe.

4. Abschnitt. Von den Fehlern der Zöglinge. i.Cap. Vom Unterschiede der Fehler. Tjn

kreise bewegen. Der Umfang des Unterrichts wird sich zwar meistens durch Rücksichten auf die äussere Lebenslage beschränkt finden; er soll jedoch niemals kleiner, sondern nach allen Richtungen grösser seyn, als die Sphäre der nüthigen Lebensklugheit fürs gemeine Leben. Sonst läuft immer das Individuum Gefahr, sich selbst und Denen die ihm nahestehen, eine übergrosse Wichtigkeit beyzulegen.

§ 143- 293.] [76] Auf das Vergangene den Gesichtskreis auszudehnen, ist im All- gemeinen schwerer, als im Gebiete der Gegenwart. Daher trit im Unter- richt des weiblichen Geschlechts, und der niedern Volksklassen, die Geo- graphie, sammt dem was sich an sie knüpfen lässt, mehr hervor als das Historische. Bey nothwendigen Verkürzungen des Unterrichts kann es nicht vermieden werden, diesen Unterschied zu berücksichtigen. Um- gekehrt, wo der Unterricht einen grossen Umfang bekommen soll, da muss auf das Historische, als das Schwerere, desto mehr Sorgfalt ver- wandt werden.

Vierter Abschnitt.1

Von den Fehlern der Zöglinge; und von deren

Behandlung.

Erstes Capitel. Vom Unterschiede der Fehler im Allgemeinen.

§ 144. 294.]

Einige Fehler liegen in der Individualität; andre sind im Laufe der Zeit entstanden; und von diesen wiederum einige mehr, andre weniger unter Mitwirkung der Individualität. (Von Fehlern, welche der Zögling macht, wird hier zunächst nichts gesprochen.)

Mit den Jahren werden die Fehler der Individualität zum Theil grösser, zum Theil kleiner. 2

1 Zweyter Abschnitt. II. Ausgabe.

- Nach den Worten: „zum Theil kleiner" hat die II. Ausg. folgenden längeren Zusatz :

Denn immerfort ändert sich das Verhältniss zwischen dem, was der Mensch aus der Erfahrung aufnimmt, denjenigen Vorstellungen, welche frey emporsteigen, und den Vorstellungsmassen, welche sich der Be- ständigkeit nähern. Dabey wechseln die mannigfaltigsten Reproductionen. Durch diesen Wechsel zieht sich die Auffassung des eignen Leibes (der ursprüngliche Stützpunct des Selbstbewusstseins) nicht bloss mit seinen Bedürfnissen, sondern auch mit seiner Beweglichkeit und Brauchbarkeit überall hindurch. Es häuft sich ferner die Auffassung des Ähnlichen;

I2o V. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

§ 145- 296.] [77] Da Muth und Besonnenheit mit den Jahren wachsen: so er- fodern die Fehler der blossen Schwäche zwar eine stärkende Lebensart

die Vorstellungen der Dinge nähern sich den Allgemein-Begriffen. Der Process des Urtheilens verarbeitet überdies immer mehr den dargebotenen Stoff; damit bestimmt sich mehr und mehr die Art, wie der Mensch sich sein Wissen auseinandersetzt und ordnet; einerseits wächst die Zu- versicht des Be/iaupfens, andererseits bleiben Fragen, deren Beantwortung der Zukunft anheim gestellt wird, und die sich zum Theil in sehnsüchtige Erwartungen verwandeln.

Auf dies Alles nun hat die leibliche Organisation des Individuums hemmende und fördernde Einflüsse. Denn theils wirkt darauf ein physio- logischer Widerstand;* theils giebt es Affecten , deren Mannigfaltigkeit ohne Zweifel weit grösser ist, als sich in der gemeinen Erfahrung zeigen

kann.

§ 295. Sehr häufig dringt sich die Thatsache auf, dass Menschen, welche durch viele Wechsel ihres Schicksals hindurchgingen, dennoch an den individualen Zügen, die man schon in ihrer Jugend bemerkte, wieder zu erkennen sind. Darin zeigt sich etwas Gleichförmiges der ihnen eigen- thümlichen Art und Weise, wie sie unwillkührlich die verschiedenen Ein- drücke auffassen und verarbeiten. Das Gleichförmige soll der Erzieher so früh als möglich beobachten, um seine Zöglinge richtig zu beurtheilen. Einige wissen immer was die Uhr ist und wohin sie ruft; sie be- sorgen stets das Nächste, und haben einen gleichförmigen Ueberblick für den Kreis ihres Wissens. Andre vertiefen sich, in Gedanken, in Hoff- nungen und Befürchtigungen, in Absichten und Plänen; sie leben in der Vergangenheit oder in der Zukunft, mögen von der Gegenwart nicht ge- stört sein, und haben Mühe und Weile nöthig, wenn sie dahin zurück- kehren sollen. Zwischen Diesen und Jenen stehn Andre, die zwar das Gegebene und Gegenwärtige beachten, aber nicht, um es zu nehmen wie es liegt, sondern um ihre Blicke daran vorbey gleiten zu lassen, um zu erspähen, was dahinter verborgen sey, oder um zu rühren, zu verrücken, zu stören, wohl auch zu verzerren, Witz und Carricaturen zu machen. Bey Manchen ist solches Bestreben nur oberflächlich, sie spielen und necken; eine gewöhnliche Aeusserung des jugendlichen Muth willens. Dann fragt sich, welcher Ernst hinter dem Spiele sey? und wieviel Tiefe unter der bewegten Oberfläche? Hier greift das Temperament ein; das Spiel

rdes Sanguinicus vergeht, aber wo Mislaune habituell ist, da droht Gefahr, wenn, wie zu geschehen pflegt, aus Scherz Ernst wird. Auch das Selbst- gefühl mischt sich ein; auf verschiedene Weise bey demjenigen, der seiner Stärke traut, (Leibes- oder Geistesstärke,) und Anderen, die ihre Schwäche kennen, mit oder ohne den Vorbehalt der künftigen List und Schlau- heit, und so auch mit mehr oder weniger Anerkennung der überlegenen Kraft und Auctorität. Grosser Eifer im Spiel zeigt im Ganzen wenig * Über verschiedene Formen des Widerstandes und deren Wirkung auf den Bau der Vorstellungen findet man Einiges im ersten Hefte der psychologischen Untersuchungen. S. 184 u. s. w.

4. Abschnitt. Von den Fehlern der Zöglinge, i . Cap. Vom Unterschiede der Fehler. 121

(geistig und körperlich stärkend), die einzelnen Uebereilungen Belehrung und Verweis; übrigens aber lassen sie Besserung hoffen.

§ 146. 297.]

Unstetigkeit, fortwährende Unruhe, bey guter Gesundheit und ohne äussern Reiz, sind zweydeutige Zeichen. Man achte auf den Zusammen- hang der Gedanken. Wo im Wechsel derselben die Hauptgedanken dennoch haltbar und gut verbunden sind, da ist die Unruhe nicht be- denklich. Schlimmer ists im Gegenfalle; besonders wenn das Gefässsvstem sich sehr reizbar zeigt, und dabey traumähnliche Vertiefungen vorkommen. Aus der Ferne erblickt man hier die Gefahr des Wahnsinns.

Strenges Binden an bestimmte Beschäftigungen, besonders an solche, welche zu genauer Beobachtung der Auswahl nöthigen; Foderung pünct- licher Ordnung und Leistung des Aufgegebenen, jedoch mit Begünstigung dessen was aus eigner Neigung unternommen war, ist die entsprechende Behandlung.

§ 147. 298.]

Lüsterne Sinnlichkeit und Jähzorn pflegen im Laufe der Jahre schlimmer zu werden. Dagegen: genaue Aufsicht, ernster Tadel, und die ganze Strenge sittlicher Grundsätze!1

'ov

§ 148. 299.]

[78] Die bisher bemerkten Fehler 2liegen auf der Oberfläche. Andre müssen bey Gelegenheit des Unterrichts beobachtet werden.

Man findet düstere Köpfe, bey denen nicht einmal Anknüpfung an

Ernst; wohl aber Empfindlichkeit und Hang zur Ungebundenheit. Klug- heit im Spiel ist ein Zeichen der Fähigkeit, sich auf den Standpunct des Gegners zu versetzen, und dessen mögliche Pläne zu durchschauen. Die Lust am Spielen ist dem Erzieher weit willkommener als Trägheit oder schlaffe Neugier, oder finsterer Ernst; es gehört zu den leichteren Fehlern, wenn zuweilen über dem Spiel die Arbeit vergessen, die Zeit versäumt wird ; schlimmer ists, und oft sehr schlimm, wenn Verschwendung oder Gewinnsucht, oder Verheimlichung, oder üble Gesellschaft sich einmischt; In solchen Fällen muss der Erzieher entschieden einschreiten.

§ 296. Da Muth und Besonnenheit mit den Jahren wachsen: so erfordern die Fehler der blossen Schwäche zwar eine stärkende Lebensart (geistig und körperlich stärkend), die einzelnen Uebereilungen, Belehrung und Verweis; übrigens aber lassen sie Besserung hoffen. Schwache Naturen, die sonst keine Fehler von Bedeutung haben, gedeihen unter anhaltender sorgfältiger Pflege weit besser, als man den ersten Anschein nach ver- muthen würde.

1 sittlicher Grundsätze! Vorübergehende Aufwallungen der Affecten jedoch, wenn sie sich nicht mit anhaltendem Trotz zu rechtfertigen suchen, wollen mit Schonung behandelt seyn; nämlich als Uebel, die zur Vorsicht und Wachsamkeit auffordern. II. Ausg.

'-' liegen meistens auf der Oberfläche. II. Ausg.

j22 V. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

bestimmte Puncte ihres Gedankenvorraths gelingt;1 Andre, die man beengt (nicht im Allgemeinen beschrank/) nennen möchte, weil bey ihnen die Re- production zwar gelingt, aber in geringem Umfange; wieder Andre und Andre, deren Vorstellungen entweder nicht zum Weichen, oder nicht zum Stehen zu bringen sind. Beyde letztere müssen genauer betrachtet werden.

§ 149. 300.]

Unter den verschiedenen Vorstellungsmassen 29) müssen einige beharrlich herrschen, andre wechselnd kommen und gehen. Wenn aber dies Verhältniss sich gar zu frühzeitig ausbildet und bevestigt: so lassen die herrschend gewordenen Vorstellungsmassen sich nicht mehr soweit hemmen, als für die Aufnahme des Neuen, was der Unterricht darbringt, nöthig wäre. Hieraus erklärt sich die Erfahrung, dass gescheute Köpfe, beym besten Willen Unterricht zu empfangen, sich dennoch zuweilen höchst unempfänglich zeigen; und dass eine Starrheit, die im spätem Mannsalter nicht unerwartet wäre, sich ins Knabenalter scheint verirrt zu haben. 2

Es ist anzunehmen, dass diesem Fehler durch sehr frühen, nach allen Richtungen begonnenen [79] Unterricht,3 wenigstens grossentheils hätte vorgebauet werden können; während er, einmal eingerissen, durch keine Kunst und Sorgfalt der verschiedensten Lehrer zu überwinden ist. Wo im Kindesalter, etwa im sechsten Jahre, Besorgniss entsteht, dass die Fragen aus einem zu engen Gesichtskreise kommen, da ists hohe Zeit,

') Nach ,, gelingt" hat die II. Ausgabe noch folgende Erweiterung: gelingt bey leichten Fragen, durch welche man ihre Vorstellungen zu heben sucht, wächst der Widerstand, den sie zu überwinden haben; sie ge- rathen in Verlegenheit; dieser suchen sie manchmal durch das einfache: ich weiss nicht, auszuweichen, manchmal geben sie die ersten besten falschen Antworten; man erreicht nur durch Strenge eine kümmerliche Geistesthätigkeit; und erst in spätem Jahren, wenn die Noth drängt, er- langen sie einige Uebung für einen kleinen Kreis. Bei Andern, die man beengt (nicht im Allgemeinen beschränkt) nennen möchte, weil ihnen die Re- production zwar gelingt, aber in geringem Umfange, zeigt sich ein leb- haftes Bemühen, zu lernen, aber ihr Lernen ist mechanisch, und was sich so nicht lernen läfst, das fassen sie unrichtig auf; wollen dennoch urtheilen, und urtheilen falsch; dadurch werden sie Anfangs muthlos, später eigen- sinnig. Es finden sich wieder Andre und Andre, deren Vorstellungen entweder nicht zum Weichen, oder nicht zum Stehen zu bringen sind. Beide letztere müssen genauer betrachtet werden.

2 verirrt zu haben. Man lasse sich nicht verleiten, solche Beschränkt- heit durch billigende Benennungen, etwas von Vestigkeit und Energie, zu begünstigen; eben so wenig aber ist hier ein schwerfälliges Lehren, und dessen Folge, ein unlustiges Lernen, als bedeutungslos zu übersehen.

Viel eher ist anzunehmen, dass diesem ... IL Ausgabe.

3 Unterricht, wofern derselbe mit mannigfaltigen, nicht zu schweren, sondern einladenden Beschäfftigungen verbunden wäre, wenigstens grossen- theils hätte vorgebauet werden können .... II. Ausgabe.

4. Abschnitt. Von den Fehlern der Zöglinge. i.Cap. Vom Unterschiede der Fehler. \2~\

mancherley Anregungen, besonders durch möglichst erweiterte Erfahrung, zu versuchen.

§ 150. 301.]

Umgekehrt erhebt sich bey Manchen, (selbst im Jünglingsalter noch,) keine Gedankenmasse zu besonders hervorragender Wirksamkeit. Solche befinden sich als Knaben stets offen für jeden Eindruck, und bereit zu jedem Gedankenwechsel. Sie pflegen angenehm zu plaudern, und sich voreilig anzuschliessen; zu ihnen gehören die, welche leicht lernen und eben so schnell vergessen.

Auch dieser Fehler widersteht, einmal eingerissen, der Kunst und den guten Vorsätzen; starke Vorsätze sind durch ihn ausgeschlossen.

Er zeigt sich aber grösser oder kleiner, je nachdem die früheste Um- gebung einwirkte. War dieselbe zerstreuend, so wächst der Fehler selbst bey übrigens guter Anlage zu einer gefährlichen Grösse. Hat aber irgend ein nothwendiger Respect beharrlich eingewirkt : so hebt sich der Jüngling höher, als der Knabe erwarten Hess. l

Die beyden letzt erwähnten Fehler mögen also 2 zwar im Laufe der Zeit merklich geworden sevn; [80] dennoch liegen sie in der Individualität; und können wohl gemildert, aber nicht ganz gehoben werden.

§ IS'- 002.]

Sehr viel leichter zu bekämpfen ist das Springende energischer Naturen, die eines lebhaften Enthusiasmus fähig sind. Das offenbare Gegenmittel liegt schon in der Gründlichkeit und Vielseitigkeit eines tüchtigen Unterrichts; der auf Zusammenhang und Besonnenheit dringt und hinwirkt.

§ 152. 303-]

Noch leichter wären ursprünglich diejenigen Fehler zu vermeiden ge- wesen, welche in früheren Jahren durch Regierung, oder Unterricht, oder Zucht, oder deren Unterlassung, entstanden sind. Aber die Schwierigkeit der Heilung wächst mit der Zeit in sehr schneller Progression. Im All- gemeinen ist zu merken, dass man sich sehr Glück zu wünschen Ursache hat, wenn nach früher Vernachlässigung sich unter besserer Behandlung einige verspätete Spuren jener Kinderfragen zeigen, die ins sechste oder siebente Jahr gehören. 63) [in der II. Ausg. steht § 213].

1 als der Knabe erwarten Hess. Am wenigsten jedoch darf eine oberflächliche Lebendigkeit, (etwa verbunden mit drolligen Einfällen, kecken Streichen u. dergl.,) den Erzieher verleiten, auf künftige Entwickelung von Talenten zu hoffen. Talente zeigen sich durch beharrliche Anstrengungen selbst unter minder günstigen Umständen; und nicht eher, als bis solche Anstrengungen deutlich hervortreten, darf man daran denken, sie zu unter- stützen.

Die beyden .... II. Ausgabe.

2 „also'' fehlt in der IL Ausgabe.

a SW drucken nach der II. Ausgabe, ohne die Variante der I. Ausg. anzumerken.

I2A V. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

Zweytes Capitel. Von den Quellen der Unsittlichkeit.

§ 153- Fünf Hauptpuncte kommen hier in Betracht 43.)

1) Richtungen des kindlichen Willens.

2) Aesthetische Urtheile und deren Mängel.1 [81] 3) Bildung der Maximen.

4) Vereinigung der Maximen.

5) Gebrauch der vereinigten Maximen.

§ 154. 305.]

1) Unbestimmtes Treiben, des eignen frühern Wollens vergessend, ist immer da zu erwarten, wo nicht die Zucht für Beschäftigung und Zeit- eintheilung gesorgt hat. Daraus entsteht eine Freyheitslust, die jeder Regel abhold ist; unter Mehrern Streit, bald um Etwas zu haben, bald um sich zu zeigen. Jeder will der Erste seyn; die billige Gleichheit wird absichtlich verkannt; gegenseitiger Widerwille gräbt sich ein, und lauert auf Anlass zum Ausbruch. Hier ist der Ursprung vieler Leidenschaften; auch diejenigen, welche aus übermächtiger Sinnlichkeit hervorgehn, sind in sofern zu diesem ersten Puncte zu rechnen. (Die Verwüstung, welche die Leidenschaften anrichten, erstreckt sich durch alle folgenden Nummern.)

§ 155- 306.]

2) Gegen Trägheit und Wildheit wirkt zwar die Erziehung gewöhn- lich nicht bloss durch Antrieb und Beschränkung, sondern auch durch Hinweisung auf mannigfaltig Schicklichkeit; und indem sie zu der Ueber- legung führt, was Andre wohl sagen werden? lässt sie die Verhältnisse wie in einem fremden Spiegel erscheinen. Aber wenn diese Andern entweder schweigen müssen, oder wenn der Zögling [S2] ihrer Partheylichkeit sicher, oder den Fehlern ihres Urtheils Preis gegeben ist: dann wird das ästhetische Urtheil eher verfälscht als geweckt.

Dennoch ist dies Hinweisen auf das Urtheil Andrer, (wo möglich so, dass diese Andern nicht bloss bestimmte Individuen seyen,) sehr viel besser, als von der eignen Freyheit zu erwarten, ob wohl das Urtheil er- wachen werde? In den meisten Fällen würde man vergebens warten. Dem gemeinen Menschen, und so auch dem ganz sich selbst überlassenen r Knaben, stehen ästhetische Gegenstände entweder zu nahe oder zu fern, d. h. entweder sind dieselben noch nicht ausserhalb der Gränzen der Zu- neigung oder Abneigung, oder sie verlieren sich schon aus dem Gesichts- kreise; in beyden Fällen kann das ästhetische Urtheil nicht zu Stande kommen, wenigstens entschlüpft es, bevor es wirken konnte.

(Um diejenigen ästhetischen Urtheile zu fällen, worauf die Sittlichkeit sich gründet, müssen Bilder des Willens gesehen werden, ohne eigne Wilens- regung. Und zwar müssen diese Bilder Verhältnisse in sich schliessen, deren

1 Aesthetische Beurtheilung und deren Mangel SW.

4. Abschnitt. Von den Fehlern der Zöglinge. 2. Cap. Von den Quellen etc. 125

einzelne Glieder selbst Willen sind; der Auffassende nun soll die Glieder gleichmässig zusammenhalten, bis in ihm selbst die Werthbestimmung un- willkührlich hervortrit. Aber dazu gehört eine Schärfe und eine Ruhe des Auffassens, welche bey ungezogenen Kindern nicht zu erwarten steht, Man kann hieraus auf die Nothwendigkeit der Zucht, und zwar der ernsten, wo nicht strengen Zucht, den Schluss machen. Die Wildheit muss [83 ] gebändigt, und regelmässiges Aufmerken muss gewonnen seyn. Alsdann noch darf es an hinreichend deutlichen Darstellungen jener Bilder des Willens nicht fehlen. Und auch so verspätet sich das Urtheil oft so sehr dass es im Namen Anderer und Höherer, muss ausgesprochen werden.)

§ 156. 307.]

Hiebey dürfen die Einseitigkeiten des ästhetischen Urtheils nicht übersehen werden, wenn unter den praktischen Ideen eine mehr als die andre, oder vor ihnen allen, das äussere Schickliche hervorragt.

§ 157- 308.]

3) Alle Begierden, wenn sie beharrlich, und mit Aufregung wechselnder Affecten wirken, (und hiemit den Namen Leidenschaften verdienen), machen Erfahrungen des Nützlichen und Schädlichen. Beym Nützlichen wird an vielmaligen künftigen Gebrauch gedacht; beym Schädlichen an fortdauerndes Vermeiden. So entstehen Lebensregeln, und Vorsätze, die- selben allgemein zu befolgen; d. h. Maximen.

Es ist zwar noch ein weiter Unterschied zwischen wirklicher Be- folgung und dem blossen Vorsatze dazu. Aber der Anspruch an All- gemeinheit der Regel, welche das Individuum für sich und für Andre in gleicher Lage als richtig ansehn könne, entsteht weit kürzer auf dem Wege der Begierden, die in die Zukunft auf ähnliche Fälle hinausschauen, als auf Anleitung ästhetischer Urtheile, deren Allgemei-[84]nes richtig aus den einzelnen Fällen herauszufinden schwierig genug ist ; (so schwierig, dass über der gesuchten Allgemeinheit sogar das ästhetische Urtheil selbst konnte verfehlt werden.)

§ 158. 309.]

Nun würdigt das moralische Urtheil die Pünktlichkeit und Treue des Gehorsams gegen das Ganze der einmal erkannten Pflichten, welche durch die angenommenen Maximen vestgestellt werden. Das moralische Urtheil setzt also die richtige Erkenntniss vom Werthe des Willens voraus. Diese konnte nur in der Gesammtheit der ästhetischen Beurtheilung des Willens liegen. Allein nach den vorbemerkten Umständen ist zu erwarten, dass falsche oder doch ungenaue Maximen vorhanden seyen. Zu den letztern gehören die Ehrenpuncte, die Höflichkeits-Pflichten, die Scheu des Lächer- lichen.

§ 159- 3io.]

4) Die Maximen sollen ein Ganzes bilden ; allein während der Jugend jähre sind sie nicht einmal einzeln genommen völlig bestimmt, vielweniger zu einem bestimmten Ganzen genau vereinigt.

Der Vorbehalt der Ausnahmen klebt ihnen an; desgleichen der fernem Prüfung durch Erfahrung.

VI. Umriss pädagogiher Vorlesungen. 1835.

Die Maximen der Begierden and des Angenehmen lassen sich mit denen, die aus ästhetischen Urthten entspringen, nie genau vereinigen. Es entsteht also eine falsche Unordnung, oder doch Verunreinigung der letztern durch die erstem.

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[85] 5) Im Gebrauch der Ehr oder weniger vereinigten Maximen pflegt das Wollen, was der Augeolick eben mit sich bringt, sich stärker zu zeigen als die frühern Vorsätze Man lässt sich daher sehr gern einen Unterschied zwischen Theorie ur. Praxis gefallen. Es entsteht ein sitt- licher Empirismus, der zu seiner iechtfertigung, um sich der Regel ent- ziehen zu dürfen, allenfalls fromn Gefühle für sich anführt. Es werden Pläne gemacht, ohne Rücksicht cf die Maximen, aber mit dem schein- baren Gewinn einer andern Art %n Regelmässigkeit des Lebens.

Diese Geringschätzung des roralischen Unheils greift um desto ver- derblicher um sich, je weiter di ästhetischen Urtheile, welche ihm zur Grundlage dienen sollten, von er ihnen gebührenden Klarheit entfernt geblieben sind, und je weniger hr Gegensatz gegen die Maximen des Nutzens und Genusses entwickeltworden ist.

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4. Abschnitt. Von den Fehlern der Zöglinge. 3.Cap. Vn den Wirkungen der Zucht.

127

Der Wille muss vielmehr durch Regiemg und Zucht (wohin auch die zweckmässige Beschäfftigung, [87] und ie Gegenwirkung gegen den Egoismus gehört*,) ja durch das Ganze es Unterrichts, der die In- teressen bildet, schon in solche Richtungen denkt seyn, dass er mit der Wegweisung durch die ästhetischen Urthei von selbst möglichst zu- sammentreffe. Die oben bemerkten Anfängt des Bösen 154) [II. Aus- gabe § 305] dürfengar nicht vorkommen; den ihre Folgen werden meist unüberwindlich. Es ist alsdann immer nochnicht sicher, ob man durch die Unrichtigkeiten dessen zcas Andre sagen (§155) [II. Ausgabe § 306] einen Weg zu reinem Urtheilen werde bahnen kör.en. Ist aber dies und auch jenes gewonnen: dann muss drittens Erfahrug und Geschichte aufgeboten werden, um klar zu zeigen, in welche Verwrung die Maximen der Lust und der Leidenschaft den Menschen stürzen, rst hierauf, viertens, können mehr oder weniger systematische Vorträge luch Lesung der Alten) be- nutzt werden; und dennoch bleibt fünften: häufige Erinnerung an den moralischen Gehorsam nöthig, die man durci religiöse Betrachtungen wird zu verstärken haben.

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Drittes Capite

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I2Ö VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

Die Maximen der Begierden und des Angenehmen lassen sich mit denen, die aus ästhetischen Urtheilen entspringen, nie genau vereinigen. Es entsteht also eine falsche Unterordnung, oder doch Verunreinigung der letztern durch die erstem.

§ 160. 311.]

[85] 5) Im Gebrauch der mehr oder weniger vereinigten Maximen pflegt das Wollen, was der Augenblick eben mit sich bringt, sich stärker zu zeigen als die frühern Vorsätze. Man lässt sich daher sehr gern einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis gefallen. Es entsteht ein sitt- licher Empirismus, der zu seiner Rechtfertigung, um sich der Regel ent- ziehen zu dürfen, allenfalls fromme Gefühle für sich anführt. Es werden Pläne gemacht, ohne Rücksicht auf die Maximen, aber mit dem schein- baren Gewinn einer andern Art von Regelmässigkeit des Lebens.

Diese Geringschätzung des moralischen Urtheils greift um desto ver- derblicher um sich, je weiter die ästhetischen Urtheile, welche ihm zur Grundlage dienen sollten, von der ihnen gebührenden Klarheit entfernt geblieben sind, und je weniger ihr Gegensatz gegen die Maximen des Nutzens und Genusses entwickelt worden ist.

§ 161. 312.]

Das natürliche Hüllsmittel in Ansehung der Bildung und der Ver- einigung der Maximen ist das System der praktischen Philosophie selbst. Allein sehr verschieden findet sich bey Jünglingen in den Jahren der Er- ziehung das Verhältniss zwischen einem systematischen Vortrage und der Bildungsstufe, die sie erreicht haben. Zu Beobachtungen in dieser Hin- sicht veranlasst schon der Religions- Unterricht vor der Confirmation. Wie solcher Unterricht er-[86]theilt wird ist gewiss nicht gleichgültig; allein die Gesinnungen, die er sammelt und stärkt, müssen im Wesentlichen schon vorhanden seyn.

Wollte man eine strengere wissenschaftliche Form: so würde darin wieder die Voraussetzung liegen, dass die Jünglinge eine solche zu schätzen wüssten und zu benutzen geübt wären. Dass in diesem Falle (der bey Bürgerschulen, und bey allen Lehranstalten, von welchen kein Uebergang zur Universität üblich ist, besonders in Betracht kommt) der Vortrag der Logik, sammt angemessenen Uebungen vorausgehn müsse, liegt am Tage.

Indessen lässt sich hierüber nichts bestimmen, bevor die sittliche Stimmung der Gemüther vor Augen liegt.

§ 162. 313.] Aus in igen Systemen könnte man vollends Anlass zu ganz verkehrten Massregeln entnehmen, wovon hier wegen der Wichtigkeit des Gegen- standes zwey Worte! Alles wäre umgekehrt, wenn man, statt Maximen zu vereinigen (nämlich in den Begriff der Tugend), aus irgend einer Formel des kategorischen Imperativs die Mehrheit der Maximen, aus diesen die Werthbestimmungen des Willens (anstatt der ursprünglichen ästhetischen Urtheile) ableiten, und endlich gar hiedurch den Willen selbst zu lenken unternehmen wollte.

4. Abschnitt. Von den Fehlern der Zöglinge. 3. Cap. Von den Wirkungen der Zucht. 127

Der Wille muss vielmehr durch Regierung und Zucht (wohin auch die zweckmässige Beschäfftigung, [87] und die Gegenwirkung gegen den Egoismus gehört*,) ja durch das Ganze des Unterrichts, der die In- teressen bildet, schon in solche Richtungen gelenkt seyn, dass er mit der Wegweisung durch die ästhetischen Urtheile von selbst möglichst zu- sammentreffe. Die oben bemerkten Anfänge des Bösen 154) [II. Aus- gabe § 305] dürfengar nicht vorkommen; denn ihre Folgen werden meist unüberwindlich. Es ist alsdann immer noch nicht sicher, ob man durch die Unrichtigkeiten dessen zvas Andre sagen 155) [II. Ausgabe § 306] einen Weg zu reinem Urtheilen werde bahnen können. Ist aber dies und auch jenes gewonnen: dann muss drittens Erfahrung und Geschichte aufgeboten werden, um klar zu zeigen, in welche Verwirrung die Maximen der Lust und der Leidenschaft den Menschen stürzen. Erst hierauf, viertens, können mehr oder weniger systematische Vorträge (auch Lesung der Alten) be- nutzt werden; und dennoch bleibt fünftens häufige Erinnerung an den moralischen Gehorsam nöthig, die man durch religiöse Betrachtungen wird zu verstärken haben.

Drittes Capitel. Von den Wirkungen der Zucht.

§ 163. SU-]

A) Die Zucht verhütet Leidenschaften, indem sie:

1) die Bedürfnisse befriedigt,

2) Gelegenheiten zu heftiger Begierde vermeidet, [88] 3) für Beschäftigungen sorgt,

4) an Ordnung gewöhnt,

5) Ueberlegung fodert, und die Zöglinge zur Rechenschaft zieht.

§ 164.

B) Sie wirkt auf die Affecten, indem sie

1) heftigen Ausbrüchen wehrt,

2) andre Affecten erzeugt,

3) die Selbstbeherrschung ergänzt.

§ 165.

C) Sie prägt die geselligen Rücksichten ein, (wirkt gegen sogenannte Ungezogenheit;)

1) Dadurch macht sie das Benehmen der Einzelnen nahe gleichartig,

2) es werden weit mehr gesellige Berührungen möglich, als bey Hader und Zank;

3) die Entwicklung mancher Eigentümlichkeiten wird dadurch zwar gehemmt, doch können, wenn nur übermässige Strenge ver-

* Allgemeine Pädagogik. S. 422. [Diese Note fehlt in IL]

I28 VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

mieden wird, die bedeutendem Energien dadurch nicht erstickt werden.

§ 166. D) Sie macht behutsam.

1) Kühne Versuche beschränkt sie.

2) Sie warnt vor Gefahren.

3) Sie straft, um zu witzigen.

4) Sie beobachtet; und gewöhnt den Menschen, sich beobachtet zu glauben.

§ 167- 3I5-] [8 g] Fasst man nun diese nächsten und bekannten Wirkungen der Zucht zusammen: so ergiebt sich sogleich, dass sie im Allgemeinen sehr viel vermag, um Böses zu vermindern; und dass sie in das Verhältniss ver- schiedener Vorstellungsmassen tief einzugreifen im Stande ist. Allein es zeigt sich auch die Gefahr, dass sie Heimlichkeiten veranlasst, indem sie das Schlechte von der Oberfläche zurücktreibt.

§ 168. 316.]

Im Laufe der Zeit entsteht hieraus ein wachsendes Misverhältniss, wenn die Heimlichkeiten sich unter einander verknüpfen, und die Zög- linge gegen den Erzieher ein studirtes Betragen annehmen.

Die Folgen davon sind bekannt. Unerbittliche Strenge gegen das Verheimlichte, wenn es entdeckt wird; grosse Nachsicht gegen offene Ver- gehungen; und vielfach angeordnete, oft selbst versteckte Aufsicht, damit das System von Heimlichkeiten nicht die Erziehung überflügele.

§ 169. 317.]

Es schadet der Würde des Erziehers, wenn er sich in den Wettstreit des Spähers gegen die Verhehlenden anhaltend einlässt. Er muss nicht Alles zu wissen verlangen; sein Vertrauen jedoch nicht groben oder langen Täuschungen Preis geben.

§ 170.

Allein die Schwierigkeit in diesem Puncte führt dennoch darauf zurück, dass in den frühesten Jahren [90] wo die Aufsicht noch leicht, und alle Einwirkung auf das Gemüth am sichersten ist, der Grund der Erziehung gelegt werden muss; und dass die Familien wo möglich nicht auf lange Zeit die Ihrigen aus den Augen verlieren dürfen.

Das ästhetische und moralische Urtheil lässt sich erheucheln; die schönsten Maximen und Grundsätze lassen sich auswendig lernen; der ' Deckmantel der Frömmigkeit lässt sich umhängen. Entlarvt man den Heuchler, und verstösst ihn: so beginnt er sein Spiel anderwärts von neuem. Es bleibt nichts übrig als eine Strenge, die ihn muthlos macht, und be- ständige Beschäfftigung unter scharfer Aufsicht an einem andern Orte, da- mit er aus den Schlupfwinkeln seiner Vergehungen herauskomme. De- portation vermag zuweilen, Besserung zu veranlassen.

§ 171. 3i8.] Am unmittelbarsten lenksam ist der Wille in geselligen Verhältnissen, wo er als gemeinsamer Wille erscheint. In den frühesten Jahren, wo sich

4. Abschnitt. Von den Fehlern der Zöglinge. 4. Cap. Von einzelnen Fehlern. 129

das Kind der Mutter ganz hingiebt, ist es durch sie lenksam; späterhin geht die Zucht am sichersten, wenn sie auf gesellige Anschliessung der Jugend hinwirkt, und hier die Keime des Guten sorgfältig pflegt. Die gesellschaftlichen Ideen müssen allmählig, durch den Unterricht geläutert, hinzutreten.

§ 172. 3I9-]

Es kommen aber schon im Knabenalter Partheyungen und ab- geschlossene Gesellungen vor; wel-[c)i]che der Wachsamkeit der Erzieher nicht entgehen dürfen.

Räumt man einigen älteren und geprüften Zöglingen eine Art von Ansehen über jüngere und minder bedachtsame ein: so sind jene ver- antwortlich ; aber auch diese nicht von aller eignen Ueberlegung entbunden, und nicht gehalten, sich jedem auch offenbar unvernünftigen Ansinnen der erstem zu fügen.

Viertes Capitel.

Von einzelnen Fehlern.

§ 173- 320.] Hier müssen zuerst die Fehler, welche der Zögling macht, von denen unterschieden werden, die er hat. Nicht alle Fehler, die Einer macht, sind unmittelbare Aeusserungen derer, die er hat; aber aus denen, die öfter gemacht wurden, können bleibende Fehler werden. Dies letztere muss dem Zögling so deutlich gezeigt und eingeprägt werden, als er es irgend fassen kann.

§ 174- 321.]

Bey Fehltritten, die unvorgesehen auf äussern Anlass, oder wider einen ernstlich gefassten Vorsatz gemacht werden, erschrickt der Zögling meistens von selbst. In diesem Falle kommt Alles auf die Wichtigkeit des Fehlers an; im Verhältniss gegen den Schreck, welchen der Zögling schon empfindet.

[92] Eine Menge von kleinen Verstössen, Versehen, selbst Be- schädigungen ist von der Art, dass sie viel Geduld nöthig haben; allein man würde die grosse Schwierigkeit der sittlichen Bildung verkennen, wenn man durch harte Behandlung jener Versehen die Offenheit der Zöglinge zurückstiesse, an welcher im hohen Grade gelegen ist, und die, einmal verloren, schwerlich ganz wiederkehrt.

§ 175- 322.] Aber die erste Lüge mit böser Absicht, der erste Diebstahl, und ähnliche für Sittlichkeit oder Gesundheit entschieden verderbliche Hand- lungen, müssen scharf und anhaltend so behandelt werden, dass der Zög- ling, der sich einen geringen Fehler zu erlauben meinte, aufs Ernstlichste sowohl Furcht als Tadel empfinde.

Heruart's Werke. X. 9

jn0 VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

§ 176. 323-]

Auch da ist Ernst gegen das erste Vergehen nöthig, wo gegen Auc- torität und Befehl versucht wird, wieviel man wagen könne. Es kommt aber darauf an, das Absichtliche solcher Versuche nicht zu überschätzen; und sich nicht zornig, sondern stark zu zeigen.

(Es giebt indessen Fälle, wo der Erzieher scheinen muss nicht ganz ohne Affect zu handeln, weil die nöthige Behandlung, mit Kälte ver- bunden, mehr erbittern, und gar zu anhaltend verletzen würde. Lässt man nur die angenommene Kälte weg, so zeigt sich leicht soviel Affect als dienlich ist.)

§ 177- 324-] [93] Wo eine geraume Zeitlang Regierung und Zucht gefehlt hatten, da wird, nach Herstellung genauer Ordnung, eine Menge von Fehlern von selbst verschwinden, die nicht einzeln der Behandlung bedürfen. Respect für die Ordnung, und hinreichender Antrieb zu regelmässiger Thätigkeit, sind die Hauptsachen.

§ 178. 425-J Fehler, die einer zu haben seheint, sind oft angenommene Maximen aus der Gesellschaft, wohinein er zu treten hofft. Es kommt darauf an, ob man seine Meinungen verbessern, und zu einer höheren Ansicht der menschlichen Verhältnisse erheben könne; damit er den für ehrenvoll ge- haltenen Schein verschmähen möge.

§ 179- 326.] Fehler, welche ein älterer Zögling wirklich hat, stehn selten einzeln. Sie zeigen sich auch selten ganz offen, sondern mit kluger Rücksicht auf die Umgebung. Man kann alsdann zwar die Verschlimmerung während der Zeit der Erziehung grossentheils verhüten; aber an Besserung von Grund aus, ist bey denen, die sich klug verbergen, selten eher zu denken, als bis sie noch klüger, zum Verbergen zu stolz, und für wahre Schätzung sittlicher Werthe empfänglicher werden.

Sind unbenutzte Talente vorhanden, und kann man zu deren Ent- wicklung den Unterricht anordnen, [94] so ist einige Hoffnung vor- handen, dass man älteren Knaben und Jünglingen ein Gegengewicht gegen angenommene Gewohnheiten beybringen werde. Sonst gelingt die Besserung auf die Dauer fast nur im frühern Alter. Jedenfalls muss, wo viel zu bessern ist, das Gefühl der Abhängigkeit von strenger Zucht lange erhalten werden.

§ 180. 327.] Mit mehr Erfolg wird man jedoch gegen solche Fehler arbeiten, welche in der Gesellschaft, in deren Rang der Zögling zu gehören glaubt, nicht geduldet werden. Dass er diese Gesellschaft von ihrer achtungs- werthesten Seite sehe, ist eben so wichtig, als auf der andern Seite un- vermeidlich, dass er auch das Minder -Edle in ihr gewahr werde, sofern er darin für die Fehler seiner Individualität freyen Raum erblickt.

5. Abschnitt. Vom Veranstalten der Erziehung. i.Cap. Von der häusl. Erziehung. j?j

§ 181. 328.] Hier nun stellt sich dem praktischen Erzieher sowohl die Bildsam- keit der Jugend, als auch deren Begränzung vor Augen. Durch Geburt und äussere Umstände lassen sich Jünglinge und schon Knaben diejenige Klasse der Gesellschaft bezeichnen, welcher sie angehören werden; als- dann suchen sie die Form dieser Gesellschaft zu erlangen, und in den Strom derselben hineinzukommen. Auf ihrer Wanderung bis an diesen Strom nehmen sie von edlern Gesinnungen, von Kenntnissen und Ein- sichten soviel mit, [05] als einerseits der Unterricht darbietet und die Zucht begünstigt, andererseits die Individualität, näher bestimmt durch die frühesten Eindrücke, sich anzueignen bereit ist. Seltene Ausnahmen machen die, welche durch irgend eine religiöse, wissenschaftliche oder künstlerische Vertiefung gegen die Anziehungskraft der Gesellschaft minder empfänglich wurden. Derjenige Unterricht, welcher diese Vertiefung veranlasste, hat ihre Richtung bestimmt; von da an suchen sie selbstthätig, was dazu passt; und nehmen dagegen nur wenig von dem an, was man ihnen darbietet.

§ 182. 329.] Auf nähere Bestimmungen der Art, wie Einer die Gesellschaft auf- fasst, (besonders ob er darin mehr den Staat oder den Familienumgang im Auge hat), wird man bev den Motiven Rücksicht nehmen müssen, die man gegen einzelne Fehler aufbietet, oder auch durch die man gegen das Fehlerhafte überhaupt ein Uebergewicht der bessern Anstrengungen zu er- reichen sucht.

Fünfter Abschnitt.1

Vom Veranstalten der Erziehung".

Erstes Capitel.

Von der häuslichen Erziehung.

§ 183. 330.]

Wenn der einzelne Erzieher sich beschränkt findet: so könnte er dagegen leicht auf den Gedanken [96] kommen, die Gesellschaft vermöge Alles, wenn sie wolle und die nöthige Einsicht besitze. Allein es thun sich besondere Schwierigkeiten, sowohl für den Staat, als für die Familien hervor.

§ 184- 33I-] Der Staat braucht Soldaten, Bauern, Handwerker, Beamte u. s. w., und es liegt ihm an deren Leistungen. Eine Menge von Menschen, deren persönliches Daseyn nur in engen Kreisen etwas bedeutet, überschauet er

1 Dritter Abschnitt. II. Ausgabe.

9*

l~>2 VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

im Allgemeinen bey weitem mehr, um den Schaden zu verhüten, den sie stiften könnten, als um ihnen unmittelbar zu Hülfe zu kommen. Wer etwas leistet, der wird hervorgezogen; der Schwächere muss zurücktreten; die Mängel des Einen ersetzt ein Andrer.

§ 185- 332.] Der Staat prüft was sich prüfen lässt, das Aeussere des Betragens und Wissens. Er dringt nicht ins Innere. Die Lehrer an öffentlichen Schulen können nicht viel tiefer dringen ; auch ihnen ist mehr an der Summe des Wissens gelegen, die von ihnen ausgeht, als an den Einzelnen, und an der Art wie Jeder sein Wissen innerlich verarbeitet.

§ 186. 333.]

Den Familien dagegen kann kein Fremder das ersetzen, was an dem Angehörigen fehlt; und ihnen wird das Innere so sichtbar und oft fühlbar, dass [97] blosses Aussenwesen ihnen nicht genügt. Es ist also klar, dass immer die Erziehung wesentlich eine häusliche Aufgabe bleibt; und dass nur vom Hause aus dafür die Anstalten des Staats zu benutzen sind.

Allein wenn man das Leben in den Familien näher betrachtet; so findet man dasselbe sehr oft zu geschäfftsvoll, zu sorgenvoll, oder zu ge- räuschvoll für die ganze Strenge, welche theils in den Anfoderungen des Unterrichts, theils in denen der Sittlichkeit nicht zu verkennen ist. Das Wohlleben wie die Dürftigkeit haben Gefahren für die Jugend. Daher lehnen sich die Familien auf den Staat mehr als sie sollten.

§ 187. 334.]

Privat-Erziehungs-Anstalten besitzen in sich weder die Triebkraft des Staats noch der Familien; und können sich selten zur Unabhängigkeit von den Vergleichungen erheben, denen sie ausgesetzt sind, indem sie hier die Stellen der Schulen, dort der Familien vertreten sollen.

Jedoch bey rüstigen Naturen, welchen die Nacheiferung der Schulen nicht nöthig ist, kann ihr Unterricht schneller gedeihen, und der In- dividualität besser angepasst werden als dort; in Hinsicht der Zucht lassen sich die Uebel, welche von der Umgebung herrühren können, besser ver- meiden als es in manchen Familien möglich ist.

Stünde diesen Anstalten die Wahl frey unter vielen Lehrern und vielen Zöglingen: dann würden [98] sie unter übrigens günstigen Um- ständen Grosses zu leisten vermögen. Allein schon die Bedingung aus- gewählter Zöglinge zeigt, dass damit dem Ganzen des Erziehungs- Be- dürfnisses wenig geholfen wäre. Und auch die Ausgewählten würden schon die frühesten Eindrücke mitbringen; sie würden den geselligen Verhältnissen für die sie bestimmt zu seyn glaubten, sich zuneigen; die Fehler der Individualität 145 u. s. w.) [II. Ausg. = § 294 u. s. w.] würden ihnen an- hängen, wenn man sie nicht vor der Auswahl erkannt, und durch Aus- schliessung vermieden hätte.

§ 188. 335-] Soviel möglich also muss die Erziehung zu den Familien zurückkehren. Dabey können in vielen Fällen Hauslehrer nicht entbehrt werden. An

5. Abschnitt. Vom Veranstalten der Erziehung. 2. Cap. Von Schulen. n?

solchen, welche mit ausgezeichneten Schulkenntnissen versehen sind, kann es um desto weniger fehlen, je mehr die Gymnasien leisten.

Auch ist zu bemerken, dass der gelehrteste Unterricht nicht etwa der schwerste, sondern der leichteste ist, weil er mit der geringsten Ver- änderung so wieder gegeben wird, wie er empfangen war. Es ist daher eine Täuschung, wenn man Hauslehrer überhaupt nur dazu fähig glaubt, die untersten Gymnasialklassen zu ersetzen. Die weit grössere Schwierig- keit liegt darin, dass sie (auch die Geschicktesten und Thätigsten) nicht so viel Lehrstunden geben können als eine Schule darbietet; daher mehr eigne Arbeit des Zöglings nöthig wird. Ge-[99]rade dies sagt indess fähigen Köpfen besser zu, als ein Unterricht, der sich Vielen anbequemen muss und deshalb langsam fortschreitet.

§ 189. 336.]

Familien -Erziehung setzt aber voraus, dass in den Häusern richtige pädagogische Begriffe erworben seyen, und dass nicht Grillen oder halbe Kenntnisse deren Stelle einnehmen.

(Niemeyers berühmtes Werk, die Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts, ist jedem Gebildeten verständlich, und schon längst weit ver- breitet.)

§ 190- 337-] Dies ist um desto nöthiger, wenn die Lehrer, seyen es Hauslehrer oder Schullehrer, häufig wechseln, und dadurch Ungleichheiten im Unter- richt und in der Behandlung eintreten, denen nachgeholfen werden muss.

Zweytes Capitel. Von Schulen.

§ 191. 338.]

Das Schulwesen, und dessen Verbindungen mit Communalbehörden einerseits, mit der Staats-Regierung andererseits, bilden einen grossen und schwierigen Gegenstand; der nicht bloss von pädagogischen Principien ab- hängt, sondern auch die Aufrechthaltung des gelehrten Wissens, die Ver- breitung [100] nützlicher Kenntnisse, die Ausübung unentbehrlicher Künste zum Zwecke hat. In akademischen Vorlesungen genügen darüber wenige Worte, da junge Männer, die ein Schulamt übernehmen, zugleich in Ver- pflichtungen eintreten, wodurch ihnen der Weg, den sie gehen sollen, auf lange Zeit vorgezeichnet wird.

§ i92- 339-]

Zuerst haben sie den Charakter der Schule, an der sie unterrichten

wollen, ins Auge zu fassen. Der Lehrplan zeigt ihnen die Ausdehnung

des Unterrichts, und das angenommene Verhältniss der Lehrfächer; auch

die verschiedenen Stufen für jeden Gegenstand. Die Lehrer -Conferenz

IZA VI. Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835.

eröffnet ihnen den Blick auf mancherley Verhältnisse zu Behörden, zu Eltern und Vormündern, zu den Schülern; welche ein mehr oder weniger vollkommenes Zusammenwirken der Lehrer veranlassen. Das Ganze des Wirkens auf die jungem, mittlem, altern Schüler trit hier auf einmal vors Auge; und zugleich wird bekannt sevn, von wo, mit welcher Vorbereitung, die Schüler kommen, und wohin sie abzugehen pflegen.

§ 193- 340.] Offenbar müssen nun grosse Unterschiede entstehen, wenn den Schülern entweder die Universität vorschwebt, oder das Gymnasium von Schülern, die nicht studieren wollen, angefüllt ist; desgleichen wenn eine Bürgerschule entweder eine Abiturienten- Prü-[ioi]fung hat, die ihr ein bestimmtes Ziel setzt, bis wohin sie die allgemeine Bildung zu führen be- reit seyn soll, oder ihre Schüler ohne bestimmte Gründe nach Gutdünken der Familien kommen und abgehen; ferner wenn eine Elementarschule entweder bloss als Vorschule für Gymnasien und Bürgerschulen arbeitet, oder aber dem künftigen Handwerker eine ihm angemessene Bildung während des ganzen Knabenalters darbietet, u. s. f.

§ 194- 34I-] In jedem Falle soll die übernommene amtliche Thätigkeit zweck- mässig hineinpassen in ein Ganzes, dessen Umriss gegeben ist. Danach bestimmt sich die Abmessung und Eintheilung des gelehrten Vorraths, welcher bereit liegen muss; der Grad von Vertrauen zu schon vor- handenen Kenntnissen, welches den Schülern zu zeigen ist; der Ton, in welchem sie anzureden sind. Es kommt darauf an, hinreichend vor- bereitet mit sicherer Haltung vor ihnen aufzutreten, auf Alle, die auf- merksamen Blicke zu vertheilen, und Jeden sogleich fühlen zu lassen, dass er nicht leicht irgend etwas unbeachtet werde vornehmen können.

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§ 195- 342.]

Die Fragen an die Schüler müssen deutlich und präcis abgefasst, einander in bequemer Ordnung folgen; die Antworten müssen berichtigt, und wo nöthig dergestalt wiederhohlt werden, dass Alle sie [102] ver- nehmen; keine Pause darf lang, keine Erklärung an die Schwäch ern drückend langweilig werden für die Geübteren; diejenigen, welche eben jetzt in Thätigkeit sind, müssen unterstützt, aber nicht durch vieles Zwischen- reden gestört; der Zug der Gedanken muss für Alle ermuntert und be- schleunigt, aber nicht übereilt werden, u. s. f.

Solchen Foderungen wird der Unterricht leichter oder schwerer ent- sprechen, je mehr oder weniger zahlreich und ungleich die Schüler sind.

§ 196. 343-] In den aufzugebenden Arbeiten müssen die Fähigkeiten jedes Schülers möglichst berücksichtigt werden; damit keiner sich dem Unmuthe über zu grosse Foderungen hingebe, keiner auch sich erlaube, eine zu leichte Auf- gabe sorglos zu mishandeln.

5. Abschnitt. Vom Veranstalten der Erziehung. 2. Cap. Von Schulen. i 2 c

§ 197. 344-]

Bey veränderten Zusammenstellungen der Schüler nach Klassen (oder wie sonst), muss die Ungleichhheit möglichst deutlich nachgewiesen werden, um zur besseren Vertheilung aufzufodern, und die gar zu grosse Anzahl zu vermeiden.

§ 198. 345-]

Während solcher allmählich fortschreitenden Bemühungen wird manches, was die Schule drückt, zum Vorschein kommen. Es kann sich z. B. finden, dass die Schule ihrer Natur nach kein Ganzes ist, [103] wenn ihr für ein wichtiges Fach ein tüchtiger Lehrer fehlt, oder wenn aus den Vor- schulen eine grosse Ungleichheit der Kenntnisse und der Bildung her- vorgeht; oder wenn sie (wie die Schulen in kleinen Städten) eigentlich Bürgerschule seyn soll, und doch Gymnasial -Unterricht treibt, u. d. gl.

§ 199- 346.] Aus der Anzeige solcher einzelnen Fehler werden meistens auch die Verbesserungen des Schulwesens nur vereinzelt, und den drückendsten Verlegenheiten abhelfend hervorgehen; da es selten möglich gefunden wird, das Schulwesen einer ganzen Provinz auf einmal so einzurichten, dass Alles zusammenpasse.

§ 200. 347.]

Bey umfassenden Verbesserungen aber würde man eine grosse Viel- förmigkeit des Schulwesens nicht bloss dulden, sondern beabsichtigen müssen. Denn Theilung der Arbeit ist in allen menschlichen Leistungen der Weg zum Bessern; und wieviel an genauerer Sonderung der Schüler gelegen ist, muss aus dem Vorhergehenden hinreichend klar seyn.

Anhang.

[27] Zweyter Theil.1

Umriss der allgemeinen Pädagogik.

[§§ 45— 194-]

Erster Abschnitt.

Regierung der Kinder.

Erstes Capitel. Anordnung.

§ 45- Vorausgesetzt wird die nöthige Wartung und Pflege zum körper- lichen Gedeihen; ohne Verweichlichung und ohne gefährliche Abhärtung. Kein wirkliches Bedürfniss darf die Kinder verleiten ; keine Verwöhnung darf unnöthige Ansprüche erzeugen; wieviel Abhärtung zu wagen sey, muss die Constitution eines Jeden bestimmen.

§ 46. Die Grundlage der Regierung besteht darin, die Kinder zu be- schäfltigen. Dabey wird hier noch auf keinen Gewinn für Geistesbildung gesehen; die Zeit soll jedenfalls ausgefüllt seyn, wenn auch ohne weitern Zweck, als nur, Unfug zu vermeiden. Hierin liegt jedoch die Foderung, dass dem Bedürfniss körperlicher Bewegung, in so weit die jedesmalige Altersstufe es mit sich bringt, Genüge geschehe; schon um die natürliche Unruhe, welche daraus entsteht, [28] abzuleiten. Das Bedürfniss ist nicht bei Allen gleich gross; es giebt Individuen, welche unbändig erscheinen, weil man sie zum Sitzen zwingt.

§ 47- Selbstgewählte Beschäftigungen haben zwar, wenn alles Uebrige gleich ist, den Vorzug; allein selten weiss die Jugend sich hinreichend und an- haltend zu beschäfftigen. Bestimmte Aufgaben, dies oder jenes zu thun, bis es fertig ist, sichern die Ordnung besser, als regelloses Spielen, welches

1 Die folgenden drei ersten Abschnitte des II. Theils sind Zusätze der II. Aus- gabe. Siehe vorl. Ausgabe S. 83. AnmerkuDg.

i. Abschnitt. Regierung der Kinder. 2. Cap. Ausführung. 137"

in Langerweile zu endigen pflegt. Wünschenswerth ist, dass Erwachsene, welche Geduld genug besitzen, wenn nicht immer doch häufig, den jugend- lichen Spielen nachhelfen, Bilder erklären, erzählen und sich wieder er- zählen lassen, u. d. gl. Bey vorrückendem Alter nimmt ein immer grösserer Theil der Beschäfftigungen die Form des Unterrichts oder der davon aus- gehenden Uebungen an; alsdann darf das nöthige Gegengewicht der Er- hohlungen nicht vernachlässigt werden.

§ 48.

Den Beschäfftigungen schliesst sich die Aufsicht an; und mit ihr ein mannigfaltiges Gebieten und Verbieten; wobey Verschiedenes zu über- legen ist.

Zuerst dies : ob auch Umstände eintreten können, unter welchen man das Gebot zurücknehmen, das Verbotene erlauben würde? Es ist mislich, den Befehl allgemein auszusprechen, als er gelten soll; [29] es schwächt die Regierung, dem Bitten, den Thränen, vollends dem Ungestüm der Kinder nachzugeben.

Dann die Frage: ob man im Stande sey, den Gehorsam zu sichern? Sind die Kinder nicht beschäfltigt, und ohne Aufsicht, so wird diese Frage bedenklich.

Die Bedenklichkeit wächst in schneller Progression mit der Anzahl der Kinder; also besonders in grössern Erziehungs - Anstalten ; auch schon in Schulen, wegen des Kommens und Gehens der Schüler.

§ 49-

Die gewöhnliche Folge ist, dass man die Aufsicht so streng als mög- lich einzurichten sucht. Allein dabey ist Gefahr, den gutwilligen Gehor- sam vollends zu verlieren, und die Schlauheit zum Wettstreit zu reizen.

Was das Erste betrifft, so kommt es auf das Verhältniss an, zwischen dem Zwange und der noch übrigen Freyheit. Die Jugend lässt sich ge- wöhnlich viele Einschränkungen gefallen, wenn diese Einschränkungen be- stimmte und veste Puncte treffen, und daneben noch ein unbestimmter Raum für die Willkühr offen bleibt.

Was das Zweyte verlangt; so kann schwerlich irgend ein Aufseher sich ganz auf sich allein verlassen; am wenigsten, wenn er nur zu be- stimmten Zeiten erscheint. Andre Personen müssen ihm zu Hülfe kommen, und er selbst muss manchmal überraschen. [30] Immer ist die Aufsicht ein Uebel, wenn sie unnöthiges Mistrauen zeigt; und dagegen sehr nöthig, Denen, welche das Mistrauen nicht verdienen, begreiflich zu machen, dass sie es nicht sind, gegen welche man seine Maassregeln nimmt.

Zweytes Capitel. Ausführung.

§ 5°- Da die Aufsicht nicht bis zum beständig fühlbaren Druck gesteigert werden darf, so sind sanfte und unsanfte Mittel nöthig, um der Kinder-

j ig Anhang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

Regierung Nachdruck zu geben. Im Allgemeinen ergiebt sich dieser Nachdruck aus der natürlichen Ueberlegenheit des Erwachsenen. Eben hieran aber rnuss zuweilen erinnert werden. Schon mit der Aufsicht, wie sie auch eingerichtet seyn möge, muss ein entsprechendes Verfahren gegen die Zöglinge verbunden werden. Nicht über die Folgsamen, wohl aber in Ansehung deren, die wiederhohlten Ungehorsam zeigten, muss in Schulen ein Buch geführt werden, um aufzuzeichnen, was sie verfehlten. Hier ist noch nicht von Censuren in Bezug auf eigentliche Erziehung die Rede, sondern nur von dem, was man gewöhnlich Disciplin zu nennen pflegt, während es in der That nur die gute Ordnung einer Schule betrifft, von welcher die Schüler sich sollen regieren lassen.

[31] In der häuslichen Erziehung wird eine selche Buchtührung selten nöthig, doch zuweilen nützlich seyn; der einzelne Zögling weiss zwar ohne- hin, dass man ihn nicht aus den Augen verliert; allein es verstärkt die Erinnerung, wenn die Verweise, die er sich zuzieht, aufgezeichnet werden.

§ 51.

Die körperlichen Züchtigungen, welche da einzutreten pflegen, wo Verweise nicht mehr helfen, würde man umsonst ganz zu verbannen suchen; sie müssen aber so selten seyn, dass sie mehr aus der Ferne ge- fürchtet, als wirklich vollzogen werden.

Es schadet dem Knaben nicht, wenn er sich erinnert, als Kind ein- mal die Ruthe bekommen zu haben. Es schadet ihm auch nicht, wenn er die Unmöglichkeit, jetzt noch Stockschläge zu bekommen, in gleichen Rang stellt mit der Unmöglichkeit, dass Er selbst eine solche Behand- lung sich zuziehen könnte. Aber schaden würde ihm allerdings eine so heftige Reizung des Ehrgefühls, wenn er schon den körperlichen Schmerz wenig achten möchte. Und im höchsten Grade verderblich ist, was gleich- wohl noch hie und da vorkommt, wenn Kinder, die schon gegen Schläge abgehärtet sind, noch von neuem geschlagen werden. Die roheste Un- empfindlichkeit ist die Folge; und kaum zu hoffen, dass eine lange Nach- sicht, die nun unvermeidlich wird, das natürliche Gefühl wieder aufkommen lassen könne.

[32] Etwas anders verhält es sich, den Hunger auf einige Stunden wirken zu lassen. Hier geschieht nur eine Entziehung, aber keine un- mittelbar empörende Handlung.

Bekanntlich aber ist Beraubung der Freyheit die gewöhnliche Züch- tigung; und mit Recht, falls sie gehörig dem Vorgehen angepasst wird. Auch lässt sie die mannigfaltigsten Abstufungen zu; von dem kleinen Knaben, rden man in den Winkel stellt, bis zur Einsperrung in ein finsteres Zimmer, wohl gar mit auf den Rücken gebundenen Händen. Nur darf, ver- schiedener Bedenklichkeiten wegen, die Strafe nicht lange dauern; eine ganze Stunde ist schon viel, wenn nicht Aufsicht hinzukommt; auch muss der Platz gehörig gewählt werden.

§ 52.

So harte Züchtigungen, wie Entfernung vom Hause, Ausschliessung aus einer Lehranstalt, wird man nur in äussersten Nothfällen anwenden; besonders da sichs fragt, wo denn der Ausgeschlossene bleiben, ob er

I.Abschnitt. Regierung der Kinder. 2. Cap. Ausführung. nn

etwan einer andern Lehranstalt zur Last fallen soll? Wofern mit der Ver- setzung zugleich Freyheit an einem neuen Orte eintrit, so wird meistens die alte Unordnung sich erneuern. Es muss also in solchen Fällen eine sehr strenge Aufsicht, verbunden mit neuen Beschäftigungen, hinzukommen ; eine neue Umgebung muss den alten verdorbenen Gedankenkreis in Ver- gessenheit bringen.

§ 53- [33] Dass Auctorität und Liebe die Regierung mehr sichern als alle harten Mittel, ist sehr bekannt. Auctorität aber kann sich nicht Jeder nach Belieben schaffen; es gehört dazu sichtbare Ueberlegenheit des Geistes, der Kenntnisse, des Körpers, der äusseren Verhältnisse: Liebe gutartiger Zöglinge zu erwerben, ist zwar durch ein gefälliges Betragen im Laufe einer längern Zeit möglich; aber gerade da, wo die Regierung am nöthigsten wird, hört die Gefälligkeit auf, und die Liebe darf nicht durch schwache Nachsicht erkauft werden; sie hat nur einen Werth, wenn sie mit nothwendiger Strenge besteht.

§ 54-

Im Ganzen genommen ist die Regierung im frühern Kindes-Alter, wenn man nicht Kränklichkeit zu schonen hat, leicht; und nachdem ein- mal an Folgsamkeit gewöhnt worden, lässt sich die Regierung auch leicht fortsetzen ; nur darf sie nicht unterbrochen werden. Sind aber die Kinder auch nur kurze Zeit (wenige Tage) sich selbst oder fremden Personen überlassen gewesen, so wird die Veränderung schon merklich; es kostet Mühe, die Zügel wieder anzuziehn; und es darf nicht zu plötzlich geschehn.

Wo die Jugend einmal verwildert, und soll sie nur wieder in Ord- nung gebracht werden, so zeigt sich die Verschiedenheit der Individuen. Einige lassen sich bei massiger Nachsicht durch ein freund-[34]liches Be- tragen zu zweckmässiger Beschaff tigung zurückführen; einige sind besonnen genug, um Drohungen zu fürchten, Strafen zu vermeiden; aber es ist zu besorgen, dass man Einzelne finden werde, die nur darauf sinnen, der Aufsicht zu entgehen, sollten sie auch in eine peinliche Lage gerathen.

Wo Familien-Anhänglichkeit fehlt, kann die Gefahr schon im Knaben- alter schnell wachsen, im Jünglingsalter die Schwierigkeit unüberwindlich werden.

§ 55- In der Regel muss man darauf gefasst seyn, dass die Jugend ver- suchen werde, die Schranken zu erweitern, sobald sie dieselben empfindet. Ist sie nach Wunsch beschäfftigt, und sind die Schranken gleichförmig vest, so werden die Versuche dagegen zwar bald aufgegeben, aber sie er- neuern sich. Bey zunehmenden jähren ändern sich die Beschäfftigungen ; und die Schranken müssen allmählig erweitert werden. Es kommt nur darauf an, ob inzwischen die Erziehung weit genug vorgeschritten sey, da- mit die Regierung entbehrlicher werde. Alsdann richten sich die ge- wünschten Beschäfltigungen nach den Aussichten, die ein junger Mensch seinem Stande und Vermögen gemäss, in Verbindung mit natürlichen Fähigkeiten und erworbenen Kenntnissen, für seine Zukunft geöffnet findet. Solche, für ihn zweckmässige Beschäfftigungen zu begünstigen, hingegen

140 Anbang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

die blossen Liebhabereyen und Geniessungen auf das Unschäd-[35]liche zu beschränken, bleibt auch jetzt noch das Amt der Regierung, die nicht zu früh ganz darf aus den Händen gegeben werden; besonders dann nicht, wenn die Umgebung so beschaffen ist, dass sie Verführung besorgen lässt.

Zweyter Abschnitt. Unterricht.

Erstes Capitel. Vom Verhältnisse des Unterrichts zur Regierung und Zucht.

§ 56.

Von den Beschäftigungen, worauf die Regierung der Kinder beruhet, bietet der Unterricht einen Theil dar, welcher nach Verschiedenheit der Umstände grösser oder kleiner ist.

Die Kinder müssen in jedem Falle beschäfftigt seyn, weil der Müssig- gang zum Unfug und der Zügellossigkeit führt. Besteht nun die Be- schäfftigung in nützlicher Arbeit, (etwa Handwerks- oder Feld -Arbeit,) desto besser. Und noch besser, wenn durch die Beschäfftigung etwas ge- lehrt und gelernt wird, welches zur Bildung für die Zukunft beyträgt. Aber nicht alle Beschäfftigung ist Unterricht; und wo schon die Regierung der Kinder schwierig wird, da ist nicht immer das Lernen die passendste Be-[3Ö]schäfftigung. Manche heranwachsende Knaben kommen eher in Ordnung beym Handwerker oder beym Kaufmann oder beym Oekonomen, als in der Schule. Die Regierung hat einen weitern Umfang als der Unterricht.

§ 57-

Der Unterricht hat das mit der Zucht gemein, dass beyde für die Bildung, also für die Zukunft wirken, während die Regierung das Gegen- wärtige besorgt. Hier aber ist eine Unterscheidung nöthig; denn bey weitem nicht aller Unterricht ist pädagogisch. Was des Erwerbs und Fortkommens wegen, oder aus Liebhaberey gelernt wird, dabey kümmert man sich nicht um die Frage: ob dadurch der Mensch besser oder schlechter werde. Wie er nun einmal ist, so hat er, gleichviel ob zu guten, schlechten, gleichgültigen Zwecken, die Absicht, Solches oder An- > deres zu lernen; und für ihn ist derjenige Lehrmeister der rechte, der ihm /uto, cito, iucunde, die verlangte Geschicklichkeit beybringt. Von solchem Unterricht wird hier nicht geredet, sondern nur vom erziehenden Unterricht.

§ 58.

Der Werth des Menschen liegt zwar nicht im Wissen, sondern im Wollen. Aber es giebt kein selbstständiges Begehrungsvermögen; sondern das Wollen wurzelt im Gedankenkreise; das heisst, zwar nicht in den Einzelheiten dessen, was Einer weiss, [$j] wohl aber in der Verbindung

2. Abschnitt. Unterricht. I. Cap. Vom Verhältnisse des Unterrichts etc. 141

s

und Gesammtwirkung der Vorstellungen, die er erworben hat. Aus dem- selben Grunde nun, weshalb in der Psychologie eher vom Vorstellen als vom Begehren und Wollen gehandelt wird, muss in der Pädagogik die Lehre vom Unterricht vorangehn, und die Lehre von der Zucht ihr nachfolgen.

Anmerkung. Früher unterschied man nicht einmal die Regierung von der Zucht; so offenbar es auch ist, dass Gegenwärtiges dringender ist als Künftiges. Noch weniger fand der Unterricht seine rechte Stelle; das Mehr oder Weniger des Wissens, als Nebensache im Vergleich mit der persönlichen Ausbildung betrachtet, kam zuletzt an die Reihe, nachdem zuvor von der Erziehung war gehandelt worden, wie wenn diese ohne Unterricht bestehn könnte. In den letzten Decennien dagegen verlangte man eine verstärkte Thätigkeit der Schulen, zunächst den Gymnasien. Die Humaniora sollten Humanität bringen. Man begriff, dass von Seiten der Kenntnisse dem Menschen leichter beyzukommen ist, als von der Seite der Gesinnungen ; und dass über die ersten examiniert werden kann, nicht aber in Ansehung der zweyten. Nun wurde dem Unterricht die Zeit zu kurz, was die alten lateinischen Schulen wenig gefühlt hatten. Nun beratschlagte man über das Mehr oder Minder für jede Wissen- schaft. Wir werden uns vorzugsweise mit der Verbindung der Studien [38] beschäftigen, denn was einzeln stehen bleibt, hat wenig Bedeutung.

§ 59-

Dem erziehenden Unterrichte liegt alles an der geistigen Thätigkeit, die er veranlasst. Diese soll er vermehren, nicht vermindern: veredeln, nicht verschlechtern.

Anmerkung. Verminderung entsteht, wenn unter vielem Lernen, Sitzen, besonders unter dem oft unnützen Schreiben in allerley Schul- büchern — die Körperbildung in solcher Art leidet, dass früher oder später Nachtheile für die Gesundheit erfolgen. Daher neuerlich eine Be- günstigung gymnastischer Uebungen, bey denen aber die Heftigkeit der Bewegungen kann übertrieben werden. Verschlechterung entsteht, wenn das Wissen zur Ostention und zur Erlangung äusserer Vortheile dient; die nachtheilige Seite mancher öffentlichen Prüfungen. Die Schulen sollten nicht genöthigt seyn, Alles zu zeigen, was sie leisten. Wenn der Unter- richt auf solche Weise gegen seinen Zweck wirkt; so setzt er sich über- dies mit der Zucht in Widerstreit, welche für die ganze Zukunft des Zög- lings dahin zu sehen hat, nt sit mens sann in corpore sano.

§ 60. Wäre alle geistige Thätigkeit von einerley Art, so wäre es gleichgültig, mit welchen Gegenständen [39] der Unterricht die Jugend beschäftigte. Das Gegentheil ergiebt sich schon aus der Erfahrung, welche zeigt, dass die Talente der Menschen mannigfaltig verschieden sind. Der Unterricht darf aber auch nicht so verschieden seyn, wie die hervorragenden Talente; wie schon daraus erhellet, dass, alsdann Alles, was in jedem Zöglinge sich minder regt, bey ihm ganz vernachlässigt und vielleicht erdrückt werden würde. Vielmehr muss der Unterricht mannigfaltig, und mit dieser Mannig-

142 Anhang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

faltigkeit für Viele in so fern gleichartig seyn, als er dazu beytragen kann, das Ungleiche in den geistigen Richtungen zu verbessern.

§ 61.

Es ist also nicht der Willkühr und der Convenienz zu überlassen, was gelehrt und gelernt werden solle; und hiedurch unterscheidet sich der Unterricht auffallend von der Regierung der Kinder; indem für diese ziemlich einerley ist, womit man beschäftige, wenn nur dem Müssiggange vorgebeugt wird.

Anmerkung. Aus manchen Häusern werden die Kinder nur darum in die Schule geschickt, weil sie im Wege sind, und nicht müssig sein sollen. Da wird die Schule so angesehen, als ob sie vorzugsweise regieren, dann auch gelegentlich etwas Nützliches beybringen sollte; ohne Begriff von wahrer geistiger Bildung. Umgekehrt bemerken die Schu-[40]len nicht immer, dass sie doch auch beschäftigen, und dass in der Beschäftigung Maass zu halten nöthig ist.

Zweytes Capitel. Zweck des Unterrichts.

§ 62.

Der letzte Endzweck des Unterrichts liegt zwar schon im Begriffe der Tugend. Allein das nähere Ziel, welches, um den Endzweck zu er- reichen, dem Unterricht insbesondre muss gesteckt werden, lässt sich durch den Ausdruck: Vielseitigkeit des Interesse, angeben. Das Wort Interesse bezeichnet im Allgemeinen die Art von geistiger Thätigkeit, welche der Unterricht veranlassen soll; indem es bey dem blossen Wissen nicht sein Bewenden haben darf. Denn dieses denkt man sich als einen Vorrath, der auch mangeln könnte, ohne dass der Mensch darum ein Anderer wäre. Wer dagegen sein Gewusstes vesthält und zu erweitern sucht, der interessiert sich dafür. Weil aber diese geistige Thätigkeit mannigfaltig ist, 60), so muss die Bestimmung hinzukommen, welche in dem Worte Vielseitigkeit liegt.

§ ö3.

Man kann zwar ein mittleres Interesse vom unmittelbaren unter- scheiden. Allein das mittelbare In-[4o]teresse führt, je mehr es vorherrscht, aut Einseitigkeit, wo nicht gar auf Egoismus. Den Egoisten interessiert Alles nur in so weit, als es ihm Vortheil oder Nachtheil bringt. Der Einseitige nähert sich dem Egoisten, auch wenn er es selbst nicht merkt; denn er bezieht Alles auf den engen Kreis, für den er lebt und denkt. In diesem Kreise liegt nun seine geistige Kraft; was ihn als Mittel zu seinen beschränkten Zwecken interessiert, wird Last für jene Kraft.

§ 64. In Ansehung des Begriffs der Tugend ist zu erinnern, dass zwar Vielseitigkeit auch des unmittelbaren Interesse, wie es der Unterricht er-

2. Abschnitt. Unterricht. 3. Cap. Bedingungen der Vielseitigkeit. 143

zeugen soll, noch lange nicht Tugend ist : dass aber umgekehrt, je geringer die ursprünglich geistige Thätigkeit, desto weniger an Tugend vollends in der Mannigfaltigkeit ihres möglichen Wirkens zu denken ist. Stumpf- sinnige können nicht tugendhaft seyn. Die Köpfe müssen geweckt werden. Anmerkung. Schon oben 17) ist bemerkt, dass für den Er- zieher die Idee der Vollkommenheit unter den übrigen praktischen Ideen hervortrit als die nächste, welche er zu beachten hat. Nun kommt für diese Idee dreyerley in Betracht: Energie, Ausbreitung, Verbindung der geistigen Strebungen.* [42] Die Energie wird durch das Wort Interesse angezeigt; die Ausbreitung kommt der Vielseitigkeit zu; was die Verbindung anlangt, so wird hierüber das Nähere sogleich folgen.

§ 65.

Nicht bloss Einseitigkeit, sondern auch Zerstreuung ist ein Gegentheil der Vielseitigkeit. Tugend ist Eigenschaft der Person; Vielseitigkeit soll Grundlage der Tugend seyn; gewiss also darf die Einheit des persönlichen Bewusstseins nicht darunter leiden. Der Unterricht soll die Person viel- seitig bilden, also nicht zerstreuend wirken; und er wird es nicht bei Demjenigen, der ein wohl geordnetes Wissen in allen Verbindungen mit Leichtigkeit überschaut und als das Seinige zusammenhält.

Die beyden Begriffe der Vielseitigkeit und das Interesse müssen jetzt mit den nöthigen praktischen Bemerkungen begleitet werden.

Drittes Capitel.

Bedingungen der Vielseitigkeit.

§ 66. Es leuchtet sogleich ein, dass eine vielseitige Bildung nicht schnell kann geschafft werden. Schon das Viele kann nach einander gewonnen seyn; alsdann aber soll noch die Vereinigung, Uebersicht, Zueignung er- folgen (§ 65). Darum ein Wechsel der [43] Vertiefung und Besinnung. Denn wie die Auffassung des Mannigfaltigen nur allmählig geschehn kann, so auch die Vereinigung.

§ 67.

Man findet Lehrer, welche den grössten Werth auf pünktliches Aus- einandersetzen des Kleinern und Kleinsten legen; und auf ähnliche Weise das Gesagte von den Schülern wiederhohlen lassen. Andre unterrichten lieber gesprächsweise; und vergönnen auch ihren Schülern viel Freyheit im Ausdruck. Noch andre verlangen vorzugsweise die Hauptgedanken; diese aber in genauer Bestimmtheit und vorgeschriebenem Zusammen- hange. Manche endlich sind nicht eher zufrieden, als bis ihre Schüler sich im regelmässigen Denken selbstthätig üben.

Hieraus können zwar verschiedene Lehrweisen entstehn; es ist aber

Praktische Philosophie im zweyten Capitel. [= Band vorl. Ausg.].

jii Anhang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

nicht nüthig, dass eine derselben als Gewöhnung vorherrsche und die andern ausschliesse ; vielmehr kann man fragen, ob nicht jede derselben zur vielseitigen Bildung einen Beytrag leiste? Denn wie Vieles soll ge- fasst werden, da bedarf es der Auseinandersetzung, um nicht in Ver- wirrung zu gerathen; weil es aber auch der Vereinigung bedarf, so mag diese gesprächsweise beginnen, durch Hervorheben der Hauptgedanken fortschreiten, im regelmässigen Selbstdenken sich vollenden. Klarheit, Association, System, Methode.

[44] § 68.

Bey näherer Betrachtung findet sich, dass diese verschiedenen Lehr- weisen einander nicht ausschliessen dürfen, dass sie vielmehr bey jedem, kleinern oder grössern, Kreise von Lehr- Gegenständen einander folgen müssen; und zwar in der angegebenen Ordnung. Denn:

Erstlich der Anfänger kann nur langsam gehn; und die kleinsten Schritte sind für ihn die sichersten; er muss bey jedem Puncte so lange verweilen, als für ihn nöthig ist, um das Einzelne bestimmt aufzufassen. Während dieser Verweilung muss er seine Gedanken ganz darauf richten. Daher beruht für den ersten Anfang die Lehrkunst vorzüglich darauf, dass der Lehrer den Gegenstand in die kleinsten Theile zu zerlegen wisse, um nicht Sprünge zu machen, ohne es selbst zu merken.

Zweytens: was die Verbindung anlangt, so kann diese nicht bloss, und am wenigsten zuerst systematisch vollzogen werden. Im System hat jeder Punct seine bestimmte Stelle; an dieser Stelle ist er mit andern Puncten, die zunächst liegen, zunächst verbunden; aber auch von andern entferntem Puncten um eine bestimmte Distanz getrennt, und mit der- selben nur durch bestimmte Mittelglieder verbunden; auch ist die Art dieser Verbindung nicht überall die nämliche. Ueberdies soll ein System nicht bloss gelernt, sondern auch gebraucht, angewendet, oftmals durch neue Zusätze, welche an gehörigen Orten [45] einzuschalten sind, vervoll- ständigt werden. Dies erfodert, dass man geübt sey, von jedem beliebigen Puncte ausgehend zu jedem andern vorwärts oder rückwärts oder seitwärts die Gedanken zu bewegen. Darum soll ein System theils vorbereitet, theils eingeübt werden. Die Vorbereitung liegt in der Association, die Uebung im methodischen Denken muss nachfolgen.

§ 69.

Für den Anfang, solange Klarheit des Einzelnen die Hauptaufgabe ist, passen kurze, möglichst verständliche Worte, und es wird oft rathsam 1 seyn, diese von einigen, (wo nicht von allen) Schülern sogleich, nachdem sie gesprochen worden genau wiederhohlen zu lassen. (Bekanntlich ist sogar taetmässiges Zugleich -Sprechen aller Schüler, nicht ganz ohne Er- folg, in manchen Schulen versucht worden; und für die ersten Stufen des Unterrichts jüngerer Kinder kann es mitunter zweckmässig seyn).

Für die Association ist freies Gespräch die beste Weise; weil hiedurch der Lehrling Gelegenheit bekommt, die zufällige Verbindung der Gedanken zum Theil so, wie es ihm gerade am leichtesten und bequemsten fällt, zu versuchen, zu verändern, zu vervielfältigen; und nach seiner Art sich

2. Abschnitt. Unterricht. 4. Cap. Bedingungen des Interesse. 145

das Gelernte anzueignen. Dadurch wird der Steifheit vorgebeugt, welche aus dem bloss systematischen Lernen entsteht.

Dagegen verlangt das System einen mehr zusammenhängenden Vor- trag; und die Zeit des Vortrags muss sich von der Zeit der Wieder- holung bestimmter absondern. Durchs Hervorheben der Hauptgedanken wird das System den Vorzug geordneter Kenntnisse fühlbar machen; durch grössere Vollständigkeit die Summe der Kenntnisse vermehren. Beydes wissen die Lehrlinge nicht zu schätzen, wenn der systematische Vortrag zu früh kommt.

Uebung im methodischen Denken wird der Schüler durch Aufgaben, eigne Arbeiten, und deren Verbesserung erlangen. Denn hieran muss sich zeigen, ob der Lehrling die Hauptgedanken richtig gefasst hat, ob er sie in dem Untergeordneten wieder zu erkennen und darauf anzuwenden im Stande ist.

§ 70. Was hier von der anfänglichen Zerlegung und allmähligen Verbindung des Lehrstoffs gesagt worden, das passt im Kleinen und im Grossen auf die verschiedensten Lehr-Gegenstände und Fächer; es muss aber gemäss den Gegenständen und Alters -Stufen der Zöglinge noch mannigfaltige nähere Bestimmungen annehmen. Vorläufig ist im Allgemeinen daran zu erinnern, dass der Unterricht einen Theil der Beschäfftigungen übernimmt, welche schon der Regierung wegen nothwendig sind. 56.) Nun pflegt aber der Unterricht, je länger anhaltend er gegeben wird, um desto eher zu ermüden; wiewohl nach Verschiedenheit der Schüler mehr oder minder. Je mehr er sie ermüdet, desto weniger leistet er als Beschäfftigung. Schon hieraus erhellet die Nothwendigkeit der Pausen und der Abwechselungen. Ist der Schüler an bestimmten Gegenständen wirklich ermüdet, (nicht bloss unlustig,) so muss man, so weit thunlich, dies Gefühl erst vorüber- gehn, wenigstens sich mildern lassen, ehe man die nämlichen Gegenstände in etwas veränderter Form weiter bearbeitet. Damit hiezu Zeit genug sey, muss der systematische Vortrag in manchen Fällen weit später ein- treten als der erste Unterricht in den Elementen; und umgekehrt, die Elemente müssen oft in Hinsicht ihrer allerersten Anfänge weit früher wenigstens berührt werden, ehe an einen zusammenhängenden Unterricht zu denken ist. Manche Lehre will aus weiter Entfernung vorbereitet seyn.

Viertes Capitel. Bedingungen des Interesse.

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Interesse ist Selbsttätigkeit. Das Interesse soll vielseitig seyn; also verlangt man eine vielseitige Selbstthätigkeit. Aber nicht alle Selbst- thätigkeit ist erwünscht, sondern nur die rechte im rechten Maasse; sonst brauchte man lebhafte Kinder nur sich selbst zu überlassen; man brauchte

Herbart's Werke. X. IO

Izj.6 Anhang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

sie nicht zu erziehen und nicht einmal zu regieren. Der Unterricht soll ihre Gedanken und Bestrebungen richten, aufs Rechte lenken; indem das geschieht, macht er sie zum Theil passiv; aber die Passivität soll auch nicht erdrücken; vielmehr das Bessere anregen.

Hier ist eine psychologische Untersuchung nöthig; die zwischen ge- hobenen und frey steigenden Vorstellungen. Gehobene Vorstellungen zeigen sich im Aufsagen des Gelernten; frey steigende in den Phantasien und Spielen. Dasjenige Lernen, welches bloss zum Aufsagen führt, macht die Kinder grösstentheils passiv; denn es verdrängt, so lange es dauert, die Gedanken, welche sie sonst würden gehabt haben. Im Phantasiren und Spielen aber, also auch in demjenigen Unterricht, welcher hier nachklingt, ist die freye Thätigkeit vorherrschend.

Die angegebene Unterscheidung ist nicht so zu verstehen, als ob da- durch zwey Fächer gemacht würden, in welchen die Vorstellungen, ein für allemal gesondert, nothwendig stehen blieben. Aus solchen Vor- stellungen, welche gehoben werden müssen weil sie nicht von selbst kommen, können bey allmähliger Verstärkung frey steigende werden. Darauf ist aber nicht zu rechnen, wenn nicht der Unterricht es allmählig fortschreitend dahin bringt.

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§ 72-

Der Lehrer soll während des Unterrichts darauf achten, ob ihm die Vorstellungen der Schüler frey steigend entgegen kommen, oder nicht. Im ersten Falle nennt man sie aufmerksam, und der Unterricht hat ihr Interesse für sich. Im andern Falle ist zwar die Aufmerksamkeit noch nicht immer wirklich erloschen; auch lässt sie sich eine Zeitlang noch er- zwingen, bevor wirkliche Ermüdung eintrit; aber es schwebt in Frage, ob der Unterricht für die nämlichen Gegenstände künftig noch Interesse be- wirken könne.

Die Aufmerksamkeit ist für die Erziehung ein so wichtiger Gegen- stand, dass ihr eine ausführlichere Beobachtung muss gewidmet werden.

§ 73-

Zuerst ist das Aufmerken zu unterscheiden vom Merken; welches wiederum in doppeltem Sinne gebraucht wird. Etwas merken heisst spüren, was verborgen oder kaum wahrzunehmen ist; dies geschieht durch die Stärke der von innen entgegenkommenden Vorstellungen. Sieh etwas merken heisst einprägen; wie beym Memoriren geschieht.

Die Aufmerksamkeit im Allgemeinen ist die Aufgelegtheit einen Zu- wachs des vorhandenen Vorstellens zu erlangen. Diese ist entweder will- kührlich oder unwillkührlich. Die willkührliche hängt vom Vorsatze ab; der Lehrer bewirkt sie oft durch Ermahnungen oder Drohungen. Weit erwünschter und erfolgreicher ist die unwillkürliche Aufmerksamkeit; sie muss durch die Kunst des Unterrichts gesucht werden; in ihr liegt das Interesse, welches wir beabsichtigen.

§ 74- Die willkührliche Aufmerksamkeit zerfällt wieder in die primitive und die appereipirende. Die letztere ist es, welche beym Unterricht am

2. Abschnitt. Unterricht. 4. Cap. Bedingungen des Interesse. t 1 -

allermeisten wichtig wird; aber sie stützt sich auf jene erste, deren Be- dingungen auch fortwährend in Betracht kommen.

Apperception oder Aneignung geschieht durch früher erworbene, jetzt hinzutretende Vorstellungen; am stärksten (wiewohl nicht unbedingt am besten) durch die frev steigenden. Hievon ist weiterhin zu reden, (;$ 77); vorläufig ist klar, dass dem appercipirenden Aufmerken ein primitives muss vorausgesetzt werden; sonst wären die appercipirenden Vorstellungen niemals entstanden.

§ 75-

Das primitive oder ursprüngliche Aufmerken hängt zuerst ab von der Stärke der Wahrnehmung. Helle Farben, lautes Sprechen, wird leichter bemerkt als Dunkles und leise Töne. Allein man darf hieraus nicht schliessen, dass die stärksten Wahrnehmungen auch am zweck- mässigsten wären; denn sie stumpfen die Empfänglichkeit schnell ab; und im Laufe der Zeit können schwache Wahrnehmungen ein eben so starkes Vorstellen erzeugen als diejenigen, welche sich Anfangs aufdringen. Da- her muss schon hier ein mittleres Maass gesucht werden. Jedoch ist bey Kindern durchgehends die wirkliche sinnliche Anschauung, wäre es auch nur einer Abbildung, wenn der Gegenstand selbst nicht zu erlangen ist, der blossen Beschreibung vorzuziehn.

Wenn aber Vorstellungen von entgegengesetzter Art in den Köpfen der Schüler eben jetzt vorhanden sind wären sie auch durch den Unterricht selbst dargeboten worden, so wirken diese als Hindernisse wider das Neue, was nun sollte gemerkt werden. Gerade dies ist die Ursache, weshalb Klarheit der Auffassung nicht gewonnen wird, wenn der Unterricht zu schnell eins aufs andre häuft; und daher ist es nöthig, bey Anfängern Alles so sehr zu vereinzeln, zu zerlegen, und schrittweise durchzugehn, bis sie es bequem fassen können. 68.)

Ein anderes Hinderniss des Aufmerkens ist mehr vorübergehend, kann aber gleichfalls sehr schädlich werden. Es macht nämlich einen grossen Unterschied, ob die eben vorhandenen Vorstellungen unter sich im Gleichgewichte sind oder nicht. Lange Perioden im Sprechen und in Büchern werden schwerer aufgefasst als kurze, weil sie Vieles aufregen, was zwar zusammen gehört, aber eine Bewegung der Gedanken hervor- bringt, die nicht sogleich zur Ruhe kommt. Wie nun die gehörige Inter- punction beym Lesen und Schreiben muss beobachtet werden, und wie diese leichter wird in kurzen als in langen Perioden: so müssen über- haupt im Unterrichte gewählte Absätze und Ruhepuncte vorkommen, bey welchen der Schüler hinreichend verweilen kann. Sonst drängen die zu sehr angehäuften Gedanken auf das Nächstfolgende; dies wieder auf das Folgende; und es entsteht ein Zustand, wobey die Schüler endlich nichts mehr hören.

§ 76.

Will man nun die angegebenen vier Hauptpuncte Stärke des

sinnlichen Eindrucks, Schonung der Empfänglichkeit, Vermeidung des

schädlichen Gegensatzes gegen schon vorhandene Vorstellungen, Abwarten

des wiederhergestellten Gleichgewichts unter den aufgeregten Vorstellungen,

10

1^.8 Anhang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

alle zugleich im Unterricht beachten: so findet sich, dass es schwer hält, allen diesen Rücksichten zugleich zu genügen. Um die Empfäng- lichkeit zu schonen, darf man einerley nicht zu lange darbieten; die Ein- tönigkeit ermüdet. Aber springt man zu etwas Anderem über, so findet sich oft, dass dies dem Vorigen zu fremdartig ist, und dass die früheren Gedanken noch nicht weichen wollen. Wartet man zu lange, so wird der Vortrag schleppend ; bietet der Unterricht zu wenig Mannigfaltiges dar, so wird er langweilig; die Schüler denken an etwas Anderes, und hiemit ist ihr Aufmerken vollends verloren.

Es ist sehr nöthig, anerkannt musterhafte Schriftsteller zu studiren, um von ihnen zu lernen, wie sie den Schwierigkeiten ausgewichen sind. Für den Ton des früheren Unterrichts muss man sich besonders an populäre Autoren wenden, z. B. an den Homer, dessen Art zu erzählen dagegen für Herangewachsene, die sich noch nicht auf eine frühere Stufe zurückzuversetzen wissen, zu breit und zu kindlich ist. Doch lässt sich im Allgemeinen bemerken, dass Schriftsteller, deren Vortrag klassisch ist, nicht leicht Sprünge machen, aber auch nie ganz still stehn. Ihre Dar- stellung ist ein kaum merkliches, wenigstens immer bequemes Fortschreiten, wobey der nämliche Gedankenfaden lange vest gehalten, und dennoch allmählig bis zu den stärksten Contrasten fortgeführt wird. Schlechte Schriftsteller dagegen häufen die grellsten Gegensätze unbehutsam auf- einander, und erreichen nichts Anderes, als die natürliche Folge, dass entgegengesetzte Vorstellungen einander verdrängen und den Geist leer lassen. Dasselbe hat ein Lehrer zu fürchten, der durch bunten Vortrag glänzen will.

§ 77-

Das appercipirende oder aneignende Merken 74) ist zwar nicht das erste; doch zeigt es sich schon bey kleinen Kindern, wenn sie in einem, ihnen sonst unverständlichen Gespräch der Erwachsenen, einzelne bekannte Worte vernehmen, und laut wiederhohlen ; wenn sie, etwas später im Bilderbuche bekannte Gegenstände nach ihrer Weise benennen; noch später beym Lesenlernen, wenn sie aus dem Buche einzelne Namen herausreissen, womit ihre Erinnerung zusammentrifft; und so in unzähligen Beyspielen. Man sieht hier plötzlich Vorstellungen aus dem Innern hervorbrechen, um sich mit dem Gleichartigen, was sich eben darbietet, zu vereinigen. Eben dies Appercipiren nun muss während alles Unter- richts in beständiger Thätigkeit seyn. Denn der Unterricht hat nur Worte mitzutheilen; die Vorstellungen zu den Worten, worauf der Sinn -3 der Rede beruhet, müssen aus dem Innern des Hörenden kommen. Aber die Worte wollen nicht bloss verstanden seyn; sie wollen interessiren. Dazu gehört ein höherer Grad, und eine grössere Leichtigkeit der Apper- ception.

Gedichte, welche allgemein gefallen, wirken nicht dadurch, dass sie etwas Neues lehren. Was man schon weiss, das malen sie aus;* was

* Als Homer und Sophokles dichteten, da waren ohne Zweifel trojanische und thehanische Geschichten längst bekannt. Die grössten Dichter wählen historische Grundlagen.

2. Abschnitt. Unterricht. 4. Cap. Bedingungen des Interesse. 14g

jeder fühlt, sprechen sie aus. Die vorhandenen Vorstellungen werden ge- hoben, erweitert, und verdichtet; hiemit geordnet und verstärkt. Um- gekehrt, wo Fehler appereipirt werden (Druckfehler, Sprachfehler, unrichtige Zeichnungen, falsche Töne, u. d. gl.) da entsteht eine Störung im Ab- laufen der Vorstellungs- Reihen, die sich nun nicht gehörig verweben können. Hieraus lässt sich erkennen, wie der Unterricht wirken, und was er vermeiden muss, um zu interessiren.

Anmerkung. Das appereipirende Merken ist für den Unterricht so wichtig, dass hier noch etwas darüber soll beygefügt werden. Den höchsten Grad dieses Merkens bezeichnen die Worte Schauen, Spüren, Horchen, Tasten. Dabey ist die Vorstellung des Gegenstandes, welcher beobachtet wird, schon im Bewusstseyn gegenwärtig, auch die Vorstellung der Klasse von Wahrnehmungen, welche von ihm erwartet werden; es kommt nun auf die erfolgenden Wahrnehmungen an; auf ihre Gegen- sätze, Verbindungen, und Reproductionen; diese können ungehindert die von ihnen abhängenden Gemüthszustände bewirken; indem das Fremd- artige schon entfernt ist und fern gehalten wird. Man gehe von diesem höchsten Grade rückwärts zu niedern Graden des Merkens. Dann ist die Vorstellung des Gegenstandes noch nicht, oder doch nicht vorzugs- weise, gegenwärtig, sie muss erst selbst reproducirt oder doch mehr ge- fördert werden. Es kommt in Frage, ob dies unmittelbar, oder nur mittelbar gelingen könne. Im ersten Falle muss sie an sich stark genug, im zweyten hinreichend mit andern Vorstellungen, die sich unmittelbar erwecken lassen, verbunden seyn; und die Hindernisse der Reproduction müssen sich überwinden lassen.

Ist das appereipirende Merken schon im Gange, so soll es benutzt, und nicht gestört werden. Die Rede muss dahin fortlaufen, wo sie er- wartet wird, bis die Erwartungen befriedigt sind; die Lösungen müssen den Aufgaben sichtbar entsprechen; alles muss in einander greifen. Ge- stört wird das Merken durch unzeitige Pausen und fremdartige Ein- mischungen; gestört wird es auch durch Apperception, welche das ins Licht stellen was im Schatten bleiben sollte. Dahin gehören Worte, die sich zu oft wiederhohlen; angewöhnte Redensarten; alles was die Sprache auf Kosten der Sache hervorhebt, selbst Reime, Versglieder und rhetorischer Schmuck am unrechten Orte.

Man muss aber auch das gar zu Einfache vermeiden. Die Apper- ception desselben ist gleich am Ende; es beschäfftigt nicht. Die Fülle dessen, was sich zusammenfassen lässt, soll man suchen.

Eine Hauptregel ist, die Schüler unmittelbar bevor sie selbst arbeiten sollen, in den Gedankenkreis zu versetzen, welchem die Arbeit angehört; besonders beym Anfange einer Lehrstunde durch eine kurze Uebersicht dessen was gelesen oder vorgetragen werden wird.

§ 73.

Der Unterricht hat Ertahrung und Umgang zu ergänzen 36);

diese seine Grundlagen müssen schon vorhanden seyn; wo sie es nicht

sind, müssen sie zuerst, und in gehöriger Tüchtigkeit geschafft werden;

was daran fehlt, ist ein Verlust für den Unterricht; denn es fehlt an den

j -0 Anhang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

Gedanken, welche die Lehrlinge selbst in die Rede des Lehrers hinein- legen müssen.

Wie nun Erfahrung und Umgang, so muss auch das Früher-Gelernte durch den spätem Unterricht ergänzt werden. Dies aber setzt eine solche Anlage des gesammten Unterrichts voraus, dass immer das Spätere schon das Frühere vorfinde, mit welchem es sich verbinden soll.

§ 79-

Der gewöhnliche Unterricht, zu wenig bekümmert um die vorhandenen Vorstellungen der Schüler, indem er nur das, was zu lernen ist, im Auge hat, pflegt sich um die nöthige Autmerksamkeit erst dann zu bemühen, wann sie schon mangelt, und sein Fortgang dadurch aufgehalten wird. Er wendet sich also an das willkührliche Aufmerken 73), welches nun durch Aufmunterungen oder noch öfter durch Verweise und Strafen soll erreicht werden. Hiemit trit ein mittelbares Interesse 63) an die Stelle des unmittelbaren; und der Vorsatz des Schülers, aufmerksam zu seyn, schafft keine starke Auffassung, wenig Zusammenhang des Gelernten, wankt unaufhörlich, und macht oft genug dem Ueberdrusse Platz.

Im günstigen Falle, wenn der Unterricht gründlich ist, (also der Wissenschaft entspricht), gewinnen die Elementar -Kenntnisse allmählig hinreichende Vestigkeit im Geiste des Schülers, damit in spätem Jahren darauf gebaut werde, d. h. damit aus den Elementar -Kenntnissen sich eine appercipirende Vorstellungsmasse bilde, welche den spätem Studien zu Hülfe komme. Solcher Vorstellungsmassen kann es mehrere geben; jede für sich aber bildet eine eigne Art von einseitiger Gelehrsamkeit; wobey sich noch fragt, ob hierin wenigstens ein unmittelbares Interesse liege? Denn wofern dies Interesse erst in den Jünglingsjahren erwachen soll, nachdem das Knabenalter zur Einprägung der Vorkenntnisse ver- wendet war: so ist die Hoffnung nicht gross. Die Aussichten auf künftigen Stand und Erwerb eröffnen sich; die Examina stehn bevor.

§ 80.

Man darf jedoch nicht übersehen, dass die primitive und die apper- cipirende Aufmerksamkeit 75 78) auch bey der besten Methode nicht von jedem Individuum im hinreichenden Grade können erlangt werden; alsdann muss die willkührliche, also der Vorsatz des Schülers, ^in Anspruch genommen werden. Hiebey darf es nicht bloss auf Lohn und Strafe ankommen; sondern hauptsächlich auf Gewohnheit und Sitte; also hängt hier der Unterricht mit Regierung und Zucht zusammen. Bey allem solchen Lernen, welches Anfangs nicht ganz ohne Zwang geschieht, kommt es vorzüglich darauf an, dass der Lehrling bald seine Fortschritte selbst wahrnehme. Die einzelnen Schritte müssen sehr bestimmt und zweckmässig angegeben, dabey leicht ausführbar seyn, und einander lang- sam folgen. Der Unterricht muss hiebey sehr pünktlich, gemessen, ernst und geduldig seyn.

2. Abschnitt. Unterricht. 2. Cap. Bedingungen des Interesse. j^t

>< 8l.

Am meisten wird das willkührliche Aufmerken für Gedächtniss-Sachen verlangt; welchen ohnehin das Interesse, selbst wenn es entgegenkommt, nicht immer ganz zusagt. Denn die frey steigenden Vorstellungen (§71, 72,) haben eine eigne Bewegung; welche das Gegebene überschreitend zu Erschleichungen führen kann. Zum Beobachten gehört einige Selbst- beherrschung, eben so zum absichtlichen Memoriren. Hiebev kommt in Frage, welche Stelle man dem Auswendig- Lernen anweisen solle?

Das Auswendig -Lernen ist sehr nothwendig; es kommt bev allen Wissenschaften in Anwendung; aber es darf nirgends das Erste seyn, ausser wo es von selbst, ohne Anstrengung, von Statten geht. Denn wenn es bey neuen Gegenständen die der Lehrling noch nicht falsch verbunden haben kann, Anstrengung kostet, so zeigt dies, dass die einzelnen Vorstellungen von irgend einem Widerstände zu schnell zurück- gedrängt werden, um sich unter einander zu verbinden. Man muss als- dann erst darüber sprechen, damit beschäfftigen , die Gegenstände ge- läufiger machen ; zuweilen selbst einen günstigem Zeitpunct abwarten. Wo noch für Klarheit des Einzelnen, und für Association zu sorgen ist (§67 u. f.), da müssen diese vorangehn. Sind die Vorstellungen dadurch ver- stärkt worden, so wird das Auswendig-Lernen leichter gelingen.

Die aufgegebenen Reihen dürfen nicht zu lang seyn. Drey fremde Wörter sind oft schon viel. Manchen Schülern muss man das Auswendig- Lernen zeigen; sie fangen sonst immer von vorn an, stocken bald, und suchen vergeblich weiter zu kommen. Eine Hauptregel ist, den Anfangs- punct zu verändern. (Wäre z. B. der Name Methusalem einzuprägen, so würde man nach einander sprechen: lern salem. thusalem, Methusalem.)

Manche muss man ermahnen, dass sie nicht suchen sollen, schnell fertig zu werden. Es kommt hier auf einen psychischen Mechanismus an, welcher Zeit braucht; und welchen der Schüler selbst eben so wenig als der Lehrer, darf übereilen wollen. Erst langsam, dann schneller.

Es ist nicht immer rathsam, alle körperliche Bewegung abzuhalten. Manche lernen lautsprechend, Manche abschreibend, Einige zeichnend. Tactmässiges Zugleich -Sprechen lässt sich auch hier zuweilen anwenden.

Falsche Verbindungen sind sehr zu fürchten; sie kleben an. Strenge erreicht zwar viel ; aber wo das Interesse für die Gegenstände ganz fehlt, da wird erst falsch, dann Jgar nicht gelernt, und die Zeit geht verloren.

Der Grund des Uebels liegt vielleicht bey Denen, welchen das Aus- wendig- Lernen durchgehends mislingt, zum Theil an unbekannten Eigen- heiten der leiblichen Organisation. Aber liegt er auch sehr oft an der falschen Spannung, worin sie sich selbst versetzen, indem sie mit Wider- willen versuchen, was sie kaum für möglich halten. Unvorsichtiges Be- nehmen in den ersten Kinderjahren führt dazu, wenn gleich Anfangs vom Lernen als von einer Sache der Noth und Plage die Rede war, und etwan ein unbehülfliches Buchstabiren den Anfang machte. So thöricht es ist, für solche Kinder, welche leicht behalten und aufsagen, noch Erleichterungsmittel zu suchen, so nöthig ist Behutsamkeit; weil es

1 gar nichts gelernt SW.

I ^1 Anhang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

auch Andre giebt, die man bey den ersten Versuchen, sie zum Aussagen, ja nur zum Nachsprechen einer bestimmten Reihe von Worten zu bringen, fürs Lernen verderben kann. Bey solchen frühen Versuchen, ob sie ge- gebene Reihen leicht behalten und leicht reproduciren, ist durchaus nöthig, sie in gute Laune zu setzen, die Gegenstände dem gemäss zu wählen, und /////' so lange fortzufahren, als sie fühlen, dass sie können was man ver- langt. Die Beobachtungen, welche sich hier darbieten, müssen das weitere Verfahren bestimmen.

§ 82. Auch nach sorgfältigem Memoriren fragt sich noch, wie lange das Gelernte werde behalten werden? Hierüber pflegt man sich, ungeachtet der bekanntesten Erfahrungen, immer von neuem zu täuschen. Aber

1) In der That braucht nicht alles Gelernte für immer im Andenken zu bleiben; manches leistet was es soll, indem es den nächsten Uebungen vorarbeitet, und eine weitere Ausbildung möglich macht. So werden kleine Gedichte für eine Zeitlang memorirt, um eine Uebung im Declamiren möglich zu machen; manche Capitel aus Römischen Schriftstellern aus- wendig gelernt, damit das Latein-Schreiben und Sprechen besser in Gang komme. In manchen Fällen genügt es für spätere Jahre, zu wissen, wie literarische Hülfsmittel zu suchen und zu gebrauchen seyen.

2) Soll jedoch das Gelernte sich auf lange Zeit, wo möglich auf immer einprägen: so ist es nur ein zweydeutiges Nothmittel, das Näm- liche immer von neuem, so oft es vergessen war, zum Memoriren auf- zugeben. Der Ueberdruss kann grösser werden als der Gewinn. Es giebt nur Ein tüchtiges Mittel, und das ist Uebung durch beständige An- wendung, im Zusammenhange mit dem, was wirklich interessirt, also die frey steigenden Vorstellungen des Zöglings fortwährend beschäftigt.

Danach richtet sich zu jeder Zeit die Wahl dessen, was mit sicherem Erfolge memorirt werden kann. Für nahen Gebrauch das Nöthige; denn Ueberhäufung fördert das baldige Vergessen. Aber sehr Vieles im Unter- richt wie in der Erfahrung thut seine Dienste, wenn es den Geist anregt, und ihn zu fernerer Beschäfftigung befähigt; auch ohne genau behalten zu werden.

Fünftes Capitel.

Hauptklassen des Interesse.

§ 83. Den Kenntnissen, welche die Erfahrung, den Gesinnungen, welche der Umgang bereitet, soll sich der Unterricht anschliessen 36). Der Erfahrung entspricht unmittelbar das empirische, dem Umgange das sym- pathische Interesse. Bey fortschreitendem Nachdenken über die Er- fahrungs - Gegenstände entwickelt sich das speculative, beym Nachdenken über grössere Verhältnisse des Umgangs das gesellschaftliche Interesse. Wir fügen auf der einen Seite noch das ästhetische, auf der andern das religiöse Interesse hinzu ; welche beyden nicht sowohl in einem fort-

2. Abschnitt. Unterricht. 5. Cap. Hauptklassen des Interesse. jes

schreitenden Denken, als vielmehr in einer ruhigen Contemplation der Dinge und der Schicksale ihren Ursprung haben.

§ 34- Man darf zwar nicht erwarten, dass alle diese Klassen das Interesse sich in jedem Individuo gleichmässig entfalten werden; dagegen unter einer Menge von Schülern muss man sie alle erwarten; und der verlangten Vielseitigkeit wird desto besser entsprochen, je mehr auch der Einzelne sich einer solchen Geistesbildung nähert, worin alle jene Interessen mit gleicher Energie sich regen würden.

§ 85.

Dass den hier angegebenen sechs Klassen des Interesse eine Zwey- theilung zum Grunde liegt, wurde schon oben 37) durch Angabe der historischen und naturwissenschaftlichen Richtungen bemerkt; und hiemit stimmt die Beobachtung in den Gymnasien zusammen, dass die Schüler sich mehr auf die eine oder auf die andre Seite zu neigen pflegen. Allein man würde sehr fehlen, wenn man deshalb ein historisches und ein naturwissenschaftliches Interesse in Gegensatz stellen, oder gar statt dieser Namen ein philologisches und ein mathematisches setzen wollte, wie freylich nicht selten geschieht. Die Verwirrung, welche hier in den Be- griffen obwaltet, darf nicht bleiben; sie würde s:anz unrichtige Ansichten des gesammten Unterrichts hervorbringen. Man wird ihr am leichtesten durch Betrachtung der grossen Menge von Einseitigkeiten begegnen, welche selbst innerhalb jener sechs Klassen noch vorkommen; wenigstens kann dadurch das Mannigfaltige, was hier zu unterscheiden ist, noch deutlicher auseinander gesetzt werden. Denn die möglichen Einseitigkeiten treten noch viel weiter auseinander, als durch Angabe jener sechs Klassen konnte gezeigt werden.

§ 86.

Das empirische Interesse wird in seiner Art einseitig, wenn es eine gewisse Art von Erfahrungs-Gegenständen mit Vernachlässigung der übrigen ergreift. So wenn Einer bloss Botaniker, oder Mineraloge, oder Zoologe. seyn will; wenn er bloss Sprachen liebt, vielleicht nur alte, oder nur neuere, oder von allen nur eine; wenn er (wie manche sogenannte Touristen) als Reisender nur die vielbesprochenen Gegenden sehen will, um sie gesehen zu haben; wenn er als Sammler von Seltenheiten nur diese oder jene Liebhaberey verfolgt; wenn er als Historiker nur von einem Lande, einer Zeit, Kunde verlangt, u. s. w.

Das speculative Interesse wird in seiner Art einseitig, wenn es nur logisch, oder nur mathematisch vielleicht nur mathematisch nach Art der alten Geometer, oder nur metaphysisch vielleicht nur nach den Ansichten Eines Systems, oder nur physikalisch, vielleicht nur mit Verfolgung Einer Hypothese oder nur pragmatisch historisch seyn will.

Das ästhetische Interesse wirft sich bald ausschliessend auf Malerey, Bildhauerey; bald ausschliessend auf Poesie, vielleicht nur auf lyrische, oder nur auf dramatische, bald auf Musik, vielleicht nur auf eine be- stimmte Gattung derselben, u. s. w.

154 Anhang. 2. Thcil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

Das sympathetische Interesse wird einseitig, wenn der Mensch nur mit seinen Standes -Genossen, oder nur mit Landsleuten, oder nur mit seinen Familiengliedern leben mag; für alle andere Menschen aber kein Mitgefühl hat.

Das gesellschaftliche Interesse wird einseitig, wenn Einer nur seiner politischen Parthey hingegeben ist, und alles Wohl und Wehe nur nach deren Vortheilen abmisst.

Das religiöse Interesse wird einseitig nach Verschiedenheit der Dogmen und Seiten, denen es huldigt, mit Geringschätzung der Andersdenkenden.

Manche dieser Einseitigkeiten führt im spätem Leben der Beruf herbey; aber der Beruf soll den Menschen nicht isoliren. Er würde es thun, wenn schon in den Jugendjahren eine solche Beschränktheit sich gelten machte.

§ 87. Noch genauere Zergliederung der Einseitigkeiten wäre zwar möglich, aber es bedarf derselben nicht, um zu finden, welchen Platz die er- wähnten Gymnasialstudien unter den Lehrgegenständen einnehmen, die zur Belebung des Interesse dienen sollen. Die Sprachen zuvörderst sind erfahrungsmässig vorhanden; weshalb aber wählt man unter so vielen Sprachen vorzugsweise die römische und griechische? Offenbar wegen der von ihnen dargebotenen Literatur und Geschichte. Die Literatur mit ihren Dichtern und Rednern gehört dem ästhetischen Interesse; die Ge- schichte weckt Theilnahme für ausgezeichnete Männer und für gesell- schaftliches Wohl und Wehe; durch beydes wirkt sie mittelbar selbst für das religiöse Interesse. Man findet keinen bessern Vereinigungspunkt für so viele verschiedene Anregungen. Selbst das speculative Interesse geht nicht leer aus, wenn Nachforschungen über den grammatischen Bau dieser Sprachen hinzukommen. Aber die Geschichte bleibt nicht bey den Alten stehn; auch die Literatur-Kenntnisse erweitern sich, um noch vollständiger zur Belebung jener Interessen zu wirken. Geschichte, wenn sie prag- matisch behandelt wird, kommt von einer andern Seite dem speculativen Interesse zu Hülfe. Jedoch hierin bleibt der Mathematik der Vorrang, nur muss sie, um sicherer Eingang und eine bleibende Wirkung zu ge- winnen, sich mit den Naturwissenschaften verbinden, welche zugleich dem ■empirischen und dem speculativen Interesse angehören.

Wenn nun diese Studien gehörig zusammenwirken, so leisten sie, in Gemeinschaft mit dem Religions-Unterricht, sehr Vieles, um dem jugend- lichen Geiste diejenigen Richtungen zu geben, welche dem vielseitigen In- teresse angemessen sind. Wollte man aber Philologie und Mathematik ") auseinander fallen lassen, die Verbindungsglieder wegnehmen, und einen Jeden nach seiner Vorliebe die eine oder die andre wählen lassen, so würden ein paar nackte Einseitigkeiten herauskommen, die durch das Vor- hergehende hinreichend bezeichnet sind.

§ 88. Es wird jetzt anerkannt, dass auch die höheren Bürgerschulen ge- rade die nämliche vielseitige Bildung zu veranstalten, das heisst, gerade die nämlichen Hauptklassen des Interesse zu berücksichtigen haben, wie

2. Abschnitt. Unterricht. 5. Cap. Hauptklassen des Interesse. 1 e c

die Gymnasien. Der Unterschied liegt nur darin, dass die später nöthige Berufs-Uebung den Schülern der Gymnasien weniger nahe bevorsteht; daher auf den Bürgerschulen neuere Literatur und Geschichte einiges Uebergewicht bekommt, und den weiter strebenden Köpfen die Hülfsmittel einer mannigfaltigen geistigen Thätigkeit nicht vollständig können dar- geboten werden. Aehnliches gilt von allen denjenigen niederen Schulen, welche die Erziehung zu besorgen haben. (Anders verhält es sich bey Gewerbeschulen, polytechnischen Schulen, kurz bey denen, welche die Er- ziehung als schon geschehen, so weit sie nach den Umständen geschehen konnte, voraussetzen.)

Hat demnach eine höhere Bürgerschule einen richtigen Lehrplan: so kann man darin eben so gut, als in dem Lehrplan eines Gymnasiums, nachweisen, dass man dadurch wenigstens eine so grosse Einseitigkeit zu verhüten sucht, wie sich ergeben würde, wenn eine von jenen sechs Haitptklassen des Interesse zurückgesetzt wäre.

§ 89.

Kein Unterricht aber ist im Stande, diejenigen besondern Einseitig- keiten zu verhüten, welche noch innerhalb jeder Hauptklasse entstehen können 86). Ist Beobachtung, Nachdenken, Sinn fürs Schöne, Mit- gefühl, Gemeinsinn und religiöse Erhebung einmal angeregt, wenn auch nur in einem engen Kreise von Gegenständen: so bleibt es grossentheils dem Individuum und der Gelegenheit überlassen, für weitere Ausbreitung auf eine grössere Menge und Mannigfaltigkeit der Gegenstände zu sorgen. Den Talenten, vollends dem Genie, kann man wohl die nöthige Umsicht durch den Unterricht schaffen, der ihnen zeigt, was anderwärts von andern Talenten und anderm Genie geleistet wird: aber ihre Eigenthümlichkeit müssen sie behalten und selbst verantworten.

Auch sind nicht alle jene partiellen Einseitigkeiten gleich nachtheilig, denn nicht alle machen sich in gleichem Maasse ausschliessend gelten. Zwar jene alle können hochmüthig werden; aber nicht alle sind dazu in gleichem Maasse geneigt.

§ 90. Unter günstigen Umständen der Zeit und Gelegenheit, wie Gymnasien und höhere Bürgerschulen besitzen, beschränkt man sich bekanntlich nicht auf die ersten Anregungen ; und es kommt in Frage, in welcher Folge die angeregten Interessen fortzubilden seyen? Am Lehr-Stoff ist kein Mangel; man hat zu wählen, und zu ordnen; hiebey dient im All- gemeinen, was über die Bedingungen der Vielseitigkeit und des Interesse gesagt worden. Also: Fortschritt vom Einfachem zum Zusammengesetzten; und Sorge für die Möglichkeit des unwillkührlichen Aufmerkens. Dabey darf man sich aber die Erfordernisse und die Schwierigkeiten nicht ver- hehlen.

§ 9i- Das empirische Material (in Sprachen, Geschichte, Geographie, u. s. w.) erfodert bestimmte Complexionen und Reihen von Vorstellungen sammt deren Verwebung. Schon die Wörter bestehen aus Stämmen und dem

156 Anhang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

was zur Biegung und Ableitung gehört; dies wieder aus den einzelnen Sprachlauten. Die Geschichte hat ihre Zeitreihen, die Geographie ihre räumliche Verwebung. Die psychologischen Reproductionsgesetze bestimmen das Einprägen und Behalten.

Den fremden Sprachen dient die Muttersprache zur Vermittelung des Verstehens; aber sie widerstrebt zugleich den fremden Lauten und Wortfügungen: überdies dauert es lange, ehe dem jüngeren Knaben der Gedanke geläufig wird, dass in weiter Ferne des Orts und der Zeit, Menschen sind und waren, die anders reden und geredet haben ; Menschen, um die man sich hier und jetzt bekümmern solle. Höchst gewöhnlich, und zugleich sehr schädlich, ist auch die Täuschung der Lehrer, dass ihr Ausdruck, weil er deutlich ist, darum schon von dem Knaben ver- standen werde, dessen Kindersprache sich nur langsam erweitert. Diese Hemmungen sind zu überwinden. Die Geographie hilft in Ansehung der örtlichen Entfernungen; aber dem Bewohner des flachen Landes fehlt die anschauliche Vorstellung der Gebirge; dem, der in Thälern aufwächst, die Anschauung der Ebene, den Meisten die Vorstellung des Meeres. Dass die Erde eine Kugel sey, sich um ihre Axe drehe, die Sonne umkreise, klingt den Kindern lange wie ein Mährchen; und es giebt gebildete Jünglinge, die an den Lehren vom Planetensystem zweifeln, weil sie nicht begreifen, wie man dergleichen wissen könne. Diese Hindernisse muss man heben, und nicht unnöthig anhäufen. Für Geschichte könnten alte Ruinen eine Anknüpfung darbieten, wäre diese nicht viel zu dürftig und zu sehr in der Nähe, wo die frühere Jugend schon in jüdisches, griechisches, römisches Alterthum soll versetzt werden. Hier helfen nur Erzählungen, die ein sehr lebhaftes Interesse erwecken; solche schaffen Stützpuncte für den Gedanken einer längst verschwundenen Vorzeit; aber es fehlt noch an der Schätzung chronologischer Distanzen bis zu unserer Zeit. Diese lässt sich nur sehr allmählig durch Ein- schaltungen erreichen.

§ 92.

Zur Uebung im Denken, und hiemit zur Anregung des speculativen Interesse, bietet sich Alles dar, was in der Natur, in menschlichen An- gelegenheiten, im Bau der Sprachen, in der Religionslehre, einen Zu- sammenhang nach allgemeinen Regeln erkennen oder auch nur vermuthen lässt. Ueberall jedoch, selbst schon beym Gebräuchlichsten, dem ge- meinen Rechnen und der Grammatik, begegnen dem Schüler all- gemeine Begriffe, Urtheile, Schlüsse. Er klebt am Einzelnen, Bekannten, r Sinnlichen; das Abstracte steht ihm fern; selbst die geometrischen Figuren, fürs Auge hingezeichnet, sind ihm einzelne Dinge; nur mit Mühe erkennt er ihre allgemeine Bedeutung. Das Allgemeine soll die Besonderheiten aus seinen Gedanken verdrängen; aber umgekehrt drängt sich das Be- kannte in den gewohnten Vorstellungsreihen hervor; und vom Allgemeinen bleiben ihm fast nur die Worte, womit man es bezeichnet. Soll er einen Schluss machen, so verliert er eine Prämisse über der andern; man muss vielmals von vorn anfangen, die Beyspiele den Begriffen unterlegen, die Begriffe scheiden und verbinden, die Sätze allmählig einander nähern.

2. Abschnitt. Unterricht. 5. Cap. Hauptklassen des Interesse. \=y

Sind die Mittelbegriffe in den Prämissen glücklich verschmolzen, so ist doch die Verbindung Anfangs lose; die nämlichen Sätze werden oft ver- gessen; und man darf sie nicht zu oft wiederhohlen, wenn man nicht das Interesse vertreiben will anstatt es zu erregen.

Es ist rathsam, Vieles von dem, was schon durch Schlüsse eingesehen war, für eine Zeitlang dem Vergessen Preis zu geben, da man dies nicht hindern kann ; und dagegen späterhin auf andern Wegen zu den Haupt- sachen zurückzukehren. Die ersten Vorübungen erreichen ihren Zweck, wenn sie das Allgemeine im Einzelnen erblicken lassen, noch ehe die Be- griffe zu Gegenständen von Lehrsätzen werden, und ehe man die Sätze zu Schlussreihen verbindet. Zwischen dem ersten Zeilen der Allgemein- heiten, und dem systematischen Lehren ihres Zusammenhangs, darf das Associiren 69) nicht fehlen.

§ 93- Die ästhetische Contemplation kann man zwar durch mancherley andere Interessen, auch durch aufgeregte Affecten, veranlassen; sie selbst aber erfolgt nicht anders, als bey so ruhiger Lage des Gemüths, dass es das simultane Schöne genau zusammenfassen, und dem successiven in ent- sprechender Bewegung nachkommen kann. Fassliche Gegenstände müssen dargeboten seyn; zur Betrachtung darf nicht getrieben werden; wohl aber können unangemessene Aeusserungen vollends Beschädigungen solcher Gegenstände, die ästhetischen Werth haben, und denen Respect gebührt, zurückgewiesen werden. Oft ist Nachahmung, wenn auch Anfangs sehr roh, Nachzeichnen, Nachsingen, lautes Nachlesen späterhin Uebersetzen, ein Zeichen der Aufmerksamkeit; dies Nachahmen mag be- günstigt, nur nicht gelobt werden. Die rechte Wärme, welche bey ästhe- tischer Bildung von selbst sich erhebt, wird sehr leicht durch Erhitzung verdorben. Ueberhäufung schadet; Kunstwerke, die einer höhern Bildungs- stufe angehören, darf man nicht zu einer niedern herabziehn, Kunst- Urtheile und Kritiken soll man den Schülern nicht aufdringen.

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§ 94-

Die Interessen der Theilnahme hängen noch mehr vom Umgange und dem häuslichen Leben ab, als die vorigen von der Erfahrung. Wenn Kinder oft den Platz wechseln, dann kann ihre Anhänglichkeit nirgends wurzeln; schon der Wechsel der Lehrer und der Schulen ist schädlich; die Schüler machen Vergleichungen nach ihrer Weise; eine Auctorität, die nicht dauert, gilt wenig; das Streben nach Ungebundenheit wirkt da- gegen. Der Unterricht kann solche Uebel nicht heben; um desto weniger da er selbst oft die Form wechseln muss, was eine scheinbare Ver- schiedenheit der Lehrer mit sich bringt. Allein desto nöthiger ist es, dass der Unterricht in der Geschichte diejenige Wärme fühlen lasse, welche den historischen Personen und Begebenheiten gebührt. Aus diesem, für die ganze Erziehung wichtigen Grunde, hat man sehr Ursache, die Geschichte nicht wie ein chronologisches Skelet erscheinen zu lassen. Besonders ist dies beim frühern historischen Unterricht zu beachten, von welchem es grossentheils abhängt, was für Eindruck auch späterhin die gesammte Geschichte machen wird.

j r S Anhang. 2, Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

Vom Religions- Unterricht braucht nicht erst gesagt zu werden, wie sehr er die Abhängigkeit des Menschen muss fühlen lassen, und wie sehr von ihm erwartet wird, dass er die Gemüther nicht kalt lasse. Allein der historische Unterricht muss mit ihm zusammenwirken; sonst stehn die Religionslehren allein und laufen Gefahr, in das übrige Lehren und Lernen nicht gehörig einzugreifen.

Sechstes Capitel.

Verschiedene Gesichtspuncte in Ansehung der Gegenstände des

Unterrichts.

§ 95-

Aus verschiedenen Gesichtspuncten entspringen streitende Meinungen, nicht bloss in Ansehung der Behandlung, sondern auch der Wahl dessen, was zu lehren und zu lernen sey. Wechselt nun das Uebergewicht, welches bald die eine bald die andre Meinung erlangt, so fehlt nicht bloss die Einhelligkeit der Absichten, nach welchen Unterricht begehrt und ertheilt wird, sondern die Schüler leiden auch unmittelbar durch den Mangel an Consequenz, wo nicht nach gleichem Plane angefangen und fortgefahren wird.

§ 96.

Gesetzt, einem Lehrer werde aufgetragen, den Unterricht in einer bestimmten Wissenschaft zu besorgen: so macht er oft genug seinen Lehr- plan ohne pädagogische Ueberlegung. Die Wissenschaft, meint er, gebe ihm einen Plan an die Hand, wie sie gemäss ihrem Inhalte, wobey eins das andre voraussetzt, füglich könne gelehrt werden. Ist eine Sprache zu lehren, so verlangt er, die Schüler sollen fertig decliniren und con- jugiren können, damit er einen Schriftsteller mit ihnen lesen könne; sie sollen den gewöhnlichen prosaischen Ausdruck verstehn; bevor er ihnen die gewählten Wendungen eines Dichters erkläre, u. s. w. Ist Mathematik zu lehren, so sollen die Schüler vollkommene Fertigkeit im gemeinen Rechnen mitbringen; auf einer höhern Stufe sollen sie völlig geübt seyn, mit Logarithmen zu rechnen, bevor solche Formeln vorkommen, zu deren Anwendung die Logarithmen nöthig sind; u. s. w. Ist Geschichte zu lehren, so soll ein chronologisches Fachwerk, welches die Thatsachen auf- nehmen wird, vorher veststehn; zur alten Geschichte wird alte Geographie vorausgesetzt, u. s. w. Dieser Gesichtspunct, da man die Stufenfolge des Unterrichts von den Lehrgegenständen selbst hernimmt , als ob die Foderung, gerade dies zu lehren, unbedingt veststünde, macht sich im Grossen gelten, wo eine Anstalt neue Schüler aufnimmt; die Kinder sollen fertig lesen, schreiben, rechnen, ehe sie das Gymnasium zulässt; bey Versetzungen in höhere Klassen soll das nächst vorhergehende Klassen- ziel erreicht seyn. Der gute Schüler ist nun derjenige, welcher zu diesen Anordnungen passt, und sich willig darin fügt. Dass hiebey die Be- dingungen des Aufmerkens, die allmähligen Fortschreitungen des Interesse wenig berücksichtigt werden, ist die natürliche Folge.

2. Abschnitt. Unterricht. 6. Cap. Verschiedene Gesichtspuncte etc. j:q

§ 97-

Es entsteht aber noch eine andre Folge; und mit ihr ein andrer Gesichtspunct. Die Jugend wird bedauert, dass sie soviel Plage erleide. Allerlev Zweifel erwachen, ob man du Wissenschaften, welche die Plage verursachen, habe lehren sollen? Der künftige Nutzen kommt in Frage. Bevspiele in Menge treten hervor, dass die Erwachsenen vernachlässigen und vergessen, auch ohne merklichen Nachtheil vergessen, was sie mühsam erlernt hatten. Nun streiten zwar Bevspiele mit Beyspielen ; aber das führt zu keiner Entscheidung. Es lässt sich nicht leugnen, dass sehr viele Menschen, selbst in den gebildeten Ständen, weiter nichts wollen, als Sorgenfrevheit durch Erwerb, und ein geselliges Leben; und dass sie hiernach den Werth ihrer Kenntnisse beurtheilen. Das wird nicht besser durch einen Unterricht, der wenig Interesse weckt, und von den Er- innerungen an die frühere Jugendzeit die Schattenseite ausmacht.

§ 93. Im Allgemeinen antwortet man mit Recht: die Jugend musste be~ schäfftigt werden, denn sie durfte nicht zügellos heranwachsen. Ernst und Strenge musste in der Beschäfftigung liegen, denn die Regierung 45 55) durfte nicht schlaff seyn. Aber nun wirft sich der Zweifel vollends auf die Wahl der Lehrgegenstände. Konnte man denn nicht nützlichere Dinge zur Beschäfftigung darbieten? Wird dagegen z. B. von den alten Sprachen gerühmt, dass sie vorzüglich taugen, um der Jugend mancherley zu thun aufzugeben, so fällt der Vorwurf auf die Lehrart in andern Wissenschaften, die man nur nicht zu behandeln wisse, um durch sie eben so viel Thätigkeit der Lehrlinge hervorzurufen. Nament- lich wird von den neuern Sprachen behauptet, sie seyen eben auch Sprach- studien, wobey Lesen, Sprechen, Schreiben, Uebersetzen, grammatisches Denken vorkomme. Hier möge nur nicht erwiedert werden, die Gym- nasien müssten das Griechische und Lateinische beybehalten, weil sie künftige Beamte zu bilden hätten, denen die alten Sprachen eben so nützlich, ja nöthig seyen, wie andern Ständen die neuern. Denn wenn einmal die classischen Studien in den Rang des Nützlichen und Nöthigen herabgesetzt sind, so steht die Thüre Denen offen, welche endlich noch fragen, wozu denn der Landprediger das Hebräische, der praktische Jurist und Arzt das Griechische brauche?

§ 99- Streitigkeiten dieser Art sind oft so geführt worden, als ob die so- genannten humaniora den Realien entgegenständen, und diese nicht neben sich leiden könnten; während die letztern mindestens eben so sehr zur vollständigen Bildung gehören als jene. Die Sache ist durch einige ältere Pädagogen verschlimmert worden, die sich herabliessen, das Lernen, was nun einmal geschehen sollte, zu versüssen durch allerlev Unterhaltendes und Spielendes, anstatt auf bleibendes und wachsendes Interesse zu dringen. Betrachtet man so den Zweck als ein nothwendiges Uebel, und das Ver- süssen als das Mittel, um jenes erträglich zu machen, so sind alle Be-

j^o Anhang. 2. Theil. Urariss der allgemeinen Pädagogik.

griffe in Verwirrung: und bey schlaffer Beschäftigung erfährt die Jugend nicht, was sie vermag.

Hiebey darf aber nicht unbemerkt bleiben, dass auch dem Versüssen noch Gelegenheiten übrig bleiben, wo es an der rechten Stelle ist; eben so gewiss als Palliativmittel in der Hand des Arztes bleiben, wie sehr er auch vom Vorzug der Radicalcuren überzeugt seyn mag. So schädlich und tadelhaft ein durchgehends tändelndes Benehmen ist, wenn es einen ernsten und gründlichen Unterricht verdrängt: so nothig ist es oft, in Fällen wo Etwas nicht schwer ist aber schwer scheint, den Lehrling durch ein gewandtes und heiteres, fast spielendes Vorzeigen dessen was er nach- ahmen soll, in Gang zu bringen; wogegen unnütze Umständlichkeit und Schwerfälligkeit schon durch die Langeweile, die sie erzeugt, auch das Leichteste misrathen macht. Dies gilt am meisten vom Unterricht jüngerer Kinder, und von den ersten Anfängen, z. B. des Griechisch-Lesens, oder der Buchstabenrechnung, u. d. gl.

§ ioo.

Giebt es in Ansehung jener Streitigkeiten irgend einen wesentlichen Streitpunct, so entspringt er aus der absoluten Voraussetzung, diese oder jene Wissenschaft solle gelehrt werden, 96). Eine solche Voraussetzung darf der erziehende Unterricht nicht von dem Zwecke trennen: dass die geistige Thätigkeit des Zöglings soll gewonnen werden. Dies bestimmt seinen Gesichtspunct ; aber eben so wenig das blosse Wissen als der Nutzen. Erfahrung und Umgang sind die ersten Quellen, aus welchen der Zögling seine Vorstellungen schöpfte; darnach richtet sich, was in diesen Vorstellungen stark und schwach ist, und was der Unterricht leichter oder schwerer, früher oder später leisten kann. Gute Kinder- schriften wenden sich schon während des Lesen- Lernens an diese Quellen, und erweitern allmählig den Gedankenkreis. Nun erst kann vom Unter- richt in dieser oder jenei Wissenschaft die Rede seyn.

§ 101.

Die Realien Naturgeschichte, Geographie, Geschichte, haben einen unstreitigen Vorzug, den der leichtesten Anknüpfung. Ihnen können wenigstens theilweise die freysteigenden Vorstellungen der Zöglinge (§71) entgegen kommen. Pflanzensammeln, Bilderbücher, Landcharten, thun bey gehörigem Gebrauche, das Ihrige. Für die Geschichte nutzt man die Neigung der Jugend, sich erzählen zu lassen. Dass man die Erzählungen zum Theil aus alten Büchern schöpft, die in fremden Sprachen geschrieben sind, dass diese Sprachen einst wirklich gesprochen wurden, ist ein Um- stand, der oft im Vorbeygehn muss erwähnt werden, bevor diese Sprachen selbst kommen, ja selbst nachdem der Anfang damit schon gemacht ist.

Demonstrationen vom Nutzen der Realien sind unnütz. Die Jugend handelt nicht um entfernterer Zwecke willen ; sie regt sich, wenn sie fühlt dass sie etwas kann; und das Gefühl des Könnens muss man ihr schaffen.

§ 102. Die Geometrie hat andre Vortheile der Anknüpfung, die man erst neuerlich angefangen hat, ernstlich zu benutzen. Figuren aus Holz und

2. Abschnitt. Unterricht. 6. Cap. Verschiedene Gesichtspuncte etc. 161

Pappe. Zeichnungen, Stifte, Stangen, biegsame Drähte, Fäden, den Gebrauch des Liniais. des Cirkels, des Winkelmessers, gezähltes Geld in längeren und kürzeren, parallelen und nicht parallelen Reihen, kann man beliebig dem Auge darbieten, und mit andern anschaulichen Gegenständen in Ver- bindung setzen; man kann geordnete Beschaff tigungen und Uebungen daraus entnehmen; und das wird mehr und mehr geschehen, wenn man begreift, dass sinnliche Vorstellungen in gehöriger Stärke die sicherste Grundlage für einen Unterricht ausmachen, dessen guter Erfolg abhängig ist von der Art, wie der Zögling die Vorstellungen des Räumlichen innerlich bildet. Das begreifen freylich Diejenigen nicht, welche ein für allemal den Raum als eine Form der Sinnlichkeit betrachten, die auf gleiche Weise in allen menschlichen Köpfen liege. Das Gegentheil wird den praktischen Erzieher die Erfahrung lehren, wenn er sie gehörig beachtet; denn ge- rade hierin zeigen sich die Individuen höchst verschieden. Auf geo- metrische Constructionen kommen sie selten von selbst; öfter findet man Geschick zum Zeichnen, also zum Nachahmen des Gesehenen.

Aus geometrischen Auffassungen durch Abstraction arithmetische Begriffe zu bilden, ist leicht; und darf nicht für überflüssig gehalten werden; auch wenn das Rechnen schon in vollem Gange ist.

§ 103.

Des Vortheils der leichten Anknüpfung entbehren - für Deutsche die beyden klassischen alten Sprachen; wogegen die lateinische den Vorzug besitzt, dass sie, auch schon nach massigen Fortschritten, den nöthigsten unter den neuern fremden Sprachen den Boden bereitet. Dies spricht gegen den, früher häufigen, Anfang mit dem Französischen. Dass man umgekehrt das Latein ans Französische knüpfe, wird schwerlich ein Sprachkenner billigen, da Gallicismen der Latinität nicht wenig gefährlich sind ; andrer Gründe nicht zu gedenken.

Schon die lange Arbeit, welche die alten Sprachen verursachen, macht rathsam, dieselbe früh zu beginnen. Aus dem Fremdartigen des Lateins für Deutsche darf man nicht schliessen, dass es spät anzufangen, sondern dass es in der frühern Knabenzeit nur langsam fortzusetzen sey. Der Klang fremder Sprachen muss früh gehört werden, damit das Be- fremdende sich vermindere. Einzelne lateinische Wörter fasst schon der kleine Knabe leicht; zu ganz kurzen Sätzen, die aus zwey bis drey Wörtern bestehen, kann man bald fortschreiten; aber diese mögen immer- hin für eine Weile wieder vergessen werden. Was man vergessen nennt, ist darum noch nicht verloren. Die Schwierigkeit liegt in der Menge des Fremdartigen, was sich bey längern Sätzen anhäuft; sie liegt ferner in den mancherley Anknüpfungen abhängiger Sätze, in den Einschaltungen, in der Wortstellung, im Periodenbau. Hiebey ist nicht zu übersehen, wie lange es dauert, bis die Kinder selbst im Deutschen sich der abhängigen Rede zu bedienen wissen; ihr Sprechen ist lange nur ein blosses An- einander-Reihen der einfachsten Sätze, Mit den Versuchen, sie im Lateinischen darin schneller zu fördern, als es im Deutschen geschehen kann, wird Zeit verloren, und die Lust auf eine harte Probe gesetzt.

Herbart's Werke. X. II

j52 Anhang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

§ IO4.

Aus dem Gesagten erhellet nun zwar, dass der erziehende Unter- richt sich zur Erweckung geistiger Thätigkeit einiger Lehrgegenstände leichter und sicherer, anderer mit mehr Mühe, die unter Umständen vergeblich seyn kann, bedienen wird. Denn die Realien liegen dem Zöglinge näher; das Mathematische bedarf einiger Veranstaltung, um es anschaulich zu machen; die fremden Sprachen können nur langsam in rechten Gang gebracht werden. Allein dieser Unterschied ist nicht so gross, und für den ganzen Verlauf des Unterrichts nicht so durchgreifend, dass man gegen die fremden Sprachen, falls die Zeit dafür hinreicht, eine ernstliche pädagogische Bedenklichkeit gelten machen könnte. Ihre Früchte reifen später. Was insbesondere gegen den Schulgebrauch der alten Sprachen ehedem mit Grunde zu sagen war, das wird mehr und mehr beseitigt, seitdem theils durch gesteigerte Foderungen die schwächern Köpfe, theils durch verbesserte Bürgerschulen Diejenigen, welche entschieden sind nicht zu studiren, von den Gymnasien abgezogen werden.

Siebentes Capitel.

Gang des Unterrichts.

§ 105- Ob der Unterricht in den rechten Gang komme: das hängt vom Lehrer, vom Schüler und vom Gegenstande zugleich ab. Gewinnt der Gegen- stand nicht das Interesse des Schülers, so entstehn üble Folgen, welche sich im Kreise drehen. Der Schüler sucht sich der Arbeit zu entziehen; er schweigt, oder giebt falsche Antworten; der Lehrer dringt auf die rechte; der Unterricht stockt; der Widerwille des Schülers steigt; um Wider- willen und Faulheit zu besiegen, versagt der Lehrer vollends die Hülfe, die er geben konnte; er zwingt, wie er kann, den Schüler, sich zu be- sinnen, selbst zu arbeiten, sich vorzubereiten, auswendig zu lernen, das Schlechtgelernte dennoch in schriftlichen Aufsätzen anzuwenden, u. s. w. Der eigentliche Vortrag hört auf, oder verliert wenigstens den Zusammen- hang; nun fehlt das rechte Beyspiel, was der Lehrer hätte geben sollen; das Beyspiel des in den Gegenstand vertieften Lesens, Denkens, Schreibens. Und doch ist dies Beyspiel, den Gegenstand aufzufassen, darzustellen, mit verwandten Gegenständen zu verbinden, gerade das Wirksamste eines guten Unterrichts. Der Lehrer soll es geben, der Schüler soll es, so gut 1 er kann, nachahmen, der Lehrer soll ihm darin thätig zu Hülfe kommen.

§ 106. Der Gang des Unterrichts ist entweder synthetisch oder analytisch. Man kann im Allgemeinen jeden Unterricht synthetisch nennen, in welchem der Lehrer selbst unmittelbar die Zusammenstellung dessen bestimmt, was gelehrt wird; analytisch hingegen denjenigen, wobey der Schüler zuerst seine Gedanken äussert, und diese Gedanken, wie sie nun eben sind, unter Anleitung des Lehrers auseinander gesetzt, berichtigt, vervollständigt

2. Abschnitt. Unterricht. ~. Cap. Gang des Unterrichts. 163

werden. Allein hiebey ist Manches näher zu bestimmen und zu unter- scheiden. Es giebt Analysen der Erfahrung, des Gelernten, der Meinungen. Es giebt eine Synthesis, welche die Erfahrung nachahmt; eine andre, wo- bey absichtlich ein Ganzes aus zuvor einzeln vorgelegten Bestandtheilen zusammengesetzt wird. Hierin entstehn wiederum manche Unterschiede in Folge der in den Gegenständen liegenden Verschiedenheiten.

§ 107.

Da dem Unterricht die Erfahrung des Lehrlings zum Grunde liegt, so stellen wir diejenige Synthesis voran, welche die Erfahrung nachahmt, und bezeichnen sie mit dem Namen: bloss darstellender Unterricht. Da- gegen soll weiterhin nur derjenige Unterricht synthetisch heissen, wobey die Zusammensetzung aus zuvor einzeln vorliegenden Bestandtheilen deut- lich hervortrit.

Die bloss darstellende Form ist zwar beschränkt in der Anwendung; dennoch ist sie so wirksam, dafs sie eine eigne Betrachtung und, was die Hauptsache ist, sorgfältige Uebung von Seiten des Lehrers verdient. Wer sie in der Gewalt hat, wird am sichersten das Interesse der Schüler gewinnen.

Man pflegt von den Schülern zu verlangen, dass sie sich im Er- zählen und Beschreiben üben sollen; aber man darf nicht vergessen, dass hier vor Allem das Bey spiel des Lehrers vorangehn muss. Zwar ist Ueberfluss an gedruckten Erzählungen und Beschreibungen; allein das Lesen wirkt nicht wie das Hören. Viva vox docet. Im Knabenalter ist nicht einmal im Allgemeinen auf soviel Uebung und Beharrlichkeit im Lesen zu rechnen, als nothig wäre; oder findet sich völlige Geläufigkeit, so geht das Lesen zu schnell, eilt zu sehr zum Ende, oder verweilt am unrechten Orte, und verliert den Zusammenhang. Höchstens kann man sehr geübte Schüler laut vorlesen lassen. Viel sicherer ist der freye Vortrag des Lehrers; aber frey muss er seyn, um ungestört zu wirken.

§ 108.

Dazu gehört zuvörderst ein ausgebildetes mündliches Sprechen. Viele Lehrer haben sich vor angewöhnten Redensarten, Flickwörtern, Fehlern der Aussprache, vor Pausen mit eingemischten Lauten die gar nicht Sprachlaute sind, abgebrochenen Perioden, schwerfälligen Einschaltungen,. u. s. w. zu hüten.

Ferner eine solche Wahl der Worte, welche nicht bloss den Gegen- ständen, sondern auch den Schülern verständlich sind; und ein solcher Ausdruck, welcher zur Bildungsstufe der Schüler passt.

Endlich genaues Memoriren : Anfangs beynahe wörtlich; wenigstens muss die Vorbereitung so geschehen als ob man eben jetzt sprechend den Schülern gegenüber stünde; späterhin der Sachen und Wendungen des Vortrags, damit kein Hineinblicken in Bücher oder Zettelchen nöthig sev. Einiges Nähere tiefer unten.

§ IOQ.

Der Vortrag soll so wirken, als ob der Schüler in unmittelbarer Gegenwart das Erzählte und Beschriebene hörte und sähe. Daher muss

1 1

1 64 Anhang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

der Schüler Vieles wirklich gehört und gesehen haben; welches daran er- innert, dass der Erfahrungskreis, wenn er zu eng war, durch Umherführen und Zeigen musste erweitert werden. Ferner passt diese Form des Unter- richts nur auf Gegenstände solcher Art, dass sie gehört und gesehen werden könnten. Alle Hülfsmittel durch Abbildungen müssen hinzu- kommen.

Gelingt dieser Unterricht, so zeigt sich bey der Wiederhohlung, dass die Schüler nicht bloss die Hauptsachen, sondern grossentheils sogar die Ausdrücke wiedergeben, deren sich der Lehrer bedient hatte; dass sie genauer behalten haben, als man verlangte. Ueberdies gewinnt der Lehrer, der gut erzählt und beschreibt, sehr an persönlicher Anhänglichkeit der Schüler; er findet sie folgsamer, wo es auf Disciplin ankommt.

§ ho. Während geschickte Darstellungen eine Wirkung thun, als ob der Erfahrungskreis des Zöglings sich erweiterte: kommt die Analyse zu Hülfe, um die Erfahrung belehrender zu machen. Denn sich selbst allein über- lassen, ist die Erfahrung kein solcher Lehrer, der einen regelmässigen Unterricht ertheilte. Sie befolgt nicht das Gesetz, vom Einzelnen aus- gehend zum Zusammengesetzten allmählig fortzugehn; sondern sie wirft Dinge und Begebenheiten massenweise hin, zu einer oft verworrenen Auf- fassung. Da sie nun die Verbindung früher giebt, als das Einzelne, so bleibt dem Unterricht die Aufgabe, diese Umkehrung in die rechte Ord- nung des Lehrens zurück zu führen. Die Erfahrung associirt zwar das was sie giebt; will man aber diese schon vorhandene Association in das Werk der Lehrstunden eingreifen lassen (wie es geschehen soll,) so muss Erfahrenes und Gelerntes zusammen passen; dazu gehört, dem Vorrath, welchen die Erfahrung darbot, die mangelnde Klarheit und die gehörige Bezeichnung durch die Sprache nachzubringen.

Zuerst vom analytischen Unterricht für das frühe Knabenalter. Um die Bedeutung dieses Unterrichts zu verstehen, muss man überlegen, wie die Erfahrung der Kinder beschaffen ist. Sie sind zwar gewohnt, in ihrer Umgebung sich umzusehen; aber die stärksten Eindrücke überwiegen; und das Bewegliche zieht sie weit mehr an als das Ruhende. Sie zerreissen und zerstören, ohne sich viel um den eigentlichen Zusammenhang der Haupttheile eines Gedankens zu bekümmern. Ungeachtet aller Fragen nach dem Warum? und Wozu? gebrauchen sie doch jedes Geräth, ohne Rücksicht auf seinen Zweck, so wie es ihren augenblicklichen Einfällen j gerade dienen mag. Sie sehen scharf, aber sie beobachten selten; die wahre Beschaffenheit der Dinge hindert sie nicht, nach ihrer Phantasie mit Allem zu spielen, und dabey Alles für Alles gelten zu lassen. Sie empfangen Gesamt-Eindrücke von ähnlichen Dingen, aber sie sondern die Begriffe nicht ab; das Abstrakte kommt nicht von selbst in ihre Gedanken. Diese und ähnliche Bemerkungen passen aber bey weitem nicht gleichmässig auf Alle, sondern es giebt grofse Unterschiede der Individuen; und mit der Eigenthümlichkeit eines Kindes beginnt schon seine Ein- seitigkeit.

2. Abschnitt. Unterricht. 7. Cap. Gang des Unterrichts. 165

§ 112.

Das Erste nun, was hieraus sogleich folgt, ist dies, dass für eine Schule, wo Viele zusammen lernen sollen, die Aufgabe entsteht, sie gleich- artiger zu machen; und zu diesem Zwecke den Vorrath an Erfahrungen, den sie mitbringen, einer Umarbeitung zu unterwerfen. Aber nicht bloss die Gleichartigkeit der Schüler, so wünschenswerth sie ist, wird hier be- absichtigt. Auch schon bey Einzelnen soll für das Eingreifen des ge- sammten Unterrichts in ihre Vorstellungs-Massen gesorgt werden; die An- knüpfungen, deren im Obigen vielfach erwähnt ist, bedürfen es, dass man jene Massen nicht roh, wie sie sind, liegen lasse. Das haben denkende Pädagogen längst bezeugt, während der bloss gelehrte Eifer es immer von neuem verkennt.

Niemeyer, in seinem allgemein verbreiteten Werke, beginnt die Ab- theilung von den besondern Gesetzen des Unterrichts mit dem Capitel von der ersten Erweckung der Aufmerksamkeit and des Nachdenkens durch Unterricht, oder den Verstandes- Uebungen. Diese Verstandes-Uebungen sind nichts anderes als der erste analytische Unterricht. Er sagt: „Sobald man es dem Alter, der Gesundheit und den Kräften der Kinder an- gemessen findet, einen eigentlichen, an eine bestimmte Zeit gebundenen Unterricht mit ihnen anzustellen, so sollte die erste Lection, welche, wenn gleich in sehr verschiedenen Modifikationen, bis ins neunte, zehnte Jahr, und auch wohl noch weitet fortgesetzt werden könnte, die in der Ueber- schrift des Capitels bezeichnete seyn. Sie lässt sich gerade mit keinem kurzen Namen andeuten; daher mag es wohl kommen, dass man sie in den meisten Lections- Verzeichnissen der Schulen, wie des Privat - Unterrichts, vergebens sticht. Dass man endlich selbst in den Volksschulen darauf auf- merksam geworden ist, gehört zu den unsterblichen Verdiensten, welche sich der verehrungswürdige Domherr von Rochow erworben hat."

Pestalozzi, in seinem Buche der Mutter, war auf dem nämlichen Wege; nur beschränkte er sich unzweckmässig auf einen einzelnen Gegen- stand. Die Art der Uebungen ist bey ihm zum Theil noch bestirnmter angegeben als bey Niemeyern.

§ "3-

Zuerst müssen die Auffassungen der umgebenden Dinge, bey denen die stärksten Eindrücke ein Uebergewicht haben 111), dem Gleichmass angenähert werden. Dies geschieht durch gleichmässiges Reproduciren.

Niemeyer spricht: „Man gehe im Gespräch von den Gegenständen aus, welche unmittelbar auf die Sinne der Kinder wirken, und lasse sie, indem man darauf hindeutet die Namen dieser Gegenstände angeben. Dann gehe man zu abwesenden Dingen über, welche sie aber schon ge- sehen oder empfunden haben, und übe zugleich ihre Einbildungskraft und ihre Sprache, indem sie aufzählen müssen, wes sie sich daran erinnern,. Materialien dazu: Alles was im Zimmer ist. Alles was am mensch- lichen Körper bemerkt wird. Alles was zur Nahrung Bekleidung Bequemlichkeit gehört. Was auf dem Felde, im Garten, auf dem Hofe ist; Thiere, Pflanzen, so weit die Kinder sie kennen."

j56 Anhang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

§ 114-

Die nächsten Schritte sind: Angabe der Haupttheile, in die ein Ganzes zerfällt, der gegenseitigen Lage dieser Theile, ihrer Verbindung, und ihrer Beweglichkeit, falls solche ohne Beschädigung Statt findet. Hieran knüpft sich schon das Leichteste vom Gebrauch der Dinge, sammt Erinnerungen daran, wie man sie nicht gebrauchen dürfe um sie nicht zu verderben, wie man sie vielmehr hüten und schonen müsse. Menge, Anzahl, Grösse, Gestalt, Gewicht der Dinge, sind ebenfalls hier schon zu berühren und zu vergleichen.

Dies reicht noch nicht hin, um die Vorstellungen zur Deutlichkeit zu erheben, und künftigem abstracten Denken vorzuarbeiten. Durchs Auf- suchen der Merkmale müssen die Prädicate erst von den Gegenständen hergenommen, a/sda?in rückivärts die Prädicate aufgestellt, und die Gegen- stände so zusammengefasst werden, wie sie sich jenen unterordnen lassen. {Schön Pestalozzi hat diese Unterscheidung, welche für die Vorbereitung zur Abstraction wesentlich ist.) Hiebey wird Vergleichen, Unterscheiden, zuweilen genaueres Beobachten sich von selbst einstellen; Erschleichungen, welche das Phantasieren herbeyführte, werden Berichtigung erhalten, indem man auf die Erfahrung, als die Erkenntnissquelle, zurückgeht.

§ Ho- Das Wichtigste von dem, was noch zu thun übrig ist, besteht nun im Ueberschauen einer längern Zeitreihe, wohinein die Dinge sammt ihrem künstlichen und natürlichen Ursprünge gehören. So gewinnt man ins- besondre diejenigen Vorkenntnisse, welche theils in das Leichteste der Technologie einschlagen, theils den Verkehr unter den Menschen betreffen; woraus späterhin Anknüpfungspuncte für Naturgeschichte und Geographie •sich ergeben. Aber auch der Geschichte muss hier vorgearbeitet werden, indem von Zeiten (wenn auch ohne alle nähere Bestimmung) gesprochen wird, da man die jetzigen Geräthe und Werkzeuge noch nicht hatte, die -heutigen Künste noch nicht kannte, die Materialien, welche aus fernen Ländern kommen, noch nicht besass.

§ n6. Werden für den hier beschriebenen Unterricht keine bestimmten Lehrstunden angesetzt, so folgt zwar daraus noch nicht, dass er gänzlich fehle; denn er kann in verschiedenes Andre verwebt seyn ; namentlich grossentheils in die Erklärung der Kinderschriften, welche den frühesten Lehrstunden im Deutschen zufällt. Allein was als Nebensache betrieben ' wird, läuft Gefahr einer nachlässigen mindestens ungenügenden Behandlung. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass auf Schulen die Ansetzung eigner Lehrstunden für den analytischen Unterricht darum schwierig werden kann, weil die Geschwindigkeit oder Langsamkeit im Fortschreiten, von dem Gedankenvorrath welchen die Schüler mitbringen, und von ihrer Be- reitwilligkeit, sich zu äussern, grossentheils abhängt. Und wiewohl Nie- meyer (a. a. O.) ausdrücklich sagt: „Kinder wissen dabey nichts von Langerweile", so fügt er doch sogleich hinzu: „sie können aber leicht verwöhnt werden, wenn man zu geschwind von Einem aufs Andre über-

2. Abschnitt. Unterricht. ~. Cap. Gang des Unterrichts. inj

springt." Solche oder ahnliche Verwöhnung kann auf Schulen aus andern Lehrstunden entstehn, wo der Lehrstoff sehr reichlich dargeboten, und den Schülern die Mühe gespart wird , ihn selbst durch ihre eignen Reminis- cenzen herbeyzuschaffen. Deshalb möge man immerhin die ersten Ver- suche auf wenige Stunden oder Wochen verlegen, die sich in die deutschen Lectionen einschalten lassen.

Im Privat-Unterricht durch Hauslehrer fällt eine solche Bedenklich- keit weg; und der Gedankenvorrath, welchen die Schüler besitzen, lässt sich sattsam beobachten, um danach den Plan des ersten analytischen Unterrichts einzurichten.

§ 117-

Späterhin kehrt der analytische Unterricht in andern Formen wieder, nämlich als Repetition und Correctur schriftlicher Arbeiten. Was der Lehrer schon vorgetragen, und wozu er die Hülfsmittel schon gegeben hatte, das erwartet er beym Wiederhohlen und in den Aufsätzen der Schüler wiederzufinden; das Gefundene wird nöthigenfalls zergliedert und berichtigt.

Leicht aber entsteht beym Wiederhohlen eine unpädagogische Ver- wechselung, welche die oben bemerkten Uebel 105) herbey führt; die Verwechselung des Repetirens mit dem Examiniren. An sich betrachtet ist Eins vom Andern völlis; verschieden. Wäre der Lehrer einer voll- kommenen Aufmerksamkeit und zugleich des Verstehens sicher, so würde er, des bessern Behaltens wegen, das schon Vorgetragene nochmals vor- tragen, ohne Zuthun des Schülers. Dann läge darin nichts vom analytischen L'nterricht; auch nichts dem Examiniren Aehnliches. In den meisten Fällen aber wird von den Zöglingen verlangt, dass sie, soviel sie behalten haben, reproduciren sollen; dies nimmt leicht den Schein an, als wäre ihnen zugemuthet, sie hätten Alles behalten sollen, was genau ge- nommen, nicht einmal beym Examen gefodert wird. Der Examinator will den Stand der Kenntnisse, wie sie nun eben sind, untersuchen; das Repetitiren aber geschieht, um das Wissen zu verstärken und zu ver- bessern. Aufs Examen mag immerhin Lob oder Tadel folgen; dem Re- petiren ist beydes fremdartig.

Da das Repetiren und das, ihm ähnliche, Einüben den grössern Theil der Lehrzeit einnimmt, so verdient es eine nähere Beleuchtung.

§ n8.

Werden mehrere Vorstellungen wiederhohlt gegeben, so gewinnen sie nicht bloss an Stärke, sondern die Hemmung unter ihnen, falls sie ent- gegengesetzter Art sind, hindert bey der Reproduction ihre Verbindung weniger, als bey der ersten Auffassung. Die Verbindung wächst nicht bloss, sie wird auch gleichmässiger, d. h. die schwächern Vorstellungen halten sich besser neben den stärkeren. Ferner, wenn eine Reihe von successiven Vorstellungen wiederhohlt gegeben wird, so wirken die vordem in der Reihe schon reproducirend auf die nachfolgenden, noch ehe die letztern gegeben werden; und dies um desto mehr; je öfter die Wieder- hohlung sich erneuert; damit hängt die wachsende Geschwindigkeit bey

j58 Anhang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

zunehmender Fertigkeit zusammen. Dieser psychische Process kann aber durch fremdartige Gedanken sehr leicht Störungen erleiden.

Wir setzen nun voraus, der Lehrer habe einen zweckmässigen Vor- trag gehalten; nicht länger als für die Schüler passt, vielleicht nur wenige Minuten lano;. Er könnte selbst wiederhohlen ; damit aber die Schüler sich nicht andern Gedanken überlassen, fodert er sie zum Wiederhohlen auf. Mislingt ihnen der Versuch, so ist es nun Zeit, Hülfe zu leisten, also selbst zu wiederhohlen. Aber sehr oft haben sie einiges behalten, anderes vergessen ; dann kommt es darauf an, die eignen hervorstreben- den Vorstellungen der Schüler zwar zu unterstützen, aber nicht zu stören ; also nicht mehr und nicht weniger, nicht schneller und nicht langsamer einzuhelfen, als dienlich ist, um den Gedankengang der Schüler möglichst dem richtigen Gange des Vortrags zu nähern. Wird dies verfehlt, so ist die Reproduction nicht gehörig wirksam, um die verlangte Verbindung und Fertigkeit zu erzeugen; man wiederhohlt vielemal ohne Erfolg; es entsteht Ermüdung, und falsche Verbindung, die sehr zu fürchten ist. Sind die Schüler unaufgelegt, so muss man für dasmal langsam gehn ; mangelt das Interesse, so kann man sie nicht in den rechten Gang bringen. Ist der Lehrer ungeschickt im Wiederhohlen, so spürt man nach einiger Zeit selbst an den fragmentarischen Antworten der Schüler, dass sie keinen rechten Gedankenfluss gewonnen haben.

§ 119-

Wir haben einen zweckmässigen Vortrag, der als Beyspiel dienen könne 105) vorausgesetzt. Die Zweckmässigkeit liegt vielleicht schon in den Worten; dann soll die Wiederhohlung sich nahe (nur nicht pe- dantisch in Kleinigkeiten) an den Worten halten. Aber sehr häufig liegt das Wesentlich-Zweckmässige in der Gedankenfolge; dann wechselt man mit den Worten, und lässt sich Anfangs gefallen, dass die Schüler in ihrer, wenn auch minder passenden Sprache wiederhohlend die Probe des Verstehens ablegen. Dann aber muss noch immer auf den Zug der Ge- danken geachtet werden, welchen die Wiederhohlung möglichst zusammen- hängend erneuern soll.

§ 120.

Anders verhält es sich, wenn ganze Parthien eines wohl gelungenen Unterrichts späterhin wiederhohlt werden. War früher das Einzelne, der Klarheit wegen, weit auseinander gerückt worden, 68), war gleichfalls schon für Associationen mancherley Art gesorgt (durchs Gespräch, oder ge- legentliche Erwähnungen in andern Lehrstunden, oder auch durch die Erfahrung selbst, nach § 110): so dient jetzt die Wiederhohlung zuvörderst, um das Ausgebreitete ins Enge zusammenzuziehn, dann zur systematischen Anordnung, und häufig zugleich um vollständiger zu lehren, und das Schwerere zum Leichtern zu fügen. Hier verändert sich der Vortrag selbst, der jetzt einer höhern Stufe genügen will. Meistens wird es auch auf dieser höhern Stufe noch solcher Wiederhohlungen bedürfen, welche gleich nach dem Vortrage (oder etwa in der nächsten Lehrstunde) folgen.

2. Abschnitt. Unterricht. 7. Cap. Gang des Unterrichts. 169

§ 121. Für diese Stufe, welche die frühere Stellung des Lehrstoffs zusammen- drängend und einschaltend abändert, ist zu überlegen, welche Form der Verbindung den Gegenständen eigenthümlich, und für den Gebrauch, zu- kommen ; welche Reihenbildung und Verwebung dem gemäss die Vor- stellungen des Lehrlings annehmen sollen. Jedenfalls ist dies weit mehr Sache der Wiederhohlung als des Vortrags, der von mehrern Reihen jedesmal nur Eine durchlaufen kann, und schon in Wiederhohlung über- geht, wenn er die andern nachtragen will.

In der Naturgeschichte z. B. giebt es verschiedene Classificationen; in der Geschichte durchkreuzt der Synchronismus die Ethnographie, und die Culturgeschichte verlangt wieder andre Verknüpfungen; in der Geo- graphie soll man von jeder merkwürdigen Stadt aus sich nach allen Richtungen orienthen, aber die Städte an den Flüssen weisen hin auf Flussgebiete und Gebirgszüge; in der Mathematik soll jeder Satz beym Gebrauch bereit liegen, aber er hat auch seinen bestimmten Platz ver- möge des Beweises; grammatische Regeln sollen ebenfalls jederzeit zu Gebote stehn; aber zugleich ist höchst nöthig, dass der Schüler in seiner Grammatik vollkommen zu Hause sey, und für Jedes, was er nachschlagen will, die Stelle wisse wo es zu suchen ist.

Der Lehrer, welcher geschickt wiederhohlend dieser Mannigfaltigkeit der Verknüpfungen zu entsprechen weiss, ist nicht immer derselbe, welcher am besten versteht, im systematischen Vortrage die Hauptgedanken her- vorzuheben, und das Untergeordnete anzuknüpfen.

§ 122.

Die Anregung der Schüler zum Wiederhohlen muss in der Regel von solchen Puncten ausgehn, die ihnen geläufig sind. Nachgiebigkeit gegen ihren Gedankenlauf muss hinzukommen; der wiederhohlende Lehrer darf keinen ganz vesten Plan verfolgen. Die nöthigen Berichtigungen erfodern einige Verweilung; das Berichtigte muss oft einen neuen An- knüpfungspunct abgeben, von wo aus man sich orientirt. Manchmal muss den Schülern Ire)' stehn, selbst anzugeben, was zu wiederhohlen ihnen am nöthisrsten scheine. Dadurch übernehmen sie eine Art von Verantwortung wegen des Uebrigen, und sind um so mehr aufgefordert, nachzulernen was fehlte.

§ 123.

Die Correctur schriftlicher Arbeiten gehört ebenfalls zum analytischen Unterricht; aber die Mühe ist grösser als der Gewinn, wenn schriftliche Arbeiten zu früh verlangt werden. Der Schüler verdichtet während des Schreibens seine eignen Vorstellungen; damit verdirbt er sich, wenn er fehlt; seine Fehler kleben ihm an. Man hat sich vorzusehn, ob man nicht seiner Achtsamkeit während des mündlichen Corrigirens und beym Nachlesen des Geschriebenen mehr zutraut, als sie leistet. War oft ge- fehlt, war ein ganzer Wald von Fehlern aufgeschossen, so werden alle Fehler gleichgültig; sie demüthigen, aber sie machen auch muthlos. Darum nur ganz kurze Aufgaben zum Schreiben, wenn der Schüler schwach ist; und lieber gar keine, so lange man durch Uebungen anderer Art sicherer

170 Anbang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

von der Stelle kommt. Derjenige Lehrer, welcher häusliche Arbeit auf- giebt, um sich in der Schule die Mühe zu sparen, verrechnet sich ganz; die Mühe wird ihm bald desto sauerer werden.

Manche glauben, statt kurzer Arbeiten lieber ganz leichte geben zu müssen, und zur Erleichterung wird Alles möglichst genau vorbereitet; (Disposition und Phrasen.) Man täuscht sich. Hatte das Schreiben einen Zweck, so musste er darin liegen, dass man den Schüler veranlasste, zu versuchen, was ei ohne den Lehrer vermöge. Kommt nun der Versuch in Gang, so darf für dasmal der Lehrer nicht durch allerley Vor- geschriebenes in den Weg treten. Kommt der Versuch nicht in Gang, so war es zu früh; man muss warten; oder die Aufgabe abkürzen, sollte sie auch bis auf drey Zeilen zusammenschrumpfen. Denn drey Zeilen eigner Arbeit sind besser als drey Seiten nach Vorschrift. Die Täuschungen, die man sich durchs Gängeln bereitet, können Jahre lang dauern, ehe man für das eigne Vermögen des Schülers einen richtigen Maassstab erlangt.

§ 124.

Ganz anders verhält es sich, wenn man vor dem Schreiben dem Schüler zur Entwickelung seiner Gedanken mündlich geholfen hat. Diese Art von Analyse ist besonders im Jünglings- Alter wichtig; es kommt aber ■darauf an, dass die Schüler seine Meinung offen äussere. Geschieht dies, so ist ein Thema zum Gespräch gegeben, worin der Lehrer sich vor hartem Widerspruch um desto mehr hüten wird, je mehr ihm daran liegt, bey dem Schüler etwas auszurichten. Etwas Anderes ist, vorlaute Un- beschiedenheit zurückzuweisen.

Selbstgewählte Themata sind den aufgegebenen weit vorzuziehn, nur nicht von der Mehrzahl der Schüler zu erwarten. Aber wenn solche er- scheinen, so liefert schon die Wahl, noch mehr die Ausführung, einen Beytrag zur Kenntniss der Meinungen, die unter den Schülern im Um- lauf sind, der Eindrücke, welche fortwährend durch die Schule nicht bloss sondern auch durch Erfahrung und Umgang sind gemacht worden. Noch weit bestimmter bezeichnet sich die Individualität des Schreibenden. Diese zu erblicken, darauf muss jeder Lehrer gefasst seyn, gesetzt auch, er möchte lieber sich selbst in den Schülern abgespiegelt sehn. Es würde zu Nichts dienen, wollte er seine eigne Meinung in die Aufsätze der Schüler hinein corrigiren; er würde sie dadurch nicht zur ihrigen machen. Aber Form der Darstellung lässt sich corrigiren; zur Berichtigung der Meinungen mögen andre Gelegenheiten verhelfen, falls dieselbe überhaupt gelingen kann.

§ 125. Für den eigentlichen synthetischen Unterricht 107) setzen wir nun voraus, dass der bloss darstellende und der analytische während des .ganzen Laufs der Jugendlehrzeit überall an den passenden Orten zu Hülfe kommen. Sonst bleibt der Erfolg, insbesondere die Verschmelzung des Gelernten mit dem, was der Lauf des Lebens herbeyführt, immer zweifel- haft. Der synthetische Unterricht soll viel Neues und Fremdes herbeyführen ; der allgemeine Reiz des Neuen muss hier mit angewöhntem Fleiss, und mit dem eigentümlichen Interesse jedes Lehrgegenstandes zusammen wirken.

2. Abschnitt. Unterricht. 7. Cap. Gang des Unterrichts. 171

Bey den heutiges Tags viel besprochenen Angelegenheiten nicht bloss Italiens sondern auch Griechenlands und des Orients, bey der jetzigen Verbreitung der Natur-Kenntnisse, kann es nicht fehlen, dass selbst der frühern Jugend Manches zu Ohren kommt, was der Gleichgültigkeit oder Abneigung vorbeugt, womit noch vor einem halben Jahrhundert, Schul- kenntnisse als etwas dem Leben Fremdartiges angesehen wurden. Gegen- wärtig kann es nicht schwer seyn, die Neugier zu entfernten Gegenden und selbst auf vergangene Zeiten hinzulenken; besonders wo Sammlungen von Seltenheiten und Alterthümern in der Nähe sind. Solcher Reiz würde indessen gegen die Mühe des Lernens nicht lange ausdauern, wenn nicht zugleich eine Meinung von der Notwendigkeit des Lernens ver- breitet wäre. Hier kommen die gesetzlichen Foderungen der Schulen, besonders der Gymnasien, zu Hülfe. Die Familien wirken nun auf den Fleiss der Jugend; bey guter Regierung und Zucht erlangt man leicht die Willigkeit zum Lernen. Nicht so leicht wird ein acht wissenschaft- liches Streben erreicht, welches noch über die Examina hinaus wirke ; dies weiset uns auf das mannigfaltige Interesse 83 94) zurück. Wäre das Interesse nicht schon der Zweck des Unterrichts, so müsste man es als das einzige Mittel betrachten, um seinen Erfolgen Haltbarkeit zu ver- leihen.

Das Interesse nun hängt zwar einerseits von der natürlichen Fähisr- keit ab, die man nicht schaffen kann; andererseits aber von den Gegen- ständen, welche sich darbieten.

§ 126. Gegenstände, welche ein dauerndes, und von selbst weit umher sich verzweigendes Interesse gewähren können, soll der synthetische Unterricht vorlegen. Was nur ein kurzes Vergnügen, eine leichte Unterhaltung giebt, ist geringfügig; es kann den Plan des Verfahrens nicht bestimmen. Was isolirt steht, keine anhaltende Beschäfftigung veranlasst, ist um desto weniger zu empfehlen, je weniger man entscheiden kann, welcher von den Hauptklassen des Interesse 83 94) die Individuen sich vorzugsweise zuneigen werden. Dagegen haben solche Gegenstände den Vorrang, welche auf mancherley Weise die Gemüther ansprechen, Jeden nach seiner Art anregen können. Solchen Gegenständen muss man Zeit lassen, ihnen einen längeren Fleiss zuwenden; es ist alsdann zu hoflen, dass sie auf irgend eine Weise eingreifen; und es wird sich finden, welche Art des Interesse sie bey Diesem oder Jenem gewonnen haben. Wo dagegen der Faden der Beschäfftigung bald abreisst, da ist zweifelhaft, ob irgend eine Wirkung erfolgen, vollends ob ein dauernder Eindruck zurück bleiben wird.

§ 127. Die Wahl eines Gegenstandes sey geschehen : so muss dessen Behandlung allerdings der Beschaffenheit desselben gemäss seyn, damit die Jugend ihn erreichen könne. In den hiedurch veranlassten Be- schäfftigungen gilt im Allgemeinen die bekannte Regel, das Leichtere dem Schwereren, und insbesondere das Erleichternde demjenigen vorauszu- schicken, was nicht ohne Vorkenntnisse mit Sicherheit kann gefasst werden.

I~2 Anhang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

Allein hierin die äusserste Pünktlickeit fodern, heisst oft soviel, als das Interesse verscheuchen. Vollkommene Fertigkeit in Vorkenntnissen kommt spät, und nicht ohne Ermüdung. Der Lehrer muss zufrieden seyn, wenn die Fertigkeit so weit gediehen ist, dass er sie durch seine Nachülfe bevm Gebrauch ohne bedeutende Störung ergänzen kann. Den Weg so voll- kommen ebnen, dass gar kein Sprung mehr nöthig sey 96) heisst für die Bequemlichkeit des Lehrers sorgen; nicht für die der Schüler. Die Jugend klettert und springt gern, sie folgt nicht leicht dem ganz ebenen Pfade. Aber sie fürchtet sich im Dunkeln. Es muss hell seyn; das heisst, der Gegenstand muss in einer solchen Ausbreitung vor Augen liegen, dass beym Fortschreiten auch das Weiterkommen, die Annäheiung an entfernte Puncte wahrzunehmen sey.

§ 128.

Was die Folge der Gegenstände anlangt: so unterscheide man zu- vörderst zwischen Vorkenntnissen und Fertigkeiten. Bekanntlich werden schon gewonnene Fertigkeiten erst nach sehr langem Gebrauch so be- vestigt, dass sie nicht mehr verloren gehn. Daher müssen sie, von der Zeit an, da sie zum Gebrauch hinreichen, fortwährend in Uebung bleiben. Hingegen blosse Vorkenntnisse, welche ermüdet haben, bevor sie geläufig wurden, dürfen vergessen werden. Es bleibt genug zurück, um später erneuertes Lernen zu erleichtern 92, 103). Daher können nicht solche Vorkenntnisse, wohl aber jene Fertigkeiten, bestimmende Gründe abgeben, um danach die Folge der Gegenstände einzurichten. Von sehr noth- wendigen Vorkenntnissen den ersten grammatischen, arithmetischen, geometrischen wird man die allerleichtesten Anfänge zweckmässig jedem Gebrauche weit voranschicken, bloss das Einzelne zeigend bis zur klaren Auffassung 68, 69) und es hin und wieder assoeiirend; wo möglich ohne zu ermüden. Sollten auch die ersten Versuche des Aus- wendig-Lernens gelingen, so ist es doch sicherer, sich darauf nicht zu verlassen; sondern die Sache eine Zeitlang bey Seite zu legen. Später wird man von vorn anfangen, ohne zu fodern, dass etwas behalten sey; man wird aber etwas Mehr vom Lehrstoffe aufnehmen können; und nun schon den Zusammenhang des Einzelnen bemerklich machen. Je müh- samer die Auffassung, desto behutsamer sey das Fortschreiten. Kommt die Zeit des Gebrauchs, so ist strenger Fleiss zu fodern; doch nur für massige Aufgaben ; und ohne durch harte Mittel die Foderung aufs Aeusserste zu treiben. Nicht Alle können Alles! Zuweilen gelingt spätem Jahren, was in frühern nur nicht verdorben wurde. v

§ 129.

Ferner entspricht jeder Stufe, welche der Unterricht schon erreicht hat, eine gewisse Fähigkeit zum appereipirenden Merken 77), welche sorg- fältig zu berücksichtigen ist. Denn man soll benutzen, was leicht geschehen kann, um hiedurch mittelbar zu erleichtern, was sonst schwer und zeit- raubend seyn würde.

Man unterscheide Einschalten und Fortsetzen, und verbinde diesen Unterschied mit jenem der frey steigenden und der gehobenen Vor-

2. Abschnitt. Unterricht. 7. Cap. Gang des Unterrichts. 172

Stellungen 71). Einschalten zwischen bekannten Puncten geschieht leichter als Fortsetzen, wo die fortlaufende Reihe nur mit ihrem Anfangspunkte sich dem Bekannten anschliesst. Einschalten zwischen frev steigenden Vorstellungen, zwischen dem, was dem Schüler von selbst einfällt, indem man ihn in einen gewissen Gedankenkreis versetzt, gelingt am leichtesten. Fortsetzen solcher Lehren, deren Vorstellung erst durch müh- sames Erinnern gehoben werden muss, ist am schwierigsten und von unsicherem Erfolge. Zwischen beyden steht theils das Einschalten in mehrere gehobene Vorstellungen, theils das Fortsetzen mit Anknüpfung an die frey steigenden. Dass hiebey noch viele Abstufungen vorkommen können, versteht sich von selbst.

Der Lehrer, welcher seine Schüler genau kennt, wird diese Unter- schiede vielfach benutzen können. Hier nur das Allgemeinste.

Sind für Realien und fürs Mathematische die Vorteile der leichteren Anknüpfung an den Erfahrungskreis 101, 102) gehörig beachtet: so kann man hier auf frey steigende Vorstellungen rechnen; es wird alsdann darauf ankommen, einige, dazu geeignete, Hauptpuncte früher zu gewinnen, um Anderes später dazwischen einzuschalten.

Mehr Schwierigkeiten machen die Sprachen. Zwar die Fortschritte im Deutschen geschehen durch Apperception vermöge dessen, was der Knabe sich als seine eigentliche Muttersprache ursprünglich zugeeignet hatte; und durch Einschaltung des Neuen ins Bekannte. Aber für die fremden Sprachen, die sich erst allmählig mit der Muttersprache com- pliciren, ist Apperception und Einschaltung erst dann möglich, wann schon einige Kenntniss derselben erlangt ist; und die Kenntniss muss bedeutend wachsen, bevor auf frey steigende Vorstellungen darf gerechnet werden. Belastet man nun die gehobenen Vorstellungen durch neue, vollends durch blosse Fortsetzung so ist kein Wunder, wenn ein unbrauchbares Chaos herauskommt.

Ohne Zweifel ist dies der Grund, weshalb die Versuche, alte Sprachen ohne Grammatik ex hsu zu lehren, wie man im fremden Lande die dortige Sprache leicht lernt, fehlschlagen mussten. Wer in Frankreich französisch lernt, der hat Personen und Handlungen vor Augen; er erräth leicht, was ihn angeht; diese Apperception geschieht gewiss durch frey steigende Vorstellungen, mit denen sich die Sprache complicirt; und bald wird die Sprache selbst zur Apperception und zum Einschalten bereit seyn. Hin- gegen der alten Sprache müssen erst grammatische Stützpunkte gegeben werden, hauptsächlich Flexionszeichen, Pronomina und Partikeln. Nur wolle man nicht gleich Anfangs die Grammatik selbst in Masse anrücken lassen, als ob sie keiner Stützpunkte bedürfte. Langer Gebrauch des Nöthigsten muss voran gehn. Am schlechtesten aber wäre Anfangs ein cursorisches Lesen, ein Fortsetzen ohne Bevestigung.

Dennoch giebt es eine Bedingung, unter welcher selbst solches Lesen guten Erfolg hat, nämlich lebhaftes Interesse für den Inhalt.

§ 130. Wenn die Gedanken des Lesers den Worten voran eilen, und meistens den Sinn treffen, so geschieht die verlangte Apperception durch frey

j -i Anhang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik

steigende Vorstellungen sammt der Einschaltung dessen was nicht errathen war. Dies setzt aber ein sehr günstiges Verhältniss des Buchs zum Leser voraus. Daher müssen beym Sprachunterricht die Bücher sehr sorgfältig gewählt, und ihrem Inhalte nach erklärt werden.

Diese Arbeit darf nicht unter dem Grammatischen leiden, wohl aber muss vom Grammatischen, soviel nöthig; theils vorangehn, theils beym Lesen ergänzt, theils bey passenden Ruhepuncten eingeschaltet, und mehr und mehr eingeübt werden. Schriftliche Uebungen haben eine andere Stelle, und andern Bezug auf die Grammatik.

Das Interesse am Schriftsteller hängt sehr von historischer Vor- bereitung ab; der Zusammenhang der Philologie mit den sogenannten Realien ist in dieser Beziehung nicht zu verkennen,

Achtes Capitel. Vom Lehrplan im Allgemeinen.

§ 131- Wo vielerley Veranstaltungen zu Einem Zwecke wirken sollen, viele Hindernisse zu überwinden, höhere, gleichgestellte untergeordnete Personen zu berücksichtigen sind, da ist es immer schwer, den Zweck selbst als ein unverrücktes Ziel vest im Auge zu behalten. Beym Unterricht kommt hiezu der Umstand, dass kein einzelner Lehrer ihn vollständig ertheilen kann, dass also nothwendig mehrere gegenseitig auf einander rechnen müssen. Eben deshalb aber ist bei aller Verschiedenheit, welche die Lehr- pläne nach den Umständen annehmen, der allgemeine Zweck, nämlich viel- seitiges, möglichst gleichschwebendes, wohl verbundenes Interesse, diese eigentliche Entwicklung der Geisteskraft, hervorzuheben als dasjenige, worauf alle Einzelheiten des Verfahrens sich beziehen sollen.

§ 132. Der Unterricht darf überhaupt nicht mehr Zeit verlangen, als wie viel mit der Bedingung bestehn kann, dass der Jugend ihre natürliche Munterkeit erhalten bleibe. Nicht bloss wegen der Gesundheit und körperlichen Stärke, sondern was hier der nächste Grund ist weil alle Kunst und Mühe, die Aufmerksamkeit wach zu erhalten, an der Unaufgelegtheit scheitert, die aus zu langem Sitzen, ja schon aus zu starker geistiger Anspannung entsteht. Die willkührliche Aufmerksamkeit 3 genügt dem Unterricht nicht, wenn sie auch durch die Disciplin kann erlangt werden. Dringend nothwendig ist jeder Schule nicht bloss ein Local mit geräumigen Lehrzimmern, sondern auch ein freier Platz zur Erhohlung; dringend nothwendig, dass nach jeder Lehrstunde eine Pause, nach den ersten zwey Erlaubniss zur Bewegung im Freyen, und nach der dritten, falls noch eine vierte folgen soll, wiederum dieselbe Erlaubniss ertheilt werde. Noch dringender ist, dass die Schüler nicht durch auf- gegebene häusliche Arbeiten um die nöthige Erhohlungszeit gebracht werden. Wer die, vielleicht zweifelhafte, häusliche Aufsicht durch Ueberhäufung mit

2. Abschnitt. Unterricht. 8. Cap. Vom Lehrplan im Allgemeinen. i - c

Aufgaben entbehrlicher zu machen gedenkt, setzt ein gewisses und allge- meines Uebel an die Stelle des ungewissen und partialen.

Sehr bittere Klagen sind in neuerer Zeit aus Vernachlässigung solcher Vorsicht entstanden ; sie werden aus ähnlichen Gründen sich immer wieder- hohlen: sie sind durch anstrengende gymnastische Uebungen nicht zu haben: sie setzen den Unterricht in Gefahr, Beschränkungen zu erleiden, bey denen sein innerer Zusammenhang nicht bestehn kann.

§ 133-

Die Zeit, welche dem Unterricht zukommt, darf nicht zerstreut werden. Zwey Stunden in der Woche für dies, und zwey Stunden für jenes, jede durch zwey oder drey Tage von der andern getrennt, sind eine alte eingewurzelte Verkehrtheit, bey der kein Zusammenhang des Vortrags gedeihen kann. Wenn der Lehrer das erträgt, so muss freylich der Schüler es wohl auch erträglich finden.

Die Lehrgegenstände müssen abwechseln, damit jeder seine zu- sammenhängende Zeit finde. Nicht allen kann ein ganzes Semester ein- geräumt werden; man muss oft kürzere Zeiträume ansetzen.

Die Lehrgegenstände dürfen auch nicht nach den Namen ihrer Fächer getrennt werden, Wer z. B. eigne Stunden für griechische und römische Alterthümer, eigne für Mythologie noch neben den Lehrstunden für Lesung alter Auetoren, eigne für Encyclopädie der Wissenschaften noch neben dem deutschen Unterricht in der obersten Klasse, eigne für analytische Geometrie noch neben der Algebra ansetzen wollte, der würde zerreissen, wo er verbinden soll, und die Zeit zersplittern.

Zeitersparung beruht auf bessern Methoden, auf Uebung im Vortrage und Geschick zum Repetiren.

§ 134.

Es kann viel Werth haben, wenn heranwachsende junge Leute Manches für sich lesen und treiben; sie entwickeln sich nach ihrer Eigenthümlichkeit, indem sie nach eigner Wahl thun was ihnen zusagt. Aber bedenklich ist, darüber Bericht in der Schule zu fodern. Mittelmässige Köpfe sollen nicht aus Ehrgeiz nachahmen, was ihnen nicht passt; und das Viellesen soll nicht dem Gefühl und dem Denken Eintrag thun. Die Breite der Ge- lehrsamkeit ist nicht einerley mit der Tiefe, und kann diese nicht ersetzen. Mancher übt schöne Künste statt zu lesen. Einige müssen frühzeitig Unter- richt ertheilen, um leben zu können. Alsdann lernen sie beym Lehren.

Den wesentlichen Zusammenhang der Studien muss der Lehrplan in sich fassen, ohne sich auf Neben-Lectüre zu stützen.

§ 135-

Von Anfang bis zu Ende soll der Lehrplan die sämmtlichen Haupt- klassen des Interesse zugleich berücksichtigen. Das empirische Interesse trit zwar überall am leichtesten hervor. Aber der Religions-Unterricht ernährt stets die theilnehmenden Interessen; darin muss ihn der historische Unterricht sowohl als der philologische unterstützen; die ästhetische Bildung beruht Anfangs auf den Stunden im Deutschen; wünschenswerth ist da- neben Unterricht im Singen, welches zugleich dem Körper wohlthun kann;

j-6 Anhang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

später wirken die alten Schriftsteller mit. Uebung im Denken gewährt theils der analytische, theils der grammatische, theils der mathematische Unterricht; gegen das Ende auch der historische, indem er einen prag- matischen Charakter annimmt. Zusammenwirkungen dieser Art sind überall zu erstreben; die Schriftsteller müssen danach gewählt und in der Er-

klärung behandelt werden.

Dritter Abschnitt. Zucht.

Erstes Capitel. Vom Verhältniss der Zucht zur Regierung und zum Unterricht.

§ 136.

Die Zucht schaut in die Zukunft des Zöglings. Sie beruht auf der Hoffnung, und zeigt sich zunächst in der Geduld. Sie mässigt die Re- gierung, die sonst durch grössere Härte vielleicht schneller zum Zwecke käme. Sie mässigt selbst den Unterricht auf den Fall, dass seine Wirkung das Individuum zu stark anspannt. Aber sie vereinigt sich auch mit beiden, und erleichtert sie.

Ursprünglich ist die Zucht ein persönliches Benehmen; wo möglich nichts anderes als eine freundliche Behandlung. Darin liegt die Zu- gänglichkeit des Mannes für die Wünsche und Reden des Zöglings, der unter fremden Menschen im Erzieher (und in der für Erziehung sorgenden Familie) seinen Stützpunct findet. Aber die Zucht trit wirksam hervor, wo Hülfe nöthig ist, besonders gegen Schwächen und Fehler des Zöglings selbst, welche die auf ihn gerichtete Hoffnung vereiteln könnten.

§ 137.

Schickliches Betragen verlangt die Zucht; natürlichen Frohsinn be- günstigt sie; beydes in wie fern es sich mit den Beschäfftigungen, die von der Regierung und dem Unterricht ausgehn, vereinigen lässt. Immer soll der Zögling den Gegenstand, womit er beschäfftigt ist, im Auge be- halten; es wäre schlimm, wenn ein Bestreben, Sich zu produciren oder Sich zu belustigen, das Uebergewicht bekäme und die Arbeit vergessen machte.

Der gute Erzieher wird sich gern dem Zöglinge persönlich angenehm machen, wenn dieser nicht das Gegentheil verschuldet. So mildert sich das Lästige der Aufsicht. Sanfte Worte verhüten, wo es irgend sein kann, jede härtere Massregel.

§ 138.

Nicht gleichgültig sieht der Erzieher den Fortschritten zu, welche dem Unterricht entsprechen ; seine persönliche Theilnahme, oder Besorgniss, wirkt sehr stark mit dem Interesse zusammen, welches beym Lernen mehr

3. Abschnitt. Zucht. 2. Cap. Zweck der Zucht. \ny

oder minder erwacht ist, aber wenn es fehlt, oder gar in Widerwillen übergegangen ist, durch keine Zucht kann ersetzt werden.

§ 139. Den guten Willen des Zöglings kann die Zucht eben so wenig immer voraussetzen, als das Interesse beym Lernen. Das aber muss sie voraus- setzen, dass die Regierung nicht für schwach, der Unterricht nicht für schlecht gehalten werde. Liegt hierin ein Fehler, so muss er da wo er liegt gebessert werden. Glaubt die Jugend thun und lassen zu können, was sie will, glaubt sie wegen mangelnder Fortschritte den Lehrer an- klagen zu dürfen: dann ist kein persönliches Benehmen von Erfolg; und vergebliche Versuche machen das Uebel schlimmer.

§ 140. In einigen Fällen vermischt sich die Zucht so mit der Regierung, dass sie sich kaum davon unterscheiden lässt, z. B. in solchen Erziehungs- häusern, wo bey zahlreichen Zöglingen militärische Formen eingeführt sind, und der Einzelne mehr von der allgemeinen Ordnung fortgezogen, als einer besondern Sorge theilhaft wird. In andern Fällen trennt sich die Zucht weiter als nöthig von der Regierung; so, wenn ein strenger Vater sich von den Kindern fern hält, und dem Hauslehrer innerhalb vester Gränzen die Zucht überlässt. Jedenfalls müssen Begriffe unter- schieden werden, damit der Erzieher wisse, was er thut, und bemerke was etwa fehlt. Man kann hinzusetzen: damit er sich unnütze Mühe spare. Denn die Zucht vermag nicht unter allen Umständen gleichviel; es ist nöthig, zu beobachten, um das, was sich thun lässt, nicht zu ver- säumen.

Zweytes Capitel.

Zweck der Zucht.

§ 141. Während der Zweck des Unterrichts schon durch den Grundsatz : vervoilkomme dich, seine Bestimmung erhielt, 17, 64, 65), muss dagegen bey der Zucht, welche den Unterricht zur Erziehung ergänzt, das Ganze der Tugend zusammengefasst werden. Tugend aber ist ein Ideal ; die Annäherung dazu drückt das Wort Sittlichkeit aus. Da nun im Allge- meinen die Jugend von der Bildsamkeit zur Bildung, von der Unbestimmt- heit zur. Festigkeit übergeht 4): so muss auch die Annäherung zur Tugend in einer Bevestigung bestehn. Es ist ungenügend, wenn die Sittlichkeit schwankt: und es ist schlimm, wenn etwas Unsittliches sich bevestigt. Beides zurückweisend drückt man den Zweck der Zucht durch die Worte aus: Charakterstärke der Sittlichkeit.

§ 142. Sowohl im Charakter als im Sittlichen ist Mancherley zu unter- scheiden, wovon weiterhin. Vorläufig ist daran zu erinnern, dass die Be-

Herbart's Werke. X. 12

178 Anhang. 2. Thcil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

stimmtheit des Willens, welche man Charakter nennt, nicht bloss auf dein Wollen, sondern auch auf dem Nichtwollen beruhet. Dieses Nichtwollen ist theils mangelndes Wollen, theils ein verneinendes, zurückstossendes Wollen, ein Ausschliessen. Bey strenger Regierung, welche Allem, was verführen könnte, den Zutrit sperrt, ergiebt sich eher ein mangelndes Wollen, als eine bleibende Bestimmtheit; hört die Erziehung auf, so kom- men die gefürchteten Gelegenheiten, und der Zögling kann sich bis zur Unkenntlichkeit schnell verändern. Die Aufgabe der Zucht muss so ge- dacht werden, dass sie Beydes, Wollen und Ausschliessen, umfasse.

Drittes Capitel.

Unterschiede im Charakter.

§ 143- Verschiedenes Wollen erzeugt sich in verschiedenen Vorstellungs- massen; daher die Mühe, das mannigfaltige Wollen zur Einstimmung zu bringen.

Die verschiedenen Vorstellungsmassen treten nicht bloss abwechselnd ins Bewusstseyn, sondern es kann auch eine gegen die andre in das Ver- hältniss der Apperception treten. Es giebt ein appereipirendes Merken nicht bloss für Wahrnehmungen von aussen 77), sondern auch in der innern Wahrnehmung. Die Apperception ist aber selten oder niemals blosses Wahrnehmen, sondern eine Vorstellungsmasse greift bestimmend ein in die andre. Weil nun in jeder Vorstellungsmasse ein Wollen liegen kann, so geschieht es, dass vielfältig ein Wollen das andre will oder nicht will. Indem ferner der Mensch vorzugsweise in seinem Wollen Sich findet, befiehlt er sich selbst, beschliesst über sich selbst; versucht, sich selbst zu beherrschen. In solchen Versuchen macht er mehr und mehr sich selbst zum Object seiner Beobachtung. Denjenigen Theil seines Wollens, welchen er in dieser Selbstbeobachtung als schon vorhanden an- trifft, nennen wir den objeetiven 7 heil des Charakters. Dasjenige neue Wollen aber, welches erst in und mit der Selbstbeobachtung entsteht, muss zum Unterschiede von jenem, der subjeetive Theil des Charakters heissen.

Dieser zweyte Theil kann erst in reifem Alter zu seiner Ausbildung gelangen, allein die Anfänge fallen schon ins Knabenalter, und sie pflegen im Jünglinge schnell wachsend hervorzutreten, jedoch verschieden an Art j und Stärke bey verschiedenen Individuen.

§ 144. Bey der grossen Mannigfaltigkeit dessen, was im objeetiven Theile enthalten seyn kann, dient zur Uebersicht die Abtheilung dessen, was der Zögling duldet oder nicht leicht duldet, zu haben verlangt und nicht ver- langt, was er gern oder nicht gern treiben mag. Bald hat die eine bald die andre dieser Klassen ein Uebergewicht; alsdann muss sich zwar das Uebrige danach fügen und beschränken, allein diese Beschränkung ist nicht

3. Abschnitt. Zucht. 3. Cap. Unterschiede im Charakter. I -g

immer leicht. Daher gelangt schon der objective Theil des Charakters schwer zur Einstimmung mit sich selbst.

§ M5.

Im subjectiven Theil des Charakters bilden sich bey häufiger Wieder- hohlung ähnlicher Fälle allmählig allgemeine Begriffe sowohl von dem vorgefundenen, unter ähnlichen Umständen gleichartigen Wollen, als auch von den Zumuthungen, das Wollen so oder anders zu bestimmen, welche der Mensch gegen sich selbst richtet.

Diese Zumuthungen fallen grossentheils ins Gebiet der Klugheit; also der Vorsicht und Zurückhaltung, oder auch der Thätigkeit, um durch geeignete Mittel zum Zweck zu kommen. Der Knabe will klüger sein als das Kind; der Jüngling klüger als beyde. Auf diese Weise sucht der Mensch sich selbst zu übersteigen.

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§ 146. Nicht immer ist dies Uebersteigen heilsam für das Sittliche. Viel- mehr erwächst dem Erzieher die doppelte Aufgabe: theils das Objective,. theils das Subjective des Charakters zu beobachten und zu lenken. Zu jenem gehören Temperament, Neigung, Gewohnheit, Begierden, Affecten;. zu diesem gehört, wie offen oder verschlagen der Zögling sey, und wie er zu räsonniren pflege.

§ 147.

Im Allgemeinen kann man es als vortheilhaft für die Charakterbildung betrachten, wenn der Zögling sich in seinem Wollen gleich bleibt, und nicht von Launen und Einfällen getrieben wird. Eine solche Gleichförmig- keit, die keiner Anstrengung bedarf, kann man durch den Ausdruckt Gedächiniss des Willens, bezeichnen.

Besitzt das Individuum diesen natürlichen Vorzug, so gelangt der objective Theil des Charakters leicht zur Einstimmung mit sich selbst. Der Zögling weiss dann, dass unter dem Mancherley des Duldens, Habens, Treibens, eins dem andern Beschränkungen auferlegt, dass man nicht selten dulden muss, um Beliebiges haben und treiben zu können, dass Be- schäfftigungen , die einer gern treibt, nicht immer zu demjenigen Gewinn- führen , den er haben möchte u. dgl. m. Ist dem Zöglinge dies klar genug, so kommt er bald dahin, sich zu sagen, woran ihm mehr oder weniger gelegen sey; er wählt, und die Wahl ist grossentheils bestimmend für den Charakter; zunächst für den objectiven Theil desselben.

Kommt der subjective Theil des Charakters zur Reife, so entstehn nach einander Vorsätze, Maximen, Grundsätze. Damit hängen Subsumtion,. Schlüsse, Motive zusammen.

Diese Motive gelten zu machen, wird oft Kampf kosten. Die Schwäche oder Stärke des Charakters wird sich danach bestimmen, ob beyde Theile desselben zusammenstimmen oder nicht. Das Sittliche muss in beyden liegen; sonst ist die Stärke nicht einmal erwünscht.

12*

l80 Anhang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

Viertes Capitel. Unterschiede im Sittlichen.

§ 148.

Lebhafte und zugleich wohlwollende Zöglinge findet man oft: vom Standpuncte der Ideen der Vollkommenheit und des Wohlwollens betrachtet, machen sie alsdann, zunächst wenigstens, keine Sorge. Bey vester Re- gierung bringt man sie auch leicht dahin, die Regel: quod tibi non vis Jieri, alten ne feceris, sich einzuprägen; hiemit findet sich leicht das nöthige Nachgeben im Streit, und um so mehr die Behutsamkeit, nicht Streit zu erheben. So machen sie auch, in Ansehung der Billigkeil und des Rechts, keine Sorge. Im Laufe der Jahre kommt die Besonnenheit hinzu, welche die Grundlage der richtigen Selbstbeherrschung angiebt; sie nähern sich der Innern Freiheit. Hiemit ist bey einander, was den einfachen praktischen Ideen gemäss zur Sittlichkeit gehört.

Aber nicht immer, nicht bey Allen, ist und bleibt es so bey einander. Neben jenen löblichen Zügen bemerkt man oft andre entgegengesetzte; es zeigt sich, dass diese nicht ausgeschlossen waren, und dass jene den ■Charakter nicht bestimmten.

§ 149-

Um das Schlechte auszuschliessen, müssen zu den löblichen Zügen, welche in dem objectiven Theile des Charakters sich vorfinden, noch die guten Vorsätze kommen, welche dem subjectiven Theile angehören.

Diese erfordern zuerst jene ästhetische Bern Hheihmg , wodurch der Zögling in Beyspielen, die sich darbieten, besseres und schlechteres Wollen richtig unterscheidet. Fehlt es dieser Beurtheilung an Klarheit, Kraft und Vollständigkeit, so haben die Vorsätze keinen Boden im Gemüthe des Zöglings, sie sind dann nicht viel mehr als gelernte Worte.

Ist dagegen die ästhetische Beurtheilung des Willens mit dem ge- sammten Interesse verwebt, welches aus Erfahrung, Umgang, und Unter- richt hervorgeht: so erzeugt sie eine Wärme fürs Gute, wo sich dasselbe auch finden möge; welche nicht bloss auf alle Bestrebungen des Zöglings, sondern auch darauf einwirkt, wie er sich aneignet, was ihm Lehre und Leben ferner darbieten.

§ 150.

Um alsdann die sittlichen Elitschliessungen vester zu stellen, dient noch die logische Cultur der Maximen, die systematische Vereinigung der- selben, und deren fortwährender Gebrauch im Laufe des Lebens. Hiemit hängt die Bildung zum Nachdenken zusammen.

Daraus ist einleuchtend, dass die Zucht nicht anders als in Ver- bindung mit dem Unterricht ihr Werk vollführen kann.

3. Abschnitt. Zucht. 5. Cap. Hülfsmittcl der Zucht. l8r

Fünftes Capitel. Hülfsmittel der Zucht.

§ 151-

Die Zucht ist zwar weit entfernt, durchgehends zu hindern und be- schwerlich zu fallen; noch weiter davon, eine fremde Thätigkeit anstatt der eigenen dem Zöglinge einimpfen zu wollen. Dennoch muss sie bald versagen, bald gewähren; so dass der Zögling durch sie weit abhängiger wird , als ihn die blosse Regierung machen würde. Denn die Regierung kann auf einigen Vorschriften sehr strenge halten, und doch übrigens den Knaben sich selbst überlassen; dies aber ist eine Sorglosigkeit, der sich die Zucht selten hingeben darf. Nur ein sehr vest begründetes Vertrauen zu dem Zöglinge würde dazu berechtigen.

Der aufmerksame Erzieher lässt, selbst ohne es zu beabsichtigen, be- ständig etwas von Zufriedenheit oder Unzufriedenheit spüren, dies genügt oft; zuweilen ist es bey empfindlichen Zöglingen schon zuviel. Unge- wohnter Tadel verletzt sie weit mehr als man will ; während die kleinsten Zeichen des Beyfalls ihnen nicht entgehn. Es ist wichtig, diese Empfind- lichkeit zu schonen.

§ 152.

Allgemeiner zeigt sich die Empfindlichkeit in Ansehung der Freiheit oder Beschränkung. Dieser Punct ist zugleich für Charakterbildung von der grössten unmittelbaren Wichtigkeit, wenn die gegebene Freiheit zum überlegten und gelingenden Handeln benutzt wird. Denn aus dem Ge- lingen entspringt die Zuversicht des Wollens, wodurch Begierde zum Ent- schluss reift. Darf man ein richtiges Handeln erwarten, so muss dazu Freyheit gegeben werden; im Gegenfalle ist es gefährlich, wenn ein leb- haftes Bewusstseyn der Selbstthätigkeit früh eintrit. Tiefer unten mehr hievon !

§ 152. x

Muss man oft tadeln und beschränken, so wird grossentheils die Empfindlichkeit abgestumpft, doch mehr gegen die Worte als gegen die Einschränkungen. In den Worten kann man die Form wechseln; was aber das Erlauben und Verbieten anlangt, so muss darin nach Möglich- keit eine bleibende Regel fühlbar seyn, wäre es auch nur die, einerley Erlaubniss wöchentlich oder monatlich nicht öfter als gemäss einer an- genommenen Gewohnheit zu geben. Ungleichheit ohne offenbare Gründe erscheint als Willkühr und Laune; veste Schranken werden leichter er- tragen.

§ 153. Am mindesten wird die Empfindlichkeit gereizt durch das blosse An- halten, durch tägliches Erinnern, Rufen zu bestimmter Stunde, ohne da- bey einen Vorwurf auszusprechen. Es giebt eine Menge von Kleinigkeiten des täglichen Lebens, in denen Ordnung herrschen muss; diesen mehr

1 Es müfste § 153 gesetzt worden sein; da aber Herbarts spätere Verweise sich auf die fehlerhafte Reihenfolge der §§ beziehen, so die Korrektur von 152 in 153 unterblieben. S~W drucken auch genau nach dem fehlerhaften Original.

iSz Anhang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

Wichtigkeit beyzulegen als sie haben, ist nicht rathsam; scharfer Tadel soll nicht leicht an geringfügige Nachlässigkeiten verschwendet werden; man bedarf seiner für wichtige Dinge. Aber die Regel muss beobachtet werden ; kleine Strafen, die nicht persönlich verletzen (z. B. geringe Geld- bussen in Pfennigen) passen hiebev eher l als harte Worte.

§ 154. Hiemit hängen Gewöhnungen solcher Art zusammen, welche auf ein Ertragen und Entbehren ohne Murren, selbst auf Abhärtung hinauslaufen. Dabey ist nicht bloss zu vermeiden was die Empfindlichkeit aufregen könnte, sondern es muss auch für gute Laune, für heitern Scherz die freye Aeusserung gestattet werden.

§ 155. Das Verwöhnen durch häufigen, unnöthigen Genuss, durch viele künstlich veranstaltete Vergnügungen, die nicht zugleich etwas von Arbeit und Uebung in sich schliessen, ist schon deshalb nachtheilig, weil die Ab- stumpfung der Empfindlichkeit, welche daraus entsteht, eine Menge kleiner Hülfsmittel der Zucht erschöpft, von denen man bey nicht verwöhnten Kindern Gebrauch machen kann. Denn es bedarf nur wenig, um sie auf mannigfaltige Art zu erfreuen, wenn grosse Massigkeit die tägliche Gewohn- heit ist; aber man muss auch eine Art von Sparsamkeit beobachten, um mit Wenigem viel auszurichten. Insbesondre dürfen unschädliche Spiele der Jugend nicht voreilig durch Forderungen eines gesetzten Betragens ver- leidet werden. Der Ehrgeiz treibt sie nur zu früh, nicht mehr Kinder scheinen zu wollen.

§ 156. Der gute Erzieher wird schon in Kleinigkeiten aufmerksam seyn, die in seiner kleinen Welt wichtig genug werden können; mehr aber liegt an dem VerMltniss dessen, was zusammenwirkt.

1) Verhältniss zwischen Thätigkeit und Ruhe. Die Kräfte müssen zu thun haben, aber sie sollen dabey gedeihen und sich nicht erschöpfen. Zuweilen muss die Jugend aus eigner Erfahrung sich überzeugen, wie viel man durch Anstrengung vermag: aber starke Proben dieser Art dürfen nie zur Regel werden.

2) Verhältniss zwischen dem was drückt und hebt. Hier soll wo möglich Gleichgewicht sein. Was von selbst steigt, braucht nicht gehoben zu werden; aber wenn im Ganzen der Zucht und in längerer Zeit der Tadel merklich die Ermunterung überwiegt, so verliert er an Wirkung; er verstimmt oft mehr als er nützt.

3) Verhältniss zwischen Beschränkung und Freiheit. Umgebung und Umgang sollen geschützt seyn gegen das was in Versuchung führt; aber die Umgebung muss weit und reich genug seyn, um wenig Sehnsucht nach dem was draussen ist, aufkommen zu lassen.

§ 157- Von zweifelhafter Wirkung sind diejenigen Hülfsmittel der Zucht, bey welchen man die Empfindlichkeit der Zöglinge nicht vorhersehen

1 „besser" statt „eher". SW.

3. Abschnitt. Zucht. 6. Cap. Verfahren der Zucht im Allgemeinen. 183

kann. Unter diesen giebt es einige, die man gleichwohl Ursach hat zu versuchen, mit dem Vorbehalt, ihre Wirkung zu beobachten. Insbesondere gehören hierher die eigentlichen pädagogischen Strafen und Belohnungen, wodurch die natürlichen Folgen des Thuns oder Lassens nachgeahmt werden. Wer die Zeit versäumt, verliert den Genuss; wer seine Sachen verdirbt, entbehrt sie; wer unmässig war, bekommt bittere Arzney; wer geplaudert hat, wird entfernt, wo gesprochen wird was nicht Jeder hören soll; u. d. gl. m. Solche Strafen dienen nicht zur moralischen Besserung, aber sie warnen und witzigen. Ob mehr oder weniger, weiss man oft nicht vorher; jedenfalls kann eine nützliche Erinnerung davon übrig bleiben.

§ 158.

Manchmal kommt es darauf an, etwas, das in ein falsches Geleise gerathen war, herauszuschaffen. Dazu dient eine plötzliche Unterbrechung, indem man etwas Neues eintreten lässt. So bey Bechäfftigungen, die nur schleppend und mit Unlust fortgesetzt wurden.

Zuweilen sieht man bei kräftigen Zöglingen ein sehr tadelhaftes Be- tragen, welches bey Ermahnungen und Strafen fortdauert, oder die Gestalt wechselt, und doch seinen wesentlichen Grund nur in einer leicht zu hebenden Verstimmung hat. Ein unerwartetes kleines Geschenk, eine ungewohnte Aufmerksamkeit hilft dann wohl der Verschlossenheit des Zöglings ab, und man findet was zu thun ist, wenn man den Grund des Uebels erblickt.

§ 159- Bey Denen, die körperlich schwach sind, ist sehr sorgfältige Pflege der Gesundheit, verbunden mit beharrlicher Geduld, die Hauptsache. Die Güte darf nur nicht in schwache Nachsicht ausarten; genaue Aufsicht muss die Stelle jeder harten Behandlung vertreten.

Sechstes Capitel.

Verfahren der Zucht im Allgemeinen.

§ 160.

Die Unterschiede im Charakter und im Sittlichen 143 150) geben hier den Faden der Betrachtung. Die Zucht soll halten, bestimmen, regeln; sie soll sorgen, dass im Ganzen das Gemüth ruhig und klar sey; sie soll es theilweise durch Beyfall und Tadel bewegen; sie soll zur rechten Zeit erinnern und Verfehltes berichtigen. Diese kurzen Ausdrücke werden durch Vergleichung jener oben entwickelten Begriffe eine bestimmtere Bedeutung bekommen.

§ 161.

Erstlich: was die haltende Zucht bedeute, ergiebt sich zunächst aus dem oben erwähntem Gedächtnisse des Willens, 147) wovon der Leichtsinn, welchen man gewöhnlich der Jugend zuschreibt, das Gegentheil ist. Denn der Leichtsinnige gedenkt nicht dessen was er wollte. Er bedarf,

184 Anbang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

durch die Zucht gehalten zu werden. Nähere Bestimmungen dieses Haltens sind Abhalten und Anhalten.

Die erste Voraussetzung der haltenden Zucht aber ist die Re- gierung, und der von ihr bewirkte Gehorsam. Hieraus ergiebt sich, dass der Zögling, wenn man befehlen wollte, nicht wagen würde sich zu wider- setzen. Man befiehlt aber selten, und nur im Nothfall; geschähe es häufig, so würde der Zögling sich nicht entwickeln können; geschähe es bey heranwachsenden Zöglingen ohne offenbare und dringende Gründe, so würde der Gehorsam nicht mehr lange fortdauern. Während des Zeitverlaufs nun, in welchem die Regierung sich nicht regt, soll dennoch der Zögling sich nicht in einer zügellosen Ungebundenheit befinden; es soll ihm, wenn auch noch so leise, doch fühlbar bleiben, dass er gewisse Schranken nicht überschreiten darf. Dies muss die haltende Zucht be- wirken.

Auch der, im Allgemeinen gehorsame, Zögling aber folgt nicht Jedem, nicht unter allen Umständen, nicht immer ganz, schnell, ohne Widerspruch; folgt er einmal nicht auf sanfte Worte, dann noch weniger auf rauhe Be- handlung. Nun muss zwar der Erzieher wissen, welchen Rückhalt er hat, der Vater muss mit sich einig darüber seyn, wie weit er im Nothfail in Zwangsmitteln gehen würde; der Hauslehrer, welche Stütze er an den Eltern hat, der Schulmann, wie weit er von der höheren Behörde gehalten wird. Allein hiebey wird die Zucht auf die Regierung zurückgewiesen ; dies ist nach Möglichkeit zu vermeiden. Unangenehme Fälle in welchen es sich nicht vermeiden lässt, sind allermeistens solche, da schon seit längerer Zeit allmählig eine schwache Nachsicht zur Verwilderung Anlass gegeben hatte; diese Fälle sind hier bey Seite gesetzt; und das kann um so mehr ge- schehn, da selbst der Trotz, wenn noch nicht alle Bande gelöst sind, und wenn ihm vester Ernst ohne Uebereilung gegenüber steht, bald verschwindet, und der Reue Platz macht.

§ 162.

Soll nun die haltende Zucht in sich selbst eine Kraft haben, den mangelhaften Gehorsam so weit nöthig zu ergänzen, so muss zuvor in dem Zögling ein lebhaftes Gefühl erweckt seyn, dass er an der Zufriedenheit des Erziehers etwas besitze, und etwas zu verlieren habe. Dies erreicht der Erzieher in dem Maasse, als er in die Lebensgewohnheiten des Zög- lings wirksam und willkommen eingreift. Er muss geben, um nehmen zu können. Findet er es nöthig, dem Zöglinge eine andre Richtung zu ertheilen, so darf er dies Unternehmen nicht für leichter halten als es ist; er muss langsam vorschreiten.

Das erste Geschafft der Charakterbildung beschreibt Niemeyer mit folgenden trefflichen Worten:

„Das erste Studium richte der Erzieher auf das efitschiedene Gute, was in dem natürlichen Charakter dessen liegt, den er erziehen soll. Dies zu erhalten, zu bevestigen, zur Tugend zu erheben, und gegen alle Gefahr zu schützen, sey sein unablässiges Bestreben. Dies muss gleichsam den Ton seiner ganzen Erziehungs - Methode stimmen. Auch bey dem schon verzognen und verdorbenen Zögling achte er

3. Abschnitt. Zucht. 6. Cap. Verfahren der Zucht im Allgemeinen. ige

darauf, und suche es, wenn auch schon mancherley Unkraut auf- geschossen wäre, hervorzuziehn. Denn von diesem Puncte muss die fernere moralische Ausbildung ausgehn.k< Diese Stelle kann schon hier Piatz finden, obgleich sie eigentlich erst zur moralischen Erziehung gehört. Fühlt der Zögling, dass man sich an das Bessere in ihm wendet, und kommt alsdann einige Gefälligkeit hinzu, wie der gebildete Ton des Umgangs sie mit sich bringt: so wird er um desto folgsamer seyn, je mehr Gedächtniss des Willens in ihm ist; und was noch daran fehlt, wird die haltende Zucht leicht ergänzen.

§ 163.

Je weniger aber der Zögling seines eignen Wollens eingedenk ist, um desto schwerer wird die haltende Zucht. Doch ist auch hier noch ein Unterschied zwischen launenhafter Wildheit und reinem Leichtsinn.

Es kann Fälle geben, wo der Ungestüm des Zöglings den Erzieher zu einer Art von Kampf herausfordert. Anstatt sich darauf einzulassen, wird ruhiges Abweisen, Zuschauen, Warten bis Ermüdung eintrit, meistens im Anfange hinreichen. Verlegenheiten, welche ein solcher Zögling sich selbst bereitet, werden Anlass geben, ihn zu beschämen; alsdann wird sich finden, ob er zu einem gleichförmigen Betragen zu bringen ist. Zuweilen lässt sich bey Einzelnen auf solche Weise selbst der Mangel der Re- gierung ersetzen ; doch schwerlich jemals bey Vielen, wenn die Wildheit schon zur Unsitte geführt hat.

§ 164.

Der eigentliche Leichtsinn, der sich im Vergessen, in der Unordnung, Unstetigkeit, in den sogenannten Jugendstreichen zeigt, ist ein Uebel der individualen Anlage; und lässt keine radicale Heilung zu; wenn er gleich in spätem Jahren, vielfach gewarnt und gegen äussere Reize abgestumpft, unsichtbar wird. Desto nöthiger ist hier die haltende Zucht, damit die Folgen des Uebels vermieden, oder doch gemindert werden. Denn fängt der Leichtsinnige erst an, sich in seinem Treiben zu gefallen, so sträubt er sich gegen Ordnung und Fleiss, und sinnt auf Mittel, um Freyheit für ein regelloses Leben zu gewinnen. Hier muss die Zucht zuvorkommen. In der frühen Zeit, wo noch kein übler Wille da ist, muss sie den mangelnden Willen ersetzen. Was der Zögling aus den Augen verlor, muss sie ihm vergegenwärtigen. Seinem Schwanken und Schweifen muss sie eine äusserliche Vestigkeit und Gleichförmigkeit fortwährend leihen, die sie in ihm entweder gar nicht, oder doch nicht gleich hervor- bringen kann.

Hierher gehört, dass man mit Kindern nicht räsonniren soll. „Vor dem zu häufigen Räsonniren kann ich nicht laut, nicht stark genug warnen," sagt Karoline Rudolphi; und Schwarz, der diese Stelle an- führt,1 fügt hinzu: „schon das einmalige ist zu häufig." Niemeyer, indem ei von den Ausartungen zu grosser Lebhaftigkeit spricht, und den Leicht- sinn zeichnet, „der unachtsam macht,_keine Rücksicht auf die Folgen nimmt,

1 Schwarz, Erziehungslehre II, S. 443.

l86 Anhang. 2. Theil. TJmriss der allgemeinen Pädagogik.

und zur Unbesonnenheit verleitet," führt fort: „Dies alles sind keine Fehler des Herzens, aber es sind doch Fehler, welche abgelegt werden müssen; wozu Gewöhnung beynahe das einzige sichere Erziehungsmittel ist, das nur dann durch weise gewählte positive Strafen unterstützt werden muss, wenn man anfängt, Mangel an gutem Willen zu bemerken, oder wenn sie schon einen hohen Grad erreicht haben." Er empfiehlt weiter, man solle darauf bestehen, dass auf der Stelle geändert werde, was zu ändern ist, indem unbestimmte Erinnerungen nichts fruchten.

Damit ist nun zwar die Sache nicht abgethan; aber wir reden hier noch von der haltenden Zucht; und wahr ist, dass man nicht Räsonnement an die Stelle der Gewöhnung setzen darf.

§ 165.

Während nun bey den Leichtsinnigen das Abhalten schwerer ist, als das Anhalten denn letzteres gelingt wenigstens theilweise leichter, wenn der Unterricht Interesse weckt, wird dagegen bey trägen Naturen das Anhalten schwerer, weil man sie in ihrer Bequemlichkeit stören muss. Hier ist der Reiz munterer Gespielen zu körperlicher Bewegung das Erste; omd leichtere Beschäfftigung muss genügen, wo schwierige Aufgaben des Lernens noch nicht durchdringen können. Hängt Trägheit mit körperlicher Abspannung zusammen, so lässt sich von der Gesundheits-Pflege und von zunehmenden Jahren Besseres hoffen.

Ueberall gilt die Regel: die Aufgaben dürfen nicht die Kräfte über- steigen, und nicht zu lang seyn; aber das Angefangene muss fertig werden; wenigstens dürfen die Zöglinge es nicht willkürlich liegen lassen, es muss in ihren Augen ein, wenn auch nur kleines, Ganze bilden.

§ 166. Dass die haltende Zucht sich auf die eigne Haltung des Erziehers gründet, auf Gleichförmigkeit seines Betragens, braucht kaum gesagt zu werden; diese Gleichförmigkeit muss aber auch den Kindern vor Augen stehn. Insbesondere darf er nicht die Klage veranlassen: man wisse nicht, wie man es ihm recht machen solle; er sey unzufrieden, was man auch thun möge. Kommt es dahin, so ist seine jedesmalige Laune das Erste, was die Zöglinge, ähnlich dem Wetter, beobachten und einander mittheilen. Die üble Laune wird gefürchtet, die gute Laune für zu- dringliche Bitten benutzt. Die Zöglinge suchen den vesten Punct, der sie halten soll, zu bewegen; und das mindeste Gelingen ernährt aus- schweifende Hoffnungen. Alsdann verliert sich die Nachwirkung der früheren Regierung; und aus erneuerten strengen Maassregeln entsteht eine Kette von Uebeln.

§ 167. Ziveitens: Die Zucht soll bestimmend wirken; sie soll veranlassen, dass der Zögling wähle, 147.) Hierher gehört die obige Unter- scheidung dessen, was man dulden, haben, treiben wolle; also auch Er- fahrung von den natürlichen Folgen des Thuns und Lassens 157); denn ohne Rücksicht auf diese Folgen kann jenes mannigfaltige Wollen

3. Abschnitt. Zucht. 6. Cap. Verfahren der Zucht im Allgemeinen. 187

nicht in Uebereinstimmung gebracht werden. Vor allem ist nun zu bemerken, dass der Erzieher nicht etwan im Namen des Zöglings zu wählen hat; denn es ist des letzteren eigner Charakter, welcher zur Bestimmtheit gelangen soll. Güter und Uebel müssen dem Zöglinge aus eigner Er- fahrung -- zum Theil, und doch nur zum kleinsten Theil bekannt werden. Dass die Flamme brennt, die Nadel sticht, das Fallen und Stossen schmerzt, muss schon das kleine Kind fühlen; Aehnliches eilt weiterhin, nur nicht bis an die Gränze ernstlicher Gefahr. Sondern darauf kommt es an, dass in Folge der wirklich gemachten Erfahrungen, indem sie die Warnungen des Erziehers bestätigen, der Zögling den andern Warnungen glaube, ohne auf Bestätigung zu warten.

§ 168.

Was erfreut und verletzt, entspringt so vielfach aus geselligen Ver- hältnissen, dass der Zögling in solchen heranwachsen muss, um seine natürliche Stellung unter Mehrern einigermaassen kennen zu lernen. Auf der einen Seite meldet sich nun die Sorge, schlechtes Beyspiel und Roh- heit zu verhüten; auf der andern Seite darf doch der Umgang nicht so ängstlich gewählt seyn, als ob dem Zögling das Gefühl des Drucks sollte erspart werden, welcher sich in jeder Gesellschaft aus dem Streben und Gegenstreben der Menschen erzeugt. Allzugrosse Nachgiebigkeit der Ge- spielen in der Jugend bringt Täuschungen über die wahren Lebens- verhältnisse hervor.

Ferner muss Geselligkeit mit Zurückgezogenheit wechseln. Der Strom des geselligen Lebens soll nicht fortreissen , und nicht mächtiger werden als die Erziehung. Der Knabe schon, vollends der Jüngling, soll auch lernen allein seyn, und seine Zeit gehörig ausfüllen.

§ 169.

Indem der Zögling sich abwechselnd unter seines Gleichen und unter Erwachsenen bewegt, lernt er verschiedenartige Ehrenpuncte kennen. Diese theils zu verbinden, theils gehörig unterzuordnen, kann der Zucht nach den Umständen schwerer oder leichter werden, je nachdem die Schätzung der rohen Kraft einerseits, die Foderung der feinen Sitte und die Beachtung der Talente und Kenntnisse andererseits weiter oder minder weit von einander abstehn. Die Hauptsache ist, dass man keinen Ehr- geiz künstlich ernähre, aber auch kein natürliches und richtiges Ehrgefühl erdrücke. Gewöhnlich aber haben Diejenigen, welche sich für die Fort- schritte des Zöglings interessieren, Ursache, sich selbst vor der Täuschung übergrosser Hoffnungen zu hüten. Solchen nachgebend werden sie un- willkührlich Schmeichler; und treiben den Knaben, vollends den Jüngling, über den Punct hinaus, auf welchem er sich halten kann. Dann folgen später bittere Erfahrungen.

§ 170.

Etwas langsamer als das natürliche Ehrgefühl entwickelt sich die Be- achtung des Werths der Dinge in Bezug auf gewöhnliche Lebensbedürfnisse.

1 88 Anhang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

Besonders weiss die frühere Jugend selten mit dem Gelde umzugehn; der Knabe erliegt den Täuschungen, anstatt: Entweder dies Oder jenes, was für eine bestimmte Summe Geldes zu haben ist, zu setzen: dies Und jenes. Er muss auch hierin Erfahrungen im Kleinen machen; und nicht bloss in Ansehung des Geldes sondern auch der Sachen, durch Entbehrung das Verlorene schätzen lernen. Gegen kleinlichen Geiz hat man selten nöthig die Jugend zu warnen; öfter jedoch nimmt sie etwas vom Hörensagen an; und es kann begegnen, dass Einer aus Nachahmung geizt, aus eignem Triebe verschwendet. Wenn solche Uebel nicht dem Ehrgefühl weichen, so fallen sie der moralischen Bildung anheim.

§ 171.

Hat nun der Zögling erfahren, welchen Druck er unter andern Menschen dulden muss oder nicht zu dulden braucht, und was er an Ehre, an Sachen, an Geniessungen haben kann oder entbehren muss; so kommt es darauf an, wie er dies verknüpfe mit den Beschäftigungen, die er zu treiben Lust oder Unlust empfindet. Dass hierin vielfach Eins das Andre möglich macht, bedingt, beschränkt, merkt der Besonnene bald von selbst, dem Leichtsinnigen aber prägt es sich nicht hinreichend ein, alsdann soll der Erzieher dem Einprägen nachhelfen, weil ohne veste Be- sinnung hieran der Mensch charakterlos bleibt.

Allein oftmals ist ein Mangel an Vestigkeit sogar erwünscht; dann nämlich, wenn die geistigen Interessen,« welche der Unterricht wecken soll, und wenn die sittliche, wenn die religiöse Bildung noch zurückgeblieben sind. Der objective Theil des Charakters 143) darf sich nicht zu schnell abschliessen; und sehr oft liegt von dem Werthe der Zucht ein grosser Theil darin, dies Abschliessen zu verzögern. Dazu dient der Druck, in welchem der Zögling gehalten wird; die untergeordnete Stellung, welche man ihm seinem Alter gemäss giebt; insbesondre die Versagung der Freyheit zum Handeln ohne Erlaubniss und nach eignem Belieben 152). Die ästhetische Beurteilung der Willens- Verhältnisse 149) verspätet sich oft, oder bleibt schwach im Verhältnisse zu dem Eindrucke der zuvor er- wähnten Erfahrungen; dann fehlt auch die sittliche WTärme; und man würde zwar Charakterbildung, aber eine schlechte erlangen, wenn man den jungen Menschen frey gehn liesse. Eher ist zu begünstigen, dass jugendliche Zeitvertreibe, selbst knabenhafte Spiele sich ungewöhnlich ver- längern.

§ 172. j Drittais. Die regelnde Zucht beginnt, wenn der subjective Theil

des Charakters 143) anfängt sich zu zeigen; gewöhnlich im spätem Knabenalter. In der frühern Zeit gilt die Regel, nicht mit den Kindern zu räsonniren, 164); nämlich so lange als man noch mit dieser Regel auskommt. Das hört aber auf, wenn der Zögling für sich selbst räsonnirt, und zwar in so gutem Zusammenhange, dass seine Gedanken nicht mehr als flüchtige Einfälle kommen und verschwinden , sondern Dauer und Haltung gewinnen. Solches Räsonniren darf nicht sich selbst überlassen bleiben; es lässt sich auch nicht durch Machtsprüche zurücktreiben,

3. Abschnitt. Zucht. 6. Cap. Verfahren der Zucht im Allgemeinen. t 8q

sondern der Erzieher muss räsonnirend darauf eingehn, und einer weitern falschen Entwickelung zuvorkommen.

Die Neigung, Regeln vestzustellen, sieht man schon in den Spielen der Kinder, jeden Augenblick wird befohlen, was zu thun sey; nur werden die Imperative schlecht befolgt, und häufig gewechselt. Es fehlt auch nicht an eignen kindischen Vorsätzen, aber sie können nicht viel be- deuten, so lange sie sich nicht gleich bleiben. Ganz anders ists, wenn sie Bestand gewinnen, wenn Mittel und Zwecke sich zu Plänen verknüpfen, wenn die Ausführung unter Hindernissen gewagt wird; endlich wenn die Vorsätze durch allgemeine Begrifie gedacht werden, und hiemit Anspruch machen, auch für künftige mögliche Fälle zu gelten, wodurch sie sich in Maximai verwandeln.

§ 173-

Die Vorsicht erfodert zuerst, offene Aeusserungen nicht durch üble Aufnahme rückgängig zu machen, sondern lieber ein unbequemes Dis- putiren zu ertragen, sofern dessen Aufrichtigkeit sicher ist, und nicht etwan dem Zögling durch eine ihm gegönnte unerwartete Aufmerksamkeit sich zu sehr geschmeichelt fühlt.

Die Vorsicht erfodert ferner, in den Fällen, wo der Zögling sich nicht gleich überzeugen lässt, das Endurtheil mehr aufzuschieben, als auf einem solchen zu bestehen; es wird immer leicht seyn, auf mangelnde Kenntnisse und künftige Studien hinzuweisen. Die grosse Entschieden- heit, womit Knaben und Jünglinge zu behaupten pflegen, hat durchgehends ihren Grund in grosser Unwissenheit; sie ahnen nicht von ferne, wieviel schon gemeint und bestritten worden ist. Der Unterricht wird ihre Un- bescheidenheit allmählig heilen.

§ 174-

Die Hauptsache für die Zucht aber ist die Consequenz oder In- consequenz im Handeln. Die Schwierigkeit, genau nach Maximen zu ver- fahren, muss Demjenigen fühlbar gemacht werden, der leichthin Maximen aufstellt. In dieser Art werde dem Zöglinge der Spiegel vorgehalten; einerseits, um die unhaltbaren Maximen zum Weichen zu bringen; ander- seits, die haltbaren zu bevestigen.

Zu den unhaltbaren aber rechnen wir hier auch diejenigen, welche, wenn schon der Klugheit gemäss, doch wider die Sittlichkeit Verstössen würden. Gesetzt, dies sey dem Zöglinge nicht schon im Voraus deutlich gewesen, so muss es in der Anwendung vermöge der anstössigen Con- sequenzen hervorspringen.

§ 175-

Die regelnde Zucht erfodert nun oft, dass man dem Zöglinge eine lebhafte Sprache führe, ihn an Vergangenes erinnere , und Künftiges auf den Fall, da er in seinen Fehlern beharren würde, voraussage; dass man ihn veranlasse, in sein Inneres hineinzublicken, um dort den Zusammen- hang seiner Handlungen an der Quelle aufzusuchen. Ist indessen dies schon früher in moralischer Absicht geschehen, so bedarf es dazu keiner

IQO Anhang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

langen Reden mehr; auch wird die Sprache immer ruhiger und kürzer werden, je wirksamer sie schon gewesen ist; je mehr eignes Urtheil man dem Zöglinge schon zutrauen muss; endlich je mehr er in die Periode trit, wo er sich in der Welt umsieht, um das Reden und Handeln fremder Personen zu beobachten. Denn um die Zeit, wo er Neues mit Altem vergleichen will, ist die Empfänglichkeit für das Alte sehr gering, und er- lischt bald ganz, wenn es nicht schon tief eingeprägt war.

§ 176.

Viertens. Die Stimmung soll im Ganzen ruhig, der Geist zu klarer Auffassung bereit erhalten werden. Dies gilt allgemein gegen leidenschaft- liche Aufwallungen; (nicht allgemein gegen Affecten;) aber vorzugsweise bedingt es die Bildung ästhetischer Urtheile, und hiemit auch (obgleich nicht auschliessend) die Begründung der Moralität.

Aus jeder Begierde kann Leidenschaft werden, wenn das Gemüth im Zustande des Begehrens häufig, und so lange verweilt, dass in Bezug hierauf die Gedanken sich sammeln, Pläne und Hoffnungen sich bilden, Verdruss gegen Andre sich vestsetzt. Daher muss Wachsamkeit auf alles beharrliche und oft wiederkehrende Begehren gerichtet werden.

Die häufigsten Begehrungen aber entstehn aus dem Naturbedürfniss der Nahrung und der körperlichen Bewegung.

§ 177-

Zuerst nun muss die Wildheit, welche aus unbefriedigten Natur-Be- dürfnissen entsteht, gezähmt werden durch Sättigung ohne Uebermaass. Der Hunger darf nicht zum Stehlen, überlanges Sitzen nicht zum Fort- laufen verleiten. Diese Warnung ist nicht überflüssig; es giebt schlimme Beyspiele auch in Familien, wo man dergleichen nicht erwarten würde. Sehr viel öfter jedoch kommt das Uebermaass vor.

Hat das Bedürfniss seinen Stachel verloren, so muss der fernem Be- gierde ein bestimmtes und nicht zu widerrufendes Versagen entgegentreten. Hiemit ist Ablenkung auf irgend etwas, welches beschäfftigen kann, zu verbinden.

Kann der Gegenstand, welcher die Begierde fortdauernd reizt, ent- fernt werden, so ist dies um so besser. Im eignen Hause ist es öfter möglich, und auch nöthiger, als in fremden Häusern. Lässt sich der Gegenstand nicht entfernen, so mag man die Befriedigung aufschieben, und für spätere Zeit erlauben.

So z. B. beym Genuss des Obstes in Gärten, dessen unbedingtes

Verbot einen gefährlichen Reiz zum Ungehorsam mit sich führt, während

~> die unbedingte Nachsicht schon wegen des Abreissens unreifer Früchte

vollends wegen Beschädigung fremder Gärten, durchaus unzulässig sevn

würde.

Nach der Analogie mit diesem sehr bekannten Gegenstande mag man vieles Aehnliche beurtheilen.

§ 173. Ferner sind die Kinder in ihren Spielen zu beobachten. Je mehr freyes Phantasmen, je mehr Abwechselung, desto weniger Bedenklichkeit;

3. Abschnitt. Zucht. 6. Cap. Verfahren der Zucht im Allgemeinen. jor

I wenn aber einerley Spiel sich oft, nach bleibenden Regeln wiederhohlt, wenn eine Art von Studium, um eine besondere Geschicklichkeit zu er- werben , hineingelegt wird , so kann Leidenschaft entstehn ; wovon das Kartenspiel zuweilen auch ohne Geldgewinn die Probe liefert. Gewinnst- spiele sind gänzlich zu verbieten; das Verbot muss aber, wo man der Folgsamkeit nicht ganz sicher ist, überwacht werden.

§ 179-

Zur Ableitung der Gefahr, welche mit leidenschaftlichen Regungen verbunden ist, dient vorzugsweise das Erlernen irgend einer schönen Kunst,, wenn auch nur massiges Talent vorhanden ist; also Musik und Zeichnen in irgend welcher beschränkten Art, (nicht mehrere musikalische Instrumente zugleich ; nicht zerstreuende Versuche in alierley Art von Malerey durcheinander, sondern Consequenz im Bemühen um eine bestimmte Fertigkeit).

Fehlt das Talent, so mögen Liebhabereyen, Pflanzensammeln, Muschel- sammeln, Papparbeiten, selbst Tischler- oder Garten-Arbeiten u. s. w. zu Hülfe genommen werden.

Poetisches Talent, an sich höchst erwünscht, erfodert doch ein sehr entschiedenes Gegengewicht durch ernste gelehrte Beschäfftigung; denn der junge Dichter macht Ansprüche, die ihm gefährlich werden können,, wenn er sich darin vertieft.

§ 180.

Pläne, denen ein leidenschaftliches Bestreben zum Grunde liegt, und die sich dadurch verrathen, dass sie Ordnung, Fleiss, Zeit-Eintheilung stören, muss man ernstlich durchkreuzen. Dies ist um desto nöthiger, je mehrere daran Theil nehmen; vollends wenn Ostentation, Parteygeist,. Rivalität sich eingemischt hat. Dergleichen darf nicht überhand nehmen;, es verwüstet sehr schnell den Boden, den die Erziehung mühsam urbar gemacht hat.

§ 181.

Gesetzt nun, die Leidenschaften seyen fern gehalten; so kommt es für die Begründung der Moralität im Allgemeinen darauf an, wie mit den Beschäfftigungen der Unterricht zusammenwirke? Der zunächst wichtigste Theil des Unterrichts ist hier der Religions-Unterricht. Am unmittelbarsten aber entwickeln sich die Gesinnungen des Zöglings in seinem Umgange;, und dabey hat die Zucht ihr Geschafft wahrzunehmen. Die praktischen Ideen müssen nun einzeln durchlaufen werden.

§ 182.

Was zuvörderst den Streit anlangt, der unter Kindern nicht leicht ganz vermieden wird, und der ihnen wenigstens als ein möglicher Fall vorschwebt; so kann Selbsthülfe gegen unerwarteten körperlichen Angriff nicht verboten, vielmehr muss entschlossene Gegenwehr, aber auch Scho- nung des Gegners empfohlen werden. Dahingegen ist beliebige Zueignung von Sachen, mit Ausschliessung Andrer ohne Rücksprache, durchaus zu

IQ2 Anhang. 2. Thcil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

untersagen, auch bey den geringsten herrenlosen oder weggeworfenen Kleinigkeiten. Niemand soll sich einbilden, seine blosse Willkür wäre Ge- setz für Andre. Vielmehr sind die Kinder zu gewöhnen an Beschränkt- heit ihres Eigenthums. Was man ihnen zum bestimmten Gebrauche giebt, darf nur so gebraucht, und soll für solchen Gebrauch geschont werden.

Versprechungen der Kinder unter einander sollen nicht leichthin für ungültig erklärt werden, mögen sie auch thöricht und nicht zu erfüllen seyn. Wer sich dadurch in Verlegenheit setzt, muss die Verlegenheit fühlen, und sey für die Folge gewarnt. Aber übereilte Versprechen sollen auch nicht angenommen werden ; und von dieser Seite hat man die Knoten aufzulösen, worin die Kinder sich manchmal verwickeln.

Es ist nicht unerwünscht, wenn die Zöglinge sich selbst einige em- pfindliche Proben von schwierigen Rechts- Verhältnissen bereiten; aber das Vergnügen des Zankens ist nicht zu gestatten, sondern sie sollen lernen, dem Streite nach Möglichkeit vorzubeugen und auszuweichen. Sie mögen ihn kennen, um sich einzuprägen, dass er misfällt.

§ 183.

Von hier öffnet sich ein doppelter Weg der Betrachtung. Der Streit gefällt den Kindern, weil er Kraft zeigt; und sie suchen ihn meistens aus Uebermuth. Hier ist ein Riegel vorzuschieben; und anderwärts Luft zu machen. Gymnastische Uebungen sollen Kraft zeigen; der Wettstreit, der nicht Streit ist, wird bey Scherz und Spiel willkommen seyn. Geistige Thätigkeit mag ebenfalls Gelegenheit darbieten, sich hervorzuthun; sie mag auch Anlass zu Vergleichungen geben, jedoch mit ausdrücklicher Zurück- weisung aller Ansprüche, die sich darauf gründen würden. Den praktisch brauchbaren Maassstab, wo es auf Grössen also auf das perfice te! an- kommt, liefert jeder Zögling sich selbst durch seine Fort- und Rückschritte. Einen dem Andern zum Exempel aufstellen, erweckt Neid; und viel besser ist, den Schwächern zu entschuldigen, wo er nicht mehr leisten kann, als was er wirklich leistet.

§ 184.

Der andre Weg der Betrachtung führt vom Recht auf die Billigkeit. Der Streit misfällt, aber noch mehr die Rache; obgleich der Satz wahr ist: Was dem Einen recht, ist dem Andern billig. Wohl mögen die Kinder ihren Scharfsinn daran üben, zu bestimmen, wieviel Einer für das, was er sich erlaubt oder versagt, von Andern zu leiden oder zu empfangen verdiene; allein sie sollen sich nicht vermessen, Lohn und Strafe aus- theilen zu wollen. Hier ist ein Punct, wo sie sich, ohne auf eigne Ein- sicht zu verzichten, doch ihren Vorgesetzten willig unterordnen müssen.

Dem ähnlich ist, dass, wo Geschenke, Geniessungen, Beyfallsbezeigungen ausgetheilt werden, einerseits der Erzieher den Schein der Vorgunst ver- meidend, von der Gleichheit im Austheilen nicht ohne bestimmte Gründe abweichen, andererseits aber doch den Zöglingen kein Recht auf die freyen Gaben, und hiemit zwar eine Meinung über das Passende des Mehr oder Minder, aber keinen Anspruch in Folge dieses Meinens zugestehen wird.

3. Abschnitt. Zucht. 6. Cap. Verfahren der Zucht im Allgemeinen. iqß

Wo die Kinder sich einmal in Betrachtung des Rechtlichen und ' Billigen vertieft haben, darf man nicht zu eilig von ihnen Gefälligkeit und Nachgiebigkeit fodern. Sie müssen Zeit haben, mit jenen Gedanken zu Ende zu kommen, und des oft sehr unfruchtbaren Grübelns müde zu werden, ehe sie sich besinnen, dass am Ende das Nachgeben doch notli- wendig, und eben deshalb keine Sache der Grossmuth sey. Später einmal mag erinnert werden, dass Alles viel besser gegangen wäre, wenn von Anfang an die Gesinnungen des Wohlwollens vorherrschend gewirkt, und das Streitige nicht sowohl geschlichtet, als vielmehr beseitigt hätten.

Ueberall muss das Wohlwollen als das Höhere verehrt, das Recht aber als die niedere Stufe dargestellt werden, die man nicht ungestraft überspringen kann, es wäre denn in Folge gemeinsamer Zustimmung, also in Folge der Bewilligung von Seiten der Berechtigten.

§ 186.

Was endlich die Idee der inneren Freyheit anlangt, so ist der Unter- schied deren, die sich wie wohl von ferne, derselben mehr oder minder annähern, schon unter altern Knaben, vollends unter Jünglingen, meistens auffallend genug, um von Allen bemerkt zu werden. Der Vorzug Der- jenigen, die sich durch ein gehaltenes und beständiges Betragen auszeichnen, wird gewöhnlich vom Erzieher selbst eher zu stark und zu laut , als zu schwach geltend gemacht; und die Kinder sind gegenseitig viel zu auf- merksame Beobachter ihrer Schwächen, als dass sie nicht sehen sollten, wie weit Andere hinter jenen Vorzüglicheren zurückbleiben. Daher kommt es mehr darauf an, die Verkleinerungssucht nicht zu reizen, als den Blick der Kinder auf das zu lenken was ihnen ohnehin nicht entgeht.

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§ 187.

Ueble Beyspiele von Seiten der Erwachsenen, wenn solche der Jugend nahe stehn, wird man natürlich nicht aufdecken ; sind sie aber offenkundig, so wirken sie eher zurückstossend als verführend, wofern nur die Jugend kein Interesse hat, sie nachzuahmen, oder sich damit zu entschuldigen. Andrerseits ist die Hoffnung nicht gross, dass die löblichen Beyspiele nachgeahmt werden; sie erscheinen der Jugend zu leicht als das, was sich von selbst versteht. Daher wird nicht überflüssig seyn, ausdrücklich mit Bezeugung gebührender Hochachtung darauf hinzuweisen; besonders wenn heranwachsende Zöglinge anfangen sich in grösseren Kreisen umzusehn, und Vergleichungen mit Manchem anzustellen was durch falschen Glanz täuschen kann.

§188.

Fünftens: Angenommen nun, es sey der Blick der Zöglinge auf das, was nach den praktischen Ideen zu unterscheiden ist, theils im Umgange der Kinder unter sich, theils durch Beyspiele, theils durch den Unterricht schon gehörig gelenkt, und hiemit die ästhetische Beurtheilung der Willens-

Herbart's Werke. X. '3

IQ i Anhang. 2. Theil. Uniriss der allgemeinen Pädagogik.

Verhältnisse hinreichend geweckt: so folgt dann die eigentliche moralische Bildung. Man darf es nämlich nicht darauf ankommen lassen, ob die Jugend sich selbst das Löbliche hier, das Unlübliche dort, zusammenfasse, dabey verweile, und ob davon Jeder die Anwendung auf sich selbst mache: vielmehr müssen Wahrheiten, die ungern gehört zu werden pflegen, Allen, und Jedem insbesondere gesagt werden. Je genauer der Erzieher seine Zöglinge kennt, desto besser. Denn man fodert Jeden zur Selbst- beobachtung am wirksamsten dadurch auf, dass man zeigt, man schaue in sein Inneres. Rückblick auf das Betragen des Zöglings während einer längeren Zeit, Erinnerung an das, was auf ihn gewirkt hatte, Unter- scheidung des Besseren und des Schlechteren in ihm, giebt nun die Grund- lage dessen, was Moralisiren zu heissen pflegt, und was keinesweges über- flüssig oder gar in der Erziehung verwerflich, sondern an seiner rechten Stelle durchaus nothwendig ist. Freylich wachsen Menschen genug heran, denen niemals eine ernste Sprache verdienten Tadels ins Ohr gedrungen ist, aber Keiner sollte so heranwachsen.

§ 189.

Es ist hiebey nur bloss von Lob und Tadel die Rede; nicht aber von harter Behandlung, nicht einmal von harten Worten. Verweise und Strafen, die auf einzelne Handlungen folgen, sind etwas Anderes; sie können zwar Betrachtungen sittlichen Inhalts veranlassen, aber dann müssen sie zuvor abgethan seyn. Moralische Besserung geschieht nicht durch den Zwang der Regierung; sie geschieht auch nicht durch jene pädagogische Strafe, welche durch die natürlichen Folgen der Handlungen witzig und klüger macht 157). Sie geschieht aber durch Nachahmung der Sprache des Gewissens, und der wahren Ehre bey unparteyischen Zuschauern. Eine solche Sprache lässt sich auch darauf ein, die Ent- schuldigungen zu berücksichtigen, welche Jeder in seinem Innern bereit zu haben pflegt; sie lässt diese Entschuldigungen gelten soviel sie können; aber sie warnt, man solle sich für die Folge nicht darauf stützen.

§ 190.

An der Jugend ist in gewöhnlichen Fällen nichts Grosses zu loben und zu tadeln. Während nun Uebertreibung sorgfältig mag verhütet werden (schon weil sie die Wirkung entweder vermindert, oder eine verkehrte Befangenheit, wo nicht gar Aengstlichkeit, hervorbringt,) giebt es doch eine Art von Vergrösserung, welche zweckmässig ist, um das Kleine sicht- barer, der Jugend ihr eignes Thun bedeutender, und gegen den Leichtsinn wirksamer darzustellen. Dies ist das Hinweisen auf die Zukunft. Die geringsten Fehler können wachsen durch Gewohnheit; die geringste Be- gierde, wenn ihr kein Zügel angelegt ist, kann sich in Leidenschaft ver- wandeln. Dabey sind die künftigen Lebens-Verhältnisse unsicher; es kann Verführung, Versuchung, unerwartete Noth hinzukommen. Solches Vorschauen in die Möglichkeiten der Zukunft ist zwar kein Weissagen, und soll nicht als solches sich geltend machen, aber es dient dennoch zum Warnen.

3- Abschnitt. Zucht. 6. Cap. Verfahren der Zucht im Allgemeinen. tqj;

§ 191. Hat man erreicht, dass der Zögling seine sittliche Bildung als eine ernste, wichtige Angelegenheit betrachte: so kann der Unterricht in Ver- bindung mit der wachsenden Weltkenntniss es dahin bringen, dass die sittliche Wärme den ganzen Gedankenkreis des Zöglings durchdringe, und dass die Vorstellung der moralischen Weltordnung sich mit seinen Re- ligionsbegriffen einerseits, mit seiner Selbstbeobachtung andererseits, ver- binde. Von hieran aber wird das unmittelbare, nachdrückliche Aus- sprechen des Lobes und Tadels seltener werden müssen. Es wird nicht mehr so leicht seyn als früherhin, dem Zöglinge das was in ihm vor- geht, besser ins Licht zu setzen, als er es sich ohnehin schon selbst gesagt hat. Auf einer anderen Seite aber kann man ihm noch zu Hülfe kommen, nämlich im Gebiete der allgemeinen Begriffe, in welchem das fortschreitende jugendliche Nachdenken sich allmählig zu orientiren sucht.

§ 192. Sechstens: Die Zucht soll zur rechten Zeit erinnern und Verfehltes berichtigen. Dass ein junger Mensch, auch nachdem er auf den Punct der sittlichen EntSchliessungen 150) schon gekommen ist, doch noch vielfacher Erinnerung bedarf, kann man durchgehends voraussetzen, ob- gleich hierin bey den Individuen grosse Unterschiede vorkommen, die sich nur durch Beobachtung entdecken lassen. Dasjenige aber, woran man erinnert, sind Vorsätze, die schon auf allgemeine Geltung Anspruch machen, und diese Geltung nicht leicht behaupten werden, wenn sie ent- weder unrichtig abgefasst, oder nicht im rechten Zusammenhange gedacht waren. Ohnehin werden allgemeine Betrachtungen bey den wenigsten Menschen vorherrschend; vollends die Jugend bekommt des Neuen soviel zu sehen, zu erfahren, und selbst zu lernen, dass leicht das Alte hinter dem Neuen, und um so mehr das Allgemeine hinter dem Einzelnen zu- rückgesetzt wird. Indessen ist Erinnern und Berichtigen doch weit eher ausführbar, wo ein guter und vester Grund gelegt war, als jene bloss haltende Zucht 161 166), wenn sie noch in dem Jünglingsalter nichts vorfindet, woran der Zögling sich selbst zu halten auch nur versuchen, möchte.

§ 193. Aus der grossen Verschiedenheit der Principien, welche die Schulen in alter und neuerer Zeit für die Sittenlehre und Rechtslehre angenommen haben, ist ersichtlich, dass sehr vielerley theils engegengesetzte, theils wenigstens einseitige Ansichten entstehn können, wenn unternommen wird, Ordnung, Bestimmtheit, und Consequenz in vorhandene sittliche Be- griffe zu bringen. Alles dies Entgegengesetzte und Einseitige, sammt unzähligen Schwankungen, die dazwischen noch Platz haben, kann sich in jugendlichen Köpfen erneuern; und um so mehr, wenn sie einen Werth darauf legen, ihren eigenen Weg zu gehn. Sehr gewöhnlich schicken sich die angenommenen Grundsätze nach den Neigungen; der subjective Theil. des Charakters nach den objectiven. Während nun dem Unterricht die Aufgabe zufällt, den Irrthum zu berichtigen, hat die Zucht solche Ge-

13*

jq5 Anhang. 2. Theil. Umriss der allgemeinen Pädagogik.

legenheiten zu benutzen, in welchen es zum Vorschein kommt, dass die Gedanken von der Neigung waren gelenkt worden.

§ 194. Hat aber der Zögling schon Vertrauen erworben sowohl für seine Gesinnungen als für seine Grundsätze, so muss die Zucht sich zurück- ziehn. Unnöthiges Beurtheilen und ängstliches Beobachten würde nur der Unbefangenheit schaden; und Nebenrücksichten veranlassen. Ist einmal die Selbsterziehung übernommen, so will sie nicht gestört seyn.

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VII. ÜEBER DIE

SUBSUMTION DER PSYCHOLOGIE

UNTER

DIE ONTOLOGISCHEN BEGRIFFE.

1835-

[Text der Originalausgabe, (O.) Göttingen, Dieterich 1835. 16 S. gr. 8°.]

Bereits gedruckt:

SW = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. VII, S. 173 182), herausgegeben von G. Hartenstein. KlSch = J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. III, S. 122 129), herausgegeben von G. Hartenstein.

Der vollständige Titel der Originalausgabe lautet:

Ueber die Subsumtion der Psychologie

unter die ontologischen Begriffe.

Von

Herbart.

Einstweilen nicht für den Buchhandel, sondern nur zum Privatgebrauche bestimmt.

Göttingen,

gedruckt mit Dieterich sehen Schriften.

1835-

5

Vorerinnerung.

Von einer Seite erscheint es rathsam, die Ontologie in die engsten mi "»glichen Grenzen einzuschliessen, weil die grosse Allgemeinheit der- selben jeden geringsten Irrthum, der in ihr begegnet sein möchte, zum Riesen macht, sobald man zu Anwendungen übergeht. Aber andererseits sind leere Stellen, welche durch eine ontologische Untersuchung besetzt werden könnten, auch gefährlich; weil die Versuche denkender Köpfe überall freye Bewegung behalten, wo ihnen nicht bestimmte Lehrsätze entgegentreten; daraus entstehen alsdann, wo nicht irrige Theorien, so doch Zweifel und Mishelligkeiten.

Hat die Eidolologie, nach Untersuchung des Ich, und nach Zurück- weisung des Idealismus, der Psychologie den Grundbegriff des Strebens gehemmter Vorstellungen dargeboten, so muss alsdann der Begriff der Seele (als Substanz des Geistes) dem ontologischen Begriffe des Realen, und der Begriff der einfachen Empfindung (woraus weiterhin die Vor- stellungen erklärt werden) dem der Selbsterhaltung subsumirt werden. Ueber- lässt [4] man es nun der Psychologie, von hier aus weiter fortschreitend sich in ihre mathematischen Betrachtungen zu vertiefen: so bleibt Raum für andre Betrachtungen über den allgemeinen ontologischen Gedanken, es könne in Einem Realen, welcher Art es auch sey, eine Mehrheit ent- gegengesetzter innerer Zustände vorhanden seyn; und es lasse sich fragen, was aus dieser Voraussetzung folge?

Bisher war diese Frage im Vortrage der Ontologie, wo sie nicht nöthig ist, vermieden worden, xEs schien gewagt, darüber im Allgemeinen etwas vestzustellen; es schien genug, den speciellen Fall entgegengesetzter einfacher Vorstellungen in der Seele zu untersuchen; wofür sowohl die Lehre vom Ich als auch die unmittelbare innere Erfahrung ihre Hülfs- mittel darbieten. Mehrmals jedoch haben Mittheilungen in Briefen und Gesprächen darauf hingewiesen, dass Versuche, jenen allgemeinen onto- logischen Gedanken zu verfolgen, nicht leicht ausbleiben können; und dass zur bestimmteren Verbindung der Ontologie und Psychologie etwas zu wagen immer noch räthlicher sey, als den Raum für unsichere Reflexionen ganz offen zu lassen.

1 Der Satz : „Es schien gewagt, darüber im Allgemeinen etwas vestzustellen" fehlt in SW.

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Der vollständige Titel der Originalausgabe lautet:

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2. Cap. Beleuchtung von der psychologiaen Seite.

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§ 3- Wenn dort, wo die Metaphysik den Begriff ler Selbsterhaltung ein- führt, der Begriff des Seyn hinweggenommen wir so folgt keine Selbst- erhaltung. Es bleibt vielmehr bey der Störung, jun ist gerade wie dort so hier, Jjg^ entgegengesetzten Zuständen in Eirm Realen die Voraus-

und dass sie in irgend einer, nicht lt, sich wie ja ud nein gegenseitig ver- griff des Seyn. Folglich trit hier nicht ^sondern Stöng der Zustände.

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200 VII, Über die Subsumtion dei Psychologie unter die ontologischen Begriffe. 1835.

So ist der vorliegende kurze Aufsatz entstanden. Er ist kurz, theils wegen Mangels an Müsse, theils weil er nur einheimische Verhältnisse des Systems betrifft, auf andre Systeme aber keine Rücksicht nimmt. Er wird deshalb vorläufig in einem engern Kreise bleiben können, und es ist die ausdrückliche Bedingung, untei welcher er mitgetheilt wird, dass ohne besondre Erlaübniss des Verfassers davon kein öffentlicher Gebrauch gemacht werde. Der Privatgebrauch dagegen ist unbeschränkt gestattet.

[5] Die Abtheilung des Aufsatzes ergiebt sich aus der Natur des Gegenstandes. Das Verhältniss der Ontologie und Psychologie muss zuerst von der ontologischen dann von der psychologischen Seite erwogen werden, darauf kann alsdann die engere Verbindung beyder unternommen werden.

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Erstes Capitel. Beleuchtung von der ontologischen Seite.

§ 1.

Um nicht gleich Anfangs die nöthige Vorsicht ermangeln zu lassen: werde zuerst der Hauptcharakter des Systems, von welchem für jetzt an- genommen wird, dass man dann zu bleiben gedenke, zwar nicht von neuem gerechtfertigt, (welches unter dieser Voraussetzung ganz unnütz seyn würde,) aber vest ins Auge gefasst, um nicht unabsichtlich verletzt zu werden.

Genaue Sonderung der beyden Begriffe vom reinen Seyn, und vom wirklichen Geschehen, ist dieser Hauptcharakter.

Den bekannten Systemen, welche das reine Seyn so behandeln, als läge in ihm schon das wirkliche Geschehen, würde man ein Gegenstück geben, wenn man das Geschehen nun umgekehrt so behandelte, als passten auf dasselbe die Folgerungen, welche bey realen Wesen nur aus dem Begriffe des Seyn hervorgehn. Die wahre Metaphysik käme alsdann in die Mitte zwischen irrigen Systemen; und hätten sich beyder mit gleicher Sorgfalt zu erwehren. Die Extreme aber würden, nach einem alten Sprich- wort, sich berühren; denn die Ver-[6]mengung des Seyn und des Ge- schehen, von der einen Seite vermieden, käme von der andern Seite wieder in Gang; und möchte dann bald in alle, wohlbekannten alten Geleise zurückfallen.

§ 2- Zustände des Realen sind nicht das Reale selbst; sondern das Ge- schehen in ihm. Entgegengesetzte Zustände in Einem Realen sind nicht zwey Reale im Zusammen, sondern zwey oder mehrere Formen, in welchen ein und dasselbe Reale seine Qualität selbst erhält. Ihr Gegen- satz trifft nicht diese Qualität; und es braucht also diese Qualität nicht von neuem erhalten zu werden; sie liegt unversehrt in beyden oder in den mehrern.

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2. Cap. Beleuchtung von der psychologischen Seite. 20 1

[ § 3-

Wenn dort, wo die Metaphysik den Begriff der Selbsterhaltung ein- führt, der Begriff des Seyn hinweggenommen wird, so folgt keine Selbst- erhaltung. Es bleibt vielmehr bey der Störung. Nun ist gerade wie dort so hier, bev entgegengesetzten Zuständen in Einem Realen die Voraus- setzung, dass sie zusammen sind, und dass sie in irgend einer, nicht näher zu bestimmenden Rücksicht, sich wie ja und nein gegenseitig ver- halten. Es fehlt aber hier der Begriff des Seyn. Folglich trit hier nicht Selbsterhaltung jedes Zustandes ein, sondern Störung der Zustände.

§ 4- Mit diesem Begriffe der Störung nähert sich nun die Metaphysik, wie sie muss, der Erklärung des Gege-[7]benen. Hielte sie allenthalben die Selbsterhaltung vest: so könnte sie zu solcher Erklärung nie gelangen. Denn Selbsterhaltung, im metaphysischen Sinne, liegt nicht auf der Ober- fläche des Gegebenen; sonst wäre es nicht so schwer gewesen, diesen verborgenen Begriff zu finden.

§ 5-

In der Psvchologie kommen Vorstellungen als Zustände der Seele in

Betracht ; und zwar zum Behuf der mathematischen Untersuchung zunächst

als einfache Zustände, d. h. als Selbsterhaltungen der Seele. Es wird ge-

| fordert, dass deren mehrere entgegengesetzte in Einer Seele zusammen

I seyen; es wird behauptet, dass dieselben sich gegenseitig hemmen. Fragt

man nun, unter welchen ontologischen Begriff die Hemmung zu subsumiren

sey? so ist die Antwort eben gegeben. Es ist der Begriff der Störung;

in dessen Umfang alle entgegengesetzten Zustände Eines Realen , nach

dem Obigen, fallen müssen; dergestalt, dass jeder Zustand eine Störung

erleidet.

§ 6. Hiemit ist noch nicht gesagt, dass sich die Ontologie für alle die nähern Bestimmungen verbürge, unter welchen in der Psychologie die Hemmung der Vorstellungen auftrit. Mag die Psychologie rechtfertigen, was sie darüber behauptet! Wie die Untersuchung jetzt steht, bleibt es noch unbenommen, dass man sich die Störung, wenigstens in andern Fällen, wo nicht von der Seele und deren Vorstellungen, sondern von andern realen Elementen und deren Zuständen gesprochen wird, etwan als gegen- seitige Vernichtung der Zustände, [8] oder als qualitative Veränderung denken möge. Ob es bey dieser Unbestimmtheit sein Bewenden habe, soll erst das dritte Capitel untersuchen.

Zweytes Capitel. Beleuchtung von der psychologischen Seite.

§ 7-

Indem die Psychologie sich in dem Räume, welchen der weite Um- fang der ontologischen Begriffe ihr darbietet, nach eigener Weise ansiedelt :

202 VII. Über die Subsumtion der Psychologie unter die ontologischen Begriffe. 1835.

verlangt sie von der Ontologie, dass dieselbe ihr nicht ohne hinreichen- den Grund widerspreche. Hinreichender Grund wäre vorhanden, wenn die Ontologie beweisen könnte, es lägen in ihren sehr allgemeinen Be- griffen schon solche Merkmale, welche mit den Bestimmungen der Psycho- logie sich nicht vertrügen. Beweiset aber die Ontologie bloss dies, dass gewisse Bestimmungen in ihren Begriffen roch nicht liegen, welche die Psychologie fodert: so hat sie nichts gegen die Psychologie bewiesen; letztere ruft vielmehr die Logik zu Hülfe, welche lehrt, dass allgemeine Begriffe einer mannigfaltigen Determination zugänglich seyen.

§ 8.

Der Begriff des Ich, als unmittelbar gegeben, führt die Unterschei- dung des Vorgestellten vom Vorstellenden herbey. Weiss die Ontologie nicht, was sie aus dieser Unterscheidung machen soll, so muss sie sich bescheiden, dieses, wie so vieles andre, nicht zu verstehen. Würde sie hier streiten, so stritte sie, nicht erst gegen [9] die Psychologie, sondern gegen das Gegebene, welches, wenn nicht für wahres Reale oder wirkliches Geschehen geltend, doch mindestens nicht ignorirt werden darf; sondern erklärt werden muss.

§ 9-

Fortschreitend in der Betrachtung des Ich, hält die Psychologie den gegebenen Unterschied vest. Kein Objectives, sagt sie, kann unmittelbar dem subjeetiven Ich gleich seyn; nichts destoweniger findet Jedermann Sich in der Reihe der Dinge; in der nämlichen Reihe, welche er Sich als dem Vorstellenden dieser Reihe, gegenüber stellt. In dieser Reihe muss er Sich, als Object, gefunden haben; hier ist ein Vorstellen, zu welchem das passende Vorgestellte sich nicht unmittelbar finden lässt; denn kein, für sich schon bestimmtes Object, ist als solches das Vorstellende des- selben.

Dadurch wird die Notwendigkeit, Vorstellendes und Vorgestelltes zu sondern, noch geschärft. Zwar hat jede Vorstellung, so gewiss sie be- stimmt eine solche und keine andre ist, ihr Vorgestelltes; und wenn Vor- stellungen verschieden sind , so liegt die Verschiedenheit in dem Vor- gestellten der einen und der andern. Aber welche Vorstellung, d. h. welches Vorgestellte derselben man auch annehmen möge: immer muss von ihrem unmittelbar Vorgestellten gesagt werden : es ist nicht das Rechte für die Ichheit; es muss, wo diese eintreten soll, wieder ausgesondert werden.

§ 10.

Subsumirt man nun Vorstellen unter den ontologischen Begriff eines Zustandes der Seele: so kommt eine [10] Unterscheidung zum Vorschein, auf weiche die bisherige Ontologie nicht gefasst war. Das Vorgestellte, als Resultat des Vorstellens gedacht, wird das Geschehene des Geschehens; eine solche Unterscheidung fasst aber den einfachen Zustand, die Selbst- erhaltung, nur unter die zwey Gesichtspuncte: zvas da geschehe, und dass es geschehe; für die Ontologie eine müssige Subtilität wenigstens so lange,

3. Cap. Annäherang der Ontologie an die Psychologie. 20X

als ihre eignen Untersuchungen nicht etwan über die bisherigen Grenzen erweitert werden.

§ II.

Hier aber schon mag die Ontologie sich fragen: ob sie innerhalb ihres Bereichs gar keine, mit jener irgend vergleichbare Unterscheidung kenne? Sie kennt allerdings die nothwendige Zerlegung des Begriffs vom Realen in den der Realität und der Qualität; sie weiss, dass, wo die Qualität der Dinge als blosse Erscheinung zurückgewiesen wird , doch die Realität vestgehalten werden muss; sie sollte sich also nicht wundern, wenn nun auch im Geschehen das Was vom Dass unterschieden wird.

§ 12.

Noch mehr Neues zu fassen wird der Ontologie zugemuthet, während die Psychologie auf die Hemmung kommt, wo das Vorstellen als ein Ge- schehen fortdauern soll, obgleich sein Geschehenes, das Vorgestellte, ver- schwindet. Wenn sie aber hier die Frage erhöbe: ein Geschehen, ohne Geschehenes, was ist das? so hätte sie die Stimme der Psychologie nicht recht vernommen. Denn dort trit eine andre Art zu [11] geschehen an die Stelle, unter dem Namen des Strebens wider andre Vorstellungen; welches Widerstreben fortdauernd geschieht.

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§ 13.

Die Psychologie sagt ferner: die Hemmung könne partial seyn. Da- von, dass eine an sich einfache Selbsterhaltung in irgend einem Sinne eine Theilung zulassen müsse, war bisher in der Ontologie nichts erwähnt; und es kann scheinen, man wolle mit dem wirklichen Geschehen umgehn wie mit dem Puncte in der Synechologie, wo die Fictionen nur darum er- laubt sind, weil man nicht vom wirklichen Geschehen redet. Allein die Psychologie lässt die Vorstellungen als Ganze in der Rechnung, so lange dieselben als unmittelbar zusammen wirkend können angesehen werden.

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§ 14.

Ueberdies ist in dem Begriffe des Strebens nicht bloss das Merkmal des Wider slrebe?is, sondern auch des Auf strebens enthalten, worin eine Zu- kunft der Wiederherstellung unter möglichen günstigen Umständen ge- dacht wird, die nicht zu denken wäre, wenn man die Integrität der Vor- stellungen aufgegeben hätte.

Drittes Capitel. Annäherung der Ontologie an die Psychologie.

§ 15- Das vorige Capitel zeigt die logische Distanz zwischen jenen beyden Wissenschaften. Folgender Ver-[i2]such, dieselbe auszufüllen, hängt mit

204 VU- Über die Subsumtion der Psychologie unter die ontologischen Begriffe. 1835.

andern, schon bekannten Betrachtungen so genau zusammen, dass er neuen Stoff zu Bedenklichkeiten kaum herbevführen kann.

Der Einfachheit wegen reden wir nur von zweyen entgegengesetzten Zuständen Eines Realen. Die Negation, das Entgegengesetztseyn , ist zwischen ihnen; jeder für sich ist rein affirmativ. Diese Affirmation hat aber einen doppelten Sinn. Erstlich: Wirklichkeit des Geschehens. Zweitens: ein affirmatives quäle, wodurch jeder Zustand als ein solcher und kein anderer bestimmt ist. Der Unterschied trit noch mehr ins Licht, wenn ein Quantitätsbegriff auf jeden der Zustände übertragen wird, d. h. wenn jeder als stärker oder schwächer gedacht wird; diese Bestimmung ändert nichts am quäle, sondern sie steigert oder verringert die Wirklichkeit des Geschehens. Einstweilen aber lassen wir den möglichen Quantitäts-Unter- schied weg.

§ 16.

Wo liegt nun die Negation zwischen beiden? Bei disparaten ist sie nicht vorhanden; bey Entgegengesetzten hängt sie vom Grade des Gegensatzes ab. Also jedenfalls kann sie nur im quäle liegen. Es sind solche Zustände, die, als solche, einander stören.

§ i7-

1. Die Störung trifft nicht bloss einen oder den andern Zustand, sondern beide in gleicher Art. Denn vorausgesetzt ist, die Negation liege in keinem insbesondere; vielmehr sey sie gegenseitig. Also ist kein [13] Grund des Unterschiedes auf einer oder der andern Seite.

8 iö.

2. Die Störung ist partial. Wäre sie total: so würde ein Zustand (er heisse A) ganz aufgehoben durch A. Dies A läge in dem andern B. Allein B ist nicht bloss A, denn B für sich ist affirmativ, folglich mehr als A. welches durch jenes -\- A würde aufgehoben werden. Folglich bleibt etwas von B. Folglich auch etwas von A, da (nach 1) beyde Zustände in gleicher Art von der Störung getroffen werden. (Auf Be- stimmungen, dergleichen bey drey Vorstellungen eintreten, wird hier nicht gesehen.)

§ 19-

3. Die Störung ändert das quäle nicht.

-)- a. Sie ändert es nicht in ein disparates. Denn in ein solches

giebt es keinen Uebergang; noch weniger war das quäle der einfachen Selbsterhaltung zusammengesetzt aus trennbaren Merk- malen, wovon etwa eins, durch die Negation aufgehoben, die andern übrig Hesse, b. Sie ändert es nicht in ein Mittleres zwischen den Entgegen- gesetzten. Denn alsdann müsste die Gleichheit, die man in zufälliger Ansicht vom reinen Gegensatze unterscheidet, sich abtrennen lassen.

3- Cap. Annäherang der Ontologie an die Psychologie. 2 CK

§ 20.

4. Die Störung trifft also die Wirklichkeit des Geschehens, und zwar (nach 2) partial, d. h. sie vermindert es.

[14] 5. Aber es lässt sich im wirklichen Geschehen nicht Ein Theil vom andern so unterscheiden, dass vielmehr der eine als der andre ver- loren ginge. Das wirkliche Geschehen bleibt also in einem andern Sinne in seiner Integrität.

§ 21.

6. Hier ist eine Distinction nöthig, und das Vorhergehende bietet sie dar. Gleich Anfangs wurde bemerkt, die Negation liege im quäle. Das

Geschehen wird demnach gestört, d. h. vermindert, als ein solches. Nämlich im ersten Zustande als A, im zweiten als B. Dies nenne man das absolute Geschehen; denn das quäle A, und das quäle B, waren un- abhängig von einander bestimmt.

7. Da nun dennoch das Geschehen in seiner Integrität bleiben soll: so muss, in wiefern das absolute Geschehen theilweise vermindert worden, eine andre Art zu geschehen an die Stelle treten; und zwar eine relative Art zu geschehen; denn in Bezug auf einander haben die Zustände sich gestört, und ihr absolutes Geschehen gegenseitig vermindert.

8. Diese relative Art zu geschehen bedarf keiner neuen Bestimmung. Sie ist gerade das Vermindern des andern; und heisst in unsrer Sprache ein Streben wider das andre.

9. Dieses Streben lässt sich jedoch, wenn man es auf das Ganze jedes Geschehens bezieht, durch einen andern Begriff denken, den schon das Wort andeutet. Während nämlich das Widerstrebe?i des Einen [15] gegen das andre in der Gegenwart liegt, weiset zugleich das> Streben auf eine Zukunft hin, dergestalt, dass, wenn einmal das andre völlig ver- schwände, dann die noch immer vorhandene Integrität des Geschehens sich als absolutes Geschehen unvermindert wieder einstellen würde.

§ 22.

10. Die Subsumtion der psychologischen Begriffe unter diese allge- meinen ist ohne Schwierigkeit. Das absolute Geschehen ist das wirkliche Vorstellen, welches vermindert wird als ein solches, wie es durch sein

Vorgestelltes, sein quäle, bestimmt ist. Das relative Geschehen ist das Streben des gehemmten Theils, welcher Gleichgewicht macht gegen das Streben andrer gehemmter Vorstellungen. Die ganzen Vorstellungen aber bleiben als Ganze in der Rechnung wegen der Integrität des in ihnen liegenden Geschehens.

§ 23.

Die vorstehende Untersuchung ist, obgleich zur leichteren Subsumtion der psychologischen Begriffe bestimmt, dennoch allgemein. Wird sie als richtig anerkannt, so bringt sie den Naturwissenschaften Gewinn, da sie alsdann nicht mehr bloss durch die anderwärts gebrauchte Analogie mit der Psychologie (besonders für die realen Elemente belebter Körper, also

2o6 VII. Über die Subsumtion der Psychologie unter die ontologischen Begriffe. 1835.

in der Physiologie) sich zu behelfen brauchen ; obgleich sie wegen näherer Bestimmungen dieselbe immer noch zu vergleichen haben.

§ 24.

[16] Wird aber auch die vorstehende Untersuchung bestritten: so zeigt sie doch das Mindeste, was Jeder zu überlegen hat, der sich über die Verbindung, ja schon über das Verhältniss zwischen Ontologie und Psychologie ein bestimmteres Urtheil erwerben will, als worauf die bisherige Darstellung beyder in den Schriften des Verfassers, Anspruch gemacht hat.

VIII. ZUR LEHRE

VON DER

FREYHEIT DES MENSCHLICHEN

WILLENS.

BRIEFE AN PROF. GRIEPENKERL. . 1836.

[Text der Originalausgabe, (O.) Göttingen 1836, Dieterich. XXIV. u. 255 S. 8°.]

Bereits gedruckt:

SW = J. F. Herbarts Sämmt liehe Werke (Bd. IX), herausgegeben von G. Harten- stein.

Vollständiger Titel der Originalausgabe:

Zur Lehre

von der

Freyheit des menschlichen Willens.

Briefe

an Herrn Professor Griepenkerl

von

Herbart.

Göttingen 1836. In der Dieterich sehen Buchhandlung.

Vorrede.

Zu Kants Zeiten bedurfte die Sittenlehre einer Reform; er unter- nahm dieselbe mit Ernst und Strenge. Der Erfolg war ausgezeichnet, doch bey weitem nicht vollständig. Schon Fichte wich von ihm ab; noch mehr Schleiermacher, der sich in seiner Kritik der Sittenlehre an Platon und Spinoza zugleich anzuschliefsen suchte.

Weder Platon noch Spinoza sind Freyheitslehrer im Kantischen Sinne; Spinoza ist sogar der strengste Fatalist. Kant dagegen foderte, als nothwendigen Glaubensartikel zum Behuf der Sittlichkeit und der Zu- rechnung, unter dem Namen Freyhcii ein Vermögen, eine Reihe von successiven Dingen oder Zuständen absolut von selbst anzufangen.* Hievon wollte er weder die [rv] Wirklichkeit noch die Möglichkeit beweisen; sondern nur soviel, dafs Natur der Causalität aus Freyheit wenigstens nicht widerstreite. **

Gegen diese, vermeintlich zur Begründung der Sittenlehre nothwendige Behauptung hat schon längst der Verfasser sich erklärt.*** Man hat ge- glaubt, er müsse sich dadurch dem Spinozismus nähern ; und hierin liegt der nächste Anlafs zur gegenwärtigen Schrift; welche, wenn sie mit der allgemeinen praktischen Philosophie verglichen wird, als ein kritischer Nach- trag zur letztern kann angesehen werden. Zu diesem Beruf bedarf das eingewebte Historische einer Ergänzung, die gleich hier Platz finden mag.

Zu allen Bewegungen der deutschen Philosophie seit Kant bildet die Wolffische Schule den Hintergrund; den man um desto weniger aus den Augen verlieren darf, da die Hauptschriften Kants, wie schon die Titel anzeigen, Kritiken sind, und eine Kritik ihrer Natur nach dasjenige als bekannt annimmt, was sie kritisirt.

Des Demonstrirens wegen verlangt Wolff, [v] man solle die Meta- physik der praktischen Philosophie voranschicken. Die praktische Philo- sophie zeige, wie in der Wahl zwischen Gütern und Übeln das Be- gehrungsvermögen zu lenken sey. Aber die Psychologie lehre, wie das Begehrungsvermögen beschaffen, und von den übrigen Seelenvermögen abhängig sey. Folglich entnehme die praktische Philosophie ihre Prin- cipien aus der Psychologie. Ähnliches gelte von der natürlichen Theologie

* Kants Kritik der reinen Vernunft, in der dritten Antinomie. ** Ebendaselbst, in der Auflösung der kosmologischen Ideen; III, am Ende. *** Unter andern im Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, § 107, 109: und in der Encyklopädie, Abschn. 2, Cap. 8.

Herbart's Werke. X. H

2IO VIII. Zur Lehre von der Freyheit des nienscMiclirn Willens. 1S36.

und selbst von der Ontologie; die genannten Wissenschaften, Psychologie, natürliche Theologie und Ontologie seyen aber sämmtlich Theile der Meta- phvsik.* Schlägt man nun in der empirischen Psychologie die Lehre vom Begehrungsvermögen nach: so findet man sich gleich Anfangs wegen des Begriffs der Vollkommenheit** an die Ontologie verwiesen.*** Hier heifst es: Perfectio est consensus in varietate, seu plurium a se invicem differentium in uno. Consensum vero apello tendentiam ad idem aliquod obtinendum. Dicitur perfectio a scholasticis bonitas transscendentalis. Im- perfectio est dissensus. Vocatur etiam malum. Vita [xi] hominis, qua- tenus denotat complexum actionum liberarum, dicitur perfecta, si singulae ad communem quendam finem tendant, ad quem tendunt naturales. Inde nimirum oritur actionum liberarum cum inter se, tum cum naturalibus consensus. Atque in hoc consistit vitae humanae perfectio. Actiones scelestae nee omnes inter se consentiunt, nee, si consentirent inter se, cum naturalibus animae ac corporis actionibus ad eundem finem gene- ralem tendunt.

Dies führt am Ende auf das alte naturae convenienter vivere zurück; worüber schon die Stoiker nnd Epikuräer in den theoretischen Streit ge- riethen, was denn eigentlich die Natur des Menschen sey?

Es gehört zu den grefsten Verdiensten Kants, dafs er die Grund- legung zur praktischen Philosophie aus dem Kreise der Naturfragen gänz- lich herausgehoben hat.

Dafs dagegen der Spinozismus, weit entfernt für sich allein zu stehn, wesentlich mit der vorkantischen Ansicht der Schulen zusammenhänge, ist schon im ersten Bande der Metaphysik nachgewiesen worden.

Wolff unterscheidet, auf das zuvor Angeführte sich stützend, wahre und scheinbare Voll-[vu]kommenheit; anscha?diche Erkenntnifs der einen oder der andern heifst bei ihm voluptas] das Gegentheil taedium. Er be- ruft sich dabey auf den Cartesius, als den Erfinder dieser Definition; woraus man um so mehr auf die Verwandtschaft mit Spinoza schliefsen kann. Vom Cartesius führt er an: Diserte profitetur, quamlibet voluptatem ex magnitudine perfectionis eam producentis metiendam esse.f Eine voluptas insignis soll aus der deutlichen Erkenntnifs (ex distineta re- rum cognitione) hervorgehen. ff Ferner: ex quo voluptatem pereipimus, placet; quod placet, dicitur pulchrum, quod displicet, deforme. Bonum est, quiequid nos statumque nostrum perficit. Allein es giebt eine voluptas apparens, in Folge der perfectio apparens; daher: bonum nequit iudicari ex eo, quod voluptatem inde pereipiamus.

Näher vorbereitend zur Freyheitslehre wird die vernünftige Begierde

r aus der deutlichen Vorstellung eines Guts hergeleitet; diese vernünftige

Begierde heifst Wille. Der zureichende Grund eines Wollens oder Nicht-

Wollens heifst ein Mo-[vm]tiv; ohne solchen Grund giebt es kein Wollen ;ftt

* Wolffii Logica, § 92, 105. ** Wolffii Psychol. empirica § 510. : Wolffii Ontologia § 503. •j- Wolffii psychologia empirica. § 516. tj ibid. § 532. ttf ibid. § 889.

Vorrede. 2 11

und: quam primum nobis distincte aliquid repraesentamus tanquam bonum,- quoad nos, idem volumus.* Das ist der Determinismus Wolffs. Ihn zu erläutern dient das bekannte Gleichnifs der Wage, welches zwar nicht zu weit soll ausgedehnt werden; allein Wolff sagt selbst: similitudo con- sistit in eo, quod non minus in libra, quam anima, dentur tres Status diversi; quorum unus per se inest, aut in eo casu, quo rationes ad utramque mutationem sunt aequipollentes; et quod ex primo non sequatur reliquorum unus nisi posita rattone sufficiente**

Unmittelbar hierauf folgt das Capitel von der Freyheit. Voluntas et noluntas non potest cogi: nulla enim vi externa effici potest, ut aliquid nobis videatur bonum vel malum. Veränderung der Motive, und hiedurch Veränderung des Wollens wird aber angenommen. Man mufs den Gegen- stand des Begehrens erst kennen; der Geist bestimmt sich nach den Motiven; doch bezeugt die Erfahrung, [ix] dafs wir bey zureichenden Motiven, das Begehren abändern können, wenn aus einem andern Grunde es uns besser scheint, das Handeln zu unterlassen als zu vollziehen.*** Der Geist bestimmt sich selbst zum Wollen und Nichtwollen, gemäfs den Motiven. Spontaneität ist das innere Princip, sich zum Handeln zu be- stimmen; sie wird, dem Wortsinne nach (unentschieden ob mit Recht) auch unbeseelten Dingen, z. B. dem Feuer, und den Thieren zugeschrieben.f Dem Geiste kommt sie wahrhaft zu; er will nur deshalb, weil ihm der Gegenstand gefällt. Ungern thun wir, was, an sich betrachtet, uns mis- fällt. (Man erinnere sich aber hier der obigen Bestimmung des placere aus der voluptas.)

Endlich: animae libertas est facultas ex pluribus possibilibus sponte eligendi, quod ipsi placet, cum ad nulluni eorum per essentiam deter- minata sit. Ad libertatem adeo requirimus volitionum et actionum, quas volumus, contingentiam; intelligentiam obiecti appetibilis, vel aversabilis; spontaneitatem ac lubentiam. Habemus hie notionem libertatis, qualem nobis suggerit experientia. Libertas animae [x] non consistit in facultate sese sine motivis, immo contra motiva sese determinandi.

Bey diesen kurzen Notizen mufs es hier sein Bewenden haben. Die Vergleichungen mit dem was im Buche folgt, werden sich dem Auf- merksamen von selbst darbieten. Man wird ohne ausdrückliche Erinnerung Anlafs finden, an den consensus in varietate zurückzudenken, der auf etwas Richtiges deutet, aber es nicht darstellen kann, weil das in älterer Zeit gewöhnliche Streben nach den höchsten logischen Abstractionen nicht in den höchsten Schranken gehalten war.

Dafs Wolff im Wesentlichen über die Freyheitsfrage mit Leibnitzen zusammenstimmte, ist bekannt genug; und erhellt schon hinreichend aus folgenden Worten LEiBXiTZENS:ft

* WoLFn. psychologia empirica § 891. ** ibid. § 925. *** ibid. § 931. j ibid. § 933. tj Collection of Papers, which passed between Leibnitz and Clarke Fifth

Paper 14, 15.

14*

2 12 VIII. Zur Lehre von der Frcyheit des menschlichen Willens. 183b.

Le principe du besoin d'une raison süffisante est cornmun aux agens et aux patiens. Ils ont besoin d'une raison süffisante de leur action, aussi bien que de leur passion. Les motifs n'agissent point sur l'esprit comme les poids sur la balance; mais c'est plutot l'esprit qui agit en vertu des motifs, qui sont ses dispositions ä agir. Ainsi vouloir, que [xi] l'esprit prefere quelques fois les motifs foibles aux plus forts: et meine l'indifferent aux motifs; c'est separer l'esprit des motifs, comme s'ils etoient hors de lui, (comme le poids est distingue de la balance); et comme si dans l'esprit il y avoit d'autres dispositions pour agir, que les motifs, en vertu desquelles l'esprit rejetteroit ou aeeepteroit les motifs. Au lieu que dans la verite les motifs comprennent toutes les dispositions que l'esprit peut avoir pour agir volontairement ; car ils ne comprennent pas seule- ment les raisons, mais encore les inclinations qui viennent des passions ou d'autres impressions precedentes. Ainsi si l'esprit preferoit l'incli- nation foible a. la forte, il agiroit contre soi meine, et autrement qu'il est dispose d'agir.

Nach so deutlichen Erklärungen sollte man glauben, die Sache wäre wirklich klar und über jeden möglichen Streit hinweg.

Allein zwey starke Gründe, unter sich von sehr verschiedener Art, wirkten zur Erneuerung der Zweifel; ein praktischer und ein theoretischer. Der praktische lag darin, dafs in dem Vorstehenden der Unterschied zwischen Sittlichkeit und Klugheit verdunkelt war. Denn Wolffs voluptas vera und voluptas apparens mochte den Unter-[xii]schied zwischen Klugheit und Unklugheit darbieten; aber die Sittlichkeit lag offenbar in einem ganz andern Gebiete. Wo sollte man dies Gebiet suchen? Kant wendete sich an die logische Allgemeinheit. Man suchte immerfort im Kreise theoretischer Betrachtung; man begriff nicht, dafs man diesen Kreis ganz verlassen mufste. Hiemit vereinigte sich eine zweyte Ursache des er- neuerten Streits. Kant erklärte als Idealist die Formen der Erfahrung für Einrichtungen des menschlichen Geistes. Der Causalbegriff wurde eine Kategorie; diese sollte nur für Erfahrungsgegenstände gelten. Hiemit sonderte sich ein Gebiet für theoretische Gedanken aufserhalb des, auf Erfahrung und aufs Zeitliche beschränkten, theoretischen Wissens. Mochte also der Causalbegriff das Wissen beherrschen: ein Wille ohne Motive, als ein wenigstens möglicher Gedanke, hatte noch Platz im übersinnlichen Reiche. Man hatte den Satz des zureichenden Grundes jetzt hinter sich; Kants unzeitliche transscendentale Freyheit schwebte über Zeit und Raum.

Hätten nun die Nachfolger sich wenigstens mit Kants Pünctlichkeit j am kategorischen Imperative vestgehalten, so wäre der Streit nicht hoff- nungslos verworren. Aber schon Reinhold, nachdem er Stoff und Form in jeder Vorstel-[xui]lung unterschieden hatte, reimte darauf zwey Triebe, einen eigennützigen, der sich auf empfindbaren Stoff, und einen uneigen- nützigen, der sich aufs Realisiren der blofsen Vernunftform beziehen sollte. Dies Realisiren heifst bey ihm sogar das Object des rein ver- nünftigen Triebes;* während Kant, mit dem er doch übereinzustimmen

* Reinholds Theorie des Vorstellungsvermögens. S. 569.

Vorrede. 2 1 3

meinte, ausdrücklich gelehrt hatte: „Alle praktischen Principien, die ein Object des Begehrungsvermögens, als Bestimmungsgrund des Willens, vor- aussetzen, sind insgesammt empirisch, und können keine praktischen Ge- setze abgeben."* Reikhold muls also an die Präcision des Kantischen Ausdrucks wenig geglaubt haben. Noch schlimmer machte es Fichte; der in seiner Sittenlehre mit gewohnter Dreistigkeit verkündigte: „es ist gegenwärtig unser Vorsatz, die Lehre von der Frevheit mit Kurzem ins Reine zu bringen";** dafs hiezu eine historische Darstellung früherer Lehren die erste Bedingung sey, fiel ihm nicht ein; und Anderer Philo- sopheme richtig aufzufassen, war nun einmal nicht seine Sache. Zwey Triebe, einen Naturtrieb und ei-[xiv]nen höhern,*** nahm er aus Reixholds Erbschaft an; obgleich aber dem hohem Triebe die Nicht- bestimmtheit durch ein Object, nach Kantischer Weise bleiben sollte, wurde doch das Resultat der Vereinigung beyder Triebe gefodert: ob- jective Thätigkeit, deren Endzweck absolute Ireyheü, „absolute Unabhängig- keit von aller Natur" ist, ein unendlicher, nie zu erreichender Zweck, der gleichwohl anzeigen sollte, wie gehandelt werden müsse, um jenem Endzwecke sich anzunähern. „In dem Kantischen Satze, nach welchem die Maxime des Wollens zur allgemeinen Gesetzgebung taugen soll, ist nur von der Idee einer Übereinstimmung die Rede; diese Idee aber soll man suchen zu realisiren, und man hat zum Theil zu handeln, als ob sie realisirt wäre. Der Kantische Satz ist nur heuristisch; er ist gar nicht Princip, sondern nur Folgerung aus dem wahren Princip, dem Gebote der absoluten Selbstständigkeit der Vernunft." t „Die Selbstständigkeit, unser letztes Ziel, besteht darin, dafs alles abhängig ist von mir, und ich nicht abhängig von irgend etwas; dafs in meiner ganzen Sinnen- [xvjwelt ge- schieht, was ich will, schlechthin und blofs dadurch dafs ich es will, gleichwie es in meinem Leibe, dem Anfangspunkte meiner absoluten Causalität, geschieht. Die Welt mufs mir werden, was mir mein Leib ist.ft Indem nun dies genauer dahin bestimmt wird, dafs nicht die Selbständigkeit des Individuums, sondern der Vernunft überhaupt gemeint ist, ftt entstehen Foderungen einer kirchlichen, bürgerlichen, gelehrten Verbindung, von denen wir nur im Allgemeinen bemerken können, dafs hiemit das Reinholdische Realisiren eines Objects zu einer viel- gespaltenen, weiten und breiten Ausdehnung gelangt, wodurch die Kantische objectlose Frevheit gänzlich in Schatten gestellt, und dagegen eine grofse Menge von Gegenständen, welche der sittliche Wille herbeyschaffen und besorgen soll, angezeigt wird. Kann man sich wundern, wenn bald darauf ein Anderer kam, der diese Gegenstände als Güter im sittlichen Sinne bezeichnete? Schleiermacher kam; er überlegte ausführlich, welche Form der Sittenlehre den Vorzug verdiene, ob die, welche von Pflichten, von Tugenden, oder von Gütern ausgehe? Er bemerkte richtig, dafs [xvi] dem

* Kants Krit. der praktischen Vernunft § 2.

** Fichtes Sittenlehre S. 171.

*** A. a. O. S. 167 und an mehrem Stellen.

j A. a. O. S. 311.

jf A. a. O. S. 304.

f j| A. a. O. S. 307.

.2 1 4 VIII. Zur Lehre von der Freyhcit des menschlichen Willens. 1836.

Tugendbegrifle die Einheit, dem Begriffe der Pflichten folglich auch der sittlichen Gesetze, die Mannigfaltigkeit zukomme. Damit war die Rede von Einem, und zwar ursprünglichen Sittengesetze, am Ende; aber der eigentliche Grund der Verlegenheit, welche in den verschiedenen Versuchen, die Sittenlehre zu begründen, sichtbar wird, war nicht erkannt, viel weniger gehoben. Schleiermacher suchte eine Reduction der ver- schiedenen Formen auf einander. Ohne jene ersten beyden zu ver- werfen, erklärt er doch sich vorzugsweise für den Begriff der Güter, der allein kosmisch sey.* Der Kantischen Freyheitslehre war die Spitze ab- gebrochen, als Reinhold und Fichte von Objekten des reinen Triebes redeten; auch erklärte Schleiermacher, der Freyheitslehre nicht zu be- dürfen.** Dagegen wurde von ihm Spinoza herbeygerufen; das suum utile quaerere fand wieder eine Stelle, ungeachtet der strengen Kantischen Verbannung des Eudämonismus. Geziemt es der praktischen Philosophie solchergestalt im Kreise herumgetrieben zu werden?

Ungeachtet des Abweichenden zieht sich indes-[xvn]sen doch Ein Faden seit Kant durch die verschiedenen Lehrmeinungen der Späteren hindurch; sie wollen Gemeinschaß. Welche Gemeinschaft denn? Ist es Gemeinschaft des Genusses oder des Leidens? Der Gesinnung oder der Werke? Des Irrthums oder der Wahrheit? Gemeinschaft der Waffen? Etwa damit „die Welt mir werde, was mir mein Leib ist"? Oder Ge- meinschaft der Ordnung, des Friedens, des Rechts, der Achtung, der Liebe? Kurz: wo liegt das Löbliche der Gemeinschaft? Etwa in ihrer Gröfse, in der Weite, in der Anzahl der Glieder? Liegt sie im Umfange; in der Entfernung; oder in der Dichtigkeit und Concentration? Um Fragen dieser Art zu beantworten oder zurückzuweisen, bedarf man der praktischen Ideen. Der blofse Begriff der Gemeinschaft, so lange nicht bestimmt wird: welche Gemeinschaft? ist leer; er wartet gleichsam auf die Bestimmungen, welche ihm sollen gegeben werden; denn alles Mögliche läfst sich in ihn hineinlegen. Aber gerade an die Leerheit war man ge- wöhnt durch Kant, der die leere Form der Gesetzlichkeit zum Inhalte des obersten Sittengesetzes gemacht, und gemeint hatte, die Tauglichkeit einer Maxime zur allgemeinen Gesetzgebung werde sich wohl hintennach finden, wenn sich zeige, ob sie in der Anwen-[xvni]dung nicht auf Wider- sprüche führe. Darin ist noch die oben angeführte Wolffische Frage nach dem consentire zu erkennen. Kants Gemeinschaft war die des Gesetzes; und obgleich er den Gebrauch des Güterbegriffs für die Moral verbot, so hatte er doch eine Maxime der erlaubten Zueignung für die Rechtslehre. Man blieb also in seinem Gedankenkreise, indem man, gegen ihn dis- 5 putirend, oder gar in der Einbildung, er sey schon antiquirt, über Ge- meinschaft und Aneignung verfügte, als ob hier die ersten, ursprünglichen Werthbestimmungen zu treffen wären; und als ob man ein geschlossenes Ganzes in theoretischer Kcnntnifs vor sich liegen sähe, innerhalb dessen die Gemeinschaften und Aneignungen zu verzeichnen wären. Die Ge- meinschaft des höchsten Gutes fand man schon, dem Namen nach, bey

* Schleiermachers Kritik der Sittenlehre S. 440. ** A. a. O. S. 10.

Vorrede.

215

Spinoza; dessen Lehre freylich manche würdige und urtheilsfähige Männer höchst entschieden zurückgestofsen hatte! Anstatt aber dieser unleugbaren Thatsache auf den Grund zu gehn, hielt man sie für Nachwirkung eines alten Vorurtheils. Da sich die Person sehr leicht entschuldigen liels, glaubte man auch die Lehre leicht zu deuten; überdies gab es Auctoritäten, auf die man sich stützen konnte.

Was aber die Fichtesche Freyheitslehre anlangt, [xix] so ist sie so bunt als möglich. Man findet hier nicht blols Freyheit als unerreichbares Ziel, wie vorhin angeführt, sondern gleich Anfangs bildet das Wollen ein reelles Selbstbestimmen seiner selbst durch sich selbst die rein objeetive Grundlage des Ich, in welcher vorgeblich das Denken ganz aus Jan Spiele bleibt;* späterhin soll es ein Zwillingspaar von Reflexionen geben, die erste auf den Naturtrieb, die zweyte gerichtet auf jene erste, mit Abstraction vom Naturtriebe, damit nichts übrig bleibe, als die reine absolute Thätigkeit, „und diese allein ist das wahre eigentliche Ich", dergestalt dafs jenes reelle Selbstbestimmen seiner Selbst durch sich selbst, wobey alle Reflexion bey Seite gesetzt war, ganz unnütz, ganz verschwunden, und wie es scheint vergessen ist. Aber zweyerley neue Freyheiten sind dennoch gewonnen, eine formale, ,,die durch sich selbst die Tendenz der Natur fortpflanzt'', und eine materiale, welche gewonnen wird durch einen Trieb, sich dem Naturtriebe zuwider, ja ohne alle Beziehung auf ihn" zu bestimmen,*' wodurch wiederum für die zu erklärende Ichheit [xx] der Naturtrieb überflüssig, die Freyheit aber, die aus einem Triebe emstehn soll, in der That völlig widersinnig wird. Oder soll man etwa sagen; wie das Saamenkorn einen Trieb hat zu wachsen, so hat das Kind des Men- schen einen Trieb zur Freyheit? Die Unbegreiflichkeit der Freyheit wird weiterhin nicht blofs eingestanden, nicht blofs gefodert, sondern auch dadurch noch vermehrt, dafs, ungeachtet im Vorigen der Triebe so viel erfunden wurden, als man brauchte, doch eine unglückliche Trägheit, Feig- heit nnd Falschheit zum Vorschein kommt (natürlich um das Böse zu er- klären,) wobey es nöthig wird, die Triebe sämmtlich aus der Freyheit wegzulassen, auch die Freyheit nicht in diese oder jene Reflexion hinein, sondern in den Aufschwung von einer zur andern, in einen Act zu ver- legen. *: „Aus dem vorausgesetzten Reflexionspuncte läfst die Maxime sich theoretisch ableiten. Aber dais der Mensch auf diesem Reflexions- puncte stehen bleibt, ist nicht nothwendig, sondern hängt ab von seiner Freyheit. So lange ich in dem höhern Reflexionspuncte noch nicht stehe, ist er für mich nicht da; ich kann sonach von dem, was ich sollte, keinen Begriff haben, [xxi] ehe ich es wirklich thue. Es läfst sich vorher- sehen, dafs der Mensch auf den niedrigen Reflexionspuncten eine Zeit lang (wie lange wohl?) verweilen werde, da es schlechthin nichts giebt, das ihn höher treibe." Wozu denn vorhin der Trieb nach Freyheit um der Freyheit willen ?t Die Antwort ist leicht: darum, weil sich psycho-

* Fichtes Sittenlehre S. 14, 15. Zu vergleichen ist des Verfassers Meta- physik § 324.

** Fichte Sittenlehre S. 1". *** A. a. O. S. 238 und anderwärts. f A. a. O. S. 178.

JIM VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

logische Betrachtungen während des Schreibens aufdrangen, die man nicht durchzuführen verstand. Die Inconsequenz geht soweit, dafs endlich gar v.»n einer „Bildung für die Möglichkeit des Gebrauchs unserer Frey- heit durch Einwirkung der Gesellschaft auf uns, ja von Mustern die Rede ist, welche mit der Achtung zugleich Lust einllöfsen, dieser Achtung sich selbst würdig zu machen. So soll gewonnen werden, was fehlt, nämlich: Bewufstseyn und Antrieb. „Wer die eigne Freyheit auch dann noch nicht braucht, dem ist nicht zu helfen."** Umgekehrt: wer einmal von der absoluten Frevheit so viel hat fallen lassen, dafs er sich Bewufstseyn und Antrieb durch Muster geben läfst, welches eine sehr starke Zu-[xxu] gänglichkeit für Causalverhältnisse, nebst den Zeitbestimmungen, wann sie eintreten, vorausgesetzt, und zwar für solche, die nicht auf der Oberfläche den Erscheinungen, nach Kant, stehen bleiben, sondern ins Innerste ein- dringen, — wer schon so weit in die Psychologie, wider seinen Willen, hineingerathen ist: der suche nun 1 mit gutem Willen in der Psychologie weiter vorzudringen; anders ist ihm nicht zu helfen.

Aber als ob Fichte Alles vollends hätte verwirren wollen, zieht er auch noch die Prädestination in seine Freyheitslehre hinein. „Die Prä- determination kann nicht wegfallen, aufserdem ist die Wechselivirkung ver- nünftiger Wesen nicht erklärbar; aber die Freyheit kann eben so wenig wegfallen." Wie hilft er sich? A priori ist keine Zeit. Es ist nicht be- stimmt, dafs ich die Ereignisse so oder so in der Zeit auf einander folgen lasse. Was ich erfahren werde, ist bestimmt, nicht von Wem. Es liegt für die gesammte Vernunft ein unendlich Mannigfaltiges von Freyheit und Wahrnehmung da; alle Individuen theilen sich darin."*** Woraus denn folgt, dafs die Früher - Gebornen den Vortheil der Auswahl haben; die Späteren kön-[xxm]nen wählen unter dem zvas übrig geblieben ist. Es scheint fast, Fichte habe vergessen, dafs er es der Consequenz seiner Lehre schuldig war, die Trennung der Individuen nicht von der Zeitlich- keit loszureifsen; und dafs er nicht etwa die nach einander in die Er- scheinung eintretenden Individuen alle zugleich konnte in den allgemeinen Glückstopf greifen lassen; am wenigsten bevor sie die Refiexionspuncte, von welchen aus die Maximen nothwendig sein sollen, schon erreicht hatten. Wollte er vielleicht auch jedes Individuum Zeit und Ort seiner Geburt frey wählen lassen? Oder dachte er gar nicht an die nöthigen Gelegenheiten zum Handeln, als er schrieb: „Alle freyen Handlungen sind von Ewigkeit her prädestinirt; aber die Zeit, in welcher etwas geschehen wird, und die Thäter, sind nicht prädestinirt?" Eine Ansicht von den Handlungen, als wären es Kleider, welche der Eine oder der Andere ^anziehen könnte. Kurz, man sieht, dafs in Fichtes Sittenlehre über die Freyheit, als über ein Lieblingsthema, ist phantasirt worden; wobey in der Folge die Variationen nicht ausbleiben konnten.

*

Fichte Sittenlehre S. 240. ** A. a. O. S. 270. *** A. a. O. S. 303.

1 „mit" nicht gesperrt SW.

Vorrede. 217

Über den bald darauf erneuerten Spinozismus ist kaum nöthig, etwas Allgemeines voranzuschicken. Eine Naturansicht, die sich durch ihre [xxiv Universalität empfiehlt, und die sich für Theologie hält, mag für eine sehr aufgeklärte Theologie gelten; aber dem Spinozismus fehlt das, was jede Religionslehre ursprünglich in sich tragen mufs, und was ihr durch keine Nachhülfe kann beigebracht werden. Abgesehen von allen spe- culativen Irrthümern, fehlt dem Spinozismus die moralische Wärme und "Würde.

Erster Brief.

Lassen Sie Sich einmal gefallen, mein theurer Fieund, etwas Wissen- schaftliches in Briefform zu lesen. Zwar auf ein Beyspiel, das Sie mit allzugrofser Güte Selbst gegeben haben, darf ich mich bey Abhandlnng eines alten Streitpuncts nicht berufen; vielmehr mufs ich bey Ihrer Ästhetik mich entschuldigen, die jedes Ding nur in der ihm zukommenden Weise, also Wissenschaftliches nur in schulgerechter Form sehen will. Allein die Ent- schuldigung liegt nicht weit. Oder möchten Sie mir die Frage beantworten, in welches Fach die Freyheitslehre eigentlich gehöre? Ist sie blofs mora- lisch, oder zugleich metaphysisch? Ist sie rein theoretisch, oder auch prak- tisch ? Jedenfalls treibt sie sich überall in Büchern und Gesprächen herum ; wir beyden aber, Sie und ich, pflegen dieselbe im pädagogischen Sinne zu berühren; [2] während die Meisten gerade daran, dafs hiebey noth- wendig auf Erziehung Rücksicht genommen werden mufs und soll, am wenigsten denken. Hiemit errathen Sie ohne Zweifel schon den Grund, weshalb ich nicht blofs den Gegenstand, der keine ausschliefsende wissen- schaftliche Stelle hat, der überdies immer von neuem, als ob er keiner Entscheidung fähig wäre, besprochen wird, in die leicht bewegliche briefliche Mittheilungs - Weise hineinziehe: sondern auch gerade Sie, den langjährigen praktischen Erzieher, mir fortwährend vergegenwärtige; näm- lich damit Sie mich hüten mögen, ins Disputiren gegen solche Irrthümer, die einem denkenden Pädagogen gar nicht ankleben können, mich allzu weit zu vertiefen.

Doch es giebt einen nähern Anlafs, als blofs die Sorge, Pädagogik gegen falsche Freyheitslehren zu schützen, welcher mich bestimmt, auf den vielfach behandelten Gegenstand zurückzukommen.

Eine mir sehr unwillkommene Ähnlichkeit des Spinozismus mit meinen Untersuchungen ist neuerlich hervorgehoben worden, und zwar in einem Buche, das Sie, glaube ich, in seiner Art gut finden werden. Her Romang, der Schule Schleiermachers angehörig, der „über Willensfreyheit und Determinismus" mit nicht unbedeutender Gelehrsamkeit geschrieben hat, genutzt, um [3] seine Meinung vorzulegen, als Motto die Worte des Spinoza; ea res libera dicetur, quae ex sola suae naturae necessitate existit, et a se sola ad agendum determinatur. Er benutzt gelegentlich auch einige Stellen meiner Psychologie über Zurechnung und über die Möglichkeit sittlicher Bildung (S. 171, 172, 174 seiner Schrift,) auf eine Weise, wo- gegen ich nichts einwenden darf; da ich wenigstens kein strenges Recht habe zu fodern, man solle in solchen Fällen meine praktische Philosophie zu Rathe ziehn, ohne die nun freylich Niemand in den wahren Zusammen- bang meiner Untersuchungen eindringen wird. Aber an einem andern

Erster Brief. 2 I Q

Orte, wo vorzugsweise von Leibnitzen die Rede ist, wird mir die Ehre zu Theil, mit diesem in eine Berührung zu gerathen, die einer Beschul- digung ähnlich sieht. Sie erinnern Sich wohl dafs man Leibnitzen den Vorwurf gemacht hat, mit dem berüchtigten Spinoza habe er nicht wollen befreundet erscheinen*. Herr Romang nun schreibt S. 72: „Andre, wie z. B. Leibnitz, dieser hohe Ruhm des deutschen Namens, haben sich in ihrer Speculation auf Sätze führen lassen, welche keine von dem Spinozi- stischen Determinismus wesentlich verschie-[X]de?ie Deutung zu erlauben scheinen, obgleich sie hartnäckig versichern, in Ansehung der sittlichen Dinge zu einem solchen Verständnifs nicht berechtigt zu haben. Was hier über Leibnitzen bemerkt worden, das möchte wohl auch auf eine neuere Philosophie seine Anwendung finden, und sehr offen, obgleich nicht in weitläufigen Ausführungen, bestreitet H. die sogenannte transscendentale Freyheit."

Also offen gegen Kant; wie denn gegen Spinoza? Sind meine Aufserungen über Spinoza im ersten Bande meiner Metaphysik etwan ver- steckt? —

Herr Romano hat freylich, wie es scheint, nur meine Psychologie vor Augen gehabt. Eben darum wollen wir diesen Schriftsteller für jetzt nicht weiter behelligen. Er hat nur ausgesprochen, was schon ^Mancher mag gedacht haben; Spinoza redet gegen die Freyheit, ich erkläre mich auch dagegen nämlich gegen die Kantische transscendentale Freyheit; also mufs doch wohl irgend eine Ähnlichkeit zu finden seyn, wenn nicht etwa das Wort Freyheit hier in verschiedenem Sinn erst von Spinoza, dann von Kant, und diesem entgegen auch von mir, ist gebraucht worden.

Eine polemische Abhandlung würde nun von dem Sinne der Worte beginnen. Sie würde z. [5] B. in Ansehung jenes von Spinoza entlehn- ten Mottos fragen: was heifst Natur eines Dinges, das durch blofse, in ihr liegende Notwendigkeit existirt? Wiefern kann ein solches, nicht von aufsen bestimmtes, Ding, frey oder unfrey genannt werden? Was heifst bestimmt werden zum Handeln; und welches Handeln, äufseres oder inneres, mag wohl gemeint seyn, wenn das Ding, das allein durch sich selbst zum Handeln bestimmt wird, eben deshalb ein Freyes seyn soll? Etwan die Drehung jener berühmten Magnetnadel, der man Be- wufstsein beylegt, damit sie sich einbilde frey zu seyn, weil sie wissend, wenn auch mit innerer Nothwendigkeit, sich gen Norden und Süden wendet: wobei der Erd-Magnetismus mag vergessen werden, um das Beyspiel ja nicht zu entkräften ! Schwerlich möchte heut zu Tage Jemand das : ea res libera dicetur, einräumen, wenn man auch noch so spinozi- stisch in Ansehung des Drehens und des Wissens vom Drehen den Satz vesthielte: ordo et connexio rerum idem est ac ordo et connexio idearum. Die Nothwendigkeit des Drehens möchte immerhin bloß in der Nadel liegen: man würde dennoch ausgelacht werden, wenn man wegen solcher Nothwendigkeit die Nadel frey nennte. Auch jenes blofs begleitende Be- wufstseyn würde nichts helfen, wenn es auch zur wirklichen Drehung [6]

Spinozae opera ed. Paul. Vol. II. pag. 674.

220 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

eben so genau pafste, wie bey Spinoza die res cogitans zur res extensa. Wir reden ja von der Freyheit des Willens! Der Wille aber ist ein inneres Handeln, und die ganze Frage von der Freyheit kommt nur des- halb in Betracht, weil wir den eigentlichen Werth des Menschen in seinem Willen suchen. Wir sprechen mit Kant:

„Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch aufser derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille. Verstand, Witz, Urtheilskraft und wie die Talente des Geistes sonst heifsen mögen, oder Muth, Ent- schlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatze, als Eigenschaften des Tempe- raments, sind ohne Zweifel in mancher Absicht gut und wünschenswerth ; aber sie können auch äufserst böse und schädlich werden, wenn der Wille, der von diesen Naturgaben Gebrauch machen soll, und dessen eigenthümliche Beschaffenheit darum Charakter heifst, nicht gut ist.', * Spinoza dagegen spricht: Cum melior pars nostri sit intellectus, certum est, si nostrum utile revera quaerere velimus, nos supra omnia debere conari, ut eum, quantum fieri potest, per-[7]ficiamus ; in eius enim per- fectione summum nostrum bonum consistere debet. ** Dem gemäfs kennt er kein gröfseres Übel, als die servitus humana, die in den Affecten be- steht, und dieser gegenüber sucht er die libertas humana in der Stärke des Erkennens. Quicquid ex ratione conamur, nihil aliud est quam in- telligere. Est ergo hie intelligendi conatus primum et unicum virtutis funda- mentum.*** Hiermit ist sein Freyheits- und Tugendbegriff hinreichend bestimmt, damit wir uns ohne Weiteres und 1ohne Rückkehr von ihm lossagen. Oder wenn wir später zu ihm zurückkehren, so geschieht es nicht, um uns ihm anzuschliefsen, sondern um seine Blölse ins Licht zu stellen.

Was also vorhin von einer Ähnlichkeit mit Spinoza bemerkt wurde, das ist rein zufällig; und im sittlichen Sinne kaum vorhanden. Aber es springt in die Augen, wie das eingebildete intelligere, welches bekanntlich auf den alten vorkantischen Dogmatismus gerichtet ist, sich durch die Vernunft- kritik mufste gedrückt finden; und weshalb es zur Angelegenheit der Spinozisten wurde, sich von der Zucht der Kritik zu befreyen. Des- [8] halb nämlich, weil bey Spinoza kein besserer Begriff von der Tugend zu finden war, als dieser, der das suum utile quaerere ins intelligere über- setzt. Der Mangel an moralischer Einsicht lag den speculativen Fehlern zu Grunde.

Jedoch ich erinnere mich, an Wen ich schreibe. Sie, mein theurer Freund, werden mir zwar nicht verdenken, dafs ich die scheinbare Ge- meinschaft mit dem, heutigen Tages hochgepnesenen, Spinoza zurückweise. Aber mit eintöniger Polemik darf man Ihnen nicht kommen. Bey einem vielbesprochenen Gegenstande soll man sich hüten, dafs man nicht lang- weilig werde; und bey einem solchen, der ohne Ende wird besprochen

* Kants Grundlegung der Metaphysik der Sitten; gleich im Anfange. ** Tractatus theol. polit. cap. 4. *** Ethica pars 4, prop. 26.

1 ohne Rückkehr lossagen SW („von ihm" fehlt).

Erster Brief. 22 1

werden, soll man nicht die Miene annehmen, ihn abmachen zu können, sondern auf den Stand derjenigen Studien hinweisen, von deren Fort- führung und Zusammenfassung die definitive Sentenz dereinst zu erwarten ist. Nun wohl! Wir wollen uns umsehn nach mancherley Richtungen; wir wollen gesprächsweise, ohne etwas zu erschöpfen, mancherley berüh- ren, mancherley sammeln und bemerken, was sich auf den Streitpunct bezieht; ich werde nicht verhehlen, was ich denke, aber auch nicht einseitig darstellen, wo gerade Vielseitigkeit der Betrachtung das höchste und dringendste Bc-\o)\düifnifs ist\ also nicht etwan die Güte, die Sie für meine Schriften an den Tag gelegt haben, dazu missbrauchen, dafs diese zu Gegen- ständen erhoben würden, über welche sich ein Commentar oder eine Ver- theidigung schreiben liefse.

Der Gegenstand, den Sie hoffentlich mit mir betrachten wollen, ist die Freyheit des Willens. Sie sind gewohnt zu fordern, dafs die Gegen- stände in der Philosophie nicht beliebig aus der Luft gegriffen, auch nicht mit künstlicher Dialektik wie Personen in Romanen und Novellen unver- merkt herbey geführt, und, wo sie Bedeutung erlangen, als alte Bekannte begrüfst werden, die, eben weil sie schon da sind, auch ein Recht haben da zu seyn. Vielmehr verlangen Sie, dafs man Ihnen die Gegenstände der Betrachtung im Gegebenen nachweise; also in demjenigen, was vor allem Anfange des Philosophirens schon vorgefunden wird.

Hier nun setzt mich die Freyheit des Willens in einige Verlegen- heit. Denn sie wird ja bezweifelt, wohl gar geleugnet; und ein solches Schicksal pflegt ein offenkundiges Factum doch nicht zu haben. Kant selbst wagt nicht, sie als ein Gegebenes zu behandeln ; sondern sie ist ihm ein praktisches Postulat; als solches steht sie bey ihm zwischen der Unsterblichkeit und dem Daseyn Got-[io]tes. * Seine ganze Überzeugung von der Freyheit beruht auf dem kategorischen Imperative. Was gegen diesen kann gesagt werden, (und bekanntlich ist dessen nicht wenig!) das schwächt auch den Glauben an die Frevheit; zum mindesten im Sinne Kaxts; von dem doch in neuerer Zeit die philosophische Rede von der Freyheit ausgegangen ist.

Aber der grofse Beyfall, welchen die Kantische Lehre gerade in diesem Puncte erlangt hat, die Ängstlichkeit, womit Diejenigen leise auf- zutreten pflegen, die hierin von derselben abweichen; die vermehrte Dreistigkeit, womit Fichte, eben während er sie über ihre Gränzen hinaus trieb, sein Sittengesetz verkündigte:

„Das Princip der Sittlichkeit ist der nothwendige Gedanke der Intelli- genz, dafs sie ihre Freyheit nach dem Begriffe der Selbstständigkeit, schlechthin ohne Ausnahme, bestimmen sollte'1,** dies sind Facta, mit denen sich unzählige bekannte Thatsachen, die außer- halb der philosophischen Schulen am Tage liegen, sehr leicht zusammen- stellen lassen. Das Wort Freyheit klingt in den Gemüthern der Menschen wieder, wie kaum irgend [u] ein anderes Wort; dabey liegt unfehlbar etwas zum Grunde, das man als ein Gegebenes annehmen kann.

Kritik der praktischen Vernunft, S. 238. ** Fichtes System der Sittenlehre S. 6b,

22 2 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

Der Wille der Mensehen, die sich unfrey fühlen, stand unter irgend einem Drucke; das Wort Freyheit lüftet diesen Druck; die unmittelbare Folge ist ein Wohlgefühl, noch ehe sich eine Gelegenheit zum Genüsse, zum Vergnügen, zum Handeln, darbietet. Kann denn ein blofses Wollen, noch ohne Gewolltes, den Menschen so wohl thun? Können grofse Denker dies blofse Wollen, ohne Gegenstand, so hoch erheben? Das mag wunderbar scheinen; aber unverkennbar trifft eben dies zusammen mit dem Kantischen kategorischen Imperative. Sobald irgend ein Gegen- stand den Willen bestimmt, klagt ihn Kant der Heteronomie an; der freye Wille soll unabhängig von jedem Objecte der Maximen, in der blofsen gesetzgebenden Form der letztern, seinen einzigen Bestimmungs- grund finden. So sagt die Hauptstelle bey Kant. *

Kennen denn auch die Menschen ein Wollen ohne Object? Oder bilden sie dergleichen sich nur ein, als ein Glück oder als einen Ruhm, der in unerreichbarer Ferne schwebe, wie ein Feenschlofs?

[12] Fichte erinnert sehr bestimmt: wir können nichts thun, ohne ein Object unserer Thätigkeit in der Sinnenwelt zu haben**. Auch ist an sich klar, dafs, wo ein Wollen gedacht wurde, da ein Gewolltes hinzu gedacht war; nur die Eigenthümlichkeit dieses Gewollten wird im Begriffe der Freyheit aulser Acht gelassen, oder, wie bey Kant, ausdrücklich vom Bestimmungsgrunde des freyen Willens ausgeschlossen.

Die Menschen wollen nicht blofs Objecte, sondern mit den Objecten wollen sie wechseln; sie wollen sich regen und rühren; sie wollen auf eine unbeschränkte Sphäre ihrer Regsamkeit hinausschauen. Hier ver- schwindet die Bestimmtheit der Objecte; man will frey sein, heifst: man will nicht gehindert seyn im künftigen möglichen Wollen.

Allein auch das Sollen schaut in die Zukunft. Die Freyheit soll bestimmt werden; dafür suchen die Philosophen ein Gesetz; nicht als ein Hindernifs, aber als eine Richtung des künftigen möglichen Wollens. Über das Sittengesetz streiten sie; das heifst, die gesuchte Richtung schwebt in Frage; dennoch verlangt man eine veste Richtung, wenn schon nicht einhellig angegeben wird, welche Richtung.

[13] Man legt also einen Werth auf das Wollen, und zwar auf ein ungehindertes und zugleich entschiedenes. Giebt es denn ein solches, oder ist der Werth einem blofsen Gedankendinge zugesprochen ?

Hier, mein theurer Freund, werden wir uns gewifs nicht lange be- denken. Wir werden vielmehr, wenn es nöthig wäre, einstimmig bezeugen, dafs wir den Gegenstand dieser Betrachtung gar wohl kennen, und zwar als einen gegebenen. , Wir kennen sehr gut den Gemüthszustand, in welchem uns nicht

blofs, gleich einer offenen Landschaft, die mannigfaltige Möglichkeit unseres Thuns, als eines ungehinderten, vorschwebt: sondern auch unser eignes Wollen in entschiedener Richtung, ohne einer äufsern Haltung zu be- dürfen, durch diese Landschaft seine Wege nimmt, bey Vielem vorüber- gehend, Anderes verbindend, mancherley Mittel versuchend, dem Zwecke

* Kritik der praktischen Vernunft §. 6. ** Fichte a. a. O. S. 75.

Erster Brief.

223

ungeachtet aller Widerwärtigkeit, die unser Handeln oftmals verzögert, un- bedenklich nachgehend und ihn so gleichförmig, als die Umstände ge- statten, verfolgend.

Der Umstände, der Widerwärtigkeit, welche zur vollen Freyheit nicht passen, erwähne ich hier deshalb, um damit sogleich an den Unterschied der innern von der äufsern Freyheit zu erinnern. Die erstere bleibt noch dem Willen, wenn auch die zweyte mangelhaft ist; und gerade auf dies [14] Bleiben richten die Philosophen ihren Blick, während im gemeinen Leben über Unfreyheit geklagt wird, sobald das Handeln nicht gerade ausgehend seine Zwecke erreichen kann.

Aber die Idee der innern Freyheit ist auch hier noch fern. Jenes- Gegebene, was wir in uns und Andern erfahrungsmäfsig kennen, findet sich umringt von mancherley innerer Unfreyheit, die wir ebenfalls er- fahrungsmäfsig kennen. Es giebt Stunden, Tage, längere Zeiträume, es giebt Geschäfte, Lebenslagen, Verlegenheiten, worin die Objecte uns pressen, uns ihre Eigenthümlichkeit zu betrachten nöthigen, uns eine ge- zwungene Haltung geben, oder auch eine Schwankung des Wollens her- vorbringen; ja worin die Besonnenheit ermattet, Verdrufs und Freude uns abwechselnd ergreifen; ein solches Gemälde bedarf hier keiner weitern Ausführung. Es ist für jetzt genug zu erinnern, dafs solche Zustände bald als Unglück bedauert, bald als Schuld angeklagt werden.

Jenes wenn auch nicht ganz ungehinderte, so doch durch- dringende und entschiedene Wollen, welches dem Begriffe der Freyheit um desto besser entspricht, je weniger es an einzelnen und bestimmten Objecten haftet, je leichter es vielmehr die Objecte wechselt, falls ihre Eigen-[i5]thümlichkeit ihm nicht zusagt: findet sich als Thatsache zwar unzweydeutig vor, aber es ist bey weitem nicht das Ganze unseres Wollens; sondern es liegt in der Mitte anderer Gemüthszustände, die sich von ihnx mehr oder weniger entfernen. Sollten wir es nicht besser hervorheben können, wenn auch nur in Gedanken ?

Offenbar läfst sich diese Thatsache idealisiren. Das Wollen soll über- all durchdringen; so idealisiren die Menschen im gemeinen Leben, die zwar wohl kampflustig zu sein pflegen, aber nur in Erwartung des Sieges über jeden Widerstand. Es soll die andern Gemüthszustände nicht auf- kommen lassen; so idealisirt Fichte sammt den Stoikern, indem nach dem Begriffe der Selbstständigkeit, ohne Ausnahme, die Freyheit zu be- stimmen gefodert wird. Die Objecte sollen nicht blofs durch die Leichtigkeit, sie zu wechseln, minder bestimmend eingreifen, sondern in ihnen soll gar kein Bestimmungsgrund des Willens liegen; so idealisirt Kant.

Allem diesem Idealisiren liegt die gegebene Thatsache zum Grunde;, sie ist es, welche dadurch nicht blofs hervorgehoben, sondern gleichsam verklärt wird; aber das ists auch, was Kant am wenigsten hören will. Was sich factisch in der Zeit beobachten läfst, alles das wirft er ins [16] Gebiet der Naturnothwendigkeit; dort soll es nach Gesetzen des Causal- zusammenhangs erklärbar seyn. Seine Freyheit hingegen soll unzeitlich und unerklärbar sevn; sonst genügt sie ihm nicht. Man möchte sagen, es sey ein Unglück für Kant, dafs sich wirklich vorfindet, was er mit der

224 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

Bedingung sucht, es solle nirgends und niemals anzutreffen seyn, damit es blofs um des kategorischen Imperativs willen geglaubt werde.

Kant hat leider Manches bey Seite gelegt, was er hätte behalten und sorgfältig untersuchen sollen. So die Dinge an sich; so die gegebene Zweckmäfsigkeit der Natur. Das büfste er, indem der noch mehr weg- werfende Fichte es leicht fand, ihn zu überbieten.

Lassen wir nun für jetzt das Idealisiren ; und überlegen uns dagegen Folgendes zur nähern Bestimmung unseres Gegebenen.

Wenn der Mensch sich für unfrey hält, so ist er nicht frey. Die geistige Thätigkeit wird nicht erst durch dasjenige eingeengt, was uns an die Haut kommt; sondern die aus der Ferne erblickten Hindernisse be- gränzen schon den Gesichtskreis, worin wir unser mögliches Handeln im Voraus gestalten. Wer nun weit hinaus schaut, der sieht Hindernisse, die sich dem Kurzsichtigen verbergen. Der Unerfahrne ist leicht fröhlich, wo [17] der reife Mann sorgenvoll seine Vorkehrungen triftt, um nicht in solche oder andere Abhängigkeit zu gerathen. Für Kinder ist der Spielplatz eine weite Welt, für Jünglinge ist der Beutel bald hinreichend gefüllt; während das spätere Alter sich erst durchs Nachdenken, und nicht ohne Selbstüberwindung von dem Streben nach unerreichbaren Gütern los macht, um einen mäfsigen Wohlstand genügend zn finden, nachdem das Entbehrliche aus dem Kreise der Wünsche war zurückgewiesen worden. Hier war Unfreyheit; denn die Objecte hatten den Willen angezogen ohne sich ihm zu ergeben; und wieder gewonnen wurde die Freyheit nur dadurch, dafs man, statt von ihnen sich begränzen zu lassen, viel- mehr sich gegen sie verschlofs.

Werden wir nun, dem vorigen Satze gegenüber, auch so sprechen dürfen: wenn sich der Mensch für frey hält, dann ist er frey? Wie leicht kann er gefangen werden! Nicht blofs äufserlich; wie man Den- jenigen greift, der sich im Versteck für sicher hielt; sondern auch inner- lich, wenn Ermattung, gehäuftes Unglück, eine Reihe von Überraschungen, oder was sonst betäubend wirkt, das Maafs der Kräfte überschreitet!

Allein die Menschen täuschen sich über diesen Punct, als ob sie durch keine Erfahrung könnten [18] belehrt werden, immer von neuem. Welche Meinung man von der Freyheit hege, das halten sie für so wichtig, als ob durchs blofse Meinen die wirkliche Freyheit erworben würde. Es gab ja sogar eine Zeit, wo man sprach: das Ich ist das, als was es sich setzt. Damals hätte man allenfalls auch geglaubt, wer sich über den Tod hinwegsetze, der sey unsterblich. Man hatte sich ganz ernstlich über die Zeitlichkeit hinweggesetzt: so war man in die Kantische intelligible rWelt gelangt; dafs dort an Besserung, Versöhnung, Erlösung, nicht zu denken sey, fiel den Leuten nicht ein, obgleich es vor den Füfsen liegt. x\uch dann noch fiel es ihnen nicht ein, als es ihnen Ernst wurde, christ- lich zu seyn und zu denken.

Fassen wir nun unsre beyden Sätze zusammen! Wenn der Mensch sich für unfrey hält, so ist er wirklich nicht frey; wenn er sich aber die Freyheit zuschreibt, so folgt daraus noch immer nicht, er sei wirklich frey. Die Hindernisse, die er nicht sieht, sperren ihm zwar nicht die Aussicht, aber sobald er sich rührt, können sie seine Bewegung hindern. Und wir wollen

Erster Brief.

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gleich hinzusetzen: sie können selbst einen geheimen, ihm selbst un- merklichen Einflufs auf ihn ausüben. Diesen Punct müssen wir deshalb, ins Auge fassen, weil gerade hier der eigentliche Determinismus beginnt, [19] der, wenn er übertrieben wird, das Wollen selber zweifelhaft macht.

Dafs die meisten Menschen sich weniger frey glauben würden, wenn sie weniger kurzsichtig wären, dals sie übermüthig sind, weil sie von den Hindernissen, denen sie entgegen gehn, wenig gewahr werden : dies wissen wir aus täglicher Erfahrung. Allein so lange noch von sichtbaren, ja selbst so lange noch von fühlbaren Hindernissen die Rede ist, pflegt man diese als etwas Äufseres zu betrachten, so dafs der Cbermuth nur darin bestehe, die Sphäre der äufern Freyheit gröfser zu schätzen, als sie sey. Was Krankheit, Reizbarkeit der Nerven, was der leibliche Theil der Affecten an der Freyheit hinwegnimmt, auch dies noch, wie sehr es ins Innere dringt, trit in Gegensatz gegen den innern Entschlufs, der, in be- sonnenem Wachen gefafst, unverändert wiederkehrt, sobald der Geist aus demjenigen, was ihn etwa vorübergehend betäubte, sich wieder empor- hebt. Bis hieher hilft man sich durch die Unterscheidung der innern Freyheit von der äufsern. Jene will man retten ; aber die Gefahr, aus welcher sie soll gerettet werden, ist noch nicht dringend, so lange das Beschränkende sich als ein Fremdartiges dem Willen selbst entgegensetzen läfst. Erst dann beginnt die Gefahr, wenn der Wille ohne [20J unsern Willen vorhanden, wenn er selbst als ein Fremdartiges in uns hinein- getragen, durch Zauberey uns angethan erscheint.

Fehlt es etwa hier an Thatsachen?

Dieses Spielwerks wirst du überdrüssig werden, sagt man dem Knaben. Diese hitzige Freundschaft wird mit Kälte, wo nicht mit Streit, endigen sagt man dem Jünglng. Diese Staatseinrichtung, die Ihr jetzt eifrig be- gehrt, wird Euch nicht besser genügen, sagt man den Männern. Diese Mode wird vorübergehen, sagen sich selbst die Frauen.

In diesen und hundert ähnlichen Fällen wird ein Wille , der noch nicht da, vielmehr dem vorhandenen entgegengesetzt ist, vorausgesehen, als ein unvermeidlich bevorstehender, als ein inneres Ereignifs in dem eignen Ich, welches Ich in seinem künftigen Wollen oder Nichtwollen ganz eigentlich Sich finden werde. Lassen sich solche innere Ereignisse in vielen Fällen vorhersehen, so ist gar nicht zu bezweifeln, dafs in dem verborgenen Triebwerke unseres unwillkürlichen Vorstellens und Fühlens noch weit öfter und mannigfaltiger ein künftiger Wille vorbestimmt sev. Zu solchen Vorhersagungen, wie die erwähnten, gehört weiter nichts, als dafs man nicht die Befangenheit theile, aus welcher die Willen, deren [21] Umschlagen sich errathen läfst, hervorgingen. Eine Befangenheit in Objecte,' gegen das Kantische Gebot. Kein Wunder, dafs Kant nach einem Willen suchte, der durch Objecte überall nicht bestimmt seyn sollte; da sich unser Verhältnifs zu den Objecten so leicht verändert, und alsdann auch der hierin befangene Wille.

Aber lassen Sie uns nicht zu weit gehen ! Möchten Sie wohl über- nehmen, allgemein vorherzusagen, wie ein solches oder anderes Wollen sich nach Ablauf einer bestimmten Zeit werde entwickelt haben? All- gemein gewifs nicht; sondern die Individuen kommen dabey in Betracht;

Herbart's Werke. X. 15

22Ö VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

das Verhältnifs zwischen der Person und den Objecten wird keineswegs blofs durch die Objecte, sondern auch durch die Person selbst gegeben. Aber noch mehr! wenn wir in diesem Zusammenhange von der Person reden, so meinen wir gewifs nicht blofs deren Individualität, sondern auch die gewonnene Bildung; und hiemit theils den Gewinn an Erfahrung, theils die Richtung und Bevestigung des Charakters, theils das was Klug- heit, Phantasie und Genie vermag.

Wülsten etwa Diejenigen, denen das Glück zu Theil wurde, sich mit Göthen zu unterhalten, dessen geistreiche Antworten voraus? Wufsten die, welchen die schwere Aufgabe gestellt war, gegen \_22~\ Napoleon zu kämpfen dessen taktische und strategische Wendungen voraus? Nur zu oft verrechnet sich die falsche Menschenkenntnifs, und steht dann beschämt.

Nie hat ein grofser Dichter alle die Kunstwerke ausgeführt, deren Entwürfe ihm vorschwebten; nie das Alles auch nur entworfen, wozu sein Gedankenvorrath würde hingereicht haben. Der Feldherr hat nicht alle die Schlachten sich gedacht, in denen er hätte siegen können; der Staats- mann ist sogar dergestalt an seinen wirklichen Staat gebunden, dafs er es absichtlich vermeidet, sich einer Gedankenschöpfung hinzugeben, die ihn von dem engen Pfade, auf welchem er sich halten mufs, ablenken könnte.

Aus dem Reichthum der innern Welt gelangt nur sehr Weniges zur äufsern Erscheinung. Nur ein kleiner Theil des Willens offenbart sich als That; nur ein geringer Theil des Gedankenkreises erhebt sich bis zum Wollen.

Der reichste Geist hat die weiteste Aussicht auf künftiges mögliches Wollen, er wechselt am leichtesten die Objecte, umgeht am gewandtesten die Schwierigkeiten, bekämpft am klügsten die Hindernisse; er wird also sich vorzugsweise frey nennen. Und wir werden ihn nicht der Kurz- sichtigkeit beschuldigen, die sonst wohl den Freyheits-[23]dünkel da er- zeugt, wo Einer seine Gränzen nicht wahrnimmt. Wollten wir ihm aber das Kantische Sollen verkündigen, und zwar als hinweisend auf die wahre Freyheit: so weifs ich nicht, ob er, anstatt mit den Objecten zu wechseln und gleichsam zu spielen, geneigt seyn möchte, sie aus den Bestimmungs- gründen seines Willens herauszuwerfen, um sich durch die blofse gesetz- gebende Form der Maximen zu bestimmen, und hiemit erst sich in den freyen Besitz des Willens zu setzen. Sagten wir nun vollends, dafs erst in diesem Puncte, in der blofsen gesetzgebenden Form der Maximen, Freyheit und Sittlichkeit Eins seyen, dann fürchte ich in der That, Mancher möchte eruiedern, dafs er auf solchem Fufse weder irey noch sittlich zu seyn 3 begehre.

Doch genug vom Gegebenen, und also genug für heute; denn Sie werden die Betrachtung des Gegebenen sehr leicht ergänzen, und ich mufs ohnehin fürchten, zuviel von dem, was sich Ihnen ganz von selbst darbot, unnöthig beigebracht zu haben. Aber wenn wir nun ganz kunst- los, ohne System, die Sache auffassen, wie sie sich giebt, finden wir dann Freyheit oder Determinimus? Finden wir einen Willen, der los und ledig ist von der Bestimmung durch die Objecte? Oder finden wir Objecte, die uns das Wollen anthun, [24] und es wie etwas Fremdartiges in uns

Zweyter Brief. 22 7

hineinzaubern, als ob wir selbst im Grunde gar nichts wollten? Mit einem solchen Entweder Oder möchte es doch wohl milslich aussehn. Denn weder Eins noch das Andre finden wir genau; dagegen finden wir Annäherungen nach beyden Seiten; wir finden sowohl den irv/noz als die ini&v/iiia. Den Begriff" der Freyheit aber finden wir in mancherley Lehren eingemischt: in Lehren von der Tugend, von der Pflicht, vom Rechte.. Wie lauten diese Lehren ? Einige Proben davon wollen wir erst ver- nehmen, ehe wir uns zum Spinoza wenden, und zu seinem allzugrofs- müthigen Gegner Jakobi. Dafs wir am Ende zur Erziehungslehre zurück- kommen müssen, das wissen Sie im Voraus; aber abgesehen hievon wird sich Manches, was Andre gesagt haben, zu einem Überblicke zusammen- stellen lassen, der Ihnen wenigstens Unterhaltung, vielleicht auch mehr Entschiedenheit des eignen Urtheils gewähren kann.

Zweyter Briet.

[25] „Wer wird doch die Freyheit im Gegebenen suchen!" so höre ich ausrufen; und auch Sie, lieber Freund! obgleich Ihnen das Gegebene nicht unwillkommen ist, werden vielleicht in Rücksicht auf gangbare Meinungen, unter welchen aufzuräumen nöthig ist, mich erinnern wollen, dafs der bekannte Satz :

Wir sollen; also müssen wir können, eigentlich das Sollen als ein. Gegebenes hinstellt, aus welchem das Können erst geschlossen werde.

Wenn dieser Satz wirklich die Thunlichkeit als ein Prädikat dessen was man soll, allgemein behauptet: so folgt allerdings nach richtiger Logik,, dafs jeder Zweifel am Können auch das Sollen drückt; und alsdann mag nicht blofs die Kantische Schule, sondern wer irgend die Ethik allein auf den Pflichtbegriff baut, zusehn, ob es [26] wohl gethan war, die Tugend und die Eudämonie der Alten hintanzusetzen. Sie wissen, wie Schleier- macher gerade hier die Kantische und Fichtesche Einseitigkeit zu tadeln Gelegenheit fand! Ja ich möchte hinzusetzen, dafs oftmals halbe Wahr- heiten für mich eine stärkere Geduldprobe sind, als ganze Irrthümer.

Es nimmt sich immer seltsam aus, wenn man Etwas, das unmittel- bar vor Augen liegt, erst aus Anderem schliefst, was vielleicht nicht ein- mal den nämlichen Grad von Klarheit besitzt.

Der Begriff des Sollens gehört nun eben nicht zu den besonders klaren, sondern zu den bedenklichen; denn er drückt eine Nothwendigkeit aus, die, doch keine rechte und volle Noth ist, da kein Müssen darin liegt. Hingegen das Können und die Tüchtigkeit der Menschen zeigt sich oftmals ohne Auffoderung; und da wir Alle wissen, dafs der Mensch gar Vieles kann was er nicht soll, so ist es eine wunderliche Zumuthung, das Können erst hinter dem Sollen hervor zu suchen, als ob es dahinter versteckt läge.

Am seltsamsten aber klingt ein Satz, wenn er zur Bestätigung ge- wichtvoller Behauptungen gebraucht wird, während man die Widerlegung desselben alle Tajre in den Gerichtsstuben vernehmen kann. Selten wird

2 28 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

eine Concursmasse alle [27] Gläubiger befriedigen; diejenigen nun. welche leer ausgehn, rufen mit vollem Rechte dem Schuldner das debet zu; nur können sie ihn dadurch nicht zahlungsfähiger machen. Freylich in alten Zeiten verstand man das besser. Man schlofs so: wer zahlen soll, mufs zahlen können, und wenn er nicht auf bequemere Weise zahlen kann, so mufs er Sclavendienste thun. Wollen wir etwa auf diesem Wege die Sclaverey bey uns erneuern? Es wird doch wohl bey der Zahlungs-Un- fähigkeit bleiben; und das Sollen wird niemals eine Bürgschaft werden für das Können, wenn sich auch hie und da ein Schwärmer findet, der es dafür annimmt.

Sie sehen, meine Widerlegung ist nicht etwa von denjenigen Pflichten hergenommen, die man unvollkommene nennt, weil man dabey das Sollen nicht anzubringen weifs; sondern gerade aus dem Kreise der Rechts- pflichten, wo das Sollen am klarsten hervortritt und einem Jeden am stärksten eingeschärft wird. Hier bleibt es sogar trotz aller Anstalten des Staats dabey, dafs die Gläubiger dasjenige, was ihnen rechtlich ge- bührt, doch nicht erlangen können.

Kurz: wenn wir, um in unserer Betrachtung fortzufahren, jetzt nicht mehr im Allgemeinen von der Freyheit des Willens, sondern be-[2 8]stimmt von der moralischen Willensfreyheit reden wollen, so gehört hieher nicht zunächst der Pflichtbegriff, sondern, (wie es die Worte schon anzeigen), die Tüchtigkeit des Menschen, sich frey zu regen und zu rühren, geht hier in die moralische Tüchtigkeit, d. h. in die Tugend über.

Nun ist es zwar nicht das Ideal der Tugend, was wir im Gegebenen antreffen; eben so wenig als jener vordringende uud entschiedene Wille, den wir als gegeben anerkannten, im Stande war, uns die idealisirte Frey- heit, welche Kant die transscendentale nannte, so vor Augen zu stellen, als ob statt des Wechsels der Objecte aller Einflufs der Objekte auf die Bestimmung des Willens verschwunden wäre.

Wohl aber finden wir jene allgemeine Tüchtigkeit eines entschiedenen Willens auf eine ganz ausgezeichnete Weise in dem Widerstände der Grundsätze gegen Neigungen und Affecten, die uns zu Handlungen ohne Consequenz und Beruf, hinreifsen konnten; gegen thörichte Hoffnungen, gegen zügellose Phantasien; vollends also gegen solche Handlungen, wor- über Andre, und gegen solche Gemüthsrichtungen , worübet wir selbst uns Vorwürfe machen würden. Indem auf diese Weise der sittliche Mensch eine falsche Men-[2g]schenkenntnifs, die auf seine Schwäche gerechnet hatte, vereitelt, hütet er sich, Andern die Tüchtigkeit ihres moralischen Willens abzusprechen; er läfst sich lieber einmal von schlechten Menschen täuschen, ehe er auf die Besseren einen Verdacht wirft, der ihrer un- würdig wäre. Wir erkennen, dals, wenn die moralische Tüchtigkeit in Denen, die wir um uns sehen, etwas Seltenes wäre, die Spuren sich in der Gesellschaft auf ähnliche Weise zeigen müfsten, wie es von schlechteren Sitten in schlechteren Zeiten bekannt ist. Ja wir wissen von hohen Mustern der Tugend, die unsre Verehrung fodern; wir wissen auch, dafs diese Verehrung nichts Neues noch Seltenes ist\ wie wäre sonst der Ruhm des Sokrates, um nur Einen zu nennen, bis zu uns gelangt? Wie anders als durch seine Verehrer, deren es Viele gab und noch giebt.

Zweyter Brief. 229

Hier dienen wir nicht irgend einer Theorie, die wir von Jemandem ent- lehnt, oder selbst ersonnen hätten; sondern wir halten uns unmittelbar an Thafsache/i, die zu bekannt sind, um vergessen zu werden ; und die vermut- lich schon zu PLATONS Zeiten eben so deutlich vor Augen lagen als jetzt. Reicht etwa die Anerkennung dieser Thatsa-[3o]chen hin, um das im Tone des Vorwurfs ausgesprochene Wort: Determinismus, zu vermeiden? Hievon nur Eine Probe; und zwar eine sehr sanfte.

In der Zeit, da die Kantische Freyheitslehre noch eine fast all- gemeine Herrschaft besafs, suchte Stäudlin nach den Spuren derselben beym Platon. Und was fand er?

' „Aus unläugbar ächten Schriften des Platon ist soviel gewils: er be- hauptete, dafs die Erkenntnifs des Guten nothwendig auch mit einem Begehren desselben verknüpft sey, und dafs der Mensch, wenn er das Böse thut, sich dasselbe als etwas Gutes vorstellen müsse, dafs also das Böse nur aus Irrthum entspringe. Daraus aber folgt im Grunde, dafs weder die guten, noch die bösen Handlungen eigentlich frey seyen. Mufs sich der Mensch in seinen Begehrungen und Handlungen immer nach der Vorstellung vom Guten, dessen Urheber er ja nicht selbst ist, und dessen Form er auch auf das Böse überträgt, nothwendig richten, so ist er nicht der selbständige unabhängige Urheber seiner Handlungen. Es ist eine Art von Determinismus, welche nicht mit eigentlicher menschlicher Freyheit vereinbar ist. Zu dieser mufs auch das gehören, dafs der Mensch selbst das, was er als gut aner-[3 ijkennt, nicht begehrt und thut, und selbst auch wohl das Gegentheil. Übrigens hat jene Theorie Platos weiter keinen Einflufs auf seine sittliche Lehre; er spricht doch oft unter Voraussetzung eigentlicher Freyheit in guten und bösen Handlungen, wie dies überhaupt bey den Deter- ministen gewöhnlich ist."* Sollte Platon wirklich das Böse nur aus Irrthum abgeleitet haben? Wenn man den Gorgias lieset, wenn man das erste Buch der Republik vor Augen hat (um nicht weiter umher zu suchen): so möchte man schon hierüber auf ganz andre Gedanken kommen; allein das bey Seite! Be- trachten wir nun die Hauptstelle im Anfange des zweyten Buchs der Re- publik, wo Glaukon und Adeimantos sich mit aller Kraft der Rede unzufrieden bezeugen, dafs Sokrates den Thrasymachus nur wie eine Schlange gezähmt habe; wo sie ihn bestürmen, er solle das Rechtthun nicht der Folgen wegen, sondern auch den schädlichsten Folgen zum Trotz, wegen der Art, wie der Wohlgesinnte sich innerlich dabey befinde, loben und empfehlen. In Ansehung der sittlichen Strenge zeigt sich hier [32] die auffallendste Ähnlichkeit mit Kant; wo liegt denn der Unterschied? „Freyheit (sagt Kant) mufs als Eigenschaft aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden."** Aber Platon lobt nicht eine Eigenschaft, die Alle schon besitzen, sondern eine Gesinnung, die in solcher Reinheit und Stärke, höchst selten vor- handen, und sehr schwer zu behaupten ist.

* Stäudlins Geschichte der Moralphilosophie, S. 167. ** Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. S. 99.

2^o VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

Die Wichtigkeit dieses Unterschiedes trit hervor, wenn man sich er- innert, dafs nach Kant die Freyheit des Willens unmittelbar dem kate- gorischen Imperative, congruent, mithin die Sittlichkeit selbst ist. Daraus folgt, dafs in bösen Gesinnungen die Sittlichkeit nicht mangeln kann, sondern nur verlarvt, untergeordnet ist. Denn die Freyheit bleibt immer; und gerade darauf, dafs mitten in der Bosheit das Gute möglich wäre, wird bey Kant das gröfste Gewicht gelegt.

Platon zeichnet eine Tugend, die den ganzen Gemüthszustand des Menschen durchdringt; ja er bedarl des Staats, um seinem Gemälde Leben und Fülle zu geben. Die Kantische Freyheit hingegen drängt alle Objecte hinweg; sie be-[33]gnügt sich, über vorgelegte Maximen zu reflectiren; in ihnen, falls sie allgemeingeltend gedacht werden, darf kein Widerspruch entstehen; dann ist sie zufrieden, denn sie hat genug an Regeln der Pflicht, und an Handlungen aus Pflicht. Da ist nichts zu loben, wenn nur nichts Tadelhaftes vorkommt.

Platons Gemälde war anschaulich; und weckte das ästhetische Ur- theil. Kants theoretischer Begriff weckte die Metaphysik, deren sehr gegründete Einwendungen beschwichtigt zu haben er nur mit genauer -Noth sich selbst überreden konnte.

Ungeachtet dieser Differenz stimmt die Gesinnung der beyden grofsen Männer doch so nahe zusammen, dafs man den Platonischen Sokrates, in seiner Unabhängigkeit von Allem was zum Wohlleben gehört, seiner Freymüthigkeit und scharfen Ironie, fast für die personificirte Kantische Freyheit halten möchte. Auch wissen Sie, mein theurer Freund! dafs ich für die Tugend, welche Platon im vierten Buche der Republik zeichnet, keinen passendem Namen zu finden gewufst habe, als diesen: Idee der innern Freyheit.

Wie dies mit dem Vorigen zusammenhänge, ist leicht zu sehen. Im Gegebenen, in unserm eignen Innern und in Andern, so weit wir sie be- obachten können , haben wir eine moralische Tüchtigkeit gefunden ; ein Stärke des Wil-[34]lens, welche, durch Grundsätze geregelt, gegen unge- ordnete und tadelhafte Regungen viel vermag. Wir wissen auch, dafs grofse Beyspiele einer erhabenen Selbstbeherrschung vorhanden sind. Wollen wir uns nun von hier aus zum Begriffe der Tugend erheben, so entkleiden wir das Löbliche, um es reinaufzufassen, vom Beschränkenden das ihm anhängt; und gelangen auf diese Weise zwar nicht zur vollständigen, wissenschaft- lichen Bestimmung dessen, was Tugend sey, diese mufs auf einem an- dern Wege gewonnen werden, wohl aber auf dasjenige in der Tugend, was man Freyheit nennt; und zwar moralische Freyheit, denn wir erhoben |ins jetzt im Kreise moralischer Betrachtungen von dem, was dem Grade nach geringer und niedriger ist, zum Höheren und Genügenden.

Diese moralische Freyheit haben wir nicht erklärt, denn wir haben idealisirt. Zugleich aber ist anerkannt, dafs ein Mehr oder Weniger dessen, was dem Ideal entspricht, in der Wirklichkeit als gegeben vorkommt; und dafs es dort, im Gegebenen, als eine Art jener Gattung von Frey- heit geistreicher und grofser Männer anzusehen ist, die als ein durch- dringendes und entschiedenes Wollen bey grofser Leichtigkeit, die Objecte zu wechseln, im vorigen Briefe beschrieben wurde. [35] Sollte die Frey-

Zwcytcr Brief. 2^1

heit etwan erklärt werden, nämlich so, dafs ihr Ursprung begreiflich würde, so läfst sich erwarten, diese Erklärung werde die ganze Gattung auf ein- mal treffen ; das Moralische aber werde nur als eine nähere Bestimmung in die Erklärung eintreten. Denn die Gattung lag schon als ein Ge- gebenes vor uns, noch ehe wir an den Tugendbegriff dachten.

Auf den Fall nun, dafs eine solche Erklärung könnte versucht werden, versteht sich von selbst, dafs sie nicht etwa den Begriff dessen, was zu er- klären ist und im Gegebenen vorliegt, verfälschen dürfe; es wäre denn, dafs gerade der gegebene Begriff sich selbst als ein falscher verriethe, welches durch einen innern Widerspruch desselben geschehen müfste, wie es bey metaphysischen Problemen vorkommt: denn alsdann wäre eine Entfälschung, eine Berichtigung des Begriffs von innen heraus nöthig. So etwas scheinen wirklich Diejenigen zu besorgen, die uns nach Stäudlixs Weise (in der vorhin angeführten Stelle) zu verstehen geben, was sie sich unter Determinismus denken. Da soll die Vorstellung des Guten eine solche Gewalt besitzen, dafs nach ihr die Begehrungen und Hand- lungen sich richten müssen. Da soll das Böse aus einer irrigen Vor- stellung entspringen. Mithin wäre das Wollen nur eine [36] Täuschung; und wenn Einer uns ein falsches Bild, wer weifs nach welchen katoptrischen Gesetzen, in die Seele würfe, der hätte uns dadurch zum falschen Be- gehren und Handeln determinirt! Wir könnten dieser Psychologie nun wohl auf die Spur kommen, wenn wir uns rückwärts in Wolffs Schule hineinbegeben möchten, wo aus der Erkenntnifs irgend einer Vollkommen- heit zuerst das Vergnügen, aus diesem das Uitheil über die Güte des Gegenstandes, und hieraus endlich die Begierde entspringt;* und wo, dem Satze des zureichenden Grundes zu gefallen, ohne Motive kein Wollen und Nicht- Wollen möglich ist; fragt man aber: was sind Motive? so er- folgt die Antwort: Motive sind bestimmte Vorstellungen des Guten und Bösen. *: Die Zerreifsung der Seele in mehrere Vermögen, mindestens in ein Vorstellungs- und Begehrungsvermögen, hatte zur notwendigen Folge, dafs der Wille als passiv, nämlich als determinirt durch das von ihm verschiedene Vorstellungsvermögen erscheinen mufste; besonders nach- dem man das Wort Vollkommenheit zwischen die bevden Vermögen der- gestalt eingeschoben hatte, dafs in ihm ein praktischer Begriff sich hinter einem scheinbar blofs theo-[37]retischen (dem Kommen zur Vollständig- keit) verstecken konnte. Nehmen wir das Wort hinweg, so dringt sich gleich die Frage auf: Weifs denn das blofse Vorstellungsvermögen durch sich selbst irgend etwas von einem Gute? Güter sind Gegenstände, so- fern sie begehrt werden: also hat das Vorstellungsvermögen erst beym Begehrungsvermögen in die Schule gehen müssen, ehe es überall nur etwas davon erfahren konnte, dafs ein Unterschied zwischen Gütern und Übeln vorhanden ist. Schickt es also nur öfter in die nämliche Schule; dort kann es noch mehr lernen ; und so wird das Vorstellungsvermögen seinen Stolz, das Begehren zu determiniren, wohl allmählig ablegen. Dafs hiemit die Sache für unsre Psychologie noch nicht abgethan ist, ver-

Wolffii psychologia empirica § 509. ** ibid. § 889. 890.

2^2 Vm. Zur Lehre von der Freyheit dos menschlichen Willens. 1836.

steht sich von selbst allein, wir sehen wenigstens, auf welchen schwachen hülsen dasjenige stand, was durch die Kantische Freyheitslehre verdrängt wurde. Jedenfalls kann nichts lächerlicher seyn, als den Unterschied zwischen " Vorstellungen und Willen so zu stellen, wie wenn jene mehr activ wären als dieser, der eigentliche Sitz unserer Activität.

Erlauben Sie nun, dafs ich die Zusammenstellung zwischen Platon, Wolff, und Kant noch etwas vesthalte ! Sie werden zwar Nichts, das uns noch neu wäre, daraus hervorgehen sehn; [38] aber es wird Ihnen zur Unterhaltung, und vielleicht der Streitfrage über Freyheit und Determinismus zu einer nicht unbedeutenden Aufhellung dienen.

Wie kommen Platon und Wolff zusammen? Wenn Wolff lehrt : appetitus rationalis dicitur, qui oritur ex distineta boni repraesentatione* (wo der Accent auf dem Worte distineta ruhet, denn weiterhin heilst es: sufficit appetitum distingui in sensitivum et rationalem, prouti vel ex con- fusa idea, vel distineta notione procedit **) lautet das auch nur im minde- sten Platonisch? So sehr auch Platon die logische Deutlichkeit zu schätzen weifs, soviel vermag sie doch bei ihm nicht, dafs hiedurch das höhere Begehren vom niedern zureichend könnte unterschieden werden. Aber nach Stäudlins Auffassung ist Platon Determinist; das ist Wolff ge- wifs noch eher, denn bey ihm finden sich die angegebenen Kennzeichen des Determinismus noch weit offenbarer. Beyden gemeinschaftlich also stünde Kant als Freyheitslehrer gegenüber. Aber diese Lehre findet ihren eigentlichen Sinn nur durch den, mit ihr in die unmittelbarste und unauflös- liche Verbindung gesetzten kategorischen Imperativ. Die-[3Q]ser will negativ Freyheit von Bestimmungsgründen durch Objecte; warum? weil er positiv eine vollkommene Allgemeinheit der Gesetzgebung verlangt hatte, die nicht blofs für alle Menschen, sondern schlechthin für alle Ver- nunftwesen gelten soll; und hiemit die Objecte unserer Erfahrungswelt weit hinter sich läfst.

„Mit welchem Rechte (sagt Kant***) können wir das, was vielleicht

nur unter den zufälligen Bedingungen der Menschheit gültig ist, als

allgemeine Vorschrift für jede vernünftige Natur, in unbeschränkte

Achtung bringen, und wie sollen Gesetze der Bestimmung unseres

Willens, für Gesetze der Willensbestimmung eines vernünftigen Wesens

überhaupt, und, nur als solche, auch für den unsrigen gehalten werden,

wenn sie blofs empirisch wären, und nicht völlig a priori aus reiner,

aber praktischer Vernunft ihren Ursprung nähmen?"

Zum Unglück ist diese, vermeintlich praktische Vernunft, wenn man

sie genau nach ihren Worten auffafst, nur eine logische Vernunft. Sie

weifs dem so hoch gehaltenen Imperative keinen andern Inhalt zu geben,

als nur die logische [40] Allgemeinheit; und wenn sie vorgelegte Maximen

beurtheilt, hat sie für deren Richtigkeit nur das logische Kriterium, dafs

sie, allgemein gedacht, sich nicht widersprechen.

Folglich wäre die Zusammenstellung Wolffs mit Kant, wie sie histo-

* Wolffii psych, emp. §. 880. ** ibid. § 886. *** Grundlegung zur Metaph. der Sitten S. 28. 29.

Zweyter Brief. 233

risch näher liegt, so auch dem Inhalte der Lehren weit angemessener. Das tertium comparationis liegt in dem Bemühen, der Logik abzugewinnen, was im Kreise der Logik nicht liegt, nämlich die Bestimmung des höhern, sittlichen Begehrens im Vergleich gegen das niedere.

Nichtsdestoweniger ist in der Kantischen Lehre etwas enthalten, das sie nicht schulgerecht ausspricht, das aber Jeden anspricht. Worin liegt das? Schon vorhin waren wir damit beschäftigt. Es liegt im Idealisiren des Gegebenen. Frey sind die Menschen in gewissem Grade. Noch freyer wollen sie werden. Dem Drucke des Irdischen wollen sie ent- fliehen; darum ist jene unendlich weite Allgemeinheit ihnen willkommen.

Wird denn aber ein besonnener Denker das idealisiren, was an sich gleichgültig ist? Soll das Ideal sich erhalten, so mufs Dasjenige, was in ihm schrankenlos gedacht wird, schon an sich löblich seyn; sonst fliegen die phantastischen Bilder leicht vorüber, und werden nicht mehr gesehn.

[41] Hat man diesen Punct allemal wohl überlegt? Will man die Freyheit idealisiren, so sorge man, dies Ideal mit dem der Tugend in ge- nauester Einstimmung zu halten. Wie aber, wenn Freyheit, nicht etwan blofs die Ungebundenheit roher Menschen, sondern selbst die- jenige Freyheit, deren Annahme zur moralischen Orthodoxie gerechnet wird, sich mit der Untugend in Gesellschaft zeigt?

In der zuvor angeführten Stelle Stäudlixs steht mit deutlichen Worten: es gehöre zur Freyheit, dafs der Mensch selbst das, was er als gut anerkenne, nicht immer begehre und thue; und wohl auch das Gegentheil.

Nun kann unbedenklich zugegeben werden, dafs, wenn hierin eine Probe der Freyheit liegt, dann das ganze tägliche Thun und Treiben der Menschen, wie sie gewöhnlich sind, an der gefoderten Art von Proben überflüssig reich sey. Es bedarf gar keines besondern Scharfsinns, um sich davon zu überzeugen; denn selbst die Bekenntnisse der Menschen laufen oft genug darauf hinaus ; so wie auch auf das Gegentheil, nämlich dafs sie begehren und thun, was sie weit entfernt sind für gut zu er- kennen. Noch mehr ; man mufs der Psychologie gänzlich unkundig seyn, um sich darüber noch einen Augenblick zu wundern. Es [42] versteht sich ganz von selbst, dafs in einer Vorstellungsreihe die bestimmte Kennt- nifs des Nützlichen, Angenehmen, Schönen, Rechtlichen (um nicht immer ohne Noth den vieldeutigen Ausdruck: das Gute, zu gebrauchen.) vor- handen, und im Bewufstseyn gegenwärtig seyn kann, während eine Be- gierde sich erhebt, die, ohne noch jene Gedanken verdrängt zu haben, schon in That übergeht, und hiemit die Probe von Freyheit liefert, welche verlangt wurde. Aber ich dächte doch, nicht blofs Sie, lieber Freund, und ich, sondern auch noch mancher Andre mit uns, würden dem Worte Freyheit nicht so sehr schaden wollen, dafs wir es an so offenbaren Un- fug verschwenden sollten. Darin gerade besteht die moralische Unfreyheit, dafs ungeachtet der Anerkennung des Guten, in welcher für sich allein das zulängliche Motiv zum Rechthandeln liegen würde, dennoch Trägheit, Abneigung, Vorurtheil, entgegengesetzte Wünsche, Partheylichkeiten, Ver- kleinerungssucht, und wer weifs wie vielerley Untugend noch sonst, die Wirksamkeit jenes Motivs aufheben, indem sie den bessern Gedanken

2 1 4 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschliehen Willens. 1836.

gleichsam belagern, und gefangen halten. Wir also werden der Freyheit nicht zumuthen, dafs sie mit so offenbarer Untugend Gesellschaft eingehe. Ganz eine andre Frage ist, ob sich jene, im vo-[43]rigen Briefe be- trachtete Freyheit, die sich zur moralischen wie die Gattung zur Art ver- hält, um Anerkennung des Guten, um den Unterschied desselben vom Gemeinen, Schlechten, Übeln, Bösen, viel bekümmern werde? Darin hatte sich der alte Wolffische Determinismus am meisten verrechnet, dafs er die Vorstellung eines Gegenstandes als eines Gutes oder Übels dem wirklichen Begehren immer vorausschickte. Wer ruhio; auf dem Stuhle sitzt, der mag von entferntem Gütern und Übeln reden, als von solchen, die er unter Umständen wohl einmal begehren oder vermeiden würde; aber eine so gelassene, blofs hypothetische Betrachtung dessen, was man etwan unter Umständen thun oder lassen möchte, regiert nicht die wirk- lichen Thaten oder Unterlassungen, die eben deshalb oft lange geschehen seyn können, ehe die objeetive Auffassung sub specie boni vel mali fertig geworden ist. Der Procefs, ein Object zu. setzen, nämlich andern übjeeten und dem Subjecte gegenüber, braucht etwas Zeit und Ruhe; vollends also der noch weitläufigere Procefs, ein Object in die Reihe der Zwecke und Mittel gehörig hineinzupassen, und, je nachdem dies gelingt oder mislingt, es den Gütern oder den Übeln beyzuzählen. Ehe nun diese Operation im Vorstellungskreise beendet ist, [44] hat lange irgend eine Begierde sich gespannt und gewirkt; und oftmals sind viele Schritte gemacht und ist Vieles genossen und gelitten, bevor die schon früher be- gonnene Berathschlagung über Anerkennung dieser und jener Gegenstände, die da Güter und Übel zu heifsen Anspruch machten, zu ihrem definitiven Abschlüsse gelangt. Gesetzt also, dafs es der Tugend wesentlich sey, in allen Fällen sehr bedächtig und verweilend sich in Thätigkeit zu setzen, (was wir freylich kaum für allgemein halten möchten): so kann die weit raschere Freyheit schon fertig seyn, ehe jene beginnt; und dann ist von demjenigen, was so eben zur Anerkennung, es sey gut, gelangen sollte, vielleicht das Gegentheil unglücklicherweise schon vollbracht, ohne dafs doch eigentlich Tugend und Freyheit sich erzürnt hätten, und die Frey- heit zur Untugend übergegangen wäre.

Allein wenn wir im Ausdrucke pünktlich seyn wollen, so werde ich hier, den Worten nach, etwas zurücknehmen müssen. Genau genommen ist das schon Untugend, wenn die Freyheit sich vorschnell geltend macht, ohne bey der Tugend um Erlaubnifs gefragt zu haben. Auch haben wir keine Befugnifs, der Tugend eine solche Langsamkeit beyzulegen, als ob sie, wie ein plumbeum ingenium, stets eine merkliche Frist zum [45] Nach- denken foderte, und dann die Freyheit den rechten Augenblick versäumen müfste. Überdies gehört es zum erfahrungsmäfsig Gegebenen, dafs manche Menschen an Freyheit zuviel haben für die Tugend ; und dals selbst die vermeinte Passivität des Determinismus ihnen gegen ihre Fehler könnte gewünscht werden. Es giebt einen Anspruch an Selbstbestimmung, wo- durch die nothwendige Biegsamkeit, Anschliefsung, Hingebung leidet. Wir kennen gar wohl solche Menschen, deren Starrheit und Abgeschlossenheit sich den Verhältnissen entzieht, in denen sie pflichtmäfsig bleiben sollten. Dies in Ansehung der religiösen Demuth und Hingebung zu verfolgen,

Zweytcr Brief. 235

bleibt billig den Theologen überlassen; mir kann hier genügen, an das weibliche Geschlecht, und an Fichtes Foderung, das Weib solle sich ganz hingeben, * zu erinnern. So hatte er schon im Naturrecht gelehrt ; am auffallendsten aber ist, dafs er sich nicht scheute, es in der Sitten- lehre zu wiederholen; in dem nämlichen Buche, wo er das Princip der Sittlichkeit gerade darin gesetzt hatte, die Freyheit schlechthin ohne Aus- nahme nach dem Begriffe der Selbstständigkeit zu bestimmen. Was dachte er dabey? Herauskommen kann [46] nichts anderes als dies, das weib- liche Geschlecht sey der eigentlichen Sittlichkeit nicht fähig. Nehmen wir die Übertreibung weg, welche in der Foderung gänzlicher Hingebung liegt, so zeigt sich bald, dafs der Mann, dem religiöse Demuth etwas gilt, auch seinerseits von der entgegengesetzten Übertreibung zurückkommen mufs; dafs er von absoluter Selbständigkeit nicht träumen, und sich nicht einbilden darf, schon durch den allgemeinen Grundbegriff des Sittlichen eine Stufe höher gestellt zu seyn als das andere Geschlecht.

Endlich wissen Sie längst, mein theurer Freund! und daium brauche ich es hier nicht ausführlich zu erörtern, sondern nur kurz anzu- führen, — dafs mit der gemeinsamen Vorstellungsart eines blols passiven Determinismus nichts anzufangen ist. Vielmehr, determinirt ist jeder aus- gebildete Charakter gerade durch seine Activität; welche Activität mit vollem Rechte Freyheit heifst. Während nun in moralischen Charaktern diese Activität sich in tugendhafter Selbstregierung darthut: fehlt sehr viel daran, dafs alle Selbstregierung jedes ausgebildeten Charakters mo- ralisch wäre. Sondern es gehören hierher alle Anstrengungen der Tapferkeit und Klugheit, dergleichen auch bey grofsen Verbrechern vor- kommen können. Da zeigt sich, dafs die Freyheit, wie sie im wirk- lichen Menschen [47] niemals vollkommen ist, so auch keineswegs dazu taugt, ganz, und ausschliefsend zu bestimmen, worin das Wesen der Sitt- lichkeit bestehe. Sondern hier findet sich in neuern Moralsystemen eine fehlerhafte Einseitigkeit, die man bey den Alten nicht antrifft; und daher wird es leicht begreiflich, wie sogar gegen Platox das Wort Determinis- mus als Beschuldigung konnte ausgesprochen werden. In neuern Systemen hat man über den Rechten, die vorgeblich die Erzwingbarkeit unmittel- bar in sich tragen sollten, vergessen, was die Hauptsache ist, nämlich Rechtlichkeit als Charakterzug. Das, glaubte man, verstehe sich von selbst; aber in Systemen, wenn sie ihre gebührende Gestalt zeigen sollen, darf ein so wichtiger Begriff nicht übergangen werden. Eben dort ver- fehlte man den Platz für die Vergeltung und für das Wohlwollen; Sie wissen, was ich schon im ersten Bande der Metaphysik in dieser Be- ziehung an Schleiermachers Kritik der Sittenlehre gerügt habe. Wo so grofse Fehler die Grundgedanken der Ethik verunstalten, da kann auch die sittliche Freyheit nicht anders denn als eine hohle Negation erscheinen, die nun, weil sie keinen innern Bestand hat, mit desto mehr Aufwand von starken Redensarten pflegt vertheidigt zu werden.

Da ich eben den ersten Band meiner Meta-[4SJphysik, und dort den § 123 wieder nachlese, so regt sich mir, ich bekenne es, der Wunsch,

* Fichtes Sittenlehre. S. 446.

27.6 VIII. Zur Lehre von der Freyhcit des menschlichen Willens. 1S36.

Sie, lieber Freund, möchten Mufse finden das nämliche zu thun. Es läfst sich kaum ein stärkerer Contrast denken, als den das unermefslich aufgeblasene Reden vom Hinaufsteigen zur Weltbildung, wodurch das Be- sondere, als im göttlichen Entwürfe liegend, gegeben seyn soll, (vermuth- lich einem .Jiog oagioxr^gl) und vom Darstellen der Grundkräfte des Unendlichen durch jedes einzelne Wesen auf seine besondere Weise u. s. w. zeigen wird, wenn Sie damit die einfachen Überlegungen vergleichen wollen, welche für uns genügen, um in der allerengsten Nähe bey Einer Person oder bey zweyen Personen die sämmtlichen Grund -Ideen der praktischen Philosophie bey einander zu finden; von wo aus wir alsdann gebahnten Weg vor uns haben, um ins Weite, Grofse, Allgemeine, hinaus zu gehen, ohne den Boden unter den Füfsen zu verlieren. Aber freylich, wer dürfte zweifeln, dafs es Menschen gebe, die mit Flügeln statt der Füfse geboren werden! Und was soll diesen nun vollends der Boden unter den Füfsen?

Dritter Brief.

[49] Auf den Begriff der Tugend folgt bekanntlich in der praktischen Philosophie der Pflichtbegriff; der nicht wie jener, auf die Einheit der Person, sondern auf die Mannigfaltigkeit der Handlungen hinweiset. Wo nun von freyen Handlungen geredet wird, da erscheint jene Freyheit, die uns bisher beschäftigte, zerstückt; es kann in Ansehung der einzelnen Handlungen gefragt werden, ob sie frey, oder gezwungen, oder wenn nicht ganz erzwungen, doch ungern, wenn nicht ganz frey, dann wenigstens noch bey leidlicher Gesundheit des Geistes, und nicht etwan in Folge einer sogenannten Seelenkrankheit vollzogen seyen. Wo die Motive der Handlung gar nicht von aufsen kommen, (z. B. nicht durch Furcht oder zufällig erregte Hoffnung, nicht durch Zureden herbeygeführt), und wo ihnen gar nicht widerstrebt wird, [50] wo überdies alle über- sehbaren Folgen bekannt, und vorbedacht waren : da wird die Handlung als völlig frey betrachtet. Hingegen sind schon diejenigen Handlungen nicht vollkommen frey, welche in der Eile dergestalt geschahen, dafs man sagen kann: der Mensch hatte nicht Zeit zur Überlegung; hier schon beginnt das etwa Verfehlte Entschuldigung zu finden; während umgekehrt die Richtigkeit eines schnell gefafsten Entschlusses gelobt wird. Im letztern Falle erblickt man eine ausgezeichnete Entschiedenheit des Charakters neben der Sicherheit der Auffassung und des Urtheils. Bey der unüber- legten, in Eile vollzogenen Handlung vermuthet man, der Charakter der Person könnte wohl zu einer andern Handlungsweise den Grund enthalten haben. Etwas Ähnliches tritt ein, wo aus unerwarteten Umständen sich Folgen ergeben, welche nicht im Gesichtskreise des Handelnden lagen. Dies erinnert an den wichtigen Punct, dafs einige Bekanntschaft mit den möglichen und wahrscheinlichen Folgen einem Jeden zugemuthet wird ; wobey sich die Verschiedenheit derjenigen Folgen zeigt, welche eigentlich gewollt wurden, und anderer, welche man theils sich gefallen liefs, während sie gewifs bevorstanden, theils in ungewisser Ferne als dasjenige betrachtete,

Dritter Brief. 2X7

worauf man, wenn schon un-[5i]gern, es müsse ankommen lassen. Wo Einer in gröfser Ungewifsheit, etwan in einer ihm zuvor ganz unbekannten Lage, irgend Etwas thun mufste, da liegt vor Augen, dafs selbst die sröfste Entschlossenheit des Versuchs doch kein entschiedenes Wollen ist, weil sich kein bestimmtes Gewolltes angeben läfst, sondern statt dessen vorbehalten bleibt, gemäfs den Umständen, die sich ergeben werden, fernere Entschlüsse zu fassen. Soviel Einflufs hat das Wissen aufs Wollen; und schon deshalb werden Kinder, auch die klügsten, deren Handlungen in ihrem kleinen Kreise vollkommen frev sind, doch in Bezug auf gröfsere Geschäfte als unfrey, d. h. als unmündig betrachtet.

Belieben Sie hier in den vorigen Brief zurückzuschauen ! Die Wolffische Lehre machte Vorstellungen zu Bestimmungsgründen des Handelns ; aber welche ? Vorstellungen des bonum et malum , wobey schon die Zweydeutigkeit, ob von Gütern und Übeln, oder vom Guten und Bösen die Rede sey, uns in den Weg tritt. Allein auch abgesehen hievon kommt der Fehlei des Determinismus, wie er gewöhnlich verstanden wird, zum Vorschein, dafs in den Begriffen des bonum et malum schon eine Wahl versteckt liegt, daher ein Cirkel begangen wird, wenn man das Begehren, [52] was in der Wahl vorauszusetzen ist, durchs Vor- stellen herdurchführt, um durch solches Vorstellen erst den Bestimmungs- grund der Wahl zu gewinnen ; mit der Einbildung, auf diese Weise sey das Begehren determinirt durchs Vorstellen. Eine ganz andre Abhängig- keit des Wollens vom Wissen kommt zu Tage, wenn man bedenkt, dafs beym besonnenen Handeln eine Kenntnifs der Gegenstände und ihres Zusammenhangs mufs vorausgesetzt werden; dafs in der Sphäre dieser Kenntnifs erst Zuneigungen und Abneigungen, Wünsche und Begierden, nebst daran geknüpften Befürchtungen und Hoffnungen sich bilden, dafs die Regsamkeit des Menschen, welche nach äufserer, freyer Bewegung strebt, erst mannigfaltig die offenen und verschlossenen Wege auskund- schaften mufste, dafs Erfahrungen von der Beweglichkeit oder Vestig- keit der Dinge und Verhältnisse erst einen Vorblick auf zu erwartende Folgen gewisser Handlungen eröffnet hatten, dafs vielfache Erfahrung ähnlicher Fälle nöthig war, wenn ein allgemeines Wollen, ähnlich den all- gemeinen Begriffen, sich erzeugen sollte, dafs zu diesem allen das Urtheil des Lobes und Tadels hinzukam, welches den schon zum Handeln fertigen Willen, durch einen, hieraus entsprungenen neuen Willen bald an- treibt bald aber mit mehr oder weni-[53]ger Gewalt zurückruft, und hie- mit das zweydeutige bonum et malum in zwey völlig verschiedene Klassen von Begriffen zerspaltet.

Wollen Sie nun sagen: die Vorstellungen seyen ja doch die Basis alles Wollens ? Recht wohl ; fahren Sie nur fort : die vorhandenen Gegen- stände, die Sinnesorgane, die beweglichen Gliedmaafsen sind wiederum die Basis der Vorstellungen. Nun aber liegt die Activität des Vorstellens nicht in Gegenständen, Sinnesorganen und Gliedmaalsen, sondern sie ist rein geistig; und eben so liegt die Activität des Wollens nicht darin, dafs man dies oder jenes vorstelle, sondern sie beginnt in der Mitte des Vor- stellens als eine Activität von neuer und eigenthümlicher Art. Damit sind wir noch lange nicht fertig, sondern in der Mitte des Wollens be-

2ß8 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

ginnt wieder die neue Activität desjenigen Urtheils, welches über das Wollen, als seinen vorgestellten Gegenstand, wie im Namen eines un- partheyischen Zuschauers (nach Smith) Lob und Tadel ausspricht. Noch immer sind wir nicht fertig ; denn ehe von eigentlicher Sittlichkeit die Rede seyn kann, mufs das Urtheil, vielfältig lobend und tadelnd, zu- sammenstofsend mit dem vielfältigen, zur Allgemeinheit gelangten Wollen, selbst zum Gegenstande nicht blofs der Betrachtung, sondern einer höhern [54] Wahl geworden seyn ; eines Willens, welcher dem Urtheil entscheidende Kraft beylegt ; und alsdann endlich kann gefragt werden, welcher Wille, ob der niedere, oder der höhere, den Charakter bestimme, so dafs aus ihm eine Reihe von zusammenhängenden Handlungen hervor- gehe, die man theils als freye, theils als unfreye bezeichnen könne.

Nur im Vorbeygehen mag bemerkt werden, welchen Spuk hier der Idealismus getrieben hat. Ob Gegenstände, Sinnesorgane, Gliedmaafsen nöthig seyen, damit Vorstellungen entstünden? Kant wufste es nicht recht zu sagen, die Dinge an sich waren unerkennbar; jedenfalls lagen alle Formen der Erfahrung, worauf das Wesentliche der Erkenntnifs be- ruhet, in uns selbst; die Synthesis der Vorstellungen, wodurch sie erst Werth bekommen, war unser Werk. Aber aus den niedern Vermögen, welche solches schlechte Werk, wie die Beobachtung der Ereignisse, und hiemit des Zusammenhanges zwischen Handlungen und ihren Folgen, auszurichten hatten, aus Sinnlichkeit und Verstand, konnte die moralische Gesetzgebung nicht entspringen ; diese also mufste schon da seyn, gleich ursprünglich und unbedingt wie Kategorien, Raum und Zeit. Die praktische Vernunft war da; und was that [55] sie? Über Maximen herrschte sie; nicht über einzelnes Wollen und Handeln, aufser nur mittelbar durch die von ihr zugelassenen oder verworfenen Maximen. Also auch die Maximen waren da; man weifs zwar nicht, woher sie kommen? aber das schadet nichts, denn jeder zeitliche Ursprung fällt in die Erscheinung! Für Überlegung des wahren Zusammenhangs der innern Ereignisse hatte man keine Zeit, denn man brauchte keine Zeit. Alles, was zur Betrachtung der Möglichkeit sittlicher Bildung sorgfältig mufs unterschieden werden, war in einander gezerrt, und nun hatte man einen gordischen Knoten, an welchem von allen Seiten gezupft wurde, ohne dafs Jemand ernstlich Anstalt getroffen hätte, ihn aufzulösen. Vielmehr, man umwickelte den kantischen Knoten, die transscendentale Freyheit, noch obenein mit dem spinozistischen Fatalismus; dann waren Freyheit und Nothwendigkeit aufs schönste vereinigt.

Indem wir zu den minder freyen Handlungen zurück kehren, be- gegnet uns Aristoteles, der gerade hier, bey dem was mehr von fremden Motiven als aus dem Charakter entspringt, besonders bey dem was un- gern geschieht, seine Meinung von der Freyheit vernehmen läfst. Nur einige Vorerinnerungen !

[56] Aristoteles war der Mann der richtigen Mitte. Platon war ihm zu weit gegangen ; er hätte ihn gern zurück gerufen, um ihn in seiner Nähe zu behalten. Die Nikomachische Ethik handelt, wie Platon, dem Namen nach von Tugenden; und so wäre scheinbar im vorigen Briefe der Ort gewesen, davon zu reden. Sieht man aber genauer zu: so zeigt

Dritter Brief.

239

sich die Tugend in einer untergeordneten Stellung; ja statt der Einen Tugend, der Öixaioovvr^ welche beym Platon, im vierten Buche der Republik, die andern drey Cardinaltugenden in sich vereinigt, findet sich beym Aristoteles eine Reihe von Tugenden; und man ist hier nicht mehr im Stande, die mittelbaren Tugenden, nämlich die zur Pflicht- erfüllung noth wendigen Sitten, Gewöhnungen, Fertigkeiten, von der eigent- lichen Tugend, ans welcher Pflichten entspringen, deutlich zu unterscheiden. Dahin führt sogleich seine Erklärung der Tugend: sie sey eine l'iic TTQOiuotzty.i], tv fiiooTiji oiou xi] noog r^iäg, tuoio/.it>'il Xo'yto, v.m de av 6 qQcvifiog OQiatie.* Das Feld möglicher Handlungen und ihrer Folgen mufs hier schon vor Augen liegen, um die, aus irgend [57] welchen Rück- sichten vernünftige Mitte zu bestimmen. Auch ndirrj und Swdfxtiq werden hier vorausgesetzt; und zwar sind letztere natürliche Beschaffenheiten;, erstere sind wandelbare Gemüthslagen; die Tugenden aber sind nicht von Natur da; sie müssen erworben werden, und zwar als bleibende Fähig- keiten, wodurch die wandelbaren Aufregungen die Mitte halten.**

Doch dies ist vielleicht noch nicht sprechend genug. Nehmen wir lieber das zwölfte Kapitel des ersten Buches vor uns!

„Gehört die Glückseligkeit (Eudämonie) zu dem Lobenswerthen, oder zum Ehrwürdigen? Alles Lobenswerte hat eine Beziehung; so loben wir den Gerechten, Tapfern, und die Tugend, wegen der Werke und Thaten. Das Höchste kann nicht gelobt werden. Die Götter preisen wir als selig; Niemand lobt die Glückseligkeit so, wie man die Gerechtig- keit lobt; sondern man preiset jene als etwas Höheres und Göttliches. Der Tugend gebührt Lob, weil man durch sie schöner Handlungen fähig wird. Glückseligkeit aber ist das Princip, denn ihrentwegen thun wir Alle Alles was wir thun. Was aber der erste [58] Grund aller Güter ist, das betrachten wir als ein Ehrwürdiges und Göttliches." So setzt Aristoteles ein t((.uov über das Inaivtxov. Wäre auch dies noch nicht sprechend genug, so füge ich hinzu: Aristoteles kennt keine Berathschlagung wegen der Zwecke, sondern nur wegen der Mittel. *** Also die allernothwendigste aller Beiathschlagungen, ob unsre Zwecke den praktischen Ideen gemäls sind? findet in seiner Sittenlehre keinen Platz; noch vielweniger diejenige Berathschlagung, nach welcher die praktischen Ideen den höchsten Platz unter allen möglichen Motiven erlangen ; und durch welche der sittliche Charakter eigentlich erst im vollen Bewufstseyn vestgestellt wird.

Das ist der Eudämonismus, welcher sich zu den seligen Göttern flüchtet, und sie über alles Lob erhaben findet; weil freylich das ge- meine Lob. der Sporn des Ehrgeizes, bey ihnen nichts ausrichten kann. Gegen diesen Eudämonismus hatte Kant zu streiten; und, was wir auch an seiner Lehre mögen auszusetzen finden für diesen Streit

wollen wir ihm danken.

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* Eth. Nicom. II, 6. ibid. II, 4.

* Eth. Xic. III. 5; ßov).tvout&a dt, dv ttio'i twv Tt/.wr, d/.'/.a thq) tv.v

TtQOi xa r;/.>, .

2AO VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 183(1.

Während nun Kant in diesem Streite zuerst [59] im kategorischen Imperative seinen Stützpunct fand, alsdann von da zur Freyheit gelangte: rindet Aristoteles, der vom kategorischen Imperative nur zu weit entfernt blieb, dennoch auch einen Weg zur Freyheit; und das ist sehr natürlich, denn man kann zu ihr viel leichter kommen, als zu den praktischen Ideen, welche hinter dem kategorischen Imperative dergestalt verborgen sind, dafs sie seine logische Leerheit ausfüllen. Die Freyheit der Handlungen, die Jeder- mann kennt, ist eben nicht transscendentale Freyheit im Kantischen Sinne.

Aristoteles macht die ganz natürliche, auch heutiges Tages sich auf- dringende Bemerkung, dafs die Menschen ihre löblichen Handlungen gern als die ihrigen rühmen, hingegen bey tadelhaften die Schuld abzuwälzen suchen, indem sie sich als unfrey oder doch nicht ganz frey darstellen.* Dagegen erklärt er sich, und legt den Satz zum Grunde; frey sind die Handlungen, deren Ursprung im Handelnden liegt, welcher die Umstände kennt. [60] Zorn und Begierde, als Quelle tadelhafter Handlungen, liegen eben sowohl im Menschen, als Fehler des Räsonnirens. Dabey konnte freylich bemerkt werden, dafs doch der Zorn nicht eben so bleibenden Grund im Menschen hat, als angenommene Grundsätze; und dafs die Begierden in sehr verschiedenem Grade mehr oder weniger den Charakter anzeigen. Allein wichtiger ist, dafs Aristoteles die Rückwirkung erwog, welche das Handeln des Menschen auf ihn selbst hat. Fertigkeiten er- zeugen sich aus Übungen. Absichtlich übt man Geschicklichkeiten; eben so absichtlich soll man die Handlungen vermeiden, aus denen ein Zustand hervorgehn würde, in welchem man das Schlechte nicht mehr vermeiden könnte. „Wer einmal den Stein geworfen hat, der freylich vermag nicht mehr ihn zurückzuhalten; aber an ihm lag es, dafs er warf.** Da ist nun Freyheit und Unfreyheit zugleich. Die Unfreyheit des jetzigen Zu- standes wird eingeräumt; die Person wird dennoch als frey beurtheilt, indem man auf die frührere Zeit zurückgeht, in welcher sie das Jetzige zu vermeiden in ihrer Gewalt hatte. Eins der bekanntesten Beyspiele hie- [6i]von ist die Trunkenheit, welche auch Aristoteles nicht vergifst. Ein anderes giebt ihm die Häfslichkeit. So wenig man dem häfslich Gebornen seine Ungestalt zum Vorwurf anrechnet, so gewifs tadelt man den, welcher seine Gesundheit untergrub, oder auch nur vernachlässigte, wegen der Spuren, die er davon an sich trägt.

Wollen wir dagegen Einspruch thun? Gegen den allgemeinen Ge- danken gewifs nicht. Aber in der Anwendung kommt doch die Sache in vielen Fällen anders zu stehen. Es ist nicht immer wahr, dafs Einer voraussah, was Alles er zu vermeiden, und aus wie starken Gründen er r es zu vermeiden hatte. Den reifen Mann verantwortlich zu machen für das, was er als Jüngling, als Knabe verfehlte und versäumte, heilst nichts

* Eth. Xicom. III, 1. 3. Besonders 7. Das dritte Capitel schliefst mit den Worten: zi diacpegti tw vMovoia iTvai zd xazd Xoyiafiov i] &vuov dfia^rtj&ivzu.; (ftvxru fiiv ydg üfiqxu, doxti Öi 6v% rtzzov dv&pioTiixd ttvat zd dXoya Tiä&rj. o'i oi 7T(jdS,ii? zov dv&Qomov, dnb &vfiov xal i7Ti&v[iia?. dzonov dij zd zi&irai dxovoia zuvza.

ibid. 7 : övzoj xal ziZ ddixw xal zw dxoXdozw, i| «q^s fiiv, i&jV zotoiroti jitf ytvto&at. §16 ixötzs? s'ioi. ytvoftivoii 8t ovxizi i^tozi fi?j sivai.

Dritter Brief. 24 I

anderes als die Erfahrung, Überlegung, Vestigkeit des Mannes fodern von dem schwächeren, vielfach reizbaren, leichtsinnigen Jugendalter. Zwar meint Aristoteles: der mülste gar sinnlos seyn, der nicht wüfste, dafs aus Handlungen die Fertigkeiten entstehen.* Aber wenn mit einem solchen Machtspruche die Sache abgethan wäre, so [62] gäbe es kein unmerkliches Abgleiten vom rechten Wege, keine allmählige Verwickelung des Menschen in das Gewebe seiner eignen Handlungen; und des sitt- lichen Übels wäre auf einmal sehr viel weniger in der wirklichen Welt, als wir leider! ganz unläugbar in derselben vorfinden. Und das hat ohne Zweifel Aristoteles sehr gut gewufst; er hat sich nur, wie es im Eifer der sittlichen Strenge zu geschehen pflegt, nicht am rechten Orte daran besonnen. Oder sollte wohl seine berühmte Poetik den Dichtern ge- rathen haben, Charaktere auf die Bühne zu bringen, die aufser dem Kreise der allgemeinen Menschenkenntnifs lägen?

Sie errathen ohne Zweifel, worauf ich ziele. Jene so wichtige Vor- schrift für die Tragödie meine ich, dafs in ihr weder die Tugend ins Unglück, noch die Bosheit ins Glück, noch der sehr Schlechte ins ver- diente Leiden überdrehen soll; sondern dals ein Charakter von mittlerm Werthe durch einen Fehltritt, (dl ufjtaQxiav twu) von einer hohen Stufe herabstürzend mufs dargestellt werden. Dieser Fehltritt soll nicht etwan eine strenge Prüfung des früheren Lebens veranlassen, damit Frevheit hervortrete, Zurechnung in Gang kommen; sondern der Zuschauer soll Mitleid und Schreck empfinden. Der tragische Held mufs deshalb „eher zu den Besseren, als zu den Schlechteren" gehö-[Ö3]ren. *: Und unauf- hörlich wird eingeschärft: die Tragödie soll seyn eine (.u'^aig 7ip«§£W£. Darin liegt die Voraussetzung, dafs dergleichen Fehltritte im Leben nichts Seltenes sind, dafs vielmehr jedermann mit dem Unglücklichen leicht sympathisire, weil die Gefahr solcher Fehler Allen nahe liegt. Wären aber Alle, die nur nicht zu den Sinnlosen gehören, stets aufmerksam auf den Zustand (die t"§tg,) worin sie durch ihre Handlungen allmählig gerathen können: so würde der tragische Held als ein Thor verächtlich erscheinen: und das wäre noch weniger poetisch, als wenn ein arger Sünder auf der Bühne die verdiente Strafe erleidet; oder wenn ein Tugendhafter auf empörende Weise ins völlig unverschuldete Verderben gestürzt wird, worin das iiiuqoi- liegt.

Übrigens, was bedarfs der Poetik? Die pädagogische Prosa liegt uns noch viel näher; sie spricht, dafs die Jugend unaufhörlich mufs gewarnt und gehütet werden. Dasselbe weifs für seinen gröfsern Wirkungskreis der Geistliche, der Seelsorger. Und der Moralist, ist er etwan nicht Seel- sorger? Durch blofse Frevheitslehre wird er es niemals werden. Er mufs die Schwäche der Menschen ins Auge fassen, wie es ihm die Reli-[Ö4] gionslehre schon längst geheifsen hat: nicht aber sich Täuschungen be- reiten durch Theorien, die zwar glänzend, jedoch nicht haltbar sind.

Freylich kostet es Überwindung, einzugestehn, dafs, wo Anfangs nur

*) ibid. 7: ui-r ovv dyvottv, Sri «:x toZ tviQytlv itsgl txaara n< t=ti> yhoiTai. y.ouiÖ?! «1 aiaifjJTOv.

**) de arte poetica cap. 14.

Hekbart's Werke. X. J "

2A2 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

einzelne Handlungen unfrey waren, (im Anfange eines ungeordneten Lebens), da allmählig die lichten Zwischenräume immer seltener werden, endlich verschwinden, und nun die Unfreyheit im Innern, die Verdüsterung des Geistes so überhand nimmt, dafs die verkehrten Handlungen nicht mehr Ausnahmen bleiben, sondern zur Regel werden; wie es bey Trunken- bolden, Wüstlingen, Spielern, Lügnern, Dieben, Räubern, offenbar der Fall ist.

Aber die unglückliche Rückwirkung des Handelns auf das Innere zeigt sich, minder grell und desto häufiger, noch in einer ganz andern Klasse von Thatsachen; ich meine die, wo nicht blofs einzelne Hand- lungen ungern geschehen, sondern die ganze Lebenslage den Menschen drückt; so dafs er in seinem Thun durchgehends etwas verschoben findet, sich darin nicht wieder erkennt, allmählig seines eigenen Wollens kaum noch inne zu werden vermag, und späterhin selbst ein günstigeres Ge- schick nicht mehr genügend zu gestalten vermag. So entsteht aus äufserer Unfreyheit die innere, wovon die Dichter weit mehr zu sagen [65] wissen als die Denker, und das wirkliche Leben ohne Zweifel zahlreiche Bey- spiele aufweisen könnte, die, wenn man sie kennte, noch weit ergreifender seyn würden, als jede poetische Schilderung.

Sie werden nun, glaube ich, Selbst finden, dafs Aristoteles wenigstens in Einem Puncte richtiger sah als Kant. Jener unterscheidet die Zeiten; dieser macht ganz ausdrücklich die Freyheit zeitlos. Nach Kant hat „das Sinnenleben in Ansehung der Freyheit absolute Einheit des Phä- nomens";* nach Aristoteles kann leicht die Jugend freyer seyn wie das Alter, welches die einmal angenommenen Gewöhnungen und Fertigkeiten in sich anhäuft. Und so ist es der Erfahrung zufolge wirklich überall, wo nicht von Jugend auf der Mensch, statt sich gehen zu lassen, sich fortdauernd absichtlich zu Demjenigen macht, der Er, entweder seyn soll, oder wo richtige sittliche Begriffe mangeln, verkehrter Weise seyn will. Er wird freyer, wenn er fertiger wird; vorausgesetzt dafs seine Fertigkeiten mit seinen Absichten zusammentreffen, und dafs die Absichten in dem bey zunehmenden Jahren erweiterten [66] Gesichtskreise immer bestimmter ihre Gegenstände hervorheben, und vom Fremdartigen ab- scheiden. In diesem Sinne ist es wahr, dafs der Mensch frey wird, wenn er sich frey macht.

Die Kantische Lehre dagegen hat auf eine höchst seltsame Weise im ärztlichen Kreise Anklang gefunden, wo man sogar noch in Geistes- zerrüttungen die Freyheit vesthalten wollte, und auf diese Weise heraus- brachte, was im Wahnsinn Böses gethan werde, sey Sünde; oder viel- mehr, das Verfallen in Wahnsinn sey ungefähr in der Art sündlich wie das Verfallen in Trunkenheit. In der That, dieser Consequenz ist bey einer unzeitlichen absoluten Freyheit, die auf gleiche Weise über dem späteren wie über dem früheren Leben schwebt, und darauf wie auf eine vest zusammenhängende Kette von Erscheinungen herabschaut, gar nicht zu entkommen. Eben darum hätten Diejenigen, welche die Kantische Lehre nicht schon längst vorher, wie sich gebührt, aus andern Gründen

*) Kritik der praktischen Vernunft S. 177.

Dritter Brief. 243

zu widerlegen wufsten, sich durch eine so ungereimte Consequenz wenigstens sollen gewarnt finden. Zwar giebt es Fälle genug, in welchen der Wahn- sinn wirklich verschuldet wurde; aber das ist keineswegs die allgemeine Reo-el, sondern eher die Ausnahme; und der Blödsinn vollends ist oft genug angeboren.

[67] Sie erinnern Sich vielleicht, dafs ich gleich im Anfange dieses Briefes die Frevheit als zerstückt bezeichnete, sobald sie auf Handlungen bezogen wird. Dies zeigt sich nun vollends klar. Bey jeder Handlung mufs auf die Zeit, und auf die eben damals vorhandene Gemüthslage des Handelnden gesehen werden; wie es die Juristen wirklich thun. Muth und Kleinmüthigkeit, Behendigkeit und Langsamkeit, die auf das mögliche Handeln den stärksten Einflufs haben, können nicht gleich seyn bey dem halb Schlafenden und dem völlig Wachenden, nach starkem Blutverluste und in voller Gesundheit; und die wirkliche Sittlichkeit der Menschen gewinnt nichts dadurch, dafs man ihnen Kräfte vorgaukelt die sie nicht haben.

Das Unrichtige jener Meinung von der Sünde im Wahnsinn möge uns hier zum Anlafs dienen, eine sehr nothwendige Unterscheidung her- beyzuführen. Die Frevheit im moralischen Sinne setzt eine andere Art von Frevheit voraus, ohne mit ihr zusammenzufallen. Diese letztere ist die geistige Gesundheit, deren wir hier wenigstens in so fern erwähnen wollen, als nöthig, um die Verwechselung mit jener zu verhüten. Es ist dazu noch keineswegs erforderlich, in die verschiedenen Arten der Geistes- zerrüttung so tief einzudringen, [68] wie es in der Mitte psychologischer Untersuchungen geschieht; sondern schon auf der Oberfläche der Er- scheinungen findet sich das, was wir brauchen um die Begriffe zu sondern.

Sie kennen die vier Hauptbegriffe, unter welche die Merkmale der Geisteszerrüttungen erfahrungsmäfsig geordnet werden; Wahnsinn, Tob- sucht, Narrheit und Blödsinn. In beyden letztern liegt die Unfreyheit wie eine schwere Decke auf der ganzen Thätigkeit des Geistes; in den beyden erstem läfst sich der Unterschied des gestörten Vorstellens und Begehrens bemerken; und die berühmte Frage, ob es eine reine Tob- sucht, eine mania sine delirio wirklich gebe, ist versuchsweise in die an- dere Frage übersetzt worden, ob eine reine Willenskrankheit ohne Leiden des Vorstellungsvermögens vorkomme? Lassen Sie uns indessen hier zu- nächst das Verhältnifs der leiblichen zur geistigen Thätigkeit als um- gekehrt betrachten; so wird das Vorrecht des Geistes durch ein Vor- greifen des Leibes zwiefach beeinträchtigt seyn können. Nämlich eines theils wird die Apperception (Aneignung sinnlicher Vorstellungen) gestört seyn, (und 1in schwerern Fällen, wo Phantasmen eintreten, auch die Per- ception;) anderntheils werden die organischen Bewegungen, welche sonst vom Gemüthszustande abhängen, nun ihrerseits [69] Gemüthszustände herverbringen; einen Drang zum Handeln ohne bestimmten Gegenstand und Zweck; welches denn wohl ein zerstörendes Handeln seyn mufs, weil Zerstören an sich sehr viel leichter ist als Bauen, und jede ungeregelte

J) In schweren Füllen SW.

16'

-, , , VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

Thätigkeit darauf hinausläuft. Es braucht also hier nicht ein Begehrungs- vermögen dergestalt, dafs es für sich allein krank sey, vom Vorstellungs- vermögen losgerissen zu werden, sondern der Unterschied zwischen De- lirium und Tobsucht, deren letztere übrigens in den meisten Fällen mit jenem verbunden vorkommt, gründet sich offenbar darauf, dafs die leib- liche Affection von verschiedenen Seiten her in die geistige Thätigkeit •eingreift.

Sie erinnern sich ferner des Übergangs zur geistigen Gesundheit, den ich von jener Abtheilung schon längst hergenommen habe, und der so natürlich ist, dafs man ihn geradezu als allgemein bekannt sollte voraus- setzen dürfen. Gesundheit ist das Gegen theil der Krankheit; geistige Gesundheit also ist nach ihren wesentlichen Merkmalen erfahrungsmäfsig bestimmt, indem man die Gegentheile von Wahnsinn, Tobsucht, Narrheit und Blödsinn zusammenfafst. Die genauere Bestimmung dieser Gegen- theile mag hier unberührt bleiben, damit wir uns für den Augenblick nicht in die Psychologie vertiefen; es genagt für den [70] jetzt nöthigen Begriff der geistigen Gesundheit, wenn der Leib weder im Allgemeinen die •Geistesthätigkeit zerstreut (wie in der Narrheit) oder schwächt (wie im Blödsinn): noch auch partielle Angriffe macht, die vorzugsweise von der Seite der Sinne und des Erkennens, (beym Wahnsinn) noch der Glieder und des Handelns (in der Tobsucht) herkommen.

Wo nun Juristen und Ärzte mit einander überlegen, ob eine Hand- lung, die sonst aus Furcht vor der Staatsgewalt pflegt unterlassen zu werden, mit freyem oder unfreyem Willen sey begangen worden: da schwebt diesen Männern ein Begriff von Freyheit vor, der mit der eben beschriebenen geistigen Gesundheit zusammenfällt. Der mente captus hat in einer Traumwelt gelebt, die ihm die wahren Folgen seiner Handlungen verbarg; oder er hat zerstörend gehandelt, ohne eigentlich den Gegen- stand seines Handelns anzufeinden; oder Zerstreuung oder Schwäche hinderten alle wahre Überlegung und bestimmte Absicht. Das Handeln ist also dasmal kein sicheres Zeichen des eigentlichen Wollens; am wenigsten des Charakters, denn falls der Kranke wieder gesund würde, käme unfehlbar ein entgegengesetztes Wollen in der nämlichen Person zum Vorschein. Solche Handlungen kann man [71] zur Person nicht rechnen. Diese Person, ganz abgesehen von ihrer sittlichen Bildung, würde zuverlässig durch bekannte Motive ganz anders determinirt seyn; sie würde das Lächerliche und Gefährliche unfehlbar hinreichend scheuen, um sich nicht so blofs zu stellen, wie der mente captus es thut. Sie würde frey seyn, eben weit sie duich Gesetze und Sitteri delerminitt wäre, und die 7 wahren Folgen ihrer Handlungen voraus sähe.

Wollen wir nun etwan unternehmen, den Juristen und Ärzten die Befugnifs zu bestreiten, mit welcher sie, ohne die Philosophen zu tragen, den Unterschied der Freyheit und der Unfreyheit als einen Punct, der vor ihr forum gehört, behandeln und bestimmen. Ein solcher Competenz- streit kann zu nichts führen. Das Wort Freyheit hat und behält zu- vörderst im gemeinen Leben seine Bedeutung, wo es der Gefangenschaft und Sclaverey gegenüber steht. Soll es andre Bedeutungen annehmen : so stehn diejenigen am sichersten vest, welche jener ersten sich am

Vierter Brief.

245

nächsten anschliefsen. Der mente captus nun ist in geistiger Gefangen- schaft ; das ist klar ohne alle sittliche Begriffe ; so wie der Wilde , der Barbar, der rohe Bauer, der harte Krieger, alle Gegentheile der Geistes- Zerrüttungen durch ihre Regsamkeit, Besonnenheit, ihr kluges und ge- wandtes [72] Benutzen der Umstände auf eine Weise darzuthun vermögen, die an ihrer geistigen Schnellkraft nicht im geringsten zu zweifeln gestattet. Hier ist innere Freyheit, völlig analog der äufsern. Hier ist diejenige Bedeutung des Ausdrucks: innere Freyheit, die zwar mit der Idee, welche wir mit diesen Worten bezeichnen, eben so wenig zusammentrifft, als mit Kants frevem Willen ohne Bestimmungsgründe durch irgend welche Ob- jecte, die aber dennoch dem ursprünglichen Sprachgebrauche ganz ent- schieden sremäfs ist. Steht es nun besser mit dem Ausdrucke Deter- minismus? Oder helfen die Kantischen Worte Autonomie und Heteronomie? Eben daraus schliefst man ja auf Geisteszerrüttung, dafs der Mensch in seinen Handlungen und Urtheilen nicht also determinirt wird, wie der Mensch bey gesundem Verstände. Derjenige, dessen Handinngen frey sind, fällt unfehlbar der Kantischen Heteronomie anheim; er findet eben in den Objecten die Bestimmungsgründe seines Thuns. Die Autonomie beginnt erst da, wo die allgemeine Gesetzlichkeit, durch ihre blofse Form den Willen bestimmt. Oder wollen wir nach unserer Art, der Platonischen d'ixatoovvi] uns anschliefsend, lieber sagen : da, wo die Kenntnifs aller prak- tischen Ideen mit dem ihr angemessenen Willen zusammentrifft? Eins wie das [73] andre ist ein moralischer Begriff, dessen man gar nicht bedurfte, als man die Handlungen des geistig Gesunden für freye Handlungen er- klärte ; welche, wenn sie gegen das positive Gesetz verstofsen, dann in die gesetzliche Strafe verfallen, weil man darauf rechnet, jeder geistig Ge- sunde lasse sich bestimmen zur Unterlassung derjenigen Handlungen^ deren Strafe er nicht leiden will.

Vierter Brief.

[74] Dafs Sie, mein theurer Freund! Sich den Begriff der moralischen innern Freyheit nicht werden rauben lassen, weifs ich von Ihnen, ohne dafs Sie mir es sagen. Und das Nämliche wissen Sie von mir. Aber wie machten wir es, uns diesen Besitz zu sichern? Bevestigten wir ihn an die Tugend, die freylich seiner bedarf, aber auch eben so sehr des Begriffs vom determinirten Charakter? Oder bevestigten wir ihn an die Pflicht, die gerade, weil sie von Handlungen die Regel seyn soll, uns aufs Handeln mit seinen Absichten und Folgen hinzuschauen nöthigt, und dadurch in die Verwickelungen des vorigen Briefes hinein führt?

Vielmehr, wir erkannten, (nicht erst jetzt, sondern schon längst früher,) dafs vom Tugendbegrilf die Dunkelheit unzertrennlich ist, welche im Be- griffe [75] der Person liegt; denn Tugend soll persönliche Eigenschaft seyn; es soll Vieles Verschiedenartige durch die Person znsainnien gehalten werden und dort Einheit erlangen, während der praktischen Ideen mehrere

246 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

sind, und deren Anwendungen noch weiter auseinander laufen; so dafs man, von der Einheit der Person ausgehend, kein Mittel haben würde, dies Mannigfaltige der Reihe nach kennen zu lernen und jedes Einzelne darin richtig zu bestimmen. Der Tugendbegriff also setzt uns, wenn wir von ihm auszugehen versuchen, nicht in Kenntnifs, sondern in Bewunderung dessen was in ihm gefodert wird.

Was aber den Pfiichtbegriff anlangt: so erlauben Sie mir wohl, hier des Überganges wegen, den ich zu nehmen im Sinne habe, folgenden bekannten Schlufs aus einer Schrift, die Sie gelesen haben* hieher zu setzen :

Was in zweyen Begriffen das gemeinsame und gleiche Merkmal ist,

das kann nicht den Grund ihres Unterschiedes enthalten.

Nun ist in den beyden Begriffen des pfiichtmäfsig gehorchenden

und des ihm gebietenden [76] Willens, das Merkmal des Wollens

gleich und gemeinsam.

Also kann das Wollen nicht den Grund des Unterschiedes zwischen

dem pfiichtmäfsigen Gehorsam und dem Gebote enthalten. Einen kürzeren und präciseren Ausdruck für den Beweis des Satzes, dafs von willenlosen Urtheilen, die in unserer Kunstsprache ästhetische heifsen, die ganze Ethik ausgehen müsse, habe ich nie finden können.

Dieser Beweis steht nun offenbar dem sie volo sie iubeo der prak- tischen Vernunft be)' Kant** insofern entgegen, als dies das Primitive seyn soll. Den gebietenden Willen legen wir als unstreitiges Factum zwar zum Grunde; aber es zeigt sich, dafs die Auctorität desselben auf den willenlosen, ursprünglichen Werthbestimmungen beruhe. Daher ist Pflicht kein primitiver, sondern ein sekundärer Begriff für die Wissenschaft, während er im Leben, zur Anordnung der Handlungen von unmittelbarem Gebrauch ist.

Da wir ferner wufsten, dafs ästhetische Urtheile nur über Ver- hältnisse ergehen können: so war es nunmehr leicht, als das erste Ver- hältnifs, [77] welches die praktische Philosophie zwar nicht begründet aber eröffnet, jene Einstimmung zwischen den ursprünglichen Werth- Ur- theilen und dem entsprechenden Willen zu erkennen, welche wir mit dem Namen: Idee der innern Freyheit, bezeichnet haben.

Wie ich dazu komme, dieser unter uns längst vestgesetzten Haupt- punete hier zu erwähnen, wird sich bald offenbaren; ich habe nämlich die Absicht, an ein paar starken Beyspielen zu zeigen, wie Diejenigen, welche das eben erwähnte Verhältnifs, sammt dem ihm zukommenden ästhetischen Urtheile nicht genau ins Auge fassen, in den Fall kommen können, dafs sie bey allem Freyheitseifer doch von der sittlichen Freyheit entweder abgleiten, oder sich in dem Begriffe derselben so verwickeln, dafs er ihnen auf eine ganz unnöthige Weise zum Räthsel wird.

Der Name Freyheit kommt nicht blofs bey Tugend und Pflicht, sondern auch beym Recht vor; ja er eignet sich dort eine so entscheidend

* Kurze Encyklopädie der Philosophie aus praktischen Gesichtspuncten ent- worfen; S. 79. [Bd. IX vorl. Ausg.]

** Kritik der praktischen Vernunft § 7. am Ende der Anmerkung.

Vierter Brief.

247

wichtige Stelle zu, dafs Kant gerade zu erklärte : Freyheit, Unabhängigkeit von eines andern nöthigender Willkühr, sofern sie mit jeder Andern Freyheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne, sey das einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zu-[78]stehende Recht.* Ehe ich darauf eingehe, ein paar Worte vom Naturrechte im Allgemeinen.

Abgesehen vom Gesellschafts- und Staatsrechte müssen im Natur- rechte hauptsächlich zweyerley Klassen von Begriffen, die sich im ge- meinen Leben überall aufdringen, beleuchtet werden; nämlich die ding- lichen Rechte und die Verträge. Diese beyden Klassen sind nicht ganz leicht unter einem Hauptgedanken zu vereinigen: meistens fallen sie den Schriftstellern ganz sichtbar aus einander. Wenn man die dinglichen Rechte, wie gewöhnlich voranschiebt, statt von den Verträgen schon des- halb weil sie einfacher sind, und nicht ins Weite auf jeden Dritten hinaus- weisen — anzufangen: so möchte in diesem Puncte wohl immer guter Rath theuer seyn und bleiben. Aber auch in den Verträgen verwickelt man sich. Es werden ihrer so viele unbillige, leichtsinnige, eingegangen; die Umstände verändern sich so oft; die Auslegungen veranlassen so viel Streit, -— wie sollte man nicht bedenklich werden, wo es darauf ankommt, ein Zwangsrecht für dieselben geltend zu machen? Denn das ist ja einmal die Voraussetzung: von einem Rechte blofs für sich, einem reinen, ethischen Begriffe dessen [79] was Einer vom Andern zu fodern habe, und (was die Hauptsache ist) welche Foderungen der Andre von Jenem sich müsse gefallen lassen, so dafs er sie nicht abläugnen dürfe davon handle das Naturrecht nicht; hingegen auf den Zwang steuere es los, und auf den Staat als den Executor des Zwanges. Bevor nun frevlich so scharfe Maafsregeln, wie die der Obrigkeit, wissenschaftlich aufgerufen werden: mag man sich wohl bedenken, wie es eigentlich zugehe, dafs ein Vertrag nicht etwan blofs für einen Augenblick anzeige, worin zwey Personen übereingekommen seyen, sondern dieselben auch dergestalt ge- bunden halte, dafs es mit der Freyheit des Beschliefsens nun in der Sphäre des Vertrages ein für allemal vorbey ist; während doch die Personen sich beyderseits vollkommen bewufst sind, sie hätten innerlich noch dasselbe Vermögen zu wollen, und anders und immer anders zu wollen, wie in jenem Augenblick, in welchem der Vertrag zum Abschlufs gelangte. Wie kommt ein Augenblick zur Herrschaft über die ganze nachfolgende Zeit?

Nur eine kleine Probe von der Art, wie sich die Naturrechte in diesem Puncte drehen und wenden, möchte ich hier einschalten, wenn es nicht zu weitläufig wäre. Ein paar Zeilen aus Hufelands Naturrecht mögen zur Andeutung dienen. [80] Dort wird geredet von , Festsetzung neuer .Maximen, die ich jetzt durch meine Willkühr den übrigen sitt- lichen Regeln an die Seite setze. Das Sittengesetz verbietet mir nicht, auch dauernde, ohne Zeiteinschränkung gültige Maximen willkührlich mir vorzuschreiben. Der Promissarius hat ein vollkommenes Recht auf Wahrhaftigkeit."**

Kants Rechtslehre S. XLV. ** Hufelands Naturrecht § 260 u. s. w.

148 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

Sie, mein theurer Freund, der Sie Sich längst mit mir des vor- geblichen Sittengesetzes im singulari als ob es keine Mehrheit ursprüng- licher praktischer Ideen gäbe, entwöhnt haben Sie werden Mühe haben, bey einer solchen Rede nur irgend Etwas zu denken. Zuerst fällt natürlich die Wahrhaftigkeit, als hier ohnehin vorausgesetzt, aus der Er- klärung der Verträge deshalb weg, weil sie den Fragepunct gar nicht trifft. Von bezüglichen Verträgen kann nicht die Rede seyn, weil der Betrug keine wahre Übereinkunft der Willen stiftet. Aber von unbilligen, von gemeinschädlichen Verträgen, welche die Ideen der Billigkeit und des Wohlwollens gegen sich, und dennoch die Idee des Rechts für sich haben, kann allerdings die Rede seyn; und wenn einzig und allein auf das Sittengesetz [81] auf den vorgeblichen singularis hingewiesen wird, so mufs man fragen: hat das Sittengesetz geträumt oder geschlafen, als das Unbillige und Gemeinschädliche die Form des Rechts annahm?

Doch nicht erst durch die Voraussetzung tadelnswerther Verträge wollen wir es wecken. Die Sache steht viel schlimmer.

Was ist das für ein Sittengesetz, welches erlaubt, dafs man ihm neue Maximen willkührlich an die Seite setze?

Hufeland meint den kategorischen Imperativ. Also wollen wir fragen: Kannst Du wollen, dafs es allgemeine Maxime werde, auf die Selbst- täuschung dessen zu rechnen, der sich einbildet, seine Willkühr für alle künftige Zeit durch einen augenblicklichen Vorsatz gebunden zu haben?

Sie sehen nun schon den Abweg. In solcher Dialektik fortfahrend würden wir uns bald so verwickeln, dafs wir wohl selbst eine Minute lang zweifeln könnten, ob der alte Satz: pacta sunt servanda, noch wahr sey oder nicht. Dahin wird es nun mit uns nicht kommen. Aber bemerken Sie doch jene Worte : das Sittengesetz verbietet mir nicht. Ein solches : qui tacet, consentire videtur, steckt hinter manchen naturrechtlichen Be= hauptungen; es sind ausdrückliche Worte jenes Naturrechts: „bey mehrern Hand-[82]lungen verweiset das Sittengesetz jeden Menschen blofs an seine Willkühr. Freyheit der Willkühr ist gesetzmäfsig; das Sittengesetz legt ihr Berechtigung bey.'' *

Bevor ich weiter gehe, möge hier eine vortreffliche Stelle Schleier- machers, über den Begriff des Erlaubten Platz finden. „Derjenige Be- griff, welcher überall, wo er als ein wirklicher und positiver in die Ethik eingeführt wird, eine fehlerhafte Beschaffenheit des Pflichtbegriffs anzeigt, ist der Begriff des Erlaubten. Nur bey der Anwendung im Leben hat er als cm negativer Begriff seine Bedeutung; so nämlich, dafs er besagt, eine Handlung sey noch nicht so in ihrem Umfange und mit ihren Grenzen vollständig aufgefafst, dafs ihr sittlicher Werth könne bestimmt werden."**

Gehen Sie mit diesem Gedanken an die Naturrechte, so werden Sie Sich wundern, wie schnell man nach denselben Eigenthum, das wichtigste der dinglichen Rechte, erwerben kann. Da heifst es bey. Hufelaxd ganz kurz : „Von vielen Sachen kann mancher Gebrauch nicht anders gemacht werden, als wenn Jemand sie [83] ausschliefsend gebraucht. Da

**

* A. a. O. § 92. 93. Schleiermachers Kritik der Sittenlehre S. 185. 186.

Vierter Brief. 2AQ

jeder Mensch nun vermöge seiner Persönlichkeit Zwecke haben, und aller- hand Mittel dazu gebrauchen darf: so hat er auch ein Recht, diese Sachen aus- schliefsend zu gebrauchen. Das Eigenthum ist der ausschliefsende Gebrauch einer Sache, sofern er nicht verboten ist. Jeder Mensch hat demnach ein Recht, sich Eigenthum zu erwerben. Die ganze Beurtheilung der Rechte des Eigenthums beruht im Naturstande auf der Einsicht des Recht- habenden."*

Sie erinnern Sich vielleicht an meine praktische Philosophie, wo der Satz, welcher so lautet: Es soll kein Streit sern, folglich mufs ich übet' lassen, jenem Naturrechte gemäfs füglich auf folgende Weise könnte ver- ändert werden.

Es soll kein Streit seyn ; folglich mufs der Andre mir überlassen. Welche Lesart die rechte sey, ist unter uns keine Frage; allein vermuth- lich schwebt Ihnen eine andre Frage im Sinn: was für eine Persönlich- keit mochte dort gemeint seyn, wo es hiefs: da jeder Mensch vermöge seiner Persönlichkeit Zwecke haben darf ? In dem Dürfen steckt jener, von Schleiermachern zurechtgewiesene Begriff des Er-[8.i]]aubten; wie kann denn aus der Persönlichkeit ein so allgemeines, kategorisches, defi- nitives Dürfen hervorgehn, dafs hierin allein der Grund des Eigenthums liege? Bedeutet etwan das Eigenthum weiter nichts, als dafs die Hand- lung, wodurch man desselben sich bemächtigt, noch nicht hinreichend in ihrem Umfange und in ihren Gränzen aufgefafst sey, um ihren sittlichen Werth zu bestimmen? Das wäre ein seltsames Eigenthum; und so ist es keineswegs gemeint.

Vernehmen Sie jetzt, was eine Person ist! „Das Vermögen eines Wesens, sich Zwecke für seine Handlungen vorzusetzen, heifst die Per- sönlichkeit; und ein mit diesem Vermögen begabtes Wesen eine Person."** Fast mufs ich besorgen, dafs Sie mir zürnen, weil ich ein so altes Buch, wie Hufelands Naturrecht, jetzt noch anführe. Es ist freylich vom Jahre 1795. Wohlan! Schlagen Sie Krug nach! Sie finden bey ihm folgendes, was im Jahre 1821 herauskam:

Jedes vernünftige Wesen vermag die Zwecke seiner Thätigkeit sich selbst zu setzen, und mit Frevheit zu verwirklichen, und heifst daher eine Person; alles Vernunft-[85]lose aber eine Sache. Jener kommt daher eine eigentümliche Würde zu, welche die persönliche heifst; und diese Persönlichkeit beruhet lediglich auf der Vernunft und Frevheit desjenigen Wesens, dem sie beygelegt wird.'' *** Und wie wird damit das Eigenthum in Verbindung gebracht?

„Da jedes vernünftige Wesen ein Recht auf Sachen überhaupt,. niemand aber ein ursprüngliches Recht auf bestimmte Sachen hat: so mufs es etwas Herrenloses geben oder gegeben haben, durch dessen Ergreifung und Zueignung kein fremdes Recht verletzt wird. Eben darin und allein (in apprehensione et appropriatione sola) liegt auch der Grund der Rechtserwerbung. Denn das erste Besitznehmen macht

* Hufelands Xaturrecht § 219 223. ** A. a. O. § 90. *** Krugs Handbuch der Philosophie, zweyter Band § 491.

250 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

es rechtlich unmöglich, dafs ein Andrer dieselbe Sache auf gleiche Weise erwerbe, weil sie nicht mehr herrenlos ist." *

Wollen Sie nun etwa noch bey Droste-Hüls-[86]hoff nachschlagen? Das Jahr 1831 wird nicht viel anders reden als das Jahr 182 1.**

Es werden wir ja wohl nachgeben müssen; und die obige zweyte Lesart wird nunmehr näher bestimmt so lauten:

So soll kein Streit seyn, folglich darf ich jedem Andern die Ver- meidung desselben zumuthen, indem ich ihm durch Occupation zuvor- komme.

Aber eben des Urtheils: es soll kein Streit seyn, hatten sich jene Naturrechtslehrer gar nicht bedient. Die Würde der Person besorgt bey ihnen alles; und diese Würde beruhet nicht wie bey uns, auf dem Ver- hältnifs zwischen der Einsicht (die meinethalben Vernunft heifsen möchte) und dem entsprechenden Willen: sondern, wo wir die Unwürde linden, nämlich wenn der Wille von der Einsicht abweicht, da besitzen jene noch immer das erhabene Vermögen, sich selbst Zwecke zu setzen; und dies Vermögen, Freyheit genannt, führt immer geraden Weges zum Eigenthum, als einem Rechte gegen jeden Dritten ; welches Recht in der That unge- heuer stark seyn mufs, da es Gleichgewicht macht gegen das [87] ganze Menschengeschlecht weniger dem Einen, der jeden Dritten ohne ihn zu fragen, ausschliefst, weil es ihm so beliebt!

Wir wollen also dasjenige unerwähnt lassen, was in meiner prakti- schen Philosophie, auf einem in der That ziemlich weitem Wege, zwischen der einfachen Rechts-Idee und der Rechts-Gesellschaft, alsdann ferner zwischen der Rechtsgesellschaft und dem erlaubten Schutze durch Zwang, endlich noch zwischen der Erlaubnifs des Zwanges und dem wirklichen Zwange im Staate, in der Mitte liegt. Denn diese Strecke Weges zu überschauen erfodert mehr, als was das blofse Wort Freyheit zu ver- muthen geben möchte.

Indessen wird aus dem Vorigen, bey Vergleichung der Verträge mit dem Eigenthum, der Unterschied hervortreten: dafs bey jenen doch wenigstens zwev Personen ihre Willen vereinigen mufsten; beym ursprüng- lichen Erwerben des Eigenthums hingegen der Occupirende Niemanden braucht und Niemanden fragt. Verhält es sich wirklich so: dann mögen wir nur aufhören von einerley Rechtsidee zu reden; das Recht ist vielmehr zweyerley, dem die Sprache einen gemeinschaftlichen Namen beygelegt hat.

Ehe wir das für entschieden annehmen, wird es doch gut seyn, ein- mal das Kantische Na-[88]turrecht näher anzusehn. Denn bey Kant pflegen sich immer noch Spuren der Wahrheit zu finden, wenn ander- wärts schon der Nebel die Aussicht verschliefst.

Da kommt uns nun zwar Anfangs ein wenig erbauliches, sogenanntes

Postulat der Vernunft entgegen, nach welchem kein Gegenstand der Will-

kühr an sich herrenlos seyn, d. h. der Zueignung entzogen werden soll.

Ja es fehlt auch nicht an der deutlichen Erklärung, dies Postulat solle

ein Erlaubnifsgesetz bedeuten für den, welcher zuerst nimmt und hiemit

* A. a. O. § 514. ** Lehrbuch des Naturrechts von Droste-Hülshoff. § 10 und 49.

Vierter Brief. 9^1

Andre ausschliefst* Hier ist nun freylich wenig Zusammenhang zwischen dem ,J>ra ueh bare Gegenstände aufser allci Möglichkeit des Gebrauchs setzen," welches verboten, und dem Ausschliefsen Andrer durch Zueignung ohne sie fragen, welches erlaubt seyn soll. Vielmehr, wenn einmal die Ver- nunft (man weifs nicht recht wie?) vom Throne ihrer logischen Allgemein- heit sich so weit herab bemüht, sich um die Brauchbarkeit der Sachen für gemeine Zwecke der Willkühr zu bekümmern : so wäre natürlich zu schliefsen, daran sey der Vernunft gelegen, den vollständigsten Gebrauch der Sachen zu veranstalten; und sie werde [89] eben deshalb Niemanden die Zueignung eher gestatten, als bis ausgemacht worden, worin das Maximum des Gebrauchs für Alle bestehe, und wie die Theilung oder Verbindung der Sachen am zweckmä/sigsten könne eingerichtet werden. Bey der Gelegen- heit würde sie denn wohl noch Einiges zu sagen haben über die Richtung und Lenkung der äufsern Frevheit, damit aus den Handlungen, wodurch die Sachen in Gebrauch kämen, auch Etwas für die Bildung der Menschen zu tugendhaften Fertigkeiten (nach Aristoteles) möchte gewonnen werden; kurz, man würde einen Blick auf das Verwaltungs- und Cultursystem zu werfen Gelegenheit haben.

Die richtige Ansicht kommt bey Kant etwas spät hintennach; und ist nirgends präcis ausgesprochen, noch weniger zum Grunde gelegt. Sie läfst sich nur eben erkennen in der Stelle, wo es heifst:

„Derselbe Wille (der Bemächtigung) kann eine äufsere Erwerbung nicht anders berechtigen, als nur so fern er in einem a priori ver- einigten (d. i. durch Vereinigung der Willkühr Aller, die in ein prak- tisches Verhältnifs gegen einander kommen können,) absolut gebieten- den Willen enthalten ist. Denn der [90] einseitige Wille kann nicht Jedermann eine Verbindlichkeit auflegen, die an sich zufällig ist.'1** Auch hier noch ist der rechte Punct nicht genau getroffen; denn die dinglichen Rechte stehen nicht in der Höhe eines absolut gebietenden Willens, sondern bedürfen nur einer Überlassung- in allgemeinen Begriffen.*** Indessen ist wenigstens anerkannt, dafs Vereinigung der Willen nötig ist, wo ein Recht entstehen soll, und dals Keiner für sich allein hinreicht, um sich eine wahre Berechtigung im Kreise der Andern zu schaffen. Und hiemit ist denn auch die anfängliche Behauptung gemäfsigt, dafs in der Frevheit das angeborne Recht liege. Dadurch, dafs Einer frey da steht, hat er noch keine Rechte; aber indem Alle, die einander frey gegen- über stehen, sich gegenseitig berücksichtigen, entstehen die Rechte. Und sie sollen sich berücksichtigen denn es soll kein Streit sevn.

Tiefer in die Kritik des Xaturrechts einzugehen, wäre hier am un- rechten Orte, so nahe auch die Veranlassungen liegen. Sie, lieber Freund, [91] werden zwar nicht fragen, wie denn die äufsere Frevheit, für welche sich die Naturrechte so lebhaft interessiren, mit der innern Frevheit zusammenhänge; denn das wissen wir nur zu gut; und Jene, die so gern von der angebornen Frevheit, als der Quelle aller Rechte, reden

* Kants Rechtslehre § 2. ** Kants Rechtslehre, § 14. *** Praktische Philosophie, S. 195.

,e2 VIII. Zur Lehre von der Freyhcit des menschlichen Willens. 1836.

mögen, bezeugen gerade dadurch, dafs die innere Freyheit nicht als eine blofs intelligible, zeitlose, für sich allein da steht, sondern sich allerdings um Objecte, um Sachen, dergleichen im Kreise der Rechtsverhältnisse vorkommen, bekümmern mufs. Aber zugleich sehen wir, dals auch die äufsere Freyheit, die sich die Zwecke ihrer Thätigkeit beliebig setzt, nicht für sich allein auftreten darf, wenn sie Berechtigungen verlangt, die nur vermöge ethischer Betrachtungen können gefunden werden. Urtheile des Lobes und Tadels, ästhetische Urtheile über den Willen, - müssen erst ausgesprochen seyn, ehe man bestimmen kann, was der äufsern Frey- heit zu gewähren, was zu versagen sey. Solchen Urtheilen ist jede Person ausgesetzt. Sie kann eine Würde erlangen, aber sie kann auch ins Un- würdige verfallen. Das hätte Aristoteles bedenken sollen, der sich so leicht mit der Sclaverey vertrug, indem er meinte, es gebe Menschen, denen von Natur zukomme, zu dienen, und in beständiger Unterwürfig- keit zu le-[Q2]ben. * Aber möchten das von der andern Seite doch auch Diejenigen bedenken, die schon darin eine Würde finden, dafs der Mensch sich beliebige Zwecke setzen kann. Meinte etwan Aristoteles, die Sclaven könnten das nicht? So blind war er sicher nicht; aber darin fand er keine Würde, und es liegt keine drin ; wohl aber ist es leicht, die Menschen zum Übermuth zu verleiten. Dafs man die praktische Philosophie in Moral und Naturrecht zerrissen hat, ist Schuld an diesem, wie an vielem andern Unheil.

Über die innere Freyheit, zu der wir jetzt zurückkehren, hat sich wohl Niemand so sehr gewundert, als Kant, dem sein eigner kategorischer Imperativ, so vest er ihn behauptete, dennoch zum Räthsel wurde. „Warum (so fragt er) soll ich mich diesem Gesetze unterwerfen? Ich will einräumen, dafs mich dazu kein Interesse treibt, denn das würde keinen kategorischen Imperativ ergeben; aber ich mufs doch hieran noth- wendig ein Interesse nehmen, und einsehen, wie das zugeht; denn dies Sollen ist eigentlich ein Wollen. Es scheint, wir könnten dem, der uns- fragte, warum denn die Allgemeingültigkeit unserer Maximen als eines Gesetzes, die einschrän-[93]kende Bedingung unsrer Handlungen seyn müsse, und worauf wir den Werth gründen, den wir dieser Art zu handeln beylegen, (der so grofs seyn soll, dafs es überall kein höheres Interesse geben kann), und wie es zugehe, dafs der Mensch dadurch allein seinen persönlichen Werth zu fühlen glaubt, gegen den ein an- genehmer oder unangenehmer Zustand für nichts zu halten sey: keine genugthuende Antwort geben."**

So offene Äufserungen dürfen uns gewifs nicht verleiten zu glauben, m dem Gemüthe Kants sey jemals ein Zweifel von praktischer Art auf- gestiegen, — in ihm, der, wenn irgend ein Sterblicher, gewifs das reine Interesse am Sittlichen mit unwandelbarer Treue und Zuversicht empfand und hegte. Solche Arbeiten, wie die Werke Kants, sind durch ein un- reines Interesse nicht möglich; kein Sporn des Ehrgeizes hält aus gegen die Anstrengung des Denkens, welche dazu nöthig ist. Es kann nur eine

Aristot. Polit. I, 5, 6.

Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, im dritten Abschnitte.

Vierter Brief.

253

theoretische Frage seyn, die ihn beschäftigt, indem er Rechenschaft von dem Werthe des Handelns nach dem Sittengesetze zu geben versucht.

Auch scheint er Anfangs zu glauben, die Ant-[g_].]\vort sey schon gefunden, indem er die Freyheit in die intelligible Welt versetzt. „Das moralische Sollen ist eignes nothwendiges Wollen als Gliedes einer intelli- gibeln Welt; und wird nur in so fern als Sollen gedacht, wiefern man sich zugleich als Glied der Sinnenwelt betrachtet."

Gleichwohl ist ihm etwas Unbegreifliches zurückgeblieben. Er fragt nicht mehr; aber es fällt ihm ein, dafs wohl Jemand fragen könnte, und dafs alsdann wenigstens eine Abweisung nöthig wäre. Was ist denn aber noch zu fragen, wenn das sittliche Wollen, folglich das Streben des bessern Menschen wirklich schon seinen reinen Ausdruck gefunden hat? Um- gekehrt, wenn noch etwas Fragliches übrig bleibt, so möchte es wohl daran gerade liegen, dafs die Formel, die man aussprach, dem sittlichen Streben nicht genau angemessen ist. Doch hören wir Kant !

„Die subjective Unmöglichkeit, die Freyheit des Willens zu erklären, ist mit der Unmöglichkeit, ein Interesse ausfindig und begreiflich zu machen, welches der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen könne, einerley."

Wie? wenn wir eine theoretische Erklärung geben könnten, dann wäre ein Interesse ausfindig gemacht? Ein Interesse, sollte man denken, [95] werde unmittelbar empfunden. Nur dann wird es nicht empfunden werden, wenn der Gegenstand, welcher es erregen könnte, nicht vorliegt, sondern statt seiner etwas Fremdartiges! „Gleichwohl (fährt Kant fort) nimmt der Mensch wirklich daran ein Interesse, wozu wir die Grundlage in uns das moralische Gefühl nennen, welches fälschlich für das Richtmaafs unserer sittlichen Beurteilung von Einigen ausgegeben worden, da es viel- mehr als die subjective Wirkung, die das Gesetz auf den Willen ausübt, angesehen werden mufs, wozu Vernunft allein die objectiven Gründe hergiebt."

Setzen wir hier anstatt Vernunft die sämmtlichen praktischen Ideen: so ist diese Stelle richtig. Die Verhältnisse, welche mit Lob und Tadel beurtheilt werden, sind das Objective, welches innerlich beschaut werden mufste, damit sich in uns die Ideen erzeugten. Aus ihnen bestimmt sich der sittliche Wille; dieser gebietet als gesetzgebend. Das Gesetz übt eine subjective Wirkung auf jeden individuellen Menschen, indem der indivi- duelle Wille die Macht und Auctorität jenes sittlichen Willens empfindet. Diese subjective Wirkung ist in verschiedenen Menschen verschieden; der schlechte Mensch empfindet sie als Vorwurf; der blofs ungebildete als Erhebung, der edlere [96] Mensch als Erquickung und Begeisterung. Diese und andere Weisen des moralischen Gefühls können in der That nicht das Richtmaafs der sittlichen Beurtheilung an die Hand geben. Aber was denn sucht Kant eigentlich?

„Um das zu wollen, wozu die Vernunft allein den sinnlichafficirten vernünftigen Wesen das Sollen vorschreibt, dazu gehört freilich ein Ver- mögen der Vernunft, ein Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht einzuflöfsen, mithin eine Causalität derselben, die Sinnlichkeit ihren Principien gemäfs zu bestimmen!"

Ja nun freylich sehen wir, was ihn irrte! Da standen Sinnlichkeit und

2^4 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1 836.

Vernunft als zwey völlig heterogene Seelenvermögen einander gegenüber. Und ein Wohlgefallen konnte nicht empfunden werden, wenn nicht eine sinnliche Affection dabev vorging. Im Schönen steckte also wohl etwas vom Angenehmen verborgen? Und wenn dies vermieden würde: dann wäre wohl noch die neue Gefahr nicht zu überstehen, dafs die ver- schiedenen Klassen des Ästhetischen in einander laufen würden? Solche Gefahr scheint man sich wirklich noch heutiges Tages einzubilden; als ob Äufseres vom Innern und Innersten sich nicht deutlich genug ab- sondern liefse! An ein iein gci-\_qj~\sügcs Gefühl, in dem inwendigsten Wesen der Vernunft selbst, war nun gar nicht zu denken. Soviel ver- mochte die alte falsche Psychologie.

,,Es ist aber gänzlich unmöglich, einzusehen, d. i. a priori begreiflich zu machen, wie ein blofser Gedanke, der selbst nichts Sinnliches in sich enthält, eine Empfindung der Lust oder Unlust hervorbringe."

Und was enthält denn die Formel des kategorischen Imperativs, was bietet die blofse allgemeine Gesetzlichkeit dar? In der That, die alte Psychologie trägt nicht allein die Schuld, sondern die leere logische Hülse der blofsen Gesetzlichkeit ist es selbst, welche macht, dafs sich das sitt- liche Interesse durch sie nicht befriedigt finden kann.

Wollen wir uns das einmal recht klar machen? Nehmen Sie an, lieber Freund, die Vernunft lasse sich herab, der Sinnlichkeit etwas Sinn- liches darzubieten, etwas, das recht eigentlich durch Empfindung könne aufgefafst werden; und erwarte nun die Wirkung, die sich als ein Gefühl der Lust, des Wohlgefallens offenbaren soll. Jetzt wird doch nicht mehr passen, was Kant noch hinzusetzt, nämlich dafs Erfahrung nur zwischen zwey Gegenständen der Erfahrung ein Causalverhältnifs zeigen könne, hier [98] aber reine Vernunft durch blofse Ideen die Ursache von einer Wirkung in der Erfahrungswelt seyn solle. Daran kann doch die Schuld des aus- bleibenden Lustgefühls nicht mehr liegen, wenn wir der Sinnlichkeit etwas Sinnliches zu empfinden geben! Was aber soll dies Sinnliche seyn, um hier zur Sache ein Gleichnifs zu liefern ? Natürlich etwas, das dem kate- gorischen Imperative ähnlich sey. Also eine blofse Form. Gut, wenn es eine schöne Form ist, so wird das Schöne empfunden, oder, wie ich lieber sagen möchte, gefühlt werden. Aber jede Form schliefst Verhält- nisse eines verbundenen Mannigfaltigen in sich. Das ist kein Gleichnifs für den kategorischen Imperativ, der eine blofse Gesetzlichkeit ohne Aus- nahme fodert. Also eine Richtschnur. Eine solche ist das passende Gleichnifs für den kategorischen Imperativ. Doch auch nicht einmal eine Schnur \ etwa eine seidene oder gedrehte; diese könnte schon viel zu bunt -seyn. Also eine gerade Linie; eine blofse mathematische Länge; ohne irgend etwas von Farbe, oder von Gestaltung nach der Breite und Dicke! Jetzt können wir darauf rechnen, dafs selbst die Sinnlichkeit sich nicht regen wird, um ein Gefühl der Lust oder Unlust in sich zu erzeugen, sondern sie wird vollkommen gleichgültig blei-[99]ben, weil eben gar nichts zu sehen da ist, welches irgend wie gefallen oder misfallen könnte.

Ganz anders kommt die Sache zu stehn, wenn Kant von einem Reiche der Zwecke redet, wir würden sagen, von einer beseelten Ge- sellschaft. Und wie wäre bev ihm selbst das hohe und reine moralische

Fünfter Brief.

255

Interesse möglich gewesen, wenn ihm nicht der wahre Gegenstand des- selben vorgeschwebt hätte? Darum haben auch so viele seiner Nach- folger sich an den Ausdruck gehalten, der Mensch solle nie blofs als Mittel, sondern zugleich als Zweck behandelt werden. Nur schliefst sich diese Formel nicht mit derselben Präcision dem Kantischen Freyheits- begriffe an, wie der kategorische Imperativ; statt dessen veranlafste das Reich der Zwecke wahrscheinlich Manchen, zu glauben er könne mit Kants Bewilligung jenes abenteuerliche Hinaufsteigen zur Weltbildung unternehmen, dessen ich am Ende des zweyten Briefes erwähnte, und welches um desto leichter gelingt, da Sonne, Mond, und Sterne dabey pflegen ignorirt zu werden; wie sie denn wirklich zur Begründung der Ethik, unmittelbar wenigstens, nichts beytragen.

Fünfter Brief.

[ioo] Den Freyheitsbegriff betrachteten wir bisher in mancherley Be- ziehungen. Wird es Ihnen jetzt genehm seyn, mein theurer Freund, dafs wir sein Gegenstück, den Determinismus, uns vorführen lassen; und zwar von Demjenigen, dessen Offenheit gerade in diesem Puncte als nachahmungs- werthes Muster aufgestellt wird? Bey der Gelegenheit können Sie einmal recht genau nachsehn, ob nicht vielleicht auch mir etwas von verstecktem Spinozismus anklebt. Denn es ist Spinoza selbst, den ich redend ein- zuführen gedenke; und dessen Ethik ich Sie bitte Sich zu vergegenwärtigen. Einem Drama in fünf Acten möchte man das Werk vergleichen; wenigstens hat es Exposition. Verwickelung, und Lösung des Knotens. Voran steht Gott und der menschliche Geist; dann folgt, was den Geist niederdrückt, die Affec-[ioi]ten werden geschildert, die menschliche Knechtschaft wird dargethan; und endlich die menschliche Freyheit. Betrachtet man diesen Plan, so kann man fragen: ist denn Spinoza Determinist? endigt denn nicht die Knechtschaft in der Freyheit? Wird denn der Knoten nicht gelöset? Wozu helfen uns denn die beyden gleichlaufenden unend- lichen Reihen in der res extensa und res cogitans, welche zusammen den Makrokosmus vorstellen? Sie lächeln, mein Freund; denn Sie kennen diese berühmte Ethik. Darum wollen wir bey allgemeinen Fragen fürs Erste nicht verweilen, sondern sogleich das ins Auge fassen, was wir suchen: nämlich den Determinismus. Auf diesen weiset ohne Zweifel die Überschrift des vierten Theils hin: de Servitute humana.

Dort nun wird Jedem, der hören will, kund und zu wissen gethan: Die Worte Vollkommenheit und Unvollkommenheit haben eigentlich nichts zu bedeuten. Wie die Leute, wenn sie ein Haus bauen, es dann fertig nennen, wenn es die beabsichtigte Gröfse und Einrichtung erreicht hat, so haben sie auch der Natur die Absicht untergeschoben, solche Gegen- stände, wie man gewöhnlich findet, hervorzubringen; kommt nun einmal etwas Ungewohntes vor, dann meinen sie, die Natur hätte einen Fehler begangen. Nun ist zwar daran [102] nicht zu denken; denn das ewige Wesen, welches wir Gott oder die Natur nennen (bemerken Sie diese

256 Vlll. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

Gleichsetzung!) wirkt mit der nämlichen Nothwendigkeit, mit der es existirt; Zwecke der Natur oder Gottes sind nur menschliche Einbildung. In- dessen, wir pflegen nun einmal die Individuen in der Natur auf einen Gattungsbegriff, welcher der allgemeinste ist, zurückzuführen, dieser Be- griff ist der des Seyn. In solcher Beziehung ist also ein Ding voll- kommener als ein anderes, wenn es mehr Seyn (plus entitatis seu realitatis) enthält, als das andere. Und wenn wir den Dingen etwas beylegen, das eine Negation in sich schliefst, z. B. Gränze, Ende, Schwäche, dann nennen wir sie in so fern unvollkommener, weil sie unser Gemüth nicht so afficiren. wie die andern Dinge, die wir vollkommen nennen. Was nun die Be- griffe des bonum und malum anlangt: so enthalten diese nichts positives, sondern sie sind relativ. Z. E. Musik ist gut für den Melancholicus, übel für den Trauernden (ob der Melancholicus etwan ein Wahnsinniger seyn soll, weifs ich nicht genau zu sagen; Platon nennt wenigstens den fdlc.y/oXiy.og neben dem /LietrvoTtxog und dem tgtoTixog*', [103] dem Tauben hingegen ist sie weder gut noch übel!

Noch frage ich nicht, wie Ihnen das gefalle! Hoffen Sie nur nicht zu früh, mein theurer Freund, Sich genau zu erinnern, was nach Spinoza für gut und übel zu erkennen ist! Nothwendig mufs ich Ihre Ge- duld noch für folgende Proben, die Sie schwerlich im Gedächtnifs haben, in Anspruch nehmen ; doch will ich sie kurz zusammenfassen.

Unter dem Worte gut verstehe ich (Spinoza) im Folgenden das, wovon wir gewifs wissen, es sey ein Mittel, wodurch wir dem Vorbilde der menschlichen Natur, welches wir uns denken (quod nobis proponimus) näher kommen können. Unter dem Worte übel das Gegentheil. Er- klärung 1.) Unter dem Guten verstehe ich das, wovon wir gewifs wissen, es sey uns nützlich. Erklärung 2.) Unter dem Übel verstehe ich das, wovon wir gewifs wissen, es werde uns in der Erlangung eines Gutes hinderlich seyn. Satz 8. Die Erkenntnifs des Guten und des Übels ist nichts anderes, als: der Äffect der Freude und Traurigkeit, so fern wir uns dessen bewirfst sind. Satz 14. Die wahre Erkenntnifs des Guten und des Übels, sofern sie wahr ist, vermag keinen Affect in Schranken [104] zu halten, sondern nur so fern sie als ein Affect betrachtet wird. Satz ig. Jeder begehrt oder verabscheut nach den Gesetzen seiner Natur nothwendig das, wovon er urtheilt, es sey ein Gut oder ein Übel. Satz 20. Je mehr einer seinen Nutzen zu suchen, d. h. sein Daseyn zu er- halten strebt und vermag, um desto mehr ist er mit Tugend begabt; im Gegen- theil, je mehr einer vernachlässigt seinen Nutzen zu suchen, d. h. sein Daseyn zu erhalten, desto schwächer ist er. Satz 22. Das Streben 3 sich zu erhalten, ist die erste aller Tugenden und das Fundament aller Tugend. Satz 23. Wiefern der Mensch zu einer Handlung dadurch bestimmt wird, dafs er inadäquate Vorstellungen hat, so kann man nicht sagen, er handle tugendhaft, sondern nur, wiefern er durch dasjenige be- stimmt wird, was er einsieht. Satz 24. Der Tugend genau gemäfs handeln ist nichts Anders in uns, als: nach Anleitung der Vernunft handeln, leben, das eigne Daseyn erhalten, (diese dtey Dinge bedeuten einerhr) aus

* Plato de rep. IX. p. 573. c.

Fünfter Brief. 257

dem Fundament des Strebens nach dem eignen Nutzen. Satz 26. Was wir vernunftgemäfs anstreben, ist nichts anderes als: Einsicht (intelligere.) Satz 28. Das höchste Gut des Geistes ist die Erkenntnifs Gottes.

[105] Diesen Sätzen füge ich noch einen, davon ziemlich weit ge- trennten hinzu:

Satz 68. Wenn die Menschen frey geboren würden, so würden sie vom Guten und vom Übel sich gar keinen Begriff machen, so lange sie frey wären.

Ist Ihnen nun klar geworden, was eigentlich Spinoza unter den Worten bonum und malum versteht? Soviel errathen Sie wohl, dals er mit dem letzten Satze auf den Baum der Erkenntnifs zielt. Auch kann ich den sehr kurzen Beweis leicht beyfügen. Der Freye hat nur adäquate Vorstellungen; die Erkenntnifs des Übels aber ist inadäquat; und die des Guten blofs relativ gegen jene. Wie (werden Sie fragen) die Erkenntnifs des Übels ist inadäquat? Was für Übel meint denn der Mann? Etwa Krankheit u. d. gl. wo uns die vollständige Kenntnifs des natürlichen Zu- sammenhangs fehlt? Giebt es denn kein sittliches Übel, und haben wir etwa von der Lüge, vom Unrecht, keine angemessenen Begriffe? Doch Sie erinnern Sich wohl des Satzes, den wir oft besprochen haben, ius naturae est ipsa naturae potentia*; also diesen Einwurf, als ob das Un-[io6] recht ein sittliches Übel wäre, da es ja nur eine Negation, ein Mangel an Kraft ist, werden Sie vorläufig zurücknehmen, nicht wahr? Was Sie aber schwerlich errathen, wenn Sie nicht für diese vortreffliche Ethik ein sehr genaues Gedächtnifs haben, das ist der Beweis des Satzes, dafs die Erkenntnifs des Übels eine inadäquate sey. Also hören Sie! Die Erkenntnifs des Übels ist die Traurigkeit selbst, so fern wir uns deren bewußt sind. Und dieser Satz gesetzt, er könnte jenen begründen worauf beruht er selbst? Die Vorstellung der Traurigkeit ist mit dem Affecte so verbunden, wie die Seele mit dem Leibe, das ist: diese Vorstellung ist von der Vorstellung der Afection des Leibes nur der Ansicht nach (solo coneeptu) verschieden. Es kostet freylich einige Mühe, sich an die Wichtig- keit des Leibes zu rechter Zeit zu besinnen; allein ohne diese kommt man bey Spinoza nicht von der Stelle. Das erhellet recht deutlich aus einer Äufserung am Ende des dritten Buches, die ich der Genauigkeit wegen lateinisch hersetzen werde.

Cum dixerim, mentis cogitandi potentiam augeri vel minui, nihil aliua intelligere volui, quam: quod mens ideam sui corporis vel [107] alieuius eius partis formaverit, quae plus minus ve realitatis exprimit, quam de suo corpore affirmaverat. Kam idearum praestantia et actualis cogitandi potentia ex obiecti praestantia aestimatur.

Hier mufs ich doch wohl anhalten. Die kecken Behauptungen würden uns sonst betäuben; man braucht wenigstens Zeit, um sich ihrer zu erwehren. Vor allen Dingen muis man es nicht machen, wie Die- jenigen, die beym Lesen des Spinoza ihre eigenen Religions- Vorstellungen hineintragen, und Andre, welche dergleichen nicht darin finden, mit Vor- würfen des Misverstehens belegen. Es klingt freylich vortrefflich, summum mentis bonum est Dei cognitio, und was dazu gehört, summum bonum

* Tractat. polit. cap. II. § 4. Herbart's Werke. X. '/

jeR VIII. Zur Lehre von der Frevheit des menschlichen Willens. 183b. o ,

eorum, qui virtutem sectantur, omnibus commune est, eoque omnes aeque gaudere possunt. Aber man darf dabey nicht jenen Deus sive natura vergessen, der nicht einmal eine vergötterte Natur zu heifsen verdient, sondern eine nackte Naturnotwendigkeit, welcher ihre absichtliche und kunstvolle Zweckmäfsigkeit durch leere Machtsprüche war abgeleugnet worden. Man sollte im Gedächtnils behalten, dafs vom bonum nur als vom Correlat des malum gesprochen, und eins wie das andre als Resultat der Unfreyheit angesehen wird. Tiefer unten wird [108] sich Gelegen- heit finden, hievon Gebrauch zu machen. Man sollte aufmerken auf ein so wildes Durcheinanderwerfen von Begriffen, wie jenes, wo in Einem Zuge erst von Annäherung an das Vorbild der menschlichen Natur, dann vom Nützlichen, dann vom Affect der Freude, die Bestimmung des Guten hergenommen wird. Ist die Annäherung an das allgemeine Bild der menschlichen Natur nützlich? geschieht sie im Affect der Freude? Meinen etwa Diejenigen, die nach Vortheilen oder nach Geniefsungen streben, sie wären noch nicht menschenähnlich genug? Oder die Andern, denen ein Ideal der Menschheit vorschwebt, sind sie es etwa, die dem Nutzen und der Freude nachjagen? Oder endlich mufs man es noch sagen, dafs eine der stärksten Verschiedenheiten der Charaktere sich zeigt, wo die kalte Berechnung des Nutzens, und wo die Sucht zu geniefsen vorherrscht ?

Vom bonum et malum, das heilst, vom Guten und Übeln, haben wir im Vorstehenden einige bunt durch einander hingeworfene Sätze ge- funden. Wo bleibt nun der gute und böse Wille? Was von jenem Allen läfst sich darauf auch nur entfernt deuten? Der erste Blick auf die ausgehobenen Stellen zeigt, dafs dieser Grundbegriff der Ethik, in einen solchen Zusammenhang gar [109] nicht pafst. Daher ist die Ethik des Spinoza offen gesagt: unter der Kritik. Denn wo man kritisiren soll, da mufs der angekündigte Gegenstand irgend wie fehlerhaft behandelt seyn; wie es etwa beym Aristoteles, bey Fichte, zum Theil bey Kant der Fall ist; der Auetor mufs aber doch den Hauptgegenstand nicht gänzlich ausgelassen haben, als ob es ihm am Organ der Auffassung ge- fehlt hätte. Spinozas Ethik ist aber ein Gerede des Blinden von der Farbe. Von dem sittlichen Bedürfnisse, wodurch Kant zu seiner Frey- heitslehre getrieben wurde, möchte schwerlich eine Spur in seinen Schriften zu finden seyn. Nicht etwa nur ausgelassen hat er den Begriff des Guten und Bösen, sondern ihn so vollkommen aus den Augen gerückt, dafs selbst der Weg nicht mehr zu finden ist, wie man dahin gelangen könne. Das zeigt das Buch nicht blofs in einzelnen Sätzen, sondern im ganzen Umrisse. Die Affecten sind hier in die Mitte gestellt; de Servitute hu- mana seu de affectuum viribus, heifst die Überschrift des vierten Theils, welchem die Beschreibung der Affecten im dritten vorangeht, der Gegen- satz der sogenannten libertas humana nachfolgt. Sind denn die Affecten an sich das Böse? Giebt es keine kalte und besonnene Bosheit, giebt es keine gemeine Träg-[i io]heit? Giebt es kein Gutes an sich? Was suchten denn Platon und Kant? Wovon ist in den vorstehenden Briefen ge- sprochen worden? Haben wir vorhin geträumt? Oder hätten wir etwa vom Anfang an gegen die Affecten allerley Mittel zur Befreyung vor- kehren oder aufsuchen sollen; etwan wie man gegen das Fieber die China

Fünfter Brief. 2 SO

verordnet oder das Chinin bereitet? Die Affecten mögen wohl eine Plage, eine lästige Krankheit seyn, aber eine Plage, und wenn es die Cholera wäre, ist noch nicht das Böse.

Doch gesetzt, eine Rede gegen die Affecten verdiene den Namen einer Ethik: was enthält denn die Rede des Spinoza? Tadelt er die Affecten? Oder weifs er etwa wirklich eine Art von Fiebermittel dagegen?

Er rühmt sich ganz ausdrücklich, dafs er die menschlichen Fehler more geometrico behandeln wolle. (In der Einleitung zum dritten Theile.) Wahrlich und in vollem Ernste, ein grofser Ruhm für den Psycho- logen; nur ja nicht für den Moralisten. Der rein theoretischen Wissen- schaft — nicht der praktischen, geziemt es, sich so vernehmen zu lassen:

Affectus in se considerati ex eadem naturae necessitate et viriute consequuntur, ac reliqua singularia; ac proinde certas causas agnos-[iii] cunt, per quas intelliguntur, certasque proprietates habent, cognitione nostra aeque dignas, ac proprietates cuiuscunque alterius rei, cuius sola contem- platione delectamur.

Nun wohl ! Wenn ihm die Betrachtung der Affecten Vergnügen macht, wir wollen es ihm gönnen. Gestattet man doch dem entfernten Zu- schauer, eine Feuersbrunst als ein prachtvolles Schauspiel zu preisen, nämlich zvemi er nicht helfen kann; wundert man sich doch nicht, wenn er dabey die Macht und Stärke des Feuers, und die Notwendigkeit, welcher nachgebend das brennende Gebäude nun zusammenstürzen mufs, in Überlegung zieht.

Spinoza begnügt sich jedoch nicht mit solcher Contemplation. Er weifs auch etwas von Mitteln zur Bändigung der Affecten.

Was denn weifs er? Hat er etwas vernommen von der Reinigung der Affecten, deren Aristoteles bey der Tragödie gedenkt? Oder kennt er eine zweckmäfsige Lebensordnung durch Wechsel der Beschäftigungen, des geselligen Umgangs, der Familienfreuden? Oder schwebt ihm ein platonischer Staat, eine Gemeinschaft höherer Wesen vor? Oder besitzt er Machtsprüche der Selbstbeherrschung nach Art der Stoiker?

So weit meine Augen in dieser von mir oft [112] durchsuchten Ethik gereicht haben, finde ich nur Keckheit und Verzagtheit.

Erstlich Keckheit. Denn nichts anderes ist es, wenn er behauptet: affectus, qui passio est, desinit esse passio, simul atque eius claram et distinctam formamus ideam ; und, um hievon die Wirksamkeit zu zeigen, den Satz vorausschickt: prout cogitationes, rerumque ideae ordinantur et concatenantur in mente, ita corporis aftectiones, sive rerum imagines ad amussim ordinantur et concatenantur in corpore.* Diese rerum imagines sind eine lächerliche Hypothese.

Zweytens Verzagtheit. Dahin gehört schon der Satz: affectus nee coerceri nee tolli potest, nisi per affectum contrarium et fortiorem affectu coercendo.** Dafs es ihm damit Ernst ist, sieht man an einer andern Stelle. wo er sagt: unusquisque ab inferendo damno abstinet timore maioris damni. Hac igitur lege societas firmari poterit, si modo ipsa sibi vindicet ius, quod

* Spin oz ae cth. V, 1. 3. ** ibid. IV, 7.

i7

2 6o VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

unusquisque habet de bono et malo iudicandi ; quaeque adeo potestatem habeat [XI3] legesj ferendi, easque non ratione, quae affcctus coercere uequii, sed minis firmandi.*

Non ratione sed minis! Das ist der wahre Determinismus; voraus- gesetzt, dafs man nicht leere Drohungen ausstofse, sondern wirklich die Macht das heifst nach Spinoza das Recht und die Tugend beydes zu- gleich, — in Händen habe.

Aber das heifst dennoch verzagen, nämlich an dem, was für den sittlichen Menschen allein Interesse hat, an der Macht der Gründe. Indem wir es nun Verzagtheit des Spinoza nennen, dafs er sich auf die Wirksamkeit der Gründe nicht stützt: lassen wir ihm diejenige Gerechtigkeit widerfahren, die ihm gebührt. Allerdings legt er auf das intelligere den höchsten Werth; er wünscht, es möchte siegen über die inadäquaten Vorstellungen; ihm liegt nicht am Despotismus durch die physische Überlegenheit. Er wufste und fühlte ohne Zweifel, dafs in seiner eignen Person das Denken und die Ausdehnung nicht parallel fortgebildet waren; es konnte ihm auch nicht entgehen, dafs es um ihn andre Menschen gab, bey denen sich der vorgebliche Paralle-[ ii 4]lismus durch Abweichungen von umgekehrter Art verletzt fand; bey ihm überwog das Denken, bey den Andern die physische Macht. Diese Andern nun verzagten nicht an der Macht der Gründe, denn sie hatten nie begehrt, dafs Gründe herrschen sollten, wo ihnen die physische Macht zu Gebote stand, und für ihre Zwecke ausreichte. Nur für den Denker heifst das Verzagen, wenn er meint, am Ende müsse doch im Kleinen der Stock, im grofsen das Schwerdt die Entscheidung geben. Aber an der Macht seiner Gründe mufste er wohl verzagen. Denn mit der Veredlung seiner in der Jugend angewöhnten Vorstellun- gen vom Jehovadienste war er eben nicht weiter gekommen, als bis zu der Annahme einer unendlichen Substanz, die, wenn sie nicht eine res extensa wäre, auch nicht eine res cogitans seyn könnte. Darum macht er auch beym Menschen überall den Leib zur Grundlage, und begreift nichts von einer geistigen Energie, die vom Leibe zwar unterstützt oder gestört, doch ihren eigenen Gesetzen folgt. Wir wollen uns hier nur mit einem kurzen Worte daran erinnern, dafs die Betrachtung der Materie als Erscheinung, die uns seit Kant geläufig geworden ist, zu Spinozas Zeiten noch zu ungeläufig war, um wesentlichen Einflufs auf die wissen- [11 5] schaftlichen und insbesondere auf die moralischen Ansichten aus- zuüben.

Soll ich diesen Brief noch verlängern? Spinoza pafst nicht zu Ihnen und zu mir; stünde er allein, wir würden ihn gemieden haben. T Allein wir treffen ihn in guter Gesellschaft; das verändert die Sache. Hätte er zu uns auch nur die drey Worte gesprochen: omnia quae honeste cupimus, ad haec tria potissimum referuntur, nempe: res per primas suas causas intelligere; passiones domare, sive virtutis habitum acquirere; et deni- que secure, et sano corpore vivere : * so würden wir ihm unsre Zweifel ge- äufsert haben, ob das honestum auf diese Weise zu fassen sey; da schwer-

* Spinpzae eth. IV, 37. Schol. 2. ** Spinozae tractat. theol. polit. cap. 3.

Sechster Brief. 26 1

lieh Platon hierin seine wahre Meinung wieder erkennen dürfte. Hätte er uns nun geweissagt, Lessing und Göthe würden dereinst seine Gönner werden, so würden wir geantwortet haben, Platon möge wohl einigen Grund gehabt haben, die Dichter aus seiner Republik zu verweisen. Hätte er aber alsdann sich darauf berufen, dafs Jakobi ihn mit grofsem Respect behandeln, Schleiermacher gar ihn mit Platon in nähere Verbindung bringen werde: was hätten wir dann gesagt? Etwa gerade-[l l6]zu: dabey müsse eine der seltsamsten Verblendungen eines vielfach verblen- deten Zeitalters zum Grunde liegen ? Lassen Sie uns das näher über- legen! Einstweilen, damit uns nicht die Besorgnifs anwandle, als seyen wir beyden Individuen, Sie und ich, gegen Spinoza einer grillenhaften Anthipathie unterworfen, führe ich Ihnen Stäudlins Worte an:

„Es wird doch wohl aus dem bisher Angeführten klar seyn, dafs

Spinoza alle sittlichen Ideen, Urtheile, und Gefühle des Menschen

verwirrt, verkehrt, verdreht und verfälscht, und zwar auf eine Art,

welche dem innersten moralischen Bewufstseyn widerspricht und es

empört."*

Das Buch ist vom Jahre 1822, und von einem Theologen. Etwa zehn

Jahre früher machte ein Jurist seine Meinung über Spinoza in ähnlicher

Art kenntlich: Henrici, in seinen Ideen zur Rechtslehre, führt jenen

unter folgender Überschrift auf:

„Positiv kühne Aufhebung aller sittlichen Realität; aus den Gesetzen der materialen Menschen-Natur. Recht der Stärke. Determinirter Antimoralism." [117] So schlimm finde ich den Spinoza nicht; ich finde nur einen Menschen in ihm, der mit seinem quatenus, seinem nihil aliud quam (den Redeformeln, die er bis zum höchsten Überdrusse widerholt), seinen durch einander geworfenen Definitionen, Axiomen, Propositionen, sogenannten De- monstrationen, Schohen, u. s. w. alles schon zu wissen meint, ehe er von irgend einem Gegenstande der Untersuchung auch nur soviel begriffen hat, dafs, um zu demselben zu gelangen, eine Untersuchung nöthig ist. Und davon kann man viel auf Rechnung seiner Lage und seines Zeit- alters schreiben. Für ihn giebts Entschuldigung genug; nur Schade, sie pafst nicht auf die, welche ihn erneuerten.

Sechster Brief.

[118] Wenn wir von Jakobi anfangen zu sprechen, so ist wohl nicht die Frage, was er sich aus Spinoza gemacht habe, für uns die wichtigste; sondern es liegt uns näher, zu fragen, was die Ficyhcit ihm, ihrem eifrigen Verehrer und Verfechter, gewesen ist.

Das Wesen der Freyheit besteht, nach ihm, in der Unabhängigkeit des Willens von der Begierde.**

* Stäudlin Geschichte der Moralphilosophie S. 772. ** Jakobis Werke IV, 1. S. 27.

2 6 2 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

Wollen wir ihm das zugeben? ich denke, ja! Denn die Bedenk- lichkeit würde erst anfangen, wenn er eine absolute und ursprüngliche Unabhängigkeit behauptete.

Nun spricht er zwar unmittelbar vorher von einer absoluten Selbst- tätigkeit, aber dort noch [119] nicht von einer absoluten Unabhängigkeit; sondern die reine Selbsttätigkeit soll nur zum Grunde liegen, weil eine blofs vermittelte Handlung ein Unding seyn würde, während er übrigens meint, dafs jedes endliche Ding sich in seinem Daseyn, folglich auch in seinem Thun und Leiden auf andere endliche Dinge nothwendig stütze und beziehe.

Die Hauptfrage: ob er mit uns gemeinschaftlich von der moralischen Freyheit rede : kann gar nicht zweifelhaft seyn. Einzelne Stellen in dieser Hinsicht anzuführen ist nicht nöthig. Er erwähnt der Stoiker, die zwischen Dingen der Begierde und Dingen der Ehre keine Vergleichung zuliefsen; er sieht ganz richtig ein, dafs die unbedingten Urtheile über das honestum keine theoretischen seyn können ; dafs ihnen solche Schlüsse, wie : A =■ B, und B = C, folglich A = C, nicht zum Grunde liegen ; und dafs sie doch als Thatsachen vorhanden sind.

Sind wir denn nun mit ihm einverstanden? Vielleicht wir eher mit ihm, als er mit uns. Zuerst aber kann man fragen, ob er mit sich selbst einverstanden sey? Wo nicht: so wäre das eben nichts Ungewöhn- liches. Oft genug kommt es vor, dals Diejenigen, welche sich auf Theorie einlassen, wofern sie dieselbe nicht mit vester Hand [120] durchzuführen vermögen, nun mit absoluten Foderungen drein schlagen, und die Theorie wie ein Spinnengewebe behandeln; was man zwar leicht zerreifst, wovon aber etwas hängen bleibt!

Jakobi redet ein wenig weiterhin von einer „innerlichen Allmacht des Willens"; und doch hatte er zuvor eine „Unterwerfung aller und je- der einzelner Wesen unter mechanische Gesetze" anerkannt. Er fragt: wer will den Namen haben, dafs, er nicht allen Versuchungen zu einer schändlichen Handlung jederzeit widerstehen könne? und hat doch vermuthlich mit aller Welt gebetet: führe uns nicht in Versuchung! Frey- lich vergessen gar Viele, dafs alle religiöse Demuth auf der Stelle auf- hören mufs, sobald die Einbildung jenes absoluten Könnens allgemein wird. Oder meint man, es dürfe noch von schweren Pflichten die Rede seyn neben einem allmächtigen moralischen Willen? Was ist denn schwer für die Allmacht? Wo ist eine endliche Gröfse, die neben einer unend- lichen nicht verschwände?

Das seltsamste bey ihm wie bey vielen Andern ist die Anstrengung, die sie anwenden, um die Lehre von der Freyheit zu behaupten ; und ^sich selbst, trotz aller Gegengründe, die sie kennen, davon zu überreden. Kostet es schon soviel Mühe, den blofsen Glauben daran vestzuhalten, wie [121] viel mehr mag dazu gehören, dieselbe Lehre in praxi zu bethätigen! Und doch sollte ein allmächtiger Wille vor allem die Wirkung thun, dafs jeder Zweifel an seiner Existenz verschwände.

Jakobi hatte einen Mangel an moralischer Gesinnung in manchen Männern von ausgezeichnetem Geiste bemerkt, wo die Gesinnung mit den Meinungen zusammenhing, dergestalt dafs sie von der Seite der Meinung schon wegen der Leichtigkeit, schädliche Meinungen zu verbreiten, mufste

Sechster Brief. 26-

augegriffen werden. Nun waren irreligiöse Meinungen mit vorzüglicher Menschenkenntnils in Verbindung getreten ; daraus pflegt sich eine Art von Determinismus zu erzeugen, der in der Wissenschaft zu nichts zu brauchen ist, dem man aber doch etwa mit Hülfe einiger spinozistischer Reminiscenzen , ein gelehrtes Ansehen geben kann; so dafs er fähig scheint zu streiten und bestritten zu werden. Gesetzt, ein solcher Streit geschehe wirklich, was streitet denn da eigentlich ? eine strengere moralische Gesinnung mit einer weniger strengen. Worüber streitet man denn? Etwa über den höchsten Erkenntnifsjrrund der Tuß-end und Pflichten :

CO 1

oder über die wissenschaftliche Anordnung und Ausführung der sittlichen Begriffe? Nein! davon braucht man auf beyden Seiten nicht viel zu ver- stehen. Man streitet über die [122] menschliche Natur; die schon den Epikuräern und Stoikern den Boden ihrer Lehren darbieten sollte, aber nicht konnte, indem beyde Partheyen sich ungefähr mit gleichem Erfolge auf sie beriefen.* Die menschliche Natur mufs ja wohl der Menschen- kenner am richtigsten beurtheilen ! Nein, spricht der Gegner, der Mensch ist frey. Eigentlich will er etwas anderes sagen, nämlich dies: Du hast zwar die Menschen aufser Dir, in den Handlungen, wodurch sie ihre moralische Schwäche und Verkehrtheit zeigen, vielfach beobachtet; den Widerstand ihrer innern Schaam aber konntest Du nicht beobachten, denn man sieht es den schlechten Handlungen nicht an, mit welchem innern Widerstreben sie vollzogen werden. Dies konntest Du nur in Dir selbst wahrnehmen. Beginne denn von jetzt an, dein geistiges Auge mehr als bisher nach innen zu wenden. Zwar wirst Du, hiedurch allein, Dich nicht völlig umschaffen, aber eine grofse und wesentliche Veränderung dennoch bemerken. Eine andre Art von Wirkung: und Geeenwirkunsr. wird in Dir entstehen; das Bessere in Dir wird mehr Kraft bekommen, schon blofs dadurch, dafs Du eine schärfere Reflexion darauf wendest. Verbinde [123] damit eine veränderte Wahl deiner Beschäftigungen und deiner Gesellschaft: so wird eine Reihe von innern Thatsachen, zu Deiner Wahrnehmung gelangen, wodurch die Unvollständigkeit Deiner bisherigen Menschenkenntnifs wird bewiesen seyn.

Spräche man so zu dem Menschenkenner: was möchte er wohl ant- worten? vermuthlich etwa folgendes: das Alles weifs ich längst. Aber (würde er fortfahren, wenn er aufrichtig seyn wollte,) ich weifs auch, dafs man durch solche Reflexion auf sich selbst sich das Leben schwer macht, und sich absondert von den Menschen, mit denen man leben will; und dazu habe ich nicht Lust.

Diese Antwort hatte ohne Zweifel Jakobi im Voraus errathen ; diese moralische Unfreyheit des: Nicht- Lust-haben, hatte er erkannt; und er wufste wohl, dafs hierin keine allgemeine Beschaffenheit der menschlichen Natur liegt, sondern nur eine weit verbreitete Schlechtigkeit der Indivi- duen. Er streitet also für die Freyheit, als für das Gegentheil der un- sittlichen Gesinnung.

Kann denn dabey etwas Wissenschaftliches ausgemacht werden? Wenn wir von der Freyheit reden, so setzen wir die moralischen Fode-

* Cicero de finibus mag hier verglichen werden.

2Ö4 VIII. Zur Lehre von der Freyheil des menschlichen Willens. 1836.

rangen als etwas längst Bekanntes und Zugestandenes voraus. Die Frage ist nur: auf welchem Wege es möglich sey, ihnen Genüge zu schaffen, und (124] wie weit man durch blofses Fodern, und durch blofse unmittelbare Reflexion auf sich selbst (die keineswegs bey allen Individuen gleich viel vermag) zu erreichen im Stande sey; und diese Frage ist wichtig nicht um für uns selbst Entschuldigungen zu suchen, die wir, wenn man sie allzugütig uns darböte, verschmähen würden, sondern weil man in An- sehung der Menschen, zu deren Bildung man beytragen soll, sich nicht täuschen darf, wo es darauf ankommt, sie richtig zu behandeln.

Indem nun Jakobi den Streit der Gesinnungen, dem eine theore- tische Gestalt geliehen wird, in Rede und Gegenrede ausführt, behandelt er ihn wie eine Kantische Antinomie, nur mit dem Unterschiede, dafs er selbst ganz entschieden auf einer Seite steht

Zuerst der Satz: der Mensch hat keine Freyheit. Wie beweiset er das?

1.) „Die Möglichkeit des Daseyns aller uns bekannten einzelnen Dinge, stützt und bezieht sich auf das Mitdaseyn anderer einzelner Dinge; und wir sind nicht im Stande uns von einem für sich allein bestehenden endlichen Wesen eine Vorstellung zu machen."

Wären Sie doch hier zugegen, mein theurer Freund! ich habe eine Frage an Sie. Können [125] Sie Sich von dem ersten besten Stück Stein, als von einem für sich allein bestehenden endlichen Wesen eine Vorstellung machen, oder nicht? Was mich anlangt, so kann ich es ohne die geringste Mühe. Vielleicht deshalb, weil ich überall nicht ge- wohnt bin, den Dingen, die nun einmal da sind, ihre eigne Möglichkeit, als ob die auch Etwas wäre, voraus zu schicken ; (worüber, als über den allgemeinsten Fehler der alten Metaphysik, im ersten Bande meiner Meta- physik Manches zu sagen war.) Vielleicht auch deshalb, weil ich noch überdies nicht gewohnt bin, die Gränzen eines endlichen Dinges als etwas Positives anzusehen, welches ein Prädicat des Dinges selbst wäre. Um- gekehrt, die Gränzen, welche mir in meiner Auffassung und Zusammen- fassung dessen entstehen, was einander begränzt, sehe ich lediglich als Prädicate meiner Vorstellung von den Dingen an, da ich weifs, welche Verwirrung in jeder theoretischen Untersuchung sogleich überhand nimmt, sobald man sich nicht besinnt, welche Prädicate dem Dinge, welche da- gegen der Vorstellung des Dinges zugeschrieben werden.

Aber aus Spinozas Ethik kenne ich wohl den 2 8sten Satz des ersten Buchs, wo die endlichen Dinge alle in einer unendlichen Reihe liegen, [126] und solchergestalt einander in ihre Gränzen einschliefsen ; welches der dortigen unendlichen Substanz freylich sehr fremdartig ist, und auf keine blofse Vorstellung des Zuschauers kann zurückgeführt werden. Es entsteht mir daraus der Verdacht: Jakobi möge es eben so gemacht haben, wie Fichte in seiner Bestimmung des Menschen, wo die spinozistische Weisheit, als ob sie der wahre Realismus wäre, zum Grunde gelegt wird, um für den Idealismus den Platz des vermeintlich widerlegten Realismus zu gewinnen.

2.) „Die Resultate der mannigfaltigen Beziehungen der Existenz auf Coexistenz drücken sich in lebendigen Naturen durch Empfindungen aus."-

Sechster Brief. 26 ;

3.) „Das innere mechanische Verhalten einer lebendigen Natur nach Maafsgabe ihrer Empfindungen heilsen wir Begierde oder Abscheu; oder: das empfundene Verhältnifs der innerlichen Bedingungen des Daseyns und Bestehens einer lebendigen Natur zu den äufserlichen Bedingungen eben dieses Daseyns, oder auch nur das empfundene Verhältnifs der innerlichen Bedingungen unter einander, ist mechanisch verknüpft mit einer Bewegung, die wir Begierde oder Abscheu nennen."

Also aus den Empfindungen resultiren die Begierden? und zwar un- vermeidlich ? denn etwas Anderes kann das Wort mechanisch hier nicht [127] wohl bedeuten! Hiemit ist das folgende zu vergleichen:

4.) „Was allen verschiedenen Begierden einer lebendigen Natur zum Grunde liegt, nennen wir ihren ursprünglichen natürlichen Trieb, und er macht das Wesen selbst dieses Dinges aus. Sein Geschäft ist, das Ver- mögen da zu sein der besondern Natur, deren Trieb er ist, zu erhalten und zu vergröfsern.u

Dieser Fortschritt ist entweder unklar, oder er mufs aus dem Spinozismus erklärt werden. Unklar ist, dafs noch irgend etwas den Be- gierden zum Grunde gelegt wird, nachdem ihnen die Empfindungen (nach 3) schon zum Grunde liegen. Unklar, dafs den verschiedenen Begierden Einerley zum Grunde liegen soll; unklar, dafs ein Wesen, welches einmal da ist, noch einen Trieb haben soll, der in die Zukunft geht, und dafs doch eigentlich dieser Trieb das Wesen selber seyn oder es ausmachen soll. Wie? die lebendige Natur, diese schon daseyende, besteht in dem Gehen in die Zukunft? Dafs man oft genug so geredet hat, wissen wir; ob man etwas dabey gedacht hat, ist die Frage. Was eine lebendige Natur bedeute, läfst sich nicht in der Kürze sagen ; allein was in irgend einem möglichen Sinne künftig heifst, das ist noch nicht; [128] und diese Negation pafst in keinem möglichen Sinne zu dem was ist, wenn nämlich von dem Wesen eines realen Dinges gesprochen wird.

Aber freylich wenn dem Daseyn ein Vermögen da zu seyn vorausgeschickt wird : dann ist der Spinozismus genau in der nämlichen Gestalt hier zu erkennen, deren ich in der Metaphysik schon erwähnte ; welcher gemäfs im Anfangspuncte eine blofse Möglichkeit des Endpuncts, in der Mitte ein blofser Übergang, und am Ende der blolse Schein der Realität gesetzt wird.* Auch dringt sich die Erinnerung an ein paar ähnlich lautende Sätze des Spinoza auf. Unaquaeque res, quantum in se est, in suo Esse perseverare cona- tur. Hie conatus nihil est praeter ipsius rei actualem essentiam. Idem conatus nulluni tempus finitum, sed indefinitum involvit.

5.) „Diesen ursprünglichen Trieb könnte man die Begierde a priori nennen. Die Menge der einzelnen Begierden sind von dieser unver- änderlichen allgemeinen nur so viele gelegentliche Anwendungen und Modificationen."

Eine Parallelstelle zu diesem Satze findet man in dem neunten unter den berühmten 44 Para-[i2g]graphen, welche die Lehre des Spinoza in gröfster Präcision darstellen sollen. Man lieset dort:

Metaphysik § 55. [Bd. VII vorl. Ausg.]

266 YI1I. Zur Lehre von der Freyhcit des menschlichen Willens. 1836.

„Nehmen wir von den sogenannten vier Elementen an, dafs alle Weisen der Ausdehnung auf sie zurückgeführt werden können. Nun liefse sich die Ausdehnung im Wasser gedenken, ohne dafs sie Feuer, im Feuer, ohne dafs sie Erde, in der Erde, ohne dafs sie Luft wäre, u. s. w. Keine dieser Weisen aber wäre für sich, ohne die körper- liche Ausdehnung vorauszusetzen, gedenkbar, und sie wäre demnach in jedem dieser Elemente, der Natur nach, das erste, das eigentliche Reale, das Substantielle, die natura naturans. Da haben wir zwar nicht einen Weg um zu beweisen, dafs der Mensch keine Freyheit habe: aber etwas Anderes nicht unbedeuten- des, nämlich eine Manier, den Spinozismus in die Verbindung mit Pla- tonischen Ideen zu bringen. Denn es liegt am Tage, dafs, während wir Andern die körperliche Ausdehnung weder nach Kantischer noch Spino- zistischer Art voraussetzen, hier das unnöthig Vorausgesetzte sogar für das natürliche Vordere, Erste, Substantielle erklärt wird; warum? weil es nach logischer Weise darauf wartet, entweder als Feuer oder Wasser oder Luft oder Erde bestimmt zu werden. [Unpassend hat hier Jakobi [130] eine Stelle von Leibnitzen angeführt, nach welcher das logische Verhältnifs der Gattung zur Art solle bey Seite gesetzt werden; eben so unpassend wird dagegen das Verhältnifs des Unbegränzten zum herausgehobenen Begränzten zu Hülfe genommen; denn die Merkmale der Elemente können nicht aus der vorausgesetzten Ausdehnung herausgehoben, son- dern sie müssen geradezu durch logische Determination hineingelegt werden; und es ist hier ganz bestimmt das Platonische {iitv/hv oder y.oivMvuv vorhanden.]

Nur durch Nachahmung dieser Manier ist geschehen, dafs Jakobi von einer Begierde a priori den ganz grundlosen und durch Nichts auch nur leidlich veranlafsten, Gedanken herbeyführte. Er hatte schon Empfindungen; aus diesen sollten die Begierden resultiren. Nichts be- rechtigte ihn, diesen eine neue Grundlage unterzuschieben. Lediglich die Analogie verleitet ihn zu meinen, es würde feiner lauten, wenn man die vielen Begierden als Modifikationen einer allgemeinen darstellte. Ob er sich wohl, gemäfs der Analogie mit den einzelnen modis der Ausdehnung und des Denkens, das zum Grunde liegende Attribut, also hier: die Be- gierde a priori, als unendlich gedacht hat?

Jedenfalls geht er dem Zuge, in den er ein-[i3i]mal gerathen ist, nämlich vom Besondern zur Voraussetzung des Allgemeinen, weiter nach ; wie sogleich offenbar seyn wird.

6.) „Schlechterdings a priori könnte man eine Begierde nennen, welche jedem einzelnen Wesen ohne Unterschied der Gattung, der Art, und des Geschlechts zugeschrieben würde, in sofern alle auf gleiche Weise bemüht sind, sich überhaupt im Daseyn zu erhalten."

Damit wir bald erfahren, wohin das zielt, und wie damit die Un- freyheit zusammen hängt, ziehe ich das Folgende kurz zusammen.

Die Begierde a priori hat Gesetze a priori. Der ursprüngliche Trieb des vernünftigen Wesens strebt, das persönliche Daseyn zu erhalten und zu vergröfsern, d. h. das Bewufstseyn, was das Wesen von seiner Identität hat, dem Grade nach zu erhöhen. Dieser Trieb heifst der Wille; das

Sechster Brief. 267

Gesetz desselben ist, nach Begriffen der Übereinstimmung und des Zu- sammenhangs, d. h. nach Grundsätzen zu handeln.

Sollte wohl irgend ein Determinist, der auf Menschenkenntnifs fufst, zu einem "Willen, zu einem Gesetze desselben, und sogar zu Grundsätzen so leicht und so schnell gelangt seyn, wenn er seine Meinung von den Menschen wie sie sind, theo-[i32]retisch auszudrücken suchte? Finden wir etwa, dafs die Mehrzahl der Menschen Grundsätze hat oder auch nur (mehr als von Hörensagen) kennt? finden wir, dafs in ihnen die Gleichförmigkeit eines gesetzmäfsigen Verfahrens über den Kreis des Angewöhnten und täglich Wiederkehrenden hinausreicht? Ist es wahr, dafs bey Menschen, die nach Umständen und Aufregungen bald so bald anders wollen, überhaupt vom Willen im singulari zu reden die Erfahrung uns berechtigt? Angenommen, jener Trieb, von welchem, die einzelnen Begierden nur Modificationen seyn sollten, wäre mehr als ein Hirn- gespinnst: dann freylich käme es nicht auf Erfahrung, nicht auf Menschen- kenntnifs an; dann aber müfste auch die Erfahrung nicht Inconsequenz in die Theorie hineintragen. Es müfste nun dabey seyn Bewenden haben, dafs der Trieb, wie er einmal wäre, sich äufserte, nach strenger Regel, weil er nicht anders könnte, indem er ein solcher und kein andrer wäre; ein Abweichen von Grundsätzen müfste nie vorkommen, denn von Naturgesetzen giebt es keine Ausnahmen; unvernünftige Begierden noch neben der vernünftigen Begierde, welche vorgeblich den Grad der Per- sonalität erhöhen soll, wären schlechthin ausgeschlossen, da ja, laut obiger Versicherung, die Menge der einzelnen Be-[i33]gierden „nur gelegentliche Anwendung der unveränderlichen allgemeinen ist."

Aber, wie von einer bekannten Sache, spricht Jakobi weiter: „So oft das vernünftige Wesen nicht in Übereinstimmung mit seinen Grund- sätzen handelt, so handelt es nicht nach seinem Willen, sondern nach einer unvernünftigen Begierde.'' Die Consequenz kümmert ihn gar nicht; er ist auf einmal mitten in der täglichen Erfahrung. Die Frage, wann, wie, warum es wohl geschehe, dafs durch unvernünftige Begierde „die Quantität des lebendigen Daseyns vermindert" werde, lag doch nahe genug, aber wenn er einmal sich darauf nicht einliefs, so war doch zum allermindesten die Vermindetung des lebendigen Daseyns eine Negation dieses Daseyns und diese Negation kann nicht in dem dadurch verminderten Dasevn selbst liegen! Auch das überlegt er nicht, oder scheint es nicht zu überlegen, sondern fährt dreist fort:

„Derjenige Grad des lebendigen Daseyns, welcher die Person hervor- bringt, ist nur eine Art und Weise des lebendigen Daseyns über- haupt; und nicht ein eignes besonderes Dasevn oder Wesen. Deswegen rechnet sich die Person nicht allein diejenigen Handlungen welche nach Grundsätzen in ihr erfolgen, sondern auch [134] diejenigen zu, welche die Wirkungen unvernünftiger Begierden und blinder Neigung sind." Aon welchem lebendigen Dasevn ist denn das zu verstehen, dafs „ein Grad desselben die Person hervorbringt"? Ist etwa dabey ein Grad der Wärme zu denken, der ein Gewächs zur Blüthe bringt? Dabey ist Gefahr des fallenden Thermometers, und einer Blüthe, die erfriert. Wie kann ferner der Grad eine Art und Weise seyn, und wovon? Vom lebendigen

->68 VIII. Zur Lehre von der Freyhcit des menschlichen Willens. 1836.

Daseyn überhaupt? Da liegt also wiederum, wie es scheint, ein All- gemeines, welches zugleich substantiel ist, wie vorhin, verborgen ; so dafs von ihm die vernünftige Begierde, die zwar selbst die Grundlage aller einzelnen Begierden ausmacht, nun ihrerseits begründet und getragen wird. In wessen Namen denn redet Jakobi so seltsame Dinge, wenn nicht wieder in Spinozas Namen

Ich weifs nicht, mein theurer Freund, ob Sie jemals den Brief [AKOBIS an Hemsterhtjis mit verweilender Aufmerksamkeit gelesen haben, den wir in dem Buche über Spinoza sowohl französisch als deutsch an- treffen. Darin wird Spinoza als eine dialogische Person eingeführt; der Eingang des Briefes aber enthält eine Lobrede auf ihn, als aui einen Mann vom geradesten Sinn, der freiesten Prüfungsgabe, und einer nicht leicht [135] zu übertreffenden Richtigkeit, Stärke und Tiefe des Verstandes. Noch mehr! es findet sich darin eine Stelle, wo Spinoza die Freyheit des Men- schen für das Wesen des Menschen selbst erklärt ; „das ist, für den Grad seines wirklichen Vermögens, oder die Kraft, womit er das ist, was er ist." Da kommt nun auch ein quatenus vor, welches die Thüre offen hält, damit neben der vorhin sogenannten vernünftigen Begierde noch etwas, und nicht wenig hineinkommen könne, welches die Person fast möchte ich sagen: einfältig genug seyn soll, Sich Selbst zuzurechnen, obgleich es als unvernünftige Begierde, d. h. als etwas Fremdes, Eingedrungenes, Ver- neinendes, sich vollständig genug, und warnend genug, verrathen würde, wofern an dergleichen Verkehrtes überhaupt zu denken wäre. Es heifst nämlich dort: „In so fern er (der Mensch) allein nach den Gesetzen seines Wesens handelt, handelt er mit vollkommener Freyheit." Das- jenige, was durch dies In so fern ausgeschlossen wird, sind bekanntlich die inadäquaten Vorstellungen .

Und nun bitte ich Sie, in meinen vorigen Brief einen Blick zu werfen. Die dort aus Spinozas Ethik ausgehobenen Stellen (vom Streben sich zu erhalten, oder seinen Nutzen zu suchen, [136] als dem Funda- mente aller Tugend, u. s. w.) werden jetzt hinreichend beleuchtet er- scheinen.

Nur noch eine kleine Geduld, und wir werden bey einem „ganzen Systeme der praktischen Vernunft, in so fern es nur über Einem Grund- triebe erbaut ist", anlangen.

„Wenn der Mensch, durch eine unvernünftige Begierde verblendet, seine Grundsätze übertreten hat, so pflegt er nachher, wenn er die Übeln Folgen seiner Handlung empfindet, zu sagen : mir geschieht recht. Da er sich der Identiät seines Wesens bewufst ist, so mufs er sich selbst als den Urheber des unangenehmen Zustandes anschauen, in rdem er sich befindet." „Hätte der Mensch nur Eine Begierde, so würde er gar keinen Begriff von Recht und Unrecht haben. Er hat aber mehrere, die er nicht alle in gleichem Maafse befriedigen kann. Sind nun alle diese nur Modificationen Einer ursprünglichen, so giebt diese das Princip, nach welchem die verschiedenen sich gegen einander ab- wiegen lassen, und wodurch das Verhältnis bestimmbar wird, nach welchem sie, ohne dafs die Person mit sich selbst in Widerspruch und Feindschaft gerathe, befriedigt werden können."

Sechster Brief.

269

[137] Also der Identität seines Wesens ist er sich bewufst, ungeachtet jener Unwahrheit, dafs er auch da nach den Gesetzen seines Wesens handelt, wo er eben nicht danach handelt !

Spinoza selbst lehrt: quicquid necessario sequitur ex idea, quae in Deo est adaequata, non quatenus rnentem unius hominis tantum, sed quatenus aliarum rerum mentes simul cum eiusdem hominis mente in se habet, eius illius hominis mens non est causa adaequata, sed partialis. Ac proinde mens quatenus ideas inadaequatas habet, quae- dam necessarie patitur. So schliefst der Beweis des ersten Satzes im dritten Theile. Mit diesem Misgeschick, dafs die Ideen in der Uni- versal-Substanz anders abgetheilt sind als die menschlichen Seelen, dafs also (trotz der vorgeblichen Untheilbarkeit, * worauf Jakobi ein grofses Gewicht legt) doch eine Seele nur die partiale Ursach ihrer inadäquaten Vorstellungen ist, also nicht das [138] unendliche Wesen in sich fafst: mit diesem Grunde des Leidens vereinigt sich noch ein andrer schlimmer Umstand. Die Theile des Leibes sind in Bewegung; alles dasjenige nun, was verursacht, dafs diese Theile ein abgeändertes Ver- hältnifs ihrer Bewegung und Ruhe gegen einander annehmen, ist ein Übel.**

Möchten Sie, lieber Freund, einmal einen Physiologen oder einen Arzt wegen der Gefahr eines solchen abgeänderten Verhältnisses (der- gleichen ja beym Laufen, Lachen, Schwitzen, Verdauen, vielfältig vor- kommt,) zu Rathe ziehn? Wer weifs, vielleicht finden Sie einen solchen, der aus Liebe zum Spinozismus bey der Frage ernsthaft bleibt. Es ist heut zu Tage keineweges gewifs, dafs man darüber lachen werde! Doch hören Sie weiter! Spinoza selbst kommt bey der Gelegenheit dahinter, dafs zuweilen starke Veränderungen vorgehen, welche die Identität der Person zweifelhaft machen; fit aliquando, ut homo tales patiatur muta- tiones, ut non facile eundem illum esse dixerim. Et quid de infantibus dicemus? quorum naturam homo proveetae aetatis a sua tarn diversam esse credit, ut persuaderi non posset, se unquam infantem [139] fuisse, nisi ex aliis de se coniecturam faceret. Sed (hier bricht er weislich ab!) ne superstitiosis materiem suppeditem movendi novas quaestiones, malo haec in medio relinquere.

Wir wollen für jetzt alle die Ungereimtheit, welche hier bevsammen ist, hingehen lassen. Eins aber mufs gerügt werden. Erst war die Be- gierde ein mechanisches Verhalten ; jetzt hintennach, da schon die eine ur- sprüngliche Begierde sich allerley Unvernünftiges hat aufdringen lassen, soll sie doch noch dazu taugen, dafs nach ihr, als einem Princip, Ord- nung unter den vielen einzelnen Begierden geschafft werden könne! Häno-t das zusammen ? Verschwinden etwa damit die leidigen inadäquaten Vor-

* Der 44ste, letzte Paragraph in Jakobis Darstellung der Sp. Lehre lautet also: Der unendliche Begriff Gottes, da er einzig und untheilbar ist, mufs wie im Ganzen, so auch in jedem Theile sich befinden; oder, der Begriff" eines jeden Körpers, oder einzelnen Dinges, es sey was es wolle, mufs das unendliche Wesen Gottes in sich fassen; vollständig und vollkommen. ** Ethicae pars IV, 39.

270 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

Stellungen, welche nach dem ganzen spinozistischen Systembau unver- meidlich sind? Ko?i?itc das Princip sich halten, so mußte es sich halten; hat es einmal Verletzungen erlitten, so kommt Alles, was man Abwiegen nennen könnte, zu spät; und es bleibt bey .Spinozas Satze: poenitentia virtus non est. Eben deshalb mufs man keine Ethik schreiben, sondern die Sachen gehen lassen wie sie gehen, denn sie gehen immer recht, weil sie gehn wie sie müssen. Schrieb denn aber Spinoza nur darum eine Ethik, weil er mufste? Ohne Zweifel wäre es klüger ge- wesen nicht also zu müssen. Nicht wahr?

[140] Doch jetzt im Ernste: nachdem ich gezeigt habe, dafs dem ganzen ersten Theile der Jakobischen Abhandlung nicht wirkliche Unter- suchung, wie sie dem Gegenstande wäre angemessen gewesen, sondern spinozistische Manier zum Grunde liegt, soll ich noch zeigen, dafs sie in keinem bessern Geiste endigt? Da heifst es: „alle Grundsätze beruhen auf Begierde und Erfahrung!" Ferner: „Aus dem Triebe, die Person zu erhalten, folgt eine Liebe der Person, welche die Liebe des Individui ein- schränkt", — in Folge einer vorgeblichen Abstraction, indem ein vernünf- tiges Wesen als solches vom Andern nicht zu unterscheiden ist ! Nun, nach so vieler Verkehrtheit, wenn der Satz: der Mensch hat keine Freyheit, so schlecht bewiesen ist, wie viel Scharfsinn mufste denn wohl aufgeboten werden, um durch den zweyten Theil der Abhandlung den Gegensatz, jenem gegenüber, vertheidigen zu können? Natürlich sehr wenig. Die sittlichen Gesinnungen brauchten nur als Thatsache hingestellt zu werden ; und neben ihnen eine bessere Liebe, als jene eingebildete, durch Ab- straction (si diis placet) erzeugte. Von Freyheit und Unfreyheit war weiter nicht die Rede, als nur indem auf Begierden, theils vorhandene, theils vorgebliche a priori seyn sollende, das Wort Mechanismus war [141] übertragen, hingegen die sittliche Gesinnung (wie gleich im Anfang des Briefes bemerkt ist), mit gewöhnlicher Übertreibung von der Macht des blolsen Willens beschrieben worden.

Wie aber stellt sich am Ende Jakobi den Streitpunct? Den Gegner läfst er behaupten: „die Fähigkeit und Fertigkeit, wirk- same Grundsätze auszubilden oder praktisch anzunehmen, ist wie die Fähigkeit Vorstellungen zu empfangen; wie das Vermögen diese Vor- stellungen in Begriffe zu verwandeln; wie die Lebhaftigkeit und Energie des Gedankens; wie der Grad des vernünftigen Daseyns. So zeigt der einfache, mit Vernunft verknüpfte Grundtrieb, bis zu seiner höchsten Ent- wicklung hinauf, lauter Mechanismus und keine Freyheit; obgleich ein Schein von Freyheit durch das oft entgegengesetzte Interesse des Individui und der Person, und das abwechselnde Glück einer Herrschaft, worauf die Person allein mit deutlichem Bewufstseyn verknüpfte Ansprüche hat, zuwege gebracht wird."

Er selbst stellt folgendes entgegen: die ursprüngliche Richtung eines jeden Wesens mufs Ausdruck eines göttlichen Willens seyn. Dieser Aus- druck in der Creatur ist ihr ursprüngliches Gesetz, in welchem die Kraft, es zu erfüllen noth-[i42]wendig mit gegeben seyn mufs. Dieses Gesetz, welches die Bedingung des Daseyns des Wesens selbst, sein ursprüng- licher Trieb, sein eigner Wille ist, kann mit den Naturgesetzen, welche

Sechster Brief. 2 7 !■

nur Resultate von Verhältnissen sind, und durchaus auf Vermittelung be- ruhen, nicht verglichen werden. Nun gehört aber jedes einzelne Wesen zur Natur: ist also auch den Naturgesetzen unterworfen, und hat eine doppelte Richtung. Die Richtung auf das Endliche ist der sinnliche Trieb oder das Princip der Begierde; die Richtung auf das Ewige ist der in- tcllectuclle Trieb, das Princip reiner Liebe. Es ist genug, wenn das Da- seyn dieser doppelten Richtung und ihr Verhältnifs durch die That be- wiesen, und von der Vernunft erkannt ist.

Jetzt frage ich: ist das der wahre Streitpunct? Wenn aus dem Vorigen klar hervorging, der Gegner sey Spinoza, so ist der Streitpunct so falsch gestellt als nur irgend möglich. Spinoza würde nicht blofs zu- geben, sondern er selbst behauptet: rerum naturalium potentia, qua existunt et qua operantur, ipsissima Dei est potentia; d. h. der Urtrieb ist nicht blofs Ausdruck des göttlichen Wesens, sondern sogar göttliches Wesen selbst. Soll hier ein Streit seyn, so liegt er in der zum Grunde lie- [1 433 genden Idee der Gottheit. Ferner : gerade die gefoderte Doppelheit der Richtung war vorhin auch dem Gegner, durch die von mir gerügte In- consequenz beygelegt worden, indem außer dem Ursprünge der Begier- den aus den Empfindungen, die aus der Coexistenz hervorgingen, noch eine Begierde a priori eingeschoben wurde, die nichts anders ist als der conatus sese conservandi, welcher nach Spinoza das Positive jedes end- lichen Dinges ausmacht; das suum Esse, womit das suum utile quaerere zusammenhängt. Auch bey Spinoza ist das intelligere die reine Selbst- thätigkeit, deren Richtung verschieden ist von dem inadäquaten Vor- stellen. Nicht also daran ist gelegen, dafs noch ein Trieb mehr, und dafs überhaupt die Richtung doppelt sey; denn Niemand behauptet die einfache Richtung: sondern die Richtung, welche Jakobi fodert, mufste gezeigt werden; sie ist aber gar nichts Triebartiges] sie ist selbst nicht ein- fach, sondern vielfach; dergestalt, wie es die praktischen Ideen anzeigen. Daran fehlte es bey Spinoza; und das hätte Jakobi nachweisen sollen.

Indem ich jetzt zu Schleiermachern übergehe, nämlich in An- sehung der Frage: was er sich aus Spinoza gemacht habe: sehe ich die Unzulänglichkeit dessen, was ich werde sagen können, voraus; [144] der Grund davon wird Ihnen sogleich sichtbar werden, wenn Sie in Schleier- machers Kritik der Sittenlehre auch nur einen Blick werfen wollen; gleich- viel an welcher Stelle. Versuchen Sie doch Selbst, aus dem Garn, was Sie dort finden, irgend einen recht zusammenhängenden Faden heraus- zuziehn ! Sehn Sie nach, ob Sie nicht, wo Sie Einen Gedanken zu fassen hoffen, durch zwey andre gestört werden! Das ist nun vollends schlimm bey einem Schriftsteller, der nicht citiren will, unter dem Vorwande, Jeder müsse die Bücher, welche zu citiren wären, schon genau kennen und solle keiner Citate bedürfen.

Wie nun, wenn der Schriftsteller, der so verfährt, selbst nicht Alles, was zu seinem Vortrage gehört, vollständig im Gedächtnisse hat?

Erinnern Sie Sich zuvörderst an die Stelle, die ich Ihnen am Ende des vorigen Briefes freylich nicht aus der Ethik, sondern aus dem traetatus theologico-politicus anführte : omnia, quae honeste cupimus, ad haec tria potissimum referuntur, nempe : res per primas suas causas in-

272 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

telligere; passiones domare, sive virtutis habitum acquirere; et denique secure, sanoque corpore vivere. Das heifst auf Deutsch: Alle Gut et, im sittlichen Sinne dieses Worts, (denken Sie an das Wort honeste,) [145] zerfallen in drey Hauptklassen \ in der ersten steht das theoretische Wissen; in der zweyten die Befreyung von Affecten ; in der dritten das äufserliche Wohl- seyn wenn auch nicht die voluptas, so doch die indolentia der Epi- kuräer. Dafs die eigentliche Sittlichkeit ganz ausgelassen ist, liegt am Tage. Das Wort virtus kann hier nicht helfen, denn bey Spinoza heifst es: per virtutem et potentiam idem intelligo; hoc est, virtus, quatenus ad hominem refertur, est ipsa, hominis essentia seu natura, quatenus pote- statem habet, quaedam efficiendi, quae per solas ipsius naturae leges possunt intelligi.* Wobei mir Fieschi, der Held des Tages, einfällt; Sie können auch die berühmte Giftmischerin hinzudenken, die sich freute, als sie einmal ihren geliebten Arsenik wieder zu sehen bekam. Wenn einmal jene essentia seu natura bestimmt angenommen wird: wer will dann noch beweisen, die Liebe zum Bösen sey der Natur dieser Menschen fremd gewesen? und darin habe nicht ihre Stärke (potentia) gelegen?

Nun hören Sie Schleiermachern, wie er den Spinoza rühmt; und sehen Sie nach, ob es mit diesem Ruhme factisch seine Richtigkeit hat. [146] „Bey der Art, wie er den Menschen abhängig macht von der Natur, wäre es keinem verzeihlicher gewesen als ihm, die Begünstigungen derselben als etwas Sittliches unter dem Namen der Güter aufzunehmen. Hievon aber entfeint er sich gänzlich durch die Erklärung, dafs alle wahren Güter, der Wirklichkeit nach, allen Weisen, der Natur nach aber allen Menschen müfsten gemein seyn."** Da haben wir das summum bonum omnibus commune, wogegen ich schon im fünften Briefe warnte; weil man nicht jenen deus sive natura vergessen darf, der ohne sittliche Züge der Gegenstand der Erkenntnifs seyn soll, welche Erkenntnifs vorgeblich das höchste Gut ist. Das secure, sanoque corpore vivere hatte Spinoza nicht vergessen, aber Schleiermacher ver- gafs, wie es scheint, dafs der traetatus theologico-politicus zu den ächten Quellen des Spinozismus gehört; und dafs selbst in der Ethik Sätze genug stehen, die denselben Gedanken, nämlich die Abhängigkeit des Geistes vom Leibe, nothwendig herbey führen; dergestalt, dafs die Consequenz, welche jene Verzeihlichkeit begründen soll, [147] sich in die Notwendig- keit für den Leser verwandelt, auch das Ungesagte hinzuzudenken. Oder was denken Sie von dem Satze, der beynahe am Ende der Ethik steht: qui corpus ad plurima aptum habet, is mentem habet, cuius maxima pars est aeterna?*** Wer so Etwas hinschreiben kann, soll der etwa noch dabey sagen, dafs er wirklich und ohne allen Zweifel die Begünstigungen der Natur unter die Güter aufnimmt ? Mufs man etwan auch hier noch wieder an das ius naturae erinnern, was nach der potentia bestimmt wird? Oder ist das ius kein Gut? Übrigens bitte ich hier an den früher angeführten

* Spin. eth. IV, denn. 8.

* Schleiermachers Kritik d. Sitten]. Zweytes Buch, am Ende des ersten Abschnitts.

*** Spin. Ethic. V, 39.

Sechster Brief. 2~]\

Satz zu denken : wenn die Menschen frey geboren würden, dann würden sie den Begriff der Güter und Übel gar nicht haben. Warum? der Weise ist frey, darum hat er keine inadäquate Vorstellungen, folglich keinen Begiiff vom Übel, folglich auch keinen Begriff vom Guten. Denn wie sollte der spinozislischeVJ&SG das kennen, was an sich gut ist? Davon weifs er nichts! Sollte wohl Schleiermacher sich bey der vorhin an- geführten Stelle hieran erinnert haben?

Ein anderer Ruhm des Spinoza soll darin [148J bestehn, dafs er mit dem Worte Tapferkeit (fortitudo) die ganze Tugend bezeichnet.* Sie, lieber Freund, und ich, würden freylich sagen, damit lasse sich noth- dürftig das Drittel des zweyten Fünftels der Tugend bezeichnen; wenn überall die Behauptung: die Tugend sey nur Eine, als richtig verstanden, und eben deshalb als vereinbar mit dem unleugbar Mannigfaltigen in der Tugend, darf vorausgesetzt werden. Doch darüber zuerst ein paar Worte zur Erinnerung!

Erstlich: Die Tugend ist ein Ideal. Als solches ist sie nicht ein Reales. Ihre Einheit wird nicht als etwas Vorhandenes nachgewiesen, sondern gefodert als dasjenige was seyn soll. Gefodert also wird, ein Mannigfaltiges der Ideen solle im wirklichen Menschen zur Einheit des persönlichen Characters zusammen wachsen. Das wird gefodert, noch ohne Frage, wie es geschehen könne.

Zweytens: Das Mannigfaltige, welches ursprünglich, noch ohne Rücksicht auf Untugend, den Begriff der Tugend bestimmt, ist theils Einsicht, theils Wille; und dies beydes umfafst die sämmtlichen praktischen Ideen, nebst allem, [140] was aus ihnen in der Ideenlehre abgeleitet wird.

Drittens: Dies Mannigfaltige soll eine Verbindung eingehn, gleich den Factoren eines Products; aber:

Viertens: Dazu sollen noch eine Menge von mittelbaren Tugenden (Gewöhnungen, Fertigkeiten, u. s. w.) kommen, von denen im plurali zu reden ist, weil sie als Theile einer Summe sich jenem Producte anschliefsen müssen, wenn der Mensch tugendhaft seyn soll, während er, als Mensch, sonst beständig in der Gefahr schlechter Sitten und Gewöhnungen schwebt.

Die Mannigfaltigkeit der praktischen Ideen, ohne die man zwar in der Sittenlehre vieles richtig sehen, und trefflich vortragen, aber nichts an seinem rechten systematischen Orte sehen kann: hat nun Schleier- macher nicht gesehen. Darum rühmt er:

„Die Tugend ist beym Spinoza nur Eine, und untheilbar nicht nur der Wirklichkeit nach, sondern auch für den Gedanken und die Unter- suchung, und kann als ein Mannigfaltiges nicht anders beschrieben werden, als im Gegensatze gegen die Mißverständnisse und Thor- heiten"; u. s. w. Hiedurch soll Spinozas Eintheilung der forti-[i5o]tudo in animositas und generositas geschützt werden gegen den Verdacht als habe er doch wenigstens Einen richtigen Blick in die Sittenlehre gethan. Spinozas Worte sind:

- BLEIERAIACHER a. a. O. Zweytes Buch, am Ende des zweyten Abschnitts. Herbart's Werke. X. l8

74

VIII. Zur Lehre von der Frcvheit des menschlichen Willens. i8?6.

Per animositatem intelligo cupiditatem, qua unusquisque conatur suum Esse ex solo rationis dictamine conservare. Per generositatem autem cupiditatem intelligo, qua unusquisque ex solo rationis dictamine co- natur reliquos homines iuvare et sibi amicitia iungere.* Dafs diese Stelle keinen Ersatz für die bey Spinoza gänzlich verdorbenen Ideen des Rechts und der Billigkeit geben kann, springt in die Augen; aber etwas von der Idee des Wohlwollens könnte man darin suchen, wenn man von der Vornehmthuerey der Grofsmuth absähe. Damit man ja nicht so nachsichtig sey, ja nicht an die verschiedenen Factoren denke, deren Product die Tugend ist: redet Schletermacher also:

„Die Eintheilung ist nur eine verdeutlichende und vertheidigende Maafsregel, um desto auffallender zu zeigen, wie auch nach SPINOZA der Geist ans der Sphäre der Beschattung, ivelche ihn allein zu fesseln [151J scheinen hon nie, in die einer gemeinsamen bestimmten Thätigkeit heraustrit." und bekennt an einer andern Stelle:

„Spinoza stellt den Staat nur als ein Verwahrungs- und Verbesserun gs- mittel auf; worauf er rühmend fortfährt:

dagegen aber auch (wenn man einzelne leicht zu bessernde Irrungen nicht rechnen will) leitet er nichts wahrhaft und vollkommen sittliches von ihm ausschliefsend ab."** Gestatten Sie mir hier wiederum erst eine Zwischenrede aus der praktischen Philosophie.

Die Lehre vom Staate erfodert durchaus, dafs man ihr die voll- ständige Betrachtung der idealen Gesellschaft voranschicke. Den Staat charakterisirt seine Macht. Dabey ist die gewöhnliche Schwäche und Verkehrtheit der Menschen vorausgesetzt; und in so fern erscheint der Staat als ein notwendiges Übel. Hieher gehört Fichtes Wort: der Staat sey dazu da, sich selbst entbehrlich zu machen; woran Schleier- macher an der eben gebrauchten Stelle erinnert. Auf solche Weise be- trachtet, bleibt der Staat von zwey Seiten völlig unbegriffen. Man be- greift weder sein [152] natürliches Daseyn, denn das läfst sich durch das Wort: Übel, nicht erkennen; noch auch seinen positiven sittlichen Werth, welcher auf Demjenigen beruhet, was durch die Macht beschützt wird, nämlich die Gesellschaft.

Hat nun ein Sittenlehrer irgend einiges geistige Vermögen, von der Art, wie es vorausgesetzt werden mufs, wenn einer eine Sittenlehre schreiben soll: so mufs sich dies Vermögen darin zeigen, dafs er sehe -^vas am allerleichtesten zu sehen ist, weil es als das gröfste Sichtbare in die Augen fällt: nämlich die Gesellschaft und ihre sittliche Würde. Daran erkennt man den Platon und den Aristoteles, verschiedenen Werthes zwar, doch beyde als Sittenlehrer.

Wie aber, wenn Schleiermacher bekennt, Spinoza leite nichts wahrhaft sittliches vom Staate ab?

* Spin. Eth. III, 59. Schol.

** Krit. d. S. drittes Buch, gegen Ende des ersten Abschnitts.

Sechster Brief.

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Fast fürchte ich, er thut ihm unrecht. Denn so wenig Spinoza dazu taugte, die sittliche Würde des Staats in treuer Darstellung kennt- lich zu machen, so sieht man ihm doch ein Bemühen an, seine Ver- kehrtheit zu überwinden. Oder findet sich nichts der Art in den politischen Schriften? Freylich scheint Schleiermacher eben so wenig den tractatus politicus (der unvollendet blieb) als den früheren tractatus theologico-[i53]politicus bey seiner Kritik der Sittenlehre zu Rathe ge- zogen zu haben.

Gesetzt aber, es bleibe dabey, dafs Spinoza nichts wahrhaft sitt- liches vom Staate abgeleitet habe, (und mit Consequenz konnte er es freylich nicht,) was folgt dann ? Etwa dies, dafs man dennoch überall den Platon und Spinoza zusammenstellen müsse, als sey dieser, gleich jenem, und neben ihm, die höchste Auctorität in der Ethik? Dazu gehört ohne Zweifel, dafs sie vor allen Dingen unter sich einstimmig seyen. Und doch zeigt der Eine gerade da seine Unfähigkeit, wo die Fähigkeit und Yortrefflichkeit des Andern glänzend hervortrit! Und eben dies sieht Schleiermacher, indem er bekennt, Spinoza wisse nichts Sittliches vom Staate abzuleiten!

Worin lag denn aber die Unfähigkeit, von der wir reden? Sie mufs doch wohl einen Grund haben ; und zwar in der Anlage der spinozistischen Ethik. Da wir nun hier nicht sowohl unmittelbar von Spinoza, sondern von Demjenigen reden, was sich Schleiermacher aus ihm gewoben hat: so mufs ich etwas weiter aushohlen.

Eigentlich sollte ich Sie ersuchen, Sich mit mir sowohl hinten als vorn in dem Schleiermacherschen Buche umzusehn. Aber die Stelle hinten, über die Methode, führt uns zu weit, [154] daher hievon nur wenige Worte. Sie wissen: das erste Axiom der Sittenlehre ist, dafs es einen Unterschied des guten und bösen Willens, oder mit etwas veränderter Wendung, dafs es Pflichten giebt. Die Methode also mufs das richtige Fortschreiten von diesem x\nfangspunkte an bezeichnen. Während nun zu Platons Zeit die Philosophie erst nach vesten Formen suchte, weifs Schleiermacher schon vom Platon eine heuristische Methode, als die beste von allen, zu rühmen. Und während wir bei Spinoza das Gute und Böse hinter dem zwevdeuti<ren bonum et malum verschwinden sahen, rühmt von ihm Schleiermacher, das Wesentliche der geometrischen Methode sev von ihm sogar reiner und richtiger durchgeführt, als von den Gröfsenl ehrern selbst! Kein Wort weiter über diese Extravaganz! Wir wollen uns jetzt vorn im Buche umsehn.

Gleich im ersten Abschnitte des ersten Buches vergleicht dieser Kritiker die bisherigen ethischen Grundsätze unter andern aus dem Ge- sichtspuncte folgender Frage: ist das Princip ein freyes und bildendes, oder beherrschendes und beschränkendes? Hier werden die Stoiker ge- tadelt; weshalb? „Es kann bey ihnen das ethische Princip die Thätigkeit. welche jedesmal erfodert wird, nicht hervorbringen, wenn nicht zuvor [155] durch den blinden Natartried erst gesetzt worden, dafs überhaupt etwas geschehen solle; denn aus diesem entsteht immer jede erste Auflbderung zum Handeln." Ferner getadelt wird Fichte; „denn wenn gleich Fichte davon ausgeht: kein Wollen ohne Handeln, so mufs doch der höhere

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2t6 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

Trieb den Stoff" jedesmal nehmen vom Naturtriebe." Ferner getadelt wird Kant. „Denn vor der Frage, ob die Maxime allgemeines Gesetz seyn könne, mufs die Maxime zuvor gegeben seyn; und wie anders wollte sie dies, wenn nicht als ein 1 heil des Naturzweckes" (Also von Naturtrieben und Naturzwecken ist auch hier die Rede; lassen Sie uns beyläufig die Frage vesthalten, in welche Art von Psychologie das wohl passen möge?) Dagegen gelobt und zusammengestellt werden Platon und Spinoza; „von denen freylich der letztere das Streben sein eigenthümliches Daseyn zu erhalten, als das Wesen aller beseelten Dinge, und als den letzten Grund alles menschlichen Handelns aufstellt, und von einem zwie- fachen Triebe in Einer Seele nichts hören will." (Denken Sie hier an die oben erwähnte Begierde a priori, aufser und neben welcher Jakobi eine zweyte Richtung foderte; zwar mit Recht, jedoch ohne recht zu wissen [156] was für eine.) „Aber, ob schon Ein und derselbe Trieb, kann und muls er doch in jedem Falle in einer von beyden Gestalten erscheinen; entweder nämlich das wahrhaft eigen Ihi/m liehe Dasevn des Jlfcnschcn, sein im engeren Sinne sogenanntes Handeln, zum Gegenstande habend, und was so entsteht, ist das Sittliche; oder aber das gemeinschaft- liche mit andern Dingen verknüpfte und von ihnen abhängige Daseyn, und das nur scheinbare Handeln, wovon die Ursache zum Theil aufserhalb des Menschen zu finden ist; daher es mit Recht (?) ein Leiden heifst, und das so entstandene ermafigelt der sittlichen Beschaffenheit." (Ob . das wirklich Schleiermachers Meinung war? ich wage es nicht zu be- haupten, sondern lasse ihn fortfahren über Spinoza zu sprechen:) „Von diesem nun ist jenes nicht etwa ein Umbilden und Verbessern des letztern, oder ein nur auf das letztere erbautes; sondern von vorne her ein eigenes. Daher auch Spinoza ausdrücklich behauptet" (doch hoffentlich nicht mit ihm Schleiermacher?) „dafs das Fliehen des Bösen, das Vernichten eines etwa schon voran gedachten und angestrebten Unsittlichen gar kein eigenes Geschäft sey, sondern nur unmittelbar, und von [157] selbst erfolge, in- dem das Gute gesucht wird." (Nämlich jenes vorgebliche Gute, was aus dem wahrhaft Eigentümlichen, der Begierde a priori, entsteht.) „Hierin zeigt sich am schärfsten der Unterschied von jenem, als bey welchem das Gute nur dadurch zu Stande kommt, dafs das Böse aus- geschlossen wird; und so am besten bcivährt sich eine Sittenlehre als wirklich ein freyes und eigenes Gebiet des Handelns umfassend."

Ein Gebiet vielleicht; aber auch ein freyes? Kann man Freyheit aus einem Triebe construiren, der seine, ihm angewiesene Richtung mit- bringt? und was vorhin der Naturtrieb hiefs, ist das etwan weniger zu pfürchten, wenn man ihm einen andern Namen giebt? Läfst sich das vor- erwähnte freye Gebiet aus der gefährlichen Nachbarschaft herausrücken, und zwai durch veränderte Formeln ?

Sie glauben vielleicht, mein theurer Freund, ich bräche am unrechten Orte ab. Aber Schleiermacher geht hier sogleich zum Platon über, und findet dort das Nämliche! Wie ist das möglich, werden Sie fragen? Hören Sie weiter! „Das Nämliche erhellet von selbst aus der Formel des Platon, nämlich der Verähnlichung mit. Gott." (Wie mit Gott? dem Allweisen, Gerechten, Gütigen?) „Denn da es der Gottheit [158] an allem,

Sechster Brief.

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was Naturtrieb genannt werden mag, ermangelt"; (die spinozistische res extensa fehlt also;) „und die Thätigkeit der höheren Geisteskraft in ihr eine rein aus sich selbst hervorgehende, schaffende, und bildende ist",, (so ist Platon, möchten wir sagen, ganz ein Anderer als Spinoza; aber dennoch fährt Schleiermacher fort:) „so würde offenbar ein ge- meinschaftliches Glied zur Vergleichung nicht zu finden seyn, wenn im Menschen die Vernunft nur beschränkend auf seinen Naturtrieb handelte,, und nur was jener hervorgebracht, auf ihre Weise gestaltete, sondern" jetzt, mein theurer Freund! werden Sie sogleich sehen, wohin uns Schleiermacher irre leitet,

„sondern es mufs auch bey uns das Verhältnils zu dem niederen Ver- mögen nicht das wesentliche des höheren" (ohne Zweifel: Vermögens) „seyn, sondern nur die Erscheinung seiner ununterbrochenen Thätigkeit." Wir meinten in Platons ästhetische Sphäre, zu seiner Teleologie und Ideenlehre zu gelangen, und siehe da! nichts als dürre theoretische Begriffe kommen zum Vorschein, und obenein noch ein Stück falscher Psychologie! So gehts, wenn [159] Ansichten, im vornehmen Tone An- schauungen genannt, die Stelle der Untersuchung einnehmen wollen. Da verwischen sich die Gränzen der verschiedenen Disciplinen, weil die Dis- ciplin des Denkens verloren ging.

Das ist das Geheimnifs der vorgeblichen Annäherung des Spinoza an Platon. Der alte unkritische Dogmatismus, gegen den Kant sich erhob, hat das ungeheure Selbstvertrauen, er vermöge die Gottheit theoretisch zu erkennen; redet nun von Gottähnlichkeit, wovon lediglich in Bezug auf praktische Ideen die Rede seyn kann und darf, und mengt damit die alte Fabel von den Seelenvermögen, so dafs hinter den höhern und niedern Vermögen und Trieben alle sittlichen Begriffe, die sich nicht aus den Worten : hoch und tief ableiten lassen, wie die Sonne hinter den Wolken verschwinden. Wenn das noch nicht klar genug hervortrit, so können wir uns nunmehr, zur ferneren Überlegung, wieder an den Staat erinnern.

Sollte aus solchen Principien eine Staatslehre erwachsen, so wäre nach Spinoza unstreitig die gröfsere Macht das höhere Vermögen; aber das Verhältnifs zum niedern Vermögen, (d. h. zur geringern Macht) wäre ,,nicht das Wesent-[i6o]liche des höhern, sondern nur die Erscheinung seiner ununterbrochenen Thätigkeit." Damit, denke ich, wären wir auf einmal bey der berühmten Staatslehre des Herrn v. Haller; wo Jeder, den Glück und Umstände vollkommen frey machen, eo ipso Fürst ist; das Regieren über Andre kommt dann als ein Nebenumstand hinzu. Von Rechten und Pflichten oder, nach unserer Gewohnheit zu reden, von dem Grunde der Auctorität, womit der Gebieter gebietet, wäre keine Nach- weisung nöthig. Aber eine Hauptsache: der Fürst mufs ein Eingeborner seyn. Ja kein Fremder! Und warum nicht? Blicken wir zurück auf die obige Relation aus Spinoza ! Jener Trieb - der einzige, der sich aber in zweyerley Gestalten zeigen sollte, mufs uns zum Vorbilde dienen. Hat er das „wahrhaft eigenthümliche Daseyn des Menschen" zum Gegenstande, dann entsteht das Sittliche. So lautet die Sage, die wir so eben ver- nahmen. Also: das Sittliche ist das Einheimische, und das Einheimische

2/8 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen "Willens. 1836.

ist das Sittliche; an diesem Indigenat ist es zu erkennen! Hingegen die Coexistenz (von dieser sprach schon Jakobi) hat schlimme Folgen, nämlich mirabile dictu ein blols scheinbares Handeln; womit denn die Ver- brecher sich trösten mögen. Sie haben nur schein-[i6i]bar, oder nach einer Variante, nur leidend gehandelt, und dies leidende Handeln da es nicht einheimisch, da es ihnen ja r>on aufsen ist angethan worden „ermangelt der sittlichen Beschaffenheit."

Und auf solchem Wege gewinnt man: ein freyes Gebiet für die Sittenlehre? Können Sie Sich etwas dabey denken? Dafs Diejenigen, die über eingebildeten höhern und niedern Trieben brüteten, keine prak- tischen Ideen finden konnten, ist eben so klar, als dafs derjenige verarmen mufs, der sein Gewerbe verläfst, um sich durch Künste der Goldmacherei zu bereichern. Das eigene Gebiet der Sittenlehre erreicht man nicht auf dem Wege falscher Psychologie. War es denn aber möglich, dafs ganze Decennien hindurch das deutsche philosophirende Publicum in einem solchen Kreise von Irrthümern sich wie verzaubert herumdrehen konnte? Unstreitig gab es Ausnahmen; und deren würden sehr Viele gewesen seyn, wenn man, statt nachzusprechen, den Spinoza selbst auf- merksam gelesen hätte. Und Schleiermacher? Lassen Sie uns nicht vergessen, dals die vorstehenden Proben aus einer seiner frühern Schriften nicht zum Maafsstabe für Ihn Selbst dienen können.

Siebenter Brief.

[162] Wie es geschehen konnte, dafs durch Jakobis sonst wohlthätiges literarisches Wirken das Ansehen des Spinoza vielmehr stieg als sank: davon, mein theurer Freund, wird Ihnen der vorhergehende Brief zwar eine Andeutung zu enthalten scheinen, allein diese Andeutung weiter als schon geschehen, zu verfolgen, werden Sie eben so wenig Lust haben, als ich. Bey der von Jakobi gefoderten Duplicität der Richtung wird Ihnen Kant eingefallen seyn, dessen intelligibele Freyheit im Gegensatz zur Sinnlichkeit gewifs Alles leistet, was in dieser Hinsicht kann gefodert werden. Und doch war Jakobi auch hiemit nicht zufrieden ; von derjenigen Unter- scheidung, die er sich dachte, sagt er: sie finde sich wirklich in der Kan- tischen Philosophie; aber sie komme nur augenblicklich darin vor; erscheine nur, um sogleich [163] wieder zu verschwinden; und dies aus der sehr guten Ursache : „weil der Geist keine wissenschaftliche Behandlung ver- trägt, weil er nicht Buchstabe werden kann."* Eine ganz natürliche Sprache zu jener Zeit, da man schlechterdings von Einem Princip ausgehen wollte; folglich weder in Psychologie noch in Metaphysik, weder in Moral noch Naturrecht noch Kunstlehre wahrhaft hinein kommen konnte.

Nun wissen Sie wohl, dafs mir das Streben heutiger Philosophen, einander zu überbieten, (wodurch die falschen Richtungen nicht gebessert werden) sehr mifsfällt, also werden Sie Sich nicht wundern, wenn ich,

* Jakobis Werke II, S. 314.

Siebenter Biief.

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statt Kant und Jakobi und wer weifs wen sonst noch übersteigen zu wollen, vielmehr in gutem Vertrauen zu Ihrer Freundschaft Sie ersuche, Sich mir zu Gefallen einige Stufen herab zu bemühen, damit wir eine andre Art von Duplicität mit einander betrachten können, die jedenfalls zur Sache gehört; und die überdies die Frage aufregt, ob nicht, um die Unabhängigkeit des Willens von der Begierde (worin Jakobi die Frevheit setzt) gehörig zu beleuchten, es zuerst nöthig seyn dürfte, Wille und Be- gierde etwas sorgfältiger, als vorhin geschehen, [164] zu unterscheiden? Meiner Bitte um anhaltende Aufmerksamkeit wird Ihre Güte, glaube ich, zuvorkommen.

Betrachten Sie die Begierde des Insects und den freyen Willen eines Königs. Dafs ich damit ,, nicht den Geist in Buchstaben" verwan- deln, — oder mit deutlichen Worten : dafs ich nicht den ästhetischen Urtheilen die theoretische Betrachtung unterschieben will, das wissen Sie im Voraus; und werden selbst überlegen, ob oder in wie fern ich den eigentlichen Sinn Jakobis, da er von Geist und Buchstaben redete, richtig treffe.

In dem Insect, z. B. der Raupe, der Biene, der Spinne, finde ich besonders deutlich jene Begierde a priori, welche den Lebenslauf des In- sects so bestimmt, dafs es nicht einen Augenblick Zeit hat zu spielen, wie etwan Hunde und Katzen spielen ; sondern immer genau der Bildungs- stufe, die sein Leib eben jetzt erreicht hatte, entsprechen mufs. Die Be- gierde, das eigne Daseyn zu erhalten, also auch das suum utile quaerere, ist durch den eigenthümlichen Organismus und die vorgeschriebenen Metamorphosen eines solchen Thiers ganz genau bezeichnet. Daneben fehlt es auch nicht an Empfindungen, die von der Coexistenz herrühren ; und die Begierde a priori hat hier volle Gelegenheit, sich mit den Em- pfindun-[iÖ5]gen dergestalt zu vereinigen, dafs wenn im vorigen Briefe von Insecten die Rede gewesen wäre, ich offenbar einen grolsen Theil meines Tadels hätte zurückhalten müssen.

Werden wir nun einmal wagen, unsre Gedanken zu einem könig- lichen Willen zu erheben? Ein solcher kündigt sich an durch Befehle, denen kein Zweifel wegen der Befolgung anklebt. Was ein König be- fiehlt, das ist in seinen Augen so gut als vollzogen, denn es geschieht ge- wifs, und zwar in der kürzesten Zeit, auf welche schon im Befehl gerechnet ist. Die Handlung selbst, wodurch das Wort des Herrschers in Erfüllung geht, setzt nichts Neues in seinem Gemüthe; sie giebt ihm keine Be- friedigung mehr, denn er war schon befriedigt, durch die Zuversicht in seinem Wollen.

Anstatt also, dafs die Begierde wartet auf eine Erfahrung, greift der Wille der Erfahrung vor, und ist hiedurch von vorn herein von ihr un- abhängig.

Sollte wohl hierin etwas von der Frevheit des stoischen Weisen zu erkennen seyn? So scheint es wirklich. Der Weise dünkt sich König; nicht wegen einer Macht, die er nicht besitzt, sondern weil er nichts will, was er nicht erreichen kann. Die Herrscher (spricht der Weise) sind weniger [166] Könige, als ich; denn ihnen begegnet manchmal wider Erwarten, dafs ihren Befehlen die Vollziehung mangelt; ich aber, auch

2 8o VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

bey den schwierigsten Unternehmungen, will niemals mehr als mein eignes Handeln; es ist ein Versuch in Hinsicht des äufserlichen Erfolgs, aber für mich liegt schon im Versuche die Vollendung; ich wollte nichts weiter. Darum bin ich frey.

Jetzt, mein Theurer, überlegen Sie diesen Begriff der Freyheit. Es liegt dann nichts vom Ursprünge des Willens, sondern auf die Reife des Willens kommt hier Alles an.

Das wird klärer werden, wenn wir uns auf das Mehr oder Weniger der Freyheit einlassen, wie wir es in unsrer gewohnten Mitte zwischen dem Insect und dem Weisen antreffen. So lange wir uns einer be- stimmten Begierde überlassen, schweben wir in Erwartung dessen was da kommen werde; je leichter wir dagegen ablassen vom Streben nach dem Ungewissen, desto freyer fühlen wir uns. Darum sprach ich schon im ersten Briefe vom WTechsel der Objecte. Diejenige Freyheit, die wir im gemeinen Leben an verständigen Männern bemerken, liegt in ihrer Be- wegung, ihrem Übergehen von einem Gegenstande zum andern ; in der Gelassenheit, womit sie das verabschieden, was ihnen zum Dienste nicht län-[i6/]ger bereit ist, ' in der Geläufigkeit, womit sie Anderes aufsuchen und benutzen. Da ist nicht ganz die Zuversicht eines königlichen Be- fehls, aber eine Ähnlichkeit ist doch vorhanden. Wie der König nicht be- wegt wird durch den Anblick des Werks, dessen Entstehen er anordnete, denn er hatte es im Geiste schon fertig gesehen indem er befahl: so wird Derjenige, welcher die Objecte leicht wechselt, wenig bewegt in diesem Wechsel, denn der Erfolg seines Handelns entspricht ihm leicht, weil er ihn da sucht, wo er ihn finden kann, und weil er auf dieses sein Geschick im voraus rechnet, also keine weite Abweichung des Erfolgs von seinen Absichten zu besorgen hat.

Gehen wir nun zurück zur Kantischen Freyheit: so spricht dort die praktische Vernunft ihr: sie volo, sie iubeo. Meint sie etwa, der sinn- liche Mensch folge ihr so unbedingt wie ihr Imperativ kategorisch lautet? Nein; aber sie will eben nur befehlen; und nun befiehlt sie immerfort, ohne Rücksicht auf den Erfolg; das kann ihr nicht verweigert werden, dar/an ist sie frey; und dies ist der Freyheitsbegrirt , auf den es an- kommt.

Und Spinoza? Seine Freyheit sucht er im Wissen; sein intelligere, und die Zuversicht, womit er die wahre Philosophie zu besitzen sich [168] rühmt, giebt ihm das Gefühl der Freyheit; gleichviel hier, ob täuschend oder nicht.

„Aber in Bezug auf das gemeine Leben, (möchte Jemand sagen) is^t eine solche Freyheit meistens nur Täuschung. Denn wie Viele giebt es, die sich mit gutem Grunde der Zuversicht überlassen dürften, was sie verlangen, das werde geschehen ?"

Gesetzt, dieser Einwurf sey treffend, so trifft er doch nicht den Be- griff, sondern nur dessen Anwendung. Auf die Frage: wie fangen wir es an, uns demjenigen Zustande zu nähern, den wir uns als Freyheit den- ken, bleibt immer noch die Antwort: nähert entweder die Erfolge Euren Absichten, oder richtet Eure Absichten nach den möglichen Erfolgen ein; überhaupt aber vermindert das unnöthige Schwanken, welches Eure Un-

Siebenter Brief. 2 8 1

freyheit vermehren würde. Sorget, zu wissen was ihr zvollt; sorget zuvoi noch, zu erforschen was ihi könnt.

Ein andrer Einwurf möchte hergenommen werden von der Freyheit der Wahl. Noch ist der Wille (könnte man sagen) nicht entschieden, so lange die Wahl schwankt; dennoch ist eben die Wahl frey.

Aber die freye Wahl steht gerade so weit offen, als wie weit die Zuversicht reicht, jedes mögliche Wollen innerhalb der gegebenen [169] Sphäre werde, wie es auch ausfalle, kein Hindernils antreffen. Eben des- halb ist die Freyheit desto gröfser, je offener die Wahl.

Suchen wir nun die Anwendung auf den moralischen Willen, so er- giebt sich sogleich von selbst, dafs, wenn derselbe die vorerwähnte könig- liche Zuversicht besälse und durch die That bewährte, er für frey gelten würde ; und dafs nur der Mangel an Nachdruck gegen die. Begierden, welchen er gewöhnlich verräth, zu der Foderung geführt hat, er solle stärker seyn; hiemit aber zu der Ausdeutung: er sey gewifs stärker als die Hindernisse, welche der Lauf der Zeit ihm entgegen führt; er sey un- abhängig vom Zeit Hellen ; er liege demnach ursprünglich im Menschen!

Hätten Sie nicht längst gesehen, Lieber, wohin ich wollte, so sähen Sie es doch jetzt. Es kommt darauf an, für den moralischen Willen die Freyheitsfrage dergestalt zu spalten, dals nicht länger die Stärke des- selben mit seinem Ursprünge vermengt werde. Mit Recht fodert man seine Stärke; aber den Ursprung vermag kein Postulat zu ändern, man mufs ihn untersuchen.

Schon im dritten Briefe entwarf ich, veranlafst durch den Wolffischen Irrthum, eine kurze Skizze dessen, was bey der sittlichen Bil-[i 7o]dung zu- sammenkommen mufs. Im vierten erinnerte ich an den Beweis, aus welchem erhellet, dafs von einem ursprünglich gebietenden Willen die Behauptung nicht blofs falsch ist, sondern nicht einmal angenommen werden darf, indem kein Wille blols als solcher zu gebieten hat. Er wäre Tyrann, wenn er ge- böte, ohne die ästhetischen Urtheile in sich aufgenommen zu haben, die selbst schon ein Wollen wenigstens als möglichen Gegenstand der Betrachtung voraussetzen. Würfe man auch die Zeitbestimmung hinweg, welche beym Menschen eine successive Bildung anzeigt, so würde man dennoch den gebietenden Willen, in welchem die moralische Stärke, und hiemit die wahr sittliche Freyheit liegt, nicht als ein Erstes in der Reihe der Begriffe setzen dürfen, weil die ursprünglichen Werth-Urtheile nothwendig jenem vor- ausgedacht werden müssen. In ihnen allein besteht die Autonomie, und hiemit unmittelbar das Interesse, wonach Kant, wie im vierten Briefe be- merkt worden, vergebens suchte. Und eben hier findet sich auch jene zweyte Richtung, welche Jakobi da foderte, wo ihm weder Spinoza noch Kant genügten, und die er ganz richtig in keine wahr oder falsch angenommene Begierde a priori hineinbringen konnte. Denn ästhe- tische Urtheile sind [i 7 1] von Begierden und Trieben das gerade Gcgcntheil. Derjenige Wille, der sich aus ihnen erzeugt, ist durchaus ungleichartig jenen Begie/den, welche den Urtheilen vorangehen, und ihnen zu Gegenständen der Betrachtung dienen können.

Zugleich aber sehen Sie nun, weshalb ich vorhin die Begierde a priori, in welche Jakobi den spinozistischen conatus, quo unaquaeque

J>82 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

res in suo Esse perseverare conatur. übersetzt hatte, mit dem Instincte oder Lebenstriebe der Insecten verglich. Diese Thiere sind höchst wun- derbare Kunstwerke des Schöpfers, der ihnen durch ihren organischen Bau die ganze nothwendige Reihe ihrer Bestrebungen mit einer Zweck- mäfsigkeit vorgeschrieben hat, von der sie selbst nichts begreifen: aber zur Frevheit sind sie nicht gemacht. Und der Mensch? trägt er etwan auch eine solche Begierde a priori in sich? Es ist ihm ohnehin schwer genug, sich zu einem kräftigen sittlichen Willen empor zu arbeiten; hätte er aber gar mit einer ich sage mit einer Grundbegierde, die überall in der Sphäre der Empfindungen, wie in einem nährenden Boden wur- zelte, wüchse, wucherte, sich nach einem organischen Gesetze entfaltete und ausbreitete, in Kampf zu treten: dann möchten wir auf sittliche [172] Bildung nur geradezu Verzicht thun. Schon unsere Hausthiere spielen, was das Insect nicht kann. Das menschliche Kind spielt und phanta- sirt noch unendlich mehr; und hierin zeigt sich jene Beweglichkeit, jene Leichtigkeit, die Objecte zu wechseln, die wir gleich Anfangs, noch ohne Rücksicht auf Sittlichkeit, als wesentliche Annäherung an Freyheit. er- kannten.

Spinozas Ethik scheint für Insecten geschrieben zu seyn; nicht für Menschen, die einst wie menschliche Kinder gespielt haben. Für Insecten mag jener lächerliche Satz gelten: prout cogitationes, rerumque ideae ordi- nantur et concatenantur in mente, ita corporis affectiones, sive rerum imagines, ad amussim ordinantur et concatenantur in corpore. Nämlich, wenn es möglich wäre, was nicht möglich ist, eine menschliche Phantasie in die Seele eines Insects hineinzubringen (Seele nehme ich hier für das Princip der Einheit, wonach sämmtliche Muskelbewegungen des Thiers ein- stimmig, und mit Bezug auf äufserlich wahrgenommene Gegenstände ge- lenkt werden): dann würde man dadurch die Lebensgefühle, und hiemit die leibliche Constitution des Thiers umschaffen; so gewifs als es sich jetzt von seinen wirklichen Lebensgefühlen in jedem Augenblicke bestimmt und getrieben zeigt. Wäre der [173J Leib des Kindes wie der des Insects, dann wären die Kinderphantasien entweder tödlich, oder das leibliche Leben müfste in einem beständigen Aufruhr, und bey verschiedenen Kin- dern so verschieden seyn, wie die Phantasien nach Verschiedenheit der Um- gebung und der dargebotenen Spielwerke verschieden sind. Wie oft wird man noch gegen die Einbildung schreiben müssen, als ob beym Menschen Psychologie an Physiologie angekettet wäre ! Dieser thörichten Einbildung hat bisher die Freyheitslehre zum Gegengewicht dienen müssen; und in so fern gewährte ein Irrthum Schutz gegen einen andern noch gröfsern Irrthum. Damit ist aber für wahre Erkenntnifs gerade so wenig gewon- nen, als durch den kläglichen Satz: affectus non potest coerceri nisi per affectum fortiorem, gegen die Affecten gewonnen wird.

Jakobi hatte sich so tief in den Spinoza hineinstudirt, dafs er von theoretischer Wissenschaft keinen andern als spinozistischen Begriff mehr fassen konnte. Hätte er dagegen auf den, zum Theil vortrefflichen Kan- tischen Buchstaben etwas mehr Aufmerksamkeit gewendet: so möchte leicht die Philosophie jetzt um ein halbes Jahrhundert weiter seyn als sie ist. Unfrey nennt Kant den [174] Willen, so fern er durch Objecte be-

Siebenter Brief. 28^

stimmt wird. Darin liegt der ganz richtige Satz, dafs die Sittenlehre nicht als Güterlehre auftreten darf. Für sie ist der Wille selbst das Object der Schätzung und Würdigung. Alle ihre Mühe aber, ihn selbst zu be- urtheilen und dadurch zu lenken, wäre verloren, wenn gegen sie eine andie Lehre auftreten könnte, welche, sich stützend auf eine vorgebliche Be- kanntschaft mit der Abstammung, der Natur und den Objecten des Willens, ihn als hiemit schon vollständig bestimmt, und keiner weitern Bestimmung zugänglich, mithin i/n/rer, darstellen würde. Auf diesen Unterschied zwischen Freyheit und Unfrevheit hätte Jakobi achten sollen. Statt dessen plagt er sich überall mit dem Gespenst eines Mechanismus, der in blofser Yermittelung bestehen soll. Er schreibt:

„Da unser bedingtes Daseyn auf einer Unendlichkeit von Vermitte- lungen beruhet, so ist damit unserer Nachforschung ein unab- sehliches Feld eröffnet, welches wir schon um unserer physischen Er- haltung willen zu bearbeiten genöthigt sind. Alle diese Nachfor- schungen haben die Entdeckung dessen, was das Daseyn der Dinge vermittelt, zum Gegenstande. Diejenigen Dinge, wovon wir das Ver- mittelnde [175] eingesehen, das ist, deren Mechanismus wir entdeckt haben, die können wir, wenn die Mittel selbst in unsern Händen sind, auch hervorbringen. Was wir auf diese Weise, wenigstens in der Vorstellung construiren können, das begreifen wir! und was wir nicht construiren können, das begreifen wir auch nicht."* Nun hat er zwar selbst das Hülfsmittel gegen diese falsche Vorstellung des Mechanismus in Händen.

„Wenn ein durchaus vermitteltes Daseyn oder Wesen nicht gedenkbar, sondern ein Unding ist, so mufs eine blofs vermittelte, das ist ganz mechanische Handlung ebenfalls ein Unding seyn. Eine reine Selbst- tätigkeit mufs überall zum Grunde liegen."** Diesen richtigen Gedanken weifs er aber nicht zu entwickeln. Und die Monaden Leibxitzexs konnten ihm dazu nicht helfen, sie waren selbst in einer Art von Kosmologie befangen, die über alles mögliche mensch- liche Wissen hinausgeht. Sie wissen, mein theurer Freund, wie weit diese vorgeblichen Spiegel des Universums von mei-[i76jnem einfachen Be- griffe der Durchdringung und Selbsterhaltung entfernt sind.

Dafs nach der Lehre von den Selbsterhaltungen nicht einmal das, was als Materie erscheint, ein blofs vermitteltes Daseyn hat; dafs nicht einmal Bewegung aus dem stofsenden Körper in den angestofsenen kann hineingegossen werden; dafs vielmehr jedes Element seihst, nach eigner Art dazu thun mufs, durch seine eignen Innern Zustände dabey in Be- tracht kommt; dafs es nicht das Universum, sondern sich selbst, seine ur- sprüngliche Qualität in allem demjenigen abspiegelt, was in ihm vorgeht; dafs vollends den geistigen Thätigkeiten eine höchst mannigfaltige Wechsel- wirkung dieser Abspiegelungen zum Grunde liegt, und zwar von den Empfindungen an bis zu den höchsten Gedanken und Entschliefsungen;

* Über die Lehre des Spinoza. Beilage VII. ** Abhandlung über die Freyheit. XXV, im vorher angeführten Werke.

2 8i VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

dafs es hiebev weit mehr auf einen innern als auf einen äufsern Mechanis- mus ankommt, der nur geistig und nicht körperlich kann verstanden werden: dies Alles, und wie dadurch der Begriff des Mechanismus selbst in seinem Innersten verändert, wie er von dem Begriffe einer blofsm Passivität gereinigt, wie die XJntetwütfigkeit des Einen vom Andern dadurch zurückgewiesen wird, darf [177] ich Ihnen nicht erst wiederholt auseinandersetzen. Oder sind Sie, lieber Freund, vielleicht der Meinung, eben hier wäie der Ort, eine mehr populäre Auseinandersetzung dieser Gegenstände zu versuchen? Vielleicht der Ort! Aber ist es auch die Zeit? Diese Zeit der politischen und religiösen Schwärmerey, und eben diese Zeit der materiellen In- teressen hört sie auf theoretische Untersuchungen? Will sie von ihren Schäden geheilt seyn? Kann man ihr noch einen Begriff beybringen von den Bedingungen gründlicher Forschung aufser den längst ausgefahrenen Geleisen empirischen und mathematischen Wissens? für jetzt wenigstens begnüge ich mich, Sie zu fragen, ob Sie nach meinen Grundsätzen jemals auf den Gedanken kommen konnten,

„anzunehmen, dafs Vorstellung und Begierde eine blo/s mechanische Verkettung begleiten können"* oder darauf, dafs

„in der ganzen Natur das denkende Vermögen bloß das Zusehen habe;

dafs sein einziges Geschäft sey, den Mechanismus der wirkenden Kräfte

zu begleiten; dafs eine Unterredung, die wir mit einander führen, ein

An-[i78]liegen unsrer Leiber sey; dafs der Erfinder der Uhr sie im

Grunde nicht erfand; vielmehr nur ihrer Entstehung aus blindlings

sich entwickelnden Kräften zusah."**

Kennen wir etwa Kräfte für solche Geisteserzeugnisse außerhalb des

Geistes, dafs Er, der Geist, ihnen zusehen könnte? Oder kennen wir

Kräfte innerhalb des Geistes, aber verschieden von den Gedanken selbst, die

zuerst sich zu dem Gedankenbilde vereinigten, welchem gemäfs späterhin

Uhren gemacht wurden? Wo ist da Jemand, der zusähe, und wo ist

etwas von ihm verschiedenes, dem er zusehen könnte? Dafs wir hier

von der Apperception nicht reden, welche hinzukommt nachdem die Uhr

schon als ein geistiges Gebilde fertig ist, versteht sich von selbst.

Das aber ist eben das Gespenst von Determinismus, was man über- all fürchtet, statt darauf loszugehen: dafs, wenn Einer etwas will, dieses Wollen eigentlich nicht sein Wollen, sondern etwas Fremdes, was durch ihn, wie durch einen Canal, hindurchgegossen werde, dafs also er selbst nicht der Wollende sey, er es nicht zu verantworten habe, er des- halb nicht zu loben und nicht zu tadeln sey, sondern die eigentliche Wirk-[i79]samkeit aufser ihm liege, und vielleicht aus den entferntesten Enden des Universums her in ihm zusammenfliefse. Solcher Determinis- mus ist allerdings da zu fürchten, wo man, aus lauter Scheu vor der ato- mistischen Ansicht, die Freyheitslehre, welche durchaus Selbstständigkeit der Individuen im vollesten Sinne fodert, aufgab, oder sie in den Spinozismus versinken liefs.

* A. a. O. Beylage V. ** A. a. O. im Gespräche mit Lessing.

Siebenter Brief. 28 :

Da wir überall gar nichts in die menschlichen Seelen hineinfliefsen lassen, wohl aber wissen, dafs aus Vorstellungen ein Wollen entsteht, welches nun als neuer Anfangspunct nach Gesetzen fortwirkt, die erst in und mit ihm entstehen, also gewifs nicht aus der Fremde kommen, so ists ge- nug, nur jenen Gegenstand der Besorgnifs, welchen Jakobi mit den Worten Yermittelung und Mechanismus bezeichnet, von uns hinweg, und in die Fremde hinaus zu weisen; er wird schon von selbst in irgend einer Güter- lehre, wo man den Objecten einen Werth beylegt, und dann den Willen, als durch seine Natur und Abstammung auf sie gerichtet, zu ihnen hin- weiset, — in irgend einer Lehre von Trieben, worin das Universum sich manifestirt, als ob die Natur des Willens etwas ein für allemal Fertiges und Gegebenes wäre, endlich im Spi-[i8o]nozismus, das heifst, weit genug von uns entfernt, seinen Platz finden. Mit einem Determinimus, der in Fatalismus überzugehen droht, (wie Jakobi so oft behauptet) werden wir um so weniger Gemeinschaft machen , da das fatum eine blofse Vorbestimmtheit ohne Gründe und trotz aller Gründe darstellt, während der Determinismus der Verkettung der Gründe nachgeht, wobey er freylich sehr kurzsichtig ist, wenn er blofs das Ineinandergreifen der Glieder auflast, und die eigne Natur jedes Kettengliedes darüber vergifst.

Viel schlimmer würde es mit dem physiologischen Determinismus stehen, den wir für die meisten Thiere anerkennen müssen, und keines- wegs durch unsre ganz allgemeinen ontologischen Grundsätze vertreiben können, wenn nicht hier die Erfahrung zu Hülfe käme, die uns beym Menschen eine freye Phantasie, ein fast reines Ergebnifs des psychischen Mechanismus zeigt, während wir jenes, vorhin angeführte, Insectenleben in so fern, als die dabey psychische Thätigkeit vom Gesa??wttzustande des Leibes abhängt, gar nicht unerwartet, gar nicht wunderbar, sondern recht sehr natürlich finden müssen. Nehmen Sie einmal in Gedanken die Be- weglichkeit der Phantasie hinweg; denken Sie Sich den Blödsinnigen oder nur Stumpfsinnigen, dessen [181] Vorstellungen in einem engen Kreise zum Stillstande gekommen sind: und fragen Sie Sich, ob jetzt noch vom freyen Willen eine Möglichkeit vorhanden sey ? Das Gewollte mufs doch vorgestellt, es mufs vom Nicht-Gewollten unterschieden seyn; die freye Handlung mufs erst ein Gedankengebilde sevn, ehe sie zur Aus- führung gelangt; wo bleibt die Möglichkeit eines solchen Gedankengebildes, wenn sich die Vorstellungen nicht bewegen und fügen? Wie sollen sonst diejenigen Vorstellungsmassen, in welchen die Maximen und Grundsätze liegen, etwas über die untergeordneten vermögen ?

Von der freyen Phantasie bis zum freyen Willen ist nun noch ein weiter -Weg. Aber was die Begierde anlangt, in dem Sinne, wie Jakobi von ihr redet, indem er den Willen als von ihr unabhängig be- trachtet, — da kennen wir ja längst den Unterschied zwischen dem Kinde was begehrt, und dem Kinde was im Spiel seine Phantasien ausdrückt! Hier ist schon die Vorbedeutung, dafs einst, wann Beobachtung und Nachdenken die Plätze einnehmen werden, die vorläufig das Phantasiren besetzt, dann mit beyden auch ein gebildeter Wille verbunden sevn werde, welchen die Begierden zwar stürmisch begegnen mögen, der aber auch

jSm YIII. Zur Lehre von der Freyhcit des menschlichen Willens. 1836.

Meinerseits ihnen be-[i82]gegnen wird. Nur verbitten wir die Begierde a priori, jenen Insecten-Instinct; und was beym Menschen dem nahe kommt jede Begierde im singulari, dergleichen wir Sucht oder Leiden- schaft zu nennen gewohnt sind ; denn hier zeigt uns, noch ohne alle Theo- rie, nur gar zu oft die Erfahrung, dafs der Kampf zwischen einer herr- schenden Leidenschaft und dem freyen Willen sich keineswegs immer zu Gunsten des letzteren entscheidet. Aber mufste es denn bis zu eigent- licher Leidenschaft kommen? Wenigstens gewifs nicht nach einem all- gemeinen Gesetze der geistigen Natur; gewifs nicht so, dafs Abhängigkeit des Willens von der Begierde zur Regel würde. Selbst die Leidenschaften sind verschieden, sind individuel, taugen nicht im geringsten, um für jenes spinozistische Vorurtheil des conatus suum Esse conservandi als Beläge angeführt zu werden. Oder wollen wir den Hunger als die Leidenschaft aller Leidenschaften betrachten? Wenn wir den Menschen in sittlicher Freyheit uns vorstellen, ist dieser Mensch etwa der Wilde, der nicht eher aus träger Ruhe sich aufraft, als bis er die Noth fühlt sein Daseyn zu fristen ? Wie oft kommt denn wohl im geselligen Leben gebildeter Menschen der Fall vor, dafs Einer die Behauptung seines Daseyns zum eigentlichen Ziel-[i83]puncte seines Wollens machte? Wenn Menschen von einiger Bildung sprechen, wir und die Unsrigen müssen zu leben haben, so schliefst der Ausdruck leben eine ganze Fülle von abwechselndem Thun und Geniefsen in sich; und der sittliche Wille hat schon eine Menge von schlechten Mitteln zu unnöthigen Genielsungen zurückgewiesen; der- gestalt, dafs es längst nicht mehr Zeit ist, die Existenz dieses Willens zu bezweifeln, und ängstlich auf deren Rettung zu denken. Solche Angst entsteht allemal aus zu langer Beschäftigung mit falschen Theorien, unter denen der Spinozismus wohl eine der allerverkehrtesten seyn dürfte. Hätte übrigens Jakobi die ästhetischen Urtheile gehörig ins Auge gefafst, so wäre ihm nicht das Misgeschick begegnet, dessen ich im vorigen Briefe erwähnte. Sie haben gesehn, lieber Freund! wie gänzlich es ihm mislang, sich von Spinoza zu scheiden; wie er beynahe mit jedem Worte in den Spinozismus zurückglitt. Er wollte eine zivcyte Richtung; er wollte den höhern Willen scheiden vom niedern? Nun wohl, die Scheidewand ist da; sie wird gebildet durch die ästhetischen Urtheile. Diese sind weder der niedere noch der höhere Wille, denn sie sind gar kein Wille.

Anhangsweise hier noch ein paar Worte über [ 1 84] Schleier- machers neuere, zum Gebiet der Sittenlehre gehörige Abhandlungen. Un- streitig leuchtet daraus dasjenige Verdienst hervor, was ein gelehrter Mann ^sich erwirbt, indem er für Gegenstände von höchster Wichtigkeit die öffentliche Aufmerksamkeit gespannt zu erhalten sich redlich und ernstlich bemüht. Aber viel mehr als dies, können wir ihm schwerlich einräumen. Es ist nur zu klar, dafs der berühmte Mann bis gegen das Ende seines Lebens in derselben Vorstellungsart geblieben ist, die wir aus seiner Kritik der Sittenlehre schon kannten. Da finden wir in der zweyten Ab- handlung über das höchste Gut (vom Jahre 1830) eine „Gesammtwirkung der Intelligenz auf dieser Erde vermittelst der menschlichen Organisation, die wir auseinander zu legen haben, als wäre sie so vollendet, dals sie

Siebenter Brief. 287

sich mit denselben Zügen nur immer zu erneuern brauchte." Da finden wir eine „räumliche und zeitliche Zertheilung der Vernunft, sofern sie in den zugleich und nacheinander seyenden Einzelwesen eingeschlossen ist als deren Seele," (also keine Selbstständigkeit der Individuen!) und da giebt es eine „ursprüngliche Aufgabe, daß die ganze Vernunft Bewußtseyn werde, welche Aufgabe sich, wie in jedem Einzelwesen, so auch m dem Ganzen des menschlichen Geschlechts [185] nur allmählig realisirte ,M in welchem Realisiren Ihnen, mein theurer Freund, die Reinholdisch- Fichtischen Nachklänge darzulegen wohl nicht nöthig ist. Zum Über- flusse führe ich noch den Ausdruck an: dafs „nur die Gesammtheit des menschlichen Geschlechts der wahre und eigentliche Ort des höchsten Gutes" seyn soll; wobey denn sogleich auffällt, dafs zugleich zu viel und zu wenig geschieht, indem der Makrokosmus auf die Erde und das mensch- liche Geschlecht beschränkt wird; denn sollte die Sternenwelt vermieden werden (wie freylich sehr natürlich und billig!) aus dem einfachen Grunde, weil wir so überaus wenig davon wissen, so hätte auch aus dem- selben Grunde nicht die Totalität der Erde und des Erdenlebens sollen als bekannt vorausgesetzt werden; ja endlich würde sich gefunden haben, dafs die erste Grundlage der Ethik in Ansehung des dabey voraus- gesetzten Wissens nicht die gröfste, sondern die allerkleinste seyn mutete, die sich nur irgend denken liefs; ohne einen andern Anspruch an Totalität als an die Reihe der sittlichen Werthbestimmungen selbst. Aber von dem Gegensatze der Totalität und Einzelnheit wufste Schleier- macher so wenig loszukommen, dafs sogar die allgemeine Pflichtformel (in der Abhandlung über den Pflicht- [18 6] begriff) so abgefafst wird: „Jeder Einzelne bewirke jedesmal mit seiner ganzen sittlichen Kraft das möglich - Gröfste zur Lösung der Gesammtaufgabe in der Gemeinschaft mit Allen," welche Formel wir, denn doch wohl geradezu1 einen verdorbenen Kantianismus nennen dürfen. Kantianismus wegen des Hinausweisens jedes Einzelnen auf eine nie genau, sondern nur höchst oberflächlich selbst vom Gelehrten aufzufassende Allgemeinheit und Gesammtheit! Verdorbener Kantianismus wegen Einmischung einer Gesammtaufgabe, während, wie ich oft erinnert habe, Pläne zu Aufgaben durchaus nicht an die Stelle sittlicher Maximen dürfen gesetzt werden, weil es gerade gegen den Haupt- begriff der Tugend läuft, irgend ein Werk im Auge zu haben, das man, es koste was es wolle, vollbringen müfste. Gerade das ist ein Haupt- vorzug der Kantischen Lehre, dafs sie von der Einbildung eines solchen absolut zu vollbringenden Effects frey und rein ist. Und Irrthümer in diesem Puncte sind von weit gröfserer praktischer Wichtigkeit, als man wohl geneigt ist sich zu gestehen. Wie viel geben die neuern Geschichten unberufener Schwärmer zu denken, welche von Aufgaben träumten, und darüber die bestimmtesten Pflichten verletzten! Sie erlauben mir wohl [187] auch die Erinnerung an ein paar Zeilen, welche so lauten: dafs Begierde das Künftige sucht, der Geschmack aber über das Vor- liegende bestimmt. Sie haben gewifs nicht die Stelle vergessen, wo diese

1 O. u. SW. haben den Druckfehler: gerade zu.

2 88 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

Worte stehn, und stehen mufsten. Vielleicht fällt Ihnen noch eine andre Stelle ein, welche sagt: Charaktere mit herrschenden Plänen sind energischer ; aber Charaktere mit herrschenden Maximen sind reinet!

Schleiermacher dagegen, aufs Handeln erpicht, und in die Zu- kunft schauend, wozu ihm ein absolutes Wissen nöthig gewesen wäre, anstatt die Gesinnungen zu bedenken, die im kleinsten Räume des Wissens eben so seyn können, als im gröfsten, hat folgende abge- leitete Pflichtformeln 1) ,, Handle jedesmal gemäls deiner Identität mit Andern nur so, dafs du zugleich auf die Dir angemessene eigenthümliche Weise handelst. 2) Handle nie als ein von den Andern unterschiedener, ohne dafs deine Übereinstimmung mit ihnen in demselben Handeln mit- gesetzt sey. 3) Eigne nie anders an, als indem du zugleich in Gemein- schaft trittst. 4) Tritt immer in Gemeinschaft, indem du dir auch an- eignest." — Sollten Sie Sich etwa Iragen, in welches Capitel meiner prak- tischen Philosophie [188] diese Formeln passen könnten? so werden Sie wohl in einige Verlegenheit kommen. Mir fällt keine rechte Stelle dafür ein, wenn nicht vielleicht in dem einzigen episodischen Capitel, über den theoretischen Begriff der Gesellschaft, welcher dort sorgfältig von den ge- sellschaftlichen Ideen ist unterschieden worden. Hingegen bey Schleier- machern — was ich wahrlich nicht errathen würde, wenn es nicht ge- druckt vor mir läge, ist in diesen vier Formeln das Ganze erschöpft. Denn sie sind nichts Anderes als: die Vertheilung derselben Momente auf die Gesammtheit der Einzelnen, von denen bey Einem (einer idealen Person) die vollkommene Lösung der sittlichen Aufgabe abhängt. Es giebt nämlich ein universales Gemeinschaft-Bilden, und ein eben solches Aneignen. Es giebt auch ein eigenthümliches Aneignen, und eben solches Gemein- schaft-Bilden. Die beyden Gemeinschafts-Gebiete sind die des Rechts und der Liebe, die beyden Aneignungs-Gebiete die des Berufs und Gewissens. Damit hängen zusammen ein paar collisionsfreye Formeln der Rechts- pflicht und der Liebespfiicht. Die erste lautet so : Begieb dich unter kein Recht ohne dir einen Beruf sicher zu stellen, und ohne dir das Gebiet des Gewissens vorzubehalten ; die andre : Gehe keine Gemeinschaft der Liebe ein, [189] als nur indem du dir das Gebiet des Gewissens frey behältst, und in Zusammenstimmung mit deinem Beruf.

Hier möchte ich gern eine Brücke finden, auf der wir zu unserm Hauptgegenstande, der Freyheit, zurückkehren könnten, der innern sowohl, die bekanntlich oft von der Liebe beschränkt wird, als der äufsern, damit man so recht eigentlich die Wahl hätte, unter welches Recht (da man doch unter irgend einem oft sehr unvollkommenen Rechte leben mufs,) man sich begeben wolle. Schade nur: der Aufsatz über die Behandlung des Pflichtbegriffs ist bey jenen Formeln am Ende!

Sie und ich, lieber Freund, wir beyde haben uns nie gerühmt, colli- sionsfreye Pflichtformeln (verschieden von den, uns freylich bekannten, vorbeugenden Rathschlägen sittlicher Klugheit,) finden zu können; wenn wir nun in diesem Puncte Schleiermachern in einer unerreichbaren Höhe über uns erblicken, so wollen wir uns mit der alten Unterscheidung zwischen der eigentlichen mathematischen, und der sogenannten moralischen Gewifsheit trösten; und das um so mehr, da bey uns nicht die Pflichten-

Siebenter Brief.

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lehre, sondern die Ideenlehre, in welcher die wissenschaftliche Bestimmt- heit zu Hause ist, den Kern der Ethik ausmacht. [190] Das hängt sehr wesentlich damit zusammen, dals wir keine absoluten Aufgaben, mithin keine absolut- allgemeinen Regeln des äufsern Handelns, anerkennen; sondern uns begnügen, das Handeln stets als eine unvollständige Äufserung der Gesinnungen zu betrachten, um deren Werth es uns eigentlich zu thun ist.

Hier treffen wir, wie es scheint, den ersten falschen Grundgedanken, welcher, aus dem Spinozismus und der vermeintlichen Universal-Anschauung stammend, die sämmtlichen Untersuchungen Schleiermachers irre ge- leitet hat. Er verwickelte sich in dem Grofsen nnd Zusammengesetzten, weil er das Kleine, Einfache, welches eine präcise Beurtheilung gestattet, übersprungen hatte. Er sagt selbst (in der Abhandlung über das Er- laubte) seine Arbeiten setzen überall voraus : eine wesentliche Zusammen- gehörigkeit alles dessen, was mit Recht soll sittlich genannt werden können. „Denn es hört alle Construction des pflichtmäfsigen auf, mithin ist es auch um alle wissenschaftlichen Principien zur Beurtheilung der einzelnen sitt- lichen Handlungen geschehen" (bemerken Sie doch diesen Ungeheuern Schlufs!) „sobald ein Widerspruch statt finden kann zwischen dem, was das Ganze fodert, und dem, worauf ein Theil Anspruch macht." Ein Theil? [191] Wer sagt, wer verbürgt, dafs die Einzelnen, und deren nähere Verhältnisse, nur als Theile sollen aufgefafst werden? Und wer kann das Ganze auffassen ? Das Ganze ? Das Ganze der Sternen- welt? Das Ganze unseres Sonnensystems? Das Ganze der Erde und ihrer Ereignisse? Wir wollen bescheidener fragen: kennt irgend ein Mensch das Ganze der künftigen Folgen irgend einer seiner Handlungen mit Gewifsheit? kann er es einer wissenschaftlichen Construction anpassen? Gesetzt, wir könnten handeln in einer Ideal- Welt; wir könnten überdies die Totalität der Idealwelt überschauen: so läge doch der Werth dieser Welt nicht in ihrer Ganzheit, sondern es würden sich nur die nämlichen Verhältnisse, welche im Kleinen schon einen Werth haben, im Grofsen wiederhohlen. Wer die Kleinen Verhältnisse nicht zu würdigen weifs, der verfehlt auch die ähnlichen Werthe im Grofsen. Nun fallen aber vollends unsere Handlungen nicht in eine Idealwelt! Der handelnde Mensch kennt das, was er eigentlich beabsichtigt; und er vermuthet einige der unvermeidlichen Nebenfolgen mit mehr oder weniger Wahrscheinlich- keit, so dafs er Einiges hofft zu bewirken, Anderes zuläfst. Dies, was er beabsichtigt und zuläfst, bezeichnet sein Wollen als ein Bestimmtes; und dies Be-[i92]stimmte kann er beurtheilen. Mehr nicht] Will er mehr beurtheilen, mehr construiren, so täuscht er sich; und solche täuschende Constuctionen sollen nicht gemacht werden. Konnte sich Schleier- macher das nicht gegenwärtig erhalten, was half es ihm denn, dals er den Pflichtbegrifi untergeordnet, ja sogar leider! Naturgesetze, denen, selbst nach Spinoza, jeder Zweckbegriff fremd ist, und Sittengesetze, die von ästhetischen Urtheilen abhängen, dialektisch in einander gewirrt hatte, statt die Begriffe von beyden wahrhaft aufzuklären?

Schleiermacher kannte die Alten. Unzähligemal mufs er den, an die Ungewifsheit aller Erfolge erinnernden Spruch gelesen haben : Nie- mand sey vor dem Tode glücklich zu nennen. Er setzte, wenn ich nicht

Herbart's Werke. X. 19

2QO VIII. Zur Lehre von der I-'nyhcit des menschlichen Willens. 1836.

irre, das Glück des Lebens in ein gelingendes sittliches Handeln. So konnte er Niemanden wahrhaft glücklich nennen, der nicht vom Gelingen seines sittlichen Handelns überzeugt ist. Er hat mit uns die gleichen historischen Ereignisse erlebt. So mufste er wissen, dafs ganz gewöhnlich selbst die klügsten und mächtigsten der Menschen sich in der Erwartung der Folgen ihres Handelns verrechnen; dafs sie häufig das Gegentheil dessen, was sie säeten, geerndtet haben. Er war Religionslehrer. So mufste er das täglich [193] wiederkehrende, allgemeinste Religions- Bedürf- nis empfinden; dies nämlich, dafs wir nur im Glauben die Ergänzung unseres höchst unvollständigen Wissens um die Folgen unserer best- gemeinten Handlungen besitzen. Und sollte er wohl gemeint haben, mit der Gröfse des Ganzen, z. B. mit der Gröfse des Staats, worin ein Mensch lebt, wachse auch nicht etwa die Menge der Beschränkungen, son- dern die Gröfse des sittlichen Daseyns? ohne zu bedenken, wie viel die Intensität des Lebens in kleinern Kreisen dadurch verliert? Doch lassen wir jetzt Schleiermachern ! Andere mögen ihn kritisiren, und sein rühmlich angestrebtes Werk, die Kritik der Sittenlehre, besser fort- setzen als er es wirklich angefangen hat; sie mögen sich dabey erinnern, dafs die Zeiten vorbey sind, wo man den idealistischen Eifer so weit trieb, Natur und Geschichte a priori zu construiren. Damals freylich konnte man jeden Augenblick das ideale Ganze des Staats, der Kirche, der Wissenschaft und der Kunst mit dem realen Ganzen der Welt ver- wechseln, in welchem wir nicht blofs handeln wie wir wollen, sondern auch erfahren müssen, was wir nicht wollen.

Achter Brief.

[194] Veranlafst durch Jakobi und Spinoza, waren wir allmählig, ohne den gemächlichen Gang einer brieflichen Unterhaltung zu unterbrechen, in Betrachtungen von mehr psychologischer als moralischer Art hineingerathen. Hier also, glaube ich, wird es mit Ihrer Zustimmung geschehen können, dafs ich einen Gedanken niederschreibe, der mir schon lange vorschwebte, nämlich über das Verhältnifs der Psychologie zur Moral. Eigentlich bedarf es dazu nur weniger Worte; ich meine nämlich, es giebt zwischen diesen beyden Wissenschaften keinen conträren Gegensatz, sondern Psychologie und Moral sind disparat.

„Und wer wird denn an einen conträren Gegensatz hier auch nur ^denken? Hier, wo das Grübeln nach höhern und niedern Trieben eher [195] fürchten läfst, man werde die Moral in ein Capitel der Psychologie verwandeln?"

So höre ich Sie fragen ! Wie aber, frage ich Sie, wenn Jemand sagte, Psychologie und Moral verhalten sich wie Spinoza und Jakobi? Dann würden Sie doch nicht den Gegensatz zwischen den beyden Männern leugnen; denn vorhanden ist er, so wenig auch Jakobi den richtigen Ausdruck dafür zu finden weifs. Und wenn Sie nun Sich erinnern, dafs Spinoza von Absichten und Zwecken der Natur nichts leiden will, Jakobi

Achter Brief. 29 1

hingegen das System der Endursachen ausschließend in Schutz nimmt: dann werden Sie es nicht gar zu befremdend finden, dafs Partheyen gegen einander auftreten, die sich die Miene geben, einerseits Moral nach der Psychologie einrichten zu wollen, andererseits aber auch umgekehrt Alles in der Psychologie schwarz oder weifs zu färben, je nachdem sie eine Beziehung auf Gutes oder Böses darin zu entdecken glauben.

Schneller als ich diese Zeilen schreiben konnte, werden Ihre Ge- danken mir entgegen gekommen seyn. Sie werden Sich an eine Menge widerstrebender Tendenzen erinnert haben, die einerseits auf grofse Zu- friedenheit mit allen sogenannten Manifestationen des Welt- und Zeit- Geistes, andererseits auf grofse Ansprüche schleuniger Ver-[i96]besserung dessen was nicht mehr zu ertragen sey, hinauslaufen.

Von mir wissen Sie, dafs ich nicht in der Meinung, der Moral irgend Etwas entziehen zu wollen, sondern um dasjenige, was ihren Federungen gemäfs sich thun läfst, genauer kennen zu lernen, einen langen Fleifs an die Psychologie gewendet habe.

Schärfung sittlicher Grundsätze, Stärkung des sittlichen Willens, ist eine herrliche Sache. Wenn man aber den Willen aus dem Gedanken- kreise des Menschen herausreifst, so vermag er nicht mehr zu wirken; eben so wenig als das Pulsiren des Herzens dem thierischen Körper frommt, aus dem man das Herz herausgerissen hatte. Jeder wirkliche Wille hat seine Energie nur in und mit der gesammten geistigen Thätig- keit des Individuums, dem er angehört, und alle unsre moralische Be- urtheilung eines abstract gedachten Willens hilft nur in so weit zum Besseren, als sie vermag, in den wirklichen Willen einzugreifen.

Geht es langsam mit diesem Eingreifen in den wirklichen Willen, noch langsamer mit den Anstalten zum Handeln, und noch viel lang- samer mit den Producten solches Handelns in der Aufsenwelt: so ent- steht wohl manchmal eine Abspannung der ersten energischen Auffassung von dem, [197] was pflichtmäfsig zu thun sey. Dann mags dem Un- geduldigen scheinen, die Moral sey verletzt, indem ihre Befolgung ver- zögert wird. Ihre unbedvigten Foderungen scheinen vielleicht geringgeschätzt, indem erst noch überlegt wird, unier welchen Bedingungen sie zur Aus- führung gelangen können. Diese abspannende Wirkung hat oft genug die gemeine Menschenkenntnifs. Legt man sie nun auch der Psychologie zur Last, was Wunder, wenn die Moralisten verdrieslich werden? Vollends wenn sie. von einer Psychologie hören, worin dem übersinnlichen Vermögen, Freyheit genannt, nicht mehr oie alte bequeme Stelle unter den übrigen Seelenvermögen eingeräumt wird?

Umgekehrt: auch die Psychologie veranlalst zuweilen ohne ihre Schuld eine Art von Liebhaberey an allerley Menschenfiguren, wie wenn es Natur- produete wären, die man sammeln, kennen lernen, in möglichster Voll- ständigkeit beschreiben, in bester Ordnung registrieren müfste. Dichter und Historiker und mit ihnen auch wohl poetisirende und Zeitalter- deutende Philosophen gefallen sich darin, seltene Menschen begriffen zu haben, das Wunderliche nicht zu bewundern, das Schlechte als ein Natürliches zu erklären. Kommt ihnen nun die Moral in die Quere: so [198] wird sie beschuldigt, nicht auf der Höhe der Zeit zu stehn, bor- ig*

292 VTII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

nirte Ansichten zu haben, das Nothwendige nicht als ein Freyes begreifen zu können, und was dergleichen Redensarten mehr sind.

Wo liegt nun das, was sich gegenseitig abstöfst? Es liegt daran, dafs es Mühe kostet, so verschiedene Gemüthsstimmungen neben einander zu hegen, zu behaupten; sich in jedem Augenblick zu besinnen, wo man sey und was man treibe. Die Kälte und Ruhe der theoretischen For- schung gehört der Psychologie; die Strenge und Klarheit des ästhetischen Urtheils gehört der Ethik. Der Denker mufs für beydes bereit seyn. Ihn, als Moralisten, können die Zielpuncte nicht locken, welche der gesetz- lose Wille zu verfolgen pflegt; er giebt dem Willen Gesetze, und um es zu können, hält er den Athem seines eignen Willens an, denn nur als unpartheyischer Zuschauer soll er urtheilen, um den Werth des Willens zu finden und mit wissenschaftlicher Genauigkeit anzuzeigen. Ihn, als Psychologen, darf das sittliche Interesse nicht gegen die wirkliche Natur des menschlichen Geistes verblenden; er mufs sehen was zu sehen ist, erklären was sich erklären läfst.

Aber es könnte scheinen, ich hätte mich falsch ausgedrückt. Denn wo ist hier etwas Abstofsen-[igg]des? Wenn die Zielpuncte des gesetz- losen Willens den Moralisten nicht locken sollen, locken sie denn etwa den Psychologen? Eben so wenig. Der Moralist tadelt, der Psy- chologe braucht zwar nicht zu tadeln, denn das gehört nicht in den Inhalt seiner Lehre ; mufs er nun deshalb das tadelhafte für tadellos ausgeben ? Nein! er hat zu schweigen, wo der Moralist redet; aber er kann schweigend annehmen, was von jenem ausgesprochen wurde. Der Psycholog erklärt; der Moralist braucht nicht zu erklären, denn das gehört nicht in den Inhalt seiner Vorschriften; muls er nun deshalb das Erklärte für un- begreiflich ausgeben? Nein! er nimmt den Gegenstand wie er liegt; schweigend über verborgene Gründe die ihn nicht angehn, und ihm nicht vorliegen, bcurtheilt er das Vorliegende.

Dies letztere ists, was die Mehrzahl nicht zu begreifen pflegt. Wenn aber eine Blume sich geöffnet hat, dann weifs Jedermann, dafs die Be- urtheilung, ob sie schön sey oder nicht schön, sich nicht nach der Frage richtet, an welchem Stamm, in welchem Boden sie gewachsen sey. Den- noch ist und bleibt dies eine unschuldige, ja eine interessante Frage. Wenn eine Landschaft bewundert wird, so fällt Niemandem ein, sie durch geologische Erklärung der Berge und Thä-[2 0o]ler mehr oder weniger malerisch zu machen. Darum aber, weil die Geologie keine Landschaft zu verschönern im Stande ist, wird sie doch nicht für eine Feindin der Malerey angesehen werden! Begriffe man nun endlich einmal, dafs alle ^ethische Gesetzgebung auf ästhetischen Urtheilen beruht, so würde die Einbildung, als ob wahre Psychologie, die freylich keine ästhetische, sondern eine theoretische Wissenschaft ist, jemals der Moral zu nahe treten könne, sogleich verschwinden; und jenes Abstofsende würde, weit entfernt die Wissenschaften zu entzweyen, nur noch in der Anstrengung des denkenden Individuums empfunden werden, welches zweyerley disparate Studien vereinigen soll, nicht aber für dies oder jenes der einseitigen Vorliebe nachgeben darf.

Und warum nicht darf? Darum nicht, weil Psychologie in den

Achter Brief.

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Dienst der Moral treten mufs, um die Mittel darzubieten und die Hin- dernisse zu entfernen, nachdem von der Moral die Zwecke waren vest- gestellt worden. Der treue und geschickte Diener darf nicht Schmeichler seyn; oder besser: der treue und geschickte Beamte mufs aus eigner Einsicht wissen, was zu thun und zu lassen sey, um die Zwecke des Herrn nach Möglichkeit zu befördern. Das ist das Verhältnifs der Psychologie zur Moral.

[201] Um aber dies Verhältnifs richtig bestimmen zu können: mufsten wir zuvor das Sittliche richtig erkennen. Wir mufsten weder in den allgemeinen Formeln der Pflichtgebote seine Quelle suchen, noch es mit den Objecten, als Gütern von aufsen kommen lassen. Wir durften es nicht aus Trieben herhohlen ; weder aus Naturtrieben, als ob es pflanzen- artig im Menschen wüchse; noch aus einem höhein Triebe, als ob die Tugend dem Menschen angeboren wäre. Sondern zuerst mufsten wir wissen, dafs alle ursprüngliche Werthbestimmung, und so auch die des Willens, sich im Anschauen vorkommender Verhältnisse erzeugt. Hatten wir nun die Verhältnisse, welche der Wille bilden kann, vollständig bey- sammen: so mufsten wir noch die blofse Beurtheilung dieser Verhältnisse, das ästhetische Element des Sittlichen, zusammen fassen mit dem Willen selbst; und nun erst, nachdem wir in dieser Verbindung das Sitt- liche erkannten, kam die psychologische Frage an die Reihe: welches sind für den Menschen, wie er ist, die Bedingungen seiner sittlichen Bildung, Veredlung, und Lebensführung. Dafs diese Frage in Pädagogik und Politik hinüber schauet, ergiebt sich dann leicht von selbst.

Zur Erhohlung von so vielem Spinozismus [202] Welchen Schrift- steller kann ich nun wählen, um daran die psychologischen Reflexionen zu knüpfen, zu denen ich durch das Vorhergehende bin geführt worden? Welchen soll ich nennen, damit schon der blofse Name für Sie eine sichere Aufheiterung sey? Ich wähle Jean Paul. In der Levana findet sich ein ganzes Capitel vom Spielen der Kinder; und dabey waren wir ja im vorigen Briefe.

„Was heiter und selig macht und erhält (so beginnt er,) ist blofs Thätigkeit. Die gewöhnlichen Spiele der Kinder sind ungleich den unsrigen, nichts als die Äufserungen ernster Thätigkeit, aber in leichtesten Flügelkleidern; wiewohl auch die Kinder ein Spiel haben, das ihnen eins ist, z. B. das Scherzen, sinnloses Sprechen, um sich selber etwas vorzusprechen, u. s. w. Schriebe nun ein Deutscher ein Werkchen über die Kinderspiele welches wenigstens nützlicher und später wäre, als eins über die Kartenspiele, so würde er sie sehr scharf und mit Recht, dünkt mich, nur in zwey Klassen theilen; 1) in Spiele oder An- strengungen der empfangenen, auffassenden, lernenden Kraft, 2) in Spiele der handelnden, gestaltenden Kraft. Zur ersten Klasse gehören die Kinderfreuden am Drehen, Heben, Schlüssel in Schlösser zu [203] stecken, Thüren auf und zu zumachen, einem elterlichen Geschäfte zu- zuschauen. Die zweyte Klasse fafst diejenigen Spiele in sich, worin das Kind sich seines geistigen Überflusses durch dramatisches Phantasmen, und seines körperlichen durch Bewegungen, zu entladen sucht."

Weiterhin kommt die naturgetreue Schilderung der kindlichen Phan- tasie, die sich aus Allem Alles macht; und dann die Bemerkung:

2QA VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

„Von derselben Phantasie, welche gleich der Sonne, den Blättern die Farbe aufträgt, wird sie ihnen auch ausgezogen. Dieselbe Putzjungfer kleidet an und aus ; folglich giebts für Kinder kein ewiges Spiel und Spielzeug. Darum lasset ein entkleidetes Spielzeug nicht lange vor dem sinnlichen Auge; sperrt es ein. Nach langer Zeit wird die Ab- geschiedene wieder gefreyet. Dasselbe gilt von dem Bilderbuche; denn dem Bilderbuche ist das poetische Beseelen eben so nöthig als dem Spielschranke." Weiter brauche ich gewifs nicht abzuschreiben; Sie erinnern Sich nun des Übrigen; erinnern Sich auch, dafs man die Unabhängigkeit von der Be- gierde nicht erst beym Willen zu suchen hat. Ist diese Unabhängigkeit das- jenige, was unter dem Namen Freyheit so ängstlich gesucht wird, [204] so kommt sie weit früher, als der eigentliche Wille; sie kommt mit der höchst beweglichen Phantasie, welche keiner Begierde gestattet, sich einzuwurzeln; sie kommt im Spiele. Nur schlimm: das Spiel wird ernst, oder weicht vor dem Ernste zurück. So leicht es ist, Kinder, die nicht verwöhnt wurden, Jahre lang mit Wenigem zu befriedigen und zu erfreuen: so kommt doch eine Zeit, wo sie etwas gelten, etwas treiben, etwas haben wollen. Und während selbst hier die gröfsten Verschiedenheiten, nicht blofs nach den Individualitäten, sondern auch nach äufsern zufälligen Um- ständen vorkommen, dergestalt, dafs an jenes Hirngespinst einer Be- gierde a priori kein erfahrener Erzieher denken wird, so beginnt doch nun ein langer und mifslicher Übergang, an dessen weit entferntem Ende erst jener reife Wille zu sehen ist, den wir im vorigen Briefe frey nannten. Wie vielerley Untugend kann inzwischen herbeykommen ! Ganz ab- gesehen vom Hange zur sinnlichen Lust und Behaglichkeit, sammt den eigentlichen Begierden die hierin begriffen sind, stellen sich dem Erzieher in den Weg: Arbeitscheu, Ungefälligkeit, Falschheit, Empfindlichkeit, Eigen- sinn, Geist des Widerspruchs, Trotz, Kälte, Gefühllosigkeit, Undankbarkeit, Zanksucht, Scha-[205]denfreude, Härte, Spottgeist, Selbstsucht, Neid, Eigen- nutz, Gewinnsucht, Geiz, Entwendung, Stolz, falscher Ehrgeiz. Sie merken wohl, dafs Niemeyer vor mir aufgeschlagen liegt. Es kam mir für das- mal nur auf die Menge des Verkehrten an, welches die Unsittlichkeit schon lange vorher anzukündigen pflegt, ehe von Grundsätzen, nach Jakobi, oder von Maximen, nach Kant etwas Deutliches zu sehen ist.

Wir sind gar zu sehr daran gewöhnt, die Sittlichkeit als dasjenige zu denken, was der Mensch aus sich macht, und nach Art des Fichteschen Ich in sich setzt. Wie dicht auch die Schulen mancher Philosophen Sittlichkeit und Freyheit in einander drängen mögen: immerfort wird die Erfahrung wiederhohlen, dafs die Sittlichkeit, als Eigenschaft des wirk- lichen Menschen, nicht in Einem Gusse entsteht, nicht aus Einem Stücke gemacht wird, nicht auf allen Bildungsstufen sich selbst genau gleich ist: sondern dafs sie sowohl als ihre Gegentheile mannigfaltig sind, allmählig entstehn, und bey den Individuen verschiedene Formen annehmen. Das Löbliche im Knaben kann noch nicht die Tugend des Mannes seyn, und das Ehrwürdige in edeln weiblichen Charakteren ist und bleibt anders ge- artet als das Erhabene männlicher Weisheit.

[206] Immerfort wird dies tür den Erzieher die Folge haben, dafs

Achter Brief.

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er mit den Moralsystemen gerade um so weniger etwas anfangen kann, je mehr sie sich darin gefallen, aus Einem Princip zu deduciren. Und was der Erzieher nicht brauchen kann, wird das etwa dem Politiker bessere Dienste leisten? Sie vergönnen mir doch, nach meiner alten Weise Politik und Pädagogik als vielfach analoge Wissenschaften zu betrachten? Doch nichts weiter von Politik !

Die pädagogische Sorgfalt für sittliche Bildung ist aus sehr ver- schiedenen Theilen zusammengesetzt, unter denen allerdings auch das Warten auf die freyen Handlungen des Zöglings einen Platz hat, aber nicht den günstigsten und hoffnungsreichsten. Wer mit Freiheitsideen an die pädagogische Praxis geht, der ist wahrlich um nichts besser berathen, als Diejenigen es waren, die in früherer Zeit meinten, die Seelen der Kinder seyen wie weiches Wachs, dem man beliebige Formen geben könne. Jahre genug sind verflossen, seitdem Kant sein Bruchstück eines moralischen Katechismus bekannt machte;* es haben sich aber keine pädagogischen Wunder darnach ereignet.

[207] Finden wir etwa das Streben nach der Kantischen allgemeinen Gesetzlichkeit bey der Jugend? Wir finden, dafs sie Ansprüche dieser Art an den Erzieher macht. Die sich als gleich betrachten, wollen gleich behandelt, wollen nicht hinter den Andern zurückgesetzt seyn. Aber dem Erzieher stehen grofse, oft sonderbare Unterschiede der Individualität, der Fortschritte, der verdienten Vorwürfe deutlich vor Augen; er kann gar manche Ungleichheiten der Behandlung nicht vermeiden. Dies vermehrt noch das ohnehin vorhandne Streben, worin alle einander gleichen, nämlich das Streben nach auf serer Freyheit. Alle, auch Diejenigen, die ihre Freystunden nicht zu gebrauchen wissen, denken doch mit frohem Vorgefühl an die Zeit nach der Entlassung. Was wollen sie alsdann ? Etwa nach Maximen leben; und zwar nach Maximen, die allgemeine Ge- setze seyn könnten? Vielmehr, sie wollen ungefähr so leben, wie ihre älteren schon entlassenen Bekannten. Und wie leben denn diese Be- kannten? Das läfst sich zwar nicht allgemein beantworten; doch findet sich bey dem erfahrungsreichen Niemeyer eine merkwürdige Stelle, die hieher gehört.

„Jünglinge, welche so leicht zum Wohlleben und zur Schwelgerey hin- gerissen werden, schützt, [208] besonders wenn sie im Überflusse erzogen sind, nichts als starke Liebe zu den Wissenschaften, und über- haupt zu geistigen Beschäftigungen. Ohne diese gehn sie fast ohne Ausnahme verloren. Daher sollte man gerade die, welche um des Brodtes willen wenig zu lernen brauchen, am meisten lernen lassen." Wobey uns doch wohl einfallen wird, dafs, wenn man sie lernen läfst, ohne ihr Interesse zu berücksichtigen nämlich das unmittelbare Inter- esse an den Gegenständen des Unterrichts, die heilsame Liebe, welche ja stark seyn soll, durch das blofse Lernen nicht kann herbeigeführt werden.

Jedenfalls sind wir hier sehr weit entfernt von dem Kantischen freyen Willen, dessen Bestimmungsgrund kein Object, sondern die blofse Form

* Kants Tugendlehre § 52.

296 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

der Gesetzlichkeit seyn sollte. Es findet sich gerade umgekehrt, dafs ein grofser Kreis von Objecten, worin viel geistige Beschäftigung möglich ist, den Jüngling soll angezogen haben, weil aufserdem der Wille mehr und mehr von Begierden abhängig werden würde. Die Gefahr liegt darin, dafs nach psychologisch zu erkennenden Gründen der Gedankenkreis immer mehr zusammensinkt und sich verengt, indem Weniges bestimmend hervortrit, vieles Andere daneben theils [209] mit theils ohne Absicht zurückweichen mufs. Der Mensch wird immer einseitiger; seine Phantasie verarmt; er beschränkt sich auf sein Fach, sein Geschäft, seine nähere Umgebung, seine ernstere Sorge; soll er Vieles bedenken und ver- folgen, so mufs es im Zusammenhange stehn, muls sich als ein Ganzes gestalten lassen. Dies tühlen schon junge Leute, wenn nicht eine sehr sorgfältige Bildung es ihnen möglich machte, in grofsen Umrissen, in sicheren Verknüpfungen ein weit ausgedehntes und stets passend er- gänztes Mannigfaltiges zusammen zu halten. Was Wunder, wenn gar Wenige Lust haben, sich um das Allgemeine zu bekümmern? Es ist eine Erleichterung, mit der man spricht: Wie Vieles giebt es, das mich nicht angeht! Und sehr nahe liegt es, fortzufahren: mögen Andere nach ihrer Weise leben; mich soll man bey der meinigen lassen; ich verlange nicht, dafs meine Maximen allgemeine Regeln, vollends Gesetze, sevn sollen', ich habe nun einmal meine Passion, dieser gemäfs richte ich mich ein, und wenn mein Leben in solcher Art mit sich selbst zusammenstimmt, so lebe ich vernünftig.

War es etwa dies, was Jakobi meinte, da er im Namen seines Geg- ners sprach: Die Fähigkeit, wirksame Grundsätze anzunehmen, ist [210] wie die Lebhaftigkeit und Energie des Gedankens; wie der Grad des vernünftigen Daseyns ?

War es dies, so konnte er dazu gelangen ohne jene instinetartige Begierde a priori, ohne spinozistischen conatus suum Esse conservandi, kurz, ohne falschen Determinismus. Wahre Psychologie lehrt wahren Determinismus; aber den falschen hebt sie auf.

Diejenigen Begierden, welchen der Wille sich leider oft genug scla- visch unterwirft, hängen nicht blofs von der Beschaffenheit der gewollten Objecte ab; sie stehn auch nicht so entschieden vest in der Individualität, dafs dagegen gar nichts zu thun wäre. Sie schliefsen das ästhetische Urtheil nicht dergestalt aus, als ob es nach spinozistischer Manier müfste wie ein Vorurtheil geschmähet werden. Es schwebt lange genug in Fragey wohin der Mensch sich neigen werde, damit dem Aristoteles sein Recht verbleibe, der die Fertigkeiten auf Übungen ankommen liefs. Das Menschen- geschlecht hat sich wirklich zu so grofsartigen Ansichten des Allgemeinen jempor gearbeitet, dafs Kant seinen kategorischen Imperativ aussprechen, und dadurch einen starken Eindruck hervorbringen konnte. Die prakti- schen Ideen sind nichts Neues; zum deutlichen Bewufstseyn entwickelten sie sich schon in den [211] Schulen des Platon und der Stoiker; sie liegen in der christlichen Religionslehre; mit dieser verbunden haben sie auf viele Millionen gewirkt; und würden noch sicherer gewirkt haben, wäre man nicht unbehutsam genug gewesen, die Religionslehre durch allzu- grofse Breite den skeptischen Anfechtungen blofs zu stellen.

Achter Brief.

2Q7

Aber die transcendentale Freyheit jenes Kantische Vermögen ab- solut anzufangen*, stellt Alles in das falsche Licht, als ob die Sittlich- keit jetzt erst anfangen sollte, und als ob jeder Zeitmoment die immer neue Foderung solches Anfängern für die Erscheinung, das heifst hier, für das zeitliche Bewufstseyn der Menschen, in sich trüge. Damit läfst sich die, in politischer Hinsicht so vielfach gerügte, Verkehrtheit ver- gleichen, die Vergangenheit als hinter uns abgebrochen anzusehen. So wenig irgend ein Staat in diesem Augenblick von vorn anfängt zu exi- stiren, so gewifs alle politischen Ereignisse nur Fortsetzungen dessen sind, was an geselligem Streben schon da war, eben so gewifs wird auch die bereits vorhandene sittliche Bildung in jedem Augenblicke auf allen Punkten der Erde gefördert oder rückwärts geführt. Der religiöse Glaube giebt [212] uns die Zuversicht, dafs im Ganzen das Bessere im Wachsen be- griffen sey.

Hindert etwa diese Ansicht des Fortsetzens, dafs unmittelbar, wo Sittliches oder Unsittliches zum Vorschein kommt, darüber ein Lob oder Tadel von vorn an ergehe'? Keinesweges. Das Urtheil ist immer neu; aber seine Wirkung sammelt sich zu fiühern Wirkungen. Die Sittlichkeit besteht nicht in dem blofsen Urtheil.

Das Urtheil, als Kraft gedacht, mag einmal der Schwerkraft, die in anderer Hinsicht himmelweit von ihr verschieden ist, verglichen werden. Sie heifst bey den Mechanikern eine beschleunigende Kraft. Nicht als ob sie selbst nur Fortsetzung wäre; -— vielmehr, in jedem Augenblick giebt sie einen neuen Antrieb, absolut anfangend. Aber die Geschwindigkeit des fallenden Körpers vereinigt den jetzigen und die frühern Antriebe; und jede endliche Geschwindigkeit ist schon Resultat der verflossenen Zeit, in welcher die Beschleunigung statt fand. Gewifs aber wird dies bey Ihnen, verehrter Freund! nicht gegen die Mifsdeutung zu sichern nöthig seyn, als wäre nun doch das ästhetische Urtheil gleich einem Triebe! Das ist es so wenig als die verschiedenen Individuen davon alle und immer gleichföi~niig beschleunigt werden. Der ästhe-[2 I3]tische Gegen- stand bleibt sich gleich; aber die von ihm empfangene Wirkung hängt von der Empfänglichkeit ab.

Was folgt nun aus diesem Determinismus? Etwa dies, dafs wir die Hände in den Schoofs legen müfsten, weil Alles schon bestimmt sey, und wir es doch nicht ändern könnten? Gerade umgekehrt. Wer die Zukunft vorauszuwissen meint, der mufs auf die Gesammtheit alles Wollens gerechnet haben; denn eben das Wollen ist für menschliche Angelegen- heiten das Hauptmoment, wovon das Hervorbringen der Zukunft ausgeht und abhängt. Wer im kleinen Kreise, wer in sich selbst die Zukunft errathen will, der fragt zuerst sich, ob und wie er sich kenne? Welche Vcstigkeit er sich zutrauen, wie viel Gewandtheit und Geschick er in zweifelhaften Lagen aufbieten oder wieviel etwa noch durch Übung gewinnen könne? Mag er nur auch nach der Reinheit seiner sittlichen Gesinnung fragen, denn von dieser hängt in Augenblicken schwieriger Entschliefsung nicht das Wenigste ab. Mag er nur nicht gar zu entschieden sich selbst

* Kritik der reinen Vernunft, dritte Antinomie.

2o8 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

als bekannt voraussetzen; die Zukunft ist noch nicht bestimmt, wenn er zur Reinigung seines Herzens irgend etwas noch zu überdenken vermag. Der Flufs der Zeit geht nicht neben den menschlichen Ge-[2 I4]müthern vorbey, sondern er geht durch sie hindurch, das heilst, er geht nicht, wie Wasser, an den Wänden der Röhre vorüber, sondern gleich dem elektrischen Strome durch die Substanz, auf deren cigme Natur es ankommt, ob sie ihn leiten, oder hemmen werde.

Wer sich in Betrachtungen dieser Art verwickeln kann ; dem fehlt es, wenigstens so lange die Verwickelung dauert, an der Klarheit des sitt- lichen Bewufstsevns. Besitzt er diese: so ist er hiermit unmittelbar activ, bestimmt unmittelbar wirklich sich selbst; und diese Thätigkeit ist in seiner Apperception ein unstreitiges Factum, ohne Frage, wie es entstanden sey. Wird etwan einem lebenden Menschen sein Leben dadurch zweifel- haft, dals sein Stammbaum nicht bis zu Adam und Eva hinaufreicht? Genug, er ist nun da! So auch das sittliche Bewufstseyn. Es ist da, und es wirkt; das steht vest im Kleinen und im Grofsen; im Einzelnen und im Ganzen. Die Geschichte, wie es allmählig entstand, mag klar oder dunkel seyn; an der jetzt wirklichen Thatsache kann sie nichts ändern. In diese?u Sinne sind die psychologischen Betrachtungen weder nützlich noch schädlich, sondern rein überflüssig. Aber in andrer Hinsicht sind sie wichtig; denn: sie zei-\2l$]gen die Beweglichkeit der Gemüther zum Guten und zum Bösen. Sie zeigen die Nothivendigkeit dei Erzichimg und der Selbstbildung', unter der Voraussetzung, für Beydes sev der gute Wille schon vorhanden.

Erfahrungsmäfsig, wenn auch nicht mit wissenschaftlicher Gründlich- keit, ist jene Beweglichkeit allgemein bekannt.

Daraus folgte von jeher, dafs man suchte, sich gegen sie zu be- vestigen. Man versuchte das durch Grundsätze. Und so war es recht. Wer wollte das Bedürfnifs der Gesetzmässigkeit für die Sittlichkeit läugnen? nur giebt es kein Gesetz ohne Inhalt: keinen Imperativ der blofsen Gesetzlichkeit.

Wie vorhin Jean Paul mir half, mit wenig Worten das Spielen der Kinder eigentlich ihr Phantasmen, und hiemit den Grund aller mensch- lichen Freyheit zu bezeichnen, so mag er jetzt nochmals helfen, an Grundsätze, oder an ein allgemeines Wollen zu erinnern, was allerdings eine logische, aber nichts weniger als eine blofs theoretische Natur in sich trägt.

„Das ächte Kernfeuer der Brust glüht in jenen Männern, welche ein durch das ganze Leben reichendes Wollen, nicht aber, wie der Leiden- schaftliche, einzelne Wollungen und Wal-[2i6]lungen haben. Das lange Wollen, das jeden innern Aufruhr bändigt, setzt nicht einen blofsen Zweck, ; sondern Endzweck, gleichsam eine Central-Sonne aller Umläufe, die Idee voraus. Es kann nur ein starkes oder grofses Leben geben, nicht aber eine einzelne grofse oder starke That, wie jeder Schwäch- ling eine auch vermag. Ein unausgesetzter Wille kann nur das All- gemeinste meinen; je besonderer der Wille angeht, desto öfter bricht ihn die Aufsenwelt ab."*

*) Levana II, § 110.

Achter Brief.

299

So denkt sich Jean Paul die stoischen Grundsätze, denn von denen redet er an dieser Stelle. Aber sind sittliche Grundsätze die ersten, und die sich am leichtesten bilden?

Von ästhetischen Urtheilen beginnt, wie für die Wissenschaft, so auch im Laufe des Lebens für jeden einzelnen Menschen, die wahre, eigene, nicht angelernte sittliche Einsicht; mit welcher Alles, was von sittlichen Grundsätzen gelehrt und gelernt wird, sich vereinigen mufs, um Bedeutung zu bekommen. Dagegen führt alle Vorkehrung gegen schlechte Gewöh- nungen, Begierden, Leidenschaften, zunächst nur zu mittelbaren Tugen- den; deren Werth sehr grofs, doch bedingt ist durch An-[2 1 /Jschliefsung an jene Einsicht ins unmittelbar Würdige und Rechte. Bedarf es aber noch der Erinnerung, dafs im Laufe des Lebens sich die ästhetischen Ur- theile bey gegebenem Anlafs bilden, und wiederhohlen, und einprägen, und sich nur sehr allmählig von den mannigfaltigsten zufälligen Bey- mischungen reinigen ? Bey Ihnen, mein Freund, hat der Satz: dafs ästhetische Urtheile nicht ursprünglich als logische Allgemeinheiten hervor- treten, dafs sie vielmehr die Natur einzelner Urtheile an sich tragen keine Verteidigung nöthig. Noch mehr : ästhetische Urtheile sind an sich kein Wollen; nicht einmal ein einzelnes, viel weniger ein allgemeines.

Dagegen können, wo es aufs Generalisiren ankommt, die gemeinsten Bemerkungen dessen, was gewöhnlich nützt oder schadet, den Vorsprung gewinnen. Die Mehrzahl der Maximen, der allgemeinen Reflexionen von praktischem Inhalte, die man im Leben wie gangbare Münze umlaufen sieht, sind offenbar mehr im Geiste der Lebensklugheit als der Sittlichkeit gedacht. Ja sogar in jedem Falle, wo Einer den Andern zu kennen meint, und nun sein Betragen danach einrichtet, entsteht eine Art von Regel des fernem Handelns, die auf Allgemeinheit Anspruch macht, wenn auch mit dem Vorbehalte, [218] zu beobachten, wie das Verhältnifs sich weiter gestalten werde. Wer nun iühmt, er verstehe im Allgemeinen die Menschen zu behandeln, der traut sich viel dergleichen Kenntnisse zu, die, aus vergangener Erfahrung und Übung geschöpft, auch weiterhin, auch für die Zukunft, auch für neue Bekanntschaften und Lebenslagen gültig seyen. Und hier ist das Wissen unmittelbar mit dem Wollen und Handeln verschmolzen ; schon deshalb kommen Maximen des klugen Handelns eher in praktischen Gebrauch, als jene der Sittlichkeit.

Die Pädagogik redet nun vollends nicht blofs von der nöthigen Bildung einzelner sittlicher Maximen, sondern auch von deren eben so nöthiger Vereinigung; und dann noch vom Gebrauche der vereinigten Maximen. Ohne dies hier zu entwickeln, ist wenigstens soviel klar, dafs zur Reife eines sittlichen Willens und darin fanden wir ja laut dem vorigen - Briefe die eigentliche Freyheit! gar Vieles und Verschiedenes zusammenkommen mufs; daher einerseits die Seltenheit ausgezeichneter, ganz gediegener sittlicher Charaktere, andererseits die Vielförmigkeit dessen, was man im weitesten Sinne das Böse nennt, indem darunter alles das verstanden wird, was an strenger und vollkommner Sittlichkeit mangelt.

Sie, mein verehrter Freund! werden ver-[2 igjmuthlich diesen Briefen in Ihrer Büchersammlung zwischen meinen Gesprächen über das Böse,

^OO VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen "Willens. 1836.

und meiner kurzen Encyklopädie der Philosophie aus praktischen Ge- sichtspunkten, ein Plätzchen anweisen. Wahrend ich nun von Ihrer Güte erwarten darf, dafs Sie bey zweifelhaften Stellen, den Zusammenhang mit dem Ganzen der Philosophie, in der Encyklopädie aufsuchen werden: erlaube ich mir, zur Anknüpfung des hier Gesagten an die Gespräche über das Böse noch etwas beizufügen.

Erinnern Sie Sich zuvörderst, dafs dort die spinozistische Lehre als eine falsche, die Kantische als moralisch würdevoll, aber wenig geschickt zur psychologischen Betrachtung, die Fichtesche als zwar nicht richtiger, aber doch beweglicher und zugänglicher war dargestellt worden. Der Spinozist in jenen Gesprächen kennt Anfangs das Böse gar nicht; er erschrickt aber, indem er, sein besseres Selbst bey Spinoza vergeblich suchend, und nicht einmal eine wahre Persönlichkeit antreffend, endlich gewahr wird, dafs, wo Einheit und Realität, (blofs theoretisch aufgefafst;) für das an sich Gute ausgegeben worden, da noth wendig das Zerfallen in zahllose Endlichkeiten das Falsche, und eben diese Falschheit, die Mutter aller individuellen und zeitlichen Existenz, das Böse, [220] hiemit also das Böse dem Guten ursprünglich inwohnend, und gleichsam eingeboren seyn müsse. „Wir Alle, (spricht er) die gesammte Menge der endlichen Wesen, die wir nur deshalb den allgemeinen Schoofs der Gottheit verliefsen, um einander einzuschränken, zu hassen, und zu bekriegen, wir sind das, was nicht seyn sollte. Wir sind das ewige Böse, und die ewige Lüge. Um Gott zu finden, müssen wir- uns vergessen. Und haben wir ihn gefunden, dann werden wir wider Willen auf uns selbst zurückgestofsen. Denn der Unendliche ist behaftet mit aller Endlichkeit." Über diese Sorge den Spinozisten hinwegzusetzen, das finden beyde Mitredner, sowohl der Kantianer als der Fichtianer, weit schwerer, als sie anfangs meinten; sie selbst aber waren schon zuvor unter einander zerfallen, obgleich sie gemeinschaftlich die transcendentale Freyheit jenes Vermögen absolut anzufangen, welches unabhängig von allen Objecten, den einzigen Bestimmungsgrund des Willens in der all- gemeinen Gesetzlichkeit finden soll, behaupten, und hievon ausgehend sich über das Böse Rechenschaft geben wollen. Den Kantianer drückt im Verborgenen der Widerspruch, dafs in der nämlichen Freyheit, die durch sich selbst unmittelbar dem moralischen Willen völlig congruent, ja mit ihm identisch [221] seyn soll, hintennach noch das radicale Böse Platz nimmt; indem es, um recht sicher zugerechnet zu werden, auch einen ganz freyen Ursprung haben mufs. Der Fichtianer, anstatt hier anzugreifen, wo der Angriff am leichtesten war, trägt vor, was er gelernt hat, nämlich eine Unterscheidung verschiedener Refiexionspuncte, so dafs m der Erhebung vom niedern zum höheren das Gute, folglich in der Trägheit zu solchem Aufschwünge, und besonders im Zurücksinken von schon erreichter Höhe, das Böse liegen müfste. Auf solche Weise wäre wiederum, wie man so oft versucht hat, und wie es auch im Spinozismus liegt, das Böse auf eine blofse Negation reducirt; eine der unwahrsten und schädlichsten Vorstellungsarten die es giebt. Anstatt nun von hier aus zu widerlegen, hat der Kantianer keine nähere Angelegenheit, als zu zeigen: die Fichtesche Freyheit sey blinder Zufall, denn der freye Auf-

Achter 1

30I

schwung zum hohem Reflexionspunkte solle das Licht der Vernunft erst anzünden, folglich werde das Wollen vom Sehen und Wissen, das Praktische vom Theoretischen abhängig, welches allerdings in eine Ansicht, der Wolfischen ähnlich, zurückführen würde.

Sollte nun in diese Verwirrung irgend Etwas von Ordnung kommen, so mufste vor allem das [222] ästhetische Urteil geweckt, und die theo- retische Betrachtung, worin man sich verstrickt hatte, vorläufig zum Schweigen gebracht werden. Dem Spinozisten, als dem am meisten be- unruhigten und an seiner Meinung schon irre gewordenen, wird zu diesem Behufe ein lichter Augenblick geliehen, worauf das Erstaunen folgt, indem er sich besinnt: nach Spinoza sey die Realität Vollkommenheit, die Macht sey Tugend, das Positive als solches sey das Gute; aber gerade hievon hatte er so eben das Gegentheil gefunden, indem er den ersten Punct, der unmittelbar vom Tadel getroffen wird, unterschied von demjenigen Puncte, der den ersten Platz einnimmt im Gebiete des Seyns oder Geschehens. „Das Böse (hatte er gefunden) ist nicht durch Trägheit, also das Gute nicht durch Thätigkeit hinreichend charakterisiert; sondern : so wie der Hafs, die Feigkeit, die Lüsternheit, die Tyranney, u. s. w. unmittelbar verwerflich gefunden werden, so mufs auch die Liebe, der Muth, die Mäfsigung, die Gerechtigkeit, unmittelbar als vortrefflich an- erkannt werden, ohne Frage, woher sie kommen.11

Dies: ohne Frage woher sie kommen, ist offenbar die Hauptsache. Dies ists, was Kant richtig fühlte, indem er der praktischen Vernunft [223] das (von ihm nur zu weit ausgedehnte) Primat vor der speculativen zuerkannte.* Ein Primat, ein Vorzug, war nicht nöthig; aber Unabhängig- keit des ästhetischen Urtheils von jeder theoretischen Nachforschung, sie habe Namen welchen sie wolle, ist allerdings nöthig. Dies ists, was Spinoza gänzlich verfehlte und verdarb, indem er am Ende des ersten Theils seiner Ethik gegen das ästhetische Urtheil und gegen alles, was davon abhängt, declamirt; denken Sie nur an die „praeiudicia de bono et malo, merito et peccato, laude et vituperio, ordine et confusione, pulchritudine et deformitate."

Dafs nun schon aus diesem Grunde die spinozistische Richtung nimmermehr die Oberhand über die Kantische gewinnen kann: dies mufste in jenen Gesprächen von mir zunächst anerkannt und deutlich ausgesprochen werden; es war aber unvermeidlich, hiebey den gemein- schaftlichen falschen Zug der Kantischen und spinozistischen Lehre be- merklich zu machen, dafs beyde ins Weite, ins Unermefsliche, ins All- gemeine (wiewohl auf verschiedene Weise) hinausweisen, während die gewöhnlichen Pflichten des täglichen Lebens in einem sehr engen Ge- dankenkreise zulänglich klar [224] gefunden werden; welches unmittelbar die Probe liefert, dafs man in weiter Feme sucht, was vor den Füfsen liegt. Schon hier beginnt die Nothwendigkeit, eine Sprache der Mäfsigung mit Vermeidung mancher hochtönenden, aber hohlen Redensarten zu führen, welche, indem sie das Gute und Böse recht erbaulich vor Augen stellen sollen, aus dem Erhabenen ins Lächerliche fallen, von wahrer

* Kritik der prakt. V. S. 215.

302 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

Belehrung über den Gegenstand aber, der einer lehrreichen Behandlung so sehr bedarf, weit entfernt bleiben.

Was nun dort, hindeutend auf die Vorstellungen, als bleibende Zu- stände der Seele, die keineswegs so vergänglich sind als ihr Erscheinen und Verschwinden im Bewufstseyn, hindeutend auf Gutes und Böses, als wurzelnd in den Verbindungen der Vorstellungen, und hiedurch den ursprünglich bildsamen Charakter des Menschen immer mehr bevestigend, ist gesagt worden: das ist für Sie, verehrter Freund, schon längst kein Räthsel mehr; und Sie werden nicht wollen, dafs ich über Gegenstände, die in meiner Metaphysik und Psychologie mit aller Ausführlichkeit ab- gehandelt sind, hier am unrechten Ort von neuem spreche. Nur zu einigen Bemerkungen, die uns hier nahe liegen, und wodurch die eigent- liche Gefahr des Bösen vielleicht mehr ins [225] Licht treten wird, habe ich durch die vorstehenden Erinnerungen an eine ältere Schrift mir den Weg bahnen wollen.

Anfangen mufs ich hier nothwendig von Demjenigen, was, einmal erwähnt, am ersten kann bey Seite gesetzt werden; nämlich von dem ersten sprachgemäfsen Unterschiede zwischen geistiger Freyheit und Un- freyheit, welcher durch die Gesundheit und die Zerrüttungen des Geistes bestimmt wird. Daran erinnerten wir uns schon am Ende des dritten Briefes; und es läfst sich daran alles knüpfen, was durch den, in der Kantischen Schule viel zu iveit ausgedehnten Ausdruck Sinnlichkeit mit Grunde kann bezeichnet werden. Wenn zu Spinozas Zeit eine voll- ständigere Physiologie bekannt gewesen wäre, so würde er vermuthlich die Affecten noch weit mehr, als ohnehin geschehen, in die Länge und Breite o-ezosren und hoffentlich seinen thörichten Parallelismus zwischen der res cogitans und der res extensa gar sehr reformirt haben ; wir wollen annehmen, es sey geschehen; und damit sey alles Dasjenige abgethan, was den Einflüssen des Leibes Übles kann nachgesagt werden.

Indem ich von da forteile, finde ich zunächst, dafs die Kindheit nicht immer in so schuldlosen Spielen hingebracht wird, wie etwa Niemeyer [226] und Jean Paul es verlangen, und wie gute Mütter es leiten. Nicht immer werden schädliche Reize abgehalten, nicht immer kommt den natürlichen Begierden eine so mäfsige und doch genügende Sorgfalt entgegen, dafs in ruhiger Klarheit und Heiterkeit die frühesten Jahre dahin fliefsen, und das ästhetische Urtheil sich mit den andern menschlichen Thätigkeiten gleichzeitig entwickeln, rein aussprechen, oft genug sich wiederhohlen und bevestigen könnte. Sondern meistens ge- winnen die Begierden den Vorsprung; und es mufs erst zu Reibungen, Anklagen, Zanken und Spotten kommen, damit der Eine genöthigt werde vom Andern zu hören, was er sich selbst nicht sagen wollte; es mischen sich Strafen, mindestens Vorwürfe der Erwachsenen drein, um einen Ge- horsam zu erzwingen, der eine äufsere Gesetzlichkeit schafft, wogegen das Innere sich sträubt anstatt seine Zustimmung zu geben. Die natürliche Verspätuno des ästhetischen Urthcils ist der allgemeinste Grund der sittlichen Rohheit. Die Gegenstände der Beurtheilung, die Neigungen, Begehrungen, Handlungen, mufsten erst da seyn, ehe sie nur beobachtet werden konnten; das Gemüth mulste erst wieder von ihnen zur Ruhe gelangen, ehe das

Achter Brief. 303

Beobachtete sich zur Beurtheilung darbot. [227] Unterdefs war fremdes Lob, fremder Tadel vielfach laut geworden so kam das Urtheil von außen. Es beschränkte die äufsere Freyheit, anstatt dafs es innere Freyheit hätte geben sollen. Zu diesem Übel kam ein zweytes. Denn nicht immer urtheilt die Umgebung richtig; manchmal auch schweigt sie ganz. Wo nun das Urtheil von aufsen etwa stumm blieb, wo Heimlichkeit oder Nachsicht eine falsche Gewöhnung begünstigte, da schien das oben er- wähnte Erlaubnifsgesetz einzutreten; nach Art jenes Satzes, qui tacet, consentire videtur. So fanden wirs sogar ja bey den Naturrechtslehrern, nachdem statt des ästhetischen Urtheils eine Art von Orakel, unter dem Namen des Sittengesetzes, war eingeführt worden, dessen Schweigen soviel galt als Erlauben.

Dem eingebildeten Occupationsrechte , welches den Vortheil der früheren Zeit geltend macht, (qui prior tempore, potior iure,) steht für den gewöhnlichen, sittlich rohen Menschen ganz nahe das Recht des Stärkern und des Listigeren; welcher das Misfallende des Streits dadurch vermieden glaubt, dafs, nachdem Er einmal seine Überlegenheit unwider- sprechlich dargethan hat, die Schwächern von selbst Ruhe und Frieden halten werden.

Und hier nun besonders trit der oben be- [2 2 8] merkte Umstand klar hervor, dafs zur Form der allgemeinen Maximen nicht etwan zuerst das sittliche Bewufstseyn sich erhebt, sondern dafs Klugheit und Eigen- nutz den Vorsprung gewinnen. Die Sophisten lehrten früher als Sokrates! sie lehrten, das Recht sey der Vortheil des Stärkern; und Redekunst sey stärker als Weisheit. So Gorgias und Thrasymachüs.

Erst im Gegensatze, im Widerspruche gegen verderbliche Lehren, erhebt sich das ästhetische Urtheil nun auch seinerseits zu allgemeinen Formeln. Und dabey hat es noch fortwährend zu kämpfen; denken wir nur an Stoiker und Epikuräer! Vergessen wir auch nicht die Akademiker zwischen beyden!

Allgemeine Formeln sind der Misdeutung und dem Zweifel Preis gegeben. Ihr Sinn ist Demjenigen nicht klar, der sie nicht im eignen Bewufstseyn erzeugte sie scheinen ihm kraftlos, leer, am Ende gar lächerlich.

Wir brauchen nun nicht tiefer in alle die Verwirrung hineinzuschauen, welche entsteht, indem gerade die Maximen und Grundsätze, durch deren Bestimmtheit der Charakter sollte bevestigt werden, sich bald in der Anwendung unhaltbar zeigen, bald untereinander in Ä/-«'/geia-[2 2 9]then; und hiemit den gewöhnlichen Menschen verleiten, entweder in der Un- gebundenheit sein Heil zu suchen, oder sich lediglich den Satzungen und gemeinen Sitten anzuschliefsen, hiemit aber das innere Übel seiner Werth- losigkeit durch den äufsern Schein zu verlarven. Es ist nicht nöthig, der Trauer über Verkehrtheiten, von denen wir leider täglich hören und lesen, hier Worte zu geben.

Nun behaupten die Theologen eine Erblichkeit der Sünde; und Kant behauptet ein radicales Böse. Wollen wir ihnen widersprechen? Eine natürliche Gefahr des Bösen wenigstens haben wir uns eben jetzt deutlich gemacht; und man sieht dieselbe jetzt immer deutlicher, je tiefer man eindringt in die Mannigfaltigkeit der Bedingungen, welche alle zusammen

^04 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

müssen erfüllt werden, wofern das Sittliche nicht blofs im Menschen her- vortreten, sondern auch sich reinigen, gereinigt sich bevestigen, und be- vestigt wirken und handeln soll. Einseitige Sittenlehren vergessen hier immer Eins über dem Andern.

Das aber müssen wir Jenen nunmehr zu bedenken geben: dafs die Behauptung der Willensfreyheit sogleich ihre Präcision verliert, wenn von Erbsünde und vom radicalen Bösen auch nur das mindeste zugelassen wird. Hat die Freyheit [230] eine ursprüngliche Richtung mitgebracht: so ist sie nicht mehr das strenge Gegentheil des Determinismus.

Betrachtet man den Begriff der Freyheit zuvörderst ohne alle Rück- sicht auf Sittlichkeit: so mufs, wofern man sie in aller Strenge verlangt, jenes alte System der Indifferenz oder des Gleichgewichts zurückgerufen werden, für welches noch Jakobi in dem Briefe an Hemsterhuis sich erklärt, obgleich er in der Abhandlung über die Freyheit nichts hören will von dem „ungereimten Vermögen, sich ohne Gründe zu entscheiden." Dies Vermögen kann man nicht ablehnen, wenn der Begriff präcis seyn soll; denn die Meinung ist, dafs die Gründe, auch nachdem sie ver- nommen worden, doch nichts entschieden haben. Mithin geschieht die Entscheidung ohne Gründe ; und dies eben ist der Fehler in moralischer Hinsicht, weil die Wahl des Besseren, wenn sie nicht um des Bessern willen geschieht, keinen Werth hat.

Betrachtet man zweytens die Freyheit als den Sitz der Sittlichkeit: so mufs sie einen Grund ihrer Bestimmung haben; sonst träte die eben erwähnte Werthlosigkeit ein : aber der Grund darf schlechthin nicht aufser- halb der Freyheit selbst, mithin durchaus nicht in irgend einer Be- schaffenheit des gewollten [231] Gegenstandes liegen. Hier nun ist der einzig mögliche Versuch, diesen Freyheitsbegrifi vestzuhalten, derjenige, welchen Kant durch seinen kategorischen Imperativ machte; indem die blofse Form der Gesetzlichkeit den freyen Willen bestimmen sollte; alle objeetiven Motive aber unter dem Namen der Heteronomie verbannt wurden.

Von dem Augenblicke an, da Kant diese Lehre vortrug, hätte man wissen sollen, dafs hier die Spitze war, auf welcher ganz allein, und ohne die mindeste Veränderung, die Freyheitslehre schweben mufste, wenn sie einen strengen Gegensatz gegen den Determinismus bilden sollte. So- bald aber Kant das Wort: radicales Böses, aussprach, hatte er jene Spitze abgebrochen. Denn das hiefs: die Freyheit wird unfrey, da sie objeetive Motive annimmt, denen sie unzugänglich seyn sollte, um in kein Causal- verhältnifs zu verfallen. Hätte er das Böse nicht für radical erklärt, so ~, würden die schlechten Handlungen und Gesinnungen blofse Pausen in der zeitlichen Erscheinung der Freyheit gewesen seyn ; das hätte aber dem scharfen Tadel, welcher von den ästhetischen Urtheilen über den Willen und hiemit über die Person ergeht, nicht genügt; daher verrieth Kant ein richtiges Gefühl, wenn auch nicht [232] eine richtige Theorie, indem er durch das radicale Böse die Consequenz seiner Lehre zerbrach.

Mit hinreichender Präcision steht Spinoza der Kantischen Lehre gegenüber, indem er die Selbstständigkeit der Individuen aufhebt, ihre Entschliefsungen in das absolute Werden des Universums versenkt, und

Neunter Brief.

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aller Wirksamkeit der Zweckbegriffe den Krieg erklärt. Was er am Ende der Lehre von den Affecten über animositas und generositas sagt, zeigt zwar eine Spur des ästhetischen Urtheils; aber dies hat gegen die vesten Mauern seines Fatalismus nichts wesentliches vermocht; daher hievon kein Grund mag hergenommen werden, ihm die Präcision seiner freyheits- widrigen Lehre abzusprechen.

Sind nun die beyden Arten von Präcision, welche an den entgegen- gesetzten Enden stehn, unzulässig: so mufs der Raum in der Mitte zwischen beyden benutzt werden. In dieser Mitte fand sich unwider- sprechlich der Unterschied des mente captus von Demjenigen, der freyer Handlungen fähig ist, welche Handlungen gerade darum frey genannt werden, weil sie determinirt sind durch einleuchtende Motive. Dem Worte Freyheit kann also eine solche Präcision, wodurch es das strenge Gegentheil des Determinismus anzeigen würde, nicht aufgedrungen werden. Die [233] beyden Namen müssen mit einander Frieden machen. Unter Bedingungen, worauf das Wort Detcrminisinus deutet, wird Freyheit er- worben, wenn auf Erziehung die rechte Selbsterziehung folgt.

Und wir, mein theurer Freund! werden uns leicht darin finden, dafs von frever Phantasie und freyer Reflexion, von freyem Spiel und freyer Wahl geredet wird; denn wiewohl dies alles nicht die ideale Frevheit er- reicht, die wir in vollkommener Einstimmung des Willens mit dem ästhetischen Urtheile suchen, so erkennen wir doch, dafs, psychologisch genommen, jene Ausdrücke geschickt sind, um Annäherungen an die Idee, wie solche nach menschlicher Weise von verschiedenen Seiten her ge- schehen müssen, passend zu bezeichnen.

Amphora coepit Institui; currente rota cur urceus exit? So höre ich Sie fragen; und wenn ich antworte, dafs ich ja kein Kunstwerk versprach, so bietet sich Ihnen gleich die Erwiederung dar: wer Neuigkeiten bringe, der möge schreiben nach Belieben; aber Briefe über bekannte Sachen seyen ohne Entschuldigung, wenn nicht die Kunst- form ihre Existenz rechtfertige. Doch mein Freund ist bey [234] so wenig dankbarem historischen Material wohl nicht so strenge; und es wird kaum nöthig seyn beyzufügen, dafs ich in der That wünschte, nur all- gemein bekannte Sachen gesagt und ein überflüssiges Büchlein geschrieben zu haben.

Neunter Brief.

[235] Damit es Ihnen ja nicht begegne, diese Blätter mit einem ähnlichen Gefühl zu verabschieden, als womit man schlechte Verse weg- legt, weil sie einen Werth affectiren, den sie nicht haben : so will ich um mehrerer Sicherheit willen den Schein von Einheit, welchen die vorigen Briefe für sich allein allenfalls besitzen möchten, nun vollends zerstören, indem ich durch einen Zusatz das simplex duntaxat et unum, die erste Bedingung jeder Kunstform, sichtbar überschreite. Es hängt nämlich mit

Herbart's Werke. X. 20

ßOÖ VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

dem Vorstehenden ein Gegenstand sehr genau zusammen, an den gleich- wohl schwerlich irgend Einer von Denen, welche die Freyheitsfrage ab- handelten, mag gedacht haben. Doch ehe ich ihn nenne, erlauben Sie mir wohl ein kurzes Vorwort.

Zur Genüge, um nicht zu sagen, zum Über-[2 36]drufs, ist gegen mich der Vorwurf wegen Begründung der praktischen Philosophie auf ästhetischen Urtheilen wiederhohlt worden. Sie, mein theurer Freund! haben zwar meines Wissens nicht eben Gewicht darauf gelegt, aber zu Gesicht gekommen ist Ihnen mindestens damals, als Sie ihre Ästhetik ausarbeiteten, das, was Bouterweck in der seinigen, (gemäfsigt und klar, wie von ihm zu erwarten war,) über diesen Punct geäufsert hatte. Da es kurz ist, kann es füglich hier Platz finden.

„Von der Sittenlehre der Stoiker an, die vorzugsweise schön nennen, was der Würde des Menschen gemäfs ist, hat sich diese Vorstellungsart durch die Systeme Shaftesburys und der Ästhetiker aus der schottischen Schule bis zu einer der neuesten Ansichten der Sittlichkeit unter mancherley Abänderungen fortgezogen. Aber liegt denn nicht zuweilen die moralische Billigung mit der rein ästhetischen in offenbarem Streite? Wenn wir uns auch erlauben wollen, das Gefühl, das den moralischen Urtheilen voran- geht, sittlichen Geschmack zu nennen:

Belieben Sie, ehe ich fortfahre, zu bemerken, dafs also auch nach Bouterweck den moralischen Urtheilen Etwas vorangeht. Er nennt dies Vorangehende ein Gefühl; ich würde be-[2 37]stimmter sagen: dem moralischen Urtheil geht das, von ihm wohl zu unterscheidende, ästhetische Urtheil, oder genauer, es gehen ihm, dem Einen moralischen Urtheile, mehrere ästhetische Urtheile voran, die allerdings auch Gefühle in sich schliefsen, aber durch den sehr unbestimmten, und gerade hier sehr vieldeutigen Ausdruck Gejühl nicht charakteristisch bezeichnet werden können ;

„wird durch dieses Wort die Gefahr ästhetischer Sitten aufgehoben

die selbst Schiller anerkannt hat, der doch wohl wufste was schön

ist? Ist das ein Gefühl des Schönen, was gebietend aus unserm Busen

spricht, und uns an ein Gesetz erinnert, das Erfüllung strenger

Pflichten fodert?

Gewifs nicht. Gebieten ist Wollen; die Auctorität des Gebietens und

hiemit des Gesetzes liegt aber nicht im Wollen; sie kann und darf nicht

darin gesucht werden, wie ich öfter, und noch im Anfange des vierten

Briefes, erinnert habe.

„Beziehen sich die Gesetze der Empfindung des Schönen auf ein Thun und Lassen? Ist denn, möchte man dagegen fragen, das Sittliche damit abgethan, dals man etwas thue oder lasse? Oder was bedeutet die oft gehörte Formel, es sey nicht genug, pflichtmäfsig sondern man soll aus Pflicht handeln ? [238] „Schliefst jede Bereitwilligkeit, der Pflicht ein Opfer zu bringen, ein heiteres Wohlgefallen an diesem Opfer in sich? Sie wissen, was ich schon anderwärts gegen das Vergessen der negativen Seite des Ästhetischen des turpe erinnert habe; dessen Vermeidung im Kreise der Pflichten gerade der häufigste Fall ist.

Neunter Brief. S07

.,Und wo bliebe der achtungswürdige Mensch, welcher der ganzen Herrlichkeit der schönen Kunst nicht eher einen Werth zugestehen will, bis ihr ihm bewiesen habt, wozu sie wohl nütze?" Da kommt der Misverstand in den Worten zum Vorschein. Reden wir vom Ästhetischen: so denkt man, wir reden von Kunst. Uns gegenüber redet man weiter von der ganzen Kunst, als sprächen wir von der ganzen Ästhetik. Bey solchen logischen Fehlern ist kein Einverständnils möglich. Was ist denn früher da, das Ästhetische oder die Kunst? Was reicht weiter? Wo bleibt die schöne, die grofse Natur? Wenn nun das Ästhetische sich nicht will in lauter Kunst einengen lassen: so wird man sich schon gefallen lassen müssen, dafs sittliche Schönheit und sittliche Gröfse oder deren Gegentheile, sich unter andern auch in solchen Charakteren und Individuen finden, die in ihrem Leben nie ein Ge- [2^9]dicht gelesen haben oder zu lesen Lust haben. Übrigens könnte man jene Frage etwa so parodiren: wo bliebe der tüchtige Bildhauer, welcher der ganzen Herrlichkeit der Musik nicht eher einen Werth zu- gestehen will, bis ihr ihm bewiesen habt, was wohl die Musik zur Bild- hauerey nütze?

Man kann Niemandem das zeigen, was er nicht sehen will. Sollen aber die praktischen Ideen erkannt werden, so setzt dies voraus, man wolle sie sehen. Alsdann fällt es der praktischen Philosophie nicht schwer, als klare Thatsache vor Augen zu legen, dafs jede praktische Idee ihr eigenthümliches Verhältnifs hat, aus dessen Beurtheilung sie entspringt; und der nämliche Satz, welcher alle, auch die verschiedensten Theile der Ästhetik zusammenhält:

ästhetische Urtheile ergehen nur übet Verhältnisse, dieser Satz, nach dessen Anleitung die praktischen Ideen gefunden, geordnet, unterschieden wurden, verknüpft nun ohne alle weitere Frage die Ethik mit der Ästhetik. Die Frage verschwindet durch den Augenschein. Hier ist wirklich Etwas, das man figürlich redend Anschauimg nennen könnte. Nur geht es nicht der Untersuchung voran; sondern es ist das Werk der regelmäfsig geführten Untersuchung.

Nicht aber blofs aus Achtung für die, in der [240] Natur der Sache liegende, wissenschaftliche Form, mufs das wohlbekannte: in verbis simus faciles, hier zurückgewiesen werden: sondern der Ausdruck: ästhetisches Urtheil, ist für den Ursprung der praktischen Ideen auch deshalb nothwendig, weil, wie schon vorhin bemerkt, der ganze Mensch nicht nach einer, sondern nach allen praktischen Ideen, und nicht nach einzelnen pflichtmäfsigen oder pflichtwidrigen Entschlüssen und Hand- lungen, sondern nach seinen angenommenen Sitten und Grundsätzen mufs beurtheilt werden, wenn man ein moralisches Urtheil über ihn fällen will. Bey diesem liegen die ästhetischen Urtheile zum Grunde; aber der Grund eines Thurms ist nicht dessen Spitze, und eben so wenig ist durch irgend ein ästhetisches Urtheil schon das moralische vollständig gegeben.

Hier breche ich ab, um Sie, mein theurer Freund! nicht gleichsam stehen und warten zu lassen; denn was sollten Ihnen diese, für uns längst abgethanen Sachen? Aber vorhin wird Ihnen die Art, wie Schillers kurzer Aufsatz in den Hören: über die Gefahr ästhetischer Sitten, von

20*

SOS VIII. Zur Lehre von der Freyheit des mensch] icheu Willens. 183b.

Bouteraveck erwähnt wurde, aufgefallen seyn. Er beruft sich darauf, Schiller habe ivohl gewußt, zuas schön sey. Die Gefahr einer blofs glatten Aufserlichkeit haben wir [241] freylich niemals bezweifelt. Aber soll man etwan hinzu setzen, Platon habe wohl gewufst^ zuas schön sey? Soll man fragen, wer von beyden, Platon und Schiller, durch die Umstände seiner Jugendbildung wohl am meisten möge begünstigt worden seyn, um sich ein feines und sicheres ästhetisches Urtheil zu erwerben?

Zunächst wäre hier daran zu erinnern, dafs die Stoische Lehre, deren Bouterweck gedenkt, ihre Wurzel in der Platonischen hatte; und überdies, wenn man ipsissima verba verlangt, setzt Platon im Philebus ausdrücklich das Gute in die Klasse des Schönen;* wie es ohnehin aus seiner ganzen Lehre klar ist. Aber noch mehr! Platon hat nicht etwa sich begnügt, wie Schiller, gegen die Gefahr ästhetischer Sitten einen kurzen Aufsatz zu schreiben, sondern er hat die Dichter aus seiner Republik verwiesen. Da er nicht einmal in Ansehung des Sophokles eine Ausnahme macht, so ist noch sehr die Frage, ob er für Schillern günstiger gesinnt gewesen wäre.

Des Sophokles! Dafs Sie, mein Theurer! diesen Ihren Hausfreund zu nennen berechtigt sind, dazu empfangen Sie meinen Glückwunsch.

Kenne ich irgend einen Dichter, bei welchem [242] das Poetische zugleich moralisch ist, so ist es dieser. Seine Charaktere sind so von allen Seiten beleuchtet, dafs die Beurtheilung kaum irre gehn kann. Sein Ajax, Selbstmörder aus verlorner Ehre, ist nicht blofs gereizt durch Hintan- setzung beym Streit über Achills Rüstung, sondern der Übermuth ist schon früher laut geworden gegen die Götter.** Sein Herkules verschuldet den furchtbaren Tod, indem er der Gattin die Nebenbuhlerin gerade ins Haus sendet.*** Sein Ödipus klagt sich selbst der übertriebenen Heftig- keit an, durch welche er das Unheil herbeygezogen und vergröfsert hat. f Sein Neoptolemus ist das schönste Bild der mit sich selbst kämpfenden Wahrheitsliebe, was sich denken läfst.ff Und während hier Odysseus, der falsche, den stärksten Contrast bilden mufs, hat der Dichter ihn ander- wärts durch einen der feinsten Meisterzüge von der bessern Seite gezeigt, indem er ihn erst zum Zeugen der Wuth des Ajax macht, dann aber auch gerade durch ihn den Streit wegen der Bestattung des Leichnams endigen, und die [243] Ehre des Unglücklichen wiederherstellen läfst. ftt Das Einzige, was man in der Sammlung dieser kostbaren Werke vielleicht anders wünschen möchte, ist, dafs neben der Antigone, welche den weib- lichen Muth auf der höchsten Stufe darstellt, sich das Mannweib Elektra befindet, die von der bevorstehenden Furienplage des Orestes kein Vor- gefühl zu haben scheint. Hier ist ein Fall, wo ich den Sophokles mehr poetisch als moralisch finde; überdies ist der Schlufs nicht einmal poetisch, ■j da man am Ende genöthigt ist, eine Art von Scharfrichter-Scene hinzuzu- denken. Doch dies ist Nebensache. Wären alle Dichter wie Sophokles:

* Pkt. Philebus, p. 64, e. 65. a. ** Soph. Aiax v. 762 777. *** Trach, v. 545.

f Oed. Colon, v. 438. •j-f Philokt. besonders v. 895 und 1224. j|| Aiax, besonders v. no und 1340.

Neunter Brief. 309

wer würde an einen Streit zwischen dem Sittlichen und dem Poetischen

denken ?

Vom Sophokles schweigt, soviel ich mich erinnere, Platon in Be- zug auf unsern Gegenstand gänzlich; die rühmliche Erwähnung im Ein- gange der Republik gehört nicht hieher. Äschylus, und stärker Euri- pides* werden namentlich einzelner Stellen wegen getadelt. Am be- stimmtesten aber sind Homer und Hesiodus Diejenigen, welche Platon von sich weiset ; und zwar in mancherley Rücksicht. Schon das An- preisen der eigennützigen [244] Frömmigkeit wird gerügt,** weiterhin die anstölsigen Göttergeschichten;*** nicht minder die Schadenfreude der Olympier; dagegen soll das erste Gesetz wegen der Religionslehre in Platons Staat dieses seyn, zu lehren: /lii) nävxwv ainov rvv &ed)>, uüm tojv uyad-un'.f Weiter getadelt wird die Beschreibung der Unterwelt beym Homer ; t doch ich überlasse Ihnen, bey guter Mufse einmal das zweyte und dritte Buch der Republik genauer zu durchsuchen; hier sind es meistens die Religions- Vorstellungen, deren Einfiufs zu Platons Zeiten gewifs sehr zu fürchten waren; und wogegen auch beym Sophokles keine Hülfe zu suchen war. Diesem Umstände glaube ich es zuschreiben zu müssen, dafs Platon sich in Ansehung desselben zu keiner lobenden Ausnahme bewogen fand. Beschränkte sich nun die Sache hierauf: so könnten wir sie, als uns wenig berührend, von der Hand weisen. Wir haben das Christen thum! Diesem gegenüber, kann in religiöser Hinsicht selbst Göthes Faust wenig schaden. Verähnlichung mit Gott, als der spinozistischen Universalsubstanz, werden wir beym Pla-[245]ton nicht suchen; und ob man überall irgend Etwas dabey denken könne, wollen wir lieber nicht fragen.

Allein Platon nimmt die Sache nicht blofs von der religiösen Seite. Er fafst sie so allgemein, und zugleich so ernst, als möglich. Noch im zehnten Buch der Republik kommt er darauf zurück; und das Ende ist, dafs er von dem Gegensatze zwischen Philosophie und Poesie als von einer alten Feindschaft redet. Zugleich betheuert er, zwar hören zu wollen, wenn die ergötzende und nachahmende Kunst etwas für sich an- führen könne; allein was ihm als wahr erscheine, das dürfe er nicht ver- leugnen, ftt Meinen Sie wohl, dafs die heutige Kunst sich würdig einem solchen Ernste gegenüber zu stellen fähig wäre? Die Frage ist für National- bildung unstreitig von grofser Wichtigkeit.

Das aber werden Sie gewifs am allerwenigsten meinen, dafs ich etwa, weil ich die Ethik auf ästhetische Urtheile gründe, nun dieser Urtheile wegen, die den Willen zum Gegenstande haben, die ganze Ästhetik, die alles mögliche Andere in ihren Kreis aufnimmt, vertheidigen, oder, wenn das überall unnöthig ist, die [246] Ästhetik mit ihren untergeordneten Theilen, den Kunstlehren, verwechseln, oder, falls auch diese, und in

* Plato de rep. VIII, p. 568. b.

** ibid. II, p. 363, b.

*** ibid. II, p. 377, d. u. s. w.

■j- ibid. II, p. 380, c.

•j-j- ibid. III. gleich im Anfange.

f-j-j de rep. X, p. 607, b. c.

310 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

ihrer Mitte die Poetik, keiner ernstlichen Vertheidigung bedürfen, darum Jeden, der als Dichter grofs ist, für hülfreich zur Nationalbildung erklären, und vollends gar die Entscheidung philosophischer Streitfragen vom Gutachter) einiger Dichter erwarten würde. Vielmehr möchte ich den Dichtern anheim stellen, sich zur Deckung der schwachen Seite ihres Ruhms mit der Philosophie durch einen Contract auseinander zu setzen, dessen erster Artikel dahin lauten müfste, dafs sie, die Dichter, Verzicht darauf thäten, die Rolle der Philosophen zu spielen. Oder können sie etwa glauben, mein Theurer, dafs Lessing und Göthe, vielbeschäftigt und vielbelesen wie sie waren, sich jemals Zeit genommen haben, ein zum Theil so langweiliges Buch, wie Spinozas Ethik, ganz, und wieder- hohlt, kurz, so zu lesen, wie man es lesen mufs, um sich ein gültiges Urtheil darüber zu erwerben?

Doch zurück zum Platon. Er höhlt weit aus, um zu zeigen, die ästhetischen Künstler, Dichter, Maler seyen Nachahmer des Scheins, und weit von der Wahrheit entfernt. Der Maler könne den Riemer, den Zimmermann u. s. w. zwar täuschend abbilden, aber ohne von deren Kunst [247] das Mindeste zu verstehen. Nun gebe es Leute, welche behaupten, die Tragiker und deren Heerführer, Homer, verständen alle Künste, alles Menschliche und Göttliche, alles was zu loben und zu tadeln sey. Diese Leute seyen durch das Nachahmen des Scheins betrogen. Er fragt: wenn Einer beydes hervorzubringen vermag, sowohl das Nach- zuahmende selbst als auch dessen Bild: wohin wird er sich wenden? Natürlich zum Gegenstande selbst, und nicht zum blofsen Bilde. Hat denn Homer gewirkt wie Lykurg, Charondas, Solon, Thales, Ana- charsis, Pythagoras, Protagoras, Prodikos, welche letztere von ihren Anhängern so geehrt werden, dafs man sie beynahe auf den Köpfen um- herträgt? Den Homer und Hesiodus dagegen hat man herumziehn und singen lassen. Aber durch Metrum, Rhythmus, Harmonie, täuschen die Dichter, mögen sie von der Kunst des Riemers oder von der Kriegs- kunst oder wovon sonst reden. Selbst der Riemer und der Schmidt ver- stehen noch nicht, wie eigentlich Zaum und Gebifs eingerichtet seyn sollen, sondern der Reiter mufs es ihnen sagen; während der Maler erst dann, wenn Zaum und Gebifs schon da sind, sie abzubilden vermag. Brauchen, Verfertigen, Nachahmen sind drey verschiedene Künste; die letzte steht im untersten [248] Range. Der Gebrauch erst zeigt, wie die Sachen seyn sollen. Davon versteht der Nachahmer nichts; die Nach- ahmung ist Scherz und Tand.

Es mag hart klingen, mein theurer Freund aber wenn Sie das zehnte Buch der Republik nachschlagen, werden Sie selbst finden, von hier 1 geht Platon unmittelbar zu den Tragikern, als Nachahmern, über. Ge- müthsbewegungen malen sie; und wenden sich hiemit an den schlechtem Theil unsrer Seele; an dasjenige in uns, was voll von Widersprüchen ist. Sie machen uns verweilen bey dem, worüber der bessere Mensch leicht hinwegzukommen sucht; denn freylich, die Affecten bieten einen will- kommenern Stoff zur Nachahmung, als der Gleichmuth. So schwächen sie das, was in uns herrschen soll. In der That loben wir den Dichter, wenn er uns erschüttert und fortreifst; während wir in Angelegenheiten

Neunter Brief. 2 j t

des wirklichen Lebens doch den Schein der Ruhe zu behaupten suchen. Daran denken die Wenigsten, dafs von dem, was mit Beyfall gesehen wurde, etwas einklebt. Die Wächter des Staats sollen nichts nachahmen, als was ihren strengen Sitten angemessen ist. Ovx l'on ötnXovg dvift) Tic«) i'^iu', ovöi noXXankovg' tneidi] exuarog tv ngurrei.*

[249] Wollen wir noch leugnen, dals Platons Lehre Determinismus ist? Er will ja nichts Doppeltes, nichts Vielfaches, nichts Bewegliches; seine Charaktere sollen so vest bestimmt seyn als möglich; und zwar bekannt- lich mit Hülfe der Erziehung. Ist das vielleicht blofs innere Vestig- keit bey äufserer Freyheit? Darüber mag Montesquieu ein Wort mitreden. „Les loix de Minos, de Lycurgue, et de Platon, supposent une attention singuliere de tous les citoyens les uns sur les autres". ** wobey mir noch eine andere Stelle desselben Schriftstellers einfällt:

„La liberte politique ne consiste point ä faire ce que l'on veut. Dans un etat, c'est-ä-dire, dans une societe il y a des loix, la liberte ne peut consister qu'ä pouvoir faire ce que l'on doit vouloir, et a n'etre point contraint de faire ce qu'on ne doit pas vouloir."*** Wollen wir unser kunstreiches Zeitalter damit entschuldigen, dafs wir auf politische Freyheit, mithin auf republikanische Strenge, die mit jener noth- wendig zusammenhängt, keinen grofsen [250] Anspruch machen? Wollen wir sagen, wir seyen von einer Seite freyer, weil von einer andern ge- bundener? Oder wollen wir gar bekennen, die Künste können bey uns wenig schaden, weil sie überhaupt auf unser bewegtes, den Neuigkeiten aller fünf Welttheile Preis gegebenes, zerstreutes Daseyn wenig wirken? Dafs ein vom ästhetischen Urtheile geregeltes Leben, selbst wenn es zur anerzognen Sitte geworden, und überdies von den Mitlebenden be- ständig bewacht wird, trotz aller solchen unveränderlichen Bestimmtheit doch den Namen eines freyen Lebens verdiene; dafs, mit Einem Worte, das ästhetische Urtheil der Sitz der Autonomie sey; dies, mein theurer Freund ! steht uns zwar klar vor Augen. Wenn wir aber bemerken, dafs diese Wahrheit aufs mannigfaltigste umnebelt ist, so ist der Grund hievon gewifs nicht einfach. In einem gebildeten Zeitalter, wie das unsrige und das des Platons, giebt es einerseits wirklich des Mannigfaltigen, was eine fast beständige Zerstreuung herbeybringt, sehr Vieles; (von der Schwärmerey, die leicht wächst, wenn man sie pflanzt, wollen wir nicht einmal reden;) andererseits klagte Schiller, die Kunst sey durch die Künstler gefallen, also durch diejenigen, welche das ästhetische Urtheil vorzugsweise wach erhalten [251] sollten; und das ist der Art, wie Platon die Dichter tadelt, nicht ganz so fremd, wie es wohl scheint. Denn wir sahen: er tadelt sie als Nachahmer, und als fortreifsend zu ungeordneter Ge- müthsbewegung. Dürfen wir denn gegen ihn behaupten, das Nachahmen und Förtreifsen sey nicht Liebhaberey der Dichter, vollends der Maler und der Bildhauer? Vielmehr ich besorge, dafs selbst bey sehr grofsen Dichtern oft genug ein Vergnügen, überhaupt nur zu gestalten, gestaltend zu künsteln, und künstelnd etwas, das wohl einem geistigen Wesen ähnlich

* Plato de rep. III. p. 397. e. Montesquieu esprit des loix liv. IV, chap.

* Espr. d. 1. liv. XI. chap. 3.

312 VIII. Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. 1836.

wäre, hervorzuzaubern, da vorherrschend geworden ist, wo man statt poetischer Launen, die sich an ihrer eigenen Willkühr ergötzen, eher Ursache gehabt hätte sich klassische Productionen eines geläuterten Ge- schmacks zu versprechen. Wenn nun Platons Tadel, nach seiner wahren Absicht, mehr die Künstler trifft als die Kunst: so ist er hier offenbar schon mit Schillern auf Einem Wege. Es kommt aber hinzu, dafs meist ältere, moralisch minder gebildete, Dichter diejenigen sind, deren schädliche Wirkung Platon zunächst vor Augen hatte; Homer und Hesiodus. Das Gebiet der Ästhetik ist sehr weit umfassend; der grofse Homer, mit seinen unsterblichen Wunderwerken hat hier noch so wenig den Platz ausgefüllt, [252] dafs in weiter Ferne von ihm, Sophokles den Ton des sittlichen Urtheils angeben konnte, wovon bey Homer be- kanntlich nur sehr wenig zu spüren ist. Wie viele aber, und wie ver- schiedene, standen noch neben dem Sophokles, deren Gesammtheit Platon vor Augen hatte, indem er gegen die tragischen Dichter sprach! Im ästhetischen Universum ich meine, in der ganzen Menge von Arten und Gattungen des Schönen und Häfslichen, oder des Löblichen und Tadelhaften, ist in der That das Sittliche, wenn wir blofs auf seinen Umfang1 sehen, ein so kleines Ländchen, dafs, könnte es von jenem eine landchartenähnliche Zeichnung geben, man vielleicht Mühe hätte, dieses darauf zu finden. Dafs aber manchmal Krieg zwischen den abgetheilten Bezirken entstehe, darüber würde man sich beym Anblick einer solchen Land -Charte gar nicht mehr wundern; und Bouterwecks Frage wegen des nicht seltenen Streits zwischen dem Sittlichen und irgend einem Ästhetischen von andrer Art, diese Frage würde von selbst wegfallen. Die Erklärung ist leicht; sie ergiebt sich unmittelbar aus dem Blick auf die praktischen Ideen. Aber der Gegenstand ist ernst, und selbst traurig.

Platon mochte einige, er mochte viele, ja die meisten Künstler tadeln, welche zu seiner [253] Zeit wirkten. Das ist noch kein unbe- dingter Tadel der Kunst, und am allerwenigsten trifft solcher Tadel das ästhetische Urtheil selbst, welches vielmehr die ganze Platonische Lehre beseelt, und von der spinozistischen scheidet.

Wir können nicht blofs, sondern wir müssen ihm zugeben, dafs im weiten Reiche der Künste gar Manches vorkommt, was wir in der That nur deswegen nicht so strenge, wie Er, zurückweisen, weil wir wissen, oder meinen, dafs es theils, verglichen mit andern wirksamen Potenzen, unbedeutend, theils zur Anregung einer ästhetischen Stimmung selbst nütz- lich ist. Sähen wir die Sache nicht aus diesem Gesichtspuncte, so würden wir ihm beynahe ganz beypflichten müssen. Und das würde geschehen, ohne nur im mindesten unserer Lehre von der Grundlage der Ethik Ab- bruch zu thun.

Oder steht etwan unsere Meinung vom Staate der Platonischen so sehr entgegen, dafs wir, mit einigen Naturrechtslehrern, die bürgerliche Ordnung für eine rechtliche Zwangsanstalt halten sollten, welche wohl auch ohne Rücksicht auf sittliche Gesinnung der Bürger bestehen könnte?

1 „Inhalt" statt „Umfang" SW.

Neunter Brief. 313

Wir wissen, dafs eine solche Zwangs-Anstalt nicht einmal möglich ist, und noch viel weniger löblich.

Oder weicht etwan unsre Erziehungslehre in [254] den Haupt- umrissen ab von der Platonischen Ansicht? Auch das nicht; wie wir denn glücklicherweise überhaupt nicht nöthig gehabt haben, uns in päda- gogischen Dingen mit solcher Polemik zu befassen wie gegen die meisten philosophischen Schulen seit Kant. Oder kümmert es uns etwa, was man von Platons Censur der Dichter im heutigen Paris denken möchte? Bevnahe fürchte ich, auch das demokratische Athen werde die Platonische Republik wenig zeitgemäfs gefunden haben.

Aus Platons Lehre redet das wahre praktische Interesse. Der Platonische Staat aber beruht auf der Erziehung; und beyde, mit wahrer Freyheit wohl vereinbar, auf einem solchen Determinismus, welcher in der Zurückweisung der Dichter und Theater seinen zwar nicht einzigen und vollständigen, aber äufserlich am meisten bezeichnenden, offene?i man möchte fast sagen: handgreiflichen Ausdruck gefunden hat.

Nicht auf einzelne Kunstwerke, aber auf den ästhetischen Gesammt- Eindruck kommt es an, welchen die Jugend und die beweglichen Ge- müther empfangen. Das ist der wahre Sinn jener Verbannung der nach- ahmenden Kunst. Hier würde es uns nichts helfen, wenn wir, was leicht wäre, gegen Nachahmung als Princip der Ästhetik uns [255] erklärten. Immerhin mag der Künstler nachahmen, nur soll er nicht darin sich ge- fallen; immerhin fortreifsen, nur uns nicht im Affect stecken lassen; immerhin mögen sogar manche Kunstwerke nicht unmittelbar sittlich wirken; aber das Ganze der Kunst mufs dennoch der Moralität dienen; denn die Macht der Kunst ist nicht zu bezweifeln, und es ist ein wahres Wort:

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r

IX.

ANALYTISCHE BELEUCHTUNG

DES

NATURRECHTS UND DER MORAL.

1836.

[Text der Originalausgabe, (O.) Göttingen 1836. Dieterich XVIII u. 264 S. gr. 8°.]

Bereits gedruckt:

SW = J. F. Herbarts Sämmtliche Werke (Bd. VIII, S. 213—405), herausgegeben von G. Hartenstein.

Der Titel der Originalausgabe lautet:

Analytische Beleuchtung

des

Naturrechts und der Moral,

zum Gebrauch beym Vortrage der praktischen Philosophie.

Von

J. F. Herbart.

Göttingen, Im Verlage der Dieterich sehen Buchhandlung.

1836.

)

Vorrede.

Schon in der synthetischen Darstellung der praktischen Philosophie sind die Begriffe von Recht, Pflicht, Tugend, und Gütern, in so weit als bekannt vorauszusetzen, dafs von ihnen folgende Namenerklärungen gelten:

Unter dem Worte Recht denkt sich Jeder zunächst seine Foderungen gegen Andre, dafs sie etwas zu verhüten haben, was ihm Grund zur Klage geben würde; und zwar dergestalt, dafs umgekehrt Rechte Andrer Pflichten für ihn werden.

Das Wort Pflicht aber bezeichnet allgemein die gesammte, auch aus innern Gründen entspringende Nothwendigkeit , gewisse Regeln des Handelns zu beobachten.

Tilgend bedeutet den innern Werth derjenigen Person, welche die sämmtlichen Regeln des Handelns kennt und deshalb beobachtet.

Güter sind Gegenstände, sofern sie gewollt werden.

[iv] Versteht man nun unter dem Namen Naturrecht die Lehre von Rechten, die vorhanden sind ohne positives Gesetz; desgleichen unter dem Worte Moral die Lehre von Pflichten, wie sie in ihrem ganzen Umfange der Tugendhafte beobachtet: so hat die allgemeine praktische Philosophie Naturrecht und Moral zu begründen und zusammenzufassen. Zu diesem Zwecke müssen sowohl ihre Principien als ihre Methoden untersucht werden.

Die allgemeinste Methodenlehre ist hier, wie überall, die Logik. Allein das Eigenthümliche im Gebrauche derselben hängt von den Principien ab.

Angefangen kann nicht werden von Rechten. Denn indem die Rechte verschiedener Personen einander begränzen, und Jeder die Ge- sammtheit seines Rechts als einen Kreis betrachtet, worin Andre ihn nicht stören dürfen: entsteht für ihn die Vorstellung dessen, was ihm erlaubt sey. Aber alles Erlaubte setzt voraus, dafs zuvor nach Gebot und Verbot sey gefragt worden.

Anfangen kann man auch nicht von Pflichten. Denn die Regeln des Handelns, zusammengefafst in den Begriff einer Gesetzgebung, stellen ein Verhältnifs dar zwischen einem gesetzgebenden, also gebietenden, und einem gehorchenden Willen. Dies setzt einen Unterschied beyder Willen als bekannt voraus. Der Grund dieses Unterschiedes ist aber nicht von selbst bekannt: vielmehr mufs derselbe erst nachgewiesen werden, denn im blofsen Wollen, welches das gemeinsame Merkmal jener beyden Willen ist, kann der Unterschied nicht unmittelbar liegen.

Der Titel der i »^inalausgabe

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Vorrede.

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Schon in der synthetischen Darstellung d praktischen Philosophie sind die Begriffe von Recht, Pflicht, Tugend, und Gütern, in so weit als bekannt vorauszusetzen, dafs von ihnen f sende Namenerklärun<*en gelten :

Unter dem Worte Recht denkt sich Jeder mächst seine Foderungen gegen Andre, dafs sie etwas zu verhüten haen, was ihm Grund zur Klage geben würde; und zwar dergestalt, dafs imgekehrt Rechte Andrer Pflichten für ihn werden.

Das Wort Pflicht aber bezeichnet allgeme. die gesammte, auch aus innern Gründen entspringende Nothwendigkt, gewisse Regeln des Handelns zu beobachten.

Tugend bedeutet den innern Werth derjeigen Person, welche die sämmtlichen Regeln des Handelns kennt und eshalb beobachtet.

Güter sind Gegenstände, sofern sie gewol werden.

[iv] Versteht man nun unter dem Naien Naturrecht die Lehre von Rechten, die vorhanden sind ohne posives Gesetz; desgleichen unter dem Worte Moral die Lehre von Pflichte, wie sie in ihrem ganzen Umfange der Tugendhafte beobachtet: so hatdie allgemeine praktische Philosophie Naturrecht und Moral zu begründi und zusammenzufassen. Zu diesem Zwecke müssen sowohl ihre Priripien als ihre Methoden untersucht werden.

Die allgemeinste Methodenlehre ist hier wie überall.

im Gebrauche crselben

hängt

die Logik. von den

Allein das Eigenthümliche Principien ab.

Angefangen kann nicht werden von R.hten. Denn indem die Rechte verschiedener Personen einander begnzen, und jeder die Ge- sammtheit seines Rechts als einen Kreis beachtet, worin Andre ihn nicht stören dürfen: entsteht für ihn die Votellung dessen, was ihm

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•2 1 8 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

Auch von der Tugend kann nicht ausgegangen [v] werden; denn jede Person ist Eine; aber wie das Mannigfaltige, dessen Kenntnifs und Beobachtung der Person einen innern Werth giebt, zu verbinden sey, ist für ein Princip nicht unmittelbar hinreichend klar.

Am Wenigsten ist von Gütern anzufangen. Denn ihr Maafs ist der Wille, der sie anstrebt und ihre Gegentheile zurückweiset. Aber er selbst soll in der praktischen Philosophie als ein besserer oder schlechterer ge- messen, oder mindestens geschätzt werden.

Denkt man sich nun einen höhern, gesetzgebenden Willen, von welchem Rechte, Pflichten, Tugend und sittliche Güter abhängen: so kann dieser nicht ins Unendliche fort durch einen noch höhern bestimmt werden. Aber die Frage nach dem Grunde des Unterschiedes zwischen Gebieten und Gehorchen würde sich bey jedem Willen wiederholen. Jeder höhere Wille mufs also eine ursprünglich willenlose Werthbestimmung für sich anzuführen haben, welche das Merkmal einer solchen Vestigkeit in sich trage, dafs sie nicht von veränderlicher Gemüthsstimmung, sondern von der bloßen Betrachtung ihres Gegenstandes abhänge.

Werthbestimmungen dieser Art kommen nicht blofs in der praktischen Philosophie vor; sondern bey sehr mannigfaltigen Gegenständen, die, so ungleichartig sie übrigens sind, doch eben deshalb, weil ihr Werth ur- sprünglich, und unwillkührlich anerkannt wird, sämmtlich ästhetische Gegenstände genannt werden. Die Werthbestimmungen selbst heifsen ästhetische Urtheile; und auch für diejenigen, welche den Willen be- treffen, haben wir in der Kunstsprache keinen andern passen- [vi] dern Ausdruck. Denn für die Worte Vernunft, und moralisches Urtheil, welche allein man vorschlagen könnte, mufs ein andrer Sinn vestgehalten werden.

Vernunft im Allgemeinen bedeutet die Fähigkeit der Überlegung von Gründen urd Gegengründen. Praktische Vernunft setzt voraus, der Über- legende habe ein Bild seines Willens, indem er seines Wollens sich be- wufst ist. Nun sey die Betrachtung dieses Bildes unmittelbar mit einer Werthbestimmung desselben verbunden: so beginnt hiemit erst die Über- legung, deren Ende, wenn sie richtig vollzogen wurde, darin besteht, diese Werthbestimmung allen andern Motiven vorzuziehn. Und wiederum erst nachdem dieses Vorziehn in seinem ganzen Umfange den gesetzgebenden Willen erzeugt hat, kann von dem moralischen Urtheile die Rede seyn, welches anzeigt, ob und in wie fern der Mensch in Gesinnung und Handlung dem gesetzgebenden Willen gehorsam war oder nicht.

Die Principien der praktischen Vernunft sind nun die willenlosen Werthbestimmungen des Willens.

Die Methode der praktischen Philosophie mufs sich nach dem Eigen- thümlichen dieser Principien richten; zuvörderst schon, um sie vollständig zu finden, und auf ihre einfachsten Ausdrücke zurückzuführen.

Ästhetische Urtheile können nur über Verhältnisse ergehen; und es ist die nothwendige Probe ihrer Richtigkeit, dafs der Wert der Verhält- nisse verschwindet, sobald man die Glieder vereinzelt; hingegen wieder hervortrit bey erneuerter Zusammenfassung. Die Probe zeigt das, worauf es ankam; nämlich dafs sich kein Gefühl des Angenehmen oder Un- angenehmen (und [vn] noch weniger ein Begehren) eingemischt hat; viel-

Vorrede. o ] q

mehr die blofse zusammenfassende Betrachtung den Werth des Gegen- standes erkannt hat, in welchem das Verhältnils liegt. Die Zergliederung eines solchen Gegenstandes kann übrigens nur eine logische Abstraction seyn; wie wenn man die farbigen Stellen eines Gemäldes einzeln be- trachten wollte, während gerade die gegebene Verbindung und Anordnung dieser Stellen das Wesentliche des Gemäldes ausmacht.

Nimmt man hiezu noch die drey allgemeinen Sätze der Ästhetik: i) Kein ätherisches Urtheil lautet ursprünglich als ein allge- meines, — denn das klare Vorstellen eines Verhältnisses darf nicht durch Gegensätze specifischer Differenzen verdunkelt werden, ohne die sich kein Umfang eines Begriffes denken läfst;

2) Von mehreren ästhetischen Urtheilen, deren einfachster Ausdruck schon gefunden war, gilt kein Aufsteigen zu höherer Allgemeinheit, denn die Abstraction würde die verbundenen Verhältnifsglieder trennen;

3) Jedes ästhetische Urtheil gilt von selbst in dem logischen Umfange, welcher den Gliedern des Verhältnisses gemeinschaftlich zukommt, denn in diesem Umfange finden sich die Verhältnisse selbst;

so hat man im Vorstehenden die kurze Übersicht derjenigen Methode, nach welcher schon in der allgemeinen praktischen Philosophie 1, die Reihe der Ideen, [viii] von innern Verhältnissen zu äufsern fortschreitend, war gefunden worden : so dals keine dieser Ideen aus der Reihe kann hinweggedacht werden, ohne eine Lücke zu verrathen.

An dem eben genannten Buche soll durch das vorliegende nichts verändert werden; das frühere aber war synthetisch, das gegenwärtige ist analytisch abgefalst.

Zu jeder Synthesis, die aus vorausgesetzten Gründen ein Gegebenes in Begriffen construirt und dadurch erklärt, gehört als Seitenstück eine Analysis des Gegebenen, welche darthun mufs, durch die Construction sey im Denken eben dasselbe gefunden, was man schon durch Beobachtungr soweit dieselbe reicht, erkannt hatte. Trifft nun die Erklärung vollkom- men zusammen mit dem Gegebenen, so liegt hierin die Probe, man habe nicht etwa (wie oft genug geschah) die alten Namen dessen, was factisch bekannt ist, misbräuchlich auf Erzeugnisse eines ungeregelten Denkens übertragen. Ist aber die Construction auch dem gröfsten Theile nach ge- lungen, (wie etwa bey Vorausberechnung der Wiederkehr eines Kometen,) so können doch geringe Abweichungen vom Gegebenen vorkommen, welche alsdann entweder in der Beobachtung, oder in der Construction und ihren Gründen etwas Mangelhaftes vermuthen lassen. Hierdurch gewinnt man Fingerzeige, welchen weiter nachzuspüren ist.

Ob auch für die praktische Philosophie das Gegenüberstellen der Synthesis und Analysis möglich sey, kann bezweifelt werden; indem die eigentlichen Gegenstände derselben, nämlich die Tugend und deren Ge- [ix] folge von Pflichten und Rechten, nicht als erfahrungsmäfsig gegeben anzusehen sind; und die unvollkommenen Beyspiele, die man statt der- selben anführen möchte, nicht dergestalt können analvsirt, und mit der

1 Herausgegeben im Jahre 1808, gleichzeitig mit den Hauptpuncten der Metaphysik. [Vgl. vorl. Ausgabe Bd. II, S. 329 ff.]

2 20 EL. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

synthetisch aufgestellten Wissenschaft verglichen werden, dafs Abweichungen auf der einen oder andern Seite mit Sicherheit zum Auffinden des Mangel- haften zu benutzen wären.

Es ist uns aber eine Menge von Schriften gegeben, in welchen mancherley Werthbestimmungen des Wollens und Handelns vorliegen. Sind dieselben richtig: so mufs mit ihnen die praktische Philosophie überein- stimmen. Auf jeden Fall bieten sie einen Stoff dar, der sieh um desto bequemer analysiren läfst, da man daraus zwey Disciplinen gebildet hat, welche unter den Benennungen Naturrecht und Moral abgesondert er- scheinen, jedoch mit dem Einen Worte Ethik zusammengefafst, und als auf einer gemeinsamen Grundlage erbauet hervortreten. In der vor- erwähnten praktischen Philosophie findet sich keine Trennung in solcher Form, auch die Zusammenfassung ist anders gestaltet; und man kann nach den Gründen sowohl der partialen Einhelligkeit mit Andern, als auch der Abweichungen fragen.

Sollte darauf vollständig geantwortet werden: so möchte ein starker Band, (ähnlich dem ersten Bande der Metaphysik,) nicht zu viel gewesen seyn; alsdann aber würde sich die analytische Beleuchtung des Natur- rechts und der Moral geradezu in eine Kritik der bisherigen Ethik ver- wandelt haben, deren Umrisse sie schon jetzt nicht vermeiden konnte.

[x] Da nämlich das Gegebene so aufgefafst werden muis, wie es gegeben ist; und da der gröfsere und schwierigere Theil der Ethik schon längst die Form des Naturrechts angenommen hat; da überdies alle zur praktischen Philosophie gehörigen Schriften unter Bedingungen ihrer Zeit geschrieben wurden: so kann sich die Analyse, oder auch eine Kritik der Sittenlehre , welche von getreuer Darstellung des zu beurtheilen- den Gegenstandes ausgehen soll, weder über das von der Moral getrennte Naturrecht, noch über historische Sonderung und Zusammenfassung dessen, was zu verschiedenen Zeiten gelehrt worden, hinwegsetzen; thut sie es dennoch, so wird sie die vorgefundenen wissenschaftlichen Gestaltungen leicht verletzen können, und die Beglaubigung ihrer Unpartheylichkeit sich selbst erschweren.

Findet man nun in diesen wenigen Bogen Grotius, Kant, Hufeland, Fichte, Droste-Hülshof als Naturrechtslehrer; Platon, Aristoteles, Spinoza, Schleiermacher, Stäudlin und Andere als Lehrer der Moral erwähnt: so erblickt man einzelne, zum Theil weit aus einanderstehende Puncte einer Zeitreihe, zwischen welche sehr viele andre Schriftsteller einzuschalten leicht gewesen wäre. Gesetzt, die Einschaltung wäre voll- zogen: so würde Vieles, was Einer vom Andern angenommen hatte, sich in Ansehung der Gegenstände, von denen man zu reden hätte, wieder- 5 holen; was aber Einer besser als seine Vorgänger, oder manchmal auch schlechter gemacht hätte, dies würde hervortreten; dadurch würde auch das Gemeinsame der Systeme eine eigentümliche Bedeutung in jedem der- [xijselben an den Tag legen; und hiemit aus dem Lobe und Tadel der literarischen Leistungen sich die Kritik der Sittenlehre zusammensetzen.

Für die Analyse hingegen, welche den mannigfaltigen Inhalt des Naturrechts und der Moral auseinanderzubreiten beabsichtigt, kommt wenig darauf an, wie oft ein gewisser Gedanke sey wiederholt, nachge-

Vorrede. 2 o I

sprochen, ausgeschmückt, in diesem oder jenem System mehr oder weniger passend benutzt worden; und vollends für eine kurze Übersicht ist Vieles ganz unbedeutend, was die Kritik gleichwohl als sehr charakteristisch für die Lehre dieses oder jenes Schriftstellers auszuheben hat. Sucht man die Wiederholungen, so weit es ohne Verletzung des Zusammenhangs thunlich ist, zu vermeiden: so kann man sich mit einer kleinen Zahl der anzuführenden Schriftsteller begnügen; man kann die spätem als er- gänzend die frühern betrachten, und auf solche Weise die Darstellung sehr abkürzen.

Findet man z. B. bey Grotius schon den gröfsern Theil des Natur- rechts, aber noch keine scharfe Sonderung der Moral und kein zusammen- hängendes Staatsrecht, so braucht man von den Spätem wenig mehr, als was einerseits jene Sonderung zu begreifen, andrerseits das mehr aus- gebildete Staatsrecht zu charakterisiren dient; und hätte Aristoteles der Moral so trefflich vorgearbeitet wie Grotius dem Naturrecht, oder dürfte man von den Stoikern so reden, als ob ihre Lehre uns vollständig und genau bekannt wäre, so möchte von Kant, Schleiermacher, Stäudlin, u. a. m. weniger anzuführen seyn als man hier finden wird, [xn] Zu- gleich wird einleuchten, dafs es für eine Schrift, wie die gegenwärtige, keine strenge Notwendigkeit, sondern nur eine Auswahl des Zweckmäfsigen giebt. Das Wesentliche der zu analysirenden Lehren konnte grofsentheils aus andern, als den angeführten Schriftstellern entnommen, es konnte mehr oder weniger ausführlich entwickelt werden; dann wäre manches anders geformt, anders ausgedrückt, und viele andre kritische Bemerkungen hätten sich dargeboten, die jetzt fehlen, ohne doch der Analyse zu fehlen; denn diese würde gar keine Kritik in sich aufgenommen haben, wenn nicht der synthetische Vortrag, vielfach abweichend von andern üblichen Darstellungen, und dennoch dasjenige enthaltend, was man unter den Namen Naturrecht und Moral gesucht hat, eben dadurch bestätigt werden müfste, dafs kritisch, und soweit nöthig, historisch begreiflich wird, wie Andre zu ihren Meinungen kommen konnten.

Die vorliegende Arbeit ist also nicht als etwas in seiner Art Voll- ständiges anzusehen, sondern nur als eine kurze Probe dessen, was sowohl analytisch als kritisch kann weiter ausgeführt werden. Wollte man z. B. aus Fichtes und Schleiermachers Schriften mehr Lehrpuncte ausheben, als hier geschehen, so würde die Analyse gewinnen, ohne dafs die Kritik einen gleich grofsen Zusatz bekäme; denn was jene Schriftsteller Un- richtiges in ihre Grundansicht aufgenommen haben, das wiederholt sich, bey vorausgesetzter Consequenz, in den verschiedenen Lehrpuncten. Wollte man dagegen eine gröfsere Menge von Schriftstellern benutzen: so würde die Kritik sich weiter verbreiten, ohne gleich-[xin]mäfsigen Zuwachs für die Analyse; weil die behandelten Lehrpuncte meistens die nämlichen sind; der Gewinn der Kritik aber würde um desto höher zu schätzen seyn, je besser der historische Zusammenhang hervorleuchtete. Nur er- fodert das Geschafft der Kritik, dafs man sich auch auf die theoretischen Meinungen jedes Schriftstellers einlasse, denn der Irrthum hat Verwicke- lungen, welche die Wahrheit nicht kennt. Im vorliegenden Buche konnte darüber nur weniges gesagt werden. Der Verfasser bezieht sich deshalb

Herdart's Werke. X. 21

•3 2 2 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

auf seine frühern Schriften. Neben denselben können zur Sicherung des Verständnisses zvvey so eben erschienene Bücher gebraucht werden; nämlich die Logik von Drobisch, und die Metaphysik von Hartenstein; welche auch schon für sich allein an Bestimmtheit und Klarheit des Ausdrucks wohl kaum noch etwas vermissen lassen.

Schlägt man nun diese oder die ähnlichen Schriften des Verfassers nach, in der Absicht, dort die Verbindung der praktischen Philosophie mit Logik und Metaphysik angezeigt zu sehen, so wird man das Gesuchte schwerlich schon auf den ersten Blick erkennen; daher sollen hier ein Paar Worte darüber hinzugefügt werden. Die Logik, unverdient herab- gesetzt in einigen neuern Schulen, (die dadurch nur sich selber schaden,) hat der praktischen Philosophie sehr viel zu sagen; aber sie kann es nicht eher im Zusammenhange aussprechen, bis diese letztere sich selbst den Unterschied dessen, was in ihr vest steht, von dem, was den Un- bestimmtheiten eines Mehr und Weniger unterworfen bleibt, auseinander- gesetzt hat. [xiv] Kennt man noch nicht die praktischen Ideen: so stöfst man überall auf schwankende Begriffe Dann kann höchstens die Logik gegen einzelne Inconsequenzen warnen; wie wenn zum Beyspiel Jemand beym Urrechte zu leben die Zwangspflichten zum Kriegsdienste vergessen, oder beym Eigenthum nicht an das dominium eminens (an die nothwendigen Maafsregeln beym Brande, bey Seuchen, bey der Anlage neuer Kunst- strafsen u. s. w.) gedacht, ja gar die Befugnifs zu zwingen auf eine doppelte Negation zurückgeführt hat, als ob zwingende Handlungen sich durch ein blofses Verneinen des Unrechts zulänglich beschreiben liefsen. Soll der- gleichen zu spät Bedachtes hinterher nachgeholt werden, dann folgen freilich einzelne Ausstellungen der Logik, aber damit gelangt nicht die ganze Wissenschaft zu ihrer logischen Anordnung; welche vielmehr zuerst eine richtige Begründung voraussetzt, um alsdann die Begriffsreihen zu be- leuchten, die zur Anwendung der Principien erforderlich sind. Will man hiezu des vorliegenden Buches sich bedienen, so ist Vergleichung des- selben mit der vorerwähnten allgemeinen praktischen Philosophie in allen Puncten nothwendig.

Was dagegen die Metaphysik anlangt: so mufs man unterscheiden zwischen der allgemeinen Metaphysik und der Psychologie, die zur an- gewandten Metaphysik gehört. Jene beschäftigt sich vorzüglich mit der Auseinandersetzung des wirklichen und des scheinbaren Geschehens. Mag nun Jemand das wirkliche Geschehen (im Innern der realen Wesen) noch so sehr verkennen; mag er auch immerhin das scheinbare Ge-[xv]schehen im Räume für ein wirkliches halten: so hat doch dies keinen Einflufs auf die ursprüngliche Werthbestimmung der Gesinnungen und Handlungen. 1 Hat man die letztern richtig ins Auge gefafst, so können dadurch Irr- thümer in Ansehung des Ich und der Freyheit abgehalten werden; allein dies ist mehr ein Einflufs der praktischen Philosophie auf die Metaphysik, als umgekehrt. Eigentliches Bedürfnifs wahrer Metaphysik macht sich in der praktischen Philosophie nicht eher fühlbar, als bis man zur Tugend- lehre, zur Pädagogik und Politik fortschreitet; denn hier wird die Psycho- logie Denen fehlen, die nicht damit bekannt sind. An dieser nun darf die Metaphysik nicht fehlen; allein davon ist hier nicht zu reden.

Vorrede.

323

Die historischen Linien, welche man in diesem Buche angedeutet finden wird, lassen sich zwar leicht bis in die Gegenwart verlängern; allein bey aller Mishelligkeit, die sich daraus ergeben kann, ist nicht zu vergessen, dafs wohlgesinnte Männer in der praktischen Philosophie nie- mals durch so tief begründete Streitigkeiten getrennt werden, als bey theoretischen Gegenständen. Es findet sich immer Etwas, worüber man einverstanden ist, wenn es auch während des Streits übersehen wurde. Die heutige Zeit ist im Allgemeinen friedlich gesinnt; wir leben nicht mehr in den Jahren der Revolution; und der sogenannten Wissenschafts- lehre, die eben damals an die Stelle der Philosophie zu treten schien. Auch nicht mehr in der Zeit der Aufregung nach dem Napoleonischen Drucke. Dauert die jetzige Stimmung, so äufsert sie unvermeidlich bald ihren Einfiufs auf die philosophischen Schulen, [xvi] Begreifen diese erst, dafs Eintracht ihnen besser geziemt als der Hader, der blofs Befangenheit in einer abgelaufenen Zeit verräth: so werden sich die Wege der An- näherung schon finden; und zwar vorzugsweise mit Hülfe der praktischen Philosophie, und ihrer Geschichte.

Übrigens wäre über die Einrichtung dieses Buchs noch Einiges zu sagen, was sich meistens in die einfache Bemerkung einschliefsen läfst, dafs es als Lehrbuch nur kurz seyn durfte, und dafs es sich soviel möglich der Ordnung des älteren, welches den Gang des mündlichen Vortrages bestimmt, anschliefsen mufste. So ist z. B. schon in den §§ 31 33, welche hier noch zur Einleitung gehören, über die Idee des Wohlwollens das Nöthige gesagt worden, weil die ursprünglichen Ideen früher entwickelt werden müssen, bevor die in andern Schulen gangbaren Vorstellungsarten über die Begründung der praktischen Philosophie können erläutert werden. Fiele diese Rücksicht weg: so würden einige Puncte, welche hier schon in der Einleitung erwähnt sind, einen bequemern Platz im ersten Ab- schnitte gefunden haben. Der mündliche Vortrag darf die Analysis nicht zu weit von der Synthesis absondern; es ist genug, wenn die schriftliche Darstellung den Unterschied beyder an den Tag legt.

21

Inhalt.

Einleitung.

A. Historische Vorbereitung § i 14.

B. Erste Übersicht des Naturrechts und der Moral § 15 34. Erster Abschnitt. Von der Begründung der praktischen Philosophie.

Erstes Capitel. Von der Begründung nach spinozistischer Richtung § 35 44. Zweytes Von der Begründung nach Kant und Fichte § 45 54.

Zweyter Abschnitt. Analytische Beleuchtung des Naturrechts.

Erstes Capitel. Von der ältesten Gestaltung des Naturrechts § 55 74. Zweytes Von der Gestaltung des Naturrechts in der kantischen Periode

§ 75 I07. Erste Anmerkung. Vom Strafrechte. Zweyte ,, Über die Arten der Verträge.

Dritter Abschnitt. Analytische Beleuchtung der Moral.

Erstes Capitel. Vom Umrisse der Moral § 109 125.

Zweytes Von den einzelnen Hauptpuncten der Moral § 126 191.

Drittes Von der teleologischen Richtung der Moral § 192 215.

3

Einleitung.

A. Historische Vorbereitung.

§ i. In der gebildeten Gesellschaft wird Kenntnifs der Rechte und Pflichten nicht blofs gefodert, sondern auch bey Jedem vorausgesetzt; daher es scheinen kann, ein streng wissenschaftliches Studium so bekannter Gegenstände noch neben der positiven Theologie und Jurisprudenz wäre kaum nöthig. Dies Vorurtheil wird am sichersten verhütet durch historische Darlegung der Verwickelungen, in welchen das Mannigfaltige der praktischen Philosophie sich so sehr befangen zeigt, dafs Auseinandersetzung und Zusammenfassung desselben gleich nothwendig ist.

§ 2.

Abgesehen von den Gegensätzen bürgerlicher Ordnung und Un- ordnung, die schon beym Homer, von den Familienpflichten und Ehren- punkten, welche beym Sophokles stark hervortreten,* und von mancherley ähnlichen Spuren bey den Dichtern überhaupt; abgesehen [2] auch von dem oi'Tintnoy&og der Pythagoräer (einem Gröfsenbegriff, da bey der Ver- geltung die Gleichheit zu beobachten ist), der tvd-vf.Ua des Demokrit u. s. w.: erblicken wir um die Zeit des Sokrates die griechischen Denker in einem lebhaften Streite über die Gültigkeit der sittlichen Begriffe. Auf der einen Seite Sophisten, wie Thrasymachus mit seinem Grundsatze: das Recht sey der Vortheil des Stärkeren, auf der andern Seite den Sokrates, umgeben von sehr verschiedenartigen Schülern, unter welchen Xenophon mit seiner besonnenen Lehre vom Nützlichen, und Platon mit dem entschiedensten Aufstreben zum absolut- Guten, am meisten hervorragen. Um den Abstand zwischen diesen beyden zu bezeichnen, braucht man nur an den Cyrus des einen, und an die Republik des andern (besonders an das zweyte, vierte und achte Buch) zu erinnern. Xenophon soll sogar, wie Gellius berichtet, den ersten beyden Büchern der Republik seine Cyropädie absichtlich entgegengesetzt haben.**

* An die Antigone des Sophokles erinnert schon Aristoteles (Rhetor. I, 13) in Beziehung auf das, was von Natur recht sey.

** Stäudlins Geschichte der Moralphilosophie, S. 1 10.

326 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

§ 3- Viele haben in Platon zu finden geglaubt, was sie suchten. Tennemann suchte und fand bev ihm eine Kantische Pfiichtcnlehre ; Schleiermac her fand Gottähnlichkeit als höchstes Gut, und dieses als das beste Princip der Sittenlehre.* Dafs weder das eine noch das andre kann behauptet werden, zeigt Stäudlin.** Es kommt hier darauf an, dafs man theoretische und praktische [3] Philosophie nicht vermenge; aber auch nicht vom Platon eine strenge Unterscheidung beyder fodere. Manche Fragen, die ein heutiger Denker an ihn richten kann, finden bey ihm keine Antwort. Dahin gehört, was sich auf den Pflichtbegriff und die Frevheitslehre bezieht.*** Stäudlin findet beim Platon Determinismus, und doch die Voraussetzung eigentlicher Frevheit. ****

§ 4-

Dafs, im Widerspruche mit Platons scharfer Trennung des Sittlichen vom Glück, Andere neben ihm auftraten, die den gegenwärtigen, klug ausgewählten Genufs als den Preis ihrer Beherrschung der Affecten be- trachteten; dafs bald eine sanfte Erregung angerühmt, bald über die Leiden des Lebens geklagt, bald aber auch das Glück in der Abhärtung und Entbehrung gesucht wurde: dies Alles kann wenig befremden. Beym Aristoteles könnte man dagegen genau bestimmte Begriffe erwarten. Anstatt aber dem Platonischen Sixaiov sich anzuschliefsen, streitet er gegen die Idee des Guten, indem er sich in die Vieldeutigkeit des Worts ver- wickelt, f Die Verwirrung wird unheilbar, indem er den ganz falschen Satz aufstellt, die Tugend werde gelobt wegen der Werke und Thaten, die Glückseligkeit (evdatiuoinu) hingegen als etwas Höheres und Voll- ständiges geschätzt, ff

[4] Der Fehler ist nur dadurch bedeckt, dafs er in dem Tugend- haften die Gemüthsstimmung voraussetzt, vermöge deren im Rechthandeln zugleich die Freude daran soll enthalten seynftf; diese Art von Freude kann aber nicht eher von andrer Freude unterschieden werden, als bis man weifs, was Rechthandeln heifst; und sie kann nicht behauptet werden, wenn das richtige Streben auf unübersteigliche Hindernisse stöfst. Nachdem er nun ferner die Tugend in Einsicht und Wille geschieden hat, weifs er keine bessere Richtschnur für die Einsicht zu finden, fftt als die des Mittlern zwischen Zuviel und Zuwenig.

Übrigens sind aus der Rhetorik des Aristoteles folgende Definitionen schon der Kürze wegen zu bemerken:*! xctXov /<cV ioriv, 0 av di aixo

* Schleiermachers Krit. d. Sittenl., S. 24b und 443.

** Stäudlin a. a. O. S. 137 u. 142. Vergl. Metaphysik I S. 412. [Vgl. vorl. Ausg. Bd. VII S. 240.]

*** Über den wesentlichen Zusammenhang dieser beyden Puncte vergleiche man hauptsächlich Kants Kritik der prakt. Vernunft § 5 und 6. **** a. a. O. S. 166.

f Ethic. ad. Nicom. I, 4. ff ibid. I, 12.

ttt ^id. I, 9. >*.-.., ü

ffff ibid. II, 2. d' tv ralg npdi-soi xai ra avfiqiiQOVTa ovotv tarjjyioi £#£t. *f Rhet. I, 9

Einleitung. A. Historische Vorbereitung. :>2 7

tugtxov ov tnuivtxov fy /, o er otyüirtP ov rjdv ;r oti uyucroi'. tt ot rovn l'axi 10 y.c.'/.or, o.rö.yy.).. xv\v üoi-iir y.u'/.or eivcw uyu'Jor yuo OV Inaivexov tOXtv, A<; / /, di l'ori (xtP dvvafttg, nogioxix^ aya&cuv xal (pvXaxxixrj. xal dwa/tic tnoytTty./] noXhov xat ftsyaliov xat navxiov ntoi navxa. T\ÜQ7i de ugexijg dixaioovtfj, avdgelci, ocoqpgoovvij, f.tfyaXongeneia, (.ityakoxfjvyja, zurlhoui t]g, noran:, tfgovrjOig, O0(flb. 'Eon de dixaiO(ivvr{ agexi], di rjv tu avxalv exaoxot f'/ovai, xat (ug o vo/tiog' adixia <Vc', dl r\v tu aXXoxgia, ovy o.g o vof.iog. Man sieht, wie hier die Begriffe des Schönen, des Guten, des Angenehmen, des Nützlichen, des Gesetzlichen durch einander fahren.

§ 5-

[5] Von andrer Art sind die Verwickelungen der Ethik mit der Psychologie. Durch Platons populäre Darstellung (in der Republik) ver- anlafst, wachsen sie beym Aristoteles durch seine mehr hervortretende Vermengung der Lebenskraft mit der Seele. Obgleich er es hier unent- schieden läfst, ob das u/.oyov ipv/ijg von dem Xoyov i/ov an sich ver- schieden, oder nur wie die coneave und convexe Seite eines Kreisbogens unterscheidbar sey:* so entsteht doch eine gänzlich falsche Stellung der Begriffe, indem er das u/.oyov als dasjenige Eine auffafst, welches thcils Lebenskraft ohne Geist, theils geistig, aber (wie die Begierden) der Ver- nunft zu folgen oder nicht zu folgen fähig sey. Eine Zusammenfassung, die so wenig bestehen konnte, machte das Theilen noth wendig; und dazu kommt noch, dafs gegen das Ende der Ethik nicht blofs wie beym Platon, der Tugend wegen, sondern auch des Vergnügens wegen Theile in der Seele gemacht werden; denn das Vergnügen soll die Thätigkeiten vollenden;** daher werden nothwendig die Klassen der Vergnügungen eben so vielerley Thätigkeiten anzeigen; welches zum Spalten der Seelen vermögen Anlafs geben mufste. Dunkelheiten der Psychologie mufsten alsdann Dunkel- heiten für den Sittenlehrer werden, der als Eudämonist aus allen mög- lichen Vergnügungen, nach dem Grade ihrer Haltbarkeit und wahrschein- lichen Erreichbarkeit, die Glückseligkeit zusammen zu suchen hatte; ob- gleich Aristoteles sich aus der Verlegenheit zu helfen gedenkt, indem er das Unterscheidende des Men-[6]schen vor den Thieren so darstellt, als wäre es demselben mehr eigentümlich; (wie wenn die Merkmale der Gattung weniger als die speeifischen Differenzen einem Gegenstande zu- kämen).

§ 6.

Auch derjenige Streitpunct, welcher in neuerer Zeit am meisten Schwierigkeit verursacht, nämlich die Freyheitslehre, ist vom Aristoteles angeregt: Er will zeigen, dafs, weil und wiefern die Tugenden, als Fertig- keiten und Beschaffenheiten, von uns selbst abhängen, eben so auch die

* Et hie. I, 13. ** ibid. X, 4.

* Ethic. X, 7 am Ende, to yd(j oixtcov txrioTuj x7t (pvosi, ygariarov y.at ■t'ßiarüv fa&' sxäaztp' xal zw av&QtoTZvp S?} u y.uza zov vovv /?/o?, tinty (täXiaxa tovto av&gojnoe.

;28 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

Schlechtigkeiten freywillig sind (txovaiai).* Auf dem Wege aber zu diesem Ziele begeht er solche Fehler, dafs gerade die Hauptpuncte, um derentwillen die Sittenlehre nothwendig ist, in Schatten gestellt werden. Er behauptet, Niemand berathschlage wegen der Zwecke, sondern nur wegen der Mittel;** natürlich weil er voraussetzt, der Zweck sey immer die Glückseligkeit. Ferner: er sagt zwar, dem Verdorbenen sey das Bessere nicht mehr möglich***. Aber die Verwöhnung sey frey willig; und : nicht zu wissen, dafs aus dem Handeln die Gewöhnungen ent- springen, sey gar Sinnlosigkeit. ***: Vielmehr ist es Unachtsamkeit; und eben diese macht beständig die sittlichen Ermah-[7]nungen nöthig. Über- haupt kommt es beym Besser- und Schlechter- Werden bey weitem nicht blofs auf Gewöhnung an; um die Sittenlehre aber stände es schlimm, wenn man, um die Grundbegriffe des Guten und Bösen zu kennen, erst die schwierigen Untersuchungen der Psychologie und Pädagogik vollendet erblicken müfste.

§ 7- Aristoteles war so sehr gewöhnt, die Tugend als Fertigkeit an- zusehen, (woraus nothwendig eine Mehrheit von Tugenden entspringt) dafs er sogar die Gerechtigkeit als eine solche zu behandeln anfängt, ob- gleich ihr Grundbegriff, der des Rechts, gar keine persönliche Beschaffen- heit anzeigt. Das Schlimmste aber ist, dafs er den wahren Begriff des Rechts ganz verfehlt. Denn er schiebt zweyerley unter: erstlich Gesetz- mäfsigkeit, ohne die verbindende Kraft des Gesetzes zu untersuchen, zweytens Gleichheit, ohne diejenigen Ungleichheiten zu betrachten, welche in dem einmal Zugestandenen und hiedurch Rechtlichen bevestigt sind. Den Maafsstab der Würdigkeit bey ungleichen Personen in verschiedenen Staatsverfassungen läfst er nach kurzer Erwähnung im Dunkeln liegen, f Der Richter heilst bey ihm Vermittler, und soll die Gleichheit wieder herstellen als ob überall die Gleichheit dem Rechte gemäfs wäre, ff Dagegen ist der Sclave Eigenthum des Herrn, das Kind ein Theil des Vaters; nicht hieher, sondern nur auf solche Personen, die einer Gesetz- gebung fähig sind, d. h. die einander in dem Grade gleich sind, dafs sie wechselweise einander regieren und von ein-[8]ander regiert werden, pafst nach Aristoteles der Begriff des Gerechten, fff Daher stöfst sich auch seine Politik nicht an der Sclaverey; aufser sofern sie von der Kriegs- gewalt abhängt. Dafs es Sclaven von Natur gebe, denen es zukomme und nützlich sey, zu dienen, hält er für eine Thatsache ; fttt er beruft sich dabey auf die Verschiedenheit der Thiere und Menschen, des Leibes und

r

* Ethic. III. 7. ** ibid. III, 5. *** ibid. III, 7. yivofitvoi? ovxtti s^sazi fir, iivai.

lDiu. ro fxtv ovv ayrotiv, oxi tu xov ingynv ttsqi txaara ai t$2i? yivovtou, nofiidij dvuia&i'jrov. ' t Ethic. V, 6. tt ^id. V, 7. tft ibid. V, 10. tfft Polüicorum I, 5.

Einleitung. A. Historische Vorbereitung. 320

der Seele; und ist dem spinozischen Satze ganz nahe, das Recht entstehe aus der Gewalt.

§ §•

Der Skepticismus und Probabilismus der Peripatetiker ist die natür- liche Folge der eben bemerkten Fehler. Aber auch die Stoiker, indem sie sich verschiedener Formeln als Principien bedienten, haben besser er- mahnt als gelehrt. Der kynische Grundsatz, der Natur gemäfs zu leben, war ohne Zweifel gegen die Verkünstelung der Bedürfnisse im Cultur- zustande gerichtet; zu diesem kehrten die Stoiker zurück von der ein- fachem Formel , übereinstimmend zu leben. * Ihre Tugendlehre war polemisch;** der Vorzug derselben vor der des Aristoteles liegt darin, dafs die Tugenden nicht als vereinzelte Fertigkeiten, sondern als zusammen- gehörig zur Einheit, nämlich zur Weisheit hervortreten; **: während die Güter in mannigfacher Unterordnung, die Pflichten*5 viel- [9] fach ge- theilt erscheinen. Die Beurtheilung der Stoiker wird übrigens wegen mangelnder Quellen immer etwas Unsicheres behalten.

Merkwürdig ist Ciceros Auffassung der Stoischen Lehren schon in Ansehung des Naturrechts. Entschieden verschmäht er, das Recht von bürgerlichen Einrichtungen t abzuleiten. Vielmehr giebt es nach ihm eine Art von Familienrecht des Menschengeschlechts im Reiche Gottes; und hiemit eine Gleichartigkeit und allgemeine Verbindung der Menschen untereinander, ff wodurch nothwendig die Geringschätzung der Barbaren und die Sclaverey ausgeschlossen wird.

Was das Privateigenthum anlangt, so knüpft er dies nur sehr kurz andeutend an eine Art von Verjährung ohne Rücksicht auf den ursprüng- lichen Rechtstitel. ttt Wichtig ist auch die Verbindung des decorum mit der Pflichtenlehre, fttt

S

9-

Durch das Christenthum mit der Religion in engste Verbindung ge-

O D CO

setzt, gewann die Sittenlehre unendlich an Ausbildung und Wirksamkeit. Als aber die Mystik der Neuplatoniker mit jenem wetteiferte,*! entstanden neue Verwickelungen durch Glaubenspuncte. Drey Principien wurden unterschieden und verbunden: das [10] Gute (dies zugleich das Eine und Seyende), die intelligible Welt (das System der Ideen) und die Weltseele. **f Diese zwevte Benutzung der Platonischen Lehren ist weit verschieden von der frühern durch die Stoiker; weil die Veranlassung verschieden war.

* Stäudlin a. a. O. S. 252 und 297; vergl. S. 294. ** Schleiermacher Krit. d. Sittenl. S. 218. *** Schxeierm. a. a. O. S. 180 und 182. **** Stäudlin S. 348. f Cic. de legibus I, 15. ff ibid. I, 7. 10. II. 12. jtj Cic. de officiis I, 7: eorum, quae natura fuerant communia, quod ctaqtie obtigiU id quisque teneat; wo der Grund dieses obtigit nicht weiter in Betracht gezogen wird. fttf ibid. I, 27 seqq.

*f Stäudlin a. a. O. S. 440 u. s. w. **f Stäudlin a. a. O. S. 448.

330 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

Die Stoiker nämlich hatten gegen Skepticismus und Eudämonismus zu kämpfen; hier aber wollte es die Philosophie der Religionslehre gleich thun. Aber hier stiefs man nun an die Frage vom Ursprünge des Bösen; und suchte sich zu helfen, indem man das Böse vom Realen ausschlofs, wodurch es in Schein, ja in blofse Negation verwandelt wurde.*

§ 10. Das Bisher-Erwähnte zusammengenommen bildet den verworrenen Hinteigrund, aus welchem ein Werk langer Zeiten, umgearbeitet durch eine Reihe scharfsinniger Männer, nämlich das Römische Recht, glänzend hervortrit, obgleich es nur in fragmentarischer Darstellung bis zu uns ge- langt ist. Hier erblickt man deutlich die verschiedenen Rechtsverhältnisse in ihrer Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit; man erblickt die Rechts- fähigkeit jeder Person als abhängig von der ihr einmal eingeräumten Stellung in der Gesellschaft; worauf Geburt, Civität, Familie, guter Ruf, Geschlecht, Alter, Gesundheit, Wohnort, Kirchengemeinschaft, Einflufs haben; daneben zeigt sich die Möglichkeit, dafs zu einigen Rechten selbst fingirte Personen hinzugedacht werden. Man erblickt ferner die Sachen, wie sie als beweg-[i i]lich oder unbeweglich, vertretbar oder nicht ver- tretbar, 1 vereinzelt und getheilt oder nicht, mit Bezug auf Früchte und Kosten, Gegenstände von Rechten sind oder noch werden können. Man •erblickt Handlungen und Geschaffte, sowohl einseitige als mehrseitige, welche unter mehr oder minder bestimmten gesetzlichen Formen und Be- dingungen Rechte begründen können; wobey als Hindernisse besonders Irrthum, Betrug, Zwang, Simulation in Betracht kommen; und aufser den Bedingungen (affirmativen oder negativen, suspensiven oder resolutiven, potestativen oder casuellen) noch auf dies, modus, und auf Nebenverträge zu rücksichtigen nöthig werden kann. Es kommen hinzu Regeln über Er- werb, Erhaltung, Ausübung, Aufgebung und Verlust der Rechte ; von deren Concurrenz und Collision; endlich von der Art, dieselben gerichtlich zu verfolgen. Mit besonderer Genauigkeit sind diejenigen Rechte bestimmt, welche aus Familienverhältnissen und aus Todesfällen entstehen können.*'

§ iL

Die blofse Deutlichkeit und Consequenz reicht aber noch nicht hin

zur Rechtfertigung gegen Zweifel, und zur Aufklärung des ersten Ursprungs

der Grundbegriffe. Schon der bestimmten Trennung der Stände, sofern

sie von der Geburt abhingen, wirkte das Christenthum seiner Natur nach,

indem es die Niedrigsten wie die Höchsten zur kirchlichen Gesellschaft

j vereinigte, fortwährend entgegen, obgleich es weder bei den Alten [12]

die Sclaverey *** noch bey den Neuern die Leibeigenschaft unmittelbar aufhob.

Je mehr nun das alte Personenrecht zurückwich, desto mehr trat

* Stäudlin a. a. O. S. 452.

** Mackeldey Lehrbuch des heutigen Römischen Rechts, I, § 112 u. s. w. *** Hugo Lehrb. d. Naturrechts § 145.

1 SW. fehlen die folgenden Worte „vereinzelt und getheilt oder nicht".

Einleitung. A. Historische Vorbereitung. im

das Sachenrecht, als Hauptstütze der beharrlichen Rechtsverhältnisse, in den Vordergrund; während das Recht der Obligationen nur auf einzelne Streitigkeiten sich zu beziehen scheint. Vermöge des Eigenthums ver- wächst gleichsam der Mensch mit den Sachen ; und wer das Seinige an- tastet, der verletzt ihn selbst. Bey der Accession, durch welche die Früchte schon im Entstehen dem Eigenthümer des Bodens zuwachsen, ist dies am Auffallendsten. Gleichwohl wird Niemand dabev an ein natürliches Band zwischen der Sache und dem Menschen, vollends an ein unauf- lösliches, denken. Vielmehr kann das Eigenthum theils veräufsert, theils willkührlich beschränkt werden, wie bey den Servituten, der Emphvteuse, der Superficies, und dem Pfandrechte. Alle diese, an sich zufälligen, Realrechte, wie können sie gegen jeden Dritten verbindlich wirken, so dais er von den Sachen ausgeschlossen sey, an denen sie haften, während es in seiner Macht und in seinem Wunsche steht, sich ihrer zu bedienen? Diese Dunkelheit veranlafst verschiedene Versuche, das Eigenthum zu erklären; und dadurch wird selbst der Rechtsbegriff schwankend. Es fällt indessen Licht auf den Gegenstand, sobald man bemerkt, dafs noch vor der Entscheidung der Eigenthumsfrage schon der Besitz, falls er nicht fehlerhaft (vi, dam, precario erlangt) ist, durch Interdicte geschützt wird,* nämlich [13] in wiefern der Besitzer Grund hat zu glauben, kein Andrer habe ein besseres Recht.** Hiebey kam ursprünglich die Natur der Sachen in Betracht; derjenigen nämlich, bey welchen eine wahre Detention, und hiemit Ausschliefsung Andrer, Statt finden kann. *** Solche Sachen würden unmittelbar Gewaltthätigkeit veranlassen, wenn der Besitzer nicht geschützt wäre. Allein der Schutz ist nur vorläufig; und die Usucapion erst verwandelt das provisorische Recht in ein definitives, wenn nicht zuvor andre Entscheidungsgründe eintraten.

8 I2- Während nun auf diese Weise schon klar wird, dafs weder die Gleich- heit noch die Willkühr oder Meinung irgend eines Gesetzgebers, sondern die Verwerflichkeit des Streits dem Rechte zum Grunde liegt; und dafs hiemit das Eigenthum den nämlichen Ursprung hat, wie die bindende Kraft der Verträge: so scheint doch gerade diese Verwandtschaft beyder nur eine neue Unsicherheit im Rechtsbegriffe zu offenbaren. Denn durch Verträge greift der Mensch seinem künftigen Wollen vor; und hiemit zu- gleich den Beweggründen, die aus veränderten Umständen entstehen können. Wegen der mannigfaltig verkehrten Willkühr, womit Verträge oft genug eingegangen werden, hat auch das Römische Recht bey weitem nicht Alles, wozu Einer dem Andern sich verbindlich macht, als bürger- liche Obligation anerkannt; und selbst im Deutschen Rechte giebt es keine unbedingte Klagbarkeit der Versprechungen. t

* Mackeldey a. a. O. § 232 not. b. ** Mackeldey a. a. O. § 215. *** Ders. a. a. O. § 217. not. a.

j Eichhorn Einleitung in das deutsche Privatrecht §

92.

3^2 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

§ 13.

[14] Nachdem über das Verhältnifs menschlicher Gesetze zürn Natur- gesetz, und des letzteren zum göttlichen Gesetze, bey den Scholastikern Streitigkeiten waren erhoben worden: behaupteten Einige, der Wille Gottes strebe nach nichts nothwendig, sondern nach Allem zufällig; und die Moral fiiefse aus dem freyen und zufälligen Willen Gottes ab.* Das stärkste Seitenstück hiezu lieferte späterhin Spinoza, indem er das Recht aus der Freyheit und der Macht Gottes {quoniam Dens ins ad omnia habet, et ins Dci nihil aliud est quam ipsa Dei potentia, quatenus liacc absolute libcra consideratur) entspringen liefs.** Damit stimmt seine Lehre von den Verträgen: fidcs alicui data, qua aliquis solis verbis pollicitus est, se hoc aut illud facturum, quod pro suo iure omittere poterat, vel contra, tatndiu rata mau et, quamdiu eins, qui fidem dedit, non mittat ur voluntas.*** Es ent- geht ihm nicht, dafs nach einer solchen Lehre die Menschen Feinde seyn würden, und das Recht nur dem Namen nach vorhanden wäre. Aus Furcht nun sollen sie zum gemeinsamen Recht zusammentreten, und in sofern mögen die Scholastiker den Menschen ein animal sociale nennen, f

Die Lehre des Hobbes, obgleich der spinozistischen ähnlich durch das bellum omnium contra omnes, ist doch [15] deshalb etwas leidlicher, weil sie mit gleichen Ansprüchen Aller auf Alles beginnt, und mit der Verbindlichkeit der Verträge endigt.

§ 14. Wir sind hier schon in das Zeitalter eingetreten, mit welchem die Absonderung des Naturrechts von der Moral beginnt; und zwar (ab- gesehen von minder bedeutenden Vorgängern) durch das berühmte Werk des Hugo Grotius de iure belli et pacis. Von diesem Punkte an würde eine so kurze historische Zusammenstellung, wie die bisherige, nicht mehr zweckmäfsig seyn; vielmehr mufs nun die Zergliederung der Gegenstände anfangen, welche die praktische Philosophie behandelt.

B. Erste Uebersicht des Naturrechts und der Moral.

§ 15. Zum eigentlichen Rechte gehört nach den Bestimmungen, welche Hugo Grotius gleich Anfangs davon giebt: alicui abstineutia, et si quid alieni habeamus, aut lucri inde fecerimus, restitutio; promissorum implciidorum obligatio damni culpa dati reparatio, et poenae intet homines meritum, Davon ^unterscheidet er eine weitere Bedeutung des Wortes Recht; welche von richtiger Schätzung des Nutzens und Schadens ausgehe, und sich nach

* Stäudlin a. a. O. S. 554 u. 558. ** Spinozae tract. polüicus cap. 2, § 3. *** l. c. § 12. f /. c. § 15. Schon Henrici (Ideen zur wissenschaftl. Begründung der Rechts- lehre) stellt den Spinoza mit den Sophisten zusammen. Nicht günstiger urtheilt Stäudlin a. a. O. S. 772.

Einleitung. B. Erste Übersicht des Naturrechts und der Moral. ? -> ■>

Verschiedenheit der Verhältnisse unter den Menschen in deren an- gemessener Behandlung zeige.*

[16] Der Unterschied dessen, was strenge und was minder strenge bestimmt sey, findet sich nun noch bey den heutigen Schriftstellern ; und ihm gemäfs wird der Rechtslehre der Platz vor der Tugendlehre angewiesen, weil man, (wie Krug sich ausdrückt),** erst wissen mufs, was und wieviel sich erzwingen läfst, ehe man bestimmen kann, was und wieviel dem guten Willen zu überlassen.

Obgleich hiemit angedeutet worden, dafs dem Rechte die Befugnifs, es nöthigenfalls mit Zwange gelten zu machen, von den Meisten als ein ihm ursprünglich inwohnendes Merkmal, und als Unterscheidungs-Zeichen von den Ansprüchen der Moral, beygelegt wird: so fehlt doch selbst in diesem höchst wichtigen Punkte die völlige Einhelligkeit.***

§ 16.

Abgesehen von den verschiedenen Begründungen, auf die es bey der ersten Übersicht nicht ankommt: findet man bey den neuern Schriftstellern den Umrifs, welchen Grotius seinem Werke gab, darin völlig verändert dafs, während Er (von der Frage: quid bellum quid ius, schon im ersten Capitel beginnend, und vom Kriege zum Frieden übergehend,) die natur- rechtlichen Fragen im gröfsten Stile, nämlich als völkerrechtliche, be- handelt, die Neuern vielmehr vom Einfachsten zum Zusammengesetzten fortgehen, also das Privatrecht dem öffentlichen Rechte voranstellen.

§ 17-

[17] Im Privatrechte weiden ursprüngliche Rechte von erworbenen geschieden; jene gelten den Personen als solchen; zu den erworbenen Rechten aber gehört vorzugsweise das Eigenthum an äufseren Sachen. Die Lehre von der Entstehung und dem Untergange dieses Rechts pflegt der Betrachtung der Verträge und ihrer Hauptarten voranzugehn; alsdann wird noch von der Sicherung der Rechte durch Vertheidigung und Strafe gehandelt, (wobey vorbehalten bleibt, vom Strafrechte wiederum an einem andern Orte, nämlich bey den Hoheits- Rechten des Staats zu reden).

§ 18.

Das öffentliche Recht soll sowohl das Staatsrecht als das Völkerrecht umfassen. Es fällt in die Augen, dafs diese beyden Theile sehr un- gleicher Natur sind. Denn während im Völkerrechte meistens die Ver- hältnisse der Einzelnen, sofern sie noch nicht der Staatsgewalt unter- geordnet sind, wiederkehren müssen, nur mit sehr vermehrtem Gewicht: ist der Staat nicht blofs ein Inbegriff vieler kunstreich geordneter Ver- hältnisse, sondern er ist auch der Stützpunkt der Lehren von Zwang und

* De iure b.\elli~\ et p.\acis\ prolegomena, 8 10. ** Krugs Handbuch der Philosophie, II, § 497.

Man vergleiche zunächst Pülitz : die Staatswissenschaften, I, Naturrecht § 6.

324 *X- Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

Strafe, nachdem man den Einzelnen, und allen untergeordneten Gesell- schaften, das Recht der Selbsthülfe abgesprochen hat.

Dennoch legen Einige* das Staatsrecht in die Mitte zwischen dem Familienrecht und Kirchenrecht. Andre verbinden diese letztgenannten Abschnitte unter dem Namen der angewandten Rechtslehre.**

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§ 19-

[18] Als Grund des Staats werden meistens drey Verträge angegeben, das pactum tmionis, ordinationis, et subiectionis civilis; wozu für die Bey- wohner (im Gegensatze der Grund-Eigenthümer, denen der Boden gehört,) noch das pactum reeeptionis kann gerechnet werden.*** Zur Oberherrschaft gehören die gesetzgebende, ausübende, richterliche Gewalt, neben welchen von Einigen auch die aufsehende besonders genannt wird.

Ob die angegebenen Verträge dergestalt vorauszusetzen sind, dafs sie geschlossen werden mufsten? (nach Hobbes) oder sollten? (nach Kant und Andern), oder ob die Staaten lediglich als thatsächlich vorhanden zu betrachten sind (welches in Ansehung ihrer Gröfse und ihrer Gränzen meistentheils die voiherrschende Ansicht seyn wird): diese verschiedenen Meinungen wirken zurück auf die Würdigung der Privatrechte im Natur- stande; so sehr, dafs Einige (mit Kant) dieselben, so fern sie äufsere Sachen betreffen, als blofs provisorisch ansehen, f

§ 20.

Diese letztere Meinung begünstigt den Irrthum, als ob die Rechts- lehre, zuletzt sich stützend auf den äufseren Zwang, (der doch im Kriege unter mehrern Staaten unsicher wird,) ein abgeschlossenes Ganzes für sich bilden, und sich von der Tugendlehre absondern könnte.

Im Staate wird nicht auf den guten Willen und auf die Überzeugung jedes Einzelnen gewartet, denn die Geschaffte müssen fortgehn, und die öffentliche Ord-[io/]nung mufs erhalten werden. Dies veranlafst den Schein, als stände die Rechtslehre auf ähnliche Weise der Tu^endlehre gegenüber, wie der äufsere Erfahrungskreis dem innern, oder wie Natur- philosophie der Psychologie.

Aus der praktischen Philosophie ist bekannt, dafs die Ideen des Rechts und der Rechtsgesellschaft einen Theil dessen ausmachen, was der Tugendlehre vorangehn mufs, um dieselbe zu begründen.

Hievon weit abweichend, wird gewöhnlich die Tugendlehre der Rechtslehre coordinirt; und die Staatslehre, welche jener angehört, auf diese letztere beschränkt, anstatt auf dem ganzen System aller praktischen Ideen zu beruhen.

§ 21.

Die unmittelbare Folge davon ist, dafs nun unter den Tugenden wiederum die Gerechtigkeit erscheint; neben ihr aber die Gütigkeit, unter

* Z. B. Droste-Hülshof ; und etwas minder auffallend Hufelanu. ** Z. B. Krug a. a. O. *** Hufelands Naturrecht §. 448. 449. j Kant's Rechtslehre § 15. 44.

Einleitung. B. Erste Übersicht des Naturrechts und der Moral. 2 a ;

welche sich alsdann dasjenige verstecken mufs, was nicht von der Idee des Wohlwollens, sondern von der Idee der Vollkommenheit ausgeht, nämlich in so fern sich dasselbe auf die Vervollkommnung Andrer be- zieht. Denn in Ansehung der eignen Person werden Pflichten gegen sich selbst aufgestellt; und diese von den Pflichten gegen Andre unterschieden.

§ 22.

Hiebey verwickeln sich die Begriffe der Tugend und der Pflicht, welche (wie Schleier.macher gezeigt hat) sorgfältig unterschieden werden müssen, weil die Zerlegung derselben nicht gleichartig seyn kann.

Pflichten gehn auf ein Thun und Lassen; sie sind [20] verschieden nach äufsern Umständen und nach Individualitäten. Die Tugend liegt im Innern , und kann niemals vollständig hervortreten. Der Pflichten giebts viele; die Tugend, im eigentlichen Sinne, ist nur Eine.

§ 23.

Indessen wird die eben erwähnte Verwickelung einigermafsen ver- bessert, wenn Einige die reine Tugendlehre von der angewandten unter- scheiden, und mit dem letztern Namen die Auseinandersetzung der Pflichten bezeichnen.

Zur reinen Tugendlehre gehört alsdann die Betrachtung des Ge- wissens, und dessen, was der Mensch an sich selbst zu tadeln findet. Hier ist besonders von den Gegentheilen der Tugend zu handeln; theils von der Untugend, theils vom Laster in seinen mannigfaltigen Gestalten, theils von dem eigentlichen Bösen. Ferner gehören hieher die Hinder- nisse der Tugend, in den Stimmungen, Neigungen, Gewohnheiten, Affecten, Leidenschaften, schlechten Grundsätzen. (Bey Spinoza ist die Tugend- lehre nichts anderes als eine Lehre von der Bändigung der Affecten).

Die Moral gränzt hier an die Religionslehre, welche zurechtweisend, bessernd, und erhebend eingreift.

§ 24. Die Pflichtenlehre setzt das Mannigfaltige der Handlungen aus- einander; sie sucht zu bestimmen, in wiefern der Mensch für die Er- haltung seines Lebens und seiner Gesundheit zu sorgen, wie er die Kräfte des Leibes und Geistes zu schonen und zu bilden, wiefern er nach Vermögen und Ehre zu streben habe; ferner was er [21] Andern an seinem Rechte nachzulassen, was er ihnen noch über ihr Recht hinaus zu leisten habe; Pflichten der Billigkeit, Dankbarkeit, Nachsicht, Wohlthätigkeit, aber auch der Wahrhaftigkeit, der Ehrerbietung, der Aufrechthaltung ge- selliger Verhältnisse kommen zur Sprache.

§ 25. Dafs im Kreise der Pflichten Manches unbestimmt bleiben werde, läfst sich erwarten, da die Absonderung des Rechts, als des streng -Be- stimmbaren, älter ist als die (seit Gundling) daran geknüpfte Lehre vom Zwange. Nach dieser Absonderung mufste ohne Zweifel etwas minder streng-Bestimmbares im Kreise der Vorschriften für menschliches Handeln

T

sj6 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

.zurück gelassen weiden. Dennoch giebt es Viele, die keine gleichgültigen Handlungen (keine adtaphora) annehmen.* Dies hängt mit theoretischen Meinungen von der Möglichkeit, das Ganze zu überschauen, zusammen. Wenn daneben nicht einmal ein Unterschied des Grades in der Wichtig- keit und sittlichen Bedeutung der menschlichen Handlungen aufgestellt wird: so gehört diese Lehre zu den sehr bedenklichen, denn sie macht entweder sehr ängstlich oder sehr leichtsinnig.

; §26.

Man überlege nun, dafs die Gegenstände des Naturrechts, der Stand der Personen, das Eigenthum mit seinen Beschränkungen, die Ver- träge mit ihren oft unerwarteten Folgen, die Strafen mit ihren zweifel- haften Wirkungen, der Staat mit seinen verschiedenen Ge\val-[2 2]ten, die Kriege mit ihren Opfern und Gefahren, die Friedensschlüsse mit ihrer geringen Zuverlässigkeit, gerade dasjenige ausmachen, was den Men- schen für sich und die Seinigen, für Freunde und Bekannte, für alle seine Aussichten und Sorgen am meisten in Aufregung und Spannung versetzt. Hat man, ohne hinreichende Gründe, jene Gegenstände aus dem Gebiete der Tugendlehre hinweggerückt: so darf man um desto weniger erwarten, dafs gegen die Gemütsbewegungen, welche daraus entstehen, eine solche Tugendlehre besondere Hülfe leisten werde. Denn was einer ganz andern, wohl gar höhern, Einsicht, als der moralischen, zu bedürfen scheint, das pflegt nach andern Gesichtspuncten behandelt zu werden, und entfremdet alsdann den praktischen Menschen dem was zu seinem Geschaffte nicht pafst, und worüber er hinaus zu seyn glaubt.

Nicht blofs Platon sucht die Tugend im Staate, sondern auch Montesquieu beruft sich auf Tugend und Ehre, als auf die Principien der Republik und der Monarchie. Gehört nun die Moralität ins öffent- liche sowohl als ins Privatleben: so dürfen weder die wichtigsten Lebens- Verhältnisse der einseitigen, blofs rechtlichen Beleuchtung überlassen werden, noch darf es darauf ankommen, welche schwärmerische Meinungen in die von der Wissenschaft leer gelassenen Plätze eindringen mögen. Der philosophische Vortrag mufs Naturrecht und Moral zusammenfassen; obgleich das ungetheilte Ganze alsdann der Theologie und der Juris- prudenz verschiedene Seiten zuwendet.

§ 27.

[23] Da jedoch diese beyden Seiten einmal vorhanden und die Be- schaffenheit des Gegenstandes angemessen sind: so kommt in dieser Be- ziehung noch Folgendes in Betracht:

Erstlich: das Naturrecht besitzt eben so wenig die Macht des Staats, und der in ihm geltenden positiven Rechte, als die philosophische Tugend- und Pflichtenlehre im Stande ist, den mächtigen Einflufs der Kirche auf die Gemüther auszuüben. Das Naturrecht, wenn es irgend auf Unab-

* Schleiermacher Krit. d. Sittenl. Erstes Buch, zweiter Abschnitt, gegen Ende.

Einleitung. B. Erste Übersicht des Naturrechts und der Moni. 337

hängigkeit vom positiven Rechte Anspruch macht, kann nur durch Gründe wirken; auf Gründe aber, mit Beyseitsetzung des Vortheils und der Stärke, hört nur der moralische Mensch. Daher darf es sich von der Moral nicht dergestalt absondern, als ob es, ohne sie, Eingang finden könnte. Denn es ist weder bestimmt, dem Stärkern zu schmeicheln, noch den Schwächern aufzureizen.

§ 28. Zweytens: wieviel Rücksicht der Jurisprudenz, eben soviel Rücksicht gebührt der Theologie. Nun kann aber der philosophische Vortrag der Ethik nicht dadurch die Theologie berücksichtigen, dafs er etwa die Rechts- verhältnisse als den Leib für das zeitliche Reich Gottes bezeichne. Denn die Phvsiologie dieses Leibes ist unbekannt; das Universum ist kein Gegenstand menschlicher Erkenntnifs; die Einbildung einer solchen Er- kenntnifs läuft entweder in den Spinozismus zurück, oder sie verwickelt in den Versuch einer Theodicee, wegen des mannigfaltigen, im Erden- leben sichtbaren Unrechts, die für menschliches Wissen unausführbar ist. [24] Dinge dieser Art bleiben dem Glauben überlassen, dessen Macht und dessen Wcrth und Würde man nicht verkennen soll; dem vielmehr das Wissen Platz machen soll; schon deshalb, weil es sonst in Gefahr geräth, an sich selbst zu verzweifeln. Denn Niemand ist im Stande, sich sein Wissen, nachdem es einige Ausbreitung erlangt hat, als ein Wissen auf einmal zu vergegenwärtigen.

§ 29.

Vielmehr hat die praktische Philosophie auf die praktische Seite des Christenthums Rücksicht zu nehmen. Hier ragt das Gebot der Liebe hervor. Der Hafs gegen den Feind soll abgelegt, die Liebe zum Ein- zelnen soll zum allgemeinen Wohlwollen erhöht, und hiemit eine solche Gemeinschaft gestiftet werden, dafs sie dem Auge des Allgütigen ge- fallen könne.

Wiewohl nun die Gerechtigkeit einen besondern Factor der ganzen und vollständigen Tugend bildet, (wegen der, von den andern praktischen Ideen ursprünglich unabhängigen Idee des Rechts,) so soll doch die Ge- rechtigkeit nicht dergestalt abgesondert werden, wie wenn sie, nach einem unter den Menschen weit verbreiteten Vorurtheile, ein minimum der Sitt- lichkeit ausmachte, mit welchem man sich allenfalls begnügen könnte. Eine solche Ansicht ist verderblich für die Charakterbildung; und die für sich allein auftretende Gerechtigkeit verdient den Namen der Tugend nur in einem untergeordneten Sinne.

Während nun dies von allen den Schriftstellern, welche die Tugend der Gütigkeit neben die Gerechtigkeit stellen, ohne Zweifel anerkannt wird: kehrt die [25] obige Bemerkung zurück, dafs man nicht blofs Tugend- lehre und Rechtslehre coordinirt 20), sondern auch der Rechtslehre den ersten Platz anweiset 15); woraus die Frage entsteht, ob es nicht natürlicher wäre, die Tugendlehre, als das mehr Umfassende, früher ab- zuhandeln, um alsdann das mehr Specielle, die Rechtslehre, aus dem weitern Kreise herauszuheben ?

Herbart's Werke. X.

•^?g IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

§ 30.

Wollte man hierauf antworten: in der Reihe der Begriffe gehe das Recht voran vor der Gerechtigkeit, so ist dies zwar richtig; aber eben so geht der Begriff der Güte oder des Wohlwollens voran vor der Gütig- keit als eines Factors der Tugend; daher zwar die Tugendlehre kein Erstes seyn kann, aber nun weiter zu fragen ist: warum denn der Be- griff des Rechts einen frühern Platz bekomme als der Begriff der Güte ?

Zwar im Laufe des Lebens mufs vor Allem das Recht befriedigt werden; diese Befriedigung soll aber gerade dem innern Menschen, zu- folge der Religionslehre, nicht genügen. Wenn nun beyde Betrachtungen einander dergestalt das Gleichgewicht halten, dafs keine Priorität zwischen jenen beyden Begriffen deutlich hervortrit: so ist nachzuforschen, ob es etwa einen wissenschaftlichen Grund, oder doch einen Anlafs gebe, aus welchem sich die einmal üblich gewordene Stellung jener beiden Dis- ciplinen, wo nicht rechtfertigen, so doch erklären lasse?

§ 3i-

Unter den schottischen Philosophen hatte Hutcheson das Wohl- wollen für das Princip der Tugend erklärt. [26] Adam Smith, sein Nachfolger, nennt diese Lehre zwar ein liebenswürdiges System; er tadelt aber mit Recht, dasselbe zeige nicht deutlich den Grund an, woher der Beyfall entstehe, den wir andern Tugenden geben.*

Diesen Männern glaubten sich die spätem deutschen Philosophen weit überlegen. Kant stellt sogar folgende „casuistische Frage":

Würde es mit dem Wohle der Welt überhaupt nicht besser stehen, wenn alle Moralität gewissenhaft auf Rechtspflichten eingeschränkt, das Wohlwollen aber unter die adiaphora gezählt würde?** Er antwortet sich selbst ganz richtig:

In diesem Falle würde es an einer grofsen moralischen Zierde der

Welt, nämlich der Menschenliebe, fehlen, welche, auch ohne die Vor-

theile zu berechnen, die Welt als ein schönes moralisches Ganzes in

ihrer Vollkommenheit darzustellen erfodert wird.

Hätte er überlegt, dafs die ,. abscheuliche Familie" des Neides, der

Undankbarkeit und der Schadenfreude nicht ohne Zwang als „Verletzung

der Selbstpflicht" kann dargestellt werden: so würde er wohl das Gewicht

seiner eignen obigen Antwort besser geschätzt haben. Dann hätte aber

seine ganze Ethik eine andre Form bekommen müssen.

Schleiermacher glaubt die anglicanische Sittenlehre in die galli- y canische hinüberzuführen durch folgendes:

„Ist das Wohlwollen das Höchste: warum soll es seine Befriedigung hernehmen aus der Lust an [27] der unmittelbaren eigentlichen Glück- seligkeit Andrer; und nicht vielmehr eine höhere Lust finden an ihrer höheren, nämlich auch wohlwollenden Lust. Diese kann ich nicht

* Adam Smiths Theorie der moralischen Gefühle, VI, 3. ** Kants Tugendlehre § 35.

Einleitung. B. Erste Übersicht des Naturrechts und der Moral. 33g

sicherer befördern, als durch Bewirkung meiner eignen, ihnen zur An- schauung dargebotenen Glückseligkeit."* So glaubt er ein „in die Augen springendes Lächerliches" gegen Hutcheson nachzuweisen. Ja gegen Adam Smith erlaubt er sich zu sagen: Smith habe mit seinem Grundsatz, welcher die Sympathie der Menschen zum Kennzeichen des Sittlichen mache, alles überboten, was oben besagt worden, von der Art wie das Wohlwollen wieder in die Selbstliebe zurückkehre.**

Nur eben zuvor ist aus Adam Smiths Werke nachgewiesen, dafs derselbe an Hutcheson tadelte, was zu tadeln ist. Die Sympathie ist bev Smith ein Misgriff in der Einkleidung] sein Hauptgedanke ist in folgenden Worten zu erkennen:

Wer sein Betragen in dem Lichte betrachtet, worin der unpartheyische

Zuschauer es ansehen würde, giebt entweder den Motiven, die darauf

Einflufs hatten, seinen Beyfall, oder er findet, dafs er diese Motive

bey sich selbst nicht rechtfertigen kann.***

Es versteht sich von selbst, dafs beym unpartheyischen Zuschauer

die Sympathie, sofern sie partheyisch [28] wäre, schon ausgeschlossen ist.

Übrigens trifft der Vorwurf, bey Smith an den Worten zu kleben, schon

Garven,! der Smiths Princip geradezu ungereimt nennt, und doch viel

von ihm gelernt zu haben bekennt.

§ 32.

Das eben Angeführte leitet auf die Beantwortung der obigen Frage, 30). Wer das Wohlwollen mit der Sympathie verwechselt, der hat weder das Wohlwollen selbst, noch den Standpunct des unpartheyischen Zuschauers gehörig aufgefafst.

Zuvörderst: der Zuschauer lobt das Wohlwollen. Allein, er selbst, als unpartheyisch, ist in sofern nicht wohlwollend.

Zweytens: Giebt er die unpartheyische Stellung auf, und versetzt er sich ins Wohlwollen: so steht er in der Mitte zwischen einem möglichen andern Zuschauer, der ihn lobt, und den wirklichen Individuen, die er vor sich aber aufser sich sieht, indem er ihrer Angelegenheiten sich anzunehmen beschliefst, als wären es die seinigen.

Drittens: läfst er sich zur Sympathie hinreifsen: so hört in so weit das Wohlwollen auf. Denn indem er die Empfindungen von Lust und Schmerz, die Hoffnungen und Befürchtungen, die er bey Andern vorfand, innerlich nachahmt: sind ihre Angelegenheiten nun wirklich die seinigen; und das Verhältnifs zwischen seinem Willen und dem vorgestellten fremden Willen hört auf.ft

* Schleiermacher Kritik der Sittenlehre, erstes Buch, zweyter Abschnitt, S. 82. ** SCHLEIERM. a. a. O. im Anhange zum vorerwähnten Abschnitte. *** Kurz zusammengezogen aus dem Anfange des dritten Theils in Smiths zuvor angeführtem Werke.

j Garve in der Abhandlung, welche seiner Übersetzung der aristotelischen Ethik

voransteht, VII, 4.

ff praktische Philosophie I, 3. [Vgl. vorl. Ausg. Bd. II, S. 361.]

9 7 *

»40 1X- Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

[29] Gesetzt nun, es werde (um die obige Frage zu verdeutlichen) als zweifelhaft dargestellt, wer mehr zu loben sey, der Urheber eines Werkes von hohem ästhetischen Werthe, oder der Erfinder einer sehr gemeinnützigen Einrichtung: so gebührt darüber der blofsen Sympathie gar keine Stimme, sondern ihr kommt lediglich das Nützliche zu Statten, indem es ihren Wünschen gemäfs ist. Der Wohlwollende aber betrachtet den Erfinder in dessen Verhältnisse zu der Menge Derer, die sich des Nützlichen bedienen; er lobt ihn als einen Solchen, der sich um das öffentliche Wohl verdient gemacht hat. Endlich der unpartheyische Zu- schauer bekümmert sich, als solcher, um kein Wohlseyn; er schätzt das ästhetische Kunstwerk, daher trifft sein Lob zugleich, wiewohl auf ver- schiedene Weise, den Künstler und den Wohlwollenden.

Worin liegt nun das Zweifelhafte? Blofs darin, ob wir uns auf dem Standpuncte des unpartheyischen Zuschauers halten, oder ob, indem wir die wohlwollende Gesinnung loben, eben dies Lob uns veranlafst, selbst in den Standpunct der wohlwollenden Betrachtung uns zu versetzen?

§33-

Diese Verwechslung der Standpuncte des unpartheyischen Zuschauers und des Wohlwollenden geschieht so leicht, dafs manche Moralisten nöthig fanden, sich gegen sie zu stemmen. Daraus aber entstand der neue Irr- thum, als laufe das Wohlwollen in die Selbstliebe zurück, von welcher die Sympathie sich nicht streng unterscheiden läfst. So konnte sich die Sittenlehre der christlichen Religionslehre nicht gehörig anschliefsen. [30] Die schottischen Moralisten erfuhren eine unverdiente Zurücksetzung. Kant wurde einseitig zu Gunsten der Rechtslehre; Schleiermacher schlofs sich zwar dem Plato an, (bey welchem vorzugsweise die Idee der innern Frey- heit ausgebildet hervortrit,) aber fast noch mehr stützte er sich auf Spinoza, dessen animositas und generositas* auf der fortitudo, das heifst, auf der Idee der Vollkommenheit beruht.

So lange die Sittenlehre solchen Einseitigkeiten Preis gegeben bleibt, hat sie das Schicksal, im unnöthigen Zwiespalt mit sich selbst unrichtiger zu erscheinen, als sie wirklich ist.

§ 34-

Wo Einseitigkeit der Ansicht die Behandlung einer Wissenschaft be- herrscht, da mufs man unrichtige Begründung erwarten; denn in der An- gabe der Gründe sucht jeder die Behandlung im Voraus zu rechtfertigen. Wo verschiedene Ansichten mit einander streiten, da wird am meisten über die Begründung gestritten. Eine Kritik der Sittenlehre mufs sich in solchen Streit einlassen, um ihn, wo möglich, zu schlichten. Der Zweck dieser Schrift ist aber nicht sowohl kritisch als analytisch; daher kann im Folgenden von der Verschiedenheit in den Begründungen der prak- tischen Philosophie nur sehr kurz gesprochen werden.

Die Analyse soll auf die wahren Gründe der praktischen Philosophie zurück weisen. Damit sie dies vermöge: mufs man vor allem Naturrecht

* SPINOZAE ethica pars HI^ prop. 5g. Schol.

I. Abschn. Begründung d. prakt. Phil. I . Cap. Begründung nach spinoz. Richtung. 34 t

und Moral beysammen sehen; wozu schon die vorstehende Über-[3 1] sieht eine Vorbereitung gab. Man kann sich ferner nicht auf Einen Schrift- steller beschränken, da man keinen finden wird, der nicht auf irgend eine Art einseitig wäre. Allein es bedarf deren auch nicht viele, um durch Zusammenstellung der verschiedenen Einseitigkeiten die Grundzüge eines Ganzen sichtbar zu machen, von welchem, nachdem man es einmal kennt, die einzelnen Theile alsdann jeder beliebigen Auswahl für Diejenigen bereit liegen werden, die sich mit einer speciellen Ausarbeitung solcher Theile beschäfftigen wollen.

[32] Erster Abschnitt. Von der Begründung der praktischen Philosophie.

Erstes Capitel. Von der Begründung nach spinozistischer Richtung.

§ 35- Um in der Kürze deutlich zu seyn, kann hier nicht auf Vieler- ley, sondern nur auf die Hauptrichtungen des Philosophirens, welche heutiges Tages vorherrschen, eingegangen werden. Diese sind die spino- zistische und die kantische Richtung. Ehe wir darauf kommen, sind ein Paar Vorerinnerungen nöthig.

§ 36.

Billigen und Misbilligen, oder, wie man vielleicht lieber sagt. Loben und Tadeln, ist etwas Anderes, als der Gegenstand, welcher gelobt und getadelt wpd\ sev nun dieser Gegenstand ein Seyn und Thun, oder ein Wissen und Fühlen dieses Seyns und Thuns. Die Bedingungen des Billigens und Misbilligens müssen erfüllt werden um es zu vollziehen; und, wo es theilweise schon vollzogen ist, dessen wahren Sinn zu erkennen. Schleiermacher hat zwar die Hauptverschiedenheit der Begründungen der Ethik darin gesucht, dafs einige Systeme, indem sie Naturgemäfsheit, Vollkommenheit, oder Gottähnlichkeit fodern, auf ein So- und -nicht -An- ders-Seyn und Thun der Menschen gerichtet seyen, während [33] die übrigen, ihr Ziel in der Lust und Schmerzlosigkeit, hiemit also in dem Zustande fänden, in welchem sich zu wissen und fühlen sie beabsichtigten.* Wir aber können uns auf die letztere Klasse, welche keiner lobenden und tadelnden Beurtheilung des Willens Gehör giebt, gar nicht einlassen.

Die erste Klasse, auch wenn sie von Naturgemäfsheit redet, sucht doch den Menschen über seine gemeine Natur zu erheben; nicht als ob

Schleiermachers Kritik der Sittenlehre, im Anfange des ersten Abschnitts.

34 2 ^" Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 183b.

das Natürliche an sich zu tadeln wäre, sondern weil es Gefahr läuft, in tadelnswerthen Verhältnissen sich zu äufsern, deren Vermeidung mancher- ley Beschränkungen nüthig macht. Dafs auf der Construction einer be- stimmten und geordneten Reihe von Verhältnissen die Svnlhesis der prak- tischen Philosophie beruht, wird hier als bekannt vorausgesetzt.

§ 37- Fast allgemein wird bey den Begründungen der praktischen Philo- sophie die Psychologie zu Hülfe genommen. Erstlich weil der Mensch mit seinen Gesinnungen und Bestrebungen schon vorhanden ist, bevor man ihm eine Lenkung zu geben durch philosophische Lehren beab- sichtigt. Dies läfst sich, besonders in Bezug auf Rechtsverhältnisse, auch selbst auf die Umstände des leiblichen Lebens ausdehnen, daher eine juristische Anthropologie.* Zweytens verlangt man, die Psychologie solle über die geistige Thätigkeit, welche die sittliche Herrschaft ausübt, Aus- kunft geben. Dies ist nun zwar [34] in sofern nothwendig, als dasjenige, welchem die Herrschaft zukommt, sorgfältig von dem zu - Beherrschenden mufs unterschieden werden. Dahin gehört die Abscheidung des Sittlichen vom Begehren und vom Fühlen des Angenehmen; diese Abscheidung genau vestzuhalten ist aber nicht ganz so leicht, wie sie scheinen mag. Verfehlt man die erste Bedingung der wahren Begründung, nämlich die Betrachtung des Willens in den Verhältnissen, welche er bildet, so geräth man in die Gefahr einer unwillkürlichen und unbewufsten Sympathie mit dem Wollen selbst, sofern es wirklich Ist und Thut; diese Sympathie vermag eben so wenig ein richtiges Urtheil über den Willen zu fällen, als die andere Sympathie mit dem Wissen und Fühlen jenes Seyns und Thuns; denn man steht alsdann auf dem Standpuncte dessen, was nicht herrschen soll, sondern beherrscht zu werden bestimmt ist. Hat man die erste Bedingung verfehlt, so kann man auch die zweyte nicht erfüllen, nämlich die Reihe geordnet und vollständig aufzustellen, worin die Be- griffe der Willens-Verhältnisse, sammt deren ursprünglichen Werth -Be- stimmungen liegen. Dann bleibt auch die dritte Bedingung unerfüllt, nämlich nachzuweisen, woran es liegt, dafs einerseits die praktische Philo- sophie auf allgemeine Geltimg Anspruch macht, andererseits aber doch Manches entweder ganz unbestimmt, oder dem eignen Gewissen eines Jeden überlassen bleibt, der es nicht blofs nach Verschiedenheit der Umstände, sondern auch nach seiner Individualität zu bestimmen hat. *:

[35] In so weit also mufs allerdings die Psychologie zu Hülfe kommen, als nöthig, um das Herrschende im sittlichen Menschen derge- stalt zu charakterisiren , dafs es sich von dem zu -beherrschenden Willen "> ganz, und mit Sicherheit unterscheiden lasse. Die Schwierigkeit liegt hier bekanntlich darin, dafs jedes Herrschen und Gesetz-Geben selbst als ein Wollen gedacht wird und im wirklichen sittlichen Leben in der That sich

* Man vergleiche das Naturrecht des Herrn geh. J. R. Hugo.

** Schleiermacher hat auf diesen wichtigen Punct eine scharfe Aufmerksamkeit gerichtet. Krit. der Sittenl. im ersten Abschnitte des dritten Buchs. Er meint sich zu helfen, indem er zwey Seelenvermögen unterscheidet; Vernunft als das allgemeine, Phantasie als das individuelle.

I. Abschn. Begründung d. prakt. Phil. i. Cap. Begründung nach spinoz. Richtung. 343

mehr oder weniger als Wollen offenbaren mufs. Wäre dies die ursprüng- liche Gestalt und Natur Dessen, was im sittlichen Leben zur Herrschaft gelangt, so würde man auch zu keinem andern Resultate gelangen können, als zu dem eines innerlichen Krieges, welchen der sittliche Mensch gegen sich selbst erhebe.

§ 38- Aber die Foderung, das Herrschende psychologisch zu eiklären, hat viel weiter geführt. Sie führt bey Spinoza zum Fatalismus, bei Kant zu einer übertriebenen Freyheitslehre; Bey de verwickeln die sittlichen Grund- begriffe in spec?ilalive Schwierigkeiten und Fehler.

§ 39-

Spinoza, der Befreyung von Affecten und Leidenschaften als das Wesen des Sittlichen betrachtet, schiebt der Darstellung derselben nicht blofs eine Seelenlehre, sondern dieser noch eine Lehre von Gott voran. Ohne uns auf das Vorgeschobene hier einzulassen, führen wir [36] wegen der schlecht geordneten Darstellung seiner Ethik besonders in den drey letzten Büchern, und um der Frage, ob diese Ethik eine Lehre von Tugenden oder von Pflichten oder von Gütern sey, zuvorzukommen, zu- erst den Schlufssatz des ganzen Werkes an, als das Ziel, welches ihm vorschwebte.

Beatitudo non est virtuiis praemium, sed ipsa virtus ; nee eadem gaude- mus, quin libidines coercemus, sed contra, quia eadem gaudemus, ideo libidines coeteere possumus.

Wer besitzt diese beatitudo? Das Böse erregt oft den unsichern Widerstand und immer die Trauer des sittlichen Menschen. Ein Schrift- steller, der von Gott anhebt, mufste hier entweder an eine Theodicee denken, oder er mufste das Böse für etwas im Grunde nicht Wirkliches halten. Ist nun die Realität das Gute, so ist das Böse eine blofse Ne- gation. Damit hängen unmittelbar die Sätze zusammen: per virtutem et votentiam idem inlelligo, hoc est, virtus, quatenns ad hominem refertur, est ipsa hominis essentia seu natura, quatenns potestatem habet, quaedam efficiendi, quae per solas ipsius naturae leges possunt intelligi;* und der Satz über das Recht: per ins naturae intelligo ipsas naturae leges, hoc est, ipsa in naturae poteniiam, alque adeo uniuseujusque individui naturale ins eo usque se exten- dit, quo eins potentia** Die Gegentheile werden dem gemäfs blofse Mängel und Schranken.

§ 40.

Dafs bey einem Pantheisten Naturgewalt und Gottheit zusammen fallen, darf zwar nicht befremden; eben so [37] wenig als dafs Einige sich durch solche Sätze, wie : Summutn mentis bonum est Bei cognitio, et summa mentis virtus Deurn cognoscere,*** summutn bonum omnibus cornmune,\ nemo potest Deurn odio habere,^ verblenden lassen. Um aber den wahren

* Ethica p. IV. defin. 8. ** Tractat. polit. cap. 2 §. 4. *** Ethica IV, 28.

t ibid. IV, 36. ff ibid. V, 18.

1

%aa IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

Sinn dieser Sätze mit Spinozas eigenen Worten zu bezeichnen, wollen wir eine längere Stelle hersetzen; und zwar nicht ans der Ethik, sondern aus dem seltener gelesenen Tractatus theotogico-po/iticus, wo man im zweyten Absätze des dritten Capitels Folgendes findet: Explicare paucis volo, quid pei Dei directionem, perque Dei auxilium extemum et internum, et quid per electioncm Dei intelligam. Per Dei directionem intelligo : fixum et iiniitu- tabilem naturae ordinem, sive rerum natura/zum concatenationem. Sive dica- i/u/s, omnia seeundum leges naturae fieri, sive ex Dei decreto ordinari, idem dieimus. Quicquid natura kumana ex sola sua potentia praestare potest ad suum Esse c 0 nserva ndum , id Dei auxilium internum, et quic- quid praeterea ex potentia causam m externarum in ipsius utile cadit, id Dei aiiA ilium exteruum merito vocare possumus. Atque ex Iris ctiani facile colli- gifur, quid per Dei eletionem sit intclligendum. Natu cum nemo alliquid agat, nisi ex praedeterminato naturae online, hoc est, ex Dei aelerna direc- tione et decreto, hinc sequitur, neminem sibi aliquant vivendi rationem eligere, neque aliquid efficere, nisi ex singulari Dei vocalioue, qui liunc ad hoc opus, vel ad hanc vivendi rationem prae aliis elegit.

Die Ueberschrift des Capitels, worin diese Stelle vorkommt, lautet so: de Hebraeorum vocatione. Et an [38] donum propheticum Hebraeis peculiare fuerit. Dafs nach eben der Stelle sich ein Mordbrenner als eine auserwählte Geifsel Gottes betrachten werde, ist klar; und überdies wird er den obigen Satz benutzen können : das Recht eines Jeden er- strecke sich so weit als seine Macht.

§ 4L Der wahre Kern der spinozistischen Ethik liegt in dem Satze: quatenus mens res omnes ut necessatias iutelligil, eatenus maiorem in affeclus potentiam habet.* Damit hängt zusammen: melior pars nostri est intel- lectus. ** Wo nun der Wille geradezu als ein untergeordneter Theil be- trachtet wird, da kann nach Gründen, aus welchen sein Werth oder Un- werth zu bestimmen wäre, kaum ernstlich gefragt werden. Indessen hat dennoch wenigstens die Idee der Vollkommenheit Einfluls auf Spinoza's Ethik gehabt; nur, wie nach dem eben Gesagten zu erwarten, dergestalt, dafs der Unterschied der Stärke und Schwäche eigentlich im Erkennen gesucht wird. Der Grundgedanke liegt in der Entgegensetzung des Thuns und Leidens, nach dem Satze : mentis actiones ex solis ideis adaequatis oriuntur; passiones autem a solis inadaequatis pendeut.***

§ 42. Da die Rechtslehre als derjenige Theil der praktischen Philosophie pflegt angesehen zu werden, welcher der strengsten Bestimmung, also der klarsten wissen- [3 9] schaftlichen Entwickelung fähig sey: so sollte man er- warten, Spinoza, der auf adäquate Begriffe den höchsten Werth legt, werde in der Rechtslehre glänzen. Da nun gerade das Gegentheil als

* Spin. eth. V, 6.

** Tretet, theol. pol. in der Mitte des cap. 4. Nämlich dem Verstände soll die Nothwendigkeit einleuchten. *** Ethic. III, 3.

I. Abschn. Begründung d. prakt. Phil. i. Cap. Begründung nach spinoz. Richtung. 34^

Thatsache vor Augen liegt, 13, 39) so wirft eben dieser Umstand ein Licht auf die eigenthümliche Schwierigkeit der Rechtslehre, Unter den vorhandenen Rechtsverhältnissen springen die dinglichen Rechte, als die wichtigsten im gewöhnlichen Privatleben, am meisten ins Auge. Diese für wirkliche Eigenschaften der Sachen, an denen sie haften, anzusehen, ist bev der mindesten Überlegung (schon des Wechsels der Eigentums- rechte) offenbar unmöglich. Also scheint es, der Eigenthümer übe eine Wirkung in unendliche Ferne aus, indem er Jedem das Antasten des Seinigen verbietet. Aber auch diese Wirkung erscheint fabelhaft, aufser in wiefern eine wirkliche Gewalt in der Person des Eigenthümers ist, durch welche er den Angreifer zurücktreiben kann. Wer also vom ästhetischen Urtheil nichts in seine Reflexion aufgenommen hat, der wird auf die Frage: was ist das Recht? natürlich antworten: die Macht.

Die blofse Sympathie würde sich weniger in die Stelle der Be- rechtigten, als vielmehr der grofsen Anzahl der rechtlich Ausgeschlossenen versetzen. Wer aber sich auf dasjenige beruft, was die Vernunft ihm, oder auch was einem Jeden seine Vernunft sage: der hüte sich, den Ausspruch zweifelhaft zu machen durch das hypothetische Orakel dem derselbe zugeschrieben wird. Das Vernünftige ist ohne Vergleich ge- wisser, als die Vernunft. Zur Probe, was Alles im Namen der Vernunft könne gesagt werden, kann das gleich Folgende dienen.

§ 43-

[40] Der Schein von Gröfse, welchen der Spinozismus dadurch er- langt, dafs er als sein Fundament das Wissen um eine göttliche Noth- wendigkeit darstellt, verschwindet bald, wenn man seine Nachgiebigkeit gegen den Eudämonismus ins Auge fafst.

Ethica pars IV. prop. 18, scholion: Lnbet ipsa rationis dictamina breviler ostendere, ut ea, quae sentio, facilins ab unoquoque percipiantur. Cum ratio nihil contra naturam postitlet, postulat ergo ipsa, ut iniusquisque se ipsum amct. su um utile, qnod tevera utile est, quaerat, et id omne, quod ho mi nein ad maiorem p ei fectionem revera ducit, appetat (Vermengung des Nützlichen und der Vervollkommnung.) et absolute, ut unusquisque suum Esse, quantum in se est, conservate conetur (Vermengung der Ver- teidigung gegen das, was dem eignen Daseyn Abbruch thun könnte, mit dem Streben, Mehr zu gewinnen). Deinde quandoquidem virtus nihil aliud est, quam ex legibus proprio e natuiae agere, sequi tur, vir tut is fun do- rnen tum esse ipsum conatum, proprium Esse conscrvandi; et felici- tatem in eo consistere, quod homo suum Esse conservare polest (?) Mulla extra nos dantur, quae nobis utilio, quaequc propterea appetenda sunt. Ex Ins nulla praestanfiora excogilari possuuf, quam ea, quae cum nostra natura prorsus conveniunt. Si mint duo e. g. eiusdcm prorsus naturae individua (wo findet man die?) invicem iunguntur, Individuum cotnponunt singulo duplo potentius. Homini igitur nihil nomine utilius; nihil, inquom, homines praestantius ad suum Esse conseiTondum optare possunt, quam quod omnes in omnibus ita conveniant, ut omnium mentcs et corpora unam quasi meutern, unumque cotpus componant , et omnes simul, [41J quantum pos- sunt, suum Esse conseroare conentur, omncsque simul omnium commune utile sibi

;4Ö IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

quaerant, ex qttibus sequi/ ur, homines, qui rationt gubernantur, hoc est, homines.

qui ex duetu tationis suum utile quaerunt, nihil sibi appetere, quod reliquü

kominibus non capiant, atque adeo eosdem iustos, fidos, atque honestos esse.

Dieser fromme Wunsch ist gewifs fafslich. Aber noch fafslicher ist

ein Axiom, welches demselben nur um wenige Blätter voransteht:

I\ ulla res singularis in rerum natura datur, qua potentior ei fortior non detur alia. Scd quaeunque data datur alia potentior, a qua illa data potest des t rui. Das Axiom folgt unmittelbar auf die Definition: per 7>irtu/cm et potent ia in ide in in te II ig 0.

§ 44-

Die Schwankung der Sittenlehre, welche im Vorstehenden anstatt einer vesten Begründung sichtbar wird, zeigte sich nicht erst bei Spinoza; auch war längst zuvor die Sittenlehre in den Schutz der Religion gestellt 9)- Aber seine Sprache kam der Art von Aufklärung gelegen, welcher sich die Religion in eine falsche Naturlehre verwandelt; als dürfte aus allen durch Erfahrung und Rechnung einzeln bekannten Causalitäten, eine einzige unendlich grofse Kette der Naturnoth wendigkeit, in geistiger Hinsicht sowohl als für die Körperwelt, gebildet, das Zweckmäfsige und wahrhaft Wunderbare in der Natur aber, sammt dem was für irdisches Wissen in den Wegen der Vorsehung dunkel bleibt, mit gigantischem Ubermuthe verkannt werden, um nicht mit dem gemeinen Volksglauben in Berührung zu gerathen. Dazu kommt, dafs dem besonnenen, vollends dem gesellschaft-[42]lich gebildeten Menschen seine Affecten vielfach un- bequem werden, weil sie, auch ohne Sonderung der praktischen Ideen, die Stimme des Gewissens, aber nicht allein des Gewissens, sondern auch die des Ehrgeizes und der Klugheit gegen sich haben. Deshalb bleibt eine Lehre gegen die Affecten und Leidenschaften fortwährend Be- dürfnifs, wenn sie auch über das suum utile quaerere sich nicht * wesentlich erheben kann und will.

Zu der Zeit, da Kant auftrat, gab es neben solchen Ansichten auf der einen Seite noch schlimmere, auf der andern bessere. Durch einige französische sogenannte Philosophen war der sinnlichste Epicureismus in Umlauf gebracht. „Was hatte der Lehre eines Helvetius, eines Diderot, den schnellen allgemeinen Eingang verschafft? Nichts anderes, als dafs diese Lehre die Wahrheit des Jahrhunderts wirklich in sich fafste." So spricht Jakobi,* und giebt dadurch einem Jahrhundert ein trauriges Zeugnifs. In den deutschen Schulen war noch das Wolffische Princip, perfice te, üblich; nach Garves Urtheil** unbefriedigend für den Verstand, unkräftig für das Herz, wenn es nach damaliger Weise der Schulen er- klärt wurde, nämlich durch den Satz: Suche das Mannigfaltige in Dir übereinstimmend zu Einem zu machen. Garve selbst, damals in grofsem Ansehen, erklärt es dahin, dafs der Mensch nach Einsichten streben, seine Begierden zähmen , die innere Thätigkeit seines Geistes durch

* Jakobis Werke, vierten Bandes erste Abtheilung, S. 235. ** Garves Übersetzung der Ethik des Aristoteles, erster Band, S. 181.

1 „nicht" fehlt in S\V.

I. Abschn. Begründung d. prakt. Phil. 2. Cap. Begründung d. prakt. Philosophie etc. ^47

Denken und wohlwollende Neigungen unterhalten und erhöhen, und eben [43] diese Thätigkeit durch nützliche Arbeiten, durch treue Abwartung eines gewissen Berufs, durch gerechte und wohlthätige Handlungen, auch äufserlich, im geselligen Leben, üben solle. Darin liegen die praktischen l Ideen, wiewohl unbestimmt und ungeordnet. Takobi foderte etwas Höheres. Ob die Tugend mehr den Glauben gebäre, oder der Glaube mehr die Tugend? Er antwortete: der Glaube habe unbedingt den Vor- rang. „Das religiöse Gefühl ist die Grundlage der Menschheit." Und doch, während er den Spinozismus nicht blofs des Fatalismus, sondern des Atheismus anklagte, trug er selbst zu dessen Verbreitung bey; und indem er Lessixgs Hinneigung zum Spinozismus bekannt machte, stellte er sich selbst als Lessixgs Freund und Verehrer dar; welcher Umstand wenigstens daran erinnert, dafs zwey treffliche Männer viel leichter in sitt- licher Hinsicht zur Übereinstimmung gelangen, als im Streit über Glaubens- puncte.

Zweites Capite 1.

Von der Begründung der praktischen Philosophie nach Kant

und Fichte.

§ 45- Kant klagt über ein wunderbares Gemisch, worin bald die be- sondere Bestimmung der menschlichen Natur, bald die Idee von einer vernünftigen Natur überhaupt, bald Vollkommenheit, bald Glückseligkeit, hier moralisches Gefühl, dort Gottesfurcht, von diesem etwas, von jenem auch etwas, anzutreffen sey; ohne dafs man sich einfallen lasse, zu fragen, ob auch überall in der Kennt- [_44]nifs der menschlichen Natur, die wir doch nur aus Erfahrung hernehmen können, die Principien der Sittlich- keit zu suchen seyen? Eine vermischte Sittenlehre aber mache das Ge- müth schwanken zwischen Beweggründen, die nur sehr zufällig zum Guten, öfters zum Bösen leiten.*

Beispiele verwarf er. „Selbst der Heilige des Evangelii mufs zuvor mit unserm Ideal der sittlichen Vollkommenheit verglichen werden, ehe man ihn dafür erkennt. Woher haben wir den Begriff von Gott? Le- diglich aus der Idee, welche die Vernunft a priori von sittlicher Voll- kommenheit entwirft'1.**

§ 46. Das Gegenmittel der Vermischung wäre Sonderling gewesen ; Kant aber suchte es in der Vereinfachung, und in der Strenge eines Gesetzes. Alle hypothetischen Vorschriften, als zur Lehre von der Glückseligkeit ge-

* Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. S. 31. 34. ** A. a. O. S. 29.

1 „praktischen" fehlt in SW.

348 1^'- Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

hörig, wurden bey Seite gesetzt; es sollte nur Ein Imperativ kategorisch gelten. Auch dieser sollte kein Object als Zweck aufstellen, um nichts aus der Erfahrung zu entlehnen, und keinen Raum für die Frage: ob man wirklich diesen Zweck wolle? offen zu lassen.

§ 47- Indem nun Kant den sehr wichtigen Satz aufstellte:* „Alle praktischen Principien, die ein Object des Begehrens, als Bestim- mungsgrund des Willens [45] voraussetzen, sind insgesammt empirisch, und können keine praktischen Gesetze abgeben", hatte er hiedurch eben dasselbe gesagt, was vielleicht noch bestimmter so lautet: wo ein Unterschied des guten und bösen Willens gemacht wird, da ist der Wille selbst das Object der Beurtheilung; und dies Object darf nicht mit den Objecten des Willens verwechselt werden. Nun handelt die Güterlehre von den Objecten des Willens; aber die Sittenlehre (Moral und Naturrecht zusammengenommen,) von dem Unterschiede des guten und bösen Willens ; also darf die Sittenlehre nicht mit einer Güterlehre verwechselt, und niemals als eine solche dargestellt werden.

§ 48. Kants nächste Folgerung war: „Wenn ein vernünftiges Wesen sich seine Maximen als praktische all- gemeine Gesetze denken soll, so kann es sich dieselben nur als solche Principien denken, die nicht der Materie, sondern blofs der Form nach, den Bestimmungsgrund des Willens enthalten."

Deutlicher: So lange ein Wille als ein ganz einzeln stehendes Wollen betrachtet wird, ist dies Wollen kein Gegenstand der Beurtheilung mit Lob und Tadel, sondern es ist gleichgültig. Denn die Bestimmung, dafs es ein solches oder anderes sey, liegt alsdann nur darin, auf welchen Gegenstand es gerichtet sey; nicht aber den Gegenständen, welche hier, nach Ausschliefsung der Güterlehre als gleichgültig betrachtet werden, mithin ihren Unterschied nicht auf den Willen übertragen können, sondern dem Wollen selbst soll in der Sit-[4Ö]tenlehre ein Werth oder Unwerth beygelegt werden. Also mufs das Wollen nicht als einzeln stehendes, sondern mit Anderem zusammengefafst in Betracht gezogen werden. Jede Zusammen- fassung, welche als solche eine neue Bedeutung erlangt, ergiebt eine Form; im Gegensatze gegen die blofse Summe dessen, was zusammengefafst wird, welche Summe in sofern Materie heifst. Also kann nur der Form des Wollens ein Werth oder Unwerth beygelegt werden.

Von hier aus würde der Weg zu den ästhetischen Urtheilen über 1 die Verhältnisse des Willens, als über die gesuchten Formen, offen ge- standen haben. Aber Kant macht hier einen Sprung.

§ 49- Er fährt fort:

„Nun bleibt von einem Gesetze, wenn man alle Materie davon ab-

* Kants Kritik der praktischen Vernunft § 2.

I. Abschn. Begründung d. prakt. Phil. 2. Cap. Begründung d. prakt. Philosophie etc. 3^9

sondert, nichts übrig, als die blofse Form einer allgemeinen Gesetz- gebung." Er redet also nicht mehr von diesem oder jenem Wollen, als ge- richtet auf solche und andere Gegenstände', er gewinnt nicht durch Zu- sammenfassungen solches Wollens die Formen, welche sich zur Beur- theilung würden dargeboten haben. Sondern er redet vom Gesetze. Das Gesetz ist nun zwar allerdings, in wiefern es vom Gesetzgeber ausgeht, ein Wollen des Gesetzgebers. Auch ist aus dem Vorigen bekannt, dafs Derjenige kein sittlicher Gesetzgeber seyn würde, welcher sein Wollen gewisser Güter, oder sein Verabscheuen gewisser Übel, zur allgemeinen Vorschrift möchte erheben wollen. Allein vom Willen eines Gesetzgebers war hier noch nicht der Ort zu reden, sondern von einer Beurtheilung mit Lob und Tadel. Sonst würde Gefahr einer solchen Verwechslung entstehen, wie wenn der Gesetzgeber als Herr gedacht, und der Unter- schied des Guten und bösen Willens nun darin gesucht werden sollte, ob der Wille der Untergebenen dem Herrn nützlich oder schädlich sey; wodurch Gutes und Böses sich in Güter und Übel für den Herrn auflösen, und in die weit gröfsere Klasse solcher Güter und Übel zurückfallen müfste. Dies war sicher nicht Kants Meinung. Vom Begehren, sofern demselben ein Werth oder Unwerth zukommt, hatte er die Übjecte, die Materie, als das Gleich- gültige, zurückgewiesen. Dabey mufste es bleiben. Keineswegs aber

DO7 t? J

mufste er vom Gesetze die Materie absondern, und nicht die blofse Form der allgemeinen Gesetzgebung übiig behalten. Das Gesetz würde durch die Beurtheilung der Willens-Verhältnisse seinen mannigfaltigen Inhalt gefunden haben.

§ 50. Dafs nun Kant durch den gemachten Sprung in die metaphysischen Schwierigkeiten der Freyheitslehre gerathen ist, anstatt bey den ersten Gründen der praktischen Philosophie (welche die höchste Klarheit be- sitzen müssen), jede Berührung der Metaphysik zu vermeiden: darf uns hier noch nicht weiter beschäfftigen. Sondern es kommt darauf an, das von ihm aufgestellte Sittengesetz, gleichviel wie es möchte gefunden seyn, zu analysiren. Dies Gesetz lautet bekanntlich folgendermafsen :

„Handle so, dafs du wollen könnest, die Maxime deines Handelns sey allgemeines Gesetz".* [48] Darin liegt der Satz: Begehre keine Ausnahmen für Dich. Nun trifft es sich zwar sehr häufig, dals ein unsittlicher Wille sich sogleich durch solches Begehren verräth. Obgleich aber Kant als Beispiel an- führt, ein allgemeines Gesetz zu lügen könne Niemand wollen, weil es dann gar keine Versprechen geben, und Keiner an ein solches glauben würde,** hat doch Spinoza allgemein gesagt: iudicandi facultas eatenus etiam alterius iuris esse polest, quatenus mens polest ab altero deeipi; **:: und sehr ausführlich gelehrt: unusquisque naturae iure dolo agere polest, nee pactis

* Wegen einiger kleinen Abweichungen in den Worten, deren sich Kant selbst an verschiedenen Orten bedient hat, vergleiche man die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 17 und S. 52, desgleichen die Kritik der prakt. Vernunft § 7. ** Kants Grundl. zur Metaphysik d. Sitten, S. 19. *** Tract. pol/t. cap. 2, § II.

•j cq IX. Analytische Beleuchtung: des Naturrechts und der Moral. 1836.

stare ienetur, nisi spe maioris boni vel nicht maioris mati, woraus er auf die Nothwendigkeit des Staats schliefst.* Es möchte also doch Einige geben, welche das Recht des1 Starkem im Gebiete des Denkens und Redens als allgemeines Gesetz zu wollen, für möglich halten, ohne zu besorgen, dafs alsdann aller Glaube aufhören werde. Wo das ästhetische Urtheil nicht völlig wacht, da wird man immer den Lauf der Dinge, wie er sich unter Menschen manchmal wirklich zeigt, als natürlich, daher nicht als gesetzwidrig zu betrachten geneigt seyn.

§ 51.

Ferner, wer sich der allgemeinen Gesetzlichkeit unterwirft, dessen einzelne Handlungen treten dadurch auch unter sich gleichsam in eine gerade Linie zusam-[4g]men; sie werden die Aufserungen eines, ein für alle- mal gefafsten, Vorsatzes; welche Handlungen aber davon abweichen, diese bezeichnen einen zwiefachen Ungehorsam, nämlich einestheils gegen den eigenen Vorsatz , anderntheils gegen das allgemeine Gesetz. Nur wenn etwa der gefafste Vorsatz selbst von der allgemeinen Gesetzlichkeit ab- wiche, dann liefse sich denken, dafs mit der letztern, obgleich nicht mit jenem, die Handlungen sammt den augenblicklichen Gesinnungen, aus denen sie entstehn, in Einstimmung wären. In der That wird zuweilen von einem Menschen gesagt, er sey (und handle) besser, als seine Grundsätze.

Der eignen Vorsätze nun erwähnt Kant unter dem Namen der Maximen. Zu jedem Handeln mufs, nach ihm, zuvörderst eine Maxime hinzugedacht seyn; dann erst kommt in Frage nicht etwan, ob die Maxime aus einer schon vorhandenen allgemeinen Gesetzgebung hervor- gehe, sondern ob falls eine Gesetzgebung sich allmählig aus ver- schiedenen, zur Allgemeinheit gesteigerten Maximen der Individuen zu- sammensetzen würde, dann auch diese oder jene, zu einer bestimmten Handlung hinzugedachte Maxime einen Platz unter den Gesetzen ein- zunehmen fähig oder noch genauer, ob der Handelnde fähig wäre ihr mit seinem eignen Willen einen solchen Platz anzuweisen.

Über jeder Handlung schwebt also eine doppelte Allgemeinheit, theils der Maxime, theils, höher aufwärts, der Gesetzgebung. Der Fall, dafs gehandelt sey ohne Maxime, bleibt unerwähnt, ohne Zweifel als eine Roh- heit unter aller sittlichen Beurtheilung; erst mit den [50] Maximen be- ginnt der Unterschied, dafs sie zur Allgemeinheit taugen oder nicht.

Abgesehen von den Schwierigkeiten, die sich einzufinden pflegen, wenn man die Maxime genau, und mit Rücksicht auf die Umstände, ab- fassen soll, welche bey einer bestimmten Handlung vorauszusetzen ist, ' (die Handelnden selbst besitzen selten die dazu nöthige logische Übung), abgesehen auch von der neuen Schwierigkeit, zu beurtheilen, ob nun auch ohne Rücksicht auf Umstände und Personen dieselbe Maxime als all- gemeines Gesetz, nicht etwa zu einer schon vorgezeichneten Gesetzgebung

* Tract. theol.-polit. cap. 16.

1 „eines" statt „des" in SW.

I. Abschn, Begründung d. prakt. Phil. 2. Cap. Begründung d. prakt. Philosophie etc. 35 \

passen, sondern in sich selbst haltbar sein könne: so ist wenigstens so- viel klar, dafs Kant die Sittlichkeit zunächst im Gehorsam sucht; dafs also das moralische Urtheil die Handlungen (sammt den durch sie ge- äufserten Gesinnungen) nicht ursprünglich würdigt, sondern dieselben der Frage nach ihrer Einstimmung oder Abweichung vom Allgemein -Gesetz- lichen unterwirft. Dem gemäfs läge der ursprüngliche Werth in der all- gemeinen Gesetzlichkeit, und hiemit wäre das ästhetische Urtheil aus- gesprochen, von welchem jenes moralische abhinge.

§ 52.

Gesetzt, eine ächte ästhetische Beurtheilung sey gefunden; aufserdem gebe es Maximen eines gewissen Verfahrens, welches geeignet sey, jene Beurtheilung hervorzurufen: so läfst sich allerdings die zwiefache Frage aufwerfen, ob die Maximen mit Lob oder Tadel zu belegen sind, und ferner, ob die einzelnen Handlungen einen treuen und zusammenhängenden Ausdruck der löblichen Maximen bilden. Sind solche Handlungen [51], zur Sitte eines Individuums geworden, so kann in sofern das Individuum sittlich heifsen; bekanntlich aber fodert der Sprachgebrauch, dafs man diesen Ausdruck nur da gebrauche, wo der Wille selbst den Gegenstand des Lobes ausmacht. Dies vorausgesetzt: so liegt die Moralität in der Treue, womit das Verfahren im Geleise der Maximen bleibt, und die Maximen sich jener Beurtheilung anschliefsen. Der moralische Wille ist demnach da vorhanden, wo er die, seinen Werth bestimmenden, ästhe- tischen Urtheile zu seiner Richtschnur angenommen hat, und nun dieser Richtschnur regelmäfsig folgt.

So kann der Begriff der Moralität bestimmt werden, wenn die Be- urtheilung, wovon er abhängt, als vorhanden angenommen wird. Hatte denn aber Kant diese Beurtheilung gehörig bestimmt?

Wer den präcisen Ausdruck einer ästhetischen Beurtheilung gefunden hat, der mufs wenigstens nicht selbst zweifelhaft seyn wegen des Interesse, was er an dem Gegenstande nehme, und nicht fragen, worauf er den Werth desselben gründe. Da gleichwohl Kant sich mit dieser Frage noch beschäfftigt, nachdem er schon seinen kategorischen Imperativ auf- gestellt hat,* so liegt darin der Beweis, dafs die allgemeine Gesetzlichkeit, wie nöthig und nützlich sie auch übrigens seyn möge, doch nicht den ersten Grund aller sittlichen Werthbestimmung enthalten könne.

Dafs ohne jenen Sprung 48) etwas ganz Anderes würde gefunden seyn, ist ohnehin bekannt.

§ 53-

[52] Fichtes Sittenlehre verhält sich zur kantischen wie ein Plan zu einer Maxime. Der Plan ist gemeinsame Unterwerfung der Sinnenwelt. Der Grund des Plans liegt in der innern Unwahrheit des idealistischen Ich, welches, während es Alles ist, sich selbst als beschränkt setzt, und, um zur Wahrheit zu gelangen, diese Beschränkung aufheben müfste. Dafs ein solcher Plan durch seine gigantische Gröfse gefallen kann, bringt ihn der spinozistischen Richtung näher als der kantischen.

* Kants Grundl. z. Met. d. S. S. 101 u. s. f.

?C2 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

V

Dennoch hatte Fichte die kantische Richtung; er bekam sie durch KANTS Freyheitslehre.

Bei Kant war der kategorische Imperativ der Grund; die Freyheit war aus demselben gefolgert. Denn der Wille sey frey, sobald ihn kein Gegenstand bestimme; der sittliche Wille aber sey eben derjenige, welchen keine Materie des Gesetzes, sondern nur die gesetzgebende Form der Maximen bestimmen könne. *

Fichte behielt die Folge, aber ihr Verhältnifs zum Grunde kehrte er um. Der kategorische Imperativ sey nur heuristisch, er diene zur Prüfung dessen, was man als Pflicht ansehe; aber nicht constitutiv; nicht Princip, sondern Folgerung aus dem wahren Princip, dem Gebote der absoluten Selbständigkeit der Vernunft.**

Fichte wollte den Baum pflanzen, nachdem er die Wurzel be- schädigt hatte.

§ 54-

[53] Sowohl Kant als Fichte unternahmen die alte Absonderung des Naturrechts von der Moral, die sie vorfanden, nach ihrer Weise zu begründen, anstatt sie aufzuheben.

Kant wendete sich an einen, für die Begründung der Sittenlehre fremdartigen Gedanken. Er verwickelte sich in die Frage : werden auch die Menschen, wie sie sind, thun was ihnen das Sittengesetz gebietet? Wo nicht: so mufs man sich nach Triebfedern umsehn, damit geschehe was seyn soll, wenn schon nicht so, wie es geschehen sollte. Nun läfst sich zwar die sittliche Gesinnung nicht aus unsittlichen Triebfedern hervor- zaubern; die äufsern Handlungen aber können erzwungen werden; nämlich wenn der rechte, und hinreichende Zwang vorhanden ist! Ein Blick auf das ins belli würde nun gewarnt haben, denn unter streitenden Staaten und Völkern soll Recht seyn, statt des Rechts aber entscheidet der Krieg. Nichtsdestoweniger aber meinte Kant die Eintheilung der praktischen Philosophie zu begründen, indem er zu dem Sollen einen Theilungsgrund hinzunahm, mit dem das Sollen nichts gemein hat.

„Man nennt (sagt er) die blofse Übereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze, ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben, die Legalität) diejenige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zugleich die Triebfeder der Handlung ist, die Moralität. Die Pflichten nach der rechtlichen Gesetzgebung können nur äufsere Pflichten seyn, weil diese Gesetzgebung nicht verlangt, dafs die Idee der Pflicht Be- stimmungsgrund der Willkühr sey. Die ethische Gesetzgebung dagegen macht zwar auch innere Handlungen zu Pflichten, aber nicht etwa mit Ausschlicfsung der äufsern, sondern sie geht auf Alles, was Pflicht ist, überhaupt."***

Fichte ging einen Schritt weiter. Er lehrte geradezu: Aus dem Sittengesetze hätte man den Rechtsbegriff nicht ableiten sollen, f Sein

* Kants Kritik der prakt. Vernunft § 5 und 6. Dies ist die Hauptstelle.

** Fichtes Sittenlehre, S. 311.

*** Kants Rechtslehre, Einleitung, III.

| Fichtes Naturrecht, I, am Ende des ersten Hauptstücks.

I. Abschn. Begründung d. prakt. Phil. 2. Cap. Begründung d. prakt. Philosophie etc. 353

Rechtssatz heifst zwar: ich mufs meine Freyheit auf die Möglichkeit der Frevheit Andrer beschränken; aber: „Auf dem Gebiete des Naturrechts hat der gute Wille nichts zu thun; das Recht mufs sich erzwingen lassen, wenn auch kein Mensch einen guten Willen hätte; und darauf geht die Wissenschaft des Rechts aus, eine solche Ordnung der Dinge zu ent- werfen."

So hatte man sich geflissentlich der Kritik Schleiermachers aus- geliefert, der das Naturrecht eine Unform nannte, welche von einer rechten Ethik müsse zerstört werden.*

Von einer Gesetzgebung, die den guten Willen verschmähe, pflegt man nun zwar neuerlich nicht zu reden, aber das Eintheilen, was durch die nicht viel minder starken Ausdrücke Kants und Fichtes verdächtig wurde, hat dennoch nicht aufgehört; es bleibt daher immer noch ein Gegenstand, der eine sorgfältige Prüfung erheischt. Auch wird eine solche Prüfung um desto eher zu erwarten sevn, da man mehr und mehr eingesehen [55] hat, dafs in den Staaten die rechtliche Gesinnung der Bürger nicht zu den entbehrlichen Dingen zu zählen ist. Endlich haben neuere Schriftsteller schon anerkannt, es sey falsch, wenn man dem Rechtsgesetze blofs den Zwang zur Triebfeder gebe; und die Erzwingbarkeit als das Merkmal des Rechts betrachte.

Anmerkung.

Die Begründung der Sittenlehre wird zwar im Vorstehenden sowohl als im Nachfolgenden vorausgesetzt als schon bekannt aus der allgemeinen praktischen Philosophie; dergestalt, dafs die Analyse dessen, was von An- dern anzuführen ist, nach Absonderung des Irrigen auf jene zurückweiset. Allein es giebt Irrthümer, die bequem sind, und sich durch einen Schein von logischer Ordnung und Genauigkeit sehr in Besitz des allgemeinen Vertrauens gesetzt haben. Dahin gehört nun auch die Eintheilung der Sittenlehre in Rechts- und Tugendlehre, von denen sich vorgeblich jene auf die äufsem Verhältnisse, diese auf den innern Menschen bezieht. Einige Erläuterungen, von denen freylich zu wünschen ist, dafs sie schon überflüssig seyn mögen, können zu mehrerer Sicherheit daran geknüpft werden.

Erstlich: Was will man eintheilen? die Sittenlehre. Den Worten nach eine Lehre von den Sitten. Dem bekannten Sinne nach werden hier nicht die äufserlich feinen Sitten des geselligen Anstandes, sondern die angenommenen Weisen des Thuns unc Lassens in sofern betrachtet, als sie den Willen der Menschen zu erkennen geben. Nun aber ist die Sitte nichts augenblicklich Vorübergehendes, sondern sie bleibt, ihre Äufserungen [56] wiederholen sich; daher vergleicht man sie mit Regeln, welche auch bleiben sollen, während das Thun und Lassen in der Zeit fortläuft. Beträgt sich ein Mensch diesen Regeln gemäfs, so sagt man, er sey sitt- lich; wo nicht, er sey unsittlich. Ständen diese Regeln irgendwo deutlich, vollständig, geordnet, zusammenhängend, abgeleitet von einer obersten

* Schleiermachers Kritik der Sittenl. am Ende des dritten Buchs. Vergl. unten § 76.

2 \ Herbart's Werkt. X. "J

ßc^l IX. Analytische Beleuchtung dos Naturrechts und der Moral. 1836.

Regel: so wäre die Begründung der Sittenlehre im Klaren, und man hätte den Begriff', den man eintheilen will, sammt der Eintheilung selbst schon vor Augen.

Was aber bedeutet das ästhetische Urtheil, wovon oben 48 u. s. w.) geredet worden? Es bedeutet die ursprüngliche Werthbestimmung des "Willens. Also vergleicht es nicht das Betragen des Menschen mit einer vorhandenen Regel, sondern es stiftet den Werth, welcher, bezogen au/ den Zeitverlauf des Lebens, zur Regel wird, so dafs, nachdem die Regel schon da ist, alsdann die Vergleichung der Handlungsweise mit der Regel dem moralischen Urtheil überlassen bleibt.

Gäbe es nur Ein solches ästhetisches Urtheil: so folgte aus ihm nur Ein Sittengesetz. Es giebt aber mehrere solche ästhetische Urtheile, die ursprüngliche Werthe oder Unwerthe des Willens anzeigen; und zwar sind deren, welche ursprünglich tadeln, mehrere, als deren, welche ursprünglich loben; doch giebt es auch der letztern mehrere und wesentlich ver- schiedene. Es ist nicht ganz leicht, sie zu sondern und gehörig wieder zu verbinden. Man kann nicht etwan die lobenden alle auf eine Seite, und die tadelnden auf die andre legen ; denn jedem lobenden Urtheil steht ein [57] tadelndes zur Seite; wiewohl nicht jedem tadelnden ein lobendes.

Aus allen diesen, den Willen betreffenden, ästhetischen Urtheilen zusammengenommen (nicht aber etwan auch andern, die bey den Künsten in Betracht kommen), hat sich nun längst, aber ohne gehörige Son- derung, ein allgemeiner, jedoch unbestimmter Begriff gebildet von dem, was der Mensch solle. Zu diesem Sollen hat man ein Gesetz hinzu- gedacht, unter dem Namen des Sittengesetzes; über den Inhalt desselben aber hat man gestritten, bis Kant endlich meinte, das Sittengesetz habe gar keinen andern Inhalt, als eben nur die Gesetzlichkeit selbst. Die- jenigen Neuern, welche hier schon von Kant abweichen, mögen wohl überlegen, was sie unter dem Sittengesetz, wovon sie fortwährend reden, eigentlich verstehn. Man kann nicht eher eintheilen, bis der einzutheilende Begriff völlig gesichert ist.

Zweitens : nach welchem fundamentum divisionis will man eintheilen ? Antwort: nach dem Unterschiede des Innern und Äufsern.

Seit Kant nun meint man, diese Eintheilung sey sehr leicht und klar. Das Sittengesetz sey ein Gattungsbegriff, unter welchem die Arten stehen : Rechtsgesetz und Tugendgesetz. Angenommen, dem sey also : alsdann ergiebt die Logik, dafs der Gattungsbegriff" sich selbst genau gleich bleiben mufs in jeder von den Arten, in welche er als deren gemeinsames Merkmal hineingeht. Mithin wäre Rechtsgesetz gleich dem Sittengesetze in seiner Anwendung auf das Äufsere. Tugendgesetz wäre ebenfalls gleich dem Sittengesetze, nur in verschiedener Anwendung, nämlich der auf das Innere. Der rechtliche [58] Mensch wäre gleichsam vergoldet von aufsen : der gerechte Mensch golden von innen. Das Gold aber, das, worin der Wetth liegt, würde dem Wesen nach genau dasselbe seyn, ob es nun in der Vergoldung läge, oder im Innern.

Gesetzt ferner, ein Mensch handele ungerecht aus Schwäche, ein an- derer handle ungerecht aus Neid, ein dritter handle ungerecht aus Undank, ein vierter, der weder schwach, noch neidisch, noch undankbar ist, meine,

I. Abschn. Begründung d. prakt. Phil. 2.Cap. Begründung d. prakt. Philosophie etc. 355

wie Cäsar, wenn man einmal das Recht verletze, so müsse es des Herrschens wegen geschehen: so wäre, falls das Obige seine Richtigkeit hätte, in allen diesen Fällen das, was sich dem Tadel darbietet, genau das nämliche. Denn es soll, der Voraussetzung nach, nur Ein Sitten- gesetz geben, und die Unsittlichkeit soll immer nur die Negation dieses Einen seyn. Enthält nun das Recht dieses Eine ganz, wie die Art den ganzen Gattungsbegriff in sich aufnimmt, so fragt sich: sind Schwäche, Neid, Undank etwa nur die Ursachen, und gleichsam der Boden, aus welchem in jenen verschiedenen Handlungen das Tadelnswerthe emporstieg? Wenn aber ein andermal kein Unrecht aus der Schwäche, kein Unrecht aus dem Neide, kein Unrecht aus dem Undank hervorgeht, sind Schwäche, Neid, Undank alsdann nicht zu tadeln? Wollte Einer dies behaupten, so könnte Jemand das Beyspiel anders auffassen. Er könnte schliefsen: „Das Tugend- gesetz enthält den ganzen Gattungsbegriff, nämlich das Sittengesetz. Nun ist Schwäche, oder Neid, oder Undank, gegen die Tugend. Darin also liegt das Tadelnswerthe, nicht aber in der Äufserung, nämlich der un- gerechten Handlung."

[59] Dann käme ohne Zweifel ein Dritter, um uns zu belehren, die Un- sittlichkeit sey zwar der Art nach immer die nämliche, aber sie sey doppelt vorhanden, indem ein und dasselbe Sittengesetz erstlich im Innern, und dann nochmals im äufsern Handeln sich verletzt finde.

Gegen die Logik dieses Dritten nun ist nichts einzuwenden. Vielmehr gerade das ist die nothwendige Folge aus der Voraussetzung Eines Sitten- gesetzes, da/s aller Tadel der Unsittlichkeit gleichartig wird, und sich nur durch Multiplication vergrößern läfst.

Was würde wohl daraus werden, wenn Jemand dies im Ernste an- nähme ? * Würde er etwa nun zufrieden seyn mit der Scheidung des Natur- rechts und der Moral? Gerade im Gegentheil würde er darauf dringen, man solle das überall gleiche Sittengesetz vollständig anwenden; und die beyden Abschnitte Eines Systems nicht in verschiedenen Schulen vor- tragen, wodurch die Einmischung verschiedener Ansichten fast unvermeid- lich veranlafst werde.

Der Grund aber, aus welchem hier auf Einheit der praktischen Philo- sophie gedrungen wird, hat nicht diese Folge, denn er ist von jenem Grunde das gerade Gegentheil. Es ist nützlich, es ist der verschieden- artigen Anwendung wegen nöthig, dafs die praktische Philosophie sowohl von der juristischen als von der theologischen Seite beleuchtet wird; aber nachdem hie- [60] durch die Idee des Rechts als ursprünglich unabhängig von den andern praktischen Ideen wird erkannt seyn, mufs die Unter- scheidung noch weiter fortschreiten, damit auch die Vergeltung sich vom Rechte, und auch die innere Freyheit sammt der Stärke sich von der Güte trenne. Hat man diese fünf Principien deutlich vor Augen: dann gerade wird es vollends klar werden, wie thöricht es seyn würde, fünf verschiedene Wissenschaften aus Einer machen zu wollen; während die Anwendungen der praktischen Ideen überall in einander greifen, und eine

* Manche Neuere befinden sich auf dieser Bahn, auch wenn sie von der blofsen Multiplication des Unsittlichen nicht ausdrücklich reden.

23*

356 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

befriedigende Darstellung sowohl von der einen als von der andern Seite erst dann gelingen kann, wann auf beyden Seiten das Ganze, den Haupt- umrissen nach, schon als bekannt darf vorausgesetzt werden. Auf solche Weise wird das wahre und volle Interesse der Wissenschaft fühlbar werden; von den längst bekannten Fragepuncten aber, die man theils im Natur- recht, theils in der Moral zu behandeln pflegt, wird keiner verloren gehn.

Wer aber ungeachtet des schon Gesagten doch noch bey den alten Meinungen beharrt: der wird im Folgenden Gelegenheit genug finden, dieselben von neuem zu prüfen.

Nur das bemerke man gleich hier: dafs an ein logisches Eintheilen an der Spitze der Sittenlehre gar nicht zu denken ist. Wollte Einer die Farbe eintheilen in roth, blau, gelb, grün u. s. w., so würde Jedermann so- gleich sagen: wir wissen nicht eher, was Farbe ist, bevor wir roth, blau, gelb, grün u. s. w. bey einander haben und jedes unmittelbar anschauen ; man mufs also nicht eintheilen, sondern zusammenfassen. Wie durch [6x] Zu- sammenstellung verschiedener Farben der Begriff der Farbe, so entsteht der Begriff des Sittlichen durch Zusammenfassung dessen, was zuvor die einzelnen praktischen Ideen dargeboten haben. Die vollständige Zusammen- fassung giebt aber unmittelbar den Begriff der Tugend, in deren Inhalt dann auch die Gerechtigkeit gehört; während das Recht, wie jede andre praktische Idee in ihrer Sphäre, eine Menge von eigenthümlichen Be- stimmungen darbietet, die man zwar in Begriffen absondern und verfolgen kann, aber ohne Bürgschaft für ihre Anwendbarkeit im Leben, so lange nicht auch die andern Ideen sind zu Rathe gezogen worden.

[62] Zweyter Abschnitt. Analytische Beleuchtung des Naturrechts.

Erstes Capitel. Von der ältesten Gestaltung des Naturrechts.

§ 55-

Dafs vom Misfallen am Streit die Rechtslehre ausgehn mufs, be- zeugt Hugo Grotius, indem er nach Zurückweisung der Behauptung, der Nutzen sey die Quelle des Rechts, die ganze Abhandlung an die Betrachtung des Krieges heftet; dergestalt, dafs er zuerst vom Kriege überhaupt, dann von dessen Ursachen, endlich vom Übergange des Krieges in den Frieden handelt.

Er brauchte nicht zu sagen: der Streit misfällt. Denn dies Mis- fallen belebt sein ganzes schönes Werk.

Die societatis custodia, humano intellcciui conve?iie?is, welche er als die Quelle des Rechts nennt, umfafst allerdings Mehr als das blofs Rechtliche; und eben dieses beweiset, dafs es ihm noch nicht darum zu thun war,

II. Abschn. Analyt. Beleuchtung d. Xaturrechts. I. Cap. Gestaltung d. Naturrechts. 357

das Naturrecht von der Moral abzureifsen. Er würde statt des Völker- rechts eine Völkermoral gelehrt haben, wenn er nicht als praktischer Staatsmann hätte lehren und wo möglich wirken wollen. Darum bedient er sich seiner ganzen Gelehrsamkeit, nicht blofs der profanen, sondern auch der theologischen; er will die stärkste und kräftigste Überzeugung hervorbringen.

Und nicht blofs von öffentlichen Verhältnissen will er handeln. Gleich Anfangs sagt er ausdrücklich: er [63] schliefse den Streit im Privat- leben nicht aus, der ohne Zweifel mit dem öffentlichen von gleicher Be- schaffenheit sey.

Zu den wichtigsten Begriffs-Bestimmungen gehört die gleich folgende : ius hie nihil aliud quam quod iustutn est signifieat, idque negante magis sensu quam aienle; ut ius sit quod iniustum non est. Est autetn iniustum, quod naturae societatis ratione utentium repugnat. Ab hac iutis significatione diversa est altera, sed ab hac ipsa veniens, quae ad persona m refertur, quo sensu ius est, qualitas moralis personae competens ad aliquid iuste habendum vel agendum. Est et tertia iuris significaiio, quae idem valet quod lex, ut sit regula actuum moralium obligans ad id quod rectum est, non simpliciter ad ius tum, quia ius hac notione non ad solius iustitiae, qualetn exposuimus, sed et aliarum virtutum tnateriam pertinel. Hiebey die Bemerkung über den Begriff des Erlaubten: permissio autem proprie non actio est legis, sed aclionis negatio, nisi quatenus alium ab eo cui permittitur,. obligat, ne impedimentum pönal.

Von der eigentlichen Gerechtigkeit, (der iustitia expletrix) wird richtig die sogenannte attributive gesondert. Civitas, quae de communi reddit, quod civium quidam in publicum impenderunt, nonnisi expletricis iustitiae officio fungitur. Hingegen die attributive Gerechtigkeit ist viel- mehr Sorge des Wohlwollens.

Die Hauptsache ist, dafs weder von Personen mit ihren Ansprüchen,, noch von Gesetzen und Erlaubnissen ausgegangen, sondern in Ansehung der geselligen Verhältnisse zuerst dasjenige für Unrecht erklärt wird, was dieselben unmöglich machen, ihnen durchaus zuwider seyn würde; damit das Recht zu allererst als das [64] das Gegentheil des Unrechts erkannt werde.* Nur das ist hier fehlerhaft, dafs der Begriff der Gesellschaft zu früh kommt, und deshalb der einfachste Begriff des Streits, mithin der hieraus abzuleitende des Unrechts, übersprungen wird. Zwey Personen wären Anfangs schon Gesellschaft genug gewesen; sind ihrer mehrere, so treten sogleich neue Verhältnisse ein.**

§ 56. Ganz vest konnte Grotius auf seiner Basis nicht stehen, so lange nicht zu beyden Seiten des Rechts die Idee der Vollkommenheit, und die der Vergeltung gehörig entwickelt, und das erste Wesentliche der Rechts- gesellschaft, (nämlich die vorbeugenden Maafsregeln,) genauer bezeichnet war. Dies verräth sich gleich da, wo er die Frage behandelt, an bellare unquam ius tum sit?

Praktische Philosophie, erstes Buch, viertes Capitel. [Vgl. Bd. II, S.364 vorl. Ausg.]. Ebendaselbst, achtes Capitel. [Vgl. Bd. II, S. 388 vorl. Ausg.]

ßcg IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

Ersucht Hülfe beym Cicero, zunächst beym dritten Buche de finibus, wo die stoische Lehre vom höchsten Gute als vom Begriffe der Natur- gemäfsheit abhängig erscheint. Der Satz: inter prima naturae nihil est, quod hello repugnet, genügt ihm nun zwar selbst nicht; aber dennoch be- dient er sich dessen als bereitend ein günstiges Vorurtheil für den zwevten Satz: reeta ratio ac natura societatis non omnem vim inhibet, sed cam demum, quae societati repugnal, id est, quae ins alienum tollit. Ist denn nicht schon ein Recht vorhanden vor der Gesellschaft? Falls aber dies ein- geräumt war, durfte denn auch dieses Recht mit Zwang behauptet werden, ohne dafs die Befugnifs zum Zwange von der Gesellschaft [65] ausgehe? Mit andern Worten: Giebt es ein Zwangsrecht im Naturstande? Oder mufs man etwa mit dem absoluten Imperative anfangen: Gesellschaft, auch wo sie noch nicht zvärc, soll gestiftet werden; und dann fortfahren, zvas ihre Stiftung oder Erhaltung unmöglich machen würde, ist nicht blofs Unrecht, sondern es soll auch mit Gewalt zurückgewiesen werden?

Grötius geht hier* zwar bis auf einen Zustand zurück, wo es noch kein Ekrenthum geben möchte; dennoch scheint er sich die Gesellschaft als schon vorhanden zu denken. Er sagt: Societas eo tendit, ut s/tum cuique salvum sit communi ope ac conspiratione. Giebt es denn schon ein suu/u cuiusque ? Diese Frage hat er im Sinn, indem er fortfährt : quod facile intelligitur locum habilurum, etiamsi dominium (quod nunc ita vocamus) introduetum non esset. Nam vita, membra, libettas, sie quoque propria cuique essent, ac proinde non sine iniuria ab alio impeterentur. Also giebt es Ur- rechte; und diese dehnt er noch weiter aus: Sic et rebus in medio posilis uti, et quantum natura desiderat (wieviel wohl?) eas absumere, ins esset oecupantis. (Wie, wenn im Versuch des Vorgreifens Streit entstände?) Non est ergo contra societatis naluram sibi prospicere, ac proinde nee vis, quae ins alterius non violat, iniusta est. Das aber eben ist der Frage- punet, wie man Gewalt brauchen könne, ohne das Recht des Andern durch Angriffe auf dessen Glieder und Freyheit also nach dem Obigen : auf dessen Urrechte, thätlich zu verletzen? Verschwinden [66] denn nun diese vorschnell eingeräumten Urrechte, weil er unrecht that? Und wie weit? Verschwinden sie etwa gänzlich, wenn er den Widerstand, um sich im Unrecht zu behaupten, aufs äufserste treibt ?(

§ 57-

Anstatt diese Schwierigkeiten zu beseitigen, findet sich Grotius ge- drückt vom ius divinum voluntarium. Bey der Gelegenheit hilft er sich zunächst durch den Satz: natura non iniquum est, ut quantum quisque fecit mali, tantundem patiatur.** Also die Idee der Billigkeit begränzt den Zwang; und hiemit fällt der Zwang unter den Begriff der Strafe.***

Anderwärts aber meint er wiederum, dieses Auskunftsmittels ent-

* De iure belli et pacis, lib. I, cap. 2. § I, 6.

** ibid. cap. 2, § V, 3.

*** Praktische Philosophie, erstes Buch, neuntes Capitel. [Vorl. Ausg. Bd. II,

S. 392.] Man hat sich gewöhnt, das Wort Billigkeit in einem ganz falschen Sinne zu

nehmen, nämlich für unvollkommnes Recht, dessen Dunkelheit dadurch noch dunkler

wird. Billigkeit heifst soviel als gebührende Vergeltung; sie geht auf Lohn und Strafe.

II. Abschn. Analyt. Beleuchtung d. Xaturrechts. i. Cap. Gestaltung d. Xaturrechts. 3 :g

behren zu können. Si corpus impetatur vi praesenfe cum periculo viiae non aliter vitabilt] tunc bellum privatum esse licitum etiam cum interfectione periculum inferentis diximus. Notandum es/, ins hoc defensionis, per se ac prtmario, nasci ex eo, quod natura quemque sibi commendat, non ex iniustitia aut peccato allerius unrfe periculum est. Quare etiamsi ille peccato careat, pu/a quod bona fide mili/ct, aut alium me putet quam si/u, aut quod insania aut insomniis agiteiur, nun eo tolletur ins sc tuendi, cum sufficiat quod ego non tencor, is quod ille intentat, pati. An et innocentes, qui interpositi defensionem aut fngam: sine qua [67] evadi mors non polest, impediunt, Irans- fodi aut obteri possin/, disputatur. *

Es wird noch in ähnlicher Art disputirt. Pölitz lehrt: Der Mensch mufs eher verhungern als stehlen; und das Sprichwort: Noth kennt kein Gebot, kann weder durch die Pflichtenlehre noch durch die Rechtslehre entschuldigt, geschweige denn begründet werden.** Rehberg dagegen sagt: „Man mag wohl fragen, ob derjenige, der an einen Baum, dessen Früchte ihm die einzigen Nahrungsmittel darböten, nicht hinanzureichen vermag, einen Andern, der längere oder behendere Glieder hätte, zwingen dürfe, sie ihm zu reichen. Nach dem Kantischen Principe mufs es ver- neint werden. Aber wird nicht hiedurch schon der gesunde Menschen- verstand genöthigt, das System aufzugeben?"***

Was über Streitfragen dieser Art zu sagen ist, mufs um so mehr in der praktischen Philosophie nachzulesen Jedem überlassen bleiben, da Alles auf die Stelle ankommt, welche solchen Gegenständen im System angewiesen wird.t Hier mag nur Folgendes bemerkt werden.

§ 58.

Der Satz : natura quemque sibi commendat, heifst entweder mit andern Worten, jeder sorge für sich selbst. Dieser Imperativ stammt aus der Idee der Vollkommenheit, und hat an sich mit dem Rechte nichts zu thun. [68] Oder er weiset hin auf die natürlichen Strebungen, die jede Übereinkunft, in dem Maafse als sie ihnen zuwider liefe, unsicher machen würden.

Der andre Satz: ego non teneor, id quod ille intentat pati, ist im Namen Beyder gesprochen, die bona fide, mithin unabsichtlich, und weder übel- wollend noch in der Meinung, Unrecht zu thun, in Streit gerathen. Der Streit misfällt! Aber jener Satz erhitzt Beyde zum Streit; und nicht blofs in äufsersten Nothfällen.

Dafs der Begriff der Urrechte überall kein exacter wissenschaftlicher Begriff ist, sondern nur als mehr oder weniger der Wahrheit sich an- nähernd darf gestattet werden, ist längst gezeigt, ff

* t. c. libr. 2, cap. I, § III. IV.

* Pölitz Naturrecht § 26 (im ersten Bande des Werks über Staatswissenschaften). Er bemerkt es als eine der sonderbarsten Erscheinungen, dafs das Nothrecht die Denker theile.

*** Rehberg sämmtlicbe Schriften, 1. Band, S. 88.

v .Man vergl. zunächst prakt. Philos. I, 6 am Ende. fr Prakt. Philos. S. 175. Grotius hält auch das Urrecht der Freyheit nicht für unveräußerlich, sondern so beschaffen; ut ?ialura quis servus non sit; non ut nis habeat ne unquam serviat j natu hoc sensu nemo liber est. Libr. 2, cap. 22, § XL

360 IX- Analytisdi.' Iiclouclitung dos Naturrechts und der Moral. 1836.

Casuistische Fragen mag man denen überlassen, welche sich befugt halten, Collisionen zu leugnen. Die Fragen erneuern sich immer; un- geachtet aller vorgeblichen Entscheidung; sie schaden der Wissenschaft, indem sie das in einander ziehen, was nur abgesondert eine genau be- stimmte Beurtheilung zuläfst. Etwas Falsches zu lehren, ist weit bedenk- licher, als in Augenblicken der Noth einen Fehlgriff zu thun, der in den Umständen mehr oder weniger Entschuldigung finden würde, weil deren richtige Auffassung schwierig ist.

Solchen Lebenslagen, worin die casuistischen Fragen ihren Anlafs finden, soll nach Möglichkeit vorgebeugt werden. Das ist der Satz, welchen die Wissenschaft zu entwickeln, und der Mensch zu befolgen hat.

§ 59-

[69] Wie das Recht der Selbsthülfe da wegfällt, wo ein Richterspruch wirksam eintreten kann:* so soll auch eine untergeordnete Obrigkeit nicht anders als im höchsten Nothfall kriegerische Maafsregeln ohne Zustimmung der obersten Staatsgewalt treffen. ** Dies hängt schon mit der Unter- scheidung des bellum solenne und minus solenne zusammen.

Die oberste Staatsgewalt ist zu erkennen an der gesetzgebenden, aus- führenden, richterlichen Macht, und an der Abhängigkeit der von ihr ein- gesetzten Beamten, und niederen Behörden.

Alquc hoc loco primum reiicienda est eorum opinio, qui ubique et sine exceplione summam potestatem esse volunt populi, ita ut ei reges, quoties im- perio suo male utuntur, et coercere et punire liceal : quae sententia quot malis causam dcdcrit, et dare etiamnum possit, penitus animis recepta, nemo sapiens non videt.*** Nee vetum est, omnes reges a populo constitui ; quod exemplis patrisfamilias, advenas sub obediendi lege aeeeptantis, et gentium bello devietarum satis intelligi potcst.\ Solchen Sätzen, wie: regimen omne eorum qui regun/ur, non qui regunt, causa esse patatum, liberos homines in commercio non esse, si quos populos rex bello quaesierit, cum cos non sine civium sanguine ac sudore quaesierit, avibus quaesitos potius credi debere quam regt, ist GrotiüS nicht günstig; es heifst bey ihm: in civilibus nihil est quod omni ex parte incommodis careat, et ins non ex eo [70] quod Optimum huic aut Uli videtur, sed ex voluntaie eins unde ins oritur metiendum est.\\ Ita vita humana est, ut plena securitas nunquam nobis constet. Adversus incertos metus a divina Pro- videntia, ei ab innoxia cautione, non a vi praesidium petendum est. f -ff Das letztere wird gesagt gegen Kriege aus politischer Besorgnifs wegen an- wachsender Macht andrer Staaten.

§ 60. Der häufige Übergang von öffentlichen zu Privatverhältnissen, und rückwärts, bestätigt es, dafs Grotius sich die Gesellschaft immer schon als vorhanden, nur nicht immer augenblicklich wirksam denkt. So bleibt

* Grotius /. c. lib. I, cap. 3. § II, 1. ** /. c. § IV, 2, 3. *** /. c. § VIII, 1.

f /. c. § VIII, 13. ff l. c. § XVII, 2. fff /. c. lib, 2, cap. I, § XVII.

IL Abscbn. Analyt. Beleuchtung d. Xaturrechts. i. Cap. Gestaltung d. Naturrechts. 36 1

zwar der unpraktische Begriff eines Naturstandes vor, und außer aller Ge- sellschaft vermieden. Das Naturrecht aber schwankt bei ihm, indem es sich bald mehr bald weniger von der Tugendlehre absondert. Ius naturae, quatenus legem significat, non ea tan/um respicit, quae dictat iustitia, quam expletricem diximus, sed aliarum quoque vir/ 11/ um. ut temperantiae, fortitudinis, prudentiae actus in se continet, ut in ccrtis circumstantiis non honestos tantum scd et debitos. * Die blofse iusütia expletrix würde, meint er, wohl gestatten, einen Dieb zu erschiefsen, wenn derselbe in schneller Flucht mit dem ge- stohlenen Eigenthum forteilte, und sonst nicht zu erreichen wäre. Allein den Unterschied zwischen dem Diebstahl bey Tage und bey Nacht findet er darin: der Gesetzgeber wolle nicht, dafs blofs wegen entwendeter Sachen Je-[7i]mand getödtet werde; da nun bei Nacht seltener Zeugen vorhanden sind, so müsse man eher demjenigen glauben, der nur wegen eigener Lebensgefahr den Dieb getödtet zu haben vorgebe. Um aber wo möglich Zeugen zu finden, solle der, welcher den Dieb greift, dies durch Schreyen kund machen. In den Fällen, wo das Gesetz gestatte, den Dieb zu tödten, sey nur die Strafe aufgehoben, aber nicht ein Recht ertheilu Lex ius nccis non habet in omnes cwes ex quovis delicto, sed demum ex delicto tarn gravi, ut mortem mereatur.**

Was den Unterschied des bellum privatum und publicum anlangt, so bestimmt er ihn so: In privaio bello ius quasi momentaneum est, et cessat simulatque iudicem adiri res patitur. At publicum, quia non oritur nisi ubi non sunt aut cessant iudicia, tractum habet, et perpetuo fovetur accedentibus novis damnis et iniuriis. Piaeterea in bello privato ferme defensio mera con- sideratur: at publica e potestates cum defensione et uiciscendi habent ius: unde Ulis licet praevenire vim non praesentem, sed quae de longo imminere videatur, non directe {quod iniustum), sed indirecte ulciscendo delictum coeptum iam, sed ?io?i consuwmatu77i.***

§ 61.

Die fernere Betrachtung möglicher Ursachen des Krieges führt nun auf die Lehre vom Eigenthum. Wie entstand dasselbe? Antwort: Non animi acta solo: ncque enim scirc alii pote7ant quid alii suum esse vellent ; et idem velle plures poterant: scd pacto quoda7n aut expresso, ut per divzsionem, aut tacito, ut per oecupationem. [72] Simulatque enim communis displieuit, nee instituta est divisio censeri debet inter o/nues co7ive7iisse, ut quod quisque oecupasset, id prop7ium haberei, f

Die Worte cc7iseri debet, sagen deutlich genug, dafs hier auf die historische Einkleidung, und auf die primaeva co7>imunio räum nicht in sofern Gewicht zu legen ist, als ob davon die Erklärung der Occupation abhinge. Da aber Grotius anerkennt, dafs Übereinkunft dem Eigenthum zum Gründe liegend mufs gedacht werden: es folgt, dafs er von der Übereinkunft früher hätte handeln müssen, worauf die Frage, wie es dingliche Rechte geben könne, die nicht auf bestimmte Personen be-

* l. c. Hb. 2. cap, 1, § IX.

** /. c. Hb. 2, cap. 1, § XIV.

*** /. c, § XVI.

j /. c. lib. 2, cap. 2, § II, 5.

362 tX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

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schränkt sind, erst in ihr wahres Licht würde getreten seyn. Mit dem Vorbehalt, hierauf zurückzukommen, wenden wir uns sogleich zu seiner Lehre von den Versprechungen.

§ 62. Hier kommt uns sogar der Satz entgegen, dals auch bey den Ge- setzen eine ähnliche Basis anzunehmen ist. Denn indem et die Behaup- tung zurückweiset, die verbindende Kraft der Verträge komme von den Gesetzen, sagt er: tum ratio nulla reperiri potest, cur leges, quae quasi com- mune pactum sunt popuü, Obligationen! pactis possint addere. * Ferner ent- wickelt er die gradweise Verschiedenheit des mehr oder minder ent- schlossenen Wollens, welches Jemand durch seine Worte oder Zeichen kund giebt; daher nicht jede Äufserung dieser Art dem Andern schon ein bestimmtes Recht giebt. Alsdann folgen [73] die bekannten Fragen über Irrthum und Furcht; über unerlaubte Verträge, über Beschränkung durch die Gesetze. Nach den allgemeinen Lehren hierüber** handeln die darauf folgenden Capitel von den Contracten und vom Eide. Auf solche Weise trit die Betrachtung aus dem Kreise der eigentlichen Rechtsbegriffe hinaus. Vom Eide ist dies an sich klar, da hiebey die Religion voraus- gesetzt wird: aber nicht minder gilt es von den Contracten. Denn:

In contractibus natura aequalitatem imperat, et ita quidem, ut ex inac- qualitate ins oriatur minus habenti. Quod cnim promittunt aut dant, credendi sunt promittere aut dare tanquam aequale ei quod aeeepturi sunt, utque eins aequalitatis rattone debitum. ***

Es ist offenbar, dafs dies gar nicht aus der Natur einer Überein- kunft kann geschlossen werden; auch wird oft genug die Noth des Einen der Vortheil des Andern, ohne dafs ein Kauf oder Tausch darum un- gültig wäre. Allein die positiven Gesetze zeigen sich für solche Fälle, wo die Noth absichtlich erkünstelt wird, einstimmig mit Grotius ; näm- lich durch die harten Strafen des Dardanariats. | Und als künstlich übertrieben wird ohne Zweifel die Noth auch da angesehen, wo Capitalien genug vorhanden sind, aber der Gebrauch durch hohe Zinsen erschwert ist. Indem nun die Gesetze gegen Wucher eben so wie die gegen Dardanariat zu den Polizeygesetzen gerechnet werden, zugleich aber historisch bekannt genug ist, dafs die Volksstimme solche [74] Gesetze durchaus fodert : ff erkennt man hierin, (was freylich ohnehin klar ist,) dafs die Idee der Billigkeit gebietend auftrit, und hiedurch in dem Naturrecht einen Platz erlangt, den die blofse Idee des Rechts nicht hätte ausfüllen können. Es soll nämlich Keiner dem Andern durch er- künstelte Noth absichtlich wehe thun ; wer es thut, verdient Strafe, auch wenn er nicht Rechte gekränkt hat. Kornwucher und Zinswucher rauben

* /. c. Hb. 2, cap. 11, § I, 3. ** /. c. Üb. 2, cap. 11. *** l. c. lib. 2, cap. 12. § VIII, XI.

f Feuerbach Lehrbuch des peinlichen Rechts. § 441. ff Ohne Gesetze gegen die wucherlichen Zinsen würde die Spannung zwischen Reichen und Armen noch gröfser, und das Anleihen fremden Geldes noch leichtsinniger durch die Bereitwilligkeit der Darleiher werden. Dagegen kann die Staatsklugheit wohl schwerlich etwas Trifftiges einwenden.

II. Abschn. Analyt. Beleuchtung d. Xaturrechts. i.Cap. Gestaltung d. Xaturrechts. ^i

Keinem das, was schon sein war; aber sie schaden absichtlich, und das verdient Vergeltung.

§ 63.

Vermischung der Billigkeit mit dem Rechte, und ebendeshalb mangel- hafte Entwickelung dessen, was die Idee des Rechts für sich allein er- giebt, möchte nun wohl auch dort als Erklärungsgrund anzunehmen seyn, wo Grotiis, wie vorhin bemerkt, 61) der Occupation zwar richtig eine vorauszusetzende Überlassung zum Grunde legt, aber die Natur des dinglichen Rechts doch unerklärt läfst ; und nun auf Beschränkungen des Eigenthums kommt, deren Nachahmung bey neuern Schriftstellern noch unbegreiflicher ausfällt.

Er sagt nämlich : Videamus ecquod ins communiter hominibus competat in eas res, quae iam propriae aliquorum factae sunt. Quod quaeri mirum forte aliquis putet, cum proprietas vidcatur absotpsisse ins illud omne, quod ex rerum communi statu nascebatur. Sed 71011 ita est. Spectandum \J^\ enim est, quae mens eorum fuerit qui primi dominia singularia introduxerunt : quac credenda est ialis fuisse, t/t quam minimum ab aequitate naturali recesscrit. Xam si scriptae etiam leges in cum sensum trahendae sunt quatcnus fieri potest, multo magis mores, qui soiptorum vinculis von tenentur. Hinc piimo scquitur. in gravissima necessitate reviviscere ins illud pristinum rebus utendi, tanquam si communes mansissenl; quia in omnibus legibus humanis, ac proinde et in lege dominii, summa illa necessitas videtur e.xccpta. Hinc illud, ut in navigaiione, si quando defeccriut cibaria, quod quisque habet in commune con- ferri debeat. Sic et defendcndi mei causa vicini aedificium orto incendio dissipare possum; et funes aut retia discindere in quac navis mea impulsa est, si aliter explicari nequit. Quae omnia lege ch'ili non introdueta sed e.xposita sunt. Nam et inter t/ieologos reeepta sententia est, in lali necessitate si quis quod ad vitam suam necessarium est sumat aliunde, cum furtum non commitlcre; cuius definitionis non haec causa est, quam nonnulli adferunt, quod rei dominus et caritatis regula rem cgenti dare tenetur, sed quod res omnes in dominos distinctae cum benigna quadam reeeptione primitivi iuris videantur. Nam si primi divisores inter rogati fuissent quid de ea re sentirent, respondissenl quod dieimus. *

§ 64.

Grotius scheint übersehen zu haben, dafs bei so billigen Ge- sinnungen, wie er der ursprünglichen Theilung zum Grunde legt, die grofse Ungleichheit des Eigenthums, die in jedem bestimmten Zeitpuncte rechtskräftig ist, nicht hätte entstehen können. Es ist also kein Wunder, dafs neuere Schriftsteller ihm hierin [76] nicht folgen. Wenn aber behauptet wird, der Grund des Eigentumsrechts beruhe eigentlich auf der Vor- stellung des Berechtigten, dafs eine Sache sein Gut sey, und nur durch ausschliefsenden Gebrauch ihm als Mittel dienen könne: so ist vollends nicht einzusehen, woher denn Beschränkungen des Eigenthums durch Anderer Nothgebrauch und unschädlichen Gebrauch kommen sollen.**

Der animus habendi des Eigenthümers kann sich Beydem wider-

* /. c. Hb. 2, cap. 2, § VI. ** Z. B. bey Hufeland. Xaturrecht § 225 und § 246.

564 Et. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

setzen ; und was die Beurtheilung des unschädlichen Gebrauchs anlangt, so hat er gewifs Ursache, diese nicht jedem Andern einzuräumen.

Hufeland fragt gegen Grotius : bey welcher Sache läfst sich die Einwilligung der Andern gehörig beweisen?* Die Antwort ist: Jeder Dritte soll das Rechtsverhältnifs, wodurch zwey Personen unter sich den Streit vermeiden, mit Respect betrachten; dieser Respect wächst immer, je gröfser das System der vorhandenen Rechtsverhältnisse unter vielen Personen schon geworden ist. Daher gilt das dingliche Recht gegen jeden Dritten ; obgleich ursprünglich eine Überlassung zum Grunde lag, ohne welche die blofse Occupation und der blofse animus habendi nichts ge- golten hätte. Auf diese Weise gehen Rechtsverhältnisse von einer Gene- ration zur andern über, ohne dafs nach einer ersten Theilung gefragt wird. Der Respect für sie steigt mit der Sicherheit, die sie gegen den Streit gewähren können; er sinkt, wenn sie ungeschickt sind die Gemüther [77] in Frieden zu erhalten. Daher dürfen die Rechtsverhältnisse nicht in solchen Fällen, wo sie jedes menschliche Gefühl empören würden, streng be- hauptet werden; und der Fehler, der im Nothgebrauche liegt, kann sich bis zum Unbedeutenden vermindern. **

§ 65.

Dafs nun das dingliche Recht ein solches ist, wie es durch die Überlassung wird; dafs besonders das Eigenthum sehr mannigfaltigen Be- schränkungen kann unterworfen werden,*** unter denen die Oberhoheit des Staats die wichtigste ist; dafs bey langem Nichtgebrauch des Be- rechtigten die Zeit unter gewissen Umständen das Recht unsicher macht, **** (worin sich manche Neuere nicht finden können, während doch die Ver- jährung sonst auch nicht ins positive Recht hätte Eingang finden dürfen,) darüber sagt Grotius viel Treffendes; merkwürdig aber ist, dafs er auch die Testamente als zum Naturrecht gehörig ansieht, indem er sie als eine bedingte und widerrufliche Veräulserung des Eigen thums darstellt.! Die Intestat-Erbfolge gilt ihm für den vermuthlichen letzten Willen des Erblassers, ff

Über das Recht der Eltern auf ihre Kinder erklärt er sich so: aequum est, ut qui se regere non potest regatur aliunde; at ahus natutalitet inveniri non potest, cui regimen competat quam patentes. Doch soll dies nur für die früh-[_78]here Zeit gesagt seyn; die alte Römische patria potestas bezeichnet er deutlich genug als tyrannisch, f ff Übrigens ist er bey den Familienrechten ungewöhnlich kurz; und bringt mit diesen die Stimmen- mehrheit in Collegien und die Frage von dem Rechte der Auswanderung in dasselbe Capitel, welches überhaupt von der ursprünglichen Erwerbung ^der Rechte auf Personen handelt.

* Ebendaselbst § 224.

** Praktische Philosophie, erstes Buch, sechstes u. achtes Capitel. [Vgl. vorliegende Ausgabe Bd. II, S. 375 u. 388.]

*** De iure b. et p. Hb. 2, cap. 3, § XIX, 2 u. anderwärts.

**** ibid. cap. 4.

f ibid. hb. 2, cap. 6, § XIV.

ff ibid. cap. 7, § III.

fff ibid. cap. 5, § II- VII.

II. Abschn. Analyt. Beleuchtung d. Naturrechts. i.Cap. Gestaltung d. Naturrechts. 365

§ 66.

Indem Grotius von den Alimenten als von einer nicht ganz strengen Schuldigkeit der Eltern spricht, während doch der Staat durch Ver- pflichtung zu denselben, so wie durch Mäßigung der väterlichen Gewalt, durch Vormundschaft u. s. w. sich der Kinder annimmt: konnte er sich veranlafst finden, an die Foderungen des Platon zurückzudenken, nach welchen der Staat auch auf die Erziehung einen entscheidenden Einfiufs ausüben soll; wie es zum Theil nach heutigen Gesetzen (z. B. wo die Eltern genöthigt werden ihre Kinder zur Schule zu schicken) wirklich der Fall ist. Dies würde ihn auf sehr wichtige Fragen über Familien- recht und Anspruch des Staats geführt haben; welche auch auf die Erb- schaften sich beziehen, indem es dem Staate nicht gleichgültig seyn kann, nach welchen Regeln die Gütervertheilung, und hiemit das Verhältnifs der Reicheren und Ärmeren sich richtet. So leichte Gründe, wie z. B. die gröfsere Liebe der Eltern zu den Kindern als umgekehrt, um daraus zu beweisen, dafs vielmehr Descendenten als Ascendenten die natür-[7g] liehen Erben seyen,* würden neben jenen wichtigen Fragen nicht sehr in Betracht kommen.

Aber auch anderwärts, wo er sich auf sehr specielle Fragen über Interpretation, und über obligationes ex delicto und quasi ex delicto einläfst, ** verräth sich die juristische Casuistik, welche zwar dem täglichen Leben höchst nöthig, der philosophischen Untersuchung aber in sofern nach- theilig ist, als sie die Aufmerksamkeit von den Hauptbegriffen abzieht, und die Untersuchung als geendigt erscheinen läfst, wenn die laufenden Geschaffte abgemacht sind.

Von dieser Seite angesehen, hat Grotius zur Absonderung der Moral und des Naturrechts mitgewirkt; so vielfältig er übrigens durch Vergleichung der heil. Schriften beyde in Verbindung setzt.

§ 67. Was das eigentliche Staatsrecht anlangt, die Lehre vom Zu- sammenwirken der Staatsgenossen, und von den daraus entspringenden Rechtsverhältnissen, so findet man davon bey Grotius fast nur einige rhapsodische Bemerkungen; obgleich die Elemente des Staats, nämlich Ge- sellschaft und höchste Gewalt, ihm beständig vorschweben. Die ver- schiedensten Staatsformen nimmt er als ein Gegebenes an; gleichwohl stöfst er zuweilen auf Puncte, die ihm ein starkes Mifsfallen an dem, was [80] oft genug als historisch gegeben vorkommt, abnöthigen. So lehrt er in dem Capitel de acquisitione derivativa facto hominis, ubi de alienatione imperii, et retum imperii*** zuerst ganz einfach; Statt res altae, ita et im- peria alienari possunt ab eo, cuius in dontinio vere sunt ; id est, a rege, si Imperium in patrimonio habeat: alioquin a populo, sed accedente tegis consensu.

* ibid. cap. 7, § V.

** ibid. cap. 10, 17. Auch die Accession, Confusion, Specification, u. s. w. be- handelt er (im achten Capitel) mehr ins Einzelne gehend, als man von einem Werke über Krieg und Frieden erwarten möchte.

*** lib. 2, cap. 6. Schon die Überschrift zeigt die Vermischung der öffentlichen mit den Privatverhältnissen.

ß66 IX. Analytische Beleuchtung des Xalunechts und der Moral. 1836.

Gleich darauf aber erklärt er sich lebhaft gegen willkührliche Veräufserungen von Theilen des Reichs. In partis alienatione aliud insuper requiritur, ut etiam pars, de qua alienanda agitur, consentiat. Nam qui in civitatem coeunt, societatem quandam contrahunt. Sic vicissim parti ins non est, a corpore recedete. Nee dicat mlJii aliquis, imperium esse in corpore, tanquam in snbiecto, ac proinde alienari ab co possc ut dominium etc.

Anderwärts hält er sehr strenge auf den Satz, man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen. So in dem Capitel de eausis iustis ut bellum gerat ur ab his qui sub alie/10 impeno sunt. Hier heifst es zuerst: Si edi- citur ipsis, ut militent, quod fieri sohl, siquidem constat ipsis iniustam esse belli causam: absiinere omnino debent. Damit begnügt er sich noch nicht; sondern er fährt fort: Si dubitent, res licita sit necne, eritne quiescendum au parendum ? Parendum plcrique censent. Non caret tarnen hoc sua difficultate. Pars tutior est, absiinere bel/o. Ncque obstat^ quod ex altera parte periculum est inobedientiae. Nam cum utrumque incertum sit (nam si iniustum est bellum, iam in eins vitalione nihil est inobedientiae) caret p)eccato , quod ex duobus minus est. Inobcdicntia autern in eiusmodi rebus suapte [81] natura minus mal um est quam homieidium praesertim multorum innocentium. Nee magni ponderis est, quod contra nonnulli adferunt, jorc, ut, id si adtnittatur pe?-eat saepe respublica, quia plcrumque non expediat rationes consiliorum edi popnlo. Ut enim hoc verum sit de eausis suasoriis belli, de iustificis verum non est, quas oportet ciaras esse et evidentes, et proinde tales quae palam ex- poni et possint et debeaul.*

Welche Folgen aus dieser Lehre in Ansehung der bewaffneten Macht könnten gezogen werden, das hat Grotius wohl schwerlich vollständig überlegt. Selbst das Gegentheil aber kommt in Betracht; dies nämlich, dafs die Volksstimme, wenn sie einmal das Recht zum Kriege prüfen zu dürfen glaubt, alsdann zu ungerechten Kriegen den Herrscher fort- reifsen kann; und vollends bey gerechter Sache die abrathenden Klug- heitsgründe nicht gehörig erwägen wird. An kriegslustige Völker scheint Grotius bey diesem Gegenstande gar nicht gedacht zu haben.

§ 68. Das Völkerrecht, als Analogon des Privatrechts, berührt Grotius bey allen sich darbietenden Gelegenheiten. Schon dort, wo er von den Beschränkungen des Eigenthums handelt 63): fodert er die Zugäng- lichkeit eines Volks für fremde Personen und Sachen in einer Aus- dehnung, welche dem Völkerrechte eine sehr breite Basis geben würde, wenn sie von Bedenklichkeiten frey wäre. Länder, Flüsse, Meere, sollen bey gerechter Ursache zum Durchgange offen stehn; also für Vertriebene, ^oder des Handels wegen, oder in einem gerechten Kriege. Neque recte excipiet aliquis mc-\§2~\tuere se miiltitudinem transeitntium. Ins enim meum metu tuo non tollitur: eoque minus, quia sunt lationes cavendi. Etiam metus ab eo, m quem bellum iustuui movet is qui fransit, ad negandum transitum non valet.

Auf ähnliche Weise würde jedes Haus zum Durchgange offen stehen.

* Üb. 2, cap. 26, § III. IV.

II. Abschn. Analyt. Beleuchtung d. Naturrechts, i. Cap. Gestaltung d. Naturrechts. 36"

Die Möglichkeit des Misbrauchs, die Schwierigkeit denselben zu unter- scheiden und zu verhüten, die endlosen Streitigkeiten, denen vielmehr das Recht vorbeugen soll, alles dies spricht gegen Grotitjs, und beschränkt die Foderung auf Nothfälle einer unvermeidlichen Nachgiebigkeit, die nicht einmal als Beispiele für die Folge gefahrlos sind.

Er aber geht in seiner Consequenz von Personen auf Sachen über; denen gleichfalls freyer Durchgang rechtlich gestattet werden soll, ohne Zölle, wenn nicht Leistungen dadurch vergütet werden. Hätte er für solche Foderungen die Billigkeit, und das Wohlwollen als Princip des Verwaltungssystems, aufgerufen: so würde das Wahre des Gedankens sich leichter hervorheben und näher bestimmen lassen als jetzt, da er im Namen des Rechts zu reden unternimmt; welches Recht er doch nicht sicherer zu begründen wufste als durch den Satz : spectandum est, quae mens eorum fuerit qui primi dominia singularia inhoduxerunt, quae credenda est talis fuissc, ut quam minimum ab aequitalc natutali recesserit.

Endlich verlangt er sogar die Erlaubnifs der Wohnsitze, und Occu- pation der leerstehenden Plätze; die Befugnifs für billige Preise das Nöthige zu kaufen: desgleichen die Befugnifs eheliche Verbindungen zu suchen; und zwar dergestalt, dafs von mehreren fremden Völkern keins soll aus- geschlossen werden.

o

§ 69.

[83] Dafs Verhältnisse dieser Art sich nicht so ganz von selbst ver- stehen, als ob es Urrechte wären, und dafs es nicht überflüssig ist, sich ihrentwegen nach Verträgen umzusehen, bemerkt Grotitjs späterhin da, wo er von Bündnissen und Sponsionen die mancherlei Arten unterscheidet. Es giebt nach ihm Bündnisse, die eben das vestsetzen was dem Natur- rechte gemäfs ist; er sagt, sie seyen ehemals häufig und gewissermaafsen nothwendig gewesen; denn sonst habe auch ohne Krieg zwischen Völkern diejenige Unsicherheit der Personen und des Eigenthums geherrscht, welche sich unter andern in der für rühmlich gehaltenen Seeräuberey zu erkennen gebe.* Es versteht sich von selbst, dafs Verträge der Art ge- schlossen werden sollen, um dem Streite vorzubeugen, in wieiern überhaupt Berührung unter den Völkern vorhanden ist; und dafs sie um desto löb- licher sind, je mehr äufsere Freyheit sie gewähren (nach der Idee der Vollkommenheit), je freundlichem Umgang sie einleiten (gemäfs dem Wohlwollen), und je mehr nützlichen Verkehr sie eröffnen (nach An- leitung der Billigkeit).

§ 70.

Allein Grotius erinnert hiebey selbst an gefährliche Verwickelungen, von denen einige sich eben so in Privatverhältnisse einzuschleichen pflegen, eine andere aber, wiewohl nicht ausschliefsend doch vorzugsweise, dem Völkerrechte eigen ist.**

1) Bündnisse, welche über die Vermeidung des [84] Streits hinaus gehn, können ohne Bedenken unter der Voraussetzung der Gleichheit des

* Hb. 2, cdp. 15, § V, 1. ** ibid. § VII, XIII, XV, XVI.

;68 ]x- Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

Rechts auf beyden Seiten, geschlossen werden. Sobald aber der Schwächere dem Stärkern mehr zu leisten, oder seinetwegen mehr zu unterlassen hat, als ihm von der andern Seite vergolten wird: ist das Verhältnifs unsicher, weil es Gefahr einer fortschreitenden Unterordnung droht.

2) Ist ein Theil mit Mehrern verbündet: so entsteht oft die Frage nach dem Vorrang der Bündnisse, besonders wenn die andern entweder unter sich oder mit noch andern in Krieg gerathen. Dagegen ist bey jeder Anhäufung von Rechtsverhältnissen Vorsicht nöthig. Am schlimmsten ist, dafs die Beurtheilung, wer von den Streitenden Recht habe, nicht immer kann abgelehnt werden.

3) Hat ein Theil das Bündnifs verletzt: so behauptet zwar Grotius, der andre Theil sey nicht mehr daran gebunden. Allein es macht schon Schwierigkeit, die Gröfse der Verletzung zu schätzen, und mit der Wichtig- keit des ganzen Bündnisses zu vergleichen; überdies aber führt diese Regel geradehin zur Erneuerung eines rechtlosen Zustandes.

4) Bey Völker- Verträgen sind Mittelspersonen noch weit gewisser unvermeidlich, als im Privatleben; und wenn die Verabredung der letztern nicht genehmigt wird, läfst sich nach Verlauf der Zwischenzeit kaum noch Wiederherstellung in den vorigen Stand erwarten.

§ 71.

Die Fragen wegen der Auslegung führen neue Verlegenheiten herbey; unter andern folgende, welche mit dem Vorstehenden zusammenhängen.

[85] 1) Utriusque populi socii ab utroque populo tuti sunio. (So hatten Rom und Karthago verabredet.) Später nimmt eins der beyden Völker ein drittes in sein Bündnifs auf; das andre klagt über irgend ein vom dritten erlittenes Unrecht, und bekriegt dasselbe. Soll nun die obige Ver- abredung nur von den damaligen soeiis gelten? So entscheidet Grotius quia agiiur de foedere rumpendo, quae odiosa est ma/eria] et de adimenda Carlhagmiensibus übertäte, eos qui iniuriam ipsis fecisse crederentut, armis cogendi; quae libertas est naturalis, nee temae abdient a censetur*

Wüfste man nicht, dafs von Rom und Karthago die Rede ist: so möchte wohl einleuchten, dafs ein Paar Völker, die ernstlich Frieden wollen, auch die beyderseitigen socios, gleichviel ob frühere oder spätere, in Ruhe lassen müssen. Der Sinn der Übereinkunft ist nun freylich nicht der, dafs Eins vom socius des Andern sich Alles müsse gefallen lassen, ohne sich zu vertheidigen; aber vor thätlicher Vertheidigung mufs dem Andern der Fall vorgelegt, und Alles angewandt werden um zum Einver- ständnifs zu gelangen. Derjenige, welcher mit zweyen im Bündnisse bleiben soll, ist nothwendiger Vermittler ihrer Streitigkeiten, da er nicht r ohne Widerspruch beyde zugleich unterstützen kann. Wer neutral bleibt, ist schon in Gefahr, mit beyden zu brechen; wenigstens kann alsdann die obige Vereinbarung ihren Zweck, nämlich vollständige Sicherung des Friedens nicht erreichen.

Schon hieraus ergiebt sich, dafs nach der Natur [86] der Sache das Völkerrecht zu fortwährenden Unterhandlungen unter den Regenten hinführt.

* Hb. 2, cap. 16, § XIII.

II. Abschn. Analyt. Beleuchtung d. Xaturrechts. I. Cap. Gestaltung d. Naturrechts. 369

2) Wenn das Oberhaupt des Staates sich ändert, wenn selbst eine andere Verfassung eintrit: gelten dann noch die zuvor geschlossenen Ver- träge? — Grotius bejaht zwar die Frage, aber mit der Ausnahme, wenn der Vertrag auf der Eigenheit früherer Einrichtung beruhte. Dies also will untersucht seyn.

; 72.

Wo Unterhandlung und gemeinsame Untersuchung nöthig ist, da müssen zu diesem Behuf Personen beglaubigt und bevollmächtigt, als- dann angenommen und gegen Verletzung geschützt werden. Ein ius pentium voluntarium hatte Grotius hier schwerlich Grund zu unterscheiden vom natürlichen Rechte.* Passender ist diejenige Unterscheidung, welche von den Absendern ausgeht, denn höher als diese, können die Gesandten nicht stehen. Daher Schwierigkeiten im Bürgerkriege, wo beyde Parthey en sich die rechtmäfsige Gewalt beylegen, die andere aber nicht den unab- hängigen Regierungen gleich stellen, folglich auch nicht als im Namen einer solchen, Gesandte von ihr annehmen wollen. Andere Schwierig- keiten können aus dem Betragen der Gesandten und ihrer Begleiter entstehen. **

§ 73-

Vom Kriege ist, ohne auf dessen ungerechte, zweifelhafte oder ge- rechte und zulängliche Ursachen,*** auf [87] das in demselben erlaubte oder unerlaubte Verfahren durch List oder Gewalt,! hier einzugehen, zuvörderst der Hauptpunct zu bemerken: dafs während desselben eine Gleichstellung der kriegführenden Mächte entsteht, vermöge deren nicht mehr gefragt wird, auf welcher Seite das Recht sey, sondern einerley Kriegsgebrauch auf beyden Seiten zulässig erachtet wird, ff

Schon diese Gleichstellung ist ein Verlust für Den, welcher die ge- rechte Sache hat; es kommt hinzu, dafs fremde Ehrenpuncte das öffent- liche Urtheil von der ursprünglichen Frage ablenken, nämlich solche, die aus der Tapferkeit und Klugheit während der Führung des Krieges ent- springen.

Grotius führt eine falsche Auslegung an, zu welcher die im Kriege entstandene Gleichheit führen kann. Sunt qui videntur existimare, /es hello captas, etiam si iusta belli causa non adf/icrit, reddendas non esse, eo quod behautes inier se, cum bellum inierunt, isla capientibus donasse intelligantur. Sed nemo suum iactare p/acsumitur ; et bellum per se lotige abest a con- tractuum natura. Ul vero pacati populi certi quid haberent quod sequerentnr, nee bello implicarentur i/iviti. sufficiebat introduetio exlerni dominii, quod cum

lib: 2, cap. 18. § I. ** ibid. § IV. *** lib. 2, cap. 22 26.

j lib. 3, cap. 1. j\ lib. 3, cap. 4, § III. IV. Von Räubern heifst es dagegen: Non habent specialem istam communionem^ quam inter hostes in bello solenni et pleno introduxit ius gen- tium, lib. 3, cap. 19, § II.

1 Unterhaltung SW. Herbart:s Werke. X. 24

370 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 183t).

interna restitutionis obligattone potest consistere. Sed et qui rem hello iniusto captam ab alio penes se habet, tenetur eam reddere.*

[88] Neque peccato vacare aut a restitutionis onere immunis censeri debet rerum hostilium in hello iusto captura. Quippe si id quod rede fit speetas, non ultra licitum est capere aut habere, quam causa subest debendi in hoste. **

Offenbar führt auch dies wieder auf Beurteilungen, deren Richtig- keit sehr zweifelhaft seyn kann. Daher ist ein Zusatz sehr nöthig, der sich gleich darbieten wird.

§ 74-

Der Sieg kann zur Herrschaft führen. Iusto hello ut alia acquiri poss/int, ita et ins imperantis in populum, et ins quod in imperio habet ipse populus: sed nempe quatenus fert aut poenae nascentis ex delicto aut alter ins debiti modus. Quibus addenda est causa vitandi periculi summi. In publica periculo quae modum excedit securitas, immisericotdia est.***

Wie aber auch der Frieden möge geschlossen werden, so dient zur Wegschaffung der vorerwähnten Schwierigkeit das Folgende:

Res subditorum pace concedi possunt ob utilitatem publicam, sed cum onere damui resarciendi.f

Der Friede ist kein Urtheil über frühere Rechtsfragen. Ad pacem veniri rix solet iniuriae confessione. Si nihil aliud convenerit, omni pace id actum censeri debet, ut quae hello data sunt damna, eorum nomine actio non sit. Quod de damnis ctiam privatim aeeeptis intelligendum est: nam et haec belli affeeta sunt. In dubio enim ita censentur contrahere voluisse bellantes, ut neuter iniustitiae danmaretur. ff

[89] Ein sehr wahres Wort des Cäsar fügt Grotius am Ende bey: Si uterque pares sibi videanlur, id Optimum tc/npus de pace agendi, dum sibi uterque confidit.

->

Zweytes Capitel.

Von der Gestaltung des Naturrechts in der Kantischen Periode.

§ 75- Gkotius war vom Recht als dem Gegentheil des Unrechts ausge- gangen; und er hatte es von Anfang an, wie in seinem ganzen Werke, dem Kriege entgegengesetzt. Hätte er eben so deutlich, und mit aus- drücklichen Worten, gesagt: das Miß/allen am Kriege, oder überhaupt am Streite (wenn schon derselbe vorübergehend unvermeidlich werden kann,) ist das Princip des Rechts: so möchten die bald erfolgten Verwirrungen, worin die sogenannten Socialisten (Pufendorf, Thomasius u. s. w.) sich befanden

* lib. 3, cap. io, § V. VI. : Hb. 3, cap. 13. § 1. *** cap. 15, ij I.

t cap. 20, § VII. tf cap. 20, \ XI, 2. § XV

II. Abschn. Analyt. Bei. d. Naturrechts. 2. Cap. Gestalt, d. Naturrechts i. d. Kant. Per. 3 - \

sahen, vielleicht unterblieben, oder wenigstens nicht durch ihn veranlafst seyn. Aber Grotius hatte seine Darstellung, wie es ihm bey seiner klassischen Gelehrsamkeit natürlich war, an die stoischen Lehrformen ge- knüpft, die er beim Cicero in den Büchern de finibus und de legibus fand. Darin lag Anlafs genug für Die, welche sich an seinen Worten im Ein- gange des Werks hielten, ihre Dialektik an der Frage zu üben: ob denn wirklich die menschliche Natur zur oixtuoaig der Stoiker* hinzustreben geeignet sey, die er als eine vernünftige, und über den Eigennutz hinaus- gehende Geselligkeit beschreibt. [90] Ob nicht vielmehr die bürgerliche Gesellschaft auf der Furcht beruhe?**

Vergebens also hatte Grotius das Motiv zu seiner Arbeit so kräftig als möglich ausgesprochen: Videbam per Chnstiamcm otbem vel barbaris gent ib us pu den dam bellandi licentiam : levibus aut nullis de causis ad arma proeuni, quibus seniel sumtis nullam tarn divini, nullam humani iuris reverentiam, plane quasi uno edicto ad omnia scelera emisso furore.

Dafs endlich Kant die Fragen nach der menschlichen Natur, in denen jene übel angebrachte Dialektik sich herumtrieb, als zur Begründung der praktischen Philosophie durchaus nicht gehörend beseitigte, ist schon oben 45) angegeben worden. Allein hiemit war noch immer nicht die Idee des Rechts an den ihr gebührenden Platz, und in die zur Anwendung nöthige Verbindung mit den andern Ideen zurückgeführt. Man hatte sich in der Zwischenzeit an die Scheidung des Naturrechts und der Moral 15 u. s. w.) nicht blofs gewöhnt, sondern dieselbe als einen besondern Gewinn an besserer Einsicht vielfältig angepriesen.

§ 76. Die Kantische Periode fiel in die Zeit der französischen Revolution. Ein neuer Eifer ergriff das, von der Moral schon getrennte Naturrecht, und prägte es so charakteristisch aus, als möglich. Auf die langsamen [91]. Wirkungen moralischer Volksbildung wollte man nicht warten; der Staat, als rechtliches Institut, sollte bald fertig seyn. Hiezu sollte das Natur- recht helfen; und es wurde nun, was es für sich allein werden kann.. Damals war man sehr geneigt, politische Fragen, (wie sie durch Locke, Montesquieu, Rousseau, und Andere, in Anregung gekommen waren,) so zu betrachten, als beträfen sie unmittelbar das Recht. Während nun das Staatsrecht bey Grotius die schwächste Stelle ist, wogegen das Völker- recht unverhältnifsmäfsig hervortrit, kehrt sich dies bey neuern Schrift- stellern um. Aber die von allen Seiten zuströmenden Gedanken wufste man so wenig zu beherrschen, dafs man Ordnung in der Einseitigkeit suchte. Hatte Kant den Eudämonismus aus der Begründung der prak- tischen Philosophie verbannt 47): so sah man keinen Weg mehr, auf welchem das, mit der Sympathie verwechselte Wohlwollen 31 33) und in dessen Namen eine wohlwollende Verwaltung, in den ursprünglichen

* Gpotius in den Prolegomenen § 6.

** So lehrt Thomasius in seiner, an Pufendorf sich anschliefsenden lunsprudentia divina, Üb. 3, cap. 6, § 12. Selbst das Bedürfnifs der zum Lebensunterhalt nöthigen Güter soll nur eine Nebenursache seyn.

tj2 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

Zweck des Staats könne aufgenommen werden. Man meinte im Gegen- theil bestimmt zu wissen :

1) Es gebe Urrechte noch vor dem Eigen thum.

2) Es gebe Eigen thum noch vor den Verträgen.

3) Es gebe Gesellschaften in Folge der Verträge; unter ihnen die häusliche und die kirchliche.

4) Zum Schutze, und zwar durch unfehlbar wirkenden Zwang, müsse eine grofse Gesellschaft falls sie nicht schon da wäre, vertragsmäfsig gestiftet, und selbst die wirklich vorhandene gerade darauf eingerichtet werden, jene verschiedenen Rechte zusammengenommen zu behaupten. Diese Gesellschaft sey der [92] Staat, mithin eine Zwangs -Anstalt, der man andere Zwecke, auf die sich nur unvollkommne Pflichten bezögen, nicht unterlegen dürfe.

Ungeachtet nun jene Rechtsbegriffe schon unter sich verschieden waren, so sollte es doch für sie ein gemeinsames, die Tugendlehre aber ausschliefsendes Princip geben.

In die Klasse des Ausgeschlossenen gehörte nun auch, als dem Rechte benachbart, die Billigkeit. Verleitet durch diese leere Negation, erklärte man Billigkeit (nicht für eine Idee, sondern) für eine Pflicht, den unvoll- kommnen Rechten Andrer gemäfs seine eignen vollkommnen Rechte freywillig zu beschränken.*

Das so gestaltete Naturrecht ist es , von welchem kurz darauf Schleiermacher behauptete: es scheine keinen andern Ursprung zu haben, als die Negativität des Begriffs von der Sittlichkeit; es bestehe aus den ungleichartigsten Dingen ; es sey entstanden aus der Aufgabe, zu dem, was in der Staatskunst als ein Willkührliches und Positives erscheine, das Natürliche und Nothwendige zu finden; man könne es kaum für Mehr gelten lassen als für ein groteskes Spiel des wissenschaftlichen Strebens; und es folge unmittelbar, dafs eine rechte Ethik diese Unform zerstören

müsse.**

Dies Urtheil ist zu hart. Nicht unförmlich ist das Naturrecht, sondern zur Übersicht der allgemeinsten Rechtsfragen im Ganzen bequem und so- gar nothwendig. [93] Es verhält sich damit, wie mit der gewöhnlichen Abtheilung der Seelenvermögen in der Psychologie, die man auch, um die Masse der zu untersuchenden Gegenstände zusammenzuhalten, benutzen mufs. Nur darf die Kenntnifs des Mannigfaltigen, was in einer Wissen- schaft zu untersuchen vorkommt, nicht mit der Kenntnifs der wahren Er- klärungsgründe verwechselt werden. Wer die erste hat, besitzt darum noch nicht die zweyte. j Hätte Schleiermacher sich um Grotius bekümmert, dessen zahl-

reiche Beyspiele nicht aus den Zeiten ausgebildeter Staatskunst entlehnt sind, sondern den Streit der Völker nach Angabe der Historiker und Dichter betreffen, so möchte er wenigstens über den Ursprung des Natur- rechts etwas anders geurtheilt, und es nicht blofs als eine misrathene

* Hufelands Naturrecht, zweyte Ausgabe, § 97. ** Schleiermachers Kritik der Sittenlehre, am Ende des dritten Buchs.

IL Abschn. Analyt. Bei. d. Xaturrechts. 2. Cap. Gestalt, d. Xaturrechts. i. d. Kant. Per. 3 73

Staatslehre betrachtet haben. Allein sein Urtheil trifft die ältesten Kantianer; wie sich gleich zeigen wird.

§ 77-

Nach Schmid, dessen sehr kurzes Naturrecht durch Präcision aus- gezeichnet ist, soll Rechtsphilosophie die Wissenschaft seyn von der praktischen Möglichkeit, die Idee vom äufsern vollkommenen Rechte durch äufsere physische Kraft zu realisiren. Das Sittengesetz (der kantische kategorische Imperativ) untersagt schlechthin jeden Gebrauch der Frey- heit, welcher sich, als allgemein gedacht, selbst zerstören würde. Das Sittengesetz gebietet einen solchen Freyheits-Gebrauch, welcher, als all- gemein gedacht, nicht blofs sich selbst nicht zerstört, sondern auch be- fördert. Darauf beruht der Unterschied zwischen dem unvollkommnen Rechte (dem [94] Recht der Güte), und dem vollkommenen strengen Rechte. Das äufsere strenge Recht soll nun seyn: der Gebrauch der Frevheit auf diejenigen Bedingungen beschränkt, unter welchen sie mit jedes Andern Frevheit nach allgemeinen Gesetzen bestehen kann.*

Soll das Recht sich nicht selbst widersprechen, so kann nicht all- gemeines Gesetz seyn, dafs ein Vernunftwesen A es leide, das heilst, nicht verhindere, wenn ein anderes Vernunftwesen B dessen Freyheit mit Wider- spruch der seinigen gebraucht. Es ist also keinem allgemeinen Gesetze zuwider, dafs ein Vernunftwesen das andere an der Störung seiner Rechte hindere, d. h. physische Gewalt anwende, um sein eignes Recht gegen fremden Eingriff zu schützen. Das Recht zu zwingen. Soll aber diese Erlaubnifs, welche das Recht zum Zwange giebt, sich nicht selbst wider- sprechen, so darf das letzte Vernunftwesen B jener Einschränkung nicht wieder seine Gewalt entgegen setzen. Die Befugnifs zu zwingen.**

Ganz ähnlich lehrt Hufeland: Der Grundsatz aller Rechte ist: Jeder Mensch hat ein Recht, Alles zu wollen, was nicht als verboten nach allgemein gültigen Gesetzen gedacht werden mufs.

Kurz zuvor behauptet er: Durch das Sittengesetz wird den willkür- lichen Handlungen nicht immer die Bestimmung der Notwendigkeit, sondern mehrern auch die Bestimmung der blofsen Möglichkeit beygelegt, folglich sie der blofsen Willkühr überlassen. Das Sitten-[95]gesetz ver- weiset bey diesen Handlungen jeden Menschen blofs an seine Willkühr. Und weiterhin: Da das Sittengesetz die vollkommenen Rechte blofs von der Willkühr des Berechtigten abhängen läfst, folglich die ihre Aus- übung verhindernden Handlungen nie erlauben kann: so ist Jeder be- rechtigt, alle ein vollkommenes Recht einschränkenden Handlungen durch Zwang zu hindern.*** Die Pflichten im absoluten Naturrecht, die eine Befugnifs des Berechtigten begründen, sind also immer blofs negativ: die Willkühr nicht einzuschränken, die Handlung nicht zu hindern, das Recht nicht zu kränken.f

Diese Negativität war es, welche Schleiermachern in die Augen

* Karl Christian Erhard Schmids Naturrecht, § 1 9. ** Ebendaselbst § 106. *** Hufelands Xaturrecht § 92 102. j Ebendaselbst § 108.

■i-jA IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

fiel. Aber das Misfallen am Streit ist keine blofse Null; sondern ein wirkliches Urtheil.

§ 73.

Ohne Zweifel hatte Kant es selbst verschuldet, dafs man auf blofse logische Negationen das ästhetische Urtheil glaubte reduciren zu können. Das lag schon in seinem kategorischen Imperative 40. 50). Auch hat er in seinem eignen Naturrechte sich nicht gehütet vor der Einbildung, das Zwangsrecht auf blofse Verhinderung eines Hindernisses der Frevheit zurückführen zu können;* so offenbar es auch ist, dafs in der Anwendung der wirkliche Zwang sich nur selten mit solcher Verdoppelung der Negation begnügt, vielmehr, um wirksam zu seyn, bis zu Handlungen fortschreitet, die [96] nicht blofs einseitig als Wiederherstellung des Rechts, sondern auch von der andern Seite als eingreifend in die Rechte des Andern wollen erwogen seyn. Hierin liegt alsdann die Frage, ob das Recht etwan ursprünglich auf Bedingungen der Gegenseitigkeit eingeschränkt war, und ob aus Einer Verletzung unzählige Verletzungen ohne Ende und Gränze entspringen sollen?

Nichts destoweniger trägt im Ganzen das Naturrecht Kants einen andern Charakter als das eben zuvor angeführte, dessen Verdienst nicht darin besteht, dafs es auf dem kantischen Princip gebaut ist, sondern darin, dafs es mit juristischer Gelehrsamkeit gearbeitet ist, und besonders darin, dafs es die Staatslehre sorgfältig behandelt. Theils aus dem letztern Grunde, theils um den merkwürdigen Contrast gegen Kant zu zeigen, sollen die nächstfolgenden Paragraphen den Inhalt desselben kurz angeben.

§ 79- Ungeachtet jenes Ausdrucks: Pflichten, die eine Befugnifs des Be- rechtigten begründe?i Jj); ungeachtet des Beyspiels, was Grotius gab, indem er das Recht, was Jemand hat, ableitet vom Gegensatze des Un- rechts, welches der vernünftigen Geselligkeit widerstreitet: meint Hufe- land dennoch: der nächste Gegenstand des Naturrechts seyen Zwangs- rechte, und nicht Zwangspflichten; und durch die Ableitung des Rechts, in so fern es erlaubt sey, werde zugleich die Befugnifs (also die gegen- überstehende Verpflichtung) dargethan. Die natürliche Folge dieses Fehl- griffes ist erstlich, dals in der vordem Hälfte seines Buchs die Rechte als Güter erscheinen, die Jemand hat; zweitens, dafs in [97] der andern Hälfte, wo der Staat dazu kommt, diesem die Rolle des Vermindernden und Verkürzenden zu Theil wird, den man sich jedoch gefallen läfst in der Hoffnung, durch ihn reichen Ersatz dessen zu gewinnen, was er nahm. ) Von vorn herein ist Hufeland freygebig mit Urrechten. Das erstere

derselben soll gehen auf die Kräfte und Anlagen, oder auf eines Jeden eigene Person.** Die vorausgeschickte Erklärung der Person enthält aber weiter nichts, als das Vermögen, sich selbst Zwecke seiner Hand- lungen zu setzen.*** Ferner hat Jeder Recht zu leben, folglich auch sein

* Kants Rechtslehre, Einleitung, § D. ** Hufelands Natuvrecht § 117. *** Ebendaselbst § 90.

II. Abschn. Analyt. Bei. d. Naturrechts. 2. Cap. Gestalt, d. Xaturrechts i. d. Kant. Per. ^yc

Leben zu erhalten. Recht zum Zweck schliefst Recht zu Mitteln in sich, folglich habe ich ein Zwangsrecht, mir alle Mittel zu erwerben und zu er- halten, ohne welche mein Leben nicht erhalten werden kann; Luft, Platz, Nahrung, und in den meisten Klimaten Decke. Ferner: ein Recht, mir Wohlbefinden zu erhalten, und den Schmerz abzuwehren; desgleichen: alle Hindernisse der Handlungen und des Gebrauchs der Kräfte abzuwehren. Weiter: Ein Recht auf Ausbildung aller Kräfte für den Gebrauch der Sittlichkeit. Unumschränkte Freyheit in Ansehung alles Intellectuellen. Frevheit, soviel zu lernen als man will. Religionsfreyheit. Recht, Sachen zu gebrauchen und zu erwerben. Recht auf guten Namen, und gegen Ausbreitung böser Nachrede.

Noch nicht genug! Es giebt auch ein Zwangsrecht für Freunde; ja! „ich darf jede Beeinträchtigung der Güter Anderer durch Zwang ab- wehren"; und: „wenn [98] sich der Andere durch eigene Handlungen Güter rauben will, deren er sich nicht entäufsern darf, so hindre ich ihn mit Zwang daran; (Verhinderung des Selbstmordes)." Desgleichen: „Wenn Güter durch das Schweigen des Andern geraubt werden können, so kann ich ihn zum Reden zwingen."

§ 80.

Nicht ohne Bedeutung ist in den vorstehenden und ähnlichen Sätzen die veränderte Form der Rede. Anstatt dafs die Sprache des ästhetischen Urtheils ganz unpersönlich lauten müfste: es gefällt, es misfällt, (denn der unpartheyische Zuschauer, welchem es kann beygelegt werden, ist gar nicht als auf sich reflectirend, mithin nicht als Person, vollends nicht als Eine unter mehreren Personen zu denken,) wurde zuerst das Sittengesetz als Anrede vorgetragen: handle so, dafs Du wollen könnest, u. s. w. Das Naturrecht aber, wenn schon angeblich aus dem Sittengesetz hergeleitet, spricht auch nicht mehr in der zweyten, sondern sogar in der ersten Person: ich darf.

Dafs dies nicht als gleichgültig aufzunehmen sey, erhellet aus dem Satze: im Naturstande ist kein Richter, oder vielmehr, jeder ist sein eigner Richter.*

Wie sehr dies: oder vielmehr, die Sache verschlimmert, zeigt sich so deutlich als möglich bey Schmid, der sich durch die Consequenz zu einer wahren deduetio ad absurdum treiben läfst. Er sagt: „Da jeder das Recht hat, in seiner eignen Sache zu richten wenn er will, und da diese richter- lichen Entscheidungen bey [99] Wesen die des Irrthums fähig sind, sich widersprechen können; da ferner Niemand dadurch das Recht verletzt, dafs er sein Recht vertheidigt: so ist es rechtlich möglich, dafs zwischen zwey physischen oder moralischen Personen ein Krieg entstehe."*5

Nicht blofs versteht sich von selbst, dafs der Begriff eines Richters, dem sich Parthey en gemeinschaftlich unterordnen sollen, hier gar nicht anzubringen war; nicht blofs ist der Krieg an sich Folge und Fort-

* Hl'FELAND § I/O.

** Schmid § 172. Dieser Gipfel der Ungereimtheit läfst sich wohl nur mit der potentia passiva recipiendi existentiam vergleichen. Metaphysik I. § 71. [Vgl. vorl. Ausgabe Bd. VII, S. 120.]

^6 I2C. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

setzung des Unrechts : sondern überdies lag es in dem Sinne des kate- gorischen Imperativs und des aus ihm abgeleiteten Rechtsbegrifis, dafs, wenn schon die Personen sich äufserlich gelten machten, (nach der Idee der Vollkommenheit, denn mit dieser ganzen persönlichen Ausbreitung hat das Recht ursprünglich nichts gemein), sie doch den Zusammenstofs ver- hüten, und nebeneinander bestehen sollten. Sind sie wegen des Rechts nicht einverstanden: so folgt eben daraus, dafs sie einen wirklichen Richter anrufen, oder vom streitigen Gegenstande beyde abstehen müssen.* Lieber werden sie irgendwie sich vergleichen. Krieg aber wird entstehen, wo mindestens Einer den streitsüchtigen Willen des Andern, also dessen Un- recht, fortwährend zu befürchten hat.

§ 81.

[100] Die Behauptung der Urrechte erhält eine neue Art der Aus- dehnung durch die Annahme der Gleichheit für Alle, der Unverlierbar- keit und zum Theil Unveräufserlichkeit.

Die Gleichheit wird so weit getrieben, dafs auch Kindern und Wahn- sinnigen dieselben Rechte, wie Andern, zukommen sollen: da ihnen nicht die Vernunft und das Vermögen der Sittlichkeit selbst abzusprechen sey, sondern nur die Anwendung derselben Hindernisse bey ihnen finde.** Also keine eigentliche väterliche Gewalt.***

Die Unverlierbarkeit soll sich darauf gründen, dafs kein Recht durch die Willkühr eines Andern mir genommen werden könne. Also keine Verjährung, f

Die Unveräufserlichkeit soll nicht für alle Rechte gleich entschieden seyn, indem man der Sittlichkeit wegen einige durchaus behalten, andere nur irgend welcher Pflichten willen aufzugeben genöthigt sey. Auf diesem Wege würde das Naturrecht, schon um gehörig verstanden zu werden, in die Moral zurückkehren müssen.

§ 82.

Den Urrechten folgen die erwerbiiehen Rechte (dem absoluten Natur- recht das hypothetische). Da aber vom vorgeblichen Erwerbe des Eigen- thums durch blofsen animus habendi schon oben 64) Gelegenheit war zu sprechen : so ist hier nur weniges nachzutragen.

[roi] 1) Durch Besitznehmung erwirbt man nur ein Eigen thum herrenloser Sachen. Aber die genauem Bestimmungen über possessio bonae und malae fidei gehören nicht ins Naturrecht, ft

2) Zuwachs [accessio tiaturaiis et attificialis) soll eintreten: „wenn ich ) eine Sache gleich von ihrer Entstehung an zu meinem Eigenthum rechne", ftt

* Praktische Philosophie, im vierten, und besonders im achten Capitel des ersten Buchs. [Vgl. Band II vorl. Ausg. S. 364 u. 388.] ** Hufelands Naturrecht § 142. *** A. a. ü. § 379.

f A. a. O. § 148 und § 328. \\ Hufeland § 247. 248. tft A. a. O. § 240.

II. Abschn. Analy t. Bei. d. Naturrechts. 2 . Cap. Gestalt, d. Naturrechts i.d. Kant. Per. 3 7, j

Der erste, der sie dazu rechnet, ist allerdings meistens der Eigenthümer der Hauptsache ; die Schwierigkeiten aber, die sich erheben würden, wenn ein Andrer früher das Entstehen eines acccssorium vorhersähe, und das- selbe nun auch früher zu dem seinigen rechnete, könnten allein schon hin- reichen, um diese ganze Ansicht des Eigenthums zu widerlegen.*

§ 83. 3^ Bey den Verträgen entsteht nothwendig Verlegenheit, wenn aus jedem, auch unvorsichtigen, Versprechen, ohne Rücksicht auf nachmals unverschuldet veränderte Umstände, ein Recht ohne Unterschied des Grades seiner Gültigkeit, und aus dem Rechte ohne Weiteres die Be-

fugnifs zum Zwange, abgeleitet wird; wogegen schon das positive Gesetz in Ansehung der Minderjährigen und ähnlicher Fälle, warnen kann; vollends wenn das Naturrecht alle Mittel des Zwanges bis zur Erreichung des her- gestellten Rechts erlaubt.**

[102] Hufeland nun verwickelt sich hier dergestalt, dafs er von Vest- setzung neuer Maximen redet, „die ich jetzt durch meine Willkühr den übrigen sittlichen Regeln an die Seite setze";*** als ob Willkühr und Sitt- lichkeit in Eine Reihe treten könnten. Angenommen aber, das Sitten- gesetz verböte mir nicht, „auch dauernde, ohne Zeiteinschränkung gültige Maximen willkührlich mir vorzuschreiben": so ist noch die Frage, wie da- durch ein Andrer zu einem Rechte gelangen könne; während er nach der gemeinsten Menschenkenntnifs vorhersehen mufs, dafs jene Willkühr, falls nichts Bindendes hinzukommt, nur für Anwandlung einer thörichten Laune zu halten ist, auf welche sich zu verlassen lächerlich seyn würde. Dies Bindende ist nun zwar nicht weit zu suchen; es ist der Vorwurf, den Streit erhoben zu haben, wenn man von der geschehenen Überlassung abgeht; während auf das, was Jemand sich selbst willkührlich vorschrieb, nichts mehr ankommt, sobald von der andern Seite auf das Versprochene gutwillig verzichtet wird. Anstatt aber auf den Vorwurf des erhobenen Streits sich zu berufen, wendet sich Hufeland zu den äufsern Zeichen, wodurch Einer dem Andern überläfst. Nun hat (meint er) der Pro- missarius ein vollkommenes Recht: Wahrhaftigkeit zu fodern; natürlich in dem Augenblick des Versprechens. „Er darf also annehmen, dafs die Willens -Erklärung des Andern zur Zeit des Versprechens ernstlich war." Was damit gewonnen sey, ist zwar nicht zu begreifen; aber Hufeland fährt nach den letztangeführten Worten unmittelbar also fort: „Sie (die Willens-[i03]Erklärung) zu ändern, hat der Versprechende kein Recht mehr, da er seine Willkühr für immer bestimmt hat:' Etwan auch, wenn der Promissar Verzicht leistete?

Hufeland führt hier eine grofse Menge scheinbar abweichender Meinungen über den Grund des Vertragsrechts an. Die Worte weichen noch mehr ab als die Meinungen, so lange man sich in das ästhetische

* Über diesen Gegenstand ist in der Praktischen Philosophie S. 169 [Vgl. Bd. II vorl. Ausg. S. 382] zu vergleichen.

** Hufeland § 187, wo er das ius belli inßnüum jedoch nicht bis zur Tüdtung ausgedehnt wissen will, aufser um Lebensgefahr dadurch abzuwenden. *** Hufeland § 260.

37^ IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

Urtheil, welches Jeder fühlt und Jeder wirklich fällt, den Worten nach nicht zu finden weifs.

§ 84.

4) Nach logischer Ordnung mufs der allgemeinen Darstellung des Vertragsrechts das Besondere folgen, was an verschiedenartigen Verträgen zu bemerken ist. Die ganze Mannigfaltigkeit dessen, was im mensch- lichen Leben zu Verträgen auflodert, in sie hineinführt, in ihre Schwierig- keiten verwickelt, soll nun in einer blofsen Rechtslehre lediglich von der rechtlichen Seite in Betracht kommen; ungefähr wie in den Gerichtshöfen, wenn schon die Verhältnisse unter Menschen so weit verdorben sind, dafs Streitigkeiten ausbrechen.

Abgesehen aber von den schon "Anfangs 10) erwähnten, bey Verträgen vorkommenden Puncten, die aus dem positiven Recht ins Naturrecht pflegen hereingezogen zu werden; abgesehen auch von der Ein- theilung der Verträge, die nach Hufelands Aussage nicht hieher gehört, weil die Eigentümlichkeiten der verschiedenen Arten positiv bestimmt sind,* geht hier das hypothetische Naturrecht ins Gesellschaftsrecht über; [104] also, nach einigen allgemeinen Vorerinnerungen, (welche die Ge- sellschaft auf den Vereinigungsvertrag, und im Falle der Ungleichheit auf den Unterwerfungsvertrag zurückführen,) wird hier von einfachen und zu- sammengesetzten Gesellschaften gehandelt, dergestalt, dafs zu den einfachen Gesellschaften Ehe, elterliches Verhältnifs, und Knechtschaft, zu den zu- sammengesetzten aufser der Familie vorzüglich der Staat, und (in der Regel) die Kirche gerechnet wird.

Um nun sich in den Gränzen des Naturrechts zu halten, und alle aufserdem nöthigen Bestimmungen der Moral, der Religion, und der Politik zu überlassen: hütet sich Hufeland, bey der Ehe Monogamie, für die Kinder das Recht der Erziehung zu fodern. In der Ehe soll gelten, was verabredet ist; elterliche Gewalt soll in den Händen des Er- ziehers, mithin nur unter der Bedingung, ivenn die Eltern die Pflicht der Erziehung einsehen und ausüben wollen, in ihren Händen seyn; von wirklicher Verabredung soll das Recht abhängen, Knechte zu verä'ufsern. Die Kirche kann Zweck, Mittel und Rechte nach ihrem Gefallen ab- ändern. **

Da es aber nicht im Ernste so seyn soll, sondern dies Alles nur dem abstracten Naturrecht zu Gefallen so gesagt wird: so darf man wohl fragen, wozu dienen solche naturrechtliche Abstractionen? Vielleicht nur, um das Bedürfnifs der Ergänzung durch die Moral recht fühlbar zu machen.

§ 85. In den angewandten Theilen jeder Wissenschaft mufs man sowohl das Anzuwendende, als den Gegen-[i05]stand, worauf die Anwendung trifft, als bekannt voraussetzen. In der praktischen Philosophie entsteht eine doppelte Quelle von Mängeln, wenn einerseits nicht das ganze System der praktischen Ideen (denn sie sollen alle zugleich und in Verbindung

* A. a. O. § 293. 326. ** A. a. O. § 354-407.

II.Abschn. Analyt. Bei. d. Naturrechts. 2.Cap. Gestalt, d. Naturrechts i. d. Kant. Per. 37g

zur Anwendung kommen) andererseits nicht die menschlichen Verhältnisse, wie sie sich in der Wirklichkeit aus psychologischen Gründen und in Folge äufserer Umstände gestalten, hinreichend deutlich vor Augen liegen.

Schon bev den zuvor erwähnten Gegenständen, besonders aber in der Staatslehre, macht sich dies fühlbar. Die Systeme des Rechts, des Lohns, der Verwaltung und der Cultur ergeben nur zusammengenommen, nicht einzeln, die Idee der Gesellschaft, wie sie seyn soll. In der wirk- lichen Welt ist überall, wo Menschen dicht beysammen leben, ein Ge- dränge von entgegengesetzten Interessen mitten im Verkehr, der vom Glück, von Klugheit und Eigennutz, und von deren Gegentheilen geleitet wird. Der Staat ist in diesem Gedränge entstanden und fortgebildet, ehe man ihn genau planmälsig einrichten konnte; er mufs grofsentheils als ein Naturgewächs beschrieben werden. Das aber ists, worauf die naturrechtlichen Staatslehren sich ungern einlassen; ja nicht einmal die Gesammtheit der Ideen ziehen sie zu Rathe.

Hufeland hatte ein langes Register von Urrechten aufgestellt; 79), das Bild eines Menschen der fast Alles darf was er will. In der Einleitung zum Staatsrechte aber spricht er: „Der Mensch lebt von Natur nicht im Staate; er opfert im Staate einen Theil seiner natürlichen Freyheit auf, und setzt sich vielen neuen [106] Übeln aus. Dies sind Gründe wider den Staat." Anstatt nun zu zeigen, dafs die neuen Übel eigentlich nur die alten sind, aber sehr gemildert und vermindert, fügt er hinzu: „Die Menschen lassen sich leicht von Jemandem führen, von dem sie Gutes für sich erwarten. So entsteht der Staat." Solche Nach- klänge der Unzufriedenheit des Rousseau und der Ironie des Montesquieu werden nicht gebessert durch den Schlufs: „Der Staat ist das einzige hinreichende Mittel, um die Übel der Gesellschaft abzuwenden, und die Vortheile derselben zu erhalten. Darum, und weil ohne Staat unsre Rechte nicht gehörig gesichert werden können, ist Staat zu errichten Pflicht."

Dafs er den Staat als Mittel betrachtet, wird unter Berufung auf Lessing weiterhin noch von neuem versichert 434).

§ 86.

Das Vorerwähnte lag im Geiste der Zeit; eigentümlich aber war Hufelands Verdienst, die Einseitigkeit des Staatsrechts wenigstens dadurch zu vermindern, dafs ein allgemeines bürgerliches Recht demselben zur Seite gestellt wurde. Noch besser wäre gewesen, es voranzustellen ; dann würde die Eintheilung des Staatsrechts, nämlich die Unterscheidung zwischen Rechten der Oberherrn und der Unterthanen, nicht so auf- fallend das Bild einer Gesellschaft zwischen Macht und Ohnmacht dar- geboten haben.

Der Hauptgedanke dieses allgemeinen bürgerlichen Rechts beruht auf der Voraussetzung des Naturstandes, welchen der Mensch verliefs, und vielleicht zurückwünscht. Nun soll berechnet werden, was er verlor [107] und gewann. „Das Resultat mufs seyn: eine Summe von Rechten des Staatsgenossen als Privatmannes, die er entweder unstreitig hat, oder doch haben kann, mit Weglassung aller derjenigen Rechte aus dem Natur-

380 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 183b.

stände, die mit dem Staate gar nicht bestehen können." Folgendes sind die Hauptpnncte:

1) Unveräufserliche Rechte 81) bleiben; veräufserliche aber mnfs man im Staate beweisen können, sonst gehn sie verloren.

2) Selbsthülfe bleibt nur, wo der Staat nicht helfen kann.

3) Keine Sclaverey, kein Religionszwang. Aber Lehr- und Schreib- frevheit dürfen in Nothfällen beschränkt werden.

4) Ungleichheiten in Rechten zum Erwerbe können vorkommen. (Anstatt zu sagen: der Staat darf Vorzüge dieser Art geben, wäre besser gewesen zu erinnern, wie sie entstehen können, und dann schwer auf- zuheben sind, auch nachdem sie drückend wurden).

5) Vorbeugende Mafsregeln gegen schwankendes und zweifelhaftes Recht. (Vormundschaft. Curatel. Verjährung.)

6) Verbot schädlicher Verträge. (Wuchergesetze, verbotene Grade bey der Ehe, u. s. w.

7) Ergänzung mangelhafter Rechtsverhältnisse (Obligationes quasi ex contractu, ex delicto. Erbrecht. Testamente, u. s. w.)

8) Bestimmung der Ehrenrechte. Rangordnungen.

9) Anerkennung oder Aufhebung der kleinern Gesellschaften im Staate; doch ohne Verleihung eigner Gerichtsbarkeit.

[108J 10) Verpflichtungen in Ansehung der Ehe, der väterlichen Gewalt, und des Gesindes.

11) Veststellung des richterlichen Verfahrens, und

12) Strafrecht wird für den Schutz des Privatlebens angeordnet. Man erkennt hierin leicht Fragmente dessen, was nach den ge- sellschaftlichen Ideen besser zu ordnen und auszuführen gewesen wäre.

Kufeland klagt, das allgemeine bürgerliche Recht sey bisher als eine überflüssige Wissenschaft fast immer blofs dem Namen nach ange- zeigt worden, weil man gelehrt habe, dafs die Staatsbürger im Staate gar keine andre als die Rechte der Menschen im Naturstande gegen einander hätten.* Keine andere, und doch weniger; das wäre reiner Verlust.

§ 87.

Gesetzt nun, das Vorstehende sey wirklich nicht blofs vorangestellt, sondern auch gehörig ausgeführt: so mufste nun noch, um den weiten Umfang des Erzwingbaren, und hiemit die Sphäre der Staatsgewalt zu bezeichnen, die Bemerkung hinzukommen, dafs die Menschen, je mehr sie das Schädliche und Nützliche kennen lernen, um desto mehr auf gemeinsame Einrichtungen dringen, und, nachdem dieselben vorhanden sind, deren Beobachtung gegenseitig von einander fodern; daher der Schutz ~> der Staatsgewalt an Ausdehnung auf mannigfaltige Verhältnisse immer zu- nimmt, indem die Gesetzgebung, jenen Foderu?igen gemä/s1 immer fort- schreitet.

[109] Nach solcher Vorbereitung waren dann die Majestätsrechte, zwar immer noch nicht vollständig begründet, aber sie waren doch vor- läufig anzugeben. Hufeland stellt sie in folgender Art auf:

* A. a. O. § 550.

II. Abschn. Analyt. Bei. d. Naturrechts. 2. Cap. Gestalt, d. Naturrechts i. d. Kant. Per. 3 8 1

A. In Rücksicht der Art wie die Staatsgewalt wirkt:

1) Das Recht der Aufsicht. Der Grad der Genauigkeit ist nach der Möglichkeit des Schadens, der bey der Unterlassung der Vorkehrungen entstehen könnte, abzumessen. Die Aufsicht über Gesellschaften darf genauer seyn als über Einzelne, weil jene mehr schaden können. Es hat aber Jeder das Recht, Handlungen geheim zu halten, die Niemandes Rechte kränken. Das Staatsoberhaupt darf nur dann, wenn es daraus Gefahr besorgt, die Entdeckung fodern, ist aber zum Ersatz verbunden, •wenn es einen Irrthum einsieht.

2) Das Recht der Gesetzgebung. Die Gesetze verbinden alle Unter- thanen in gleicher Lage auf gleiche Weise. Der Regent als solcher ist an die positiven Privatgesetze nicht gebunden; (natürlich weil er nicht mit den Unterthanen in gleicher Lage ist.) Hieher gehört Bestätigung der Gewohnheiten, Auslegung vorhandener Gesetze; Abänderungen, Gränz- bestimmungen, Ausnahmen, Ersatz für aufgehobene Privilegien; Promul- gation. „Jedes Gesetz mufs so beschaffen seyn, dafs a) jeder Bürger sich dasselbe durch seine eigne Willkühr auflegen könnte und dürfte; b) dafs eine allgemeine Einwilligung aller einzelnen Bürger dazu physisch und moralisch möglich ist."

3) Das Recht der Beurtheilung; und

4) Das Recht der Vollstreckung, in welchem das Recht des Be- fehlens enthalten ist.

[110] B. In Rücksicht der Mittel, welche der Staat anwendet.

1) Das Recht, den Staat als Ganzes vorzustellen; ins repraesentationis. Dahin gehört das Recht der Aufnahme neuer Bürger.

2) Das Recht, Ämter und Beamte anzuordnen. Der Beamte wird instruirt, und mit ihm ein Vertrag geschlossen.

3) Das Recht der Zwangsanstalten und der Militärgewalt. Dahin gehört das Recht der Heeresfolge [ius sequelae armatae)

4) Cameral- uud Finanzgewalt. Besteuerungsrecht, Finanzverwaltung, Patrimonium reipublicae, ius circa adcspota. Dominium emmens.

C. In Rücksicht auf die verschiedenen Theile des Staatszwecks.

1) Äufsere Hoheit. Recht des Kriegs, Friedens, der Bündnisse und Gesandschaften.

2) Innere Hoheit. Das Recht der Justiz in Bezug auf Gesetze und Gerichtshöfe. Dahin Civiljustiz nebst dem Rechte der Vormundschaft, und Criminaljustiz sammt den Rechten zu untersuchen, die Strafen zu vollziehen, oder zu begnadigen. Ferner das Recht der Polizey, sowohl der höhern (die auf den ganzen Staat wirkt), als der niedern (in einzelnen Ortschaften und Gesellschaften); und sowohl abwehrend (Sicherheitspolizey) als fördernd (in Bezug auf Menschen und auf Sachen).

Über einige dieser Majestätsrechte wird unten 112) eine An- merkung folgen.

§ 88.

[111] Es kommen noch zwey Puncte hinzu:

1) Die Unterscheidung der wesentlichen und zufälligen Majestäts- rechte, welche jedoch ziemlich schwankend erscheint; und

■jg2 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

2) Das Majestätsrecht über Religions- Angelegenheiten, ins circa Sacra. Hieher gehört

a) Das Recht der Aufsicht.

b) Das ins reformandi, welches bestimmte Arten des Gottesdienstes erlaubt, beschränkt, verbietet.

c) Das Schutzrecht über die Kirche, tutela et advocatia ecclesiastica.

d) Das Recht des Befehls.

e) Die Finanzgewalt und das Obereigenthum.

§ 89.

Vorausgesetzt nun, die sämmtlichen Majestätsrechte seyen bestimmt, das Privatleben zu schützen; und dies eben sey der Sinn des Unter- werfungsvertrags: so beruht der Staat auf der Heilighaltung desselben; und es möchte alsdann wohl überflüssig seyn, noch von Rechten der Unterthanen als solchen zu reden ; zudem wenn schon ihre Stellung durch das allgemeine bürgerliche Recht 86) ist bezeichnet worden.

Gleichwohl hat Hufeland ein Capitel unter dieser Überschrift. Natürlich werden hier die vollkommnen Rechte fast bis zum Unbedeutenden beschränkt;* daneben aber ist die Rede von un vollkommnen Rechten, [112] welche nach frühern Erklärungen** nur Rechte etwas willkührlich zu begehren (nicht zu thun) bedeuten sollen. Also wenn die Rechte der Unterthanen gegen den Oberherrn in Frage kommen, dürfen sie ihr Be- gehren äufsern; das heifst ohne Zweifel, sie haben ein Recht, gehört zu werden und Bescheid zu empfangen. Treibt man die Frage weiter, so ist offenbar, dafs man an das berühmte Problem von der besten Ver- fassung stofsen mufs.

Um indessen die Schwierigkeit nicht gröfser scheinen zu lassen, als sie wirklich ist: so wäre leicht gewesen, oben bey Erwähnung der Be- amten zu bemerken, dafs Viele derselben nicht blofs Instructionen zu be- folgen, sondern grofsentheils aus eigner Einsicht und Überzeugung (z. B. die Richter) zu handein haben; und dafs, je gröfser der Staat, um desto weniger die Oberherrn oder der Regent mit Privatpersonen unmittelbar in Verbindung kommen. Erlaubt man sich nun mit Rücksicht auf das Übliche den Zusatz: dafs die höhern Beamten den Namen der Räthe zu führen pflegen, so vermindert sich die Furcht vor der Willkühr der Staats- gewalt durch den Blick auf die Unterordnung der niedern Beamten unter höhere, und einzelner Fehlgriffe unter eine Beurtheilung von vielen Seiten.

Ist man damit im Naturrechte noch nicht zufrieden: so beginnen dessen Gränzstreitigkeiten mit der Politik, auf welche Hufeland wegen der Regierungsformen verweiset. Doch hat er den Satz: Jedes Volk hat Freyheit, eine Regierungsform zu erwählen. Jede (fügt er [113] hinzu) ist rechtmäfsig, die durch Einwilligung Aller, welche dadurch Rechte und Verbindlichkeiten erhalten sollen, vestgesetzt ist, und deren Bestimmungen nicht die Gränze eines Vertrags überschreiten, (nämlich nichts Unmög-

* A. a. O. § 523 in der Anmerkung; und § 524. Kant sagt geradezu: der Herrscher im Staate hat gegen den Unterthan lauter Rechte und keine Zwangspflichten Rechtslehre S. 204.

** A. a. O. § 73 und § 113.

II.Abschn. Analyt.Bel. d.Naturrechts. 2.Cap. Gestalt, d. Naturrechts i. d. Kant. Per. 38^

liches und nichts sittlich Verbotenes enthalten). Da er nun keine voll- kommne Pflicht der Minorität, der Mehrzahl der Stimmen nachzugeben, einräumen will,* so hat er die Umänderungen der Regierungsform ge- wifs hinreichend erschwert; und jene Sätze verlieren ihre praktische Be- deutung.

§ 90.

Ein Volk, (der Staat aus dem Gesichtspuncte eines Fremden), lebt im Naturstande; und der Grundsatz des Völkerrechts lautet so:

Jedes Volk hat das Recht, seine und Andrer vollkommne Rechte durch Zwang zu erhallen.**

Nach dieser Grundlegung wird 1) von ursprünglichen, 2) von er- worbenen Rechten, 3) von der Art zu verletzen, 4) von der Art zu schützen gehandelt.***

Charakteristisch sind die Behauptungen: jedes Volk sey nur durch willkührliche Vereinigung entstanden; und: das Volk, als eine Verbindung betrachtet, sev nur ein Mittel zum gebotenen Zwecke der einzelnen Menschen, f

Der erste dieser Sätze offenbart die gewaltsamste naturrechtliche Ab- straction. Der zweyte zeigt, wie weit [114] die Betrachtung der Gesell- schaft nach praktischen Ideen, oder die Auffassung ihrer eigenthümlichen Würde, hier entfernt ist.

§ 91.

Nach der hiemit geendigten Analyse der Hauptgegenstände, welche das Naturrecht zu behandeln pflegt, schaue man zurück, um zu bemerken, wie leicht dasselbe von der anfänglich eingeschlagenen Bahn abweichen kann; und wie nöthig hier Vorsicht ist, um dem bessern Geiste, welcher diesen Gegenständen angehört, treu zu bleiben.

Das Volk, (hiefs es), sey nur Mittel zum gebotenen Zwecke der Einzelnen. 90). Damit stimmt zusammen, dafs der Staat das einzige hinreichende Mittel sey, um die Übel der Gesellschaft abzuwenden, und die Vortheile derselben zu erhalten. 85). Was aber ist der gebotene Zweck? Die Frage ist um desto bedenklicher, da gleich Anfangs die Rechte als Güter erscheinen 79); denn anstatt von dem Rechte, was über Allen schwebt, wurde gesprochen von den Rechten, welche Dieser und Jener habe. Es sollte aber von dem Sittengesetze nach Kant ausgegangen werden, welches jedem Eudämonismus streng entgegensteht. 47). Würde nun auf jene Frage blois geantwortet, der gebotene Zweck sey Erhaltung der vollkommenen Rechte, so würden die Rechte, welche Güter sind, uns in den Eudämonismus zurückwerfen, ff

Angenommen jedoch, dieser Ausdruck sey nicht so buchstäblich zu nehmen: .so fragt sich weiter: welches [115] sind diejenigen Rechte oder Güter, die als Bedingungen des sittlichen Lebens nicht dürfen veräufsert

* A. a. O. § 545. ** A. a. O. § 664. 671. 674.

*** Wegen der Gegenstände, die in die gemachten Abtheilungen fallen, vergleiche man oben § 68 74.

j Hufeland § 678. 679. jj Wirklich redet Hufeland von unveräufserlichen Gütern, § 150.

584 ^' Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1 S36.

werden? Man nennt hier Freyheit des Willens, Leben, höhere Seelenkräfte, Vermögen sich überhaupt oder seine edlern Kräfte zu vervollkommnen, Religion, Gleichheit der Menschen und Freyheit der Handlungen, in sofern sie zur Ausübung der Sittlichkeit durchaus nothwendig sind* Diese Erklärung läuft im Cirkel; und wird um desto unbestimmter, da „diese letzte Be- dingung in ihrem ganzen Umfange nur von jedem Handelnden kann be- urtheilt werden, und Andre erst von ihm erfahren müssen, was Alles er dazu seiner Überzeugung nach rechnet." Es fragt sich also weiter:

1) Wie viele Menschen haben wohl darüber eine geprüfte Über- zeugung ?

2) Wieviel Wahrheit mag in solchen Überzeugungen seyn? Wie nun, wenn Einige, sich für rechtgläubig haltend, den Anblick der Ketzer ihrer Sittlichkeit nachtheilig erachten? Die Geschichte weifs von Religionskriegen zu erzählen.

3) Wie, wenn sehr Viele die Bedingungen ihrer Sittlichkeit gar nicht bedroht finden? Sollen diese gleichgültig werden gegen Volk und Staat, weil sie von unveräufserlichen Gütern, welche Schutz bedürften, nichts wissen ? Für sie bleiben dann nur Rechte zu schützen, die für sie Güter sind; und ihnen gilt das Naturrecht nur im Sinne des Eudämonismus.

§ 92.

[116] Soll über dies Alles eine ernstliche Belehrung erfolgen, so mufs das Sittliche, sammt seinen Bedingungen vollständig erwogen werden. Nennt man nun die Wissenschaft hievon Moral: so ruhet die Gültigkeit des Naturrechts auf der Moral; und durfte von ihr nicht getrennt werden.

Die eine und ungetheilte praktische Philosophie läfst diesen Schwierig- keiten keinen Raum; denn nach ihr liegt die Staatsgewalt in der nach allen praktischen Ideen bestimmten Gesellschaft, welche nicht Mittel ist, sondern eine unmittelbare Würde besitzt; so dafs eben so wohl von der Tugend der Gesellschaft, als von der Tugend des Einzelnen ein Ideal her- vortrit.

Läfst dagegen das Naturrecht sich auf den gewöhnlichen Standpunct des Privatmanns herab, so sind die Rechte Güter des Berechtigten, und Lasten für die Andern, die sich dadurch beschränkt und verpflichtet finden. Auf Verletzung folgt nun zunächst die Foderung des Ersatzes; aber die häufige Unzulänglichkeit oft Unmöglichkeit des Ersatzes ist bekannt. Also Vorbeugung, Drohung, Strafe; überhaupt Gesetze mit äufsern Triebfedern; denn dem Privatmann ist's einerley, aus welchen Motiven Jemand handele, wenn nur der rechtliche Besitz nicht geschmälert wird. So trennt sich das Naturrecht von der Moral , indem es die Foderungen des Privatmanns in allgemeinen Begriffen auffafst.

§ 93- Hiemit ist der Grund - Charakter von Kants eigner Rechtslehre so angegeben, wie er selbst ihn im [117] Anfange seines Buches angiebt. Allgemeiner wechselseitiger Zwang soll verknüpft seyn mit Jedermanns

In der Anmerkung zum § 150.

II. Abschn. Analyt Bei. d.Xaturrechts. 2.Cap. Gestalt, d. Xaturrechtsi. d. Kant. Per. 38,;

Frevheit. In der Möglichkeit dieser Verknüpfung liegt das Recht* Freye Willkühr eines Jeden soll mit der Frevheit aller Andern nach einem all- eemeinen Gesetze bestehn: aber es wird in diesem Gesetze nicht die Ge- sinnung, sondern nur das äufsere Verhältnils gefodert. Abgesehen davon, dafs Jeder sich selbst beschränken solle, sagt die Vernunft, „dafs sie in ihrer Idee hierauf eingeschränkt _sey; und dies sagt sie als ein Postulat, welches keines Beweises fähig ist."**

Analvsirt man dies, so sieht man zunächst, da(s Zwang hinzu ge- dacht ist zu dem, was er zu verhindern bestimmt ist. Und was würde denn seyn, wenn der Zwang es nicht binderte? Gewifs der Streit. Die Willkühren des Einen und des Andern würden nicht zusammen bestehen. Hätte nun Kant deutlich ausgesprochen, was er eigentlich verwirft, so würde er den Streit als das Verwerfliche bezeichnet haben. Es war nicht nöthie. so eilig sich nach dem Gegenmittel umzusehn. Er konnte es füglich erwarten, dafs auch die Streitenden sehen würden was Er sah; und es einstweilen darauf ankommen lassen, was sie selbst daraus schliefsen würden. Dadurch wäre er ganz genau in den anderwärts bezeichneten Weg gekommen,*** Um desto sicherer, da er hier keinen Beweis führen will, sondern ein Postulat aufstellt, welches, wenn das Fodern [l 1 8] daraus weggelassen wird, eine blofse Mifsbilligung, d. h. ein ästhetisches Unheil bedeutet.

§ 94-

Aber der Sprung ist geschehen; auf die Überlassu?ig, welche erfolgen und den Streit enden sollte, ist nicht gewartet; innerhalb der erzwungenen Schranken (man weifs zwar nicht wo und wie diese Schranken gezogen sind), steht nun Jeder mit seinem ,,angebornen Rechte."

Jedoch dies ist nur ein einziges, nämlich eben jene begränzte Frey- heit, sofern sie mit der Freyheit jedes Andern bestehen kann.

Der gefoderte Zwang aber fehlt noch. Von selbst ist er nicht da; man mufs ihn erst schaffen. Es mufs erlaubt seyn, Jeden Andern zum Eintritt in eine bürgerliche Verfassung hinein zu nöthigen.\

Auf diesem Wege gelangt die kantische Rechtslehre sehr schnell zum Staatsrecht; aber hier kann sie nicht stehen bleiben. Die Staaten unter einander müssen sich ebenfalls nöthigen, in Verein zu treten. Dann wird ewiger Friede seyn.

§ 95- Xun ist der ewige Friede „eine unausführbare Idee".tf Wenn er das wirklich ist (was wir dahin gestellt seyn lassen), so mufste Kant zurück schliefsen: also bleibt der Krieg, mit allen dahin zielenden An- stalten, mit aller Vermehrung der Kriegsmacht über das innere Be- dürfnis der Staaten, mit aller Verbreitung falschen Glanzes [119] und

Kants Rechtslehre § E. ** Ebendaselbst § C.

*** Praktische Philosophie, viertes Capitel des ersten Buchs. [Vgl. Bd. II vorl. Ausg. S. 364.]

f Kant a. a. O. § 8. jj A. a. O. § 61.

Herbart's Werke. X. 25

^Nn IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

böser Gewohnheiten; also kommt es nie zum Gleichgewicht des wechsel- seitigen Zwanges; mithin entsteht die Frage, was denn übrig bleibe, wenn der Plan des Zwanges aufgegeben werden mufs? Und die Antwort wäre gewesen, das Misfallen am Streit bleibt übrig.

§ 96.

Wenn nun der Streit Vielen misfällt, so kommt es noch darauf an, ob diese Vielen innerlich frev sind;* das heifst, ob sie geübt sind, ihren Willen nach ihrer Einsicht zu lenken. Gesetzt, dem sey also: als- dann wird vieler Streit vermieden werden ohne Zwang; und die zwang- lose Einhelligkeit Vieler kann eine Kraft des Zwanges gegen Einzelne übel Gesinnte ergeben. Man kann auch zu Gründen des Zwanges ge- langen; nur mufs man nicht dabey anfangen wollen.

Kant hatte das Vermögen der innern Freyheit so unbedingt be- hauptet, dafs man auf den ersten Blick sich wundern möchte, warum er denn bey der Begründung der Rechtslehre sich nicht darauf berief? Die Antwort auf diese Frage ist zweifach. Erstlich folgt wirklich nicht das Misfallen am Streit aus der Idee der innern Freyheit; auch nicht aus irgend einem andern Grunde; sondern es ist ursprünglich da, und wurde von Kant mit Recht postuli/t in dem Sinne, in welchem ein Postulat nur eine wissenschaftliche Zumuthung ist, dafs Etwas ohne Beweis solle eingeräumt werden. Zweytens aber hatte Kant durch seine Behauptung der absoluten innern Freyheit so arg wider die Erfahrung [120] ver- stofsen, dafs er es nicht mehr wagte, für äufsere Angelegenheiten darauf zu rechnen. Er war zu weit gegangen; darum liefs er sich zu weit zurücktreiben.

§ 97-

Übrigens sieht man schon, dafs der Grundgedanke bey Kant und und bey Grotius der nämliche ist; einerley Abscheu vor Krieg und Streit beseelt beyde.

Die starre Abstraction aber, worin mit so vielen Andern Hufeland eine wissenschaftliche Pünktlichkeit suchte, findet sich bey Kant nicht. „Durch einseitigen Willen kann Anderen eine Verbindlichkeit, die sie für sich sonst nicht haben würden, nicht auferlegt werden."** Also ent- steht Eigenthum nicht mit Hufeland aus der Vorstellung der Berechtigten, dafs eine Sache sein Gut sey 64), sondern mit Grotius : ?wn animi actu solo, sed paclo quodam aut expresso aut tacito 61); nur mit dem Unterschiede, dafs Kant einen nothwendig zu vereinigenden Willen Aller, der erst im bürgerlichen Zustande zur Wirklichkeit gelangt, an die Stelle jenes Vertrages setzt. Von dem Gegenstande selbst ist schon oben 64) das Nöthige bemerkt.

Aufserdem braucht wegen der Differenz gegen die gewöhnliche Meinung nur angezeigt zu werden, was dieselbe hinlänglich charakterisiert, nämlich dafs Kant die Pflicht der Monogamie und der Erziehung als

* Praktische Philosophie, erstes Capitel des ersten Buchs. [Vgl. vorl. Ausgabe Bd. II, S. 355.]

** Kant a. a. O. § 15.

H.Abschn. Analyt. Bei. d. Naturrechts. 2.Cap. Gestalt, d. Naturrechts i. d. Kant. Per. 387

naturrechtlich anerkennt; Verjährung fodert, um das dominia verum incerta facere zu vermeiden; und Testamente zuläfst, weil die hereditas iacens so- gleich ein Gegenstand der ausschliefsenden Wahl für den ernannten Erben werde. [121] Die Absicht ist klar; es soll kein Anlafs zum Streit ein- treten.

4 98.

In Fichtes Naturrecht, dessen Kritik nur in sofern hieher gehört, als sie die Analyse weiter führt, gewinnen die schon bekannten abstracten Begriffe ein neues Leben; aber eben dadurch sprengen sie die einseitig gezogenen Gränzen; es wird mehr und mehr fühlbar, dafs sich die Idee des Rechts, wo sie zur Anwendung vollständig gelangen soll, nicht von den andern praktischen Ideen absondern darf, vielmehr ohne darum ihre ursprüngliche Selbstständigkeit aufzugeben, mit allen andern in Verbindung treten mufs.

Was bedeutet ein Urrecht zu leben, ohne Lebensmittel? Woher Lebensmittel ohne Besitz des Bodens, und ohne Arbeit? Woher Ordnung und Gewinn der Arbeit, ohne Theilung der Geschaffte und der Stände? Und wie begreift man den Ursprung der allermeisten Contracte, aufser in Folge der Geschaffte?

„Alles Eigenthum, (erinnert Fichte,) gründet sich auf wechselseitige Anerkennung, und diese ist bedingt durch gegenseitige Declaration". * Schon hieraus erhellet die Ausschliefsung gänzlicher Armuth. Denn ge- wifs hat Niemand declarirt, leben zu wollen ohne Lebensmittel. Aber Fichte geht weiter.

„Leben zu können ist das absolut unveräufserliche Eigenthum aller Menschen. Es ist Jedem eine gewisse Sphäre der Objecte zugestanden worden, ausschliefsend für einen gewissen Gebrauch. Aber der allgemeinste Zweck dieses Gebrauchs ist der, leben zu können. [122] Die Erreichung dieses Zwecks ist garantirt; dies ist der Geist des Eigenthumsvertrags. Es ist Grundsatz jeder vernünftigen Staatsverfassung: Jedermann soll von seiner Arbeit leben können. Alle Einzelne haben mit allen Einzelnen den Vertrag geschlossen. Alle haben sonach Allen versprochen, dafs ihre Arbeit wirklich das Mittel zur Erreichung dieses Zweckes seyn soll: und der Staat mufs dafür Anstalten treffen. In einem Volke von Nackenden wäre das Recht, das Schneiderhandwerk zu treiben, kein Recht; oder soll es ein Recht seyn, so mufs das Volk aufhören, nackend zu gehn. Wir- gestehen dir das Recht zu, solche Arbeiten zu verfertigen, heifst zugleich: wir machen uns verbindlich, sie dir abzukaufen. Sobald Jemand von seiner Arbeit nicht leben kann, ist ihm das, was schlechthin das Seinige ist, nicht gelassen; der Vertrag ist also in Hinsicht auf ihn völlig aufgehoben und er ist von diesem Augenblick an nicht mehr rechtlich verbunden, irgend eines Menschen Eigenthum anzuerkennen".**

Man sieht hier zuvörderst die Folge des Satzes, dafs alles Recht auf Gegenseitigkeit der Überlassungen beruhe; welches soviel heilsen würde als : die geringste Verletzung von einer Seite hebt alle Verbindlichkeit

* Fichte Naturrecht, I, S. 154. ** A. a. O. II. S. 30.

2 5

•S.S IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

von der andern Seite auf. Darin liegt Drohung; und deren Ausführung gilt dem Zwange gleich. Schon oben 70, 3,) war Gelegenheit, hier- über gegen Grotius eine Erinnerung zu machen. Aus dem Satze: [123] der Streit misfällt, folgt gerade umgekehrt: um Eines Streites willen soll nicht ein zweyter entstehn; wodurch sich das Misfallen verdoppeln würde. Aber jede übereilte Annahme der, dem Rechte unmittelbar inwohnenden Befugnifs zum Zwange, wie man dergleichen durchgängig bey den Natur- rechtslehrern findet, ergiebt die falsche Folgerung, von der hier die Rede ist.

§ 99-

Fichte hat schon Anstalten vom Staate gefodert. Er spricht gleich darauf noch deutlicher: „Die executive Macht ist darüber so gut verant- wortlich, als über alle andern Zweige der Staatsverwaltung; und der Arme, es versteht sich, derjenige, der den Bürgervertrag mit geschlossen hat, hat ein absolutes Recht auf Unterstützung."

Durfte denn, wird man fragen, irgend Einer vom Bürgervertrage sich ausschliefsen? Die Antwort ergiebt sich von selbst, dafs, wenn Gegen- seitigkeit der Anerkennung allein das Eigenthum gründet, der, welcher sich ausschlösse, gar nicht in der Mitte der Übrigen könnte geduldet werden.

Aber die Hauptsache ist die Foderung an den Staat. Man sieht auf den ersten Blick, dafs der Staat, wenn er die Armen unterstützt, dies doch nur im Namen der Begüterten thun kann, da es von ihren Bey- trägen geschieht. Man sieht ferner, dafs, je mehr jene gegen diese wider deren Willen begünstigt werden, um desto mehr Unzufriedenheit besonders von Seiten Solcher entstehn wird, welche durch ihre Arbeit Vermögen erworben haben; endlich überhaupt, dafs nichts dem innern [124] Frieden gefährlicher ist, als Aufregung der Ärmern gegen die Reichern. Wenn vollends Leben mehr bedeuten soll, als: Nicht Hungers sterben, so ist keine Gränze zu finden.

§ 100.

Gegenstände dieser Art im Naturrechte berühren, heifst schon be- kennen, dafs dem Naturrecht ohne Moral keine sichere praktische Gültig- keit zukomme. Wo soviel Geduld von der einen, so viel Bereitwilligkeit von der andern Seite nöthig ist, da mufs Zuneigung die Gesinnungen be- seelen; die blofse Negation, es solle kein Streit seyn, kann die Besorgnifs, er werde dennoch entstehn, nicht beschwichtigen.

Mit Einem Worte : es ist die Gesinnung des Wohlwollens, deren man bedarf; und die Idee des Wohlwollens, an welche sich hier die Wissen- schaft stützen mufs.

Geschieht dies: so erlangt man zwar keine officielle Zusicherung, die Jedem Einzelnen könnte kund gemacht werden, er solle von seiner, ihm gestatteten Arbeit leben können ; aber im Allgemeinen wird der National- ökonomie der Weg der Untersuchung geöffnet, wie nach dem Princip der möglich-grössten Wohlfahrt des Ganzen, und jedes Einzelnen die Güter zu benutzen, die Arbeiten zu veranlassen seyen, ohne die schon bestehenden Rechte zu verletzen.

II.Abschn. Analyt. Bei. d. Naturrechts. 2.Cap. Gestalt. d.Xaturrechtsi. d. Kant. Per. 389

>< IOI.

Bey Grotius fanden Einschränkungen des Eigenthums Statt, die er daraus erklärte, dafs man bey der ersten Theilung die geringste mögliche Abweichung von der natürlichen Billigkeit voraussetzen müsse. 63). [125] Man darf sich also nicht sehr wundern, wenn bey Fichten auch Ein- schränkungen des Eigenthums vorkommen ; freylich solche, die, wenn man ihren wahren Sinn erforschen, und sie diesem gemäfs ausbilden will, auf Verwaltung fürs Gemeinwohl müssen zurückgeführt werden.

„Das Eigenthum der Objecte besitzt jeder nur in so weit, als er dessen für die Ausübung seines Geschäffts bedarf."*

Eine solche Behauptung aus dem Ausfallen am Streite ableiten, hiefse, die Ängstlichkeit wegen des Streits nicht blofs zu weit ausdehnen, sondern sie ganz verkehrt anbringen; denn gesetzt, Einer behaupte Eigenthum noch über den Bedarf seines Geschäffts, und man wolle ihm dies nach- weisen um es ihm zu nehmen und einem Andern zu geben, so würde nun eben der Streit ausbrechen, schon wegen der Schwierigkeit des Be- weises, und wegen der Ungewifsheit solcher Bedürfnisse, die möglicher Weise eintreten können.

Eben so: „Kein Müssiggänger soll in einem vernunftgemäfsen Staate sevn." Das behauptet Fichte wenige Zeilen vorher. Aber wer müssig geht, der streitet noch nicht; und wenn Andre ihn als unnützen Verzehrer anfeinden, so sind sie weit mehr als er dem Vorwurfe, Streit zu erheben, ausgesetzt.

Haben nun gleich solche Sätze sich ins Naturrecht nur verirrt: so sind sie doch nicht ohne Bedeutung. Indem ihnen aber ihre rechte Stelle soll angewiesen werden, weisen sie hin auf ein ganz anderes System [126] von Begriffen, welches mit dem Naturrecht zu einem gröfseren Ganzen gehört.

§ 102. Fichte spricht in diesem Zusammenhange über Landbau, Bergbau, Viehzucht, Jagd; über Producte, Fabricate, Handel, Geld. Es kommt also der Boden, es kommen Sachen, Arbeiten, und Geschaffte des Verkehrs in Betracht. Soll die Betrachtung dem Zwecke der wohlwollenden Ver- waltung entsprechen 100), da sie auf blofse Rechtsbegriffe nicht zu- rückgeführt werden kann 101): so mufs man zu den Sachen die Mög- lichkeit, sie zweckmäfsig zu benutzen, zu den Arbeiten und Geschafften Geschick, Kenntnifs, Übung, und hiezu wiederum Bildung und Leitung, ja endlich noch die Zusammenstellung der Menschen hinzudenken. Man mufs dies Alles nicht blofs auf zu erwerbende Güter für den Genufs, sondern auch auf Abwehr der Übel beziehn. In nördlichen Klimaten ist das Verwaltungssystem weit verwickelter, als in südlichen, wo die Natur mehr bietet und der Mensch weniger braucht. Die Natur hat die Güter und Übel vertheilt und zerstreut, ehe der Mensch austheilen und sammeln konnte. Menschliche Ansiedelungen in Städten und auf dem Lande, Un- terschiede der dichtem und dünnern Bevölkerung sind entstanden, ehe man Absichten für svstematische Verwaltung hineinlegte. Hohe und Ge-

A. a. O. II. S. 33.

390 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

ringe, Herren und Knechte rinden sich vor, eine Unterordnung der Men- schen ist gegeben, ehe man fragt, welches Geschafft einem Jeden zu- komme. Überall Schranken ; und doch überall Bewegung. Kann man die Bewegung nicht [127] genau zum Besten lenken, so mufs man sie wenigstens vom Gemeinschädlichen abzulenken suchen.

§ 103. Um zuvörderst bey bekannten naturrechtlichen Gegenständen anzu- knüpfen : müssen hier die Familienverhältnisse erwähnt werden.

1) Damit nicht der Zufall der Erbschaften ganz zweckwidrig den Unterschied des Reichthums und der Armuth steigere, fanden schon die alten Gesetzgeber Vorkehrungen nöthig. Die Grundstücke waren vertheilt; die Erbschaften sollten dieselben nicht aus einer Familie in die andere werfen; die weibliche Verwandschaft sollte keine Erbschaft begründen.* Irgend welche Vorkehrungen müssen getroffen werden.

2) Soviel auch gegen drückende Knechtschaft zu sagen ist, so mufs doch gerade weil bey uns nicht wie bey den Alten, der Wohlstand der Staatsbürger auf einem zahlreichen Haufen von Sklaven beruhet, die Be- reitwilligkeit zu dienen um desto sorgfältiger geschont werden. Dienste bleiben nothwendig; Folgsamkeit darf eben so wenig durch Vorspiegelungen dessen, was im Allgemeinen unerreichbar ist, als durch Härte und Mis- achtung geschwächt werden.

S

§ 104.

Allgemeines Wohlwollen, verbreitet unter den Staatsbürgern, ist die Grundbedingung des Verwaltungssystems.** Gäbe es kein Christenthum: so würde man [128] diese Bedingung noch weit mehr als jetzt ver- missen. Montesquieu, der Furcht, Ehre, Tugend, dem Despotismus, der Monarchie, der Republik, als die jedem eigenthümlichen Principien zu- theilte, sagt vom Christenthum : Les pri?icipes du Christianisme bien grave's dans le coeur, seroient infiniment plus fotls que ce faux honneur des mo- narchies, ces vertues humaines des re'publiques, et cette crainte servile des e'tats despotiques. ***

§ 105. Die sechsfache Abtheilung menschlicher Thätigkeit:

1) Gewinnung, Sammlung, Veredlung der rohen Naturerzeugnisse,

2) deren Bearbeitung,

3) Umsatz,

4) Erhaltung und Vervollkommnung der Kenntnisse,

5) Privatdienste,

r 6) Dienste der Beamten, f

erinnert zu allernächst daran, dafs jedem Individuum seine Arbeit ange- messen seyn mufs, um ihm als seine Thätigkeit Befriedigung zu gewähren.

* Montesquieu esprit des loix, livre 27.

** Praktische Philosophie, zehntes Capitel des ersten Buchs, am Ende. [Bd. II vorl. Ausg. S. 397.]

* Montesquieu esprit des loix, livre 24, chap. 6. Man vergleiche das ganze vierundzwanzigste Buch.

y Pölitz Staatswissenschaften II, 17.

II.Abschn. Analyt. Bei. d.Xatui rechts. 2.Cap. Gestalt, d Xaturrechts i. d. Kant. Per. ßgr

Die Menschen müssen beschäfftig-t seyn; Maschinen sollen nicht den Dienst vorwegnehmen, welcher einem Menschen das Gefühl erregen konnte, dafs er doch zu Etwas tauge.

Der Ertrag der Arbeit ist das Zweyte, was in Betracht kommt. Der seit Smith so berühmte Begriff der Theilung der Arbeit bedeutet Zu- sammenhang der [129] Arbeiter, und richtige Verbindung 1) der Natur- güter mit dem menschlichen Fleifse, 2) des Landbaues mit den Gewerben, dem Handel, und den Wissenschaften.

Völlige Freyheit der Gewerbe und des Verkehrs ist bedenklich. Den Eigennutz des Einen durch den Eigennutz des Andern zu zügeln, mag eine kluge Rechnung seyn ; aber Eigennutz und Schwindeley taugt nicht für den Geist des Verwaltungssystems, der in den Gemüthern der Volks- masse liegen mufs.

§ 106. Bildung der Nation zur Frugalität, wie bey den Spartanern, Bildung der Nation zur Sparsamkeit, wie bey den Holländern, Bildung der Nation zum Erwerbfleifse, wie bey den Engländern, mufs sich mit gehöriger Vertheilung der Kenntnisse durch die mannig- faltigen Schulen verbinden. Hier aber gränzt das Verwaltungssystem ans Cultursystem.

§ 107.

Nachdem gezeigt worden, zu welchen Erweiterungen d^s Fichtesche Naturrecht führen würde: kann in die Gränzen der gewöhnlichen Ansicht nur noch mit wenigen Bemerkungen zurückgegangen werden, deren An- wendung auf die meisten neuem Bearbeitungen dieser Disciplin sich von selbst darbieten wird.

Es ist ein häufiger und leicht einschleichender Fehler in der Form der Untersuchung, die Ordnung der Gegenstände zu verwechseln mit der Ordnung der Begriffe; derselbe Fehler, welcher in den theoretischen [130] Wissenschaften Realgründe mit Erkenntnifsgründen vermengt. So scheint den Gegenständen ganz angemessen, von den Urrechten, als den ersten und allgemeinsten, ausgehend, fortzuschreiten zu den erworbenen dinglichen Rechten, als den zunächst stehenden so wohl in Ansehung der Zeit als der Wichtigkeit; und dann erst die Verträge als nähere Bestimmungen der Lebens- Verhältnisse folgen zu lassen. Hat man sich aber in die Reihe der praktischen Ideen hineingedacht, oder auch nur dem Grotius oder Kant nachgedacht, so wird der ächte Grundbegriff, welcher dem Unrecht, und hiemit der Verursachung des Streits entgegensteht, nicht zunächst dingliche Rechte, und noch weniger Urrechte erblicken lassen. Sondern gestritten wird zunächst um irgend Etwas in der gemeinsamen Sinnenwelt der Streitenden, wäre es auch nur der jetzige Gebrauch einer Sache. Und der Vorwurf, dafs man streite, ist in persönlicher Beziehung nicht der erste Punct in der Reihe der Be- griffe. Ursprünglich liegt nur ein Misverhältnifs vor. Dies nicht zu ver- meiden, sondern im Streite fortzufahren, ist zwar schon ein persönlicher Vorwurf, wofern nicht andre Gründe hinzukommen; aber noch kein Vor- wurf des Unrechts, sondern der innern Unfreyheit; wobey es jedoch nicht

30- EC- Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

auf Einen Grund allein, sondern auf die ganze Einsicht jeder Person an- kommt. Erst nachdem irgendwie der Streit durch Überlassung, gleichviel ob von einer oder von beyden Seiten, geendigt worden, beginnt das Recht als Gegentheil des Unrechts, welches demjenigen zur Last fallen würde, der wider die geschehene Überlassung den Streit von neuem erhöbe. [131] Warum führt nun diese einfachste Betrachtung nicht gleich auf das Urrecht zu leben, gesunde Glieder zu haben u. d. gl.? Darum nicht, weil im allgemeinen Begriffe des Streits, von welchem man ausging, noch nicht die Bestimmung enthalten war, dafs vom Gegenstande des Streits der Eine ablassen könne, der Andre aber nicht.

§ 108.

Hieran knüpft sich noch eine andre Bemerkung. Die Frage, ob die Möglichkeit, ja die Leichtigkeit, den Streit zu meiden, auf beyden Seiten gleich oder ungleich sey, läfst sich schon nach dem was so eben er- innert worden, aus dem Gebiete des Rechtlichen nicht verbannen. Hat man aber einmal den Gedanken der Ungleichheit (z. B. unter Reichen und Armen) in's Auge gefafst, so begegnet nicht selten, dafs die Schwierig- keit den Streit zu vermeiden, verwechselt wird mit derjenigen Ungleich- heit, welche von der aeguitas, der Billigkeit, das Gegentheil ist.

Begriffe zu verwechseln, ist allemal wider die Wissenschaft; aber ver- schiedene Begriffe zu verbinden, ist oftmals grofser Gewinn, wo die Trennung Einseitigkeiten erzeugt hatte, die vielleicht ihrerseits wiederum die Untersuchung in eine fremde Bahn lenken.

Verfolgt man das eben erwähnte Beyspiel; so gehört die Unbillig- keit, dafs die Zugeständnisse der Armen an die Reichen nicht gegen- seitig gleich vergolten werden, nicht in die reine Rechtslehre; sondern diese läfst nur die Gefahr des Streits erblicken, welcher durch Hunger, durch Noth aller Art könnte herbeygeführt werden. Dann läuft aber die Betrachtung dieser Ge-[i32~|fahr weiter fort. Auch von der andern Seite ist Gefahr, und zwar nicht blofs vom Widerstände der Reichen, sondern von Largitionen der Reichsten an die Armen, wobey der Mittel- stand das Opfer werden würde. So geräth man in historisch-politische Be- trachtungen, zu welchen die reine Rechtslehre, obgleich sie der vor- beugenden Maafsregeln erwähnen muis, doch eben so wenig übergehn wollte als zur Moral.

Erste Anmerkung zum zweyten Abschnitte;

vom Strafrechte.

Ein Hauptgegenstand ist im Vorigen übergangen worden, theils um den Zusammenhang des Verwaltungssystems mit der Rechtsgesellschaft ins Licht treten zu lassen, theils weil dem Strafrecht eine eigene historische Zusammenstellung der Meinungen gebührt, wovon jetzt eine kurze Probe folgen soll. In den naturrechtlichen Schriften findet dasselbe seinen Platz, weil es nur von der Staatsgewalt kann ausgeübt werden; allein die natur-

II.Abschn. Analyt. Bei. d. Naturrechts. 2.Cap. Gestalt. d.Xaturrechtsi. d. Kant. Per. ^95

rechtliche Behandlung desselben leidet an unvermeidlicher Einseitigkeit. Zuvörderst mag erinnert werden an das oben 62) gelegentlich Be- merkte, dafs absichtliches Wehethun duich erkünstelte Noth auch dann Strafe verdient, wenn es Niemandes Rechte kränkt. Hierin zeigt sich die vom Recht unabhängige Idee der Billigkeit. Man könnte dabey die Frage erheben: ob es nicht oftmals nothwendig sey, wehe zu thun, um wohl zu thun: wie man Unkraut ausreifsen mufs wo gutes Gewächs ge- deihen soll. Die Antwort ist sehr [133] leicht diese: das absicht- liche Wehethun verdient Strafe und das absichtliche Wohlthun ver- dient Lohn; beydes hebt sich auf im Falle der Gleichheit; das Übergewicht des Wohlthuns erst ist verdienstlich. Darauf hat zu achten wer Wohl aus Wehe erzeugen will; auch wo er nicht Rechte kränkt, die ihm ein solches Verfahren verbieten würden.

Grotius hat das Strafrecht sehr sorgfältig behandelt.* Die wesent- lichsten Fragepuncte kommen bey ihm gleich Anfangs in richtiger Ordnung zur Sprache. Inter ea quae natura ipsa die tat licita esse et non iuiqua, est hoc, ui qui ?nale fecit, malum /erat. Poenae, quae proprie ita nominatur, Iwc inest, ut delicto reddatur. Weiterhin : qui pumt, ut rede puniat, ins habere debet ad puniendum : mit dem nicht ganz genauen Zusätze: quod ins ex delicto nocentis nascitur ; aber verbessernd: qui deliquii, sua voluntate se videtur obligasse poena, quia crimen grave non polest non esse punibile. Dann noch ferner die höchst nöthige Bestimmung: Sed huius iuris subieetum (id est : cui ius debelurj, per natu/am ipsatn determinatum non est ; dietat enim ratio, maleficum posse puniri, non autem quis punire debeat. Hiemit hängt eine spätere Zurückweisung Derer zusammen, welche das Strafrecht auf die Gränzen der Jurisdiction und auf Schutz der Unterthanen beschränken. Die Staatsgewalten strafen, non proprie qua aliis imperant, sed qua nemini parent.** (Eigentlich wiefern sie geeignet sind, einen von der Individuali- tät unabhängigen, nur von der Idee geleiteten Willen darzu-[i34]stellen.) Der Schuldige kann dagegen vom Gleich-Schuldigen nicht gestraft werden (weil die Auctorität der Idee in ihm aufgehoben ist).

Erst nachdem diese nothwendige Grundlage vor Augen liegt, folgt die : altera quaestio de fine poenis proposito. Nam quae diximus hactenus, id duntaxat ostendunt, nocentibus iniutiam non fieri, si puniantur. Inde vero non sequitur, omnino punieiidos : neque id verum est : poena non irascitur, sed cavet. Liquet, ab homine hominem non rede puniri tantum puniendi causa ;*' quae igitur utilitates reetam faciant poena m. videamtis. Und nun hütet sich Grotius wohl, etwa nur einen einzigen Zweck der Strafe aufzustellen, welches die richtig eingeleitete Untersuchung sogleich würde verdorben haben.

Subtilius ista examinanda sunt. Diccmus eigo, in poenis respici aut utiiitatem eius qui peccarit, aut eins, cuius inlererat, non peccatum esse, aut iudistinete quorumlibet . Ad horum triam finium primum pertinet poena, quae hoc agit , ut cum qui peceavit reddat meliorem. Diese Strafe hat enge

* De iure b. et p. Hb. II, cap . 20. ** /. c. § XL. *** Zu vergleichen prakt. Philos. 1. Buch, 9. Cap.- [Vgl. Bd. II vorl. Ausg. S. 392.]

ßg_i IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

Gränzen. Die zweyte, für den Beschädigten, sorgt, ne posthac tale quid patiatur, aut ab eodem, aut ab aliis. Ne qui laesus est, ab eodem malum patiatur, iribtts modis cutari potest: primum, si tollatur qui deliquit^ deinde si vires nocendi ei adimantur, postremo si mala suo dedoceaiur Uelinquete, quod cum emendatione de qua iam egimus, coniunctum est. Ne ab aliis laedatur gut laesus es/, punitione non quavis sed aperta et conspicua, quae ad exe/n- plum pertinet, obtinetur. Die dritte bezweckt: ne qui uni noeuit, aliis noceat, aut ne alii impunitate illecti aliis [135] quibusvis molesti sint ; mit ähnlichen Nebenbestimmungen wie zuvor. Endlich der wichtige Zusatz: omnes fines cessate oportet, 11t poenae locus non si/. Und die Gränzbestimmung: actus inere interni, eliainsi ad no/iliam aliorum perveniant, puniri ab ho/11 iuib/is non possufit. Id tarnen non obstat quo minus actus interni, quatenus in ex- ter/ios influunt% in aestimationem veniant non sui propiie sed acutum ex/er- noru/n, qui inde n/eiiti sui aeeipiunt qualitatem. Ob Grotius hier den Unterschied zwischen Absicht als Ursache der sträflichen That, und Moralität dieser Absicht selbst (welche letztere, für sich betrachtet, keines- wegs in die Berechnung der Straffälligkeit hineingehört) scharf gefafst habe, mag zweifelhaft seyn. Verwechselungen in diesem Puncte sind so häufig, dafs man von ihm wohl eine ausführliche Auseinandersetzung hierüber erwarten könnte; dergleichen übrigens nach genauer Bestimmung der Idee der Billigkeit nicht mehr nöthig ist. Nahe genug kommt er etwas weiter hin dem wesentlichen Puncte, indem er sagt: puniendi non sunt actus oppositi viriutibus, quarum natura coactionem omnem repudiat. in quo geneie sunt mise/icordia , liberaiitas, gratiae relatio. Tugenden, worauf die Idee der Billigkeit (in ihrer ursprünglichen Gestalt), nicht pafst, daher auch auf ihre Gegentheile nicht der Begriff der Strafe.

Auch die Frage von Strafen vor oder nach dem Gesetz bleibt bey Grotius nicht unberührt. Er kommt darauf, indem er den Stoischen Satz: der Weise dürfe nicht verzeihen, zurückweiset. Poena potest esse non debita, sed licita tantu/n. Atqite id verum esse potest tum ante legem poenalem, tum post cam positam. Naturaliter qui deliquit in eo statu est, ut puniri licite possit : sed non [136] ideo sequi////, debe/e poenam exigi: quia hoc pendei ex connexione finium cum poena. Maior diffic/tltas esse videtur post legem poenalem, quia legis auetor aliquo modo legibus suis obligatur, sed hoc diximus verum esse quatenus auetor legis ut pars civitatis speetatur, non qua civitatis ipsius persona/// atq/te auetoritatem sustinet. Causae autern liberandi a poena legis solent esse, aut intrinsecae, cum si non iniusta dura tarnen est poena ad fac- tum comparata, aut extrinsecae, ex merito al/quo aut alia re commendante, aut etiam spe magna in posterum.

Was das Maafs der Strafe anlangt: puniendus nemo ultra meriium: ~>intra meriti rnodum magis aut minus pro utilitate. Weiterhin folgt die Be- merkung, dafs dies den Gesetzgeber nicht hindere, auf Zeit und Umstände, auf Gefährlichkeit und Beyspiel Rücksicht zu nehmen (d. h. auf die Ver- pflichtungsgründe, die Ruhe und das Wohl der Gesellschaft schärfer im Auge zu behalten).

Mit diesen wahrhaft vortrefflichen Entwicklungen des Grotius ver- gleiche man nun einige neuere Proben.

Erste Einseitigkeit. Kant, in seiner Unzufriedenheit mit Beccaria,

II. Abschn. Analyt. Bei. d. Naturrechts. 2. Cap. Gestalt, d. Naturrechts i. d. Kant. Per. 395

will Bestrafung des Verbrechers nur darum, weil er verbrochen hat. So würde die Billigkeit, anstatt das begränzende Princip abzugeben, selbst die Triebfeder der Strafe: ja er treibt das vermeinte ins talionis so weit, dafs es nicht blofs die Quantität, sondern sogar die Qualität der Strafe angeben solle.* Aber Recht und Billigkeit sind zweverlev; und es giebt eben so wenig ein Recht der Vergeltung, als eine Vergeltung des Rechts, oder ein Recht des [137] Wohlwollens und ein Recht <&/- Vollkommenheit. Keine praktische Idee steht im Genitiv der andern.

Zweyte Einseitigkeit. Fichte verlangt einen Abbüfsungsvertrag, d. h. gegenseitige Nachsicht aller Staatsbürger, die es zu einer Rechtswohlthat macht, dafs man sich strafen lasse um nicht durch Verbrechen und schon durch Vergehen vogelfrey zu werden.** Das ist die Folge der falschen Lehre, dafs alles Recht gegenseitig bedingt sey, und dafs jede Verletzung des Bürgervertrags den Verlust aller Rechte des Verletzenden als Bürgers und als Menschen herbeyführe. Der Satz: es soll kein Streit sevn, sagt gerade im Gegentheil: man soll den Streit, wenn er in Einem Puncte entstand, wie ein Feuer betrachten, das gelöscht werden mufs damit es nicht um sich greife.

Diitte Einseitigkeit. Schleiermacher meint, ethisch betrachtet seyen Strafe und Belehrung Eins und dasselbe, und nur der Methode nach unterschieden; die Aufgabe sey nur, die Anwendbarkeit einer jeden zu bestimmen.*** Da ist also von Vergeltung nicht die Rede; und die Strafen werden sich sehr vermindern, [138] weil viele Verbrecher weder nach der einen noch nach der andern Methode sittlich umgeschaffen werden können, während die jetzt gewöhnlichen Strafen sich nur selten darauf einlassen, in dem Verbrecher selbst einen Zweck zu erreichen; vielmehr die öffentliche Sicherheit schon soviel Sorgfalt und soviel Aufwand erfodert, dafs die Gesellschaft sich dadurch nicht wenig belästigt findet.

Vierte Einseitigkeit. Feuerbach sucht den Rechtsgrund der Straf- drohung in der Verbindlichkeit des Staats, die Rechte Aller zu sichern; und den Zweck der Strafe in der Abschreckung Aller von Rechtsver- letzungen. Rechtliche Wiedervergeltung (meint er) reducire sich auf moralische Vergeltung.! Dabey wäre zu fragen, ob etwa die Tugend solle bezahlt, das Laster durch irgend eine Bufse aufgewogen werden? Nur zu oft verirrt sich der Begriff der Vergeltung dahin, wo gar keine Vergeltung möglich ist, wo vielmehr nur das reine Lob und der reine Tadel der

* Kants Rechtslehre, zweyten Theils erster Abschnitt. ** Fichtes Xaturrecht, zw. Th. S. 96.

*** Schleierm. Krit. d. S. zw. Buch, gegen Ende des zweyten Abschnitts. An dieser Stelle findet sich eine Anführung Kants, welcher auf die Strafwürdigkeit des Menschen vor Gott das Verbot gründen soll, dafs Keiner dürfe Strafe verhängen über den Andern. Bekannt ist jedoch, dafs gerade im Gegentheil Kants Rcchtslehre eine berühmte Stelle enthält, nach welcher sogar ein auswanderndes Volk den letzten im Ge- fängnisse befindlichen Mörder noch vorher müfste hinrichten lassen, damit die Blut- schuld nicht auf dem Volke hafte, welches auf diese Bestrafung nicht gedrungen hätte. . Wegen einiger andern Einseitigkeiten kann vorläufig Pölitz (Staatswissenschaft, erster Band, Staatsrecht § 47 u. s. f.) nachgelesen werden; womit zu vergleichen Feuerbachs Lehrb. d. peinl. Rechts § 16, 17, 18. In diesem letztern Buche findet man zugleich sehr zahlreiche literarische Nachweisungen.

>g6 IX. Analytische Beleuchtung «los Naturrechts und der Moral. 1836.

Gesinnung Platz findet. Lohn und Strafe sind äufsere Handlungen , die auf Gesinnungen nur in soweit passen, als Erfolge derselben äulserlich hervorgetreten sind. Hier aber ist denn auch wirklich die Sphäre der Strafe, und des Zwanges, welche der blofse Rechtsbegriff nicht würde ge- schaffen haben.

Die traurige Notwendigkeit, Rechte durch Zwang zu schützen, bricht sich Bahn durch alle Theorien; [139] und die Einseitigkeit, nur hierauf sehen zu wollen, ist die natürlichste von allen. Möchte man denn wenig- stens bedenken, dafs Todesstrafe und lebenslängliches Gefängnifs die seltensten Strafen sind; dafs nach jeder andern Strafe eine Zeit folgt, wo der Gestrafte in die Gesellschaft zurückkehren mufs; und dafs er nun eine neue Unsicherheit in die Gesellschaft zurückbringt, die oftmals gröfser ist als die frühere; endlich dafs sich das Quantum dieser Unsicherheit bev weitem nicht blofs nach den schon begangenen, schein entdeckten und bestraften Verbrechen schätzen läfst. Mögen also Diejenigen, welche bey der Sicherung der Rechte blofs an Abschreckung, und bey der Ab- schreckung blofs an Strafen des Staats denken, sich fragen, ob ihre Theorie fertig ist, oder ob etwan aus ihrem Princip noch etwas Weiteres folgt? Wollen sie Sichoheit durch Zwang, ohne Rücksicht auf Vergeltung, so wird ihre Theorie einen polizeylichen Umfang durch unvermeidliche Con- sequenz erlangen, wovor sie selbst erschrecken müssen.

Die Geschichte lehrt, dafs sich das ganze System der Strafen unaus- bleiblich nach den Culturstufen abändert. Früher sind die Strafen hart, aber auf wenige Klassen von Vergehungen; später mild, aber ausgedehnt und vielfach drückend.

Gegen das Ende wird noch eine Bemerkung über die Wirkung der Strafen vorkommen. 179).

[140] Zweyte Anmerkung zum zweyten Abschnitte; über die Arten der Verträge.

Verlangt man Einzelnheiten, so sind naturrechtliche Schriften von Juristen aufzusuchen, welchen sich eine grofse Mannigfaltigkeit vor- kommender Fälle weit häufiger darbietet, als den philosophischen Schrift- stellern. Mit einiger Vorsicht, bald in Bezug auf Logik, bald auf die Ideen, wird man die Darstellungen der Juristen zu benutzen haben. Nur wenige Proben mögen hier Platz finden, und zwar aus dem Naturrecht von Droste-Hülshof; einem der neuesten, und der sorgfältigsten in der genauem Zergliederung einzelner Lehren.

1) Er giebt eine Übersicht der Verträge, die er eintheilt nach drey Momenten: Gegenstand, Form, Wirkung. Es war leicht sich zu erinnern, dafs der Wirkung die Ursache gegenüber steht; alsdann hätte sich die wichtigste aller Unterscheidungen gefunden, nämlich die in willkührliche und noth wendige Verträge mit der Nebenbemerkung, dafs ein Vertrag, von verschiedenen Seiten aufgefafst, zum Theil willkührlich, zum Theil

II.Abschn. ADalyt.Bel. d.Xaturrechts. 2.Cap. Gestalt, d. Xaturrechts i. d. Kant. Per. 3 g y

mehr oder weniger noth wendig seyn kann. Sehr Vieles, was auf still- schweigende Übereinkunft, auf natürliche Erwartung, auf Motive, die Einer beym Andern voraussetzen durfte, zurückzuführen ist, fällt in eine von Droste- Hülshof selbst aufgestellte Klasse, nämlich in die der nicht förm- lichen Verträge, welche er den schriftlichen und mündlichen gegenüber stellt. Solche beruhen auf notwendigen, oder wenigstens auf so bekannten Ursachen, dafs man glaubt sich darüber nicht einmal aussprechen zu dürfen. Auf diese Weise wächst Jeder in [141] den Staat hinein, und es wird für bekannt angenommen, dafs er sich den Gesetzen desselben unterworfen hat, weil er sonst nicht würde darin bleiben können. Und aus Verträgen, die Anfangs willkührlich waren, entstehen oftmals Folgen, derentwegen ihre Fortdauer so wichtig wird, dafs auch gegenseitige Ein- willigung nicht mehr hinreicht, sie aufzuheben; so bey der Ehe. Kennt- nifs der Umstände, der Geschichte, der Natur der Dinge mufs in solchen Fällen hinzu kommen, damit der Rechtslehrer sich nicht in leeren Be- griffen des Willkührlichen auch dann noch herumtreibe, wenn schon längst Ursachen vorhanden sind, um der Willkühr, die für sich allein ins Un- gereimte fallen würde, eine bestimmte Richtung zu geben. Schwierigkeiten, welche entstehen wofern solche Ursachen sich zu spät fühlbar machen, geben Stoff zu Betrachtungen für Politik und Gesetzgebung, denen es zu- kommt, vorbeugende Einrichtungen zu treffen.

2) Die Einteilung in Rücksicht auf die Wirkung, in einseitige, zweyseitige, bedingte, entgeltliche, unentgeltliche, unbedingte, Modalverträge, ist logisch fehlerhaft, da ihre Glieder sich nicht einmal ausschlielsen, viel- weniger der Begriff der Wirkung darin vestgehalten, und weder an einen bestimmten Theilungsgrund, noch an Vollständigkeit der Glieder zu denken ist. Das mindeste, was hier mufste gesagt werden, besteht darin, dafs zweyseitige allemal bedingt sind, nämlich durch volle gegenseitige Leistung: (sonst zerfiele der Eine Vertrag in zwey einseitige;) dafs aber in allen Fällen, wo die Leistungen nicht gleichzeitig vollendet sind, etwas Ge- wagtes im Vertrage liegt, sobald wegen [142] unerwarteter Umstände ein Theil der noch unvollendeten Leistung von der einen Seite nicht voll- führt, oder von der andern nicht angenommen werden kann. Wer hat nun gewagt, und wer soll den Schaden tragen? Hier scheint zwar Der- jenige am meisten gewagt zu haben, der zuerst die Leistung vollendete. Allein mit Sicherheit wird sich schwerlich im Allgemeinen etwas Ge- nügendes vestsetzen lassen, wo nicht positive Gesetze die Auslegung des Vertrags im Voraus bestimmt haben.

3) Wenn in Ansehung des Gegenstandes die Verträge zerfallen in sachliche, persönliche, accessorische : so fragt sich zuerst, ob die accessorischen (Pfand, Bürgschaft, Conventionsstrafe, Erlassungsvertrag, Novation, Auf- hebungsvertrag, Delegation, Cession) allemal als trennbar von den Haupt- verträgen, können angesehen werden? Falls man nämlich dies annimmt: so müssen die Hauptverträge unverändert bestehen, auch wenn in An- sehung der accessorischen etwas verfehlt würde Sind aber die accessorischen Verträge untrennbare Bestimmungen der Hauptverträge, so gehört ihre Erfüllung zur vollständigen Leistung, und falls sie von einer Seite verletzt werden, ist alsdann auf der andern Seite gestattet, vom Vertrage ab-

;.,S IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

zugehen, aus dem Rechtsgrunde der nicht erfüllten Bedingung. - Man sieht, dafs hier alles darauf ankommt, die Totalität dessen zu bestimmen, was untheilbarer Gemeinwille beyder Contrahenten seyn soll.

4) Nachdem die sachlichen Verträge weiter getheilt sind in solche, die das Eigenthum selbst, und die den Gebrauch des Eigenthums be- treffen: sollen die erstem [143] zerfallen in Schenkung, Tausch, Kauf, Darlehn, Zinsvertrag, und Bücherverlag. Gerade der letzte allein wird von DROSTE-HüLSHOF ausführlicher behandelt, und zwar um gegen die gewöhnliche Meinung zu behaupten: dafs die Unrechtmäfsigkeit des Nach- drucks nicht für alle Fälle aus rechtsphilosophischen Gründen zu beweisen sey. „Wenn (sagt er) Jemand dadurch, dais er etwas thut, was für sich keine Rechtsverletzung ist, die Ursache wird, dafs ein Andrer einen Ge- winn nicht zieht, so ist dies so wenig eine Rechtsverletzung, als man rechtlich verpflichtet ist, Andern Gewinn zu verschaffen." Auch soll Kant, welcher dem Schriftsteller ein Recht beylegt, zu fodern, dafs Niemand seine Rede zum Publicum anders als in seinem Namen halte, darum den rechten Punct nicht getroffen haben, weil ja der Nachdrucker nicht für seine Erfindung ausgiebt was er nachdruckt.

Nun ist der Gewinn, welchen der Verleger durch den Nachdruck vielleicht einbüfst, eine so schwer zu bestimmende Gröfse, dafs dessen Entwendung unmittelbar einen vesten Punct der Betrachtung darzubieten nicht im Stande ist. Aber die Natur des Buchhandels ist so bekannt, dafs, wenn der Verleger in jedem verkauften Exemplar wirklich die Be- dingung, nicht nachzudrucken, ausgesprochen hätte, er nichts Neues sagen würde. Vollends jetzt, da laut genug von allen Seiten über Nachdruck geklagt worden, weifs man den Willen der Verleger, und kennt den Streit, welchen der Nachdrucker gegen die Verkaufsbedingung erhebt. Man weifs ferner, dafs der Schriftsteller anständige Bedingungen (wohin be- sonders genaue Correctur gehört), [144] mit persönlichem Vertrauen zu seinem Verleger eingeht, und dafs er nicht gesonnen ist, in der un- anständigen Gesellschaft Dessen zu erscheinen, der sich eines übel be- rüchtigten Gewerbes nicht schämt. Es möchte also wohl vergebens seyn, in einem Naturrechte den Nachdruck zu vertheidigen.

5) Die persönlichen Verträge sollen seyn: Versprechen, Dienst- vertrag, Mandat, Depositum, Gesellschaftsvertrag. Dafs auch hier die logische Feile mangelt, zeigt schon das erste Glied, da in dessen Umfang alle Verträge fallen.

Der Hauptpunct aber ist hier der Gesellschaftsvertrag, bey welchem, auf die Staatslehre vorbereitend, Droste-Hülshof schon das pactum umonis und ordinationis erwähnt, welches an sich ganz richtig ist. Allein ^die weitere Auseinandersetzung schiebt Rechte und Willen vor, wo von Zwecken und Meinungen zu reden war. Durch vereinte Kräfte gemein- schaftliche Rechte zu befördern dieser Ausdruck pafst nicht einmal auf eine Handelsgesellschaft, welche nicht Rechte, die schon vorhanden seyen, befördern, sondern Gewinn, der noch nicht da ist, erwerben will. Auch eine kirchliche Gesellschaft denkt im gemeinsamen Gottesdienste nicht an Rechte, sondern sie denkt demüthig an Gott; und eine gelehrte Gesell- schaft denkt an die Wissenschaft, die von keiner Willkühr abhängt. Jener

II.Abschn. Analyt.Bel. d. Xaturrechts. a.Cap. Gestalt, d. Naturrechts i. d.Kant. Per. -iqr>

Ausdruck aber erinnert an Rechte, die als Güter sind betrachtet worden, gemäfs der bekannten , in den Naturrechten gewöhnlichen Auffassung 91). 'Wenn nun auch dies noch nicht einen falschen Weg, sondern nur erst eine falsche Richtung der Gedanken verräth, so ist dagegen [145] bedeutender die Erklärung über den Verfassungsvertrag: er könne enthalten:

1) dafs der gemeinschaftliche Wille aller Einzelnen,

2) der Wille der Mehrheit,

3) der Wille einer bestimmten Minorität,

4) der Wille eines bestimmten Einzelnen die rechtlich möglichen Mittel für den Gesellschaftszweck wählen und anwenden, d. i. den ge- sellschaftlichen Gesammtwillen bestimmen solle. In der ersten Weise ent- scheide der wahre Gesammtwille. Das schon führt auf die Frage: ob denn in den andern Weisen nicht der wahre, sondern ein untergeschobener Gesammtwille entscheide, und hiemit die Gesellschaft ihrem wahren Wesen nach verschwunden sey? Was die zweyte Weise anlangt: so wird die Mehrheit in absolute und relative unterschieden. Es wird erinnert an die bekannte Schwierigkeit, dafs oftmals nicht blofs über Ja und Nein ab- zustimmen ist, sondern eine Menge von möglichen Entscheidungen zu- gleich vorliegt; daher es leicht begegnet, dafs diejenige, welche die meisten Stimmen für sich hat, doch immer nur eine Minorität gegen die Menge der andern unter sich getheilten Stimmen bildet. Dies nun hätte benutzt werden können und sollen, um begreiflich zu machen, dafs man, um höchst ermüdenden und zeitraubenden Berathungen zu entgehen, sich lieber geradezu einer Minorität unterwirft.* Überhaupt aber ist das Sprichwort: Wieviel [146] Köpfe, soviel Sinne, der nächste Erklärungsgrund des allgemein gefühlten Bedürfnisses, dem Angesehenen zu folgen, woraus der freywillige Gehorsam gegen die Staatsgewalt entspringt.

Aber der Hauptfehler jener Darstellung (und vieler ähnlichen) liegt in dem Begriff des pactum ordinationis. Man mag einstweilen das pactum subicctionis, was beym Staate hinzukommt, ganz und gar bey Seite setzen; man mag überdies, um vorläufig die Begriffe zu ordnen, von den prak- tischen Ideen ganz hinwegsehen; man mag demnach das pactum unionis als Sache einer ganz ungebundenen Willkühr betrachten. Nun aber ent- steht eine klare Ungereimtheit, wenn man das pactum oidinationis noch ein- mal als Werk der blofsen Willkühr, und jene Abstimmung als ein Aufsuchen des gemeinsamen Willens ansieht. Das Wollen war abgethan, indem ein gemeinsamer Zweck das pactum unionis knüpfte. Die Frage ist von jetzt an nach den Mitteln und Hindernissen, die für oder wider das Ge- wollte wirken können. Diese Mittel und Hindernisse liegen in der Natur

* Gesetzt, die Anzahlen der Stimmen für 7 vorliegende mögliche Entscheidungen seyen, von der gröfsten Zahl angefangen, nach der Folge der Buchstaben, a, b, c, d, e, f, g. Zeigt nun die erste Stimmensammlung, dafs f und g gewifs keinen Anwachs zur Mehrzahl erlangen können, so fragt sich für die zweyte Stimmensaminlung, ob nicht schon e -\- f -f- g eine Mehrzahl ergeben könne? Man mufs also, um ohne Sprung fort- zugehn, in solchem Falle zunächst über fünf Meinungen abstimmen lassen. Dies zur Andeutung der Weitläufigkeit, wohin das Aufsuchen der wahren Majorität führen kann. Ohnebin ändern sich die Meinungen während des Abstimmens.

jiH) IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

der Dinge, der vorhandenen Kräfte; es kommt darauf an !h®za erkennen. Bes'ifse Jemand eine zuverläfsige Erkenntnifs, so wäre an ein pactum ordinationis gar nicht zu denken; die Gesellschaftsglieder müfsten ihm, so gewifs sie den Zweck wollen [T47] und in sofern, als sie bereit sind denselben auch dann noch zu wollen, wenn er Opfer und Anstrengungen fodert, unbedingt Folge leisten. An die Stelle einer zuverlässigen Er- kenntnifs trit in der Wirklichkeit die Meinung. Behauptet Jeder, von den Mitteln und Hindernissen des Gesammtzwecks eben so viel zu verstehen, als jeder Andere: dann giebt es viele Meinungen, Vota, Abstimmungen; und was heraus kommt, ist weder Majorität noch Minorität des Willens, sondern der Meinung. Dies würde vollkommen klar seyn, wenn das Wollen des gesellschaftlichen Zweckes ein absolutes Wollen wäre; aber die Opfer und Anstrengungen, zu denen man sich entschliefsen soll, machen daraus ein bedingtes; und deshalb, in Verbindung mit der Abneigung, eigne Einsicht geringer zu schätzen als fremde, mischt sich wieder das Wollen ins Meinen; welches, wenn sich dies schon bey der Errichtung der Gesellschaft zeigt, ein besonderes pactum wegen der ersten Anstellungen, Geschäfftsordnungen u. s. w. ergiebt. Für die Staatslehre ist dies be- sonders deswegen wichtig, weil es erklärt, weshalb für die Staatsgewalt so nöthig ist, für den Mittelpunct der reifsten, geprüftesten Einsichten zu gelten.

[148] Dritter Abschnitt. Analytische Beleuchtung der Moral.

Erstes Capitel. Vom Umrisse der Moral.

§ 109.

Es trifft sich gerade, dafs wir von dem kurz zuvor erwähnten Ver- "waltungssystem 102 106) in der Reihe der praktischen Ideen füglich weiter gehn, und das demselben sich anschliefsende Cultursystem auch hier folgen lassen können. Denn so grofs ist die Confusion, welche aus Mangel gehöriger Unterscheidung der praktischen Ideen entstand, dafs man vielfältig von dem Puncte aus, welcher in der Ideenlehre die neunte T Stelle einnimmt, den ganzen Kreis der Moral hat beschreiben wollen.

Ragte unter den Schriften über Moral eine ältere systematische so hervor, wie des Grotius Werk in Ansehung des Naturrechts: so würde die Analyse, um aus Älterem das Neuere erklärlich darzustellen, auch die Moral nach Art des vorigen Abschnitts zu behandeln haben. Allein die Werke des Platon und Aristoteles, welche hier den Anfang der wissenschaftlichen Bearbeitung machten, sind für den jetzigen Zweck nicht systematisch genug; und die Arbeiten der Stoiker sind uns nicht

III. Abschn. Analyt. Beleuchtung der Moral, i. Cap. Vom Umrisse der Moral. 40 1

hinreichend bekannt, um von ihnen auszugehen. Dennoch können sie einigermafsen zur Stütze dienen. Schon Kant stellte Wolf und die Stoiker der-[i49]gestalt zusammen,* dafe er ihre Sittenlehren als dem Princip der Vollkommenheit angehörig bezeichnete. SCHLEIERMACHER, nicht wenig Tadel über Kant ergiefsend, dafs er nicht habe verstehen können, Vollkommenheit sey in praktischer Bedeutung etwas Anderes, als Taug- lichkeit zu allerley Endzwecken, erklärt dagegen Vollkommenheit als Voll- ständigkeit eines Dinges in seiner Art.** Hier leuchtet nun sogleich ein, dafs die Art des Dinges als bekannt mufs vorausgesetzt werden, wenn man nach diesem Begriffe Alles das beurtheilen soll, was an einem solchen Dinge zu loben und zu tadeln seyn kann. Vollständigkeit in seiner Art ist eben deshalb kein Princip, sondern ein unbestimmter Ausdruck, hinter welchem sich die Unwissenheit in Ansehung der Art des Dinges verstecken kann. Abstrahirt man dagegen ganz von der Frage nach der Art, so bleibt Vollständigkeit ein Lob in Bezug auf die vollgewordene Zahl und Größe. Fafst man hinwiederum diese Art des Lobes in ihrer ganzen Aus- dehnung: so findet sich, dafs überhaupt, wo die Beschaffenheit des Dinges bey Seite gesetzt wird, Gröfseres und Kleineres lobend und tadelnd kann verglichen werden, wie dies aus der allgemeinen praktischen Philosophie bekannt ist.

Weit hievon abgehend, zieht Schleiermacher nicht blofs die Zu- sammenstimmung des Zufälligen mit dem Wesentlichen, sondern auch die Vollkommenheit eines Kunstwerks herbey; und meint nun: hätte Kant hieran [150] gedacht, so hätte sich ihm ein eigenthümlicher und tieferer Sinn enthüllen müssen, in Beziehung auf welchen dieser Ausdruck leicht der ächteste ethische sey, weil er der Wahrheit nach unmittelbar auf den Gedanken des Ideals hinweise.

Das Ideal ist freylich nicht die ursprünglich-einfache Idee der Voll- kommenheit; wohl aber kann man das von ihr abgeleitete Cultursystem als ein Ideal ansehn.

Da nun die Stoiker, Wolf, und Schleiermacher, verschieden wie sie übrigens sind, sich doch um dieses Ideal herum gruppiren, so läfst sich annehmen, dafs sie Alle, und mit ihnen vielleicht die Mehrzahl der Moralisten, den in seiner Art vollständigen Menschen als den sittlichen betrachteten, natürlich mit dem Vorbehalt, eine Gesammtheit von Menschen an die Stelle zu setzen, wenn sich finden möchte, dafs der Einzelne alle- mal unvollständig bleiben werde.

Man würde also, einer solchen Ansicht zufolge, den Umrifs der Moral besitzen, wenn man den vollständigen Menschen zeichnen könnte.

§ ho. Schleiermachers Meinung, dafs nur die Gesammtheit des mensch- lichen Geschlechts der wahre und eigentliche Ort des höchsten Gutes sey, würde auch die Meinung des Cultursystems seyn, wenn das Cultur-

* Kants Kritik der praktischen Vernunft § 8, Anmerkung 2.

** SCHLEIERMACHER Kritik der Sittenlehre; erstes Pluch, erster Abschnitt, gegen die Mitte des Abschnitts.

Herdart's Werk:. X. a6

402 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

System sich einbilden dürfte, die ganze Moral zu bestimmen. Und wenn er, mit den Stoikern und mit Fichten sich cntzweyend (wegen der, ihm n Schuld gegebenen, l!eschr;"mkung eines Naturtriebes, von welchem sie doch den Anlauf zur Thätigkeit erwarteten), - - eine [151] lebendige und bil- dende Kraft will, hingegen die Beschränkung von aufsen verwirft:* so hat auch dieser Gedanke seine rechte Stelle im Cultursystem ; nur mufs er folgende Bestimmung annehmen:

Wo nur die Gröfse in Betracht kommt, da erhöhet jeder Zusatz den Werth; jeder Mangel bringt Verlust am Werth. Je mehr Kraft und Regung derselben, desto besser; wo eine Thätigkeit auf fremdartigen An- trieb erfolgt, da ist der Verlust am Werthe desto gröfser, je mehr der Mensch ungern handelt. Unmittelbares Interesse ist Kraft; was für fremdes Interesse geschehn mufs, ist Last.** Da gleichwohl Mittel zu Zwecken nöthig sind, (schon im Verwaltungssystem j: so scheidet sich Nützliches vom an sich Werthvollen sowohl bey Kenntnissen als bey Übungen, welche zwiefache Eintheilung das Cultursystem zur Übersicht bringt, besonders wenn noch der Unterschied der Körper- Übungen von den Künsten hinzukommt.

§ Hl.

Denkt man sich die verschiedenen Individualitäten der Menschen einstimmend mit den Geschafften, und die Erziehung als vermittelnd und sichernd diese Einstimmung: so liefert das Cultursystem eine Zeichnung der Gesellschaft, wofern es alle Geschaffte umfafst, die zusammenwirkend ein selbstständiges Ganze ergeben. Alsdann ist die Gesellschaft um desto besser, je mehr in ihr Jeder sein Werk mit Lust treibt, und je ge-[i52] nauer Jeder mit Allen in Verbindung steht. Die Lust nämlich ist hier die Probe der Kraft; das Lob der Kraft aber darf nicht verwechselt werden mit dem Streben nach Genufs.

Hieraus ist zu verstehen, wie Schleiermacher behaupten konnte, die Ethik sey nichts Anderes als systematische Analyse des höchsten Gutes; zu welchem aber das Gesetz nicht fehlen dürfe; auch nicht der Weise; weil sonst der Inbegriff desselben als ein zufällig und äufserlich entstehendes erscheinen würde. ***

§ 112. Schleiermacher hat sich an Platon und Spinoza zugleich an- geschlossen. Jener soll nach ihm zuerst das höchste Gut des Menschen, nämlich die Ähnlichkeit mit Gott, und dann erst die Regel des Verfahrens hiezu, dieser umgekehrt zuerst das Gesetz, nämlich die Angemessenheit -j- des jedem Handeln zugehörigen Gedankens, und hieraus erst das höchste Gut, nämlich die in jeder enthaltene Erkenntnifs Gottes, gefunden haben. Was bey Platon unmittelbar, nicht erst durch Deutung, zu finden war, das ist doch noch etwas Anderes. Es ist die Idee der beseelten

* Schleiermachers Krit. d. S. a. a. O. etwas weiterhin.

* Der Begriff des Interesse ist für die Pädagogik wichtig, und kann für jetzt derselben überlassen bleiben.

*** Schleierm. a. a. O. erstes Buch, im AnfaDge des zweyten Abschnitts.

III. Abschn. Analyt. Beleuchtung der Moral, i. Cap. Vom Umrisse der Moral. 403

Gesellschaft, oder die Idee der innern Freyheit angewendet auf die Ge- sellschaft.* Dieser müssen wir deshalb hier erwähnen, weil sie auf an- dere Weise als das Cultursystem, den Umrifs der Moral zeichnet. Denn während das Cultur-[i53]system nach Fächern der Kraftäufserungen und der Virtuositäten zerfällt, setzt sich die beseelte Gesellschaft zunächst aus den Systemen des Rechts, des Lohns, der Verwaltung und Cultur zu- sammen. Fragt man weiter nach der Ausdehnung auf gegebenem Boden, welche jedes dieser Systeme sich schaffen soll, so erfolgen verschiedene Antworten. Rechts- und Lohnsystem wehren dem Streit, wo er zu be- sorgen ist; das Verwaltungssystem umfafst Güter und Übel, wo, um sie zu erreichen und zu beseitigen, gemeinsame Thätigkeit nöthig ist; das Cultursvstem geht vorzugsweise den Sprachgebieten nach. Hieraus ergiebt sich, dafs die beseelte Gesellschaft nicht in veste Gränzen eingeschlossen seyn kann; daher ihr Gegensatz gegen den Staat; dem ein geographisch bestimmtes Machtgebiet zukommt.

Anmerkung.

Jetzt blicke man zurück auf die Majestätsrechte des Staats. 87.) 1) Wohin gehört das Regal der Posten,** der Landstralsen, über- haupt der öffentlichen Verbindungsmittel? Die Antwort im Sinne des Naturrechts würde lauten: zum Schutz der Rechte. Wogegen soll hier geschützt, und zwar mit Zwang geschützt werden? Etwa gegen das Un- recht, was Räuber verüben könnten? [154] Gewifs; aber aus einer so einseitigen Ansicht folgt nicht, dafs man Posten, wohl gar Schnellposten einrichten müsse; sondern es folgt nur, dafs, wenn so etwas, übrigens gleichviel ob zweckmälsig oder nicht, einmal existirt, es alsdann nicht der Plünderung Preis gegeben seyn darf. Hingegen die ursprüngliche Foderung, es solle Verbindungsmittel geben, hat mit dem Rechte nichts zu thun. Die falsche Meinung, welche es dahin zieht, hängt an Rechten als Gütern (§91 und 92); während von Gütern, im gewöhnlichen Sinne, nämlich sofern sie Wohlseyn hervorbringen, die praktische Philosophie nur in so- weit affirmative Kenntnifs nehmen darf, als sie das Wohlwollen billigt, also im Verwaltungssystem 104 u. s. w.). Die Negationen, dafs Güter keinen Streit hervorbringen sollen, und dafs, wo Vergeltung gesucht wird, keine Ungleichheit der Güter statt finden darf, würden für sich allein keine Posten und Landstrafsen hervorrufen. Aber auch das Verwaltungs- system ist nicht die eigentliche Stelle für die Mittel der Gedankenver- bindung durch Briefe, und der Reisen, wodurch Personen aus der Ferne zu einander kommen. Sondern das Cultursystem ist es, welches unmittel- bar auf Sprache gegründet, eben deshalb jede mögliche Erleichterung des schriftlichen und mündlichen Sprechens erlodert. **: Nun sind die hiezu

* Im vierten Buche der Republik.

** Pöi-ik/. (Staatsw. II. Bd. Finanzwissenschaft § 52) spricht zwar mit Andern gegen das Postregal; aber ebenderselbe hat früher (Staatswissenschaftslehre § 31) deutlich genug die Notwendigkeit gezeigt, dafs der Staat das Postwesen gestalte?! müsse; und die Finanzfrage kommt hier gar nicht in Betracht.

*** Praktische Philosophie I, n. [Vgl. vorl. Ausg. Bd. II, S. 401.]

26*

404 *X- Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1S36.

dienenden Posten und Landstrafsen zugleich die Mittel zur Fortschaflüng der Waaren; hiedurch gehören sie dem Verwaltungssystem. Und nachdem sie aus solchen Gründen schon da sind, müssen sie gegen Unrecht ge- sichert werden; also fallen sie auch noch der [155] Rechtsgesellschaft und dem Lohnsystem anheim. Fragt aber Jemand, wie denn dies Alles in Verbindung zu denken sey? so ist die Antwort: der ganzen gesellschaft- lichen Einsicht (nach allen Ideen) soll die gesellschaftliche Wirksamkeit entsprechen; mit andern Worten, der Verbindungspunkt liegt in der Idee der innern Freyheit, sofern dieselbe auf die Gesellschaft ist bezogen worden. Und von dieser eben war im vorstehenden Paragraphen die Rede.

2) Wohin gehört das Regal der Münze? Wiederum müfste im Sinne des Naturrechts geantwortet werden: in die Klasse der Anstalten, welche verhüten, dats nicht Betrug in Zahlung und Tausch den Verkehr ver- derbe. Wieder eine einseitige Ansicht! Der Betrug ist nicht das Erste, was zu fürchten wäre, wenn es keine öffentlich geprüften Münzen gäbe. Sondern die ehrlichsten Leute könnten sich irren, und schon die Furcht des Irrthums würde sie bey jedem Tausch und jeder Zahlung in Ver- legenheit setzen, wenn es darauf ankäme, die contractmäfsige Gleichheit der Werthe zu sichern.

3) Zu ganz ähnlichen Betrachtungen könnte ein sehr grofser Theil dessen, was zur Polizey gerechnet wird, veranlassen. Zu einiger Ent- schuldigung für die einseitige naturrechtliche Ansicht mag dienen , was oben 87) von dem wachsenden Schutzbedürfnifs ist gesagt worden. Allein der wohlgeordnete Staat wartet nicht mit heilsamen Einrichtungen, bis aus Mangel derselben Streit entstand, der alsdann rechtlich müfste geschlichtet werden. Er wartet nicht, bis man klagt, sondern er handelt gleich unmittelbar im Namen des öffentlichen [156] Interesse, so oft man auch in den Naturrechten die sälus populi vom Staatszwecke geschieden hat. Sein Handeln ist nicht blofs Zwingen, sondern grofsentheils Schaffen, wenigstens Helfen. Und so gebührt es sich, denn der Staat ist keine blofse Rechtsgesellschaft, eben so wenig als das Recht auf dem Zwange beruhet; und nochmals eben so wenig als irgend ein Zwangssystem kann ausgesonnen, vollends realisirt werden, welches auch nur den rechtlichen Foderungen volle Sicherheit verheifsen dürfte. Man mufs sich, um an so etwas zu denken, unwissend gegen die bekanntesten Thatsachen stellen; es ist aber genug daran zu erinnern, dafs auch unter dem Galgen ge- stohlen wird.

4) Wohin gehört das so höchst wichtige Recht der Amter, der Be- amten, ihrer Beaufsichtigung und Beförderung? Nicht alle Beamten sind

) Richter; es giebt auch Geistliche, und öffentlich verpflichtete Ärzte. Wel- chen Zwang haben diese auszuüben? Welchen Zwang die, welchen die Sorge für öffentliche Gebäude obliegt? Nicht alle solche Gebäude sind Gefängnisse; es giebt auch Kirchen, Hospitäler, Magazine u. s. w. Und es gehört viel Zwang dazu, um solche Dinge in eine Zwangstheorie hineinzu- zwingen ; für deren Beurtheilung nicht einmal das Recht die richtige An- sicht darbieten kann, und die gleichwohl dem Staate angehören.

Diese Bemerkungen brauchen nicht verlängert zu werden. Man

III. Abschn. Analyt. Beleuchtung der Moral. I. Cap. Vom Umrisse der Moral. 405

wird erwiedern, es sey noch nie dem Naturrecht eingefallen, die Politik zu verdrängen. Aber es ist ihm wohl eingefallen, unter den Majestäts- rechten auch solche aufzuzählen, deren wahren Grund es [157] nicht angab, und losgerissen von der Moral, nicht angeben konnte.

Vom Majestätsrechte, eine Rangordnung vestzusetzen, kann Gelegen- heit genommen werden, auf die Idee der beseelten Gesellschaft zurück- zublicken,* vorausgesetzt, dafs man jeden Gedanken an falschen Schein fern halte.

§ ii3-

Weil die beseelte Gesellschaft über jede bestimmte Gränze hinaus- weiset, liegt in ihr eine religiöse Tendenz. Wir sehen in Gott die Ge- meinschaft mit dem Universum.

Und da es in der Gesellschaft Jedem wichtig ist zu wissen, dafs die Andern gleiche Gesinnung hegen: so entsteht hieraus, in Verbindung mit der Neigung, sich auszusprechen, die öffentliche Bezeugung der Dankbar- keit, Demuth, Ehrfurcht gegen das höchste Wesen. Diese Öffentlichkeit des Gottesdienstes schafft sich eine weitere Sphäre als das Machtgebiet; die Kirche erstreckt sich auf gegebenem Boden weiter als der Staat.

Der Gottesdienst benutzt die Gesammtheit der Künste. Dem Unter- richt, welchen er darbietet, kommt der schon vorhandene Glaube ent- gegen, der nur bestätigt (nicht mit Streitfragen belastet) seyn will.

Mit dem Bedürfnisse, an die moralische Weltordnung zu glauben, um in sie mitwirkend hineinzupassen, verbindet der Unterricht die Glaubenspuncte (Einheit des gleichförmig Waltenden am Himmel wie in den uns bekannten Lebensformen, Persönlichkeit Gottes nach allen prak- tischen Ideen, nebst dem Positiven und Historischen), ferner die Natur- betrachtung (Erhabenheit des [158] Sternhimmels, Schönheit der Organis- men, Wohlthätigkeit ihrer Einrichtung, Künstlichkeit, welche das Wohl- thätige als absichtlich bezeichnet), endlich für die Schwäche des Menschen Trost im Unglück, Zurechtweisung des Irrenden, Aufrichtung des Reuigen.

§ 114.

Kann sich nun die Moral nicht gegen die Religionslehre abschliefsen (eben so wenig als sie von Dankbarkeit, Demuth, Ehrfurcht, überhaupt schweigen darf), so kann sie auch nicht die Staatslehre als aufserhalb ihrer Gränzen liegend betrachten.

Zwar hat Kant in seiner Tugendlehre vom Staate geschwiegen; dennoch ist nicht erst von den Späteren dieser Gegenstand in den Umiifs der Moral hineingezogen; vielmehr hat Schmid, noch ehe er sein Natur- recht schrieb, in seiner Moralphilosophie vom Staate und den dahin- gehörigen Rechtsbegriffen gesprochen.** Wollte man auch den Schutz der Rechte innerhalb des Staats als das Charakteristische des Naturrechts ansehn, so würde man eben dadurch nur die Unvollständigkeit des von der Moral abgesonderten Naturrechts eingestehn, weil das Völkerrecht ohne solchen Schutz ist, und, wenn es von der Sitte beschützt wird, gerade

* Praktische Philosophie, I, 12. [Vgl. Bd. II. S. 405 vorl. Ausgabe.] ** Karl Christian Erhard Schmids Versuch einer Moralphilosophie, § 571 u. s. w-

40Ö IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

dieser moralische Schutz die Ergänzung dessen bildet, was der Staat leistet; der in seinen auswärtigen Verhältnissen selbst keine absolute Vestigkeit besitzt; also auch nicht eine solche schaffen kann. Übrigens ist auf §20 und 27 zurückzusehen.

§ 1 15.

[159] Der Umstand aber, dafs die Moral vom Staate nicht schweigen kann, mufs besonders benutzt werden, um Schleiermachers Einseitigkeit, die ganze praktische Philosophie als Darstellung eines Cultursystems zu behandeln, vermeiden zu helfen. Denn ohne Rechtsbegrifle giebt es keine Staatslehre. Die Notwendigkeit, alle praktischen Ideen zusammen- zufassen, um gültige Resultate fürs Leben zu erhalten, mufs jetzt schon hinreichend einleuchten.

§ n6.

Die praktischen Ideen genügen jedoch für sich allein noch nicht, sondern ihre Anwendung auf den Menschen setzt Erfahrung, Geschichte, und Psychologie voraus.

Im zweyten Theile der praktischen Philosophie ist dies so stark als möglich dadurch bemerklich gemacht worden, dafs dessen erste Hälfte sich durchgehends mit den schwachen Seiten des Menschen und der Ge- sellschaft, noch vor Auseinandersetzung der Pflichten, beschäfftigt. In dieser Art von Contemplation würde man den Spinoza, der sich weit- läuftig mit den Affecten und der menschlichen Knechtschaft befafst, als Vorgänger nennen können, wenn nur einigermaafsen zu erkennen wäre, dafs ihm die Ideenlehre dabey vorgeschwebt hätte. Wo aber dem Menschen, wie er ist, die Ideen nicht gegenüber stehn, da würde das Gemälde, auch wenn es psychologisch richtig wäre (was vom Zeitalter des Spinoza nicht zu verlangen ist), doch keinen Gebrauch für die Sitten- lehre darbieten.

§ 117. [160] Merkwürdiger noch ist, dafs Spinoza, anstatt genügende Vor- schriften fürs Leben aufzusuchen, vielmehr die Contemplation dergestalt in ihren Anfang zurückführt, dafs er die Religionslehre nicht blofs zu er- reichen, sondern zu überbieten scheint. Denn während sie den Stolz der guten Werke demüthigend, die Seligkeit vom Glauben abhängig macht, setzt Spinoza, gemäfs seinem Satze: melior pars nostri est intcllectas 41), in die Stelle des Glaubens ein ganz eigentliches Wissen; daher die prak- tischen Ideen, die sich auf den Willen beziehen, dergestalt verdunkelt werden, als lohnte es sich kaum der Mühe, den Wert des Willens, welcher ran sich der geringere Theil des Menschen sey, sorgfältig zu bestimmen. Es ist aber noch nöthiger, den Stolz des Wissens, als den der guten Werke zu demüthigen. Denn die Werke kommen wenigstens als Zeichen der Gesinnung in Betracht; das eingebildete Wissen aber, welches den Herrn des Himmels und der Erde in seine Begriffe fassen möchte, ver- kennt gänzlich die Distanz zwischen sich und seinem Gegenstande.

Auch darf die Zurückweisung der guten Werke nicht so verstanden werden, als ob die Werke keiner Vorschrift und Aufsicht mehr benöthigt

III. Abschn. Analyt. Beleuchtung der Moral, i. Cap. Vom Umrisse der Moral. 407

wären. Denn das Handeln und das Wollen geht immerfort; die Con- templation kann es nicht verdrängen, und es auch nicht gegen die Gefahr schützen ins Unlöbliche zu verfallen.

§ 118. Ein Theil der eben erwähnten Erwägung menschlicher Schwäche, nämlich die Betrachtung des einzelnen [161] Menschen, findet in den Sittenlehren von gewöhnlicher Form eine andere Stelle; sie steht ganz am Ende. So bey Krug, wo in der angewandten ethischen Methodenlehre vom Hange zum Bösen und von der Bekehrung gesprochen wird. Da- gegen redet Kant am Ende der Tugendlehre von der wackern und fröhlichen Gemüthsstimmung der Tugend, unter der Voraussetzung, man sey sich keiner vorsätzlichen Übertretung bewufst. Während nun hier eigentlich die Meinungen einverstanden sind, pafst zu der Stellung am Ende besser die kantische Ermunterung, da die Moral Denjenigen, wel- cher ihr gemäfs handeln soll, nicht füglich gedrückten Muthes entlassen kann. Aber die Hauptsache ist, dafs nun die Betrachtung der natür- lichen Schwäche nicht auf die Gesellschaft und den Staat ausgedehnt wird; und doch giebt es hier eine nothwendige Nachsicht mit den Dingen wie sie sind, die leicht fehlen wird wo sie nicht gehörig motivirt ist.

§ 119-

Auf die Erwägung menschlicher Schwäche folgt in der praktischen Philosophie noch nicht unmittelbar die Auseinandersetzung der Pflicht- Verhältnisse im Leben; sondern zuvor werden die Beschäfftigungen, der gesellige Umgang, die Familie und das Dienstverhältnifs als Stützpuncte des sittlichen Daseyns zusammengefafst, deren wohlthätige Wirkung sich jedoch bey unrichtiger Behandlung in die entgegengesetzte verwandelt. Dies pafst wiederum nicht blofs auf den Einzelnen, sondern auch auf die Gesellschaft, so dafs hierauf die Philosphie der Geschichte Rücksicht zu nehmen hat.

[162] Hiemit ist Schleiermachers schon erwähnte Foderung zu vergleichen, die Idee des Weisen solle in der Ethik nicht fehlen. Der Weise aber ist nach ihm Derjenige, welcher durch stetige Fortrückung auf der Linie des Lebens das höchste Gut im Zusammenhange und ohne Abweichung vollbringt. Er bekennt nun zwar selbst, dals diese Idee zu Errichtung des ethischen Systems, welches aus einzelnen getrennten Gliedern zusammengefügt werden müsse, nicht unmittelbar zu gebrauchen sey. * Allein die getrennten Glieder sind ein Übel ; es wird dadurch die Lebens- Ansicht und deren Beurtheilung verwirrt ; und der Erfolg ist eine Gemüthsstimmung, welcher der Kantischen Foderung einer wackern Fröhlichkeit keineswegs entspricht. Das Übel wird wenigstens vermindert, wenn der Mensch alle die Verhältnisse, welche zugleich Anspruch an ihn machen, zusammenfafst, um nicht bald dahin bald dorthin getrieben zu werden, vielmehr in reifer Überlegung seine Richtung zu wählen und nach Möglichkeit zu behaupten.

* Schleiermacher Krit. d. S. 1. B. im Anfange des zweyten Abschnitts.

aoS IX- Analytische Belcuchtunj; des Naturrechts und der Moral. 1836.

§ I20. Vielleicht entdeckt sich hier ein Hauptgrund der oft vernommenen Klage, dafs die Moral auf das Leben wenig wirke. Man sucht in der Moral die logische Ordnung; indem von Pflichten des Menschen gegen sich selbst vollkommnen und unvollkommnen in Ansehung des Leibes und des Geistes, dann von Pflichten gegen Andre, Liebes- pflichten, Achtung, Berücksichtigung ihrer Zustände gehandelt wird.* Aber je [163] mehr Imperative sich solchergestalt anhäufen: desto mehr drücken sie den Menschen, den sie wegen ihrer Verbindung im Laufe des Lebens in Verlegenheit setzen. Es sucht eine andre Ordnung, um leisten zu können, was gefodert wird.

§ 121. Die nächste Folge ist : dafs, wenn die Handlungsweise sich nur un- vollkommen allen Pflichten zugleich anpassen läfst, wenigstens die Ge- sinnung gerettet werden mufs. Und dies giebt der Tugendlehre einen Vorrang vor der Aufzählung der Pflichten. Gerade umgekehrt aber wird nach alter Gewohnheit die Pflicht vorangestellt, und diese alsdann in voll- kommene Pflicht und Tugendpflicht zerlegt. Auf solchem Wege war selbst Kant schon bey der Begründung der gesamten praktischen Philosophie durch einen absoluten Imperativ.

§ 122.

Verfolgt man den Gedanken vom Vorrange der Tugend für sich ganz allein : so kann es scheinen, als hätte man das Mittel gefunden, der Moral einen vesten Umrifs anzuweisen, wodurch sie von den angränzenden Disciplinen gesondert wäre. Der Name Tugendlehre weiset auf das Innere der Person, mit Ausschliefsung der äufsern Verhältnisse. Die Pflichten würden dann nur in so weit zur Moral gehören, als der Grund der Verpflichtung in der Tugend läge.

Allein bey vielen Pflichten liegt schon der innere, und nicht etwan erst ein bürgerlicher Verpflichtungsgrund, aufserhalb des Begriffs der Tugend. Jedermann giebt zu, dafs unrechtliche Handlungen nicht blofs aus Furcht vor dem Zwange unterbleiben sollen; aber der [164] ursprüngliche Tadel derselben trifft auch nicht erst die Einheit des persönlichen Charakters, sondern er geht geradezu von der Rechtsidee aus; und auf die einzelnen Handlungen. Eben so sind Handlungen aus Schwäche, aus Feigheit, geradezu das Gegentheil dessen, was die Idee der Vollkommenheit fodert, noch ohne Frage, wie die handelnde Person beschaffen sey. Man erkennt dies am leichtesten in den Fällen, wo die Person einen Entschuldigungs- ->grund für sich hat, so dafs die an sich tadelhafte Entschliefsung nicht im Charakter, sondern zum Teil in äufsern Anlässen ihren Ursprung fand.

Tugend ist in der Reihe der sittlichen Begriffe nicht der erste, sondern er entsteht, indem die Einheit der Person zur Gesammtheit der praktischen Ideen hinzugedacht wird. Die einzelnen Ideen verstummen aber nicht durch ihre Vereinigung, sondern jede derselben behält noch immer eine

* So in Kants Tugendlehre, und ähnlich bey vielen Andern.

III. Abschn. Analyt. Beleuchtung der Moral, i. Cap. Vom Umrisse der Moral. 409

Stimme für sich allein; daher wird von verletzten Pflichten oft genug ge- redet, ohne dafs man sich um die ganze Persönlichkeit des Handelnden bekümmerte.

Das Ideal der Tugend steht so hoch, dafs man fragen kann, ob eine Moral, die im eigentlichsten Sinne nur Tugendlehre wäre, überall für den schwachen Menschen passe ? Wenige Sterbliche werden sich einer so voll- kommenen, so sehr sich unter allen Umständen gleichbleibenden Besinnung an das Ganze ihres Wollens rühmen dürfen, dafs aus vollständigem Be- wuistseyn dieses nach allen Ideen geläuterten Wollens alle ihre Hand- lungen hervorgingen.* Teilt sich aber das [165] Bewufstseyn nach einzelnen Absichten bey einzelnen Handlungen : so nähert sich schon die Gefahr einer Handlungsweise, die nicht von allen Seiten angesehen richtig seyn möchte.

Man wird also wohl darauf Verzicht thun müssen, die Moral lediglich auf den Begriff der Tugend zu gründen. Der Umkreis der Pflichten würde nicht ganz in sie hineinpassen.

§ 123. Kann man nun die Gesammtheit der praktischen Ideen nicht da- durch in ihrer Anwendung begränzen, dafs man sie blofs auf das Innere der Person bezieht: so wird man noch weniger eine andre gültige Be- gränzung finden; daher dehnt sich die Moral dergestalt aus, dafs sie sich in die ganze und ungetheilte praktische Philosophie verwandelt. Diesen Umfang wollte schon Schleiermacher; so liegt es schon in der Idee des Cultursystems ; noch gewisser also in der Gesammtheit der praktischen Ideen.

§ 124.

Hier aber erhebt sich besonders wegen der Politik eine Bedenklich- keit. Denn während positive Theologie und Jurisprudenz durch ihre ge- gebene Grundlage hinreichend von der Moral gesondert sind, kann sich die Politik nur auf solche Weise, wie die Pädagogik, von der Moral scheiden; nämlich die eine durch Berufung auf Historie, die andre auf den ihr eignen Erfahrungskreis, als auf die Grundlagen, deren sie bedürfen. Dies aber giebt keine strenge Gränzbestimmung, denn auch die Moral benutzt empirische Kenntnisse.

[166] Und doch würde man es nicht ertragen, wenn der Lehrer der Moral zugleich den Politiker spielen, wenn er etwan irgend eine Staatsver- fassung als die einzig rechtliche und sittliche anpreisen wollte. Eben so wenig aber kann jedem Moralisten, als solchem, die Erziehungslehre an- vertraut werden. Dennoch hat die Moral eine nothwendige Richtung so- wohl auf Pädagogik als auf Politik. Und dieses wufsten die Alten besser als die Neuern. Aristoteles kannte die politische Richtung; Platon nicht nur diese, sondern auch die pädagogische, wiewohl er sie der politischen zu sehr unterordnet.

* Vielleicht trifft dies den Sinn des Stoischen y.aTÖQ&oifia. Stäudlin, im Lehr- buch der Moral (1825) hat § 19 ein Paar Stellen von Stobäus und Cicero, welche hierauf passen.

410 I3L Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1830.

§ 125.

Es bleibt also nichts übrig, als die Moral in doppelter Rücksicht zu betrachten, nämlich einestheils gesondert von der Politik, anderntheils in Berührung mit derselben. Die anfängliche Sonderung aber ist schon des- wegen wichtig, damit die pädagogische Beziehung der Moral in der, ihr gebührenden, Unabhängigkeit von der politischen, deutlich hervortrete. Zwar besitzt der Staat, in Folge der gesellschaftlichen Ideen, seine eigentümliche Würde, und ist nicht blofses Mittel, eben so wenig der Veredlung der Menschen als der blofsen Sicherstellung der Rechte. Aber der Mensch versinkt auch niemals ganz in den Staatsbürger, vielmehr muls er schon veredelt in den Staat eintreten.

[167] Zweytes Capitel. Von den einzelnen Hauptpuncten der Moral.

§ 126. Stäudlin, einer der gelehrtesten Kenner der Moral, und gewifs mit allen Einzelnheiten derselben sehr vertraut, wenn er auch in den wahren Zusammenhang nicht überall eindrang, giebt in folgender Reihe die Haupt- puncte der allgemeinen Moral an:

1) Moralische Gesetze und Grundsätze.

2) Vom Guten und Bösen, und den Pflichten überhaupt.

3) Von den moralischen Beweggründen und Triebfedern.

4) Von der Freyheit.

5) Von Sünde, Laster, Affecten, Leidenschaften.

6) Von der Tugend und Besserung.

7) Von den Gütern und dem höchsten Gute.

8) Vom Gewissen.

9) Von den Mitteln zur Tugend und Besserung.

Drückte die Reihenfolge eine strenge Ableitung aus, so würde man bestimmt daraus schlielsen, dafs Stäudlins Moral in die Klasse der ur- sprünglichen Pflichtenlehren gehöre. Allein er bemerkt selbst, der Begriff der Pflicht sey zwar einer der wesentlichsten in der Moral, doch erschöpfe er sie nicht ganz.*

§ 127-

Auch mit dieser Beschränkung können wir die Anordnung der Reihe nicht gebrauchen. Stäudlin sagt [168] zwar mit Recht, bey der Sitt- lichkeit denke man sich vor Allem ein Wollen und Handeln nach vesten und bestimmten Gesetzen. Allein indem er sogleich von hier zu einem Bewulstseyn des Moralgesetzes, nach welchem sich das Gewissen richte, und wodurch wir zum Glauben an die Freyheit geleitet werden, auf kantischem Wege übergeht:** verräth sich, dafs er die richtig angefangene

* Stäudlins Lehrbuch der Moral von 1825, § 18. ** A. a. O. § 1.

III. Abschn. Analyt. Bei. d. Moral. 2, Cap. Von d. einzelnen Hauptpuncten d. Moral 411

Analyse nicht fortgesetzt hat. Bey dem Begriffe des Gesetzes durfte er nicht stehen bleiben. Er mufste sogleich den gesetzgebenden Willen unterscheiden vom gehorchenden, denn das Gesetz bezieht sich auf beyde; er mufste finden, dafs Wille ihr gemeinsames Merkmal ist, und dafs hierin der Grund des Unterschiedes zwischen beyden d. h. des Unterschiedes zwischen Befehlen und Gehorchen, nicht liegen kann, folglich mufste er zu den willenlosen Werthbestimmungen oder ästhetischen Urtheilen fort- schreiten, um den Ruhepunct der Analyse, und hiemit den Anfang der synthetischen Untersuchung zu finden, woraus sich die praktischen Ideen ergeben. Diese Untersuchung lag ihm vor Augen, aber er hat sie gänz- lich verkannt.

§ 128.

Gesetze, Pflichten, Beweggründe, gehören zwar zusammen; aber Gutes und Böses gehört nicht zu den Pflichten, sondern zur Tugend (denn es bestimmt unmittelbar den Werth der Person); Triebfedern sind nicht allemal Beweggründe, (die sich mit klarem Bewufstsein angeben lassen), Laster, Affecten, Leidenschaften gehören zu den Hindernissen der Tugend, und [169] liegen, gleich ihr, in der Person; das Wort Sünde hingegen wird mehr von Handlungen gebraucht, und gehört in dieser Bedeutung zu den Übertretungen der Pflicht; Freyheit mufste bey der Tugend er- wähnt werden; Besserung steht ganz am unrechten Orte, denn der schwache oder schlechte Mensch bessert sich, die Tugend aber ist ein Ideal; das höchste Gut mufste als Zielpunct alles pflichtmäfsigen Handelns, der Tugend als dem Anfangspuncte dieses Handelns gegenüber treten; das Gewissen aber, da es zugleich auf Gesinnungen und Handlungen geht, mufste sich der Tugend und der Pflicht gemeinschaftlich anschliefsen.

Die ganze Reihe reducirt sich hiemit auf die beyden Hauptbegriffe Tugend und Pflicht.

*ov

§ 129.

Über die Tugend sagt Stäudlin manches Treffende, ohne die Gründe anzugeben. Er sagt es, wie aus langer Kenntnifs des ihm vertrauten Gegenstandes unmittelbar geschöpft.

„Sie wird erworben. Sie läfst sich ohne Kampf nicht denken."* In der That würde selbst höheren Wesen, mit geringeren Schwächen als der irdische Mensch, die Tugend schwer seyn, wegen der Schwierigkeit, das ursprünglich-Mannigfaltige der praktischen Ideen vereinigt darzustellen und vestzuhalten.

„Sie ist etwas Zusammengesetztes und Vielseitiges, „sowohl in der Gesinnung als in der That". Aber hier fährt er unrichtig fort : ,,es giebt in so fern viele Tugenden". Gleich darauf verbessert er sich: „doch liegt in [170] ihnen Einheit und Harmonie, und es giebt nur Eine Tugend.**

Auf der Einheit, als einer Foderung an die Person, beruht das Eigenthümliche des Begriffs. Die Harmonie liegt zunächst in der innem Freyheit, als der Einstimmung zwischen Einsicht und Willen.

* A. a. O. § 43.

** A. a. O. § 44.

412 IX. Analytische Beleuchtung des Natunvchts und der Moral. 1836.

„Sie ist wahre Kraft des Geistes und Gesundheit des Gemüths, so wie das Laster Schwäche und Krankheit desselben ist".

Dieser Punct bedarf einiger Verweilung und Berichtigung.

§ 130.

Aus der Psychologie ist der Begriff der Gesundheit des Geistes be- kannt; er umfafst die Gegentheile der Geisteskrankheiten, Wahnsinn, Tob- sucht, Narrheit und Blödsinn.*

Von diesen Grundformen der Gemüthskrankheiten kann der roheste, ja der lasterhafteste Barbar sehr weit entfernt seyn; und es ist nichts als eine uneigentliche Redensart, wenn man das Laster als Geisteskrankheit beschreibt; nähme man solche Reden buchstäblich, so würden heillose Verwirrungen der Begriffe daraus folgen.

Statt dessen giebt es eine wichtige Unterscheidung der Untugend, dafs sie entweder mit der Gesundheit des Geistes besteht, oder mit Mängeln derselben verbunden ist. Im letztern Falle entspringt sie oft selbst daraus (z. B. bey Temperamentsfehlern), oder umgekehrt, sie er- zeugt jene, und dreht sich dann mit ihnen [171] im Kreise (wie bey Lüstlingen, die sich entnerven); in jedem Falle richtet sich hiernach die verschiedene Art von Sorgfalt, welche zur Abhülfe mufs angewendet werden.

§ 131-

Man halte sich nun den Unterschied der geistigen Gesundheit von der Tugend gegenwärtig, indem von den Hindernissen der Tugend zunächst das Auffallendste in Betracht gezogen wird, wogegen schon die Alten ihre häufigen Ermahnungen richteten; unter andern Cicero, besonders in den tusculanischen Untersuchungen.

Leidenschaften können zum Wahnsinn führen ; und wo sie es so- weit nicht treiben, setzen sie doch die geistige Gesundheit in Gefahr durch die häufigen Affecten, die sie erregen. Allein in so fern sind sie nur Krankheits - Ursachen. Manchmal besteht bey ihnen, in stärkern Naturen, die geistige Gesundheit. Hingegen sind sie immer, schon ihrem Wesen nach, Gegentheile der Tugend, denn sie sind Gegentheile der innern Freyheit. Zu ihnen gehört die moralische Rohheit, z. E. kalte Grausamkeit.

Affecten sind immer als Krankheitszustände, wenn schon meistens als leichte und oft ganz unbedeutende, zu betrachten. Die Reizbarkeit, welche sich in ihnen offenbart, gehört zwar an sich zur geistigen Ge- sundheit; allein die Reizung steigt, wo der Affect sich ausbildet, bis zu einer körperlichen Erschütterung. Diese nun bedarf Schonung. Der -Affect braucht Zeit, sich abzukühlen: und sie mufs ihm, wo möglich, ge- gönnt werden; sonst wächst das Übel, und kann sich einwurzeln. Ge- schieht die Abkühlung nicht alsbald, so [172] wird Erholung später desto nöthiger. Zugleich aber gehört hieher die Vorsicht, den Affect nicht absichtlich zu steigern; wozu die lyrische Poesie sehr leicht veranlafst, wenn sie mehr sympathetisch als poetisch aufgefafst wird.

Lehrbuch der Psychologie, in der Schlufsanmerkung zum zweyten Theile. [Vgl. Bd. IV, S. 359 vorl. Ausgabe.]

III. Abschn. Analyt. Bei. d. Moral. 2. Cap. Von d. einzelnen Hauptpuncten d. Moral. 413

§ 132.

Der Ruhm des stoischen Weisen, dafs ihm die Tugend zur voll- kommenen Glückseligkeit genüge, ist wider die Wahrheit. Von der einen Seite schützt die Tugend gegen gemeine Übel; von der andern aber macht sie empfindlich gegen das moralisch Schlechte, was man ansehen mufs ohne es ändern zu können. Die Tugend bedarf eines solchen Ruhmes nicht.

Wahr dagegen ist (was auch dem Spinoza mufs eingeräumt werden): necessitas ferendae conditionis humanae quasi cum Deo ptignare prohibet*

§ 133. Individualität, Alter, und Geschlecht, machen in Ansehung der Affec- ten grofse Unterschiede der Disposition und der Gefahr. Wie bey Kin- dern die Affecten sehr vorübergehend sind, so sind sie bey Männern und Frauen nicht ganz gleichartig; Jeder Einzelne hat überdies an der ihm nöthigen Wachsamkeit * eine eigenthümliche Aufgabe, welche durch Selbst- beobachtung mufs erkannt werden.

§ 134-

Diese psychologische Überlegung nun muls fortgesetzt werden, um zu verstehen, in wiefern von einer Mehrheit der Tugenden könne geredet werden. Das [173] Auffallendste ist zwar hier der Gegensatz der Tugend gegen verschiedene Laster, welche entstehen, wenn zu unbewachten Begierden Gewöhnung hinzukommt. Aber aus solchem Gegensatz fliefst nur der Unterschied der mittelbaren Tugenden von der Einen, die unmittelbar den Werth der Person ausmacht. Dahin gehört Mäfsigkeit, Ordnung, Sparsamkeit, u. s. w.

§ 135.

Im psychologischen Sinne führt schon die Verschiedenheit der prak- tischen Ideen selbst auf eine Mehrheit von Tugenden.

Ginge man von dem Grundbegriff der Tugend aus: so würde man dieselbe gar nicht eintheilen können; denn das Mannigfaltige des Inhalts eines Begriffs giebt keine Eintheilung. Nun gehört die Gesammtheit der praktischen Ideen zum Inhalte; und die Foderung der Einheit, welche auf der Einheit der Person beruht, (indem diese als Eine gelobt und ge- tadelt wird), verbietet, die Gesammtheit wieder aufzulösen.

Betrachtet man aber die Person als das Reale, worauf die Foderung sich richtet: so sieht man sogleich Folgendes:

1; Die Person muls als Naturkraft vorhanden seyn, um nach der Idee der Vollkommenheit beurtheilt werden zu können. Stumpfsinnige Menschen können eben so wenig tugendhaft seyn, als Bäume und Steine.

2) In der Gesinnung der Person mufs Wohlwollen sich vorfinden. Denn es läfst sich durch Motive nicht schaffen. Das Motiv, (wenn es ein solches gäbe) richte den Willen auf irgend einen Gegenstand A oder B; [174] sollte nun Jemand darum wohlwollend gegen eine andre Person seyn, weil er zuvor, und eigentlich. A oder B beabsichtigte, so wäre nicht

* Cic, tusc. quaest. III, cap. 25.

1 SW. Wirksamkeit . . . statt . . . Wachsamkeit.

414 '^- Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

die andre Person der unmittelbare Gegenstand seines Wollens; und der Begriff des Wohlwollens wäre aufgehoben. Das Wohlwollen kann nicht Beweggründe haben, aber es soll Triebfeder seyn, aus welcher sich Be- weggründe ableiten lassen.

Nun führt schon dies aui eine Verschiedenheit der Tugenden. Ge- setzt, man lobe an einer Person die Tapferkeit, an einer andern die Wohlthätigkeit: so ist das eine Lob sowohl als das andre ein unmittel- bares; aber keine von diesen Tugenden ist die Tugend selbst.

§ 136.

3) Rechtlichkeit und Billigkeit, als Charakterzüge, mufsten erworben werden, und zwar in Folge des Ausfallens am Streit und an unvergoltenen Thaten. Hier ist die Idee', und die Reflexion darauf, das Erzeugende des Charakterzuges, der nicht, wie in den vorigen Fällen, konnte ursprüng- lich vorhanden seyn, oder sich von selbst eingefunden haben.

4) Vollständige innere Freyheit soll nach allen jenen Ideen den Willen bestimmen. Also mufste sie zuvörderst jenes Ungleichartige, und nicht von selbst Verbundene, sammeln; sie kann also auch nicht ur- sprünglich vorhanden seyn, sondern mufste erworben werden.

Bey wirklichen Personen ist sie, wie Rechtlichkeit, Güte, Tapferkeit, eine unter mehrern Tugenden; ja sie ist oft unvollständig, und eben deshalb nicht die Tugend selbst.

[175] Wir können nun dem Sprachgebrauche nicht wehren, welcher die löblichen Seiten der Personen mit der Benennung der Tugenden belegt.

§ 137- An die Behauptung absoluter Freyheit, als ursprünglicher Eigenschaft des menschlichen Willens, hatte sich mit vielen Andern Stäudlin ge- wöhnt in der Zeit, da er der Kantischen Lehre anhing. Späterhin scheint er empfunden zu haben, dafs der kategorische Imperativ und die trans- scendentale Freyheit mit einander stehen und fallen. Wenigstens mufste ihm, als Theologen fühlbar werden, dals die lieblosen Urtheile über Andre, welche daraus hervorgehn, dieser Lehre eben so wenig zur Empfehlung dienen können, als die unbehutsamen Ansprüche an Besserung nicht blols der Einzelnen, sondern auch öffentlicher Zustände, als ob geschehen könnte was nicht geschehen kann, und häufig nicht einmal geschehen darf. Was man aber in seinem Buche findet, ist ein Versuch, dem Deter- minismus einzuräumen, dafs freye Handlungen von gewissen Seiten nicht frey seyen;* und dabey doch eine Freyheit zu behalten, die selbst wider die Gesetze des Verstandes handeln könne. Die psychologische Finsternifs, j welche sich in diesem und vielen andern zusammengehäuften Ausdrücken verräth, braucht hier nicht aufgehellt zu werden; nur eine kurze Rück- weisung auf Kant ist nöthig, noch bevor an die pädagogischen Haupt- begriffe erinnert wird, welche bey der Freyheits-[i7ö]trage, wo sie sehr nöthig sind, gewöhnlich vergessen werden.**

* Stäudlin a. a. O. § 30.

** Übrigens verweiset der Verfasser auf seine Schrift: zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens.

III. Abscbn. Analyt. Bei. d. Moral. 2. Cap. Von d. einzelnen Hauptpuncten d. Moral. 4 1 ej

§ 138. Schon oben 49) ist gezeigt worden, wie Kant auf den Gedanken eines Gesetzes kam, in welchem nichts anders als eben nur die Form einer allgemeinen Gesetzgebung enthalten wäre. Vorausgesetzt, hierin liege allein der Bestimmungsgrund des Willens: so wäre der so beschaffene, keinen andern Motiven zugängliche Wille frey. Das heifst: er stünde aufserhalb des Zusammenhangs der Ursachen und Wirkungen, nach welchem die Be- gierden des Menschen von äufsern Gegenständen angezogen oder zurück- gestofsen, die Neigungen und Gewöhnungen durch Temperament und frühere Lebenslagen bestimmt, die Meinungen von Gütern und Übeln durch Gefühle des Angenehmen und Unangenehmen erzeugt, durch fort- dauernde Erfahrungen eingeprägt und geschärft, endlich die Aufmerksamkeit geweckt, eingeschläfert, dahin und dorthin gewendet wird. Denn alles dies hält den Willen des Menschen dergestalt in Unterwürfigkeit, dafs die Fragen, wie Einer dazu gekommen sey, dies oder jenes zu wollen, sich gewöhnlich durch Angabe von Motiven beantworten lassen, denen ein sittlicher Wille sich entweder nicht hingeben sollte, oder doch nicht zu überlassen brauchte. Soll die Tugend den Willen bestimmen, so muls er, wie es scheint, nicht schon bestimmt seyn; die Tugend mufs nicht den Platz schon besetzt finden. Und dies, meinte Kant, wäre nur dann zu erreichen, wenn die Tugend selbst gar nichts von Motiven in sich auf- nähme, die wohl auch ohne sie den Willen bestimmen könnten. Vom Begriffe des Gesetzes ausgehend, sollte die Sittlichkeit sich lediglich auf die gerade Linie der Gesetzlichkeit beschränken.

Wenn nun Jemand mehr als diese blofse Form der allgemeinen Gesetzlichkeit im Begriffe der Sittlichkeit, der Pflicht, der Tugend findet: so hebt dies Mehr die Freyheit nach dem kantischen Begriffe geradezu auf; es sey übrigens was immer möchte dafür angenommen werden. Hat dieses Mehr den Willen bestimmt: so ist er dem Causalgesetze verfallen. Fiat es ihn nicht bestimmt: so ist der Wille eben1 darum unsittlich, weil es, als der Voraussetzung nach im Begriffe der Sittlichkeit enthalten, ihn hätte bestimmen sollen.

Den letzten Punct hat Stäudlin, wie es scheint, nicht gefafst. Daher verlangt er, die Freyheit solle an sich indifferent und unbestimmt, und erst, wenn sie selbst (also nicht der sittliche Antrieb) den Grund einer bestimmten Handlungsweise hervorgebracht hat, bestimmt und ent- schieden seyn.

§ 139- Die nächste, sehr ernste und nicht auf blofses Disputiren beschränkte, Folge dieser falschen Freyheitslehre ist, dafs die natürliche Kraft und das natürliche Wohlwollen, woran die wahre Tugend nie reich genug seyn kann, und welches beydes anderwärtsher zu ersetzen weder als möglich noch als zulässig zu denken ist, anstatt unter den Schutz und die Schonung der Moral gestellt, und wenigstens hiedurch gegen äufsere [178] Reibungen und gegen die Wirkung der Menschenkenntnifs vertheidigt zu werden, sich einer förmlichen Geringschätzung Preis gegeben findet; in der Ein-

1 „eben" fehlt in SYV.

416 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

büdung, tue Freyheit sey die Zauberquelle, aus welcher die Tugend fliefsen werde, wenn man auch jene natürlichen Quellen verstopfe. *

Dies verräth sich in dem, was Schleiermacher schon längst der kantischen Lehre vorwarf. Daher nämlich, weil Recht und Billigkeit allein übrig bleiben, um die Idee der innern Freyheit an ihnen zu realisiren, nachdem die Ideen der Vollkommenheit und des Wohlwollens von ihrem natürlichen Boden sind vertrieben worden, daher kam es, dafs die kantische Lehre, welche sowohl nach ihrer ersten Anlage als nach den persönlichen edeln Gesinnungen ihres Urhebers dem reinen Wohlwollen die ganze ihm gebührende Anerkennung widmen konnte, doch in der Ausführung sich nach der Seite des Rechts hinüberlehnte ; und nun dem Tadel einer juridischen Beschaffenheit, der Verwechselung des juridischen mit dem ethischen, ja gar der Verweilung auf dem mechanischen Gebiete des blofsen Rechts blois gestellt war. ** Begann hier das Verkennen, so ist kein Wunder, wenn es von diesem ersten Puncte an immer weiter um sich griff.

§ MO.

[179J Hat man eingesehen, dafs die natürliche Kraft des Menschen den ersten Factor der Tugend hergeben mufs, und dafs hierin zugleich die Bedingung aller übrigen liegt : so stöfst man leicht auf die Frage : woher kommt denn das Böse? Liegt es nicht in der Kraft: so mufs es wohl im Gegentheil, im Mangel derselben, in der Schwäche liegen. Oft genug ist die Meinung hervorgetreten, das Böse sey eine Begränzung, eine Trägheit, oder irgend eine Art von Negation. Etwas Licht fällt nun schon durch blofse Erinnerung an die praktischen Ideen auf den Gegen- stand. Schwäche ist als solche in der That gegen die Idee der Voll- kommenheit ; daneben aber steht das Übelwollen, das Unrecht, die Un- billigkeit, die innere Unfreyheit. Hieraus ergiebt sich mindestens soviel; dafs man nicht unternehmen mufs, das Böse wie mit Einem Griff zu fassen. Allein zur vollständigen Kenntnifs des Bösen gelangt man in Ansehung des Menschen erst, indem man ihn als im Leben und Handeln begriffen betrachtet ; also in der Mitte der Pflichten ; denn diese beziehn sich aufs Thun und Lassen.

§ 141-

Wiederholtes Handeln der Tugend mufs unter ähnlichen Umständen gleichförmig seyn; denn die Tugend bleibt sich gleich. Hieraus ergiebt sich der Begriff des Gesetzes; mit ihm der Begriff der Pflicht, indem der Wille in jedem einzelnen Falle der Frage anheim fällt, ob er dem Ge- setze gemäfs sey oder nicht.

Aber die Regeln des Willens können auch in ihm selbst ihren Ur- sprung haben, indem er sich unter ähn-[ 180] liehen Umständen gleich- förmig wiederholt, und hievon ein allgemeiner Begriff gebildet wird.

Dafs Kant zwischen dem Sittengesetz und dem einzelnen Wollen

* Die kantische Freyheitslehre war auf das kategorische Sollen gebaut. En ?natiere de morale, no?/s aimons spcculativement tout ce qiri porte le caractere de la severite. Montesquieu XXV. 4.

** Schleiermachers Krit. d. S. zweytes Buch erster Abschn. an mehrern Stellen.

III. Abschn. Analyt. Bei. d. Moral. 2. Cap. Von d. einzelnen Hauptpuncten d. Moral. 417

die Maximen stellte, dafs er dieselben als schon vorhanden annahm, indem er nun erst in Hinsicht ihrer die Frage aufzuwerfen gebot, ob sie zur allgemeinen Gesetzlichkeit passen oder nicht : dies wurde schon oben bemerkt. 51. 52). Wäre er von den praktischen Ideen ausgegangen, oder noch besser von ihrer Gesammtheit, von der Tugend : so würden daraus, im Sinne seiner Rechts- und Tugendlehre die drei Maximen ab- geleitet seyn :

1) Beschränke deine Freyheit so, dafs Jedes Andern Freyheit damit bestehen könne.

2) Befördere deine eigne Vollkommenheit; und

3) fremde Glückseligkeit. *

Die Art und Weise, wie er zu den beyden letztern Maximen ge- langt, indem er von Zwecken redet, die zugleich Pflichten seyen, ist so rhapsodisch, erinnert so deutlich an die Güterlehre, weicht von der Foderung, nur die gesetzgebende Form der Maximen solle Motiv des freyen Willens seyn, so offenbar ab, dafs hierauf kein Gewicht zu legen ist. Das Ganze dieser Abhandlung erscheint als ein misrathener Anhang zu den frühern Arbeiten.

Setzt man denselben bey Seite : so werden jene Maximen als schon vorhanden anzusehen seyn vor der Frage, ob sie zur allgemeinen Gesetz- gebung passen? [181] Erst nachdem die Frage bejaht worden, erlangen sie ihren Platz in der Sittenlehre.

Nun waren aber solche Maximen nicht die einzigen vorhandenen; sondern neben ihnen gab es eine Menge von Klugheitsregeln, wie etwan diese : du mufst entzueder Ambofs oder Hammer seyn. Auch sie sollen geprüft werden, ob sie allgemeine Gesetze seyn können. Halten sie die Probe nicht aus, so sind sie hiemit verworfen.

Kant ergriff also die Sittenlehre in ihrer Schwankung zum Guten oder zum Bösen, denn die Schwankung fand er vor; dergestalt, dafs ver- kehrte Maximen sich zu bevestigen suchten. 44.)

§ 142. Wenn nun Leidenschaften 131) und Laster 134) sich durch Maximen gelten machen, und in solcher Gestaltung den praktischen Ideen Trotz bieten: dann ist Böses erwachsen aus dem, was ursprünglich nur ein tadelhaftes Wollen war. Dieses Böse verdirbt die Person; es ist also ein Gegentheil der Tugend. Zugleich ist nun begreiflich, wie es als Gegensatz der Pflicht erscheinen kann; es trifft nämlich die Tugend in ihrem Übergange zum gleichförmigen, also gesetzmäfsigen Handeln, dem es eine falsche Gesetzlichkeit entgegenstellt. Keinesweges ist es eine blofse Negation; sondern Stäudlin sagt richtig: es ist etwas Positives, mit Schuld Verbundenes und Wirksames.**

§ 143-

[182] Was über die beyden letzten der von Stäudlin angegebenen Hauptpuncte 126) zu sagen. ist, mufs hier seine Stelle finden.

* Kants Tugendlehre, Einleitung IV. ** Stäudlin a. a. O. § 17.

Herbart's Werke. X. 27

)

418 IX- Analytische Beleuchtung des Xaturrechts und der Moral. 1836.

Zuvörderst erinnere man sich aus der praktischen Philosophie an den Unterschied des Sollens und Müssens.* Nicht der wirkliche Wille, sondern das Bild des Willens ist gebunden im Sollen, nämlich gebunden an das unvermeidliche Urtheil. Dies findet seine Erläuterung im Begriffe des Gewissens. Demjenigen, dem sich das Gewissen regt, dringt sich das Wissen oder das Bild seines Wollens auf; daher die Notwendigkeit, welche das Wort Pflicht ankündigt. Diese Notwendigkeit geht aller logi- schen Ausbildung der praktischen Ideen, vollends der Zusammenfassung derselben im Begriffe der Tugend voran ; und deshalb behauptet der Pflichtbegriff eine solche Priorität, dafs man sich veranlafst fand, auf ihn die Moral zu bauen, obgleich er unmittelbar eben so wenig als der Tugendbegriff zur Unterscheidung und Bestimmung der praktischen Ideen hinführt.

§ 144. Machte man nun die Pflicht zum Princip: so verfehlte man die praktischen Ideen nicht blofs einzeln, sondern auch ihre Zusammenfassung in Ein Product, mithin den Begriff der Tugend. Dennoch hatte man den Namen derselben im täglichen Reden vorgefunden. Man deutete ihn ohne Unterschied auf die Factoren der Tugend und auf die mittel- baren Tugenden, 134) [183] ja es konnte dahin kommen, dafs man Tugend üherhaupt als ein Mittel ansah, um die Pflicht zu erfüllen; und alsdann waren die Mittel zur Tugend und Besserung, (wovon Stäudlin in einem Zuge redet) nur die neuen Mittel um jenes Mittel zu erlangen.

§ 145-

Aus gemeiner Erfahrung ist bekannt, dafs die löblichen und tadelhaften Seiten der Personen erst durch längere Übung im Handeln und Ge- wöhnung an äufsere Lebens-Umstände ein mehr und mehr bestimmtes Gepräge erhalten. Die Tugend schien daher zu unbestimmt, um das Princip der Wissenschaft abzugeben. Man erklärte sie für eine Fertigkeit im Guten, einstimmig mit dem Aristoteles 7). Die Tugend wurde nach dieser Ansicht nicht Princip, sondern Folge des früheren Lebens.

Aus gemeiner Erfahrung ist aber ebenfalls bekannt, dafs, da Pflichten sich auf ein Thun und Lassen beziehn, welches Folgen hervorzubringen oder zu verhüten beabsichtigt, jede Pflichtbestimmung sich in die Frage nach der Gewifsheit oder Wahrscheinlichkeit dieser Folgen verwickelt, welche der Handelnde im Voraus zu überlegen hat. Darin liegt eine Warnung, die man nicht blofs in Ansehung des Princips der Moral, son- dern der Moral selbst in ihrer Ausführung benutzen mufs.

An diesen Umstand stiefs die Casuistik, nicht erst neuerlich, sondern schon bey den Alten. Gleich das erste Buch der Republik des Platon, ja schon der Eingang des Buchs stöfst an solche Schwierigkeit in An- sehung der Gerechtigkeit und der Wahrhaftigkeit.

§ 146. [184] Die Unsicherheit in der Bestimmung einzelner Pflichten darf nun durchaus nicht verwechselt werden mit jener Schwankung zwischen

* Praktische Philosophie in der Einleitung S. 20. [Vgl. vorl. Ausg. Bd. II, S. 338.]

III. Abschn. Analyt. Bei. d. Moral. 2. Cap. Von d. einzelnen Hauptpuncten d. Moral. 41g

den Maximen, deren einige sich gegen die praktischen Ideen auflehnen. 142.) Wohl aber muls bey dem obigen Satze: wiederholtes Handeln der Tugend müsse unter ähnlichen Umständen gleichförmig seyn, 141) überlegt werden, wie weit wohl die Ähnlichkeit der Umstände gehen möge? Genau genommen hat man zwey vollkommen gleiche Fälle eben so wenig zu erwarten, als zwey vollkommen gleiche Blätter eines Baums.

§ 147-

Um nicht im Allgemeinen die Unsicherheit gröfser erscheinen zu lassen, als sie ist: dient zuerst folgende Bemerkung.

In gewöhnlichen Fällen geht die Verantwortung wegen entfernter Folgen einer Handlung von der handelnden Person auf eine andre über. So bey der Bezahlung einer Schuld , wo der Empfänger den Gebrauch des wieder erhaltenen Geldes nach seiner Willkühr und Einsicht verfügt. Insbesondere haben dienende Personen einen engen Gesichtskreis, und was sie nicht übersehen können, mögen die beurtheilen, welche weiter hinaus schauen. Es mufs aber Jeder überlegen, wie weit ihm die Be- urtheilung zustehe, und wo die der Andern anfange.

§ 148. Ferner: viele Handlungen des Einzelnen können nicht als abge- schlossen angesehen werden, wo das Ganze [185] der Absicht von einem Gemeinwillen ausgeht. Oftmals ist Pflicht, anzufangen in Erwartung, dafs ein Andrer fortsetze; oder fortzusetzen, weil und wie ein Andrer anfing, besonders wo dem Andern nicht geziemt, weiter zu gehn, bis Jemand in sein Wirken eingreift. In andern Fällen ist Widerstand, oder doch Wider- spruch nöthig, wo Andre falsch anfingen.

§ 149- Oft kommt es darauf an, eine in der Zeit fortlaufende Wirksamkeit zu übernehmen. Hier hat man zuerst die Vertheilung der Anstrengung auf verschiedene Zeitpuncte zu überlegen. Dann die Verwickelung des Plans, und die Frage, ob man mitten im Handeln bey veränderten Um- ständen werde still stehen können. Man erlebt Dinge, die Niemand vor- hersehen konnte. Man findet in spätem Jahren sich selbst verändert. Man mufs verstehen, Meinungen und Pläne fallen zu lassen, wo sie nicht mehr passen.

1 150.

Soll die besondere Moral* sich über das Allbekannte erheben: so mufs sie sehr tief ins Einzelne gehn; daher bleibt Stäudlins Darstellung derselben bey der hier beabsichtigten Kürze unberührt; um so mehr, da solchen Gegenständen, die gewöhnlich von den Sittenlehrern einzeln ab- gehandelt werden, schon in dem synthetischen Vortrage der praktischen Philosophie wenigstens die Stelle ist bezeichnet worden, wohin sie gehören.

Dagegen wird Folgendes sich an das Vorhergehende [186] unmittel- bar anschliefsen, und zu einer Übersicht der Fichteschen Sittenlehre hinleiten.

* Stäüdlin a. a. O. § 68 u. s. w.

27

4 20 IX- Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

Die Meisten verwickeln sich in Handlungen, die sie aus allerley Rück- sichten glauben nicht unterlassen zu können. Auf diese Weise entsteht ein Scheinleben; das Handeln hört auf, die wahren Gesinnungen auszu- drücken. Die Einzelnen sind nur Etwas, so fern sie in der Masse der Andern schweben. Gegen Solche gilt Fichtes Aufruf zur Selbstständig- keit statt des Moralprincips.*

Unser Leben soll einen Werth haben. Das Unbedeutende muls be- seitigt, dem Klassischen muls abgewonnen werden was die geistige Ge- sundheit fördern kann. Die geselligen Anschliefsungen erfodern Unter- ordnung, wo wir Andre über uns sehen; eignes Wirken wo man uns er- wartet; Geduld oder Strenge nach Umständen; stets aber Begränzung des Wirkungskreises, um das Leben nicht mit Verantwortlichkeiten zu belasten, die es verzehren. Sonst können Pflichten entstehn, die kaum noch dem Gedanken an Tugend Raum lassen.

Bey Menschen von minderer Bildung mufs zunächst auf die mittel- baren Tugenden hingewirkt werden, denn ihr geistiges Daseyn ist mit ihrer Lebensführung verschmolzen. Hier gehn die Sitten den Grund- sätzen voran; oft aber fehlt es an beydem zugleich; und der bessere Mensch geräth dann leicht in Versuchung, seinen sittlichen Gedankenkreis einigermaafsen den Umständen anzupassen.

§ I51-

[187] Ohne solchen herabziehenden Einflufs hätte wohl Fichte nicht die Kirche und den Staat unter das gelehrte Publicum herab gesetzt.

„Ich betrachte (spricht er) das Symbol der Kirche als Mittel, Andre zu meiner Überzeugung allmählig zu erheben; gerade so, wie mein Handeln im Nothstaate betrachtet werden mufs, als Mittel, den Vernunft- staat herbeyzuführen. Das Symbol ist Anknüpfungspunct. Es wird nicht gelehrt, sondern von ihm aus wird gelehrt; es wird vorausgesetzt."**

Um dies zu analysiren, ist ein Blick auf das Kantische und Fichte- sche Naturrecht nöthig. Schon oben 54) wurde klar, dafs bereits Kant sich herabgelassen hatte, bey der sittlichen Gesetzgebung an die Trieb- feder des äufsern Zwanges zu denken, und dafs hierauf seine Absonderung des Naturrechts von der Moral sich gründete; ja dafs Fichte auf dem Gebiete des letztern den guten Willen entbehrlich glaubte.

Nun ist nicht zu leugnen, dafs in den Verhältnissen des täglichen Lebens der sittliche Mensch sich in die Mitte Andrer gestellt sieht, auf deren Sittlichkeit er nicht zählen kann; und dafs, wenn man diesen Um- stand nach dessen verschiedenen Abstufungen verfolgt, gerade hier die gröfsten Schwierigkeiten des sittlichen Lebens sich zu offenbaren pflegen.

Im vernunftmäfsigen Staate wenigstens sollten diese Schwierigkeiten verschwinden. Aber das verfehlen jene Beyden. Selbst ihr Vernunftstaat soll ohne guten Wil-[i88]len bestehen; welches nicht blofs für die Politik eine unmögliche Aufgabe erzeugt, sondern auch das Ideal herabdrückt.

* Fichtes Sittenlehre S. 66. ** Fichtes Sittenlehre, 3. Hauptstück, 2. Abschn. gegen das Ende.

III. Abschn. Analyt. Bei. d. Moral 2. Cap. Von d. einzelnen Hauptpuncten d. Moral. 42 l

§ 152.

Fichte findet sich in folgendem Widerspruche befangen:

„Das Sittengesetz fodert: 1) dafs ich Alles, was mich beschränkt, oder, (was dasselbe bedeutet) in meiner Sinnenwelt liegt, meinem absoluten Endzwecke unterwerfe; es zu einem Mittel mache, der absoluten Selbst- ständigkeit mich zu nähern. 2) Dafs ich Einiges, was mich doch, da es in meiner Sinnenwelt liegt, beschränkt, meinem Zwecke nicht unterwerfe, sondern es lasse wie ich es finde."* Unter letzterem werden hier die Werke Anderer, als Producte ihrer Freyheit verstanden. „Diese Producte sind ihnen Mittel zu weitern Zwecken; und beraube ich sie dieser Mittel, so können sie den Lauf ihrer Causalität nach ihren entworfenen Zweck- begriffen nicht fortsetzen."

Der Widerspruch soll gelöset werden, durch die Voraussetzung, dafs alle freye Wesen denselben Zweck nothwendig hätten.

„Frevheit ist absolute Bedingung aller Moralität. Aber ich kann den Andern nur frey wollen unter der Bedingung, dafs er seiner Freyheit zur Beförderung des Vernunftzwecks sich bediene; Ich mufs einen Freyheits- gebrauch gegen das Sittengesetz schlechterdings aufzuheben wünschen. Hiebey aber entsteht die weitere Frage: welcher Freyheitsgebrauch ist denn [189] gegen das Sittengesetz? Wer kann darüber, allgemein gültig, richten ? Wir müssen suchen , unser Urtheil übereinstimmend zu machen. Die Wechselwirkung Aller mit Allen zur Hervorbringung ge- meinsamer praktischer Überzeugung ist nur möglich, in wiefern Alle von gemeinschaftlichen Principien ausgehn, dergleichen es nothwendig giebt. An solche mufs ihre fernere Überzeugung angeknüpft werden. Eine solche Wechselwirkung, auf welche sich einzulassen Jeder verbunden ist, heifst eine Kirche, ein ethisches Gemeinwesen; und das, worüber Alle einig sind, ihr Symbol."

Das Seitenstück zu dieser sogenannten Kirche ist der Staat, nämlich die Gemeine, welche überein gekommen ist über ihre Rechte in der Sinnenwelt.

Es ist nicht überflüssig zu bemerken, dafs Fichtes Sittenlehre im Jahre 1798 erschien. Seit 178g war noch kein Decennium verflossen.

§ 153. Die höchst einseitige Ansicht der Kirche wird von selbst auffallen; bemerkt werden mufs aber, dafs auch jenes ethische Gemeinwesen nicht erst aus einer Klemme, worin das Sittengesetz gerathen sey, hätte hervor- treten sollen. Denn die Wechselwirkung zur Hervorbringung gemeinsamer praktischer Überzeugung liegt unmittelbar in der Gesellschaft, so fern sie von der Idee der innern Freyheit beseelt ist, 112, 113). Es ist zwar ganz richtig, dafs eine solche Gesellschaft die Kirche (die schon da ist,) in sich aufnimmt; aber wie die Kirche nicht blofs eine solche Gesellschaft, so ist auch eben so wenig eine solche Gesellschaft blofs die Kirche. [190] Sondern zur beseelten Gesellschaft gehören Rechtsgesellschaft,

* A. a. O. in der Mitte des 2. Abschnitts.

42 2 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

Lohnsystem, Verwaltungssystem und Cultursystem in ihrem ganzen weiten Umfange. Fichtes Einseitigkeit schreitet dagegen noch weiter fort.

§ 154.

Vom Cultursystem reifst er einen Theil los unter dem Namen des gelehrten Publicums. Diesem giebt er Freyheit vom Autoritäts-Glauben; und nicht blofs Freyheit vom Symbol, sondern auch die ungebundenste Äußerung alles dessen, wovon man sich überzeugt zu haben glaube.

Dadurch verräth sich vollends, da(s gerade hier, im Kern der Fichteschen Sittenlehre, an der Stelle, wo sich eine Idealzeichnung finden sollte, immer ein drückendes Gefühl, wie von vorhandenen Schranken, die man erweitern müsse, wirksam geblieben war; so dafs, wenn einmal in die Gegend der Schranken herabgestiegen werden sollte, dann eben diese Schranken vollständiger hätten untersucht und vor Augen gelegt werden müssen. 116, 1 18.)

Indessen ist es immer noch zu rühmen, dafs der Gegensatz zwischen den Ideen und den Schwierigkeiten des sittlichen Lebens wenigstens einige verweilende Aufmerksamkeit bey Fichten erlangt. Die Moral rückt dadurch ihrer Anwendung näher, als wenn sie sich blofs in Im- perativen ergiefst, die nur nöthig hätten zu befehlen, um ihren Foderungen Genüge zu schaffen.

§ 155-

Der wissenschaftliche Grund der Einseitigkeiten, woran die Fichtesche Sittenlehre leidet, liegt in der [191] Art von Gründlichkeit, die sie beab- sichtigt; und sie giebt ein merkwürdiges Beyspiel des fehlerhaften Verfahrens, auf theoretische Principien die praktische Philosophie bauen zu wollen.

Schon der oben angeführte Widerspruch 152) giebt eine Probe von dialektischer Form, welche da, wo von gegebenen Widersprüchen aus- gegangen werden mufs, (in der Metaphysik), an ihrer rechten Stelle ist; und von dieser Stelle sich nicht kann vertreiben lassen, weil die Erfahrung sie daselbst vesthält. In der praktischen Philosophie aber, die nicht von der Erfahrung ausgehn darf, da sie Ideen aufzustellen und Ideale zu zeichnen hat, ist eine solche Form wenigstens in den Haupttheilen des Lehrgebäudes am unrechten Orte.

Allein Fichte war in der That von demjenigen Puncte ausgegangen, welcher im ganzen Gebiete der innern Erfahrung am meisten hervorragt. Sein Gegebenes war das Ich; und aus diesem wollte er nach dem Vor- urtheil seiner Zeit die gesammte, sowohl theoretische als praktische Philo- sophie construiren. Dies Vorurtheil verlangte ein einziges Princip für die 5 gesammte Wissenschaft.

§ 156. Erfüllt von diesem Vorurtheil bewegte man sich auf dem kantischen Boden. Hier fand man Natur und Freyheit im Gegensatze der Erschei- nung gegen das Reale. Aus dem Streben nach Wahrheit entstand nun bey Fichte eine Art von Feindseligkeit gegen die Natur, die für eine täuschende Erscheinung galt. Freylich im Ich wurde der Grund der Täuschung gesucht; in eben [192] diesem idealistischen Ich, welches

III. Abschn. Analyt. Bei. d. Moral. 2. Cap. Von d. einzelnen Hauptpuncten d. Moral. 423

Alles setzt und ist, und doch sich für beschränkt hält. 53.) Man er- kennt die Vorstellungsart des Idealisten schon in den vorhin angeführten Ausdrücken. Etwas liegt in meiner Sinnenwelt bedeutet soviel als:

es beschränkt mich. 152.) Eben darum aber, weil das Ich von einer Ungeheuern Selbsttäuschung fast erdrückt schien, flofs seine Bestimmung zur Wahrheit, zur Freyheit, zur Sittlichkeit, in Eins zusammen. Daher jenes Moralprincip : Foderung absoluter Selbstständigkeit.

§ 1 57-

Drängen gegen die Schranken, Eile zur Pflicht mit geringer Rück- sicht auf die Tugend, und noch geringerer Beachtung dessen, was von der Gunst oder Ungunst der Gelegenheit abhängt, ist der natürliche Charakter einer Moral im Stile des theoretischen Idealismus.

Während der gewöhnliche Mensch sich viel zu sehr durch wahr- scheinliche Erfolge zum Handeln bestimmen läfst, und oft genug darauf allein sein Augenmerk richtet: trägt der Idealist eine falsche Zuversicht in sich: gelingen müsse, was ursprünglich dem reinen Ich angemessen sev. Zum Beobachten der wirklichen Lebensverhältnisse dagegen kann es keinen mifslicheren Standpunct geben, als den idealistischen.

„Die wahre Tugend besteht im Handeln; im Handeln für die Ge- meine, wobey man sich selbst gänzlich vergesse."*

Gerade umgekehrt konnte man schon aus dem Römischen Rechte eine Warnung gegen ein unverlangtes [193] handeln für Andre, vollends für die Gemeine, hernehmen. Der negotiorum gcslor mufs das Unter- nommene gehörig zu Ende führen, Rechnung ablegen, und ist für culpa und diligentia verantwortlich. Schon deshalb darf er sich selbst nicht gänzlich vergessen; er mufs mindestens seine Kräfte prüfen, da er das einmal Begonnene nicht darf liegen lassen.

Überdies aber beruhet die Tugend auf der geistigen Gesundheit, 130) und erfodert einen Grad von Besonnenheit, 122) der durch hastiges Handeln so sehr leidet, dafs man mit vollem Rechte manchen Individuen eine Beschränkung ihrer Vielgeschäftigkeit auferlegen kann. Das Handeln überhaupt, vollends aber die Quantität des Handelns, ist kein sicherer Maafsstab für die Tugend, die oft genug sich im Unterlassen zeigen mufs, und nicht selten im ruhigen Daseyn am schönsten gedeiht.

§ 158. Der Mangel eigentlicher Tugendlehre wird bey Fichten bedeckt durch die mystisch-religiöse Tendenz, welche seine Lehre vom Ich annimmt. Die Darstellung des reinen Ich wird bey ihm das Ganze der vernünftigen Wesen, die Gemeine der Heiligen. Über alles individuelle Bewufstseyn hinaus liegt der Gesichtspunct, auf welchem aller Vernunftwesen Bewufst- sevn, als Object, in Eins vereinigt wird; der Gesichtspunct Gottes. Für ihn ist jedes vernünftige Wesen absoluter und letzter Zweck. Dagegen soll jene Vergessenheit des eignen Selbst beym wirklichen Handeln in

* A. a. O. § 19.

1 Handeln für die Gemeine . . . SW. („für Andre, vollends" fehlt).

^24 1-^- Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

der Sinnenwelt statt linden. ,Jedem allein wird, vor seinem Selbstbewufst- seyn, die Erreichung des Gesammtzwecks der [194] Vernunft aufge- tragen; die ganze Gemeine der vernünftigen Wesen wird von seiner Sorge und seiner Wirksamkeit abhängig, und er allein ist von nichts abhängig. Jeder wird Gott, so weit er es seyn darf, das heifst: mit Schonung der Freyheit aller Individuen. Jeder wird gerade dadurch, dafs seine ganze Individualität verschwindet, und vernichtet wird, reine Darstellung des Sittengesetzes in der Sinnenwelt; eigentliches reines Ich, durch freye Wahl und Selbstbestimmung".

An dieser, historisch merkwürdigen, Stelle findet Fichte nöthig, sich von den gewöhnlichen Mystikern zu unterscheiden; und zwar durch die schon oben erwähnte Foderung des Handelns. „Diejenigen (sagt er) welche die Vollkommenheit in fromme Betrachtungen, in ein andächtiges Brüten über sich selbst setzen, und von daher die Vernichtung ihrer In- dividualität, und ihr Zusammenfiiefsen mit der Gottheit erwarten, irren gar sehr. Ihre Tugend ist und bleibt Egoismus; sie wollen nur sich voll- kommen machen".

§ 159-

Beschuldigte Fichte die gewöhnliche Mystik des Egoismus: so ist gegen ihn die Frage billig, ob nicht seine Lehre zu einer stolzen Un- zufriedenheit führe? Zwar wenn wirklich Jeder die beschriebene hohe Gesinnung annähme, und annehmen könnte, so würde der Stolz ver- schwinden. Aber er selbst lehrt Verschiedenheit des Berufs; und es giebt bey ihm eine sehr zahlreiche niedere Volksklasse. Es ist kaum zu glau- ben, dafs er Jedem allein die Erreichung des Gesammtzwecks der Vernunft würde aufgetragen haben. Viel-[i95]mehr ist zu besorgen, dafs, wer irgend einen solchen Auftrag anerkennt, ein solcher sich gar sehr allein finden, und wo nicht mit Allen, doch mit Vielen unzufrieden seyn wird.

Ohnehin ist an gehörige Wertschätzungen dessen, was die vorhan- denen Individuen an Kraft, Güte, und Rechtlichkeit wirklich besitzen, da schwerlich zu denken, wo man aufs deutlichste fodert: Jeder solle für sich, d. h. vor seinem eignen Bewufstseyn nur Instrument, blofses Werk- zeug des Sittengesetzes seyn, und schlechthin nicht Zweck.

Im Jahre 1804 hielt Fichte eine Reihe von Vorlesungen, worin er offen erklärte: seiner Meinung nach stehe das Zeitalter in der Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit* Freylich trägt die Jahrszahl dazu bey, so etwas begreiflicher zu machen.

'ö*

§ 160.

An die eben erwähnte Foderung knüpft Fichte die Eintheilung der ^-Pflichten. Wo die Moral durchgehends von Pflichten gegen uns selbst redet, da findet Fichte nur Pflichten auf uns selbst; nämlich in dem Falle, wenn das Wirken für Andre nicht ungehindert von Statten geht, und wir deshalb, um Mittel für Andre zu werden, bey uns selbst an- fangen müssen. Er nennt deshalb diese Pflichten mittelbare und be-

unten.

Fichtes Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, S. 34. Mehr davon tiefer

III. Abschn. Analyt. Bei. d. Moral. 2. Cap. Von d. einzelnen Hauptpuncten d. Moral. _|2 5

dingte; die absoluten Pflichten für Andre stehn ihnen entgegen. Mit dieser Eintheilung kreuzt sich eine andre in allgemeine und besondere Pflichten.

§ 161.

[196] Die allgemeinen bedingten Pflichten sind theils negativ, theils positiv.

Zu jenen gehört das Verbot des Selbstmordes. Hier wird sehr richtig zuerst der grofse Unterschied bemerklich gemacht zwischen Lebens- gefahr und Zerstörung des Lebens. Die letztere verbietet Fichte durch- aus. Obgleich aber hierüber scharfsinnige Bemerkungen bey ihm vor- kommen, so fehlt doch die Gröfsenschätzung des Fehlers, der im Selbst- morde liegen kann. Da die Pflichtenlehren gewöhnlich (auch bey andern Gegenständen) in dieser Hinsicht mangelhaft sind: soll hier noch Fol- gendes bemerkt werden.

Nicht blofs die Stoiker gestatteten den Selbstmord; sondern unter den ersten Römischen Kaisern geschah es häufig, dafs die, welche zum Tode verurtheilt waren, sich selbst den Tod gaben. So verschafften sie sich nicht blofs die Ehre des Leichenbegängnisses, sondern auch Voll- ziehung ihrer Testamente; während ohne dies Auskunftsmittel ihre Güter dem Fiscus anheim , fielen.* Der Selbstmord war also Mittel der Für- sorge für Die, welche ihnen nahe standen; und zwar im Falle eines gewiis bevorstehenden Todes.

Dafs man solchen Selbstmord nicht mit andern, aus Feigheit, aus Leidenschaft, mit Verletzung der Pflicht gegen die Angehörigen und gegen den Staat, in Eine Klasse setzen kann: fällt in die Augen. Spricht aber die Moral blofs ihr Verbot, so hat sie nichts unterschieden.

[197] Zu den positiven Selbstpflichten rechnet Fichte nicht blofs Sorge für Gesundheit des Leibes und Geistes, sondern auch Sorge für geordneten Haushalt, als Mittel für jene.

§ 162. In die Klasse der besondern bedingten Pflichten fällt die Wahl des Standes, nicht nach Neigung! so lehrt Fichte; wobey ganz aus den Augen gesetzt ist, was oben in) über den Werth der Lust am Ge- schafft, mehr Einstimmung mit Schleiermachern, bemerkt worden. Zweck- mäfsig dagegen ist die Erinnerung: „ich mufs bey der Gesellschaft an- fragen, ob noch Raum da ist, und ob es meiner Mühe da bedürfe, wo ich sie anwenden will".**

§ 163. Die allgemeinen unmittelbaren Pflichten theilt Fichte dreyfach. Zuerst fafst er überhaupt die Freyheit Andrer ins Auge; so dafs zu den Rücksichten auf die Rechte der Andern noch Wohlthätigkeit und Dienst- fertigkeit hinzukommen; aber nicht aus Wohlwollen. Vielmehr ist Wohl- thätigkeit nach Fichten eine bedingte Pflicht; „sie würde nicht Statt finden, wenn der Staat seine Schuldigkeit thäte". Und Dienstfertigkeit

■• Montesquieu esprit des loix, XXIX, 9. ** Fichtes Sittenlehre § 21.

426 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

soll recht eigentlich dienen] nämlich dazu, dafs Andre soviel Kraft als möglich in der Sinnenwelt haben, um dadurch die Vernunftherrschaft zu befördern.

Die zweyte Abtheilung ist mit dem Streite beschäftigt; es sey nun Leben oder Eigenthum oder Beydes, was den Streit veranlafst. liier wird auch von der Ehre gehandelt, sammt dem guten Ruf.

[108] Die dritte Abtheilung widmet sich der Pflicht, unmittelbar Moralität zu befördern; wo zuerst das merkwürdige Bekenntnifs im Namen der Freyheitslehre abgelegt wird: es scheine unmöglich, dafs Moralität mit- getheilt werde, und nach Abrechnung des Unausführbaren scheine nicht viel Mehr, als fromme Wünsche, übrig zu bleiben. So mufste es aller- dings scheinen, und von der Zuversicht, womit dennoch das Princip der Moralität überall vorausgesetzt wird, mufste die Freyheitslehre lieber ganz schweigen; weil sie keine Mittel darbieten kann, worauf über die gemeine Erfahrung hinaus sich bessere Hoffnungen gründen könnten. Auch ist weder vom Affect der Achtung noch von der Pflicht des guten Beyspiels viel zu sagen gewesen. (Man vergleiche oben § 139).

Diese ganze Klasse reducirt sich also am Ende auf Rechtsbegriffe.

&■-

§ 164.

Es bleiben noch übrig Pflichten des Standes und des Berufs. Hieher bringt Fichte zuvörderst die Familien-Pflichten; dann durchläuft er kurz die Pflichten der Gelehrten, der moralischen Volkslehrer, (Geistlichen) der ästhetischen Künstler, der Staatsbeamten, der niedern Volksklassen.

Von der Familie hatte Fichte schon im Naturrecht gehandelt; es scheint, er sey im Zweifel gewesen, ob dorthin, oder in die Moral, der Gegenstand gehöre. Das kann um desto weniger befremden, da Staat und Kirche mit ihren Verfügungen bey der Familie zusammentreffen.

Über die Pflichten der Gelehrten könnte man um [199] so mehr etwas Ausführliches erwarten, da Fichte auch hier wiederum die Ge- lehrten voranstellt vor Geistlichen, Künstlern, Staatsbeamten. Allein er beschränkt sich beynahe auf den einen Gedanken, der Gelehrte solle die Wissenschaft weiter bringen; wobey sich die Erinnerung aufdringt, dafs nicht alle Wissenschaften zu allen Zeiten gleichmäfsig zum Fortschreiten geeignet sind; und dafs in Ansehung der Wirksamkeit auf andre Berufs- kreise die Fortschritte der Gelehrten viel weniger Einflufs haben, als der schon vorhandene Bestand des Wissens, womit verglichen der augenblick-

liche Zuwachs allemal gering ist.

165.

) Obgleich nun die Pflichtenlehre bey Fichten logisch geordnet scheint :

so bemerkt man doch bald, dafs zu einer bequemen Übersicht derselben Manches fehlen müsse. Sind die Selbstpflichten nur bedingt, folglich ab- hängig: so mufsten die unbedingten vorantreten, um nach ihnen das Ab- hängige zu ermessen und genauer zu bestimmen. Ferner sieht man sien zwischen kleinern und gröfsern Lebenskreisen umhergeworfen, wenn bald von dem, was der Einzelne für sich bedenken soll, bald von Rücksichten, welche die Gesellschaft fodert, bald vom Recht und Streite unter Privat-

III. Abschn. Analyt. Bei. d. Moral. 2. Cap. Von d. einzelnen Hauptpuncten d. Moral. 427

personen, bald von Beförderung der Sittlichkeit im Allgemeinen, dann von der Familie, und endlich von den mancherley Arten des Berufs ge- sprochen wird.

§ 166.

Um nun ein Paar veste Puncte zu gewinnen, ist dienlich, etwas ganz Bekanntes ins Auge zu fassen; [200] nämlich dafs die Pflichten eeeen den Staat den strengsten Gehorsam, die Pflichten in der Familie und die des Berufs dagegen die anhaltendste Sorgfalt erfodern.

Das erste erhellet unmittelbar aus dem Unterwerfungsvertrage, welcher den Majestätsrechten entspricht 87). Familie und Beruf aber geben eine beständige Stellung und Beschäfftigungsweise, welche sogleich leidet, wenn sie auch nur auf kurze Zeit aus den Augen gesetzt wird.

Andre gesellige Verhältnisse also müssen zwischen den genannten hineingepafst werden; während Gesundheit und Übung des Körpers und Geistes im gewöhnlichen Lebenslaufe die Bedingungen vestsetzen, unter denen überhaupt Pflichten zu erfüllen möglich ist.

§ 167.

Es mag noch' Schleiermacher benutzt werden, um das Material der Sittenlehre zur Übersicht zu bringen. Er reihet die Pflichten auf folgende Weise aneinander, wiewohl nur zum Behuf der Kritik:

Selbsterhaltung, Mäfsigkeit im Genufs, Sparsamkeit, Wahrhaftigkeit, Treue, Selbstschätzung und Bescheidenheit, Erhöhung sittlicher Voll- kommenheit, Wahl des Berufs nach Einsicht, Wohlthätigkeit, Dankbarkeit, Mitfreude und Mitleid, Nachsicht ohne Schwäche, Umgänglichkeit.

Da er jedoch die Pflicht auch ansieht als bestimmbar durch Güter, welche zu erwerben seyen, so mag die Reihe der letztern hier ebenfalls Platz finden:

Äulsere Güter (Reichthum, Gewalt, Glück), Freundschaft und freund- liche Verbindungen, bürgerliche und [201] häusliche Gesellschaft, Kirche und Schule, Kunstwerke, Güter des Leibes (Gesundheit, Schönheit, Stärke, Wohlgebautheit), Güter der Seele (die vier Cardinaltugenden), endlich der Weise selbst und sein sittliches Wohlbefinden.*

Die Vermischung der Tugenden mit Gütern und mit Pflichten hat Schleiermacher gerügt; auch ist die Aufstellung der Reihen bey ihm eben so wenig als hier, für eine Anordnung zu halten.

Aber schon auf den ersten Blick ist klar, dafs Mittel und Zwecke zu sondern sind; dafs die Mittel theils innere (mittelbare Tugenden) theils äufsere sind, welchen letztern hier auch solche Gegenstände müssen bey- gezählt werden, die einen ästhetischen aber nicht sittlichen Werth haben (Kunstwerke, Stärke und Schönheit des Leibes); dafs Verwechselungen zu heben sind (so ist die Sympathie in der Mitfreude und dem Mitleide verwechselt mit dem Wohlwollen), dafs Wahrhaftigkeit, Dankbarkeit, Treue, auf Recht und Billigkeit müssen zurückgeführt werden u. s. w.; kurz, dafs die Anordnung durch längst bekannte Mittel kann erreicht werden.

* Schleiermachers Krit. d. S. zweytes Buch, zweyter Abschnitt.

428 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1S36.

§ 168.

Bey einiger Übung in Anordnungen dieser Art wird es nicht beson- ders schwer seyn, moralische Schriften von mancherley Art zu benutzen, sobald man die praktischen Ideen in der Verschiedenheit der Ausdrücke wieder erkennt, und ihnen das, was mittelbar einen positiven oder nega- tiven Werth hat (liege nun dies in [202] Fertigkeiten oder in äufsern Dingen) gehörig anfügt. Hiedurch aber entdeckt sich mehr und mehr der entferntere Zusammenhang von Mitteln zu Mitteln, oder von Hin- derung der Hindernisse, der sich durch alle Lebensumstände hindurch- zieht; so dafs die sittliche Klugheit und Übung ein immer weiteres Feld gewinnen würde, wenn nicht oft genug Entsagung da eintreten müfste, wo die widerstrebenden Potenzen übermächtig werden.

Im Allgemeinen hat man sich in der Reihe der Principien des Fort- gangs und Rückgangs* zu orientiren, und dieselbe nach den Umständen zu verlängern. Besondere Hültsmittel aber bieten Politik und Pädagogik dar; von welchen jetzt noch das folgt, was nöthig ist um die zwiefache Richtung der Moral 125) zu bezeichnen.

§ 169. Der Zusammenhang der Moral mit der Pädagogik erhellet leicht aus den fünf Hauptpuncten der sittlichen Jugendbildung:

1) Richtungen des kindlichen Willens.

2) Ästhetische Urtheile und deren Mängel.

3) Bildung der Maximen.

4) Vereinigung der Maximen.

5) Gebrauch der vereinigten Maximen.**

Es ist nämlich klar, dafs die ersten beyden Puncte sich auf den Begriff der Tugend, die drey übrigen auf den der Pflicht beziehen.***

§ 170. [203] 1) Kein vernünftiger Erzieher wird die Richtungen des kind- lichen Willens zuerst durch moralische Maximen, oder auch durch die ihnen zum Grunde liegenden ästhetischen Urtheile zu bestimmen unter- nehmen. Nicht einmal die mittelbaren Tugenden, auf welche man bey Minder-Gebildeten hinarbeitet 150), sind für den Erzieher das Erste und Wichtigste; sondern er sieht zuerst auf Naturkraft und natürliches Wohlwollen, 135) als auf Dasjenige, was er, so weit es vorhanden ist, sorgfältig entwickeln und schonen mufs. Daher trit der Unterricht als

* Praktische Philosophie, II. B. 7. Capitel.

** Umrifs pädagogischer Vorlesungen § 43 und 153. [= 44 u. 304 der 2. Ausg.] Sk oben S. 81 u. 124.

j *** Die grofse Wichtigkeit der Pädagogik, d. h. der Verbindung praktischer Philo- sophie, sofern sie sich auf den einzelnen Menschen bezieht, mit Psychologie und Er- fahrung, für alle wissenschaftliche Betrachtung der Anwendbarkeit der Moral, wird im Folgenden mehr und mehr erhellen. Für den analytischen Zweck des gegenwärtigen Buchs wäre es nöthig gewesen, auch pädagogische Schriftsteller anzuführen, wenn nicht auf ein andres Buch könnte verwiesen werden; nämlich auf BrzOSKAS Schrift über die Nothivendigkeit pädagogischer Seminare, Leipzig 1836. Herr Professor Brzoska besitzt eine reiche Kenntnifs pädagogischer Literatur; und er hat dafür gesorgt, durch eine grofse Menge angeführter Stellen aus den verschiedensten Schriften die pädagogischen Grund- sätze Andrer mit denen des Verfassers leicht vergleichbar zu machen.

III. Abschn. Analyt. Bei. d. Moral. 2.Cap. Von d. einzelnen Hauptpuncten d. Moral. 42g

das Hauptgeschäft hervor, nicht wegen der Kenntnisse, sondern wegen des Interesse der Erkenntnifs und der Theilnahme.*

2) Weder mehr noch weniger wichtig als jene Richtungen des Willens, sondern mit ihnen in gleichem Range, steht die ästhetische Stimmung der Kinder, welche der Erzieher hauptsächlich durch Vermeidung alles dessen, was ein Gefühl vom eignen Ich aufreizt [204] und einprägt, zu befördern suchen wird. Zeigt sich diese Stimmung, (und mit ihr der auffallendste Grundzug der Humanität im Gegensatze der Thierheit,) so wird ihr das Sittliche im Leben und in geschichtlicher Form darzu- bieten seyn, aber noch ohne auffallende Anwendung auf den Zögling, als läge eine Foderung an ihn selbst darin. Bevor solche moralische Foderungen ihre ganze Schwere fühlen lassen, mufs das blofse ästhetische Urtheil sicher und klar sich gebildet haben.

Hiermit ist aber nicht ausgeschlossen, dafs dem Zöglinge das Gewissen geschärft werde 143), wenn er durch seine eignen Handlungen dazu Anlafs giebt.

§ 171- .

3) Bildung der eigennützigen Maximen beginnt gewöhnlich von selbst im spätem Knabenalter. Bemerkt der Erzieher davon deutliche Spuren: so mufs nunmehr der Übergang der ästhetischen Urtheile in moralische Anfoderungen an den Zögling selbst, beschleunigt, es mufs Ernst und Strenge in diese Foderungen gelegt werden, indem sie als Maximen der bessern Art jenen andern gegenüber den Vorrang behaupten sollen. Hier gerade ist das Sollen und die Pflicht am rechten Orte.

4) Wie der Zögling die menschlichen Verhältnisse allmählig voll- ständiger und zusammenhängender überschaut: so bedarf er auch einer genaueren Vereinigung der moralischen Maximen mit deutlicher Aus- schliefsung der unsittlichen.

5) Hiemit verbindet sich die moralische Selbstbeobachtung, indem die vereinigten Maximen sich dem stets andringenden Bösen 142) entgegensetzen.

§ 172.

[205] Wie nun vor den Augen des Erziehers eine werdende Sittlich- keit oder Unsittlichkeit sich aus einem gegebenen Boden erhebt: eben so steht vor den Augen des Staatsmanns eine im Wachsen oder Abnehmen begriffene, mehr oder weniger von sämmtlichen praktischen Ideen be- seelte Gesellschaft, getragen von der Natur, verbunden durch Gemein- geist, gebunden durch Macht, reflectirend über sich selbst in höherm oder niederm Grade. Sein Ziel ist, sie als Rechtsgesellschaft zu be- vestigen, als Lohnsystem zu sichern, als Verwaltungssystem zu veredeln, als Cultursystem zu erweitern und zusammenzuhalten, endlich ihrem Selbst- bewufstseyn die innere Zufriedenheit zu erhöhen. Für diese Zwecke stehn ihm zwar Macht und Ansehen zu Gebote, aber der vorhandene Gemeingeist mufs ihm entgegen kommen.

Nun findet sich der Gemeingeist niemals ganz gleichförmig in Einem Puncte beysammen. Kleinere Gesellungen von der Familie bis zur Kirche

* Allgemeine Pädagogik S. 140. [Vgl. vorl. Ausg. Bd. II, S. 44.]

430 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

haben sich allmählig gebildet. Schon die Rechtsgesellschaft war nicht auf einmal da. Die früher verbundenen Familienhäupter haben späterhin Andern das Beytreten gestattet, aber nicht immer unter gleichen Be- dingungen. Nicht alle sind in gleichem Maafse active Bürger in Bezug auf das pactum unionü et ordinationis 19); es giebt Unterschiede des Personenrechts und des Standes. Auch den Güterbesitz hat man gegen die Wechsel des Verkehrs zu bevestigen gesucht; besonders in Ansehung der unbeweglichen Güter; es giebt Majorate, Lehne, Rechte der Ag^ naten; doch daneben auch neue Reiche. [206] Im Laufe der Zeit haben Diejenigen, die ein ähnliches Interesse hatten, sich enger verbunden; es giebt Corporationen, die ihr Recht bewachen. Selbst in der Fähigkeit, Contracte zu schliefsen, haben sich Ungleichheiten vestgesetzt. Von dem Allen ist im Laufe der Zeit der Ursprung meist vergessen; der Druck aber wird empfunden.

Zu den Ungleichheiten in den Verhältnissen kommt die Verschieden- heit der Personen.

Einige sind schon da, wo sie seyn wollen; Andre haben Aussichten, noch Andre suchen sich Bahnen; wieder Andre möchten im Trüben fischen; die Meisten suchen nur ein vortheilhaftes Geschafft. Einige er- heben sich zum Interesse für bestimmte Gegenstände, als Kunst, Wissen- schaft, Landbau, Militär; einige treten hervor als Wortführer von Corpo- rationen und Particular-Interessen. Manche wollen Parthey machen. Einige empfehlen Ruhe, Andre Bewegung.

§ 173.

Der Staatsmann ist nun zwar nicht Erzieher; als solcher kann und darf sich Niemand der Gesellschaft gegenüber stellen, denn sie ist nicht Jugend. Aber er kann zweyerley thun.

Erstlich kann er den Gemeingeist da aufsuchen, wo er ihn findet, also vorzugsweise in den kleineren Gesellungen, wo die Menschen sich näher und beständiger berühren und unter einander besprechen. Hieher gehören die Communal-Ordnungen und die Aufsicht über Corporationen. Dadurch wird das Wollen der Menschen, wie sie sind, unmittelbar rectificirt, und über [207] den gemeinen Eigennutz hinaus in eine höhere Sphäre ver- setzt; indem ihr gemeinsames Streben sich belebt und berichtigt.

§ 174.

Zweytens kann der Staatsmann für die gröfsten und allgemeinsten Angelegenheiten selbst Sorge tragen. Dadurch werden die Menschen, die auf ihn sehen, zu dem Glauben gebracht, dafs der Gemeingeist des ganzen Staats keine Fabel ist; sie gewinnen Respect für das Ganze. Gelingt dies: so wird es dem Staatsmann auch gelingen, Ehrenpuncte hervor- zuheben, in denen man die praktischen Ideen wieder erkennen mag. Denn Ehrenpuncte entspringen, (wenn auch einseitig und deshalb nicht in aller Hinsicht richtig), aus ästhetischen Urtheilen.

So haben von jeher grofse Regenten und Minister gewirkt. Der Glanz, der von ihnen ausging, strahlte zurück in der Ehre, die man schätzte und suchte.

III. Abschn. Analyt. Bei. d. Moral. 2. Cap. Von d. einzelnen Hauptpuncten d. Moral. 43 1

§ 175-

Drittens, wenn mehrere Staatsmänner sich in einer Sphäre befinden, so entstehen unter ihnen Berathungen, etwan im Rathe des Regenten, oder auch in verfassungsmäfsigen Versammlungen. Aus den Berathungen gehen nach Vergleichung vieler ähnlicher Fälle, also mit Rücksicht auf die Geschichte, Staats-Maximen hervor. Maximen aber bestimmen ihrer Natur nach nicht blofs die Gegenwart, sondern sie machen an sich selbst den Anspruch, auch in Zukunft gültig befunden zu werden.

Es wird nun schon klar seyn, dafs diese Betrach-[2o8]tung auf der Bahn des § 151 fortschreitet; wie natürlich, da Politik und Pädagogik auf derselben Grundlage beruhen.

Geht man auf der nämlichen Bahn weiter, so ergiebt sich noch Folgendes:

§ wo.

Viertens, die Maximen müssen vereinigt werden. Hiezu ist Be- arbeitung der Begriffe nöthig; daraus wird eine Doctrin, oder eine Staats- wissenschaft, welche zu lehren und zu lernen ist.

Nur um den Begriff" dieser Doctrin nicht leer zu lassen, mögen einige Sätze angegeben werden.

§ 177-

Die Doctrin betrifft die drey Factoren des Staats : allgemeinen 'Willen, Formen, und Macht;* welche dem pactum unionis, ordinationis, subiedionis entsprechen.

Ä) Die Macht muls so stark seyn, dafs sie niemals als Parthey er- scheine, am wenigsten sich selbst dafür halte und auf ihre Sicherheit be- dacht sey. Sie würde aber unfehlbar geschwächt, wenn sie einen all- gemeinen Willen gegen sich hätte; in wiefern also ein solcher vorhanden ist, mufs sie sich mit ihm verständigen. Am besten ist, wenn sie ihm dergestalt voranschreitet, dafs er hintennach in ihren Verfügungen sich wieder erkennt.

B) Der allgemeine Wille mufs die Macht, so lange nicht offenbare Proben des Mifsbrauchs vorliegen, unterstützen; denn er bedarf der öffentlichen Ordnung. [209] Er hat ein Kennzeichen der wohlgesinnten Macht daran, wenn sie die Nationalbildung zu ihrer Angelegenheit macht; denn dadurch würde sie auf den Fall des Mifsbrauchs sich selbst be- schränken. Ein negatives Kennzeichen wäre, wenn sie falsche Ehren- puncte (z. B. des Kriegsruhms, der Eroberungssucht) gelten machte.

C) Die wichtigsten unter den Formen sind die Gesetze. Diese (noch abgesehen von ihrem Inhalte) müssen fafslich seyn und gefafst werden. Sie müssen logisch geordnet, gemein verständlich so weit irgend möglich, und nicht blofs förmlich promulgirt seyn, sondern für Bekanntschaft mit ihnen mufs beständig Sorge getragen werden. Ein würdevolles Bild des Staats mufs aus ihnen hervorleuchten.

* Praktische Philosophie, fünftes Capitel des zweyten Buchs. [Vgl. vorl. Ausg. Bd. H, S. 424.]

4*2 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

§ 178.

Die Doctrin betrifft auch die praktischen Ideen, welche sich auf die Gesellschaft beziehn.

A) Die Rechtsgesellschaft darf nicht schwanken. Da aus Rechts- verhältnissen Druck und Gegendruck entsteht, so bleibt es eine beständige Aufgabe an Überlegung und guten Willen, denselben nach Möglichkeit und Gelegenheit zu mildern.

B) Die Strafen und Belohnungen dürfen die Menschen nicht schlechter machen als sie waren, (wie in Gefängnissen, wo ein Verbrecher den andern unterrichtet, oder auf der andern Seite durch Vorgunst, die Andre kränkt).

C) Naturproducte sollen benutzt, aber nicht leichtsinnig verbraucht werden. Wälder sind zu schonen. Strafsen zu unterhalten u. s. w., Staats- schulden sollen nicht den Urenkeln aufgeladen werden.

[210] D) Mitten im Gedränge der schwankenden und streitenden Meinungen wirken die Wissenschaften dahin, die Zukunft mit der Ver- gangenheit zu verbinden. Diese Wirkung soll man begünstigen. Alles Klassische soll wie ein Schatz der Nationen gehütet werden. Beamte sollen Gelehrte seyn ; Prüfungen den Unwissenden zurückweisen.

E) Religion ist der, durch Ideen beseelten Gesellschaft so wesentlich, 113) dafs der Staat gegen die Kirche nie gleichgültig seyn darf. Die Kirche vereinigt die Stände, indem sie deren Unterschied bey Seite setzt. Sie vereinigt die Nationen, denen sie gemeinschaftlich angehört ; und er- innert im Kriege an den Frieden.

' § 179.

Fünftens, die vereinigten Maximen müssen gebraucht werden. Das heifst : die Doctrin wird allmählig auf die Gesetzgebung einfliefsen. Hiebey versteht sich von selbst, dafs Maximen, die von Staatsmännern ausgingen und von Gelehrten in wissenschaftlichen Zusammenhang gebracht wurden, mit den gehörigen Belägen und Warnungen aus der Geschichte versehen sind, also nicht auf unbehutsame Neuerungen in den Gesetzen hinführen können. Langsam, wie ein lebender Organismus sich durch seinen Stoff- wechsel erweitert und reinigt, soll die Gesetzgebung sich fortbilden.

Auf Allgemeinheit macht die Gesetzgebung Anspruch; eben deshalb aber wird sie durch das Wesentlich- Ungleiche, was sie voi findet, immer mehr genöthigt, die Fälle genauer zu unterscheiden.

Auf dem Boden, wo sie wirkt, findet sie den Un-[2 1 ijterschied der Städte und des offenen Landes. Der mehr politische Geist der Städte, ^und deren Neigung sich unter einander zu verbinden, darf ihr eben so wenig entgehen, als die Notwendigkeit, die natürliche Aristokratie der Gutsbesitzer gegen die Bauern zu berücksichtigen. Ungleichheiten dieser Art kann sie nicht wegschaffen, aber sie mufs die Wirkungen mildern; und sie mag insbesondere den Anwachs sehr grofser Städte, schon wegen des gefährlichen Pöbels, der sich darin erzeugt, zu begünstigen sich hüten.

Der Wrechsel der Zeit führt ein Steigen und Sinken der Familien herbey. Grofsen Namen gebührt Respect; aber die Gesetze belasten sich,

TII. Abschn. Analyt. Bei. d. Moral. 2. Cap. Von d. einzelnen Hauptpuncten d. Moral. 433

wenn sie das kraftlos Gewordene gegen unvermeidliches Sinken beschützen wollen.

Schule und Kirche sind in der Gewalt des Staats; aber Wissenschaft und Glaube folgen keinem Zwange.

Anmerkung. Der Parallelismus zwischen Pädagogik und Politik ist nicht blofser Luxus der Theorie, sondern er verdient Beachtung in den Fällen, wo die Erfahrung entweder im kleinen Kreise deutlicher hervortrit als im grofsen, oder umgekehrt. Wir erinnern hier an das Criminalrecht. Pädagogische Strafen tragen zwar einen andern Charakter als bürgerliche ; sie suchen sich soweit als möglich an die natürlichen Folgen der Handlungen an- zuschliefsen ; sie binden sich nicht an das Quantum der Vergehung; und ihr Zweck, nämlich Besserung, ist selten der positive Zweck der bürger- lichen Strafe, [212] weil selten einige Hoffnung übrig ist ihn zu erreichen. Allein

1) Negativ betrachtet, sollte dennoch die letztre ihn beachten, d. h. es liegt dem Staate daran, dafs der Gestrafte nicht schlechter und hiemit gefährlicher werde, als er schon war.

2) Da die Strafe in jedem Falle irgend einen Zweck hat, so mufs man ihre Wirkung beobachten; nicht aber sich der oft völlig grundlosen Einbildung überlassen, die Wirkung sey schon bestimmt, weil man sich einen Zweck vorgestellt, und in der Meinung, ihn zu erreichen, ge- handelt hatte.

Nun weifs der praktische Erzieher, wie leicht Aufsicht, Drohung. Zwang, Strafe, solche Wirkungen hervorbringen können, die von den be- absichtigten weit verschieden sind. Mit der Aufsicht wächst die Schlau- heit; der Drohung achtet der Leichtsinn wenig; durchgreifender Zwang schadet oft der natürlichen Kraft, und die Strafe, statt abzuschrecken, weckt Theilnahme für den Gestraften, Erbitterung gegen den Strafenden, wo nicht in der Umgebung schon die Notwendigkeit derselben an- erkannt, und selbst die Art sie zu vollziehen, gebilligt war. Fafst man diese Wirkungen zusammen : so ergiebt sich, dals nur innerhalb sehr enger Schranken, die von mancherley Bedingungen abhängen, auf Zweckmäfsigkeit des Strafsystems zu hoffen ist. Es hält schwer zu glauben, dafs dem Criminalrichter, der Sentenzen fället und sie vollziehen läfst. ohne sich weiter um den Gestraften zu bekümmern, die analogen Erfahrungen im Grofsen sich eben so [213] leicht darbieten werden, als sie im Kleinen dem Erzieher sich aufdringen.

Bey Allen, die in Folge eines Richterspruches zu irgend einer Art von Arrest verurtheilt sind, liegt Etwas zur weitern Nachfrage und Be- obachtung vor, was die Schonung der Privat-Geheimnisse schon verwirkt hat. Geistliche nun, denen die Seelsorge in Gefängnissen obliegt, könnten sich hier grofse Verdienste erwerben, und für ihre eigne Berufsbildung noch bedeutend gewinnen, wenn sie, autorisirt von der Justizbehörde, ge- nauer fragten und forschten, um von den feinern Zügen der Geschichte des Verbrechens eine richtige Zeichnung, vom Gemüthszustande des Ver- urteilten eine tiefere Kenntnis zu erlangen. Es müfste veststehn, dals

Herbavt's Werke. X.

28

434 1X' Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

für einerley Verbrechen die einmal gefällte Sentenz nicht mehr geschärft würde, wenn auch nähere Umstände später bekannt würden. Die Geist- lichen wären es alsdann, welche Beobachtungen über Alles, was bey der Wirkung der Strafe zusammenkommt, einer höhern Behörde zu berichten hätten. Durch sie würde man erfahren, theils was den Gefängnissen noth thut; theils was dagegen, wo eine glimpfliche Behandlung eingeführt ist, Kosten verursacht die nur den Verbrecher an ein sorgenfreyeres Leben gewöhnen, bequemer, als er es nach der Entlassung fortsetzen kann.

Ohnehin liegt es im Kreise des geistlichen Amts, den sittlichen Zu- stand der Kirchengemeine, und was auf ihn einfliefst, zu beobachten. Wer in Folge eines Richterspruchs gestraft worden, ist gewifs nach der Entlassung eine unwillkommene Erscheinung in der [214] Gemeine; aber von seiner Lebensweise so weit als möglich Kenntnifs zu nehmen, kann nicht blofs Polizeysache seyn; es ist dem Geistlichen nicht gleichgültig; er mufs bemerken und sammeln, was sich bemerken läfst. Dies ^ilt auch, und zwar vorzüglich, den andern Gliedern der Gemeine. Denn sie sind es zunächst, auf welche das abschreckende Beyspiel hatte wirken sollen.

Die grofse Vorliebe für Geschwornen- Gerichte, deren ursprünglich politische Tendenz wegfällt, sobald die Staatsgewalt nicht als Parthey ge- fürchtet wird, möchte wohl kaum einen bessern Grund haben, als den, dafs ganz abgesehen vom Verbrecher, und von sicherer Ausmittelung des Thatbestandes, die Erbitterung gegen die strafende Hand aufhört, wo die Staatsgewalt den Schein vermeidet, als hätte sie Gelegenheit ge- wünscht sich in ihrer Stärke zu zeigen. Denn ob der Angeschuldigte durch die Form der Untersuchung gewinne ? möchte sehr zweifelhaft seyn.

In keinem Falle darf das Criminalverfahren als ein für sich allein abgeschlossenes Ganze betrachtet werden. Denn es soll wirken! Aber Kirche, Schule, Sitten, Meinungen, wirken mit; und Psychologie sammt der praktischen Menschenkenntnifs müssen helfen, sowohl um es zu leiten als um es zu beurtheilen.

§ 180. Im Vorstehenden liegt nun nicht etwa die Behauptung, als müfsten Pädagogik und Politik in der hier angegebenen Form vorgetragen werden. Zum praktischen Gebrauche müssen vielmehr dem Praktiker die Haupt- [2i5]theile seines Geschäffts auseinander gesetzt werden.* Hier aber, in der praktischen Philosophie, kommt es nur auf die Stellung der Begriffe an. Es ist genug, wenn aus dem Vorstehenden unmittelbar einleuchtet, dafs an Tugend und Pflicht sich Alles anschliefst, und zwar zuvörderst an die Tugend, dann erst an die Pflicht. Diese Stellung läfst sich nicht umkehren. Die praktischen Ideen sind die veste Grundlage, auf ihnen ruhet zunächst der Tugendbegriff; die Pflichten aber zerfallen unbestimmt,

'f Die allgemeine Pädagogik des Verfassers ist nach den drey Geschäfftszweigen, Regierung, Unterricht, und Zucht geordnet. Der Umriis pädagogischer Vorlesungen er- gänzt diese Abhandlung noch durch genaueres Eingehn auf die Altersstufen der Zög- linge, die Verschiedenheit der Lehrgegenstände, und der Lehranstalten, die Mannig- faltigkeit der vorkommenden Felder, welche zu bessern sind.

III. Abschn. Analyt. Bei. d. Moral. 2. Cap. Von d. einzelnen Hauptpuncten d. Moral. 43 5

und es läfst sich kein geschlossenes System der Maximen für sie finden. Schon deshalb nicht, weil bey jeder Handlung die Wahrscheinlichkeit der Wirkung und selbst die Verantwortlichkeit wegen der entfernteren Folgen, wenigstens überlegt werden mufs, ehe man sich davon lossagt 146), 147). Ferner darum nicht, weil niemals vermieden werden kann, dafs sich Maximen des Nützlichen und Schädlichen bilden, die so weit gelten, als sie nicht wider das Sittliche verstofsen 141). Die Kantische An- sicht (§ 51) kann nie ganz verschwinden, denn der Handelnde steht auf empirischem Boden; darum hat er Maximen noch vor der Prüfung ihrer Zulässigkeit, wie schwankend sie auch übrigens seyn mögen.

§ 181.

[2 1 6] Blickt man auf Veranlassung der Pädagogik und Politik zu- rück auf Familie und Staat: so erinnert dies sogleich daran, dafs theils zwischen Beyden, theils zu beyden Seiten, etwas liegen geblieben ist, was sich einer fernem Betrachtung darbietet.

1) Je gröfser der Staat: desto weiter die Distanz zwischen häuslichem und öffentlichem Interesse. Welches auch die Staatsform sey, der Privat- mann verschwindet (mit wenigen Ausnahmen) vor der Masse und der Macht. Das häusliche Interesse überwiegt bey der grofsen Mehrzahl der Einzelnen. Darin liegt Schutz gegen so falsche Erziehungspläne, als Fichte einst freylich in Zeiten der Noth gelten machen wollte. * Er- ziehung ist und bleibt zunächst Angelegenheit der Familien, und bedarf des häuslichen, aber nicht eines öffentlichen Jugend-Lebens, in welchem sich alte Rohheiten von vorn an erneuern würden.**

Allein das häusliche Interesse kann auch zu grofs werden; so grofs, dafs von ihm das öffentliche Interesse verschlungen wird. Dann ver- wandelt sich der Staat in ein Abstractum, und von der Macht, die aus der Gesammtheit hervorgehn sollte, bleibt nur ein Rest, der nicht allen Proben gewachsen ist.

[2 1 7] Es braucht kaum noch gesagt zu werden, dafs zwischen dem häuslichen und dem ganz öffentlichen Interesse dasjenige in der Mitte liegt, was sich den Gesellschaften im Staate, zuerst der Kirche, dann haupt- sächlich den Communen widmet; daher die grofse Wichtigkeit der letztern nicht blofs dem Staatsmann einen Anknüpfungspunct darbietet, 173) sondern überhaupt und mit vollem Rechte die vorzügliche Beachtung unseres Zeitalters auf sich gezogen hat. Vielleicht aber gehörte auch die ganze Bildung der heutigen Zeit dazu, einen solchen Communalgeist hervor- zurufen, der nicht an Privilegien hänge, sondern einverstanden mit den allgemeinen Angelegenheiten, und hinreichend gleichartig in den ver- schiedenen neben einander bestehenden Communen fortschreite, um nicht Spannungen zuzulassen.

* Fichtes Reden an die deutsche Nation [1806] S. 331 u. s. f. ** Nur den "Worten nach widerspricht dies einer Stelle in der allgemeinen Päda- gogik (S. 351)- Denn was hier an dem Fichteschen Plane getadelt worden, das ist eine solche Öffentlichkeit, welcher Losreifsung von Familien zum Grunde liegt, während unser gröfster Vorzug vor den Alten in dem bessern Familiengeiste besteht.

28*

126 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

§ l32.

2) Die eben erwähnten Gegenstände liegen von selbst im Gesichts- kreise jedes Gebildeten, weil sein eignes Interesse dahin weiset, so dafs es durch moralische Überlegung nur braucht gehörig gelenkt zu werden. Anderes aber liegt theils tiefer, theils höher ; daher man der Moral (be- sonders der christlichen) das Verdienst zuschreiben darf, die Aufmerksam- keit, wenigstens der Besseren dahingewendet zu haben.

Während die wohlgeordnete Familie das Bestreben in sich trägt, eine von allen praktischen Ideen beseelte Gesellschaft im Kleinen darzustellen ; während sie auch einen grofsen Theil der äieiienden Klasse in eine solche Lage setzt, dals derselbe wenigstens mittelbar dem Staate angehört: bleibt ein andrer Theil arm, [218] hülflos, daher auch in der Gefahr, sich gänzlich unterdrückt und verachtet zu glauben, und hiemit zum eigentlichen Pöbel herabzusinken. So gewifs nun hierauf eine Mannigfaltigkeit der schwersten Pflichten sich bezieht: so kann doch an diesem Orte nur an das Obige 99 111) erinnert werden; denn der Gegenstand erfodert gemeinsame Anstrengungen, wenn gründlich soll geholfen werden; er gehört ins Ver- waltungs- und Cultursystem ; also freylich nicht in ein von der Moral losgerissenes Naturrecht, worin man sich wegen des Eigenthums auf den blofsen animus habendi beruft. 64.)

§ 183.

3) Über den Staat hinaus liegen Völkerrecht, Völkermoral, und der Versuch, vom Weltplane eine zwar nicht allgemeine, aber in Bezug auf die irdische Existenz des Menschengeschlechts wenigstens leidliche Vor- stellung zu gewinnen. .

Grotius bestrebte sich, ein in sich zusammenhängendes, dem positiven Rechte ähnliches Völkerrecht hervorzurufen. Da keine wirkliche positive Gesetzgebung soweit reicht; da hierin der Grund lag, ein natürliches Recht jenseits des positiven Rechts gelten zu machen, und eben dies Ver- anlassung gab, das Naturrecht von der Moral loszureifsen : so mufs hier vor Allem bemerkt werden, dafs kein blofses Recht der Völker für sich allein fähig ist, ein wissenschaftliches Ganzes zu bilden, sondern dafs die Wissenschaft sich noth wendig zur Tugend der Gesellschaft, und zur Mo ml der Völker erhebt, selbst noch ohne [219] nach der Ausführbarkeit einer solchen zu fragen. Anknüpfen können wir jedoch an das Vorhergehende.

§ 184. Zuvörderst ist gänzlich fern zu halten jene Ansicht, als wären Staat und Volk blofse Mittel zu irgend einem, wenn auch noch so wichtigen Zwecke. 85, 90.) Viel besser ist hier Schleiermachers Lehre vom höchsten Gute 110) und überhaupt von Gütern, 167) wiefern der sittliche Mensch sie zu erwerben strebt. Denn obgleich die praktische Philosophie nicht als Güterlehre ursprünglich auftreten darf, 47) so sind doch für den moralischen Willen 52) Gegenstände vorhanden, für welche er thätig ist. Diese liegen im Kreise der durch praktische Ideen beseelten Gesellschaft 112, 113); und es leuchtet ein, dafs Staat

III. Abschn. Analyt. Bei. d. Moral.. 2. Cap. Von d. einzelnen Hauptpuncten d. Moral. 437

und Volk eine solche Gesellschaft zu bilden, also einen unmittelbaren Werth zu erlangen bestimmt sind.

§ 185.

Insbesondere ist zu bemerken, dafs die ideale Gesellschaft nicht, wie das Machtgebiet des Staats, geographisch bestimmte Gränzen hat 112). Bezieht man nun dies einstweilen blols auf die Rechtsgesellschaft als solche, so ergiebt sich die Nothwendigkeit des Völkerrechts schon aus den von Grotius bemerkten Umständen 70, 71, 72). Und ohne Zweifel hat Grotius soviel, als irgend ein Schriftsteller hoffen kann, dazu bevgetragen, dafs die Unterhandlungen unter den Häuptern der Staaten einen stetigen Fortgang erlangten, mithin eine gegenseitige Aufsicht in Gang [220] kam, die mehr und mehr geeignet wird, den Kriegen vor- zubeugen.

'6

§ 186.

Diese Aufsicht ist nun freylich keine volle Gewalt; aber sie ist min- destens eben so weit entfernt von müssiger Contemplation. Sie hat, wenn nicht Sittlichkeit, doch Sitten hervorgebracht; das ästhetische Urtheil ist frühei wach, ehe der Wille sich dadurch moralisch und vollständig be- stimmen läfst. Man .mufs bey solchen Dingen längere Zeiträume vor Augen haben; und sich an die alte Barbarey der Kriege erinnern. Eine moralische Kraft ist im Werden begriffen; und sie wächst, indem die gegenseitige Beobachtung sich schärft; während die Hoffnung abnimmt, durch Eroberungskriege etwas Wesentliches zu gewinnen, und das Gewonnene behaupten zu können. Beyspiele vergeblicher Unternehmungen dieser Art schrecken allmählig davon ab.

§ 187.

Vorausgesetzt also, die gegenseitige Aufsicht sey nicht unwirksam: so nähert sich allmählich ein Zustand, den man, wenn auch nicht ganz passend, doch wohl kaum mit einem andern Worte, als mit dem Namen Föderalismus bezeichnen kann, da ein System von Bündnissen, deren Collisionen sich ausgeglichen haben, dabey zum Grunde liegt.

Man kann demnach nicht erwarten, dafs eine Zeit kommen werde, worin benachbarte Staaten weniger gegenseitige Rücksicht von einander fodern würden als bisher; aber es läfst sich erwarten, dafs diese Rück- sichten sich immer zweckmäfsiger bestimmen werden. [221] Sollten z.B. die Interventionen ganz aufgegeben werden, so würde dieses soviel be- deuten, als: keiner habe sich um den Nachbarn zu bekümmern; statt dessen aber wird Jeder die Intervention, welche ihm lästig wäre, sorg- fältiger vermeiden; also frühzeitiger auf Warnungen hören.

§ 188. Man erblickt hier leicht den wesentlichen Unterschied des Natur- standes, wie ihn das Naturrecht unter Privatpersonen sich denkt, und desjenigen Naturstandes, der unter Völkern wirklich statt findet. Bey Privatpersonen ohne irgend eine nähere Bestimmung ihrer Bildungsstufe, kann man eine stets wirksame Besonnenheit, und ein gleichförmig geregeltes Betragen nicht allgemein voraussetzen. Bey Staaten aber sammeln sich

1 -

43 8 IX. Analytische Beleuc^ng des Naturrechts und der Moral. 1836. ^

Maximen und Erfahrungen >, dafs ein offenbar unzweckmäßiges Verfahren nicht eintreten oder doch echt lange fortdauern kann überdies, wenn irgend wo ein öffentliches brecht vorkommt, so verhallt die Summe des Vorwurfs nicht leicht, und wd sie an Einem Orte zum Schweigen gebracht, so ertönt sie desto stärker m andern. Bey so reizbarem Ehrgefühl, wie es die höhern Lebenskreisc mit sich bringen, darf man eine wachsende Wirkung derselben annehmt.

§ 189. Während nun das polische Gleichgewicht allmählig einer rechtlichen Geselligkeit sich annähert : * auch das Cultursystem im Fortschreiten be- griffen ° Die frühere Scheiang durch Sprachen und bitten verschwindet mehr und mehr; in der Kirch erlangt das Ge-[222]mein>ame ein L bergewicht über dem Besondern; undwas die Schulen erreichen, wird gegenseitig mitgetheilt. Dies genügt scon zur Erinnerung, dals oie \ ulkermoral nicht Urs°ach hat, sich auf blofs« Völkerrecht zu be~ iea.

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D. te hierüber im folgend- -1.

D r i 1 1 es Ca] Von der teleologischen Riching der Moral.

Einer euc es wesentlich, sich nicht blofs um die nähern Wahrschein- lichkeit im tägli< !:■ zu bekümmern, sondern auch um ck will sie durch gegenwärtige Mühe und I n. Eine religiöse Moral dage-j Ht die ttheit anheim, denn sie sucht nur di nd als Zeugnifs hievon die Ruh< '■ erzeugt sich, wenn Fernand zum I Eudämonismus sich schmeii helt, durch die er in d< mitwirken könne. Die

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und auch da, \v< das Verwaltungssystem sie \'erbindung nur :1s Mittel fürs Gemein-- Mr Gemeinwohl selb.- mir eine gröfete mögliche ■Vohlsevns enthält.

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438 IX- Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

Maximen und Erfahrungen so, dafs ein offenbar unzweckmäfsiges Verfahren nicht eintreten oder doch nicht lange fortdauern kann. Überdies, wenn irgend wo ein öffentliches Unrecht vorkommt, so verhallt die Stimme des Vorwurfs nicht leicht, und wird sie an Einem Orte zum Schweigen gebracht, so ertönt sie desto stärker am andern. Bey so reizbarem Ehrgefühl, wie es die höhern Lebenskreise mit sich bringen, darf man eine wachsende Wirkung derselben annehmen.

§ 189. Während nun das politische Gleichgewicht allmählig einer rechtlichen Geselligkeit sich annähert : ist auch das Cultursystem im Fortschreiten be- griffen. Die frühere Scheidung durch Sprachen und Sitten verschwindet mehr und mehr; in der Kirche erlangt das Ge-[2 2 2]meinsame ein Übergewicht über dem Besondern; und was die Schulen erreichen, wird o;es;enseitio-

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mitgetheilt. Dies genügt schon zur Erinnerung, dafs die Völkermoral nicht Ursach hat, sich auf blofses Völkerrecht zu beschränken.

§ IQO.

Was aber die natürlichen Fehler anlangt, mit denen das Cultur- system zu kämpfen hat, desgleichen die Schwierigkeiten des Verwaltungs- systems, * so zeigen sich diese zwar in den Verhältnissen der Völker, ohne doch hier insbesondre ihren Sitz zu haben. Wären sie im Innern der Staaten gehoben, so würde der Geist jener Systeme bald vordringen, und sich auch nach aufsen hin Bahn machen. So lange dies nicht geschieht, ist allerdings die Völkermoral mehr in der Idee vorhanden, als in der Wirklichkeit zu spüren. Es kann alsdann verdienstlich seyn, sie wenigstens zur Sprache zu bringen, damit nicht im Grofsen ungerügt bleibe, was im Kleinen vom lebhaftesten Tadel verfolgt wird. Nur zu oft blendet das Böse, indem es sich grofs darstellt.

Aber dies Verdienst hat eine Schattenseite. Schwärmerische Köpfe lassen sich durch nichts so leicht entzünden, als durch die Rede vom Bösen im Grofsen, von allgemeiner Sündhaftigkeit.

§ 191.

Einer nicht längst verflossenen Zeit verkündigte Fichtes Beredsam- keit, sie stehe in der Epoche vollendeter Sünde, und hiemit gerade im Mittelpuncte der Ge-[2 2 3]schichte. Das sollte mit dem Weltplan zu- sammenhängen. Nun kann in einer unabsehlich langen Zeit jeder Zeit- punet als dei Mittelpunct angesehen werden; und obgleich sich seit Fichtes Rede die Zeitumstände sehr geändert haben, so ist doch keine so grofse Umschaffung des Sittlichen eingetreten, dafs, wofern damals die behauptete Epoche vorhanden war, sie heute schon der Vergangenheit 1 angehören könnte. Mufste man sich damals eine so harte Rede gefallen lassen, so ist es auch noch jetzt die Schuldigkeit des Zeitalters, die Er- mahnung zu beherzigen. Findet sich dagegen, dafs Wahres mit Schwärmerey gemischt worden, dafs dem Wahren ein andrer Zusammenhang und eine andre Darstellung gebührt, dafs die Schwärmerey in allerley Nachklängen

* Praktische Philosophie, im sechsten Capitel des zweyten Buchs. [Bd. II vorl. Ausg. S. 428.]

III. Abschn. Analyt. Bei. d. Moral. 3. Cap. Von d. teleologischen Richtung d. Moral. 43g

fortdauert, so ist es noch nicht zu spät zur Prüfung und Sichtung, be- sonders für ein Zeitalter wie das jetzige, dem man Besonnenheit so sehr empfehlen mufs !

Das Nöthigste hierüber im folgenden Capitel.

Drittes Capitel. Von der teleologischen Richtung der Moral.

§ 192.

Einer eudämonistischen, also falschen Moral, ist es wesentlich, sich nicht blofs um die nähern Folgen der Handlungen, deren Wahrschein- lichkeit im täglichen Leben für Gewifsheit gelten mufs, zu bekümmern, sondern auch um die entfernteren ; denn künftiges Glück will sie durch gegenwärtige Mühe und Entbeh-[2 24]rung erkaufen. Eine religiöse Moral dagegen stellt die entfernteren Folgen der Gottheit anheim, denn sie sucht nur des höchsten Wesens Zufriedenheit, und als Zeugnifs hievon die Ruhe des Gewissens. Aber ein Mittelding aus beyden erzeugt sich, wenn Jemand zum -Ersatz für den aufgegebenen Eudämonismus sich schmeichelt, solche Folgen seiner Handlungen vorauszusehen, durch die er in den göttlichen Plan eingreifen und dabey mitwirken könne. Die grofse Unsicherheit unseres Wissens, schon in Ansehung der gewöhnlichsten Folgen, sollte davon abschrecken; 145 149) allein es fehlt nicht an Einbildungen eines Wissens, welche sich darüber hinaus setzen. Kritik theoretischer Lehren gehört nicht hieher : daher kann Nachstehendes nur als Anhang betrachtet werden.

§ 193.

Um die Analyse der bekanntesten Lehrmeinungen desto kürzer fassen zu können, stellen wir etwas Allgemeines voran.

Gemäfs der religiösen Weltbetrachtung hat die göttliche Güte den empfindenden Wesen ihr Daseyn deshalb gegeben, damit ihnen wohl sey. Um aber in dieser Betrachtung nicht irre zu werden, mufs man die häufig vorkommenden Fehler in Ansehung der Idee des Wohlwollens 31 3$) vermieden haben. Auch mufs man sich nicht der Klage überlassen, welche das menschliche Leiden höher anschlägt als das Wohlseyn; sondern man mufs den sehr leicht begreiflichen Grund dieser Klage im Auge haben, dafs sich die unangenehmen Vorfälle mehr ins Gedächtnifs prägen als die angenehmen.

[225] Nun ist es der Idee des Wohlwollens gemäfs, die Individuen einzeln zu berücksichtigen, und auch da, wo das Verwaltungssystem sie zusammenfafst, doch diese Verbindung nur als Mittel fürs Gemeinwohl zu benutzen, während das Gemeinwohl selbst nur eine gröfste mögliche Summe des individuellen Wohlseyns enthält.

§ 194.

Die Idee der Vollkommenheit führt auf eine andre, ebenfalls religiöse Weltbetrachtung. Das Weltall soll ein Cultursystem seyn. Aber das

44° IX- Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

Cultursystem hat seinen Werth nicht in den Leistungen der Individuen, sondern in der Einheit Aller, als eines Ganzen; welche Einheit nicht die einer Summe ist, sondern die eines Systems. Wird nun mit gewohnter Einseitigkeit (wenn auch nicht mit ausdrücklichen Worten) die Idee der Vollkommenheit allein an die Spitze der Moral gestellt, so ist die nächste Folge, dals jene Rücksicht auf die Individuen in Schatten trit, und an- statt der Individuen vielmehr die Gattung für den Gegenstand des Welt- plans erklärt wird.

§ 195. Noch eine andre Vorstellung vom Weltplan ergiebt sich, wenn Rechtsgesellschaft und Lohnsystem, in gewöhnlicher Verbindung, so hoch gesteigert werden, dafs sie das Ganze umfassen. Hieher wird meistens die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele gedeutet; das künftige Leben ist alsdann für die Individuen die Zeit der Vergeltuno-.

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§ I96.

Da sich diese Ansichten des Weltplans auf die praktischen Ideen stützen: so kann man keine derselben [226] für falsch erklären, aber auch keine der andern voiziehn ; sondern man mufs sie verbinden; so wie sich die Ideen in der von ihnen beseelten Gesellschaft concentriren. Nur hat man so noch immer nicht das Wesentliche eines Plans begründet; denn aus den Ideen folgt keine Zeit; keine Vergangenheit, Gegenwart, und Zukunft; und eben so wenig Verlust eines vergangenen Besseren, als Veranstaltung einer künftigen Besserung.

Nach dem Ar/lasse, welcher dies Zeitliche in die gangbaren Lehr- meinungen philosophischer Schulen einführte, ist nicht weit zu suchen. Zur kantischen Freyheitslehre kam das radicale Böse; und diese zwey Widersacher unzeitlich zu verbinden, wollte nicht gut gelingen.

§ IQ7- Kant hatte unabhängig von aller Erfahrung die praktische Vernunft, - aber nur auf Zeugnifs der Erfahrung das natürliche Böse angenommen; daher man glauben möchte, beydes sey bey ihm so disparat, wie ästhetisches Urtheil und Begierde es wirklich sind. Hieraus hätte nun kein Wider- spruch entstehn können; und es würde gar keiner besondern Versicherung bedurft haben, dafs „eine jede böse Handlung so betrachtet werden müsse, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in sie gerathen wäre."* Das versteht sich von selbst, da das Urtheil sich überall nicht nach irgend einem Stande, oder Ursprünge des Willens, richtet; sondern unmittelbar den [22}] Willen trifft, und ihn nimmt wie rev eben ist; vorausgesetzt, dafs dieser Wille als etwas Vestes und Be- stimmtes sey gegeben worden. Aber bey aller Ungleichartigkeit des Reinen und des Empirischen fielen nach Kant doch das Sittliche und das Sinnliche unter den nämlichen Begriff; denn bey ihm war das Sollen ursprünglich ein Wollen, und die sinnlichen Triebfedern gaben auch Be- stimmungen der Willkühr. So schien es, der freye und doch radical

K Kants Religion innerhalb der Gränzen blofser Vernunft; S. 42.

III. Abschn. Analyt. Bei. d. Moral. ß.Cap. Von d. teleologischen Richtung d. Moral. in

böse IMcnsch widerspreche sich selbst in seinem ursprünglich doppdien Wollen. Das moralische Gesetz drang sich ihm unwiderstehlich auf,* so dafs, wenn keine andre Triebfeder dagegen wirkte, er es als hinreichenden Bestimmuno;sgrund seiner Willkühr in seine oberste Maxime aufnehmen, d. h. moralisch gut sevn würde. Warum ist er es denn nicht? Warum ist es Niemand, (so nämlich sagt Kant!) da doch unter Voraussetzung der absoluten Freyheit gerade, gleichviel Wahrscheinlichkeit vorhanden ist, dafs Einige die Triebfedern der Sinnlichkeit, Andre aber das moralische Gesetz vorziehn werden?

Nach manchen Versicherungen, im Menschen sey ein natürlicher Hang zum Bösen, der doch am Ende in einer freyen Willkühr gesucht werden müsse (also nicht für natürlich gelten könnte) ferner, man dürfe nicht nach einem Zeitursprunge, sondern nur nach einem Vernunft- ursprunge fragen: bequemt sich Kant doch am Ende zu dem gewöhn- lichen Hülfsmittel, Widersprechendes zu sondern; er läfst sich den zeit- lichen Unterschied des Früheren und Späteren gefallen, was [228] bey einem geständlich empirischen Gegenstande (dem gewöhnlichen Hange der Menschen zum Bösen) füglich gleich Anfangs hätte geschehen mögen. Diese Zeitlichkeit erblickt man nun in dem ganzen Plane der Kantischen Religionslehre. Denn da ist von einem Kampfe des guten Princips mit dem Bösen um die Plerrschaft über den Menschen, und alsdann von einem Siege des guten Princips die Rede, ja auch von einer Stiftung des Reiches Gottes auf Erden; desgleichen von der PfV^/herstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten in ihre Kraft. Freylich übersteige es alle unsre Begriffe, dafs ein natürlicherweise böser Mensch sich selbst zum guten Menschen mache; aber wenn man wohl bedenke, dafs auch der Verfall vom Guten ins Böse aus der Freyheit entspringe, so sey dieser nicht begreiflicher als das Wiederaufstehen aus dem Bösen zum Guten. Es gab also schon bey Kant einen sichtbaren Unterschied dreyer Momente. Zuerst war das Gute; dann ein Verfall vom Guten ins Böse; und nochmals dann ein Wiedet -Aufstehen aus dem Bösen zum Guten.

Der Unbegreifiichkeit aber war Preis gegeben, was zum Behuf einer moralischen Pädagogik und Politik aufs sorgfältigste mufs untersucht werden. Der Untersuchung war durch die Freyheitslehre der Riegel vor- geschoben. Nun war hiemit zwar noch nicht geradezu die Schwärmerey eingeladen, sich an die Stelle der Untersuchung zu setzen; aber die Sache wurde schlimmer, weil in andern Puncten wirklich Anlässe zur Schwärmerey bey Kant zu finden sind.**

§ 198. [229] Ungeachtet der vorgeblichen Unbegreiflichkeit dessen, was man pädagogisch soll begriffen haben, entwickelte sich dennoch aus einem halb wahren, halb falschen pädagogischen Gedanken der Keim dessen, w< ivon wir reden, nämlich des Weltplans.

* A a. O. S. 33.

** Vergl. des Vrfs. Metaphysik I, § 39, erste Anmerkung. [Vorl. Ausg. Bd. VII, S. 61.] Über das Böse der Psychologie II, § 152; [vorl. Ausg. Bd. VI, S. 25; ff.] desgleichen in der Schrift über die Freyheit des menschlichen Willens den achten Brief. [S. oben S. 290 ff.]

442 IX- Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

„Die moralische Bildung des Menschen mufs nicht von der Besserung der Sitten, sondern von der Umwandlung der Denkungsart, und von der Gründung eines Charakters anfangen".*

Aus dem Obigen 170) erhellet leicht, was hieran wahr ist. Die Denkungsart ist das ästhetische Urtheil. Dieses braucht zwar nicht um- gewandelt zu werden, denn das kann und soll nicht geschehn; aber dafs es wach werde, daran ist allerdings im höchsten Grade gelegen. Gleich- wohl ist selbst dann, wann es wacht, noch keinesweges für die Sittlich- keit entschieden. Es ist ganz falsch, dafs nicht von der Besserung der Sitten müsse angefangen werden; diese mufs vielmehr zugleich negativ durch Abwehr schlechter Sitten, und positiv durch Alles das, was für Schonung und Entwickelung der Naturkraft und des Wohlwollens geschehn kann, gleichen Schrittes mit dem ästhetischen Urtheil vorwärts gehen; und was den Charakter anlangt, so darf nicht vergessen werden, dafs zum objeetiven Theile desselben noch der subjeetive** hinzukommen mufs, wohin die gesammte Bildung der Maximen gehört. Von allen hier er- wähn-[23o]ten Erfodernissen ist keins so beschaffen, dafs es durch die andern könnte ersetzt werden; sondern es mufs ihnen allen, gleich sorg- fältig, Genüge geschehn.

Die Frage ist aber, ob es erlaubt sey, auf pädagogische Principien den Plan der Erziehung des Menschengeschlechts im Namen Gottes zu begründen? Und die weitere Frage ist, ob man den Weltplan aus einem solchen Erziehungsplane werde begriffen haben? Ob es gar keiner Physik, Chemie, Physiologie, Astronomie bedürfen werde, um sich vom Weltplan irgend einen, wenn auch noch so dürftigen Begriff zu machen?

Bey Kant steht das eben Angeführte in unmittelbarstem Zusammen- hange mit der Foderung einer „Revolution für die Denkungsart, und einer Reform für die Sinnesart".

Von einer Revolution hätte er um so weniger im Allgemeinen reden sollen, da er den Grund des Bösen nicht in einer Verderbnifs der moralisch gesetzgebenden Vernunft*** suchen will; aber wegen jenes doppelten Willens 197), welchen das Verkennen des ästhetischen Urtheils herbey- führte, mufste ihm der Ausdruck passend scheinen. Wäre das ursprüngliche Böse schon eine Umkehrung durch falsche Unterordnung des sittlichen Willens unter den sinnlichen, so müfste zum Behuf der Besserung das Umgekehrte von neuem umgekehrt werden; und so verhält es sich in der That beym ausgebildeten Bösen 142), welches schlechterdings nicht mit der ursprünglichen Schwäche des Menschen darf verwechselt werden, und keines-[23i]weges allgemein der Gattung zuzuschreiben ist, sondern nur bey Individuen vorkommt.!

Kants Religion i. d. G. d. bl. Vernunft, S. 55.

Allgemeine Pädagogik, drittes Buch, im ersten Capitel. [Bd. II vorl. Ausg. S. 90.] *** A. a. O. S. 31. f Die Ausdehnung, welche Kant seiner Meinung vom natürlichen Bösen gegeben hat, führt sehr leicht dahin, dafs man die Menschen für schlechter, schwächer, der wahren Freyheit und Selbstbeherrschung unfähiger hält, als sie wirklich sind. Warum? weil man eine absolute Freyheit bey ihnen sucht, und, da sie diese nicht haben, den Mangel gröfser schätzt, als er wirklich ist.

III. Abschn. Analyt. Bei. d. Moral. 3. Cap. Von d. teleologischen Richtung d. Moral. 443

Kant aber redete allgemein folgendermaafsen fort: „Wenn der Mensch den obersten Grund seiner Maximen, wodurch er ein böser Mensch war, durch eine einzige unwandelbare Entschliefsung umkehrt, und hiemit einen neuen Menschen anzieht, so ist er in so fern, dem Princip und der Denkungsart nach, ein fürs Gute empfängliches Subject; aber nur in continuirlichem Wirken und Werden ein guter Mensch; d. h. er kann hoffen, dafs er bey einer solchen Reinheit des Princips sich auf dem guten Wege eines beständigen Fortschreitens vom Schlechtem zum Bessern befinde."

Die Consequenz hätte hier etwas Anderes gefodert. Gesetzt, das Böse läge ursprünglich an verkehrter Unterordnung jener beyden Willen; so wäre es sogleich vollkommen gehoben, sobald das Verkehrte durch eine Revolution von neue?n umgekehrt würde; und der continuirliche Fort- schritt, — auf welchen für den projeetirten Weltplan alles ankommt, ist selbst nach allen vorhergehenden Fehlern hier nur sprungweise ein- geführt. Aber Kaxt überläfst sich einer Reminiscenz an seine, aus der Kritik der praktischen Vernunft bekannte, Meinung: der unzeitliche Act der Freyheit liege [232] der ganzen Reihe von Handlungen des Menschen zum Grunde, also auch umgekehrt müsse einem Act der Freyheit, nämlich der vorerwähnten Revolution der Denkungsart, eine sich all- rnählig entwickelnde Zeitreihe entsprechen, welche das Umkehren gleichsam auseinanderziehe, und ein continuirliches Quantum von Übergängen zum Bessern daraus mache. In Ansehung desselben fügt er nun hinzu:

„Dies ist für denjenigen, der den intelligibeln Grund des Herzens (aller Maximen der Willkühr) durchschauet, für den also diese Un- endlichkeit des Fortsehritts Einheit ist, d. h. für Gott, soviel als wirklich ein guter, ihm gefälliger Mensch seyn; und in so fern kann (!) diese Veränderung als Revolution betrachtet werden; für die Beurtheilung der Menschen aber, die sich und die Stärke ihrer Maximen nur nach der Oberhand, die sie über die Sinnlichkeit in der Zeit gewinnen, schätzen können, ist sie nur als ein immer fortdauerndes Streben zum Bessern, mithin als allmählige Reform des Hanges zum Bösen anzusehen."

Das Wörtchen kann verräth eine Unsicherheit in der Gleichstellung des intelligibeln Acts mit der zeitlichen Evolution in eine Reihe, welche als der ihm entsprechende Ausdruck sollte gelten können. Wirklich ist in diesem Können ein nicht unbedeutender Rechnungsfehler verborgen. Unendlicher Fortschritt ist gefodert; aber diese Unendlichkeit läuft nur nach Einer Seite, nämlich in die Zukunft. Gesetzt nun, ein Mensch bessere seine vorher schlechte Denkungsart, und zwar von dem Augen- blick an, da irgend eine moralische Lehre [233] oder Gewissensregung ihn zu dem Entschlufs bringt, ein neuer Mensch werden zu wollen : so ist dieser Augenblick ein Anfangspunct für eine Zeitreihe, die in die Zu- kunft läuft. Wirft man die Zeit weg: so soll das Zeitlose, sich selbst Gleiche, herauskommen. Aber man kann den Anfangspunct nicht zurück- schieben, wie doch geschehn müfste, um in der früheren Zeit den nämlichen continuiilichen Fortschritt anzutreffen; vielmehr, nach Aufhebung des zeitlichen Auseinanderziehens, fällt das frühere Böse mit der späteren

_l4-4 1X- A,w'ytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral, 1836.

Besserung in eine sich selbst widersprechende Einheit; und man mufs (inen sehr nachsichtigen Richter voraussetzen, wenn ein solcher die Zeit vor der Besserung ignoriren soll. Dergleichen Hoffnung auf Nachsicht liegt nun zwar allerdings in der Religionslehre, aber nicht in der Kantischen Rechnung, welche sich auf die falsche Voraussetzung der unzeitlichen Freyheit gestützt hatte.

§ 199-

Wollte man im Ernste, und in Bezug auf die göttliche Weltregierung, sagen, ein Plan, das Böse erst entstehen zu lassen, um es alsdann auf- zuheben , hätte lieber gar nicht gefafst werden sollen : so würde eine solche Sprache unverantwortlich dreist seyn. Allein wir reden hier von denjenigen Lehrmeinungen, welche den Weltplan zu erkennen vorgeben, und ihn doch nicht genügender darzulegen wissen. Diese nun sind dreist, weil sie ein Phantom des Bösen verfolgen.

Das Böse ist zwar an sich keine blofse Negation 142); aber der Begriff desselben enthält die Negation des Sittlich-Guten ; und jedei Mangel in der Bestim-[2 34]mung eines positiven Begriffs wird Grund eines Fehlers in der Bestimmung des ihm entgegenzusetzenden negativen.

Was oben 129 149) von der Tugend und Pflicht, unter Voraus- setzung des bekannten Unterschiedes der praktischen Ideen gesagt worden : das mufs zusammen vestgehalten werden, um die Vielförmigkeit und grofse Mannigfaltigkeit dessen zu begreifen, was durch einander gemengt Denen vorschwebt, die vom Bösen, und von contmuirlicher Besserung so reden, als ob an ein gleichförmioes Continuum bev so verschiedenartiger Manniff- faltigkeit zu denkeri wäre. Der Irrthum, der aus Vermengung der prak- tischen Ideen entstand, ist um desto schädlicher, da er die richtige Ver- bindung der Psychologie mit der Moral, die gerade hier eintreten mufs, unmöglich macht.

Wenn nun vollends nicht blofs von der Besserung der Individuen, sondern wie natürlich, vorzugsweise von der Gattung und ihrer sichtbar fortschreitenden Geschichte, ja von der Stiftung eines göttlichen Reiches auf Erden, 197) mithin auch von Staat und Kirche die Rede seyn soll: so zieht dies eine neue Dreistigkeit in der Deutung der Geschichte nach sich; als ob aus dem Wenigen, was von dem Menschengeschlechte auf unserm Planeten seit ein Paar Jahrtausenden bekannt ist, eine Analogie gebildet werden dürfte, die sich auf die göttliche Weltregierung für alle Vergangenheit und alle Zukunft, und sogar im ganzen Reiche der Ver- nunftwesen ausdehnen liefse !

Wo Deutungen dieser Art mit Vorliebe ausgebildet werden, da zieht schon der Historiker eine Gränzlinie [235] zwischen der also erzeugten Mythologie und der wahren Geschichte. Nicht minder mufs die Philo- sophie gegen dergleichen Mythen ihre Gränzen bewachen; besonders dann, wenn gerade in ihrem Namen dieselben vorgetragen werden. Hier läfst sich jedoch nur ein einziges Beyspiel dieser Art kurz berühren.

§ 200. In Fichtes Weltansicht war der Grundzug eines an sich höchst achtungswerthen Strebens für die Veredlung der Menschheit schon seit

III. Abschn. Analyt. Bei. d. Moral. 3. Cap. Von d. teleologischen Richtung d. Moral. 445

Anbeginn seiner Laufbahn mit zwey Nebenzügen verbunden ; einer sehr finstern Meinung von der Gegenwart, „obgleich in allen Zeitaltern die Anzahl Derer, die fähig sind sich zu Ideen zu erheben, die kleinere war, so ist doch diese Anzahl nie kleiner gewesen, als eben jetzo"* und einem Hinausschauen in die weiteste Ferne nach Dingen, die da kommen sollen, ja bis in eine Zeit nach Myriaden, Millionen, Billionen von Jahren, in welcher alle Staatsverbindungen überflüssig seyn würden.** Beydes war Fehler der damaligen Zeit und des noch neuen Idealismus, der sich bis zu dem Satze verstieg: „die Welt mufs mir werden, was mir mein Leib ist".***

Späterhin, unter ganz entgegengesetzten Einflüssen der Zeit wurde die Verirrung schlimmer, während die Grundgedanken blieben. Er er- laubte sich nun, ganz ernsthaft zu lehren : Ohne alle Anstrengung oder Frey-[23ö]heit müsse das Menschengeschlecht in seiner allerältesten Ge- stalt, wenigstens in Einem Puncte seines Daseyns rein vernünftig gewesen sevn ; er sprach von einem Vernunft-Instincte, unbekümmert um die darin enthaltene contradictio in adiecto. Wollte man aber etwan unter diesem Instincte ein ursprünglich wachendes ästhetisches Urtheil, und eine mühe- lose Befolgung desselben verstehen, (mit Verzichtleistung auf das Über- legen, welches den ' eigentlichen Sinn des Worts Vernunft ausmacht), so würde man mit einer so nachsichtigen Interpretation doch nichts erreichen. Denn während ein solcher Instinct schon zum Ideal hinauf verklärt wäre, und nichts Höheres zu suchen übrig lassen würde , fährt Fichte an derselben Stelle sogleich fort : .,der eigentliche Zweck des Daseyns ist doch nicht das Vernünftig-Seyn, sondern das Vernünftig-Werden durch Freyheit", welches eine solche Vorliebe für das Werden verräth, dafs man zu allernächst auf die Frage stöfst, wie doch Fichte es habe er- tragen mögen, von einer allerältesten Gestalt zu reden; und ob er sich gar nicht besonnen habe, dafs, sobald man blofs construirend, ohne that- sächliche Begränzung, sich auf eine Vorzeit einläfst, man sie rückwärts ins Unendliche construiren mufs ? Alles dies aber ist nur die Einleitung zu dem Mythus von einem Normalvolke einerseits, und von scheuen, rohen, erdgebornen Wilden andrerseits, desgleichen von der Zerstreuung des Normalvolkes unter die Wilden, womit denn erst die Geschichte be- ginnen — man möchte sagen: die Zeit erst in Flufs kommen soll. Diese gänzlich unphilosophische Behandlung der bekannten mosaischen Erzählung wird nur überboten durch eine spätere [237] Dreistigkeit in demselben Buche, nach welcher „das Christenthum in seiner Lauterkeit und seinem wahren Wesen noch xnie zur öffentlichen Existenz gekommen ist.1' f Solche Dreistigkeiten pflegen im Laufe der Zeit zu wachsen ; und es ist gut, ihren historischen Anfangspunct zu kennen.

* Im Jahre 1794. Fichtes Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, in der Vorrede.

** A. a. O. S. 33, 44, u. anderwärts. *** Fichte System der Sittenlehre S. 304. j Fichtes Grundzüge des gegenwartigen Zeitalters, S. 289 und S. 410.

1 nie zur Existenz gekommen SW. („öffentlichen" fehlt).

4_j6 IX- Analytische Beleuchtung des Näturrechts und der Moral. 1836.

§ 20I.

Per vorgebliche Weltplan, womit dies zusammenhängt, soll fünf Grund-Epochen des Erdenlebens umfassen, mit scheinbaren Durch- kreuzungen und zum Theil neben einander fortlaufenden Zeitaltern. 1) Die Epoche der unbedingten Herrschaft der Vernunft durch den In- stinct. Stand der Unschuld. 2) Die Epoche, da der Vernunft-Instinct in eine äufserlich zwingende Auctorität verwandelt ist; das Zeitalter der anhebenden Sünde. 3) Die Epoche der Befreyung von der gebietenden Auctorität; der Stand der vollendeten Sündhaftigkeit. 4) Die Epoche der Vernunft-Wissenschaft; der Stand der anhebenden Rechtfertigung. 5) Die Epoche der Vernunftkunst. Der Stand der Heiligung.

Die Worte: Kind, Knabe, Jüngling, Mann, Greis, wollen zwar auf einen Weltplan nicht gut passen; allein über das Vorstehende möchten sie doch einen kürzern Aufschlufs geben, als irgend ein Blick auf die praktischen Ideen, oder auf Tugend und Pflicht würde geben können. Zwar wird der ganze Plan als ein Zurückgehn zum Anfangspuncte be- schrieben, allein dies Rückkehren soll aus eigner Kraft geschehen, und die Kraft [238] soll aus der Erkenntnifs kommen. Also an der Er- kenntnifs hatte es Anfangs gefehlt; und aus dem obigen Vernunft- Instincte können wir die Vernunft nicht blofs in wiefern sie überlegt, sondern auch in so fern weglassen, als man ihr die praktische Einsicht, d. h. die ur- sprünglichen Werthbestimmungen beyzulegen gewohnt ist. Welchen Werth hatte denn aber der Zustand unbedingter Herrschaft der Vernunft ohne Vernunft? Welchen neuen Werth hat am Ende die Vernunftkunst? Welcher negative Werth wird durch das Wort Sünde angezeigt? Einige zuvor ausgelassene Worte mögen jetzt, wenn möglich, zur Antwort dienen.

Die zweyte Epoche wird näher beschrieben als ein Zeitalter posi- tiver Lehr- und Lebens-Systeme, die nirgends zurückgehen auf die letzten Gründe, und deswegen nicht zu überzeugen vermögen, dagegen aber zu zwingen begehren, und blinden Glauben, unbedingten Gehorsam fodern. Eine ziemlich deutliche Beschreibung des Knabenalters; wer aber sündigt nun eigentlich, der Knabe oder der zwingende Pädagoge?

Die dritte Epoche wird beschrieben als Epoche der Befreyung, un- mittelbar von der gebietenden Auctorität, mittelbar von der Botmäfsigkeit des Vernunft-Instincts und der Vernunft überliaupt in jeglicher Gestalt: ein Zeitalter der absoluten Gleichgültigkeit gegen alle Wahrheit, und völliger Ungebundenheit ohne einigen Leitfaden. Ein zügelloses Jünglingsalter.

Die vierte Epoche soll dasjenige Zeitalter seyn, worin die Wahrheit als das höchste anerkannt, und am höchsten geliebt wird. Hier, und in der letzten, fünften [239] Epoche scheinen nun freylich Mann und Greis die Rollen zu tauschen, denn während der Mann handelt, der Greis sich mit ruhigem Wissen begnügt, kommt im Fichteschen Weltplan erst das Wissen und dann die Kunst, wiewohl man sonst der Meinung ist, dafs grofse Künstler oft am wenigsten fähig sind, sich von ihrem Thun selbst genaue Rechenschaft zu geben; daher sich vielleicht auch wiederum die erste Periode, die des Instincts, ohne grofse Abweichung an die Stelle der fünften setzen liefse.

Aber angenommen, die Wissenschaft sey nöthig zur Kunst: so möchte

III. Abschn. Analyt. Bei. d. Moral. 3.Cap. Von d. teleologischen Richtung d. Moral, aaj

doch eine auf unrühmlichem Wege, nämlich im Durchgange durch ein zügelloses Jünglingsalter, erbeutete Wahrheit, wie künstlich sie auch nach- mals benutzt würde, eben so wenig taugen uns einen Begriff vom Welt- plan zu geben, als zu begreifen ist, weshalb eine so schlechte Benutzung der Knabenjahre planmäfsig vorangehn mufste, von welcher nicht blofs Jugendsünden, sondern eine vollendete Sündhaftigkeit die Folge war.

§ 202.

Da nun aus dem Vorstehenden weder eine vernünftige Werth- bestimmung, noch ein verständig angelegter Plan, wohl aber eine übel angebrachte Analogie zwischen dem Erdenleben der menschlichen Gattung und den Lebensstufen eines Individuums hervorgeht: so mufs es um so mehr befremden, dafs späterhin der Werth des vernunftmäfsigen Lebens gerade in die Entfernung von dieser Analogie gesetzt wird. Das Indi- viduum soll sein Leben an den Zweck der Gattung setzen. Es wird verlangt, man solle ein solches Leben billigen und be- [2 40] wundern. Aber vorläufig wäre zu fragen, ob die Zumuthung überall einen Sinn habe?

Das bekannte : dulce et decorian est pro patria morz, hat einen Sinn, wenn das Vaterland in Gefahr ist. Wann denn ist die Gattung in Gefahr ?

Grofse Männer haben sich um die Wissenschaften verdient gemacht, und dadurch vielleicht auf die Gattung wohlthätig gewirkt. Worin waren sie vertieft, in die Gattung, oder in die Wissenschaft? Was hätte die Wissenschaft damit gewonnen, wenn sie etwa, anstatt darauf ihre Augen zu richten, darüber hinaus geblickt hätten? Das Geschafft des Forschens wenigstens wird durch solches Hinaufschauen zu hohen Absichten, nicht leichter, sondern schwerer.

Rousseau sagt irgendwo: Mancher liebt die Tartaren, um nicht seinen Nächsten lieben zu müssen. Kants casuistische Frage, ob es nicht gut wäre, alle Moralität gewissenhaft auf Rechtspflichten zu be- schränken, (§31) hätte nicht durch Hinweisung auf Menschenliebe als eine moralische Zierde der Welt beantwortet werden können, wenn er einen Sinn darin gefunden hätte, statt der Menschen die Gattung, und zwar dergestalt zu setzen, dafs man ihr, dem Abstractum, sein Leben widme.

Fichte spricht jedoch vom Zwecke der Gattung, oder von der Idee. Welche Idee gemeint seyn könne, ist oben angegeben, nämlich die des Cultursystems. 194.) Diese Ansicht ist richtig, aber einseitig.

§ 203. Das eben Bemerkte reicht noch nicht hin, um Fichtes Behauptungen zu erklären. Vom Weltplan, der [241] nur ein Gegenstand der Con- templation ist, wendet sich Fichte abwärts zur Tugend und zum Laster, indem er behauptet: es giebt nur Eine Tugend: die, sich selber als Person zu vergessen; und (nach einer falschen Analogie des Lasters mit der Tugend) nur Ein Laster: das, an sich selbst zu denken; und an den stärksten Worten der Betheuerung, dies sey vollkommen ernstlich gemeint, läfst er es nicht fehlen.*

A. a. O. S. 71. Was möchte wohl Grotius dazu gesagt haben? Vergl.

448 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

Wenn man nun auch diese Betheuerungen als leere Machtsprüche zurückwiese; wenn man auch foderte, er solle seinerseits den Werth dar- thun, den es haben würde, wenn Jeder vergäfse was er zunächst kennt, und lieber das bedächte, was er dem allergröfsten Theile nach nicht kennt; wenn man ihm auch die unsägliche Confusion vorhielte, die aus der Ver- nachlässigung eigner Angelegenheiten über fremden, aus den Einbildungen, für Andre leben zu können, aus falschen Reflexionen über die Gattung, woran glücklicherweise eine grofse Menge von Menschen gar nicht denkt, entspringen würde; wenn man ihm endlich zeigte, dafs er in seiner Rede gegen die Selbstsucht dasjenige vermengt und verwirrt habe, was gegen Übelwollen, Unrechtlichkeil, Unbilligkeit, Beschränktheit des Geistes, mangelnden Bürgersinn, Sucht zu geniefsen, zu glänzen, zu herrschen einzeln, und mit Unterscheidung dieser unter einander verschiedenen Puncle, gesagt werden mufs, um richtig gesagt zu werden : so würde man damit das [242] Wesentliche jener Fichteschen Lehrmeinungen noch immer nicht treffen.

Fichtes Misgeschick war die natürliche Verwandtschaft des Idealismus, den er zuerst von Kant angenommen und dann erweitert hatte mit dem Spinozismus.*

§ 204.

Dem Spinozismus ist es eigen, dem Urwesen eine noth wendige Spaltung in eine Vielheit von Individuen beyzulegen. Diese Spaltung ist das radicale Übel, welches durch den Weltplan soll geheilt werden. Daher die Foderung - nicht eines wahren Fortschritts, sondern der Rück- kehr zum Anfange. Ein kümmerlicher Plan, der in langsamer Vermin- derung des Übels besteht.

Wie sehr nun auch die Individuen durch die Lehren einiger Schulen zum künstlichen Vergessen ihrer selbst, wie nahe auch das eingeschläferte Selbstbewufstseyn dem Traum einer Art von Gattungs-Bewufstseyn möchte gebracht werden: die Natur bleibt in ihrem Geleise. Sie erhält ihre Gattungen, und vermehrt die Individuen. Nicht die geringste Hoffnung ist vorhanden, dafs sie jemals nach idealistischen Foderungen sich richten, und spinozistische Meinungen bestätigen werde. Die Spaltungen, wenn es je dergleichen gegeben hätte, äufsern nicht die geringste Neigung, sich enger zu schliefsen. Freylich vermehren sich die Erfindungen, wodurch der Mensch seine Zwecke befördert; ein Umstand, durch dessen Mis- deutung sich Fichte vielfältig getäuscht hat. Aber diese Erfindungen werden nicht nach Principien [243] des Idealismus gemacht, ausgeführt, benutzt, sondern nach Principien der Naturforschung.

Anmerkung.

Da der Idealismus Anlafs zur Erneuerung des Spinozismus gegeben hat, so ist er dadurch selbst dergestalt verdunkelt, und aus seinem frühern Zusammenhange herausgehoben worden, dafs eine kurze Erinnerung an den Unterschied zwischen Kants und Fichtes idealistischen Ansichten hier nicht überflüssig seyn wird; zudem da wohl gar Verwechselungen der

; Metaphysik I, § 98, und II, § 305 u. s. w. [Bd. VII S. 173 u. VIII S. 201

iL Ausg.]

III. Abschn. Analyt. Bei. d. Moral. 3. Cap. Von d. teleologischen Richtung d. Moral. 44g

Ideenlehre (theils der praktischen, theils der platonischen Ideen) mit dem Idealismus vorkommen, die freylich nur von den Worten herrühren.

Nach Kant sollten die Formen der Erfahrung von der eignen Be- schaffenheit des menschlichen Erkenntnifsvermögens abhängen. Deshalb sprach er von einem „transscendentalen Idealismus", welcher auf die alte Kosmologie angewendet, Schwierigkeiten löse, die aus der Verwechselung blofser Vorstellungen mit Dingen an sich entstanden seyen. Hierin lag etwas Wahres. Die meisten Menschen sind gewöhnt, das Ausgedehnte als solches für real, und blofse Bewegungen schon für ein wirkliches Ge- schehen in den Dingen selbst, zu halten. So lange nun Jemand nicht geübt ist, sein Zusammenfassen der Dinge von den Dingen selbst zu unterscheiden, so lange er nicht begreift, dafs die Formen der Zusammen- fassung (Gestalt und Bewegung) blofse Formen für das Vorstellen sind: läuft er Gefahr, sich in metaphysischen Fragen zu verwickeln, selbst dann, wenn er die Metaphysik nicht einmal dem Namen nach kennt. [244] Hätte man behutsam genug Wahres und Falsches in der Kantischen Lehre gesondert, so wäre der uneigentlich sogenannte Idealismus Kants niemals in den eigentlichen Idealismus, d. h. in die Meinung, alles Reale sey nur Vorstellung, übergegangen. Zu dieser Übertreibung aber kam Fichte, in- dem er einer schwachen Stelle der Kantischen Lehre Consequenzen auf- zwang, zu denen sie gar nicht bestimmt, wiewohl auch nicht dagegen geschützt war. Hiemit war die Philosophie von der Bahn gründlicher Untersuchung abgelenkt. Man verwechselte vorgebliche Triebe des Ich, zum wahren Selbstbewustseyn zu gelangen, mit den Foderungen, bey welchen praktische Ideen zum Grunde liegen; und eine Art von Natur- geschichte, nach welcher höchstens Erwartungen dessen, was geschehen wurde, sich richten könnten, trat an die Stelle der Bestimmung dessen, was seyn soll. Naturgesetze und Sittengesetze geriethen in Verwirrung. Die an sich schon grofse Schwierigkeit, den wirklichen Gang der Ereignisse richtig zu beobachten, und daneben die Begriffe von dem was geschehen sollte, scharf auszubilden ; alsdann eins mit dem andern zu vergleichen, und hieraus endlich auf das zu schliefsen, was in gegebenen Fällen zu- gleich ausführbar und pflichtmäfsig sey: diese Schwierigkeit wurde noch schwerer durch jene Verwirrung; und überdies ging der Gewinn verloren, welchen der Kantische transscendentale Idealismus der Metaphysik hätte bringen können. Übrigens hätte Kant das Wort Idealismus sicher nicht gebraucht, wenn er nicht selbst schon die richtige Bestimmung seiner Ge- danken verfehlt hätte. Formen der Zusammenfassung sind keine Prädicate des [245] Realen; aber das Reale hört darum nicht auf real zu seyn, weil der Vorstellende es in die Form des zusammenfassenden Vorstellens (gleichviel ob des Anschauens oder des Denkens) bringt. Der Denker soll nur besonnen genug seyn, um in seinen eignen Gedanken dasjenige, was er dem Gegenstande beylegt, zu unterscheiden von dem andern, was blofs auf sein zusammenfassendes oder entgegensetzendes Vorstellen pafst. Diese Besonnenheit mangelt allemal da, wo Bestimmungen des Räum- lichen und Zeitlichen für Beschaffenheiten des Realen als solchen ge- halten werden.

Herbart's Werke. X. 29

4=0 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

§ 205.

Setzt man die eben erwähnten falschen Meinungen bey Seite, um so günstig als möglich für Fichten dasjenige aus seinem Weltplan herauszufinden, was er Wahres konnte sagen wollen, und etwa durch jene theoretischen Irrthümer verleitet, im Ausdrucke verfehlte : so löset sich jener Weltplan in die praktischen Ideen, und in die Foderungen der sittlichen Ausbildung, nebst einigen sehr bekannten historischen Re- flexionen auf.

Es ist schöner für Viele zu wirken, als für Wenige; nach der Idee der Vollkommenheit. Steht aber auch dem Individuum nur ein engerer Wirkungskreis zu Gebote, so ist es doch schöner, für Andre zu wirken, als für sich selbst; nach der Idee des Wohlwollens.

Kann auch dies nicht seyn: so ist mindestens zu verhüten, dafs nicht die an sich schadlose Sorge für die eigne Person übergehe ins sittlich- Häfsliche. Dies geschieht erstlich, wenn Jemand seine Rechte ursprünglich als Güter betrachtet, anstatt als Zugeständnisse And-[24Ö]rer, die nicht einmal unbedingt zu nehmen sind 64, 79, u. s. f.); gegen die Idee des Rechts. Es geschieht zweytens, wenn Jemand mehr von Andern fodert als er ihnen vergilt; gegen die Idee der Billigkeit. Es kann aufser- dem auf mancherley Weise geschehen in Folge von Begierden und Ge- wöhnungen, die in Laster übergingen; in dieser Hinsicht aber ist keine vollständige Aufzählung der einzelnen Fälle möglich; eben so wenig als hier nöthig seyn wird, noch die einzelnen Puncte aufzuzählen, welche aus näher bestimmten Anwendungen der praktischen Ideen, und insbesondere aus den gesellschaftlichen Ideen entspringen.

Fafst man, nach dieser Vorerinnerung, die sämmtlichen Ideen, wie sichs gebührt, in die Idee der innern Freyheit zusammen: so läfst sich nun fragen, ob wohl diese an sich unzeitliche Idee, erlaube, als Zielpunct eines zeitlichen Fortschritts dargestellt zu werden; und zwar unter den allgemeinsten Bedingungen des menschlichen Lebens? Der Anfangspunct lälst sich für diese Aufgabe zwar nicht zeitlich veststellen, aber doch in sofern bestimmen, dafs schon in der menschlichen Persönlichkeit theils das Wollen als ein Gegebenes mufs angesehen werden, theils auch das innere Wissen um dies Wollen, verbunden mit der Fähigkeit, das innere Bild des Wollens lobend und tadelnd zu beurtheilen. Wie aber soll sich nun der Anfangspunct vom Zielpuncte unterscheiden? Der Unterschied kann theils im Wissen und Beurtheilen gesucht werden, theils im Wollen. Liegt er in jenem: so ist entweder das Wissen noch unvollständig, dann mufs es an der Gelegenheit gefehlt haben, denn [247] die Fähigkeit war ^vorausgesetzt; oder das Wissen ist der Form nach noch nicht reif, d. h. es klebt noch an Einzelnheiten, es hat noch keine systematische Regelmälsigkeit gewonnen. Sucht man dagegen jenen Unterschied im Wollen: so ist Anfangs das Wollen noch ungehorsam gegen die Einsicht, und der Gehorsam findet sich am Ende.

Nähme man ferner den ungehorsamen Willen gleich für den An- fang der Zeitreihe, so fiele wenigstens die Gelegenheit des Tadels schon in den Anfangspunct. Je unvollständiger dagegen das anfängliche Wissen

III. Abschn. Analyt. Bei. d. Moral. 3. Cap. Von d. teleologischen Richtung d. Moral. 4 r j.

gedacht werden soll, desto weniger tadelhaft mufs damals der Wille ge- wesen seyn. Diejenigen also, welche die Zeitreihe mit ihren Blicken soweit als möglich rückwärts verfolgen wollen, beginnen am liebsten mit einem Stande der Unschuld; freylich möchten sie Mühe haben anzugeben, was denn wohl eigentlich damals der Mensch gewollt habe? Vermuthlich war er am unschuldigsten und zugleich am unwissendsten, wenn er noch gar nichts wollte; am sichersten, wenn er noch gar nicht da war.

Im Verlauf der Zeit mögen nun die Anlässe des Wollens allmählig kommen, so kommt alsdann auch Gelegenheit des Wissens und hiemit des Tadels. Denkt man gesellige Reibungen hinzu, so unterwirft der Stärkere den Schwächeren; und nachdem die Kräfte ins Gleichgewicht getreten, d. h. zur Ruhe gekommen sind, entsteht eine Zeit des gleich- förmigen Gehorchens, also eine Gewöhnung an Regelmäßigkeit, während die Regeln selbst mit den Ideen noch wenig oder nichts gemein haben. Fichtes zweyte Epoche.

[248] Es kommt die dritte, denn die falschen Regeln haben keinen Bestand; der Druck wird abgeworfen, ehe das Rechte zur Regel ge- worden ist.

Soll eine vierte kommen, so mag es wohl nöthig seyn, dafs einige strafende Redner auftreten; man sieht aber nicht, dafs diese gerade von einem Normalvolk, von erdgebornen Wilden, und von der menschlichen Gattung reden müfsten, denn die bisher beschriebene Zeitreihe kann lang oder kurz, früher oder später, für Viele oder für Wenige, einmal oder vielmal, unter den verschiedensten Umständen ablaufen; und das Vor- stehende ist weit entfernt, eine Kenntnifs des Weltplans darzubieten, ob- gleich sich nun von selbst versteht, (was keiner weitern Ausführung be- darf), dafs für volle innere Freyheit noch vollständiges und systematisches Wissen, mindestens der praktischen Ideen, und der Gehorsam des pfiicht- mäfsigen Willens allmählig hinzukommen müssen.

§ 206.

Was würde die Moral gewinnen, wenn wir den Weltplan wüfsten? Die Moral ist theils Tugendlehre theils Pflichtenlehre; die Frage kann also auf Gesinnungen und auf Handlungen bezogen werden.

Letztere Beziehung liegt am nächsten. Denn die Handlungen treffen in die Zeitreihe des Plans. Niemand aber handelt, wo sein Handeln entweder als fruchtlos oder als überflüssig im Voraus erkannt wird.

Zum Handeln gehört das Voraussehen wahrscheinlicher Folgen, die ausbleiben würden, wofern das Handeln unterbliebe.* So gern man sich einem grofsen [249] Plane anschliefst, zu welchem mitzuwirken möglich ist: so gewifs müssen die Folgen nahe genug liegen, um vermuthet zu werden; und von uns abhängen, damit wir nicht unthätige Zuschauer bleiben. Mit der Allmacht wird Niemand wetteifern.

Man vergleiche § 145.

29'

ac2 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

Deshalb überläfst man der Vorsehung, für die Gattung zu sorgen; aber man handelt im amtlichen und häuslichen Kreise.

Anders verhält es sich mit den Gesinnungen. Der Muth der Tugend würde zu Boden gedrückt werden, wenn sie an eine Wahrscheinlichkeit stiefse, der Weltplan sey ihr entgegen. Und hier müssen wir uns er- innern, dafs es des Menschen Loos ist, weit mehr leidend zu beobachten, als thätig einzugreifen ; besonders wenn wir über den Kreis hinaus schauen, in welchem wir handeln können. Contemplation über die Gattung pafst für Zustände der Ruhe; aber die Ruhe wäre ein Leiden, wenn ihr der religiöse Glaube fehlte.

Dieser Glaube verlangt jedoch keinen Weltplan zu wissen, in dem Sinne, als ob ein solcher erst müfste in bestimmten Umrissen vorgelegt werden, damit man sich entschliefse auf ihn einzugehen. Man weifs ohnehin, dafs man Zeit, Ort, Gelegenheit zum Handeln nicht wählen konnte; daher verlangt man schon nicht mehr, bestimmt zu wissen, wie Eins ins Andre eingreife; es genügt, nur überhaupt das Zusammentreffen aller moralischen Wirksamkeit und eine Beschleunigung dessen, was über- haupt geschehen soll, (deren Gegentheil die Verzögerung seyn würde), annehmen zu dürfen.

Aber wichtig ist es für den Glauben, die Menschheit nicht im All- gemeinen als versunken zu betrachten, [250] sondern ihr ein beständiges Fortschreiten, von jeher, welches wenigstens die Rückschritte übertreffe, beylegen zu dürfen. Die Zusammenfassung der Vergangenheit mit der Zukunft würde ein trauriges Ganzes geben, wenn diese blofs bestimmt wäre, wieder herzustellen, was jene früher verdorben hätte. Das Princip des Plans würde auf solche Weise wenig geeignet seyn, Trost und Zu- versicht zu gewähren. Daher mag man wohl zusehen, ob es nöthig ist, einem so trüben Gedanken nachzuhängen, der aus ungemessener Un- zufriedenheit mit der Gegenwart nur zu leicht entspringt, sobald gefragt wird, wie eine solche Gegenwart habe entstehen können?

§ 207.

Vor Allem ist zu bedenken, dafs der Wille der Menschen eben so wohl aufgeregt als zurückgedrängt werden mufste, wenn sittliche Bildung möglich seyn sollte.

Spielraum für das Handeln, und mannigfaltiger Anlafs dazu, mufs erst da seyn, oder es kommt gar kein Wille zu Stande. Blofses Begehren, vollends blofses Wünschen, ist noch kein Wille. Man entschliefst sich rerst, wenn durch öfteres gelingendes Handeln die veste Meinung ent- standen ist, das Begehrte sey erreichbar. Die Anlage der Menschheit, vielfach begabt wie sie ist, wäre unentwickelt geblieben, hätte der Mensch nicht vermocht sie zu äufsern, und an seinen Werken zu sehen was er vermochte. Falsche Richtungen des Willens waren dabey im Allgemeinen nicht zu vermeiden, und es darf nicht Anstofs errregen, dafs sie zu- gelassen wurden.

[251] Aber eben so nothwendig war und bleibt, dafs der angeregte Wille vielfach wieder gebrochen wurde. Nicht leicht wird der Mensch

III.Abschn. Analyt. Bei. d. Moral. 3-Cap. Von d. teleologischen Richtung d. Moral. 4 n

der Zuschauer seines eignen Wollens; am wenigsten leicht der unpartheyiscke Zuschauer. Er mufste es werden; sonst kam das ästhetische Urtheil über den Willen nur schwach, und das moralische gar nicht zu Stande. Ein ungebundener "Wille aber hört nicht von selbst auf, läfst der Contemplation nicht von selbst Zeit; ja selbst wenn er gebrochen wird, ist die Reue viel früher das Bereuen von Klugheitsfehlern, als sittliche Einkehr in sich selbst.

Von hier ausgehend, würde man nun zuvörderst wiederum die päda- gogischen, also auch psychologischen Bedingungen der sittlichen Bildung aufsuchen müssen, 169) um mit diesen theils das historisch -Bekannte über den bisherigen Gang der Menschenbildung zu vergleichen, theils damit dasjenige zu verknüpfen, was Geographie und Geologie darbieten können; wenn es überall möglich wäre, vom irdischen Standpunkte aus zu einer nur irgend deutlichen Erkenntnifs des Weltplans zu gelangen.

§ 208.

Allein das Erste, woran man stöfst, ist die Stabilität der Lebensweise bey vielen Völkern des Orients, und selbst in Europa die unzählbare Menge von Individuen, deren Daseyn ohne irgend bemerkbare weitere Folgen dahin fliefst. Diese gehn für einen auf der Erde auszuführenden Plan, so fern man den Zielpunct in eine weit entlegene Zukunft setzt, verloren; und es bleibt in Ansehung der Individuen nichts übrig, als die [252] Aussicht auf ein Leben nach dem Tode unter völlig unbekannten Verhältnissen, wenn das Mangelhafte ihres sittlichen Daseyns soll ergänzt werden. Nicht einmal scheinbar wird durch sie die Ansicht bestätigt, als hätte die Vorsehung ihr irdisches Daseyn für den Zweck der Gattung bestimmt; und man müfste sie (wie es wohl hie und da sichtbar wird), als völlig gleichgültige Naturproducte geringschätzen, wenn die ursprüng- liche Werthbestimmung des geistigen Lebens ausschliefsend oder auch nur vorzugsweise an einen Weltplan geknüpft wäre. Fiele unglücklicherweise ihnen selbst so etwas ein: so wären sie 1von aller sittlichen Leitung ver- lassen und entbunden; und dies erinnert nur zu sehr an die Lehre von einem Staate, den blofs äufsere Triebfedern zusammenhalten würden, und worin der gute Wille überflüssig wäre. 54 und 151.)

Selbst die an sich zulässige Meinung, das Leben und Handeln der Individuen könne doch einen verborgenen Zusammenhang mit dem Welt- plan haben, wird verwerflich in praktischen Anwendungen. Nach ver- borgenen, ihm selbst '- unbekannten Motiven kann der Mensch nicht handeln; vollends aber die Benutzung des Bösen zum Guten, die man in dieselbe Verborgenheit hineindeuten würde, gäbe Denen, welche in der Beförderung des Weltplans ihren Werth suchten, gleiche Ermunterung zum Bösen wie zum Guten.* Solche Folgen kommen heraus, wenn man in

Man vergleiche § 40.

1 von aller sittlichen Leistung SW.

- bekannten Motiven O. SW. haben ebenfalls ..unbekannten".

454 1Xl Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

die praktischen Principien, welche für sich veststehn, die Teleologie ein- mengt, die als reine Contemplation , nicht aber [253] als Erkenntnifs- princip, bey der Naturforschung bleiben mufs.

§ 209.

Noch andre Schwierigkeiten zeigen sich, wenn man die Beschaffenheit des Erdkörpers in Betracht zieht. Die Oberfläche desselben ist eine ge- schlossene Kugelfläche; mit verschiedenen Klimaten, Menschenrassen und Naturproducten. Versetzt man sich über Millionen und Billionen von Jahren hinaus: so verliert man bey vollständiger gröfst - möglicher Be- völkerung des ganzen Erdbodens das Hülfsmittel der Auswanderungen aus den Augen, was jetzt gerade so häufig von einer allzugedrängten oder unzufriedenen Bevölkerung pflegt benutzt zu werden. Man fragt sich, woher die Metalle, die Steinkohlen kommen sollen, wenn einst die Fundgruben erschöpft sind? Man sieht voraus, dafs bey der Un- gunst mancher Klimate die verschiedenen Menschenrassen, die schon jetzt so grofse Reibungen mit sich bringen, niemals zu gleicher Geistes- bildung gelangen können; dafs also das Menschengeschlecht, nach- dem Alles vollgedrängt ist, alle Küsten in Berührung gekommen, alle Strafsen und Bahnen befahren sind, sets eine sehr ungleiche Gesellschaft bilden wird, worin der Schwächere neben den Stärkeren und Klügeren gestellt ist.

Andre Planeten sind durch ihre Kugelform und durch die nothwendige Verschiedenheit ihrer Klimate, so fern dieselben von der Stellung gegen die Sonne abhängen, in gleichem Falle.

So thöricht es nun wäre, hieraus eine Art von Verlegenheit für die Pläne der Vorsehung ableiten zu wollen : so deutlich erinnert das Gesagte an die Kurzsich-[2 54]tigkeit Derjenigen, welche in den V/eltplan am wei- testen hineinzuschauen meinten. Das Bekenntnifs der Unwissenheit ist hier eben so nothwendig, als die sorgfältigste Verhütung aller Einbildungen, wodurch die Moral sammt der Rechtslehre auf unsichere Stützen würde gestellt werden.

§ 210.

Beschränkt man sich auf die Zeit, in welcher jede zu sehr verdichtete Bevölkerung noch Raum zum Aussenden des Überflusses, die Erde noch hinreichenden Vorrath an Fossilien, aber auch die Ungleichheit der An- lage und Bildung ihre bekannten Folgen hat: so kann man mit ziem- licher Sicherheit auch noch verschiedene Staaten und Staatsformen, ver- schiedene Kirchen und Glaubensformen neben einander voraussetzen; so sehr auch die allgemeine gegenseitige Nachahmung Alles auf Einen Ton zu stimmen sucht. Freylich wird die gebildete Klasse immer homogener werden; aber sie ruhet überall auf Unterlagen, die nicht gleichartig werden können. Und die höheren Geister, welche produciren wo andre nachahmen, lassen sich nur in so weit vereinigen, als das Band der strengen Wissenschaften ihnen eine gleichförmige Nöthigung auferlegt.

III. Abschn. Apalyt. Bei, d. Moral. 3, ( ap. Von d. teleologischen RichtuDg d. Moral. 4 r c

Zeigt nun schon die Vergangenheit, dafs in Einem Volke der Mono- theismus, in einem andern Wissenschaft und Kunst; in einem dritten das förmliche Recht, in einem vierten die vorzügliche Achtung für das weib- liche Geschlecht und hiemit die Gründung eines edlern Familienlebens, ein eigenthümliches Gedeihen hatte; dafs auch späterhin Verschiedenes an verschiedenen Orten [255] hervortrat, um noch später in den all- gemeinen Vorrath zusammen zu fliefsen, von welchem der Spruch gilt: Prüfet Alles und behaltet das Beste : so hat man nicht Ursache an einen solchen Plan zu denken, welcher die Vergangenheit als eine Zeit des Herabsinkens, und irgend eine Zukunft als eine Periode der Wiederher- stellung bezeichnen könnte. Solche Ansichten mochten passend scheinen, so lange man das Mittelalter blofs als die Zeit der Barbarey, die neuere Wissenschaft und Kunst blofs als eine Wiederholung der alten darstellte. Ist das eine und das andre falsch : so müssen die Meinungen von einem wiederherstellenden Weltplane als verspätet zurückgewiesen werden. Wären sie früher gekommen, so hätten sie eher einigen Schein behaupten können. Diejenige Zukunft, in welche wir hinauszuschauen allenfalls glauben können, ist in so fern lang genug, als das Mittelalter, und besonders solche Jahr- hunderte, welche am Meisten des Herabsinkens beschuldigt werden, nicht auf immer den mittlem Theil der Geschichte bilden, sondern mehr in den Hintergrund der Vergangenheit zurücktreten werden. Das nun läfst sich voraussehen, dafs mit der Zeit, wie der Standpunct der Historiker sich verändert, auch das Bild der alsdann verflossenen gesammten Reihe von Begebenheiten einen andern Eindruck machen wird. Mag auch jede Zu- kunft, sobald sie als Gegenwart in die Reihe trit, ihre eigenthümliche Unzufriedenheit mit sich bringen : so ist doch nicht zu erwarten, dafs jede neue Unzufriedenheit es so leicht finden werde wie jetzt, den Weltplan als langsame Annährung an ein verlorenes goldenes Zeitalter darzustellen. Es wird sich mehr und mehr finden, dafs der [256] Fortgano- in o-ewisser Hinsicht sich immer ähnlich bleibt; nämlich durch allmähliges Verknüpfen dessen, was anfänglich getrennt hervorwuchs, und durch Gewinn an Stärke des Bessern, je mehr die Verknüpfung ihm die Kraft giebt, das Schlechtere von sich abzusondern und in Vergessenheit zu bringen, nachdem dies als das Schlechtere war erkannt worden.

Aber es gebührt sich schon jetzt, Täuschungen zu vermeiden, für die es keine bessere Entschuldigung giebt, als die sehr ungenügende, die allenfalls mag hergenommen werden von unserer Stellung gegen das, was wir jetzt Vergangenheit nennen.

§ 211.

Das Heraklitische Feuer, ämö/nfvoi' ut'iQtp xal unooßtpi'i^tvov /titTQoi, stellt auch einen in sich zurücklaufenden Weltplan dar; Zerstörung, wo- durch sich die alte Feuer -Wüste erneuert. Ausschmückung durch einige geologische Meinungen wäre leicht. Wo die Überreste tropischer Thiere und Pflanzen gefunden werden, da war es ehedem heifs; jetzt verbirgt die Erde, oberflächlich erkaltet, aber in der Tiefe wärmer, ihr Feuer im Innern: irgend einmal kann es wieder hervorbrechen. Vom Feuer zum

jc5 IX. Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

Bösen ist nur ein kleiner Schritt. Nur etwas melancholische Laune, und neben jener Unzufriedenheit mit den Menschen, noch eine andre Art oder Richtung der Unzufriedenheit, nämlich mit der körperlichen Natur: so wird der alte Weltplan sich wiederherstellen; man wird anstatt der Un- schuld und der Rechtfertigung das Böse hinten und vorn haben, in der Mitte aber, statt der vollendeten Sündhaftigkeit [257] die Tugend. Es wird leicht seyn, die Mitte in eine schon längst verflossene Zeit zu ver- legen; dazu ist nur nöthig, den Blick in die Vergangenheit etwas weiter auszudehnen. Dann sind wir jetzt in einem hoffnungslosen Versinken be- griffen. Man wird aus diesem umgekehrten Weltplan soviel lernen, wie aus dem vorigen, nämlich unmittelbar Nichts, mittelbar aber Vorsicht gegen Meinungen ohne hinreichende Gründe; durch die man lediglich Verstimmung des Gemüths bewirken kann.

§ 212.

Sed inhaeret tn mentibus quasi saeculorum quoddam augurium fidurorum : idque in maxintis ingeniis, altissi?nisque animis et existit maxime, et apparet

facillime. Quo quidem demto, quis esset tarn amens, qui semper in laboribns et pericnlis viveret?* Und gewifs bleibt noch immer nach aller Zurück- weisung grundloser Weltpläne, nicht blofs das Bedürfnifs, sondern auch die Befugnifs, den Blick in eine unbestimmte Zukunft hinaus zu erweitern. Alles ladet dazu ein, was sich der Mensch als möglichen Erfolg seiner edlern Bestrebungen denken kann; Alles fodert dazu auf, was Andre, was der Staat, was die Menschheit Grofses und Schönes zu Stande ge- bracht haben. Es kommt nur darauf an, dafs man hier, wie in jeder andern Überlegung, vesten Boden unter sich habe, und grillenhafte Aus- deutungen vermeide. Nicht klein soll der Mensch in seinen eignen Augen erscheinen; nicht bedeutungslos sein Thun oder Lassen. Nur aus grofsen Erwartungen erfolgen grofse Anstrengungen; aber [258] auch nur be- gründete Erwartungen vermögen auf lange Zeit und vollends bey wech- selnden Umständen den Muth anhaltend zu tragen, und nach jeder nöthigen Erholung zu erneuern.

Was oben 170 179 und § 186 189) über Politik und Päda- gogik cresagt worden, das würde alle Bedeutung verlieren, wenn die Zu- kunft unsern Blicken dergestalt verschlossen wäre, dafs sich der Mensch um desto klüger nennen dürfte, je mehr seine Gedanken und Sorgen auf die nächste Gegenwart beschränkt würden. Vielmehr mufs gerade gegen so kleinliche Sorgen die grofse Menge der Menschen noch mehr gewarnt werden, als man die ausgezeichnetem Köpfe gegen die Überspannung

; der Weltpläne zu warnen hat. Eine veste Gränze zwischen dem Zuviel und Zuwenig giebt es nicht; die Anpreisung einer richtigen Mitte wäre ein leeres Wort; wie weit aber aus gegebenen Thatsachen, im Interesse der praktischen Ideen, mit Wahrscheinlichkeit auf ein Künftiges kann ge- schlossen werden, so weit und nicht weiter mufs der Gedanke und die

* Cicero tusc. qn. I, 15.

IILAbschn. Analyt. Bei. d. Moral. j.Cap. Von d. teleologischen Richtung d. Moral, a^j

Sorgte wegen der Zukunft sich ausdehnen; alsdann wird danach die Energie des Handelns, unter Voraussetzung der rechtlichen und sittlichen Ge- sinnung, sich von selbst bestimmen.

§ 213.

Gesetzt, ein Sittenlehrer besitze wirklich einen richtigen Vorblick für eine weit ausgedehnte Zukunft, und (wie sich unter solcher Voraussetzung von selbst versteht) auch hinreichende Kenntnifs der Vergangenheit und der Gegenwart in Folge gründlicher historischer Studien: so wird es aller- dings verdienstlich seyn, den [259] Zeitgenossen einen Spiegel vorzu- halten, in welchem sie erkennen mögen, was sie sind, was sie haben, was ihnen mangelt. „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters'1 wird nach Fichtes Vorgange noch manche Zukunft darbringen.

Eine Vorbereitung dazu wird seyn, dafs man erst das Allgemeine überdenke, was von jedem gebildeten Zeitalter zu sagen ist. Auf solchen Hintergrund wird das Gemälde der jedesmaligen Gegenwart müssen auf- getragen werden. Um aber das Allgemeine zu finden, so fern es das Sittliche betrifft, wird die nämliche Reihenfolge der Betrachtung anzu- wenden seyn, deren oben schon in Bezug auf Politik und Pädagogik ge- dacht wurde.

Jedes gebildete Zeitalter leidet zugleich an Fehlern der Rohheit und der Verkünstelung ; denn niemals sind Alle gebildet, und schwerlich bleibt Bildung frey von Übertreibung. Mit der Rohheit hängen falsche Rich- tungen des Willens um desto gewisser zusammen, da mit der Gütermasse der Wohlhabenden allemal die Lüsternheit der Entbehrenden wächst, und von grofsen Städten ein zahlreicher Pöbel schwer zu trennen ist. Was aber die Verkünstelung anlangt, so gehört zu ihr der falsche Ge- schmack, der Unächtes dem Achten, Glänzendes dem Würdigen, Stechen- des dem Gewöhnlichen vorzieht, um Abwechselung zu haben; und dies pafst auf die sittlichen Gegenstände gerade darum, weil ihnen die ästhe- tische Beurtheilung zum Grunde liegt. In Folge der Rohheit und des falschen Geschmacks kommen nun unrichtige Maximen; von denen hier als Beyspiel schon die einzige genügen kann: man müsse zuweilen Krieg haben, um [260] der Verweichlichung zu entgehn, und um sich gegen andre Völker in Respect zu setzen. Denn eine solche Maxime will auf unrechtem Wege erzielen, was durch ganz andre Maafsregeln sollte ge- wonnen seyn. Das Übel wächst durch falsche Systeme, in denen sich die Maximen gleichsam verdichten. Dahin gehört unstreitig alle falsche Philosophie, sobald sie mehr wirkt als blofse Aufregung des Nachdenkens, denn im letztern Falle wirkt sie wohlthätig, wo sie Reactionen hervorruft. Ob die vereinigten Maximen auch zur Anwendung kommen? ist am Ende noch um desto mehr fraglich, weil consequentes Verfahren nach genau bestimmten Systemen immer schwer ist, daher weit mehr nach ver- einzelten Maximen, als systematisch pflegt gehandelt zu werden. Man braucht nur an die gewöhnliche weite Trennung der Politik von der Pädagogik oder gar an die falsche Unterordnung der zweyten unter die erste zu denken, während beyde, gleichmäfsig auf der Moral (mit In-

irS 1X- Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

begriff der Rechtsichre) beruhend, auch gleichmütig neben einander zur praktischen Anwendung gelangen sollten.

Wird nun ein gegenwärtiges Zeitalter geschildert, so müssen die an- gegebenen Fächer mit den hervorstechenden Zügen, welche sich be- obachten und bewähren lassen, ausgefüllt werden; alsdann aber wird man den Redner leicht entschuldigen, wenn er beym Ausmalen der wahrschein- lichen Zukunft sich einige Hyperbeln erlaubt. Denn er ist nicht Prophet, und das Zukünftige läfst sich noch nicht beobachten.

§ 214.

[261] Um nun einen richtigen Blick für die Zukunft zu gewinnen, mufs man sich hüten, nicht Alles, was einen Werth hat, als in einer und der nämlichen gleichförmigen Bewegung begriffen sich vorzustellen. Das öffentliche Recht und das Criminalrecht verändern sich schneller als das Privatrecht; die Staaten können grofse Veränderungen erleiden, die auf die Kirche einen verhältnifsmäfsig geringen Einflufs haben; die Wissen- schaften können sich verbreiten, oder auf einen engern Kreis beschränken, ohne darum innerlich viel zu verlieren oder zu gewinnen, und umgekehrt. Gegenseitiger Einflufs ist hiemit nicht geleugnet, aber wie grofs er sey, das bedarf für jeden bestimmten Gegenstand einer besondern Unter- suchung. Manches mufs sich gegenseitig im Gleichgewichte halten, was einzeln genommen ein grofses Übel seyn würde; so mufs Vieles Irrige in Meinungen und in Wissenschaften von der Staatsgewalt wie ein Gleich- eültiees behandelt werden, ohne Gunst und ohne Druck, weil es nur auf diese Weise eine ihm angemessene Gegenwirkung erwecken kann, durch welche es am sichersten verschwindet. Symptomatische Curen sind hier, wie in der Medicin, wenn die Ursache der Übel und die Zu- sammenwirkung der Umstände nicht zuvor untersucht wurde, oftmals Missriffe.

°ö'

§ -~i5-

Kenntnisse dieser Art, so praktisch sie sind, lassen sich doch nicht aus den eigentümlichen Principien der praktischen Philosophie entwickeln; denn es kommt hier nicht auf Urtheile des ursprünglichen Beyfalls oder [262] Misfallens, auch nicht auf solche Erfahrungsgegenstände an, die man als allgemein bekannt voraussetzen dürfte um jene Urtheile darauf anzuwenden. Man sucht die Kenntnisse der in näherer oder ent- fernterer Zukunft zu erwartenden, und daher im Voraus zu berück- i ichtigenden Erfolge gewöhnlich in der Politik ; allein auch dort können sie nur aus Erfahrung, Geschichte, und Zeugnissen vieler kundigen Männer aller Art, allmählig gesammelt und soviel möglich verknüpft werden.

Vieles davon wird durch Psychologie einerseits, durch Naturforschung andererseits, mehr und mehr begreiflich werden. Stets aber mufs Be- richtigung durch neue Erfahrung und Beobachtung vorbehalten bleiben; und doch wird Ungewifsheit über dem Zweckruäfsigen immerdar schweben,

III. Abschn. Analvt. Bei. d. Moral. 3.Cap. Von d. I ischea Richtung d. Moral. uq

und das menschliche Handeln wird sich nach Wahrscheinlichkeiten in mannigfaltiger Abstufung richten müssen.

Mit diesem unvermeidlichen Empirismus hängt eine Gefahr zu- sammen, welche vermieden werden kann und soll. Obgleich die Erfolge unsicher bleiben, und der Unbehutsame sich leicht dem Gesammteind rucke der Unsicherheit desto mehr hingiebt, je mehr er sich ins praktische Leben vertieft, und je üfter die Erfahrung seine vorgefafsten Gedanken berichtigt: so weifs doch der, welchem einmal die Grundbegriffe der Tugend klar wurden, sich davor zu hüten, dafs nicht etwan auch diese vor seinen Augen zu schwanken scheinen. Denn die Gefahr liegt nur darin, dafs die menschlichen Handlungen nach dem Erfolge pflegen be- urtheilt zu werden, der jedoch selbst von der Klugheit, welche in den Absichten liegen mochte, nur eine zweydeutige, [263] und häufig blofs scheinbare Probe liefert. Mischt sich nun vollends eine solche Be- urtheilung lobend und tadelnd in das Urtheil über den Willen selbst, so verliert dies letztere seine Bestimmtheit und Sicherheit. Jene von letztern gesondert zu halten, ist eben die allgemeinste Sorge der prak- tischen Philosophie.

Kant und Fichte besitzen gemeinschaftlich den Ruhm, mit Nach- druck den praktischen Empirismus bestritten zu haben. Da aber Einer wie der Andre dem Herkommen huldigend eine Rechtslehre und eine Pflichtenlehre neben einander stellte: so konnte durch beyde noch immer nicht die Wissenschaft zu ihrer richtigen Form gelangen, so leicht dies auch schon längst zuvor gewesen wäre, wenn man verstanden hätte, ohne Fatalismus und ohne Freyheitslehre das zu benutzen, was in alter Zeit Platon, in neuerer Zeit Hugo Grotius vortrefflich vorgearbeitet hatten.

Platox hatte für die Sittenlehre das ästhetische Urtheil geweckt: und die Idee der innern Freyheit im vierten Buche seiner Republik richtig bestimmt. Zwar nicht vom Aristoteles, aber wohl bey den Stoikern wurde, von Einigen wenigstens, seine Vorarbeit gehörig benutzt: man sieht in Ciceros erstem Buche de ojficiis die Spuren der andern praktischen Ideen, durch welche .die zuerst gefundene Idee mufste er- gänzt werden.* Hätte man das WTerk des Grotius eben so gut be- nutzt, so würden auch seine Anfänge sich ergänzt haben; und das näm- liche Ganze wäre von zweven verschiedenen Puncten ausgehend ge-

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funden worden. Nichts war leichter, als [264] nach Anleitung des Capitels de poenis (und mancher andern Stellen), die Idee der Billigkeit von der des Rechts abzuscheiden; den Unterschied der Güte vom Recht kennt Jeder; die Idee der Vollkommenheit schwebt allen Moralisten vor, wenn auch nicht in gehöriger Sonderung der Gröfsen von den qualitativen Bestimmungen; doch diese Abstraction ist so leicht, dais man jedem Denker zumuthen kann, sie von selbst zu finden. Allein in einem Zeit- alter, worin sogar die ganze Sittenlehre als Glückseligkeitslehre betrachtet, mithin diejenigen Motive des Willens, die von der Wahrscheinlichkeit def

■- Kurze Encyclopädie d. Philos. im fünften Capitel. [Vgl. vorl. Ausg. Bd. IX.]

460 tX- Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral. 1836.

Erfolge ausgehn, mit den sittlichen Bestimmungen verwechselt winden. mufsten wohl die Rechte als Güter, die Jemand habe, erscheinen; so empfahl sich das Naturrecht, aber der Geist des Grotitjs wich von ihm. Doch nicht umsonst redete Kant von Maximen, wenn schon späterhin die Pläne sich den Maximen vordrängten: nicht umsonst hat er die Güterlehre zurückgewiesen; und es steht noch nicht schlimm mit einer Wissenschaft, so lange ihre gröfsten Fehler sich auf Einseitigkeiten zurück- führen lassen.

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Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer * Mann) in Langensalza.

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