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staats-
völkerrechtliche Abhandlungen.
Begründet Dr. Georg Jelllnek uud Dr. Georg Meyer,
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org Jellinek und Dr. Gerhard ÄnschJitz,
Profuaoran der Raohte in HaidsIbarR.
Sechster Band.
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Verlag von Duncker &, Humblot. 1907.
Alle Rechte vorbehalten.
Inhaltsyerzeichnis.
1. über die völkerrechtliche clausula rebus sie stantibus sowie einige verwandte Völkerrechtsnormen. Zugleich ein Beitrag zu grundsätzlichen Problemen der Rechtslehre. Aus dem Nachlasse von Bruno Schmidt.
2. Das parlamentarische Interpellationsrecht. Bechtsvergleichende und politische Studie. Von Hans Ludwig Bo segger.
3. Die Gesellschafts- und Staatslehre der Physiokraten. Von Benedikt Güntzberg.
über
0» TJUkomehtliche clansvla rebus sie stantifcis.
Staats-
und
völkerrechtliche Abhandlungen.
Begründet Dr. <3eoi^ Jellinek und Dr. Oeoi^ Meyer,
herausgegeben von
Dr. Georg Jellinek und Dr. Gerhard Anschütz,
PmftiMri-n i« Rächt* In Haidslbarf.
VI. 1. über die vfilkerrechtliche clausula rebus sie stantibuF^
sowie einige verwandte Völkerrechtsnormen. Von Professor
Dr. Bruno Schmidt.
Leipzig,
Verlag von Du'ncker & Humblot. 1907.
Über
lie völkerreditliche clausula rebus sie stantibus
einige verwandte Völkerrechtsnormen.
Zugleich ein Beitrag zu grundsätzlichen Problemen der Rechtslehre.
Aus dem Nachlasse
Dr. jur. Bruno Schmidt,
a. 0. FrofHur nn der UntTsnltlt Heiilelberg.
Leipzig,
Verlag von Duncker & Hnmblot.
1907.
Von demselben Verfasser sind früher erschienen:
Über einige Ansprüche auswärtiger Staaten auf gegenwärtiges deutsches Reichsgebiet 1894.
(Verlag von Veit & Co. in Leipzig.)
Der Staat Eine öffentlich-rechtliche Studie. 1896.
Das Gewohnheitsrecht als Form des Gemein- willens. 1899.
Der schwedisch - mecklenburgisclie Pfaodvertrag fiber Stadt und Herrschaft Wismar. 1901.
(Verlag von Duncker & Humblot in Leipzig.)
Die letzte Arbeit eines Veratorbeaen , die hiermit der OffaatUchkeit übergeben wird, bringt die aclirifta teile ri sehe Tätigkeit des Verfassers {s. die Auführungen S. 19, Anm. 2, S. 89, Anm. 2, S, 2, Anm. 1 und 2 und weiter, bes. im Ab- schnitt VIII) zu einem gewiasen Abachluß, Die Beacbafti- gung mit der „Spezialfrage des öffentlichen Rechts", die ihren eigentlichen Gegenstand bildet, reicht zurUck bis in die ErstlingsBchrift über die Ansprüche ösleri-eichs auf die Laueitzen und Scliwedens auf Wismar aus den geschieht- lichen Verträgen (s. dort bes. S. 22 f. und S. 84 ff.) und ist in der besonderen Sclirift über das letztere Thema schon bis in die Endergebnisse weiter gediehen, die nur breiterer Ausführung in gesonderten Erörterungen vorbehalten blieben (vgl. dortS. 74 ff. und Vorwort S. VI). Sie hatte auch den An- stoß gegeben au den allgemeinen Studien über Staat, Recht und Völkerrecht, von denen in den Schriften über den Staat und über das Gewohnheitsrecht zwei Bruchstücke veröffentlicht sind (vgl. die Vorrede zu ersterer S. V), und diese haben ia der vorliegenden Arbeit zugleich ihre Fort- führung durch Beiträge zu Grundfragen des Völkerrechts und der allgemeinen Reclitslehre gefunden. Das Streben nach weiterer Vertiefung dieaer Studien ist es neben dem harten äußeren Geschicke seiner langwierigen schweren Krankheit gewesen, was die Arbeit des Verfassers Jahr um Jahr hinausgezogen und ihren völligen Abschluß durch ihn verhindert hat. Denn nur die ersten sieben Abschnitte fanden sich in druckreifer Form von seiner Hand vor, für den achten, der ihm besonders am Herzen lag, statt dessen nur einige mehr oder minder ausgeführter Entwürfe,
VI VI 1.
die ersichtlich aus verschiedenen Zeiten herrührten und wesentlich voneinander abwichen. Im Auftrage der An- gehörigen hat der unterzeichnete langjährige Freund des Verstorbenen den Versuch gemacht, aus diesen Entwürfen die Stücke zusammenzustellen, die als ftlr sich genommen fertige Ergebnisse im Sinne des Verfassers angesehen werden konnten. Wenn neben den übrigen Teilen der Schrift in der Gestalt, die er selbst ihnen gegeben hat, hier auch diese Materialien zum Schluß-Abschnitt erscheinen, so geschieht dies, weil sie im Plan des Ganzen nicht wohl zu entbehren sind. Hoffentlich wird die Schrift auch in ihrer frag- mentarischen Form nicht bloß den Freunden seiner schrift- stellerischen Arbeit als deren letzte Frucht willkommen sein, sondern auch Andren Anregung Air ihre Studien zu den Grundproblemen der Rechtswissenschaft bieten, die hier in der eigenartigen Weise des Verfassers in Angriff ge- nommen sind. Die Mängel dieser Form wird man nicht dem Verfasser zur Last legen; er würde, wenn ihm die Zeit dazu geblieben wäre, auch den spröden und für seine Grandauffassung besondere Schwierigkeiten bietenden Stoff des letzten Abschnitts gewiß in gleicher Weise zu meistern verstanden haben, wie er das in den durch Geschlossenheit und Folgerichtigkeit besonders ausgezeichneten Ausführungen seines Gewohnheitsrechts in ähnlich schwieriger Lage ver- mocht hat. So können wir nur bitten, die letzten Gedanken des Verfassers nicht für sich, sondern im Zusammenhange mit seiner ganzen Lebensarbeit zu betrachten.
Den Herausgebern der Staats- und völkerrechtlichen Abhandlungen, die hier, wie einst seiner ersten allgemeinen Studie, nun auch seinem letzten Worte eine Stätte ein- geräumt haben, sei dafür ebenso wie seinem Freunde Dr. Eduard Lehmann in Chemnitz für mannigfache Hilfe bei der Drucklegung auch hier aufrichtiger Dank gesagt.
Dresden, Ostern 1907.
Landrichter Meyer.
Inhalt.
Seite Yeneichnis der besprochenen geschichtlichen Vorgänge . . . VIII
Autoren-Begister VIIIu.IX
§ 1 — 8. Erster Abschnitt. Stellung und Begrenzung der
Angabe 1—25
§ 4 — 6. Zweiter Abschnitt. Der rein naturrechtliche Charakter der üblichen Lehre von der clausula reltUB sie stantibus 26 — 67
§ 7 — 8. Dritter Abschnitt. Die praktische Gefährlichkeit
der speiifisch-juristisch verstandenen Klausel . . 68 — ^92
§ 9^10. Vierter Abschnitt. Der berechtigte Kern der
ganzen Lehre 93—118
§ 11 — 12. Ffinfter Abschnitt. Das umfassende Geltungs- gebiet des (richtiggestellten) Grundprinzips der Klausel 119—151
§13—714. Sechster Abschnitt. Die Unzulänglichkeit des
Moments der „veränderten Umstände^ 152 — 176
§ 15. Siebenter Abschnitt. Bedingter Wert des Moments
der „staatUchen Gefährdung' 177—194
9 lÖ — 17. Achter Abschnitt. Volkerrechtliche clausula und
allgemeine Rechtslehre 195—226
Besprochene gesehielitliehe Vorgänge*).
Römisch- karthagischer Vertrag
508 ▼. Chr 181
Kimonischer Friede 449 v. Chr. 181 FHede de» Nikias 421 v. Chr 44 Rom und Tarent um 850/283
V. Chr 179
Römisch - syrischer Vertrag
190/189 V. Chr 181
Perseus und Genthios 169 v. Chr. 79 Friedrichs IT. Königswahl 1196 156 Genaas Salzlieferungsverträge . 159 Orkneyinseln 1469 .... 60 Prager Friede (betr. die Lau- sitzen) 1635 ... 45. 54. 57 Der große Kurfürst und Kalck-
stein 1670 127
Bwri^-Traktat 1715/1785. . 188 Spanisches Heiratsprojekt Lud- wigs XV. 1721/5 .... 162 Advokaten - Edikt Friedrieh
Wilhelm I. 1724 .... 208 Friedrich d. Große u. Breslau
1740/1 70
Friedridi d. Große im Jahre
1756 ... . 129
Erste Teilung Polens 1772. . 112
Rastatter Gesandtenmord 1797 131 Schweden n. Wismar 1803/1908 89 Frankreich u. Bayern 1805 . 44 England u. Danemark 1807 . 136 Republik Krakau 1815/46 124. 158 Luxemburger Besatzungsrecht
1815/67 57
Französisches Sakrileggesetz
1824 207
Luzem u. Aargau 1830/88 . . 78 Londoner Protokoll ^^9. 2. 1881 48 Nassau u. Frankreich 1888 . 166 Lamartines Cirkular v. 2. 3. 1848 48 Clayf on - Bulwer - Vertrag
1850/1901 169
Londoner Protokoll v. 8. 5.
1852 (1864) ... 48. 54. 56 Pontus-Frage 1856/71 49. 57. 80. 90
Trent-Aflfaire 1861 128
Petersimrger Deklaration 1868 143 Londoner Protokoll v. 17. 1.
1871 43. 52. 81
Bfttam-Frage 1878/86 51. 56. 158 ZengniszwaDg i. D. Reich . . 205 Haager Friedens - Konferenz
1^ 69. 75. 145
•Adickes 208. Affolter 215. Alciati 17. Anschütz 139. Arndts 37. Auer 99.
Beccaria 148.
Antoren-R^ster *).
Bekker 161.
Bergbohm 13. 85, 38. 41. 183. 164.
215. Bemh'öft 103. Bieriing 76. 214. 221. Binding 142. Birkmeyer 99. Bismarck 50. 80. 108. 111. 115. 117.
*) Die Zahlen bedeuten die (ersten) Seiten.
VI 1.
IX
BlnntMhli 18. 39. 82. 104. Brie 4. d2. 74. ▼. Bulmeriacq 73. Bfllow 225.
Coceeji 17. Criste 182.
Deumer 47.
Flofe 21. Frioker 41. ▼• Frisch 104. FritM 6. 88.
18. 28. 72. 74. 75. 130. 164. Ofiitliier-ViUare 162. GeHeken 29. 85. 51. 81. 165. GeSner 9. 24. Gondie 60. GrotiuB 17.
▼. Hacenf 5.
Hemer la 29. 85. 51. 81. 165.
HeUbom 185. 189. 144.
▼. Hellert 182.
Held 95.
Hie 142.
HoUand 172.
▼. HolteendoriF 82.
Janke 141.
JeUiiiek 5. 9. 19. 87. 65. 85. 105.
115. 124. 162. 165. 214. Jbering 202.
Klfiber B. 57. 140. Knener 145.
lAband 144. LMMm96. 115. Ledemuum 44. Lehmiuin 142. Lejeer 156.
▼. Litit 61. 88. 89. 99. 140. 143. 146. 165. 18L 185.
Loening 104. Lnnder 144.
y. Martens 13. 16. 24. 133. 164.
178. Mayer 19. Merkel 3. Mill 24. 111.
XeumaDD 18. 21.
Nippold 3. 18. 23. 40. 90. 165. 214.
Pfaflf 5. 6. 16. 3a 89. 156. 1 Pfeiffer 46. 47. i Phillimore 10. 188.
Pinheiro-Ferreira 18. 93.
Polybius 179.
Pradier-Fod^r^ 11. 16. 21. 24.
Pufendorf 17.
Behm 2. 97.
Rivier 12. 19. 38. 87. 89. 130. 168. Rolin-Jacquemyns 154. 185. Rosin 105.
Schroeder 142.
Schulze 144.
Stammler 3. 75. 96. 102. 197.
Stoerk 42. 66.
ThoD 103. Triepel ^5. 77.
UUmann la 23. 29. 32. 90. 141. 143. 162.
Vattel 12 19. 37.
I
, "V^ach 99.
; Wharton 10. 21. 71. 172. : Windscheid 6. 55. 102. 108. 117. Wundt 219.
' Zitelmann 110. 120. 199. 200. 212. i Zorn 35. 143. 164. 203.
Berichtlsrung:.
Aaf S. 81 besteht der Inhalt der Anin. 1 in dem der Anm. 2 und die letztere hat za laaten: Vgl. S. 107 ff., sowie 122 ff. und 149 ff.
Erster Abschnitt SteUnng and Begrenzung der Aufgabe.
5 1.
Der Gegenstand , mit dem sich die vorliegende Ab- handlung zu befassen hat, führt uns zunflchst in den Bereich des reinen Völkerrechts, d. h. auf ein Gebiet, welches sich bei den Juristen (zum mindesten in Deutschland) nicht eben großer Wertschätzung und Teilnahme zu erfreuen pflegt. Ohne hier in eine nähere Erörterung dieser Er- scheinung, namentlich der tieferliegenden Ursachen dafür' eintreten zu wollen, mag bloß das Eine in aller Kürze hervorgehoben werden, daß dieselbe unter einem bestimmten Gesichtspunkte jedenfalls sehr zu bedauern ist; Uber der grundsätzlichen Veruachlassigung und Mißachtung des ius inier gentes kommt leider der große j uriatisch e Wert gar nicht zur gebührenden Geltung, der für allgemein-recht- liche Fragen der Be^ichiLftigung mit diesem zweifellos inne- wohnt.
Es ist eine auch dem flüchtigsten Blick beinahe von
lelbst sich aufdrängende Tatsache, daß das Völkerrecht von
■ jVornherein ein ganz eigenartiges Gepräge aufweist. Als
eigentlich primäre Besonderheit, als diejenige, auf welche
alle übrigen in letzter Wurzel als bloße Folgeerscheinungen
u keinem Zweifel unterliegen, daß die Volk errech tawisB len »icli selbst anzuklagen hat. Vgl, hierzn unten 8. t ItBireohU. Abhsndl. VI 1. - Sehtnitlt. 1
2 VI 1.
mehr oder weniger sich zurückführen lassen, ist dabei die gesamte Art der Entstehung anzusehen : während das inner- staatliche Recht ^ nie direkt von den zu seiner Anwendung berufenen Einzelindividuen produziert, sondern ihnen stets, mit Einschluß des speziiischen jus non scriptum^, von oben her, durch einen einheitlichen Gemeinschaftswillen auferlegt wird, fällt letzteres die Sache wesentlich kompli- zierende, schwierige, neue Probleme unlöslich in sie ver- flechtende Moment für internationale Verhältnisse ganz weg ; die Staaten, von denen die einzelnen Völkerrechtssätze als juristisch wirksame Direktiven ihres Tuns und Lassens be- folgt werden sollen, sind gleichzeitig auch diejenigen Per- sonen, von welchen der gesamte Normenkomplex entweder durch ausdrücklichen oder stillschweigend erklärten Rechts- satzungsvertrag (resp., wie man neuerdings vielfach zu sagen vorzieht, durch „Vereinbarung") überhaupt erst geschaflFen
^ Zur Vermeidung etwaiger Mißverständnisse mochte ich hier eine erläatemde Bemerkung einschieben. Wenn ich an der obigen, sowie zahlreichen anderen Stellen dem Völkerrecht immer nur die interstaat- liche Ordnung gegenübersetze, so soll damit jenem (als einem ausnahms- weise auf dem Wege strengster Koordination entstandenen Rechte) stets bloß das wichtigste Beispiel des normalen und regelmäßigen Falles (d. h. des einer begrifflich sn per ordinierten Quelle entspringenden Regelsystems) an die Seite gestellt, keineswegs aber behauptet werden, es seien weitere selbständige Rechtsoidnungen überhaupt nicht vorhanden. Diese Art der Auffassung ausdrücklich von mir abzulehnen, habe ich um so mehr Veranlassung, als ich schon von Rehm expressis verbis der Zahl derjenigen Schriftsteller eingereiht worden bin, über die er (Allgemeine Staatslehre, 1899, S. 147) sagt: „Es gibt für sie Recht nur im, nicht vor, außer und über dem Staat, alles Recht führt auf den Staatswillen zurück.** In Wirklichkeit ist aber von mir bereits in meiner 1896 veröffentlichten Studie über den „Staat** (Heidelberger „Staats- und Völkerrechtliche Abhandlungen** I, 6) klipp und klar gesagt worden (S. 77/78): „Das Recht ist vom Staat keineswegs in der Weise völlig abhängig, daß es ihm überhaupt seine ganze Existenz verdankte; viel- mehr idt die H an e Ische Bekämpfung des Satzes, ,Ohne Staat kein Recht* insofern völlig begründet, als solches auch noch in vielen anderen Verbänden erzeugt werden kann und wirklich wird.** Wie Rehm diesen und ähnlichen, aufs Bestimmteste lautenden Erklärungen gegenüber zu seiner Autfassung gekommen ist, verstehe ich nicht. Vgl. noch S. 97, Anm. 1.
* Hierüber zu vgl. meine früher publizierte Schrift, „Das Gewohn- heitsrecht als Form des Gemeinwillens*^ (Leipzig lö99). Cf. bes. S. 46 ff.
VI 1. 3
ist'. Dies hat einerseits freilieh zur unvermeidlichen Kon- sequenz, daß das so entstehende NormensjsCera viel weniger in sieh gefestet, ein weit loseres und unsichereres sein wird^; auf der anderen Öeite aber läßt sieh, da grundlegende Pro- bleme stets besser an einfachen und primitiven wie an ver- wickelten Verhältnissen erforscht werden, von Haus aus auch wieder annehmen, daß das jus inter gentea wegen seiner essentiell durchsichtigeren Struktur und Bauart für zahlreiche Fragen der allgemeinen Kechtslehre ein äußerst
' Aus was ITir OrOaden auch unter diesen Umatänden noch waLrea Eecbt flnüunehmen ist, iiiwiefero die Meioung dKrjenigen, die der iQtematioDal'irdDung dun npezifiiich-juriflüacbeii Charakter principiell Hb- nprechen, lediglich nuf die Verwechslung einer bloSeii Art des Eecbte- IwgriSeB mit der Gattung Buhlechtweg hinnusISuft, diese l'Vage muß natQrliuli hier unerSrtert bleiben. Eine aehr KDtreffende (in dem gegebenen Zniammenhang allerdings etwas andern pfemeinte) Formal iur die gesamte BcchtHentstehung findet sich gelegentlich bei Stammler, indem dieser (Wirtschaft und Recht nach der materialistischen GeschichtsautTaBBuntc, 1896, 8. 608) sagt, daB von Anfang an „xwei M3gliciikeilen au unter- scheiden sind: eine solche der Einigung unter den Recht Setaandeti und nQD zugleich rechtlich Oebundenen. oder aber eine eiascitigc Saltung durch einen Machthaber gegen den Willen der Unter worfeneD". Vgl. auch A. Merkel, Juristische Enzyklopädie (2. Aud., 1900),
i 121, I
55.
* Bi'iläuGg sei darauf hingewiesen, daU dos allein eigentlich noch lange nicht die BeAignis dazn gibt, das Volkerrecht gegenüber dem initer- staatliehen als „unvollkommen" lu hnuidmarken, trotidem dies (auch selten» solcher Antoren, die die Hechtsqualität des ersleren prinsipiell auerkennenl überaus häufig geschieht. l}enn wenn über irgendetwas in wahrbütl gerechter Weise ein derartiges Werturteil gefällt werden soll, so muH mRn invor auch den Einfluß des gesamten äußeren, unabänderlich gegebenen Milieus mit in AiL^atz bringen; man muß scirgfiiltig unter- snehen, üb es in Anbetracht und unter Berücksichtigung de« letBleren alles dw geworden ist, was es überhaupt werden konnte, nnd lediglich hiernach über das VorhandeuHein oder Nichtvorhandensein der „Vollkommenheit" entacheiden. Demgemäß mag man wuhi das V51ker- recht mit Fug insofern unvollkommen nennen, als es lachlich* und inhaltlich zweifellos auch heute noch nicht vQllig das leistet, was es an sich EU leisten fnhig wäre; dagegen hat es gar keinen Sinn , ihm aius der, der ganzen Ericheinuog eiiaentiell inhärenten, Abwesenheit gewisser formaler Sicherheitskriterien («- B, aus dem Fehlen selbständiger, aus eigener Autorität und nnabhängig von den Parli-ien fungierender Gerichte, aus dem Mangel einer rechtlich geordneten Zwangsgewalt u. dergl.) einen Vorwurf zu machen. Grundsätslich riehti(! Nippold, dar völkerrecht- liche Vertrag, seine Stellung im Rechbisystem und netne Itedentung ftir das internationale Recht (1K94), S. 2r^2: „Sowie das inncnttsatliche Recht Gesetzelrecht ist, so ist das Völkerrecht Vertragsrecht. Hierin liegt kciiiu
1*
4 VI 1.
dankbares Studienobjekt abgeben muß^. Diese, hier za- nächst aus universal-theoretischen Erwägungen hergeleitete Voraussage wird gerade durch die folgende Einzelunter- suchung eine praktisch wirksame Bestätigung erfahren : unsern Ausgangspunkt nehmend von einer rein völkerrecht- lichen Detailfragp, werden wir im Verfolg zu umfassendsten und wichtigsten Allgemein resul taten hingeführt werden, mit einem Ausblick auf Wesen und prinzipielle Auffassung des Rechts überhaupt zu schließen haben. —
Das internationale Spezialproblem , mit welchem sich unsere Arbeit ex officio befassen soll, gehört zu den be- rühmtesten — man kann freilich ebenso gut sagen: berüch- tigsten — Streitfragen der gesamten Völkerrechtswissen- schaft; haben wir es doch, der Titelangabe zufolge, mit der vielumstrittenen Clausula rebus sie stantibus zu tun, d. h. mit der Lehre, daß durch spätere Änderung der Ver- hältnisse auch die Wirksamkeit internationaler Verträge un- günstig beeinflußt wird. Da machen sich nun vor allen Dingen ein paar kurze Bemerkungen zur formellen Recht- fertigung der gewählten Überschrift erforderlich. Wenn im Titel ausdrücklich hervorgehoben ist, daß lediglich „über die völkerrechtliche clausula rebus sie stantibus" ge- handelt werden soll, so wird das sicherlich von vielen als ein durchaus unnötiger und inhaltsloser Zusatz empfunden werden. Denn einer heutigentags überaus weitverbreiteten Meinung zufolge ist das Elauselinstitut sämtlichen übrigen Rechtsgebieten vollständig fremd, dergestalt, daß jede Be- schäftigung mit diesem Gegenstand von selbst und ohne weiteres streng international - rechtlichen Charakter an sich tragen müßte.
UnvoUkommenheit des letzteren: beides ist in der ureigensten Natur der beiden Gebiete begründet.''
' Vffl. die treffende Bemerkung ron Brie (Die Fortschritte des Völkerrechts seit dem Wiener Kongreß, 1890, 8. 3), daß „das Völkerrecht theoretisch gerade durch die [Jnvollkommenheit seiner Quellen und seiner Realisierung dazu beitragen kann, Begriff und Wesen des Rechts klar* zustellen*'.
VI I. 5
Nun ist aber in Wahrheit jene HinzufUguDg durchaus nicht so überflüssig, wie es hiernach allerdings scheinen möchte, vielmehr mit gutem Grunde zu dem Zwecke vor- genommen worden, um eine grundsätzliche Begrenzung unserer Aufgiibe zum Ausdruck zu bringen. Im Gegensatz nämlich zu dem ebengenannten allgemeineo Vorurteil steht tatsächlich die Sache so, daß der clausula an und für sich auch für das innerstaatliche Recht nicht alle und jede Be- deutung abgesprochen werden darf. Es gilt das sogar in einem mehrfachen Sinne. Zunächst rein geschichtlich, mit Rücksicht auf frUber gegebene Zustände und Verhältnisse. In dieser Beziehung hat insbesondere Jellinek* schon vor Jahrzehnten darauf aufmerksam gemacht, daß man mit der Klauaellehre ehedem in viel ausgedehnterem Maße zu operieren pflegte, und daß sie deshalb in der privatrecht- lichen Literatur damals gleichfalls eine große Rolle spielte. In welch bedeutendem Umfange dies der Fall war, das ist dann vor einigen Jahren durch eine besondere Abhandlung des österreichischen Gelehrten Ffaff* des Näheren dargetan und retrospectiv klargelegt worden. In eingehenden Unter. Buchungen weist letzterer nach, daß, gestützt auf bestimmte Stellen des corpus iuris civilis, schon die Glossatoren und ihnen folgend die Kommentatoren mit der Ausbildung eines entsprechenden zivilistischen Reehtsinstituts begonnen haben, daß dieses in der Folgezeit zu immer weiterer Anerkennung gelangte und namentlich auch von der, ja viel später erst einsetzenden Völkerreohtswissenschaft einfach übernommen wurde. Bereits diese wenigen Andeutungen lassen zur Ge- nüge erkennen, wie verkehrt es historisch-genetisch ist, wenn ein öffentlich-rechtlicher Schriftsteller der Neuzeit^ den Satz
' Vgl, „Rechtliche Natar der StaatenvertrSge" (18Ö0), Anra, 104: „Es war lange Zeit hindurch natiirrechll ich e Aimchauiuig , daß auch für EivilistiBche Verträge die Änderung der UmBtäude als AulISsungs- gmnd gilt "
' Die Klausel Rebaa nie BtantibuB in der Doktrin and der Sater- reichischen GeeetTgebung. Stattgart 1S98.
* L. V. Uagens, Staat, Recht und Völkerrecht [1890] 8. 54/55.
G VI 1.
formulierte: „Um die Tatsachen in die Schablone pressen zu können, erfand (!1) die völkerrechtliche Doktrin die Lehre von der clausula rebus sie stantibus, welche als essentiale negotii jedem zwischenstaatlichen Vertrag inne- wohne".
Daß ein derartiger Ausspruch überhaupt fallen konnte, wurde einzig und allein dadurch möglich , daß die privat- rechtliche Klausellehre, schon bald nach Erreichung ihres Höhepunktes, etwa in der Mitte des 18. Jahrhunderts, all- mählich in Mißkredit kam und schließlich fast vollständiger Vergessenheit anheimfiel. Dabei blieben aber — und hier- mit kommen wir zu einem zweiten Punkte, der in einer ganz allgemein angelegten Arbeit über die clausula rebus SIC stantibus nicht fehlen dürfte — die sachlichen Verhält- nisse und Bedürfnisse, die seinerzeit zur Ausbildung der- selben geführt hatten, völlig in Kraft und Wirksamkeit; mit anderen Worten, es konnte auf den Rechtsgedanken, den man bis dahin mit Hilfe jener Lehre zu formein suchte, keineswegs gänzlich verzichtet werden, sondern er lebte, nur jetzt in neuen Formen und Konstruktionen, materiell unbeeinträchtigt fort^ Wenn Windscheid* mitten in der Erörterung seiner Lehre über die Voraussetzung Anlaß findet, auf die alte Doktrin von der clausula rebus sie stantibus Bezug zu nehmen, wenn § 321 des Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich an eine nachträglich eingetretene „wesentliche Verschlechterung in den Vermögens- verhältnissen" der einen Vertragspartei wichtige Rechtsfolgen anknüpft, wenn Pf äff® ausführlich für die österreichische Gesetzgebung und andeutungsweise auch für einige andere den Nachweis liefern kann, daß sich dieselben noch immer von der clausula rebus sie stantibus materiell beeinflußt
* Vgl. hierzu die Bemerkungen, die Fritze in einer Besprechung des vorhin genannten Pf äff sehen Werkes macht; Kritische Vierteljahrs- Schrift Bd. 42, 8. 523.
' Pandekten § 98, Anm. 5.
» A. a. O., 8. 78 ff.
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zeigen, so sind das gewiß ebensoviel überzeugende Belege dafür, ditß letztere nur dem äußeren Anschein, nicht aber aueli der Sache nach aus dem beutigen innerstaatlichen Recht entHchwunden ist.
Mit allen diesen Dingen nun, so interessant sie an und für sich zweifellos sind, werden wir uns in der vorliegenden Arbeit in keiner Weise befassen. Wir wollen weder ge- schichtlich auf die Zeiten zurückgreifen, da die Klausellehrc geradezu formell- techniadi einen integrierenden Bestandteil des Privatrechts bildete, noch die Frage untersuchen, durch was für Sätze sie wenigstens materiell auch heutzutage noch vertreten wird; vielmehr soll auf jede detaillierte Erörterung intern- staatlicher Verhältnisse grundsätzlich verzichtet und die Untersuchung von vornherein bloß auf das beschränkt werden , was die Wissenschaft des internationalen Rechts über die clausula rebus sie stantibus zu sagen päegt.
Freilich muß uns, wie wir bald sehen werden, eben die exklusive Beschäftigung mit dieser, die kritische Prüfung der völkerrechtlichen Elausellehre in allen ihren Teilen, doch am letzten Ende selbst wieder hinausführen über die spezifischen Grenzen der internationalen Verkehrsordnung. Aber es wird das nach einer ganz anderen Richtung hin geschehen, wie es bei einem Eingehen auf die beiden vor- hin genannten Punkte der Fall wäre: während jede Er- örterung dieser uns sofort in Einzelheiten des Zivilrechts verwickeln müßte, bleibt dergleichen hier strikt aua- j;e9chlosaen, und es soll nur die davon völlig verschiedene Frage kurz erörtert werden, ob nicht vielleicht das Spezial- phänomen der internationalen clausula in letzter Wurzel sieh zurückführen läßt auf Eigentümlichkeiten und Be- schränkungen des Rechtsbegriffes überhaupt'. Das aber kann offenbar geschehen, ohne die essentielle Anlage der Arbeit irgendwie zu beeinträchtigen-, der grundsatzlich völkerrechtliche Charakter derselben bleibt durchaus ge-
' Vgl. g§ 11, 12; 16, 17.
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wahrt, auch wenn wir den gewonnenen Ergebnissen durch Bezugnahme auf Probleme der allgemeinen Rechtalehre schließlich eine breitere Baais, ein tieferes Fundament zu geben suchen.
§ 2-
Nachdem wir unsere Aufgabe einer ersten und prin- zipiellen Abgrenzung unterzogen haben, gehen wir jetzt zur Behandlung des so tixierten eigentlichen Themas ttber. Da stellt sich denn sofort die Notwendigkeit noch fernerer Vorarbeiten, einleitender Feststellungen und Forschungen heraus. Ehe wir nämlich an irgendwelche Beurteilung der völkerrechtlichen Klausellehre herantreten können, mUBsen wir sie zuvor inhaltlich überhaupt erst zu bestimmen suchen; es liegt uns ob, die herrschende Meinung Über diesen Qegen- etand zu formulieren. Bei der ümtSnglichkeit und Ver- streutbeit des zu berticksichtigenden Materials (in Frage kommt ja eigentlich die einschlagende Literatur aller Kultur- nationen) oflenbar eine Aufgabe, die von vornherein mit einer gewissen Schwierigkeit zu kämpfen hat.
Der Versuch einer Lösung läßt sich natürlich nur in der Weise machen, daß jetzt die Äußerungen verschiedener völkerrechtlicher Autoren über den uns interessierenden Punkt zitiert und vergleichend nebeneinandergestellt werden, wobei aus leicht ersichtlichen Gründen Wert darauf zu legen ist, daß Schriftsteller möglichst mannigfacher Völker und Staaten zu Worte kommen. Den Anfang mache ich mit der Meinung einiger deutscher Völkerrechtslehrer.
Sehr dürftig ist noch das, was Klüber über den Gegen- stand zu bemerken hat, denn wir finden bei ihm ' lediglich Folgendes: ,Die rechtliche Wirksamkeit der Völkervertrage hört auf bei wesentlicher Veränderung solcher Umstände, deren Dasein für die Wirksamkeit des Vertrages, nach dem Willen beider Teile, als notwendig vorausgesetzt war, gteioh-
tadt (13-51),
§ 165 (
EaropäiBclies Völkerrecht, 2. Aufl. besorel <■
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viel ob die Voraussetzung ausdrücklich oder vermöge der Natur des Vertrags atillaciiweigend gemacht war".
Ebenfalls recht knapp gehalten sind die Angaben, die in Hoitzendorffs Handbuch des Völkerrechts • G e ß n e r macht. Abgesehen von verschiedenen Zitaten aus anderen Schriftstellern, beschränkt sich dieser lediglich auf die Kon- statierung, daß, „wenn die Umstände, unter welchen ein Staatsvertrag abgeschlossen wurde, sich wesentlich geSndert haben , derselbe als aufgelöst angesehen werden kann". Nur wenig mehr läßt sich auch aus einem zweiten pin paar Zeilen später folgenden Satze entnehmen, woselbst es heißt: „Veränderte Umstände können auf die Gültigkeit eines internationalen Vertrags rechtlichen Einfluß haben, da der- selbe eines Staatszweckes wegen geschlossen wird, und seine Fortdauer deshalb davon abhängig ist, daß er mit diesem Staatszwecke nicht in Widerspruch kommt".
Im Gegensatz zu den beiden bisher genannten Autoren wird die Frage einer viel ausfuhrlicheren Erörterung unter- worfen von Jeliinek in seinem gelegentlich schon einmal angezogenen Werke: _Die rechtliche Natur der Staats- verträge" ^. Ich hebe aus seinen umfassenden Darlegungen nur die wichtigsten Punkte heraus, „Ein Endignngsgrund der Staaten vertrage ist auf die eigentümliche Natur des Staates zurückzuführen. Das ist die Kollision der höchsten Staatszwecke, unter welche vor allem die Selbsterhaltung zJihlt, mit der Erfüllung des Vertrages. Hier tritt das Not- recht des Staates ein, welches ihm gebietet, seine Existenz hfther zu achten als die Verpflichtungen, welche er gegen Fremde übernommen hat. Juristisch ist das Eintreten solcher, die Vertragserfüllung zur Verletzung der Pflichten gegen sich selbst machender Umstände als unverschuldetes Ein-
' Bd. m (1887), S. 60.
■ Cf. S. 62 ff. An den damuls forinulierteD Sätzen bat Jeliinek ttiicii ia der Folgezeit unveräudort fentgchalteii. Vgl. besonders Lehre von den Staatenverhindimgen (1^82). ti. 102f.; Allg:emeine Staatslehre \ (1900J, e. ()79 Anmerkung.
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treten der Unmöglichkeit der Leistung aufzufassen. Eine Gebundenheit des Staates in alle Ewigkeit gehört zu dem rechtlich Unmöglichen. — Ein Staat ist kein physisches Individuum, welches die ganze Zeit seines Lebens hindurch einen nur innerhalb gewisser Grenzen sich verändernden Typus trägt y sondern es ist ein in steter Bewegung und Umbildung begriflfener Faktor der weltgeschichtlichen Ent- wicklung. — Und der Staat der Vergangenheit sollte die Macht haben y die Gegenwart und Zukunft des Staates zu beherrschen? Die Erstarrung der Staaten, der Tod der Weltgeschichte wäre die Konsequenz. Nur eine den Zweck und die geschichtliche Funktion des Rechts vergessende Theorie könnte dem Staate eine unlösbare Verbindlichkeit auferlegen wollen. Der Zweck des Rechts besteht in der Erhaltung der Bedingungen des menschlichen Gemeinlebens. Zu diesen Bedingungen zählt aber vor allem die staatliche Organisation in ihrer freien Entwicklung. Was diese hemmt, kann also nimmermehr Recht sein." —
An diese Zitate inländischer Schriftsteller mögen sich nunmehr ein paar aus fremden, nichtdeutschen Autoren an- reihen. Wieder mit recht kurzen Andeutungen begnügt sich der Engländer Phillimore, wenn er in seinen Com- mon tari es upon international law^ sagt: „When that State of things which was essen tial to, and the moving cause of the promise or engagement, has undergone a material change, er has ceased, the fpundation of the promise or engagement is gone, and their Obligation has ceased. This proposition restes upon the principle that the condition of rebus sie stantibus is tacitly annexed to every covenant.^
Etwas mehr Material bietet uns dagegen ein Vertreter der zweiten angelsächsischen Nation, der Nordamerikaner W harten, der sich folgendermaßen^ ausspricht: „A treaty may be modified or abrogated under the following circum-
> 2. Aufl., 1871, Bd. n, S. 109.
« iDtemationÄl law, Vol. U (1886), 8. 58/59 (§ 137 a).
pvi 1.
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' stances: — 7) When a atate of thinga wliich waa the basis of the treaty, and one of its tacit conditions, no longer exists. In most of the old treatiea were inaerted tlie (Clausula rebus sie stantibus" by which the treaty might be oonstrued as abrogated when material circumatances on which it rested changed. To wölk thia effect. it is not necessary thiit tlie facta alleged to have changed should be material conditions. It ia enough, if they were streng in- duceraenta to the party asking abrogation. The maxini .conventio omnis intelligitur rebus sie stantibus' is held to appiy to all caaea in which the reason for a treaty has failed, or there has been such a cbange of circunistances as to make its performance inipracticable except at an un- reasonable sacrifice."
So ziemlich ' die gleichen Gedanken, die hierin zum Ausdruck gelangt sind, treten uns dann weiterhin auch ent- gegen in den Worten des Franzosen Pradier-Fodörö': „En droit international on enseigne que leg traites cessent d'etre obligatoirea lors dn changement essentiel de teile ou teile eirconstance dont l'exiatenue etait suppos^e nßcesaaire par les deux parties (aoit ijue cette condition ait 6tA atipulee express^ment , soit qu'elle r^aulte de Ia nature mcme du trait^), en d'autres termes loraqu'il se produit une modifi- cation essentielle des circonalances en vue desquellea le trait^ a dtö conclu. — L'effet d'un traitö doit n&essaire- ment ceaser loraqu'il se produit dans Ia aituation r^ciproque des parties contractantea un tel changement que le but vis^ par le trait^ ne saurait plus gtre atteint et que le maintien de ce traitä deviendrait un danger pour l'^tat."
Im Anschluß an diese Äußerungen Pradier-Fod^rös Bei jetzt die Ansicht zweier fernerer Schriftsteller angeführt, die gleich jenem Franzosen, freilich aber nur der Natio- nalitHt, nicht auch der politischen Staatsangehörigkeit nach
' Droit inMrnational pnblic enropäen i
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sind. An erster Stelle beziehe ich mich auf die des Schweizers Vattel, das heißt eines ziemlich alten Autors, der jedoch mit gutem Grunde im interationalen Leben noch immer eine große Autorität genießt. Bei ihm finden wir in seinem, 1793 erschienenen Droit des gens* einen ver- hältnismäßig recht eingehenden Versuch, dem Problem ge- recht zu werden: „On a propos^ et agitö cette question; si les promesses renferment en elles-memes cette condition tacite que les choses demeurent dans T^tat oü elles sont, ou si le changement survenu dans l'ätat des choses peut faire une exception k la promesse et m§me la rendre nulle? — S'il est certain et manifeste que la consid^ration de Tötat present des choses est entr^e dans la raison qui a donn^ lieu k la promesse, que la promesse a ^tö faite en considöration , en cons^quence de cet ötat des choses , eile dopend de la conservation des choses dans le meme ötat. Cela est Evident puisque la promesse n'a 6t6 faite que sur cette supposition. Lors donc que l'^tat des choses, essentiel ä la promesse, et sans lequel eile n'eüt certainement pas m faite, vient ä changer, la promesse tombe avec son fondement. — Mais il faut etre tres r^servö dans Tusage de la prösente r^gle; ce seroit en abuser honteusement que de s'autoriser de tout changement survenu dans T^tat des choses, pour se d^gager d'une promesse: il n'y en auroit aucune sur laquelle on püt faire fond. Le seul ^tat des choses, a raison duquel la promesse a ätä faite, lui est essentiel, et le changement seul de cet ^tat peut l^gitime- ment empdcher ou suspendre Teffet de cette promesse. C'est Ik le sens qu'il faut donner ä cette maxime des jurisconsultes: conventio omnis intelligitur rebus sie stantibus.^
Wir gelangen nunmehr zu den Ausführungen des Belgiers Rivier^ Dieser bewegt sich in der Hauptsache
1 Bd. II, S. 271 f. (§ 296).
* Belgier wenigstens der fast ausschließlichen Stätte seines Wirkens nach, während er allerdings von Gebart, wie Vattel, der französischen Schweiz angehört. Zitiert wird hier von ihm sein deutsch geschriebenes „Lehrbuch des Völkerrechts" (2. Auü. 1899), S. 350 ff.
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vollständig in J e 1 1 i n e k sehen Gedankengängen , indem os bei ihm heißt: „Die Staaten sterben nicht, und sie vermögen nicht auf ewige Zeiten sich ihrer Freiheit zu entÄußern, Würden sie es vermögen, so würden die Verträge, anstatt das Leben der Völker zu fördern, es im Gegenteil hemmen, ihm Fesseln auferlegen und das Selbaterhaltungsrecbt der Völker verletzen, das das Recht der Entwicklung ein- begreift. ^ Kraft des Selbsterhaltungsreclits der Staaten bleiben Verträge' stets einseitiger Kündigung unterworfen, und man muß den Satz aufstellen, daß ein Volk auf dieses Recht der Kündigung nicht definitiv verzicbtet, auch wenn dies nicht ausdrücklich erwähnt sein sollte. ^ Die bier aufgestellten Sätze werden gewöhnlich in der Form aus- gedruckt, daß gesagt wird: die Verträge seien geschlossen mit der stillschweigenden Klausel rebus sie stantibus. Mit der Veränderung der Verhältnisse sei die Rechtskraft des Vertrags hinfällig geworden,"
Endlich und zum Beschlüsse der hier gegebenen Lite- raturnachweise soll noch die Auffassung eines russischen Autors wiedergegeben werden, nämlich die von F. v. Märten s^, der sich über das fragliche Problem in folgender Weise ausspricht: „Die Rechtsverbindlichkeit eines Vertrags hört auch auf, wenn die Umstände, angesichts welcher oder um derentwillen er abgeschlossen worden war, sieh wesentlich verändert haben, — Freilich ist diese sogen, clausula rebus sie stantibus häutig als Deckmantel willkürlicher Vertrags- verletzungen benutzt und in dem Sinne verstanden worden, als ob jedwede Wandlung der Umstände auch gleich die legale Annullation des Vertrags nach sich ziehe. Der Miß-
' Oajiz gen»a zitiert nehreibt Rivier hier eigentlich „derartige VertrSga". Die UiniufiiiriiDg' des einschränkenden Beiwort» erklürt sich daraiiB, daß er eine gewisse Scheiduilg vomelimen will, daQ er bloß lux bestimmte Traktate die sufW'endo Wirkung der Klausel anerkennt, fiir andere dngt^n negiert Wir haben späler auf diese Besonderheit noch EurückEukommen (s. g S, Ü. 87).
^ „Völkerrecht. Daa internationale Recht der zivilisierten Nationen." , Deutsche Ausgabe von Bergbohin, Bd. 1 (18Ö3), 426/427.
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brauch vermag aber gewiß nicht zu beweisen, daß die Regel selbst absolut wertlos sei. Aus dem Wesen der inter- nationalen Verträge folgt, daß der Staat sich durch sie nur um eines Staatszwecks willen binden kann, sodaß jedes von ihm eingegangene Rechtsverhältnis solange besteht, als es mit diesem Zweck im Einklang steht. Die Gültigkeit eines Vertrags erlischt daher nur, wenn eine solche Veränderung in der beiderseitigen Situation der Parteien eintritt, daß der gedachte Zweck unerreichbar wird, und die fortgesetzte Anerkennung des Vertrags den Staat in Gefahr bringen würde. "
§ 3.
Wenn wir die in dem vorausgehenden Paragraphen genannten Schriftsteller prüfend miteinander vergleichen, so macht sich sofort bemerklich, daß ihre Ansichten über die Klausel im großen und ganzen eine weitgehende Ver- wandtschaft aufweisen^. Zwar scheinen auf den ersten Blick zwischen ihnen auch manche, recht tiefgreifende Diffe- renzen obzuwalten ; wir werden jedoch gleich im folgenden sehen, daß diese mehr formeller Art sind und die Gemein- samkeit der sachlichen Hauptpunkte nirgends wesentlich tangieren. Indem vielmehr bezügl. der letzteren überall, für sämtliche doch recht mannigfachen Ländern angehörende Autoren, eine prinzipielle Übereinstimmung sich feststellen läßt, ist schon hierdurch der Nachweis erbracht, daß in der Theorie eine internationale Harmonie noch immer weit eher erzielt werden kann, als es, wie das oft genug in greuliche Dissonanzen sich auflösende „Europäische Konzert^ dartut, in der Praxis leider möglich ist.
Nun wäre es ja freilich ganz verkehrt, wollte man, bloß auf das bisherige Material gestützt, ohne weiteres auch für die gesamte Völkerrechtsliteratur eine entsprechende communis opinio als gegeben und bewiesen annehmen; denn im Verhältnis zu der kaum übersehbaren Fülle derselben
^ Näheres hierüber s. u. S. 18 ff.
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diirfeo gewiß die nngefUhrten Stellen höcliatens die Be- deutung einzelner Stichproben beanspruchen und müßten also füT weitergehende Sc;hlußfolgerangen noch beträchtlich Terraehrt werden. Indes wie die Dinge wirklich liegen, würde eine auch nur halbwegs genügende Zitierung völker- rechtlicher Öchriftateller überaus ermüdend wirken und außerdem zu den bereits gewonnenen Resultaten kaum nocli etwas Neues hinzufügen. Wenigstens soweit meine Kenntnis des in Betracht kommenden Materials reicht, verhält sich die Sache in der Tat so, daß schon die genannten Autoren als treuer Spiegel der völkerrechtlichen Literatur überhaupt. und zwar nicht blo6 in den übereinstimmenden HauptzUgen, sondern auch in den wichtigeren Spezialnuancleruugen und -abweichungen der Klauseltheorie, gelten dürfen. Wohl fehlt es in ihr auch keineswegs an grundsätzlicher Oppo- sition; im Gegenteil gibt es, wie sich im Verlauf der Ab- , handlung herausstellen wird, auch eine gewisse Anzahl solcher Autoren, die sich gegen die clausula äußerst skeptisch verhalten. Das sind jedoch relativ gefaßt bloß recht seltene Ausnahmsf^lle; in der Hauptsache steht es immer so, daß die Elausellehre widerspruchslos akzeptiert und verlreteu wird, wobei die Formen und Wendungen, in denen das ge- schieht, regelmäßig bloße Variationen der uns bereits be- kannten Ausführungen sind.
Vom historisch-genetischen Standpunkt aus betrachtet ist in dieser Erscheinung auch durchaus nichts Über- raschendes zu tinden; lassen sich doch mehrere Gründe namhaft machen, warum die internationale Klausellehre eine solch einheitliche Entwicklung nehmen mußte und wirklich genommen hat. Es kommen da im wesentlichen zwei Mo- mente in Frage.
Das erste besteht in der nicht unbedeutenden gegen- seitigen Beeinflussung, die unter der spezifisch völkerrecht- lichen Literatur verschiedener Nationen von jeher statt- gefunden hat. Entsprechend der Eigenart des ganzen Gegenstandes, der ja allen Kulturvölkern gleichmäßig nahe
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Ansichten völkerrechtlicher Schriftsteller über die clausula nicht mehr im Wortlaut mitteilen, sondern schon die neun bisher genannten als ausreichende und hinlängliche Belege für das Vorhandensein einer internationalen communis opinio gelten lassen ; und haben nun, ehe wir uns zu unserer sach- lichen Hauptaufgabe, d. h. zu eingehender Kritik der fest- gestellten herrschenden Meinung wenden können, nur noch eine letzte Vorarbeit zu leisten.
Die besteht darin, daß wir die zu besprechende com- munis opinio analytisch in ihre sämtlichen Bestandteile zer- gliedern ; wir müssen aufzählend feststellen, was für Einzel- punkte, teils klar und deutlich ausgesprochen, teils mehr angedeutet und versteckt, bei den völkerrechtlichen Schrift- stellern über die clausula stets wiederkehren, damit durch getrennte Untersuchung der Elemente eine möglichst er- schöpfende und übersichtliche Beurteilung des Ganzen ge- wonnen werden kann.
Als solche regelmäßige Bestandteile habe ich in der Hauptsache folgende zu nennen. In erster Linie dasjenige Moment, welches schon durch die technische Bezeichnung des ganzen uns interessierenden Instituts, durch den Namen Clausula rebus sie stantibus angedeutet wird: alle Autoren sind sich darüber einig, daß irgendwelche tatsächliche Ver- änderung von Umständen eingetreten sein muß, wenn jenes überhaupt platzgreifen soll. Daß das der Klausel recht eigentlich zu gründe liegende Prinzip von der Berück- sichtigung des wahren und tiefsten Parteiwillens manchmal auch dort nach Qeltung ringt, wo absolut kein Wechsel in den früheren Verhältnissen stattfand, sondern umgekehrt alles beim Alten blieb, diese von uns in Abschnitt VI zu erörternde Idee liegt der herrschenden Ansicht völlig fern ;
gleich in diesen und dem folgenden Paragraphen noch auf sieben weitere Autoren (Neu mann, Pinlieiro Ferreira, Nippold, Ullmann, Oareis, Heffter, Blnntschli) gelegentlich Kezug nt-hmen. die im Prinzip (also kleinere Besonderheiten immer vorbehalten) durchaus auf dem Boden der herrschfuden Lehre stehen.
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höchstens daß sich einmal eine flüchtige Andeutung tjndet, die allenfalls in dieaem tiinne ausgelegt werden könnte.
Fernerhin ist zu konstatieren, daß die völkerreclitliche Wirkung später eingetretener Veränderungen immer bloß in Ansehung internationaler Verträge erörtert zu werden pflegt. Wobl gibt es einzelne Autoren, die, sachlich an- knüpfend an die alte zivilistische Behandlung des Problems, der clausula rebus sie stantibus eine viel weilergebende Bedeutung beimessen; es wird dann aber, anders wie bei uns in § 11/12, die Frage gemeinhin nicht so sehr hin- sichtlich der übrigen Völkerrechtsnormen als in Bezug auf innerstaatliche Willensakte publizistischen Charakters ins Auge gefaßt'.
Drittens ist hervorzuheben, daß die communis opinio den veränderten Umständen stets einen spezifisch recht- lichen Effekt zuschreibt, daß sie die Wirkung derselben in der juristischen Tangierung der VertragsgUltigkeit selber bestehen läßt. Gerade in diesem Punkte, der der materiellen Wichtigkeit nach zweifellos den Kern der ganzen Elausellehre bild^'t, machen sich im einzelnen manche Ab- weichungen und Besonderheiten bemerklich, die jedoch der Übereinstimmung im Hauptgedanken schlechterdings keinen Eintrag tun. So wird beispielsweise von zahlreichen Schrift- Btellern unter Zuhilfenahme einer angeblich stets vorhandenen taeita condicio argumentiert, wogegen anderwärts auf diese Denkform Verzicht geleistet wird; manche, wie Rivier nehmen bloß ein Recht der Kündigung als gegeben an',
' Da» ist u. a. der Fall bei Viittel, wio ilar Sehlaßabsatz ies § 296 seines Droit des gen« beweist: ..Ce fjue nom Jiiom des promewiea doit B'eDteudre suahi des luis. La loi qai se rupporte a ua certain ätat
Ido cfaosen. De peilt avoir lieu qiie dam Ca mSme ^Ist." Und wie hier ffir Oeselse wird die eUusuln relius sie Btanfibu« luancbmal auch ffir «ndero affealliob reuhtliulie Statt-alttB herangeiOfren : vrI. a. B. Otto Mayer, Deiilac^heit Verwaltuni^Rrectit I. S. 1^09. (isnK nllgemeiD Jeltinnk, Luhre von dnn StaHteuverbindiiiigen, ü. 108 : „Jeder Altt das StanisnillenB, maic er sii'b nach innen oder auÜea wenden, trügt die Klausel Uebu» aic Btiuitibiu in «ich." * Vgl. dea VerfaMCTB DiaBortatioii Über einig» Aniprache an»- ,
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während sonst vielfach die ipso iure eintretende Wirkung Verteidiger findet, und was dergleichen Nebendifferensen mehr sind. Wir werden auf alle diese Dinge im Verfolg der Arbeit noch eingehender zu sprechen kommen.
Die drei bisher aufgezählten Punkte der Lehre können als solche gelten, die in der Oesamtheit der völkerrechtlichen Literatur (natürlich bloß insoweit, als sie die Klausel über- haupt prinzipiell anerkennt) gleichmäßig zum Ausdruck ge- langt sind; wir vermögen sie insbesondere bei allen in § 2 genannten Autoren aufs deutlichste ausgesprochen zu kon- statieren. Nicht ganz das Nämliche darf von den jetzt noch folgenden Momenten behauptet werden.
Hierher gehört vor allem die Frage, welcher Art und Beschaffenheit die Umstände sein müssen, die durch ihre spätere Veränderung eine juristische Annullation inter- nationaler Verträge herbeiführen sollen. In dieser Beziehung läßt sich als wirklich konstanter Faktor der Gesamt- entwicklung im allgemeinen bloß negativ feststellen, daß nicht jede beliebige Umgestaltung der früheren Sachlage als ausreichend angesehen wird; in der positiven Abgrenzung machen sich dagegen größere Verschiedenheiten bemerklich. Meist behilft man sich zunächst mit der rein formellen Be- stimmung, daß wesentliche, essentielle, fundamentale Ver- änderungen gefordert werden; die materielle Präzisiemng derselben wird dann bald mehr objektiv, nach generellen Grundsätzen und Merkmalen, bald mehr subjektiv, im Sinne der in concreto vertragschließenden Parteien, unternommen. Schließlich erfolgt aber zwischen beiden Richtungen prak- tisch doch wieder eine sehr bedeutsame Annäherung. Die- jenigen Autoren nämlich, die von Anfang an objektiv ein für allemal die Beschaffenheit der vertra^sauflösenden Ver- änderungen zu bestimmen suchen, lassen die clausula rebus sie stantibus, wie dies namentlich J e 1 1 i n e k in voller Klar-
wärtiger Staaten auf gegenwärtiges Deutsches Heichsgebiet (Leipsifl^ 18d4i 8. 24 «id nnten 8. S9 ff.
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f Jieit ausspricht', überall dort eingreifen, wo infolge der ge- I icheheDen UmgestAltung der Staat seiner Vertragspllicht nur I noch auf Kosten der höchsten politischen InleresseD, vor idlem des Selbsterhaltungszweckes, gentigen könnte. Nun steht es aber auch um die Anhänger der zweiten, gegen- sätzlichen Richtung offenkundig so, daß sie fast immer^ bei der Auafuhrung unvermerkt in die Ideengänge der ersten hinUberlenken , da6 sie, mindestens prima facie und vor- wiegend, gleichfalls an Eventualitäten der genannten Art zu denken gewohnt sind. Zum Beleg brauche ich bloB daran zu erinnern, daß Wharton bei seinen Ausführungen zu- letzt den Vorstellungskreis eines „unreasonable sacrifice" verwendet, ebenso daß Pradier-Fodörii am Schlüsse von dem Fall eines , danger pour l'^tat" redet. Ja selbst ein Mann wie Vattel, dessen Text an sich gar keine Hin- deutung auf das Moment der staatlichen Gelährdung ent- hält, zeigt sich von ihm doch ebenfalls sachlich beeinflußt, wenngleich das hier einzig und allein in der Art der ge-
' Hit fUinlichsr BcBtlmmtheit SaBem Rieh aber aach noch Kahlrefube andere, s. B. Neumann, GrimilriB den bentigen Earopäiachen VSlber^ reuhta ilfSS), &■ 84: „Ein einseitigeB ZurSchtreten vnu einem beidaraeitig verbindlkhea Vertrage i«t — nur hOchst ausnahmsweise su1Äs)iig, wenn die ErfQlliing des Vertrags oinem Tuile vordorbliuh — werden würde.
' Eeineawegfl giax ansnohmalos; vielmehr be^gnen wir sui:h Schrift- stelleni, die mit dem Qedauken, eg komme lediglich auf das an. wan die konkreten Parteien beim Momente des Vertrsgaschlusges als (ür den Bcvtand des TrHktata wusentüche UestiminungBgrüiide im Sinne banen, wirklieb ernst machen. Eine solGhe Wendung, bei der die ganxe Klausel- lehre in bestimmtem Sinne zu einer blnSeo Anslegangafrige herabsinkt, liegt u. a. wohl vor bei Fiore. Dieser nämliuh (xa vgl. Trattato di diritt« internazinnale publico, 8. Aufl. I88S. Bd. II) übergeht zunäcltst bei Aa&ählung der allgemein wirkenden Endigungngrande des Vertrags ] (a. a. O-, S. ^5) die Vernndefung der Umstnnde gänzlich; dessen ui geachtet lä£t er bald darauf die Bemerknng einfließen, ein Vertrag kSog auch durch den Eintritt neuer Tatsachen außer Wirksamkeit ge- setzt werden, verweint aber im wesentlichen bloß nuf das von der Aoa- legiing handelnde Kapitel (of. 8. ä50/351: „La sospeusione del trattato pull esnere la oonseguenEa di nn fstto nuovo sopmveuuto. — Delle altre tvorher ist lediglich Ton dem Ausbruche eines Krieges sswiachm den Kontraheulen die Rede gewesen] cagioni che poasonu giuotilicjire la sospeDsione, e in certi casi la risoluzione, del trattato, uoi discnrreiiuii I gik nel Cspitolo antecedenle [das betitelt ist: „Delln interpretaaic
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wählten Beispiele zutage tritt ^. Mit Rücksicht auf alles dies erscheint es schließlich doch fast als zulässig, auch den Gesichtspunkt des Konfliktes mit den obersten Staatsinter- essen, insbesondere mit der Selbsterhaltung, wenigstens zu den regelmäßigen Bestandteilen der völkerrechtlichen com- munis opinio zu zählen, wobei allerdings zur Vermeidung allzugroßer Verallgemeinerung immer im Auge behalten werden muß, daß ein Teil der Schriftsteller das Anwendungs- feld der Klausel von vornherein und prinzipiell auf ab- weichendem Wege zu bestimmen sucht.
Noch verhüllter und beiläufiger als es bei dem eben erörterten vierten Punkte der Fall war, tritt bei vielen Autoren die Zustimmung zu dem fünften und letzten Element auf, welches meiner Auffassung nach in der derzeit herrschen- den Lehre von der clausula rebus sie stantibus ständig ent- halten ist. Es betrifft dies 'dasjenige Moment, welches nach den bereits gegen Schluß des ersten Paragraphen gemachten Andeutungen zu einer bestimmt gearteten Überschreitung des exklusiv internationalrechtlichen Gebietes unbedingt nötigt; stellt doch in ihm, dem auf Seite 4 erwähnten allgemeinen Vorurteil auch ihrerseits Tribut bezahlend, die spezifische Völkerrechtswissenschaft selber die eo ipso nur auf solche Weise anfechtbare Behauptung auf, die clausula repräsen- tiere, zum mindesten nach ihrer modernen Um- und Fort- bildung, eine strikte Singularität des ins intergentes. Freilich findet sich dieser Satz, in derartiger Unmißverständ- lichkeit und Schärfe ausgesprochen, nicht eben häufig vor;
^ Da letztere seinerzeit nicht mit zitiert worden sind) so mögen sie hier nachträglich noch folgen: „Si le grand Gustave n'eüt pas M tuä k Lätzen, le cardinal de Richelieu, qui avoit fait Talliance de son maitre avec ce prince, qui Tavoit attir^ en Allemagne et aid^ d'argent, se füt peutetre vu oblig6 de traverser ce conquerant devenu formidable, de mettre des bornes k ses progr6s ^tonnans et de soutcnir ses ennemis abattus. Les ^tats-g^n^ranx des Provinces-Unis se conduisirent sur ces principes en 1668. Ils ferm^rent la triple alliance en faveur de TEspagne, auparavant leur mortelle ennemie, contre Louis XIV., leur ancien alli6. n falloit opposer des digues a une puissance qui mena^oit de tont envahir."
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f VI 1. 23
insbesondere läßt er sich bei sämtliclien oben in § 2 zitierten Autoren eigentlich nirgends mit voller Bestimmtheit kon- statieren. Indes darauf kann nach Lage der Dinge kein entscheidendes Gewicht gelegt werden. Auf der einen Seite nämlich sehen wir die hier vermißte ausdrückliche Statu- ierung wenigstens anderwärts tatsächlich gegeben, beispiels- weise in den Worten, die Nippold auf Seite 23G seines 18fl4 erschienenen Werkes über den „völkerrechtlichen Ver- trag" ausspricht: „Wir haben es bei der Klausel mit einem Endigungsgrund zu tun, der spezifisch-völkerrecht- licher Natur ist"'. Auf der anderen Seite darf nicht unbeachtet bleiben, daß im Grunde auch die Ausführungen der Übrigen bloß mehr stillschweigend vorausgesetzt und iraplicite das Nitmliche enthalten. Dies ist zunächst mit unbedingter Sicherheit für alle Autoren zu behaupten, die in der Weise Jellineks und Riviers expressis verbis bestrebt sind, der Klausellehre eine tiefere Basis, eine materielle Rechtfertigung zu geben; denn indem sie sich zur Begründung derselben darauf berufen, die einseitige Lös- barkeit internationaler Verträge werde durch die besondere Natur und Beschaffenheit der im Völkerrecht auf- tretenden Verkehrsaubjekte, der Staaten, zur Notwendig- keit gemacht, ist es klar, daß ihr hiermit für innerstaat- liche Verhältnisse, die ja begrifflich unter völlig anders gearteten Personen bestehen, jede Existenzberechtigung von Haus aus ganz abgesprochen wird. Nun läßt sich aber weiterhin noch feststellen, daß diese gesamte Art der Beweia- fdhrung keineswegs bloß auf die ausdrücklich mit iiir Operierenden Vorstellungen beschränkt ist, sondern den sachlich unentbehrlichen Hintergrund für die internationale Klauaellehre überhaupt abgibt und demgemäß auch in alle
' VBllig überematimmead u. a. Ullmaan, Völkerrechts. 175/17tir „ . zififlch- völkerrechtliche EndiganjrBgründe rler ataatay ertrage lind folgende; — 2. Die Veränderung der Uniatände, unter dantn der Vertrag ursprönglich Hbgesohlossen worden wsr — ein Endigungsgrund — "ngulSrer und im Hinblit-.k auf dai
, Verl
aler Na
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übrigen mehr oder weniger versteckt hereinsj kann und will das selbstverständlich nicht bis in alle Einzel- heiten verfolgen, weil uns das sicher allzulange aufhalten müßte, und gebe deshalb zur Illustration bloß ein paar Beispiele: Pradi er -Fod'örö , welcher an der früher von uns genannten Stelle seines Droit international public irgend- welche Betonung des eigenartigen Wesens der Staaten nicht erkennen läßt, argumentiert doch wenige Seiten späteEj ganz offenkundig unter Verwertung und mit Hilfe desselben 'ij Ähnlich erklärt sich L. v. Marteus* im Verlauf aeinerl Deduktionen vollinhaltlich mit einer Bemerkung John Stuart Mills einverstanden, wie „unpassend ea sei, Staaten zu ewigen Pflichten zu verbinden" ^ die^ Martensschen Darlegungen werden wieder ohne jedoj Einschränkung akzeptiert und als sehr richtig bezeicbnel von Geßner*: kurz, sobald man die der Klausel gewid* ■ meten Sätze nicht bloß isoliert für sich, sondern auch iin Zusammenhang und Lichte der Gesamtdarstellung betrachtet, wird man so gut wie Überall irgendeiner Anerkennung des hier erörterten Moments begegnen. Deshalb erscheint ea schließlich auch an diesem Punkte wieder berechtigt, ein Normalelement der heutigen Klauseldoktrin schlechthin ttn-a zunehmen und es als solches mit zur Untersuchung zvM stellen, wenngleich natürlich die letztere hier stets der ihr4 durch Anlage und prinzipiellen Charakter unserer Abhand- lung gesteckten Schranken sorglich eingedenk zu bleiben hat Mit den fünf aufgezHhIten Momenten ist meines Er-
a
uie.^— edo^ ne^H rid*^
' Die nähere Entwicklung de» gunzen Gedanken ganges j^bört a: lilcrher, Bondtrn Ut erst im Eweileo Abschnitt 6. 27 nHcüzabriugea.
• T. II, 931fr. Vgl. bei. S. 932: „Lei uationB ee modifie_ 8an> uessB, lonque iee rapporls vienuent k changer, lea Ir&itä« qj le« eipriinaieDt, ont coulro piix Is force des cboses, et leiir raison d'3tl> dinarail."
• Völkerrwht I, S. 427.
• Vgl. Holtiendurffs Handbuch des %'61kerrechtii lU , 8. 8|jl Aaeh bei einer frOheren Gele^nheit evhoa hebt OcBner herror (». a. Ojf
.. 78), <
I fTir ihn „Subjekte und Wirkungen bei dc-n Slaalavet
gani aoder« sind als bei den Priratvertrigen^
;r
VI 1.
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achtens dasjenige erschöpft, was nach Lage der Dinge als Gemeingut der modernen Völkerrechtali leratur gelten darf. Es ist nun unsere Aufgabe, diese Punkte gesondert je flir sich zu prüfen, um dann schließlich summierend zu einem Urteil über Wert oder Unwert der ganzen Doktrin zu ge- langen. Fassen wir sie vorher zur Erzielung eines einheit- lichen Gesamtbildes nochmals in einem Satz zusammen, so erhalten wir als Inhalt der üblichen Meinung Folgendes: Es soll angeblich eine besondere Eigentümlichkeit des Völkerrechts (hierüber zu vergleichen Abschnitt VIII) darin bestehen, daß internationale Verträge (Abschnitt V) eine rechtliche Aufhebung (Abschnitt II — IV) erfahren können durch jede Veränderung von Umstünden (Abschnitt VI), .die eine Erfüllung des Versprechens nur noch unter Verletzung höchster staatlicher Interessen und Zwecke (Abschnitt VII) als möglich erscheinen ließe. Hierin ist alles Material enthalten, an dem die herrschende Lehre über die clausula rebus sie stantibus den Nachweis ihrer gesamten Existenzberechtigung zu er- bringen hat; sobald sie bei keinem einzigen dieser Punkte streng kritischer Prüfung standzuhalten vermag, ist sie in ihrer derzeitigen Gestalt wohl überzeugend als völlig unzu- länglich dargetan. Der Verlauf der Untersuchung mag hierüber entscheiden.
Zweiter Abschnitt
Der rein natnrrechtliclie Charakter der tihlichen Lehre von der elansnla rebus
sie stantihns.
§4.
Der erste und gleichzeitig allerwichtigste Gegenstand, mit dem wir uns zu befassen haben ^ besteht in der Unter- suchung dessen, ob der Satz von der eventuellen Rechts- Unwirksamkeit internationaler Verträge wirklich in dem Sinne zu den spezifisch juristischen Regeln gezählt werden darf, in dem allein man von solchen überhaupt zu sprechen be- fugt ist. Das ist mit Entschiedenheit zu bestreiten. Der Beweis dafür soll in doppelter Form angetreten werden: wir wollen zunächst, in diesem §4, negativ-kritisch er- örtern, daß und warum die gewöhnlich gebrauchte Argumen- tation von Haus aus zur Erreichung ihres Zwecks gar nicht imstande ist; hierauf aber, nach dieser Widerlegung fremder Beweismethode, werden wir positiv noch unsererseits versuchen, die juristische Existenz der Klausel in der prinzipiell möglichen Art zu begründen, um dann aus dem offenkundigen Mißlingen unseres Experiments endgültig die Haltlosigkeit des vermeintlichen Rechtssatzes zu deduzieren; dies im folgenden § 5.
Fragen wir, worauf gemeinhin der juristische Charakter der clausula rebus sie stantibus gestützt zu werden pflegt.
Bo finden wir bei demjenigen Teil der Scliriftsteller, der der Sache überhaupt auf den Grund zu gehen sucht', in immer neuen Wendungen variiert, eachlidi aber ganz gleich- bleibend bloß diese Antwort: Weil ohne ihn praktisch nicht auszukommen ist, weil es anders überhaupt nicht geht. Das erhält dann seine nähere Ausführung und Krlauterung dadurch, daß man sagt: Die die völkerrechtlichnn Verträge abschließenden Personen, die Staaten, sind nicht wie die Individuen zu einer nur kurzlebigen Existenz prildestiniert, sondern umgekehrt auf die Daner angelegt. Während es den einzelnen Menschen ganz allgemein bestimmt ist, nach flüchtigem Dasein rasch wieder zu verschwinden, ist es den aus ihnen gebildeten Sozialwesen gerade eigentümlich, sich aus sich selbst heraus stets nur fortzusetzen und bloß aus- nahmsweise, beim Eintritt ganz besonderer Verhiiltnisse, ein Ende zu erreichen. So überdauern sie oft viele Jahr- hunderte, in denen sie einerseits selbst eine recht mannig- fache Entwicklung durchlaufen, und während deren sie auf der anderen Seite sich auch sehr verschiedenartigen und wechselnden Zuständen in der Außenwelt gegenüberseheu. Aus diesem Grunde muß an ihnen immer von Neuem die Erscheinung hervortreten, daß etwas, was unter früheren Bedingungen ganz angemessen, ja vielleicht sogar notwendig war, heute einen durchaun unhaltbaren Zustand bedeutet; eben deshalb darf namentlich auch von einer schlechthin unlösbaren, die Staaten auf ewig bindenden Wirksamkeit völkerrechtlicher Verträge von vornherein nicht die Rede sein. Man kann zugeben, daß diese Argumentation sehr viel Zutreffendes in sich schließt, und doch die Überzeugung festhalten, daß sie an dem entscheidenden Punkte völlig versagt. Was nämlich diesen , d. h. den Nachweis der juriatischen Qualität der clausula anbelangt, so handelt es sich hier doch entschieden um nichts anderes wie Natur- recht in optima forma. Denn es wird bloß individuell ver-
' Ct. oben 8. 23/24.
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VI 1.
standesmäßig festgestellt, daß eine iminerwälirende Ver- pflichtuQg mit der eigenartigen Beschaffenheit des Staates, mit seiner , Natur" nicht verträglich wäre, und damit soll dann ohne weiteres auch das Bestehen eines entsprechenden allgemeinen Rechtsaatzes dargetan sein, mit anderen Worten , es liegt hier ein Verfahren vor , auf welches prinzipiell die bekannte Begriffsbestimmung des GrotiuB vom Naturrecht durchaus paßt: Jus naturale est diutatum rectae rationis, iudicans actui alicui ex eius convenien- tiacum tpsa natura ratio nali inease necessitatem ni oralem.
Dieses Folgern von spezifisch-juristischen Sätzen i aus der Natur der Sache, dieses subjektive Behaupten von Rechtsregeln, ohne daß letztere auf die doch im en ib ehrlich s i objektive Basis gestellt, aus positiv fließender Normquells ] hergeleitet würden, wird überhaupt im modernen Völker- recht noch überaus häufig geübt und stellt also keineswegs bloß eine der Klausel theorie eigentümliche Erscheinung dar. Dabei steht jenes Verfahren bei den meisten Schriftstellera in direktem Widerspruche zu früheren allgemeinen Dar- legungen, indem theoretisch jetzt überwiegend wird, daß eine wahrhaft gültige Völkerrechtsordnung einsig und allein aus dem sich irgendwie manifestierenden gemein- samen Willen der Staaten entspringen könne; doch gibt es noch immer eine Anzahl Autoren, die die Entbehrlich- keit des letzteren für den Prozeß der internationalen Recht*- I bildung ausdrücklich und prinzipiell verteidigen, und mit ^ diesen muß man sich notwendig auseinandersetzen, wenn man wie wir die Richtigkeit einer solchen These sowohl im allgemeinen als bei der Klausel im besonderen strikt leugnet.
Zu diesem Zwecke mag speziell auf die Ausführungoo I von Gareis' Bezug genommen werden. Derselbe' sprichi J
' iDsUtutioneu des Vfilkerretiht* (1 «limmaid in der 2, Aufl. |1901\ S. 331.
' Von uideren Schriftslelldm verweite iah nocli beioDden i
I
sich ganz geoerell i'oJ gen dermaßen aus: , Wirkliche echte Quelle des Völkerrechts ist die Rechtsnotwendlgkeit, die necessitas; die tatsächlich vorhandeneD Verhältnisse, Tor allein das Dasein des Staates in seinem \^'esen and in der Vielheit der Staaten, die wesentlichen Eigenschaften und Aufgaben des Staates, die Tat- sache — eines Verkehrs derselben — führen den sie mit logischer Konsequenz spekulativ beobachtenden Juristen und ötaatamann zu einer Anzahl von Regeln des äußeren Verhaltens, die von den Staaten anerkannt werden und denen sieh keine Politik entziehen kann. Diese Regeln Bind weit davon entfernt, Naturrecht zu sein; das Natur- recht ist ein subjektiv- theoretisches, der in notwendigen Kechtssiltzen bestehende Teil des Völkerrechts, iua neces- Barium belli et pacis, dagegen ein objektiv-praktisches: das Naturrecht wird von der Theorie erzeugt, vom Individuum subjektiv willkürlich gestaltet; das ius necessariutn wird von der Praxis und für die Praxis gefunden und aufgestellt; diese, von der Theorie nur unterstützt, nicht geleitet, leistet flieh in der Erzeugung und Anerkennung der notwendigen Recbtssätze das, was der Staat für seine innerstaatlichen Verhältnisse sich durch seine Gesetzgebung leistet; im Privat- recht und in anderen innerstaatlichen Verhältnissen gibt es für die Anerkennung solcher notwendigen Rechtasätze des- halb keinen Raum, weil dort der Gesetzgeber das ausspricht, was die Not auszusprechen gebietet und das Herkommen, der Kürze der Zeit wegen, nicht stjituieren konnte.
Im Ralimen einer bloßen Spezialarbeit ist es natürlich nicht möglich, der eben zitierten Auffassung in aller Aus-
fter. EaropäscheH Völkerrecht, 8. Anfl- (18881 besorgt TonOeffckan, S- 7: „Eh (rillt ein schon aus innerer Nötigung an zuerkennendes, n auch keiner auadrücklichen (nach dem ZusamraFnliaug; zu ver- a als qireder einer gewohnheils-, noch vertrag« müligea'') Anerkenming bedilrfliges. gegenseitiges Recht der Bkiaten." Dngegen glaulie ich nicht, im» Ullmann, Muf den lich Gareis (a. a. O., ^. Aufl. S. HS, Anm. S) ■pezitll lieniFC, zu den die neceHaitaa als nähre und selbnl£ailige Kechts-
8 utile anerkennenden Autoren gerechnet werden durf. Vgl. unten . 3-2, N. 1.
30 VI 1.
führlichkeit und Vollständigkeit entgegenzutreten; ich muß mich deshalb bloß mit der Hervorhebung einiger besonders wichtiger Punkte begnügen. Wie man sieht, glaubt Gar eis, der Einreihung seines ius necessarium unter den Begriff des Naturrechts dadurch begegnen zu können, daß er fi^ dasselbe eine ganz abweichende Statuierungsmethode in An- spruch nimmt; er behauptet, wenn ich ihn recht verstehe, daß im Gegensatz zu letzterem, welches bloß deduktiv aus obersten Sätzen und Vernunftprinzipien gefolgert sei, das erstere rein induktiv aus praktischem Erfahrungsmaterial gewonnen würde. Hier wäre zunächst daran zu erinnern, daß anerkanntermaßen ^ die wissenschaftliche Untersuchung in Wahrheit kaum jemals rein deduktiv oder rein induktiv, sondern immer beides zugleich ist, und daß folglich aus dem relativen Überwiegen der einen oder anderen Methode keinesfalls fundamentale Kontrastierungen hergeleitet werden dürfen. Auch das alte Naturrecht arbeitete durchaus nicht bloß mit Schlüssen aus der (subjektiven) Vernunft, sondern stützte sich bei seinen Operationen, freilich mehr unbewußt, stets auch auf ein gewisses (nur viel zu geringfügiges und unzulängliches) Tatsachenmaterial. Und umgekehrt folgert wieder bei Gareis der „spekulativ beobachtende Jurist" keineswegs nur induktiv aus empirischer Betrachtung der internationalen Praxis, sondern argumentiert vielfach aus bestimmten, fertig mitgebrachten Obersätzen wie Natur und Wesen des Staates u. dergl. mehr.
Indes der Haupteinwand, der von uns geltend zu machen ist, besteht in etwas anderem. Selbst wenn nämlich Gar eis in dem eben erörterten Punkte, in der Annahme streng praktisch-erfahrungsmäßiger Beweisführung, wirklich Recht hätte, so wäre damit für seine eigentliche These noch nichts gewonnen. Er will dartun, daß direkt unter dem Einfluß und Druck naturgegebener „Notwendigkeit" für die be- teiligten Staaten ein Komplex spezifisch juristischer
» Cf. u. a. Wundt, Logik, 2. Auü. II, 1 (1894), S. 20flf.
SiTormen zu entstehen vermöge; rein aus „der Macht der eich selbst entwickelnden Lebensverhältnisse, der Tatsachen"*, aolien letztere prinzipiell gefolgert werden dürfen. Dabei wird jedoch übersehen, daß, entsprechend dem allgemein gültigen Satze, nach welchem der generali- Bierende Schluß den zu gründe gelegten Einzel beobach- tungea essentiell stets adäquat sein muß, jede Suramierung streng faktischer GeschehnisBe und Wahr- nehmungen an sich und zunächst auch nur zur Aufstellung eines faktischen Gesetzes führen kann. Ein solches zu formulieren mag unter UmstÄndeii fUr die Wissenschaft vom praktischen Verkehrsleben der Volker sehr wohl zulässig and angebracht sein, und wir selbst werden später* die clausula rebus sie stantibus, reap, genereller aufgefaßt die internationale Notstandsnorm ganz in diesem ^^inne, als faktisch zu betätigenden Erfahrungssatz, aussprechen und definieren. Davon steht aber noch weitab die Ausstattung r derartigen Regel mit spezifisch rechtlicher Geltungs- kraft. Soli diese als vorhanden dargetan werden . so ge- nügen Feststellungen der bisherigen Art schlechterdings nicht mehr, sondern sie müssen noch in eigentümlicher Weise qualifiziert sein, sich auf ein gewisses neues Moment mit erstrecken, ohne das jede juris tisch eNormatatuierung
vornherein ganz in der Luft schwebt. Diese erste und fundamentale Rechtfertigung weitergehender, essentiell ver- ftnderter und gesteigerter Schlußfolgerungen kann nun nach Lage der Dinge bloß in dem Nachweise bestehen, daß das Bunächat rein tataäehlich-erfahrungsmäßig konstatierte Gesetz
den zur positiven Rechtssatzung kompetenten und be- fähigten Personen, das srnd -hier die miteinander Verkehr pflegenden Staaten, auch als technisch-juristische Kegel in ^ea Inhalt ihres gemeinsamen Willens aufgenommen sei^ ^.
> Vgl. 8. 91 ff., sowie 103 ff. a. 126 f.
' Vgl Gari'U, Ernyklopädie und Metliodologie der RechtswUwa- mbiA, 2. AuB. IQOO ». HU.
' Das Erfordernis des Durchguiig» darcb dieaeB Medium wird iin
32 VI 1
Eine solche Auffassung verlangt absolut nicht, daS mi allen und jeden Einfluß der faktisch gegebenen Zustand»] auf den gesamten Rechtsbildungsprozeß negieren müßte;. vielmehr vermag jene mit umfassender Anerkennung dieses durchaus Hand in H.ind zu gehen. Aber jedenfalls kann es sich dabei für uns bloß noch um einen mittelbaren Ein- fluß handeln': die Staaten, deren Wille natürlich ebensogut wie der individuell menschliche durch äußere Motive bo-
gewisseii Sinue von Gareis 9cil>itt angi^deutet, iusofern rIs er mehrmals tmi' einer eigeneu ^Anerkeunang;'' äoH jus nfceannriuni durch die Staaten sprichL Doch erscheint dieaa — die übrigens nirgends als spexiell erteilt nach- gewieiieD, sondern ülierall. z, B. bei der Kunstriiktion dar so problematiachen „Grand rechte", bloß generell üngiert wird — bei ihm in keiner Weiss als entscheidendes Stadiom dea Vorgangs der inlemationsleQ Bechl»- entatehiing, sondern bildet nur ein nebeniächliches Ueiwerk DaB den wirklich so ist, ergibt sich nicht bloß daraus, daß (Institutionen S. SSf] die necessiUs direkt als echte Becbtuqiielte liexeichnet, dag^Bn da* Moment der „Anerkeanung" nur ganx beiläufig naebgebrncfat wird (w mhlreichen anderen Stellen bleibt dieses Requisit sogar TÜllig unervibitt; TgL 8. 5: „Die Macht der Notwendigkeit — Hrzengt eine Reihu tob Vorschriften des Verhaltens der Staaten untereinander,*' S. 36: „Bachta- sAtze, die von der Keehtsno twendigkei t erzeugt sind". Ebenso Kechtsenzyklop&die B. 50: „Hechtsnotwendigheit Als Quelle positivem- Kechta" und Öfter), sondern folgt anch mit logischer Nntwendigkeit an " Art nnd ZusamnienbJUig der Beweisfulirung. Ohne hier in eine ausfBhf lidie £rörteruii)t dieses Punktes, die nur in breiler aiigeleglea Unt suchungen uiöglich w&re. einiutreten, mSchte ich doch auf eines nenigttti in aller Kütxe hinweisen. Das jus necessarium soll aitngenproi'htinenDaSeil etwas von den durch Staatenvertrag oder gewohnheit enengten Keobte- sätzen Verschiedenes, selbständig neben beide Tretendes sein. Das wlra jedoch nicht m Sgl ich , fall" es formellen Rechtscharaklor erst durch die gegenseitige Anerkennung der Staaten empfinge: denn am nach auBen hin wirksam eu sein, müßte sieh diosn offenbar irgendwie manitestieren, was wieder von vornherein bloß in doppelter Art, auidrücklich und 'till- schweigend, zu erzielen wBre, oder wie Brie (Theorie der Stanten- ve rbind nagen . 18S6, S. 41, N. Ij den ganzen Sachverhalt sehr richtig formuliert: nDie Anerkennung, welche teilweine als VSlkerreehlKqnella neben der Gewohnheit und den Staatsserträgen betrachtet wird, ist immer anter eine dieser beiden Kategorien Ton Quellen einanreihen." So kommen wir in dem Ergebnis, 'daß Gareis, wenn er sein jtu ne- cassariiiDi als selbständige Bildung nicht ganz aufgeben will, unbedingt airf jede schärfere Akzentuierung des Aneifcennungsmoments vencicfaten, trotz gelegentlicher anders klingender Äußerungen |vgl. be«. Institatiuoen 8. 6, N. I; Enijklopädie S. .36. 37, 42, 43) jenes eventuell anch schoa vor und unabhängig von der staatlichen Anerkenaung »Is fertiges ßeokt betrachten nmß.
' Tliermit sachlich vQtlig Qbereinitiinmend Dllmann, VOIkenechh, S. S7'28 (s. auch 8. 1 ff., 12S.]. '
4
VI 1. 33
stimmt und determiniert Ut, werden durch die Wahrnehmung realer Zustande und Bedürfnisse veranlaßt, sie vernunft- gemäß zu berücksichtigen und von sich aus zur Setzung entsprechender Rechtsnormen zu schreiten. Jedesmal wenn das in einem einzelnen Falle ans irgendwelchen Gründen nicht geschieht, ausführlicher und deutlicher gesagt: wenn die motivierende Kraft der materiellen Verhältnisse sich in concreto zur Durchsetzung der formal juris tischen Sanktion als nicht stark genug erwiesen hat, tritt es praktisch in Erscheinung, daß letztere und nicht erstere das eigentlich entscheidende Element bilden: wir haben alsdann einen Kechtijzustand vor uns, der partiell anders und besser, als er wirklich ist, zu wünschen wäre', der aber bloß deshalb, rein wegen dieaer sachlichen Verbesserungsbedurftigkeit, keineswegs aufhört, in positiv-juristischer Geltung zu stehen. Ein analoges Verhältnis zeigt sich übrigens bei dem Vor- gang der innerstaatlichen Kechtsbildung. Denn auch bei diesem liegt die Sache offenkundig so, daß ein recht- schaffender Wille, hier der, besonders legislativ sich be- tätigende, des einzelnen Staats, im allgemeinen von den faktisch gegebenen Sozialbedürfnissen maßgebend heeinfluBt und geleitet wird, daß er aber diesen gelegentlich die for- melle Berücksichtigung auch sehr wohl versagen und da- durch ihre Umsetzung in apezi lisch- juris tische Normen ent- scheidend Verbindern kann. Da nun nach dieser Richtung hin Gareis mit uns in der Verzichtleistung auf ein be- sonderes jus necessariuni ganz einig ist, da er direkt sagt, daß zivilistische und sonstige innerstaatliche Kechtsregeln erst dann entstehen, wenn „der Gesetzgeber das ausspricht, was die Not auszusprechen gebietet"*, so müßte er eigent-
' Unter Umstäudpri kann es sich aber auch ao verhalten, daU der floheinb&re Hongel in Wahrheit gnr keiner iat, und iwar (leshalb, weil das Vorliandeugein des veriiiiBt«ii RecbUsatzcB in anderen Beziehungen Duch neit schlimmere Folgen haben müßte, als jetzt sein Nichtvorfaaaden- HCin. Nach den Ü. 72 ff. zu ^beuden Ausführnugeu trifft das gerade anf den Fall der clauBula in ganz hervorragendem Maße xu, ,
' Inatitutioneu des Völkerrechts, S. 34. Wetii^er bestimmt und ' exklusiv allerdings KecbticncyklopädiH, S. 50.
SUMta- u. vOUerrMhil. Alihkudl. VI ]. — äuhmiat. S
i
34 VII
lieh konsequenterweise auch für das ius inter gentes zu ent^ sprechenden Resultaten kommen; geht es docli schwerlich an, aus den hier wie dort gleichliegenden Präraiasen ab- weichende Konsequenzen zu ziehen dergestalt, daß die „Not- wendigkeit" das eine Mal bloS aU materielle Willi delcrmination, das andere Mal aber als ibrmelle Rechtaqat selber angesehen wird.
Aus dem Gesagten erhellt, daß atieh im Völkerrecht nicht der kleinste Rechtsaatz unmittelbar ans faktischen Tatbeständen, sondern lediglich aus den, durch solche eventuell ausgelösten staatliuheo Rechtijsetzungaakten ge- folgert werden darf. Dieses prinzipielle Abstellen aaf letztere, zu dem wir im vorstehenden zunächst aus allgemein theoretischen Erwägungen gelangt sind, erweist sich nun auch in anderer Beziehung, unter mehr praktischen Gesichts- punkten, als schlechtbin unentbehrlich. Das ist um des- willen zu behaupten, weil man sich beim Aufgeben jenes Kriteriums sofort selbst aller Möglichkeit berauht, die Frage: „Gilt die und die Regel positiv rechtlich?" nach wahrhaft objektiven, von der Person des Einzelbe trachters losgelösten Merkmalen zu untersuchen und zu entscheiden. Das Nähere hierüber läßt sich gerade an dem Problem der clausula rebus sie stantibus recht deutlich aufzeigen.
Sobald man nämlich, was die herrschende Meinung im Grunde überall tut, von jeder Erörterung dessen absieht, wie sich die völkerrechtlichen Verkehrs Subjekte ihrer- seits zu der behaupteten Einschränkung der Norm Pacta sunt servanda verhalten haben, sobald man es also nicht ausschließlich von ihrer Beurteilung abhängen läßt, ob und event. in welchem Umfange die tatsächlichen Verhältnisse auch spezitisch rechtliche Wirkungen äußern sollen , so bleibt gar nichts anderes mehr übrig, als daß diese Be- urteilung von jedem völkerrechtlichen Einzelforscher sub- jektiv für sich vorgenommen wird. Damit ist dann aber unheilbarer Zersplitterung im Detail Tür und Tor geöffnet. Denn keine einzige individuell menschliche Überzeugung
üt im Stande, der anderen gegenüber diejenige „äußere Autorität" ^ die eo ipso einleuchtende Superioritflt in An- aprucb zu nehmen, wie sie zu gunsten der poaitivrechtlichen "Willenameinung der Staaten aller dinge besteht und vor- handen ist; vielmehr tritt unter den angenommenen Voraus- aetzungen immer nur Einzelanschauung' prinzipiell gleich- berechtigt wider Einzetanschauung. Mag mithin noch so oft die herrschende Lehre wiederholen : „Nach unserer Auf- fassung der tatsächlich unter den Staaten gegebenen Ver- hältnisse ist die Anerkennung der Klausel als Rechtsnorm eine unbedingte Notwendigkeit", grundsätzliche Gegner der- selben wie Triepel', Zorn^u. a. brauchen darauf stets von neuem bloß zu konstatieren, daß sie ihrerseits diese Notwendigkeit nicht einzusehen vermöchten. Und ganz ähnlich gestaltet sich die Sache auch wieder unter den- jenigen Schriftstellern, die zwar übereinstimmend Anhänger der herrschenden Lehre sind, sie aber doch in Einzelheiten verschieden ausprägen. Wir sehen z. B., daß der eine Autor eine recht weitgehende Fassung der Klausel für er- forderlich hält*, der andere umgekehrt eher zu möglichster Restringierung neigt*: wie soll man da nun objektiv ent-
' Ber^bobm, t^lnatavertni^ und Gesetze als Quellen des Völker- rechts, 1877, 8. 41.
^ Valkerrecht und Landesrecht, 1899, S, SO, Anm.: „Oaiiz un- praktisch scheint mir die berüchtigte Lehre von der cIuobuIh rebus atc stantibus xa sein."
" ReiehBataatareclit, 2. Aufl. I (1895J, 8. 514, Anui. 47: „Die ^anze Streitfrage, ob Verträge nur unter der clausula rebus sie stantibus ab- geschlossen werden und damgemäß bei Änderung der Verhältnisae ein- seitig gekündigt werden kOnnen, ist nur eine moraUscii-politiache Frage, und es Tehlt dafür jede MSglichkeit einer juristischen Erörterung." Reich nnd BeiduTerfassnng (1895), S. 6: gDie berüchtigte clausula rebus sie ■tautibus der »Blkarrechtlichen Verträge."
* Vgl. etwa Heffter, Ettropäischea VBlkerrecht. S. 215: ,Als eine solche (die Bechtsgülttgkeit den Vertrags tangierende) Veränderung ist diejenige zu betrachten, wobei der Verpflichtete seine bisherige politiBche Stellung nicht behaupten könnte und namentlich sich in eine Ungleich- heit gegen andere Staaten versetzen würde", eine Formulierung, die Oettcken (ebenda S. 216. N, 8) flir „bedenklich dehnbar" erklärt.
" Das ist offenbar der Fall bei Gareia solbat. Vgl. Institutionen des Völkerrechts, 8. 213: „Wird unter der clausula rebus sie stantibus verstanden, daß die Vertragsverbindlicbkeit wegfült, wenn die juristische.
dBi
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scheiden können, wessen Meinung die richtige ist, wenn jeder immer nur mit subjektiven Gründen, rein nach dem Mafistab seiner individuellen Beurteilung der Sache, argu- mentieren darf? Diese Schwierigkeit findet sofort ihre Lösung, wenn man mit uns den wahren Rechtszustand, der doch immer nur A oder B, aber nicht beides zugleich sein kann, einzig und allein durch den Inhalt des gemeinsamen Staatenwillens bestimmt sein läßt. Wohl kann es auch dann noch grofie Schwierigkeiten insofern geben, als dieser Wille oftmals nur schwer festzustellen sein wird; indes existiert hier doch wenigstens die prinzipielle Möglichkeit, ein ob- jektiv mafigebendes Gültigkeitskriterium ausfindig zu machen. Deon mit dem Moment, wo ein solcher WiUe positiv-genereller Rechtssetzung wirklich dargetan ist, ver- lieren alle sonstigen Ansichten von selbst ihre praktische Bedeutung-, auch wenn der einzelne die festeste Überzeugung hat, daß der fragliche Rechtsgedanke besser eine andere, sei es nun engere oder weitere, Fassung erhalten hätte, kann er doch schlechterdings nicht mehr daran denken, seine abweichende Meinung für positiv geltendes Recht aus- zugeben. —
Neben der hiermit wohl genügend widerlegten Richtung der Völkerrechtswissenschaft, die zur Fundierung der Klausel von vornherein bloß mit Folgerungen aus der Natur des Staates, seinen wesentlichen Eigenschaften usw. operiert und insofern ganz unverkennbar den naturrechtlichen Be- griff eines jus necessarium verwertet, besteht nun noch eine andere, die, ohne sich materiell von jener wesentlich zu unterscheiden, doch wenigstens formell ihrer Beweisführung durch einen kleinen Zusatz etwas mehr Anschein von
auch im Zivilrecht mit gleicher Wirkung anerkannte Voraussetzung (causa) in Wegfall geraten, oder die ausdrücklich oder stillschweigend paktierte, auflösende Bedingung eingetreten ist, so wird hiermit nichts juristisch Bedenkliches angenommen; anders liegt die Sache, wenn unter jener Klausel verstanden wird, daß die Veränderung der politischen Lage allein schon genüge, einen Vertrag als hinfällig geworden zu be* zeichnen."
PVI 1. 37
W PositiTität zu geben weiß. Das ist der Fall bei allen den- I jenigeo Schriftstellern, die die einBCitige Lösbarkeit inter- I nationaler Vorträge nicht schon unmittelbar aus der I Art der beim völkerrechtlichen Verkehrs] eben obwaltenden I &kti3chen Verhältnisse als allgemeine Regel entspringen I lassen, sondern mehr indirekt die Behauptung aufstellen, I wegen und auf Grund dieser besonderen Beschaifenheit I sei es der übereinstimmende Wille der vertrags- lachließenden Staaten selbst, ihren konkreten I Verträgen beim Abschlüsse stets die, stillschweigend hinzu I gedachte, weil als selbst verstand lieh vorausgesetzte clausula I beizufügen'.
I Wilre das iu der Tat richtig, dürfte man wirklich an-
I nehmen, letztere wäre in jedem Einzelubereinkommen I stets als tacita coudicio , als stillschweigende Resolutiv- bedingung^ enthalten, so müfite ihr positiv -juristischer Charakter im Prinzip sicherlich als ausreichend gewahrt gelten. Denn wenn die Staaten als solche damit einver- standen sind, durch eine bestimmt geartete Veränderung
' Vgl. hiecza von den in § 2 air^feführton Autoren, u. a. die Äußerungen Whttrtonx („a »täte of tbingi wbich was — une of its tacit couditione") and Vattel („on a propoa^ et a«fitä cette qoestiou. Hl le» promessea renfenneiit en eUea-nidmei cette ccmdition taoite — ." Dago^ten kann als Beispiel frir die eraterOrterte Bichtuug Jelltnek dienen, in dessen „ßechtl. Natur der Staaten vertrüge" die Idee der still- Buliweigenden Ueifügaug der Elaasel höchstene Süchtig; einmal Anklingt
* Es ist darauf aufmerksam lu mactien, daß tacita condicio an sich in einem doppelten Sinne verstanden werden kann; vgl. Arndts. Lohr- bach der Pandekten § 6I>, Anm. 9: Notwendigkeit der „0ntersciieidung EWiscIiDO stiÜBuhweigender and stillschweigend erklärter Bedingung". Im Text wird nur die zweite MSgUchkeit einer Besprechung unterzogen, und zwar deshalb, weil bloB bei dieser, also bei der Annahme, die Ver- ünderung der Umstände werde bei jedem Einzelvertrag von den konkreten Parteien als wahre (Kesolutiv-) Bedingung stillicbweigend mitgewollt, in die ganie Beweisführung etwas wirklich neues hereinkommt. -Sobald man dagegen an die andere, technisch neuerdings meist als condicio juri» bezeichnete Eventualität denkt, gelangt man damit in der Hauptsache einfach auf den bereita widerlegten Standpunkt zuräck; denn es wird dann offenbar von vornherein wieder bloß postuliert, daß dem inter- nationalen Vertragsrecht eine solche Beschränkung von Natur inhirieni 1 und eigentümlich sei, obne daß für diese Behauptung irgend (' ausreichender Beweis erbracht wäre.
L
38 VI 1. ]
von Umständen ihre Verträge immer erlöschen zu las 30 liegt hierin offenkundig auch eine abstrakte Recht setzende Verfügung der zur (abstrakten wie zur konkreten) poaitivrecht liehen Regulierung aller internationalen Ver*^ hältnisse wahrhaft befugten Willens Subjekte vor. ■
Indes was Bergbohm', der verdienstvolle Bekämpfefl alles modernen Krypto-Naturrechts, gelegentlich einmal be^ merkt: „Es kommt auf die Sache an, und der Saehe nach besteht naturrechtliche Methode überall, wo aus subjektiven Überzeugungen statt aus objektiven Erkenntniamitteln des gewordenen Rechts geschöpft wird", das erweist sich bei schärferer Betrachtung auch hier als zutreffend. Nirgends, soviel ich sehen kann, wird in ausreichender Form der Beweis dafUr angetreten, daß die Staaten tatsächlich bei Abschluß aller Einzeltraktate entsprechend gesinnt und ge- willt seien , sondern es wird das sofort und ohne weiteres vorausgesetzt ^. Bald klar ausgesprochen , bald mehr im Hintergrund stehend, spielt auch hier wieder bei jedem Autor wesentlich die Vorstellung herein, es müsse, da an eine schlechthin unlösbare Verbindlichkeit der Staatsver- träge nach Lage der Dinge gar nicht zu denken sei, hier- für unbedingt ein geeignetes juristisches Abhilfsmittel aus- findig gemacht werden, und um ein solches zu erhalten, greift man dann eben kurz reaolviert zu der Hypotbese des immer nur bedingt erfolgenden Traktatsabschlusses '.
' Jarisprudenz und Reell tsjihilasopbie, I (1892], S. 141- ' Ganz der DÜioliuhGn Annicht verleiht Hiich Fritze bei seiner Uesprechang des Pfaffsuheu Werkes über die clausula deutlichen Aus- druck; Tgl. Eritieche Vierteljahrsaohritl Hd. 42, S. 530: „Eine still- «cbwei^nde Erklilraiig der Klausel wird von denjenigE^n Schriftstellertti welche sie kI« ütillBUhweigeDd dem Vertrag beigefügte Bediuf^ng be- handeln, ledigüp.h fingiert."
* Besonders Echarf tritt der ganze Gedankengang bei Ri vier bervor. dessen AuBfähningen (Lebrbnch des VBlkerreohts , S. MO) ich deehalb hier in ihren Hauptiügea nuciimalB wiederholen möchte. I; „Die tjfaaten sterben nicht, und sie vermögen nicht auf ewige Zeilen sich ihrer Freiheit ED entäußern" (Konstatierung dar besonderen .Natur", der eigenartigea BesF-hafrenheit der Staaten). II: Daher ^bleiben — Vettrfige stets ein- seitiger Kündigung unterworfen und man (I) muß den Satz aufaiellen' (rein Temunftreehllicher NolwendigkeitsschluB aus I), III: „daß ein Volk
Das erscheint aber doch als ein recht willliUrlichea Ver- , fahren, zumal wenn in Anschlag gebracht wird, wie wenig 'die Ansichten der Theorie darüber, wie sich die Staaten praktisch verhalten sollten, bei den letzteren Berücksichti- gnng gefunden haben *. Diesem Umstand hätte die Wissen- schaft, wie an zahlreichen anderen Punkten, so namentlich auch in unserem Falle entschieden mehr Rechnung tragen mttesen ; sie durfte bei der clausula rebus sie stantibus, selbst wenn sie noch so fest von deren VernUnt'tigkeit und ■ Notwendigkeit überzeugt war, doch nicht ganz die Unter- suchung dessen beiseite lassen, ob sich die völkerrechtliche Praxis wirklich auch ihrerseits die Lehre von der tacita eondicio streng und folgerichtig zu eigen gemacht habe. Solange sie derartige Feststellungen gänzlich verabsäumt, Bo lange sie sich damit zufrieden gibt, das von ihr für wichtig und wünschenswert Gehaltene den Staaten gleich- falls zu imputieren, schweben ihre Darlegungen in der Luft, Terniögen sie niemals über das Stadium rein subjektiver Behauptungen hinauszulangen. Daß bis jetzt nur und aus- Bchließlich solche immer vorgebracht worden sind, dafür lOxistiert ein recht charakteristischer Beleg insofern, als einige Schriftsteller die ganze Lehre ebenso subjektiv ■wieder haben bestreiten können^, ohne daß sie dabei ge-
aof das Reicht der Kündigung nicht definitiv vernichtet, so daU dasselbe •tets vurbehalten bleibt, auch wenn dies nicht Ruadrücklicb emähnt «ein pollte" (FonnulieniDg der angeblich von den Staaten ateta gewollten ttcita eondicio).
' Han denke an Institute, wie dasjenige der Friedeosblockade, der Premdenausweisung u. a» in.
■ Vgl. X. B. Bluntaehli, Modemea VSlkerrecbt der liviliaierten Staaten ala Rechtsbucb dargeatellt, ä. Ana., I87ä, S. 2dö; „Zu weit geben sinielne Tölherrechtslehrer, wenn sie behaupten, daB die Klausel rebas sie stantibus k tillsohweigend klUn Verträgen der Staaten beigefügt sei, nnd da& demgemäß rebna matatis dte Gebundenheit aufhSre." Trotn dieser prinzipiellen Stellungnahme erkennt übrigens Bluntschli hinterher die einseitige Aufhebung internationaler Vertrüge in HO zahlreichen, genauer spezifizierten Einzelfällen als berM:htigt an, j daß die ganze KlHusellehre schließlich bei ihm doch wieder mindesten* J denselben Umfang annimmt, wie nur bei irgendeinem Anhänger dar <l herrschenden Meinung.
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zwangen gewesen wären, zuvor irgendwelches objektive, zugunsten der gegnerischen Ansicht sprechende Material zu entkräften und aus dem Wege zu räumen.
Wir an unserem Teile haben selbstverständlich nicht Anlaß, das Nichtvorhandensein der Klausel als jedes- maliger tacita condicio in eingehender Erörterung darzu- tun ; vielmehr gentigt für unsere Zwecke die Ronstatierung, daß vorläufig ihr positives Vorhandensein von den hierfür nach Lage der Dinge beweispflichtigen Autoren noch nicht bewiesen worden ist. Deshalb können wir uns hier auch darauf beschränken, nur einen einzigen Punkt an- zuführen, der es von vornherein so unwahrscheinlich wie möglich macht, daß die Staaten regelmäßig nur Traktats- abschlüsse sub condicione im Sinne hätten. Angenommen, dies träfe wirklich zu, so wäre es nicht bloß, wie Nippold* meint, „denkbar, daß die clausula rebus sie stantibus dem Vertrage mitunter auch ausdrücklich beigefügt würde", sondern es müßte das als eine überaus häufig zu erwartende Eventualität gelten. Denn da jede stillschweigend er- klärte Bedingung doch immer etwas recht Unbestimmtes, Schwankendes, der Anzweiflung Ausgesetztes bleibt, würden gewiß viele Staaten auf die naheliegende Idee kommen, die so unsichere tacita condicio durch die viel präzisere aus- drückliche Bedingung zu ersetzen. Indem nun aber von der Hinzufügung der letzteren in der völkerrechtlichen Praxis so gut wie gar nichts zu bemerken ist^, muß man notwendig zu dem Schlüsse gelangen, daß jene überhaupt nicht die ernstliche Absicht haben, lediglich unter strikter Resolutivbedingung® ihre Verträge einzugehen. —
* Der völkerrechtliche Vertrag, S. 237.
2 Vgl. unten S. 70 ff.
' Sorgfaltig im Auge zu behalten iät, daß hier immer nur die An* nähme einer solchen, d. h. die Behauptung, es werde den Vertrags- erklärungen bewußt und erkennbar gleich bei Abgabe derselben von den Staaten eine Beschränkung hinzugefugt, für unzulässig erklärt wird. Davon völlig verschieden ist die Art, wie wir später — §§ 10 und 15 — dem (zutiefst zugrunde liegenden, seinerzeit aber nicht zu klarer Erkenntnis
VI 1. 41
Als Fazit aus den in dieaem Paragraphen angestellten Erwägungen ergibt aich. daß beide Methoden, wie man bisher eine apezifiBch-juriBtische Wirksamkeit der Klausel darzutuu versucht hat, gleichmäßig vernunftrechtlichen Charakter an sich tragen. Der einzige unterschied zwischen ihnen besteht nur darin, daß dieser Sachverhalt das eine Mal mehr, das andere Mal minder verschleiert erscheint. Während die ersterörterte Richtung (S. 20 ff.) direkt aus naturgegebenen Verhältnissen eine allgemeine Rechtsregel herleiten wollte, machen die Anhänger der zweiten (S. 3rt ff.) bloß den etwas weiteren Umweg, daß sie schließen: ^Die clausula rebus sie stantibus entspricht den subjektiv von uns festgestellten Zuständen und Bedürfnissen, und deshalb muß sie unbedingt auch von den Staaten stets in concreto gewollt und statuiert sein," Auf die prinzipielle Be- urteilung vermag diese, doch recht nebensächliclie Differenz keinen Einfluß auszuüben, und so darf man denn von der Klausellehre schlechthin behaupten, daß sie zu denjenigen Parteien des Völkerrechts gehört, die nach einem be- zeichnenden Ausdruck Bergbohms' „ihre juristische Dlegitimität nicht verbergen können", oder um eine ge- legentliche Wendung von Fricker" aufzunehmen, die Schriftsteller der einen wie der anderen Richtung haben im Orunde immer „bloß ihre eigenen Ansichten ausgesprochen und nicht mit einem einzigen Wort den Beweis aus dem positiven Viilkerrecht geführt".
§5. ungeachtet aller im vorigen Paragraphen beigebrachten Argumente würde es immerhin noch möglich sein, daß
Idie clausula rebus sie stantibus ein Institut des positiv gültigen Völkerrechts bildete. Wirklich dargetan ist bisher dnr du.
dnrcbgcdruDgeaen) w Ähren und eigentlichen Willen der Koutralioaten dne gewlBie Borückflichtiguog Kuleil werden lasseu. ■ A. B. O., S, 352. Gebiet uud Gebietshoheit, 1901, 8. 37.
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bloß soviel, daß die communis opinio den Beweis der juristt sehen Existenz desselben in durcliaua ungenügender WetH zu fuhren unternommen hat; dadurch erscheint es aber niuht ausgeschlossen, daß richtiger angelegte Versuche auch eiol besseres Resultat ergeben könnten. Enthielten doch die früheren Strafrechts Systeme zweifellos gleichfalls viel Ele- mente, denen positiv-juristischer Charakter gar nicht abzu- sprechen war, nur daß letztere freilich nicht kraft ihrer behaupteten Vernunftnotwendigkeit, sondern kraft der Ein- führung durch eine wirkliche Kechtsquelle objektiv galten. Wie damals die falsche und verfehlte Ableitung bloß durcliJ die richtige ersetzt zu werden brauchte, um den betr. I Sätzen ihre Poeitivität durchaus zu retten, so mag Ähn-J liches vielleicht auch in unserem Falle durchzuführen seiiij
Wollen wir nun hierüber ins Klare kommen, so wir jetzt noch die Frage untersuchen: wie sich die Staate selber zu der ganzen Sache praktisch verhalten haben. Nui wenn uns der Nachweis gelänge, daß die letzteren tataäch-4 lieh, ausdrücklich oder stillschweigend, durch formetleQ-' Rechtssatz ungs vertrag oder im Wege des Gewohnheitsrechts, den Willen zu einer derartigen Normachaffung kundgegeben hätten, könnte der von der Theorie ausgebildeten Klausel- - lehre auch tatsächlich juristische Geltung zukommen; sia J ,ist nur insoweit aufrechtzuerhalten, als sie sich auf den J Grundlagen dieser positiven Rechtsquellen festhalten läßt"
Sehr kurz können wir dabei über die Frage nach dai etwaigen ausdrücklichen Statuierung der clausula hinwej gehen, denn es wird allseitig anerkannt, daß die unter i völkerrechtlichen Verkehr pflegenden Kulturstaaten bisb«) miteinander keinen altgemeinen Satz des Inhalts vereinbi haben, es solle durch wesentliche Veränderung der Um stände die juristische Verbindlichkeit der internationale! Traktate erlöschen. Eher noch ließe sich das direkl
' Worte, die Stark in HnlliandorffsHimdbucIi des Völkerreoh^ Bd. U. S. 515 mit ßeiug na( eine andere intcmatio na (rechtliche Doktij (uatajUdie Verkehrafreiheit in fremden KüstengenSsseni] aoBipricbt.
Gegenteil behaupten. Das gilt zunächst ganz unzweifelhaft von einem Spezialfälle, insofern als bezüglich sämtlicher, eich an der Regier ungsforni , überhaupt der politischen Organisation eines Volkes etwa vollziehenden Umgestaltungen seitens der europäischen Hauptmächte expressis verbia, durch das Londoner Protokoll vom 19. Februar 1831 , der Grundsatz ausgesprochen worden ist, dieselben vermöchten keinen Einfluß auf die Gültigkeit internationaler Verträge zu beanspruchen '. Für alle andersgearteten Veränderungen fehlt ea freilich an einer derartig bestimmten Erklärung; doch könnte man eine solche wenigstens implifite in einem zweiten Londoner Protokoll enthalten finden, welches von den Großmächten am 17, Januar 1871 unterzeichnet wurde und in dem ea klipp und klar, ohne jeden Vorbehalt zu Gunsten der clausula, heißt, daß Traktate lediglich unter Zustimmung des Gegenkontrahenten, im Wege der freund- achftfthchen Verständigung aufgehoben oder modifiziert werden dürften^. Dazu kommt nun noch, daß dieses Prinzip damals keineswegs ganz neu formuliert wurde, sondern in gewissem Sinne schon weit früher zu konstatieren ist. Ein wirkliches Novum brachte nämlich das genannte
' Cf. Martens, N.R.O. X, K. 197; „Len tr&ite» ne perdent paa lenr puiisauce , queU qae saient les cLangementB uui iuturvieDoent dans rorganiBHtion inKrieure des penpleH." Vgl. auch fi. Iä9 : „Les chnngements
awi de BeB eogaeemetits ant^rieura — maxime de toue len peuples clviliB^." In der Folgaieit hat man »ich über dioae» Priniip nocb inehr- fikch eigenmächtig hinwegziuetKen versucht, beispieUweiie ISIS in Frank- I reich, als nach Erricfatimg der aneilen Eepiiblik Lamartine dem I Worlschvall seines Zirknlars vom 2. März u. a. auch die Phrase ein- I ffi^: .Les traitäa de 1815 n'oxiatent plos ea droit am veax de 1» , T^piiltlique frani^ae |b. Martena s. a. O., 3 Folge, XII, S. 72); doch . haben derartige Tendenzen dem einmQtigen Widerstand der übrigen [ Hächle gegenüber nie diirchzadringen vermocht.
< Härtens, N-H.G. X\1U, 8. 273: „C'est un principe essentiel I dn droit dea gens qu'aucune piiissance ne peut se d^lier des eugagements 3 trait^ Di cn moditler les stipulationa qn' A la euite de 1'assentiment l dea partiea coQtractantes , au moyen d'ane entente amicale." Das votl- . Btändige Schweigen von dem Falle „verSnderler Umstände" ist um so [ efaarukteristiacher, weil der unmittelbare Anlaß zur Abfax.iung des Protokolls eiuer auf die clanitula gestützten Vertragskündigung beatand- [ Tgl. hiersQ dos weiter uoten Folgende.
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Protokoll bloß insofern mit sich, sls der in ihm t Grundsatz gleich durch eine Mehrzahl von Staaten und generell fllr alle Verträge ausgesprochen wurde; dagegen ist, lediglich zwischen je zwei Mächten und beschrankt auf Einen konkreten Vertrag, Entsprechendes schon oft, zu allen Zeiten und bereits vor Jahrtausenden erklärt worden. So enthielt u. a. der auf der ^/axwvotjj arijh; in Athen verzeichnete Frieden des Nikias die ausdrückliche Stipu^J lation, Abänderungen desselben setzten, um unbeschadet dei Eides erfolgen zu kilnnen, die Einwilligung beider Koik| trahenten voraus', eine Bestimmung, die mehr oder wenrgi modiKziert auch sonst noch in hellenischen Verträgen vi'el-( fach wiederkehrt. Und ebenso tauchen derartige Fest- 4 Setzungen in späteren Perioden gelegentlich immer von neuem auf, wie z. B. noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts der erste Entwurf des von Talleyrand 1805 dem bayerischen Kurfürsten vorgeschlagenen AUianztraktatea erkennen läßt*. Es wird kaum zu bestreiten sein, daß die bisher ge- ntachten Beobachtungen der Annahme einer positiv- recht- lichen Sanktionierung der Klausel durch die Staaten nicht eben günstig sind; geht doch aus ihnen hervor, daß die letzteren dort, wo sie im voraus, sei es nun generell oder konkret, die Eventualität des späteren Erlöschens eines auf die Dauer angelegten Vertrags ausdrücklich ins Auge fassen, stets nur an den Fall des mutuua disaensus zu denken ge- wohnt sind und also wahrscheinlich von einer auch wider I den Willen der Parteien, rein durch die Veränderung der J
' Uf- Thnkj'diden V, 18: «(f J/ti b/juvov rooCair önoTtgtuoSv
'ASijvalotg xal .-iaKeiat/iorfDi;.'
" Wenigstenn scheint mir der Schi uBsrtikel desselben {nach Led mann, Anschluß Bayenin ut Frankreioli im .luhre 1805, München 3 8, 8, Aiun. 3 folgendeimaßen lautend: „Le präsent trait^ i affinera et dt^Snira de demeurer r^nsdinbläes ies Uautes partfes tnctantes auKsi longtemps qa'elles le jag;eront necessaire") nord vemlinftigeD , der gaiiKen Saebla^ &n);eme»senen Sinn xu geb' man ihn hU Verbot jeder eiuBeitigeu Tertra^aufhebung verBtebt. die etidg6ltige Rednktinn de» Traktats bat die aicbt eben klar stilisier lle»tiinman(; übrigens keine Aafhfthme gefandeo.
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DmstäDde erfolgeuden Aufhebung von Haus aus überhaupt nichts wiasen wollen. Nichtsdestoweniger künnte heute immer noch eine wahrhaft rechtsgültige Anerkennung der Klauaellebre zu verzeichnen sein; es müßte zu diesem Zwecke bloß nachgewiesen werden , daß die Staaten die ursprilngüch bei ihnen vorauszusetzende, der clausula ab- geneigte Auffassung hinterher nicht praktisch festzuhalten vermocht haben. Damit gelangen wir zu der zweiten Art, wie positiv - völkerrechtliche Normen sich bilden können, d. b. hier zu der Frage, ob vielleicht stillschweigend- gewohnheitsrechtlich die clausula in die internationale Ver- kehrsordnung aufgenommen worden ist. Ein Versuch, die- selbe zu beantworten, ist natürlich nur in der Weise mög- lich, daß wir nacheinander eine Reihe von EinzelfilUeu näherer Betrachtung unterziehen, hei denen die beteiligten Staaten erst nach liereits erfolgtem Vertragsschluß Gelegen- heit nahmen, sich über den etwaigen Einäuß tatsächlicher Veränderungen auf die juristische Gültigkeit der Verträge zu ftußern; bloß unter der Bedingung, daß ein solcher all- seitig und in konstanter Übung sich akzeptiert findet, würde man das Recht haben, ein entsprechendes jus non scriptum jetzt als entstanden zu proklamieren.
Der erste Fall, der hier betrachtet werden soll, bezieht sich auf ein Rechteverhältnis, welches nun schon annähernd drei Jahrhunderte zwischen Österreich und Sachüen schwebt. Während des Dreißigjährigen Krieges, ums Jahr 1035, trat nämlich die erstere Macht durch den Vertrag zu Prag vom 80. Mai die beiden Lausitzen an die letztere ab. doch so, daß ,mehrbemeldete Marggrafen thümer von dem Königreich Böheimb nicht abgesondert werden, sondern demselben als ein hohes und filrnehmea Stück desselben zugethan ver- 1^ bleiben Bellten" ^. In näherer Ausführung dieser prinzipiellen
K KoUek H akcneii
' Der ganKe sogen. „TraditionBreEeB" ist abgedruckt im Lauaitzer LKoUektiouBwerk, Tom. II, S. U09ff., auch bei GUfe;, Kern der ~ LBiechen Qcechlchte, Beilage S, ä. 1268 ff. An deoselben bat sich eine
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BeBtimmuDg wurde dann Bölimen neben manchen wichtigeren Befugniaaen besonders dreierlei reserviert bebielt die Lehnsherrlichkeit über die Laueitzen, ihm Ständern vor wie nach bestimmte kirehenhoheitliche Rechte zu, endl wurde unter gewissen Voraussetzungen ein Rückfall der zedierten Lande an Böhmen in Aussicht genommen. Wäh- rend nun die hieraus resultierenden Rechtabeziehungen lange Zeit keinen Anlaß zu grundsätzlichen Differenzen unter den Vertragskontrahenten boten, änderte aich dae bald nach Anfang des 10. Jahrhunderts. Und zwar in der Weise, daß die sächsiache Regierung damals begann, dem Traditiona- rezeß seine fernere RechtsgUltigkeit Überhaupt zn bestreiten. Bei Begründung ihrer Ansicht „legte sie das Hauptgewicht auf die politischen und staatsrechtlichen Vera nderunge welche in den Verhältnissen der deutschen Staaten Länder zu Anfang unseres Jahrhunderts vorgegangen sind' sie war der Meinung, daß mit Rücksiebt auf die 180tj ein- getretene Auflösung des alten Reiches, den hierdurch be- dingten Erwerb der vollen Souverünetät für die deutschen Eiozelstaaten , das Eintreten Sachsens in den Rhein- bund usw. U8W, von einem Fortbestand der österreichischen Ansprüche keine Rede mehr sein könne. Kürzer und in der uns hier interessierenden Formel ausgedruckt, sie hat in jener Zeit wirklich den Versuch gemacht, der clausula rebus sie stantibus die Kraft recbtliuher Vertragsaufhebung in concreto beizulegen. Osterreichischerseits wurde jedooh' dieser Auffassung aufs Entschiedenste widersprochen; intl strikten Gegensatz zu den sächsischen Rechtsdeduktion^j vertrat die andere Partei in ausführlichen Darlegungen Ansicht, daß alle seit dem Jahr 180ti erfolgten politischflS^ Umgestaltungen die juristische Gültigkeit des Tradition»*^ ) absolut nicht beeinträchtigt hätten, und es ist ihr;
cht
xiemlicib amfangreklie Spezialliteratur angcschloaseu , über die (S. 19, Änm. 2 angefahrte) Disnertation uähere AiigabeD entbält.
> Pfeiffer, Das Verhältnis der OberlauaitE zur Krane BQhm ■50. Band d«« Neutm LauEitÜBcheu Magavins, S. Sß.
' VI 1.
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auch schiießlich gelungen, selbst den Gegner zu einer ge- wissen AbschwächuDg seines achrofi negierenden Stand- punkts zu bewegen. Durch einen eigenen, vom 9, Mai 1845 datierten Vertrag wurde nämlich das böhmische Schutz- und Oberaufsich tarecht ilber die katholische Geistlichkeit und die Klöster in dar Lausitz einer Neuordnung dahin unter- zogen, daß Sachsen, ohne prinzipiell auf seine Meinung von der jetzigen Rechtsunverbindlichkeit des Prager Rezesses zu verzichten, doch praktisch zugestand, „es wolle das Domkapitel St. Petri zu Budissin und die Frauenklöster Marienstern und Marientha! hin für wie bisher in ihrem Rechte und in ihrer Verfassung erhalten", wogegen Oster- reich, ebenfalls unter aller Wahrung der grundsätzlich ver- tretenen Auffassung, die Gegenerklärung abgab, „mit Hin- sicht auf die vorgedachte Kgl. Sächsische Deklaration und deren unverbrüchliche Festhaltung sich fortan aller Ein- mischung in die Führung der inneren und äußeren An- gelegenheiten dieser Stifter zu enthalten" '.
Ein zweiter Fall, in dem wir in der Völkerrechtspraxis eine deutliche Bezugnahme auf die clausula konstatieren können , versetzt uns mittenhinein in die welthistorischen Ereignisse, die in ihrem unmittelbaren Erfolg die Los- retßuDg Schleswig-Holsteins von Dänemark und indirekt
' Vgl. Pfeiffer, a. «. O., S. 91, Deuraer, ReohUidier Anspruch Böbmen-OaterreicbB auf das Kgl. Sgchaische Markgrnfeatum Oberlausitz, S. 62 f. Sachlich lief da» obige Übereinkommen einfarh darauf hinaua, daß Sacbssn beatimmtu, im TrHditionerezeB äbemommeiiG Pflichten noch- mata bestätigte und neu anerkannte ; denn wenn Österreich auch formell auf die frühere „Spezialein Wirkung in die Oenchäfte der Stifter", auf fortwährende „Detail beTO^ung" veraichtete (Pfeiffer, a. a. O., S. 92/97), HO geBchali das doch nur deshalb, weil und so lange die sSchsische Kagierung die geschuldete Aufrechterhai tung des kirchenrechtlichen atatua- quo schon von aich hob durchführen würde. Betreffs der beiden anderen Punkte, alao r&cksichtlicb der Lehnaberrlichkeit über die Lausitz und des eventuellen Heimfallarechts, hat wegen der damaligeu Geringfügigkeit ihrer praktischen Bedeutung eine neue vertragsmäßige Einigung unter den Parteien nicht stattgefunden. Jedenfallg gab aber auch bei iJmen Öster- reich das Erlöschen seiner Ansprüche in keiner Weiae zu, sondern hielt letztere im Gegenteil ausdrücklich und zu wiederholten Malen ■ofrecht
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weiterhin die Aufrollung der ganzen deutschen Frage , die politische Neuordnung unseres Vaterlands auf bundesstaat- licher Grundlage herbeiführen sollten. Durch das Londoner Protokoll vom 8. Mai 1852 ^ hatten die europäischen Groß- mächte mit Einschluß von Preußen und Österreich die Er- haltung der dänischen Gesamtmonarchie für überaus wichtig zur Wahrung des Gleichgewichts und Friedens von Europa erklärt und demgemäß vereinbart, nach dem Aussterben der augenblicklich über jene noch regierenden Linie den Prinzen Christian von Sonderburg-Glücksburg als Nach- folger in sämtlichen, zur Zeit dem König von Dänemark gehörenden Territorien gemeinsam anzuerkennen. Als die damals ins Auge gefaßte Eventualität infolge des Todes von Frederik VII. schon 1863 eingetreten war, schienen die Ereignisse zunächst auch wirklich in der verabredeten Weise verlaufen zu wollen; denn die Thronbesteigung des neu- berufenen Königs fand zwar mit Rücksicht auf die Elb- herzogtümer lebhaften und ungeteilten Widerspruch bei der deutschen Nation, nicht aber auch bei den praktisch ausschlaggebenden Staaten Österreich und Preußen, da diese sich eben durch das 1852 er Abkommen als gebunden an- sahen. Selbst nachdem es aus anderen , hier nicht weiter zu erörternden Gründen zu offenem Kampf zwischen Däne- mark auf der einen und den beiden deutschen Großmächten auf der anderen Seite gekommen war, wurde die Gültigkeit des Londoner Protokolls anfangs noch nicht prinzipiell be- stritten. Das änderte sich jedoch, als der erstere Staat trotz aller erlittener Niederlagen mit hartnäckiger Ver- blendung jedes Eingehen auf die ursprünglich recht mäßigen Forderungen der Sieger verweigerte : während der Friedens- konferenzen, die vom 20. April bis 25. Juni 1864 zu London abgehalten wurden und bei denen die neutralen Mächte eine Einigung herbeizuführen suchten, tat Preußen und ihm
* Abgedruckt bei Ghillanv, Diplomatisches Handbuch, Bd. U, S. 170 f.
n 1.
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folgend Österreich den entscheidenden Schritt, daa frühere Übereinkommen , hauptsächlich wegen völlig veränderter Umstände, einfach für aufgehoben zu erklären '. Die fernere Entwicklung der Sache gehört nicht mehr hierher; vielmehr bedarf es für unsere Zwecke bloß noch der Feststellung, daß dem österreichisch -preußischen Vorgehen damals all- gemein stark opponiert wurde, daß nicht nur das unmittelbar beteiligte Dänemark, sondern auch die übrigen Staaten nach- drücklichen und mehrmals erneaerten Widerspruch gegen jede einseitige Vertragskündigung erhohen.
Als drittes Beispiel nenne ich die Art und -Weise, wie 1870/71 gewisse Stipulationen des den Krimkrieg ab- flohließenden Pariaer Friedens vom 3U. März lööli* einer Modifikation unterzogen wurden. Durcli Art. 11, Ki, 14 desselben, sowie kraft einer am gleichen Tage unter- zeichneten russisch-türkischen Spezialkonvention war den Uferataaten des Schwarzen Meeres die Verpflichtung auf-
' UraprÜDgHch geschah da» sllerdinga bloß Dänemark xelb^t geifea- über, dadurch, dafi PreuBeii in der KoniereiiEBitzuiig vom 12. Mai tür siub und seinen AIIÜerteD formell bemerkte, „qii'ils regardenl le terraiu de la diBCUHsian comme entiäremeut libre de toute reatriction r£aultHnte d'engagements qui peovent avoir eiistö «vant la guerre entre leura Gonvenieroents et le Dänemark" (cf. Martens, N.K.G., T. XVU, Partie II, ä. 35ii). Im AuacliluB jedoch nn einen von Eiiglaud gemachten Einwand, durch den auf die .obligaliuns euvera les aiitres PoigRaaces, cu-Bignataire» du mSme traitä" hiDgevcieBcn wurde, begsDD man nelir bald, aueh im Vorhältois zu diesen, <ca den Mitunterzuichnem dt^B Londoner ProtokolU, die fortdauernde Verbindlichkeit denBelbea nii negieren, ^a- nächHt DocL verhüllt und in etwas eigentSml icher Weine (nüheres bei MartenH, n a. ü., S. SliÜ), Npäter immer klarer und entschiedener. DaU man sich dabei materiell auf den Gesichtspunkt veränderter Um-. ' stände zu stiltKen gedachte, kam eralmnlig zum Ausdruck in einer Depesdia Bismarcks vom 15. Mai (vgl. Holtaandorff, Handbuch des T61ker-'J recht», Bd. III, S. 81), darauf anch in der Konferenz selbst (cf. Protokt^I der Sitaung vom 17. Uai^ Martens, a. a. 0., H. 3£S) vermage der ( motivierten Erklärung: „I^s PniajiBnces allemandei, Im Situation ät an t cbangä depuis, doivent t<e räserver toutt> libcrt^ quant aui banea de la distuBSion." Noch bestimmter klin^nd die Äußerung PreuBenx in der Sitzung vom 16. Juni (Martens, a.a.O., 8.416', daß es „ne peat
tract^es le 8. mai 1852 sous d'autres pr^Hupposittons".
' VolUtändigerTeitbei Ghillauny. Diplornnti-tehe* Handbuch Ill.t'fl S. 36 ff.
StutH- u. Tnlkerrechtl, Abhandl. VI 1. — Bchmidt. 4
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erlegt worden, Etablissements für Kriegsmarine daselbst gar nicht und KriegsschiflFe nur in genau fixierter Größe und Zahl zu unterhalten. Von diesen schon längst als drückende Fessel empfundenen „ungeschicktesten Bestimmungen des Pariser Friedens" ^ suchte sich nun Rußland gegen Ende des Jalires 1870 frei zu machen, wobei es zur Rechtfertigung seines Verhaltens ganz unverkennbar die clausula rebus sie stantibus heranzog. Das trat schon in dem Rundschreiben vom 19/31. Oktober^ deutlich hervor, durch welches der russische Kaiser erklären ließ, in der gegenwärtigen Liage der Dinge, dans cet 6tat des choses, könne er jene Stipu- lationen nicht länger als verpflichtend anerkennen, mehr aber noch im Verlauf der großmächtlichen Konferenzen ^ die auf Vorschlag Deutschlands zur Regulierung der ganzen Angelegenheit stattfanden. Diese Neuordnung ist nun in einer Form erfolgt, die für die Frage der positiv-praktischen Wirksamkeit der Klauseitheorie überaus bezeichnend und lehrreicli ist. Ganz wie 18G4 waren nämlich auch jetzt wieder die Mitunterzeichner des Pariser Friedens durchaus nicht der Ansicht, daß die Bestimmungen desselben durch irgendwelche Veränderung von Umständen schon rechtlich als beseitigt gelten könnten; insbesondere England hat auf der Konferenz die russischen Erklärungen von Anfang an umgedeutet zu bloßen „propositions quela Russie däsire
* Bismarck, Gedanken und Erinnerungen II, 8. 104.
2 Cf. Märten 8, N.K.G. XVIIl, 8. 269 ff.
^ Ein Abdruck sämtlicher Öitzungsprotokolie findet sich bei Märten 8) a. a. O. , IS. 270 ff. Kur ein paar besonders wichtige Beleg- stellen will ich hier aus ihnen beibringen. 1. Sitzung vom 17 «lan. 1871: „Le pl^nipotentiaire de Russie a Signale combien la Situation actuelle enEurope est loin de cellc qui existait ^r^poque du Congr^s de Paris'^; „prcnant en serieuse consid6ration les changements produits graduellemcnt par la marche du temps^; ^ces stipulations sugg^r^es k unc autre epoque sous l'influence de conjonc- tures toutes differentes de la Situation präsente." 2. Sitzung vom 24. Jan.:. „Combinaisons qui ne sont plus en accord avec Tactualite des choses." S. Sitzung vom 3. Febr. : „Les stipulations du trait6 de Paris, ^crites sous l'influence des ^venements alors encorc trop r^cents de la gnerre, ne se trouvent plus en accord aujourd'hui avec la Situation cr^^ par r^tat de paix lieureuseniout retabli en Orient.**
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nous faii-e par rapport k la r^viaion qu'elle demande des Btipulations du trait4 de 1850" ^. Prinzipieil in der näm- lichen, wiewohl vielleicht nicht so prononcierten Weise äußerten sich aber auch die Vertreter der übrigen Mächte*; ja was am allerbedeutaamstcn ist, Rußland selbst hielt es während der Konferenzen t'tir angezeigt, dieser Äuffaaaung formell nicht zu widerüprechen und so den zuerst ein- genommenen Standpunkt von der unmittelbar juriatischen Wirkung veränderter Umstände stillschweigend aufzugeben ". Freilich wurde ihm das sehr wesentlich dadurch erleichtert, daß es bei der damaligen politischen Lage* sicher sein konnte, sein Ziel praktisch doch zu erreichen, wie denn die beanstandeten Bestimmungen ja auch wirklich durch
L einen neuen Vertrag* schließlich aufgehoben und gemeinsam
I »ußer Kraft gesetzt worden sind.
i Endlich an letzter Stelle mag noch eines Vorfalles aus
den SO er Jahren des 19. Jahrhunderts gedacht werden, bei . dem Rußland in ganz ähnlicher Weise wie 1870 gegen die 1 fortdauernde liechtsgllltigkeit einer internationalen Traktats- festsetzung vorgegangen ist. Dieselbe war enthalten in dem Art. 59 des Berliner Vertrage vom 13. Juli 187« und be- ätaud sachlich in der vom russiscbeti Kaiser abgegebenen Erklärung, es sei seine Absieht, die durch den vorher- gehenden Artikel von der Türkei erworbene Stadt Batum am Schwarzen Meere zu einem Freihafen zu machen'.
< Martens, a, s. O., B. 275. Ähnlich aueh 3. 283: „La Riiiuie eiprime ai\joDrd'hai am co-iigriat^tas du trait£ de löSß le dSsir
d'Stre däliä» de aee eu^agemeuta."
* Vgl. 1. B. die Art, wie der deutsche Oasandte (Uartena, a. a. O., S. 277) warni der Beräokaichtigiing empSehlt „le döflir du OourernemBat Imperial de Kuesie de voir les itipulations de lä5ij aouiaiaeB k une rävision'', oder aiicli die türkischen ErklÄnitigen, S. 2äl.
* Am schärfsten kam das zum Anedn»^ ia der Tatsache. i»A BuUlaud auch dos, von uns auf S. 43 ziüerte, ProtukoU Ttim 17. Januar bereitwillig mit nntentchrieb, „wiewohl seine ganze Aktiou in der Frage dem dort auBgeaiiraoheuen Prinzip widersprach" (Heffter-Oeffcken,
IEnrüpäiBoheH Yülkerrecht, S. 1H4, Anm. 4). * Vgl. hierzu ü. 67, N. 1. » Vom 13. Mä« 1871; cf. Marlons, a. a. O., S. 303 ff. " Im JVauiSsiaiJieu Origiualteit |cf. M »r t c uh , N.K.G., Li. ä^rie, T. III, i U
52
vn
Diese BeBtimmung war auch zunächst wirklich zar Ai fllhrung gelangt; doeb wurde schon acht Jahre später, di einen Ukas vom 23. Juni 188li', einseitig von Kußland Freibafenstellung Batums wieder beseitigt. Die nähere grUndung, die man der ganzen Maßregel damals zu geben versuchte, läuft nun zwar keineswegs lediglich auf den Oedankengang der Üblichen Klausellehre hinaus, insofern als daneben, in einem der Haupterkiftrung beigegebenen Memorandunn , auch noch ein ganz anderer Qesicbtspunkl geltend gemacht wurde ^; immerhin bestand aber dasjeDiga. Moment, auf welches sich Rußland in dem Ukas selbst drUckiic'h stützte, hier abei'mals in dem Hinweis auf di inzwischen eingetretene Veräaderung der Umstände', Eben- sowenig jedoch wie der letztere bei dem früheren Vor- kommnis widerspruchslos durchzudringen vermocht hatte, sollte das auch diesmal wieder der Fall sein. Wohl setzten die meisten Unterzeichner der Berliner Kongreßakte, da ihnen naturgemäß an der Freihafenqualität der entlegenen klein asiatischen Stadt wenig liegen konnte, dem eigen- mächtigen Verfahren Rußlands einen Protest nicht entgegen. Diejenige Macht aber, deren Flagge in Datum weitaus do- minierte, d. h. England, verhielt sich durchaus anders: sie erhob formelle Einsprache gegen die einseitige Aufhebung des Art. öd*; sie erklärte ausdrücklich das uns bereits be-
liffij
1, S. 464: „S. M. remperenr de Uusele d^clure que Son i d'driger Batoum cn port franc, emieiitialeinBnt ODDimercial." ^m
< et MarleuB, N.K.G., II. Särie, T. XIV, I, 169 ff. ■
> Tgl. Härtens, s. a. O., S. 171: „L'article 59 occupe dms tfl tr&it£ de Berlin ane place k part, car ü' n'est pae, comme les autrM, le produjt d'an accord collectif, mais il bome k enre^istrer Dne djclaration llbre st spontan^ de S. M. l'empereur Alexandre IL' Wir werden nns mit dieser eigentümlichen „Einrcgiatrieningetheorie'. mit der Uehauptung, daK manche Beatimmutigcti gar nicht Ewecks recht- licher Bindung, sondern lediglich zEr Kundmachung und Verlautbarung unverbindlicher Abtiichten in den Text oines intern ationaleu Vertrag» au^ianomDicn würden, iioeh bei einem späteren Anlaß (8. IM bei Aiim. S.J t beschädigen haben und verweisen deshalb jetzt einfach auf daa dort
^t;
Cf. Mai
, 169r „Les ci 'ait it& adnpt^e ae sont bexuci Angeblieh übrigeni auch nicht
I, dans leacjuelles la dita modiSäes depuis.^ materieller IntereiMn i
kannte Londoner Protokoll vom Jahre 1871 als hierdurch verletzt, kurz sie markierte auch in der 1886 er Angelegen- heit deutlich den Standpunkt, daß „keine Macht sich ihrer vertragsmäßigen Verbindlichkeiten anders entledigen könne, als unter Zustimmung ihrer Gegen kontrahenten , im Wege der freundschaftlichen Verständigung.
Mit den vier ohen aufgefUhrten Beispielen mag es einst- weilen sein Bewenden haben. An und ftir sich könnte es ja Bedenken erregen, schon aus einem ao geringtligigen prak- tischen Erfahrungamaterial allgemeine Schlüsse zu ziehen. Doch sind gerade bei unserem Falle Gründe vorhanden, die es erlauben, uns an dieser Stelle mit einer kleineren Zahl von Einzelbelegen zufrieden zu geben, als es sonst wohl gestattet wäre. Einmal nämlich werden wir auch im folgenden noch mehrmals Gelegenheit zur Zitierung prak- tischer Falle finden* und dabei in dem entscheidenden Punkte stets die gleiche Erscheinung zu konstatieren haben, wie sie in sämtlichen vorhin genannten Beispielen überein- stimmend zutage tritt; dann aber und vor atleu Dingen ist auf die Ausführungen zu ^ 6 zu verweisen, denen zu- folge es schon als überaus schwierig, um nicht zu sagen direkt unmöglich gelten muß, auch nur der Vierzahl der von uns beigebrachten Belege eine entsprechende Menge konträr beweiskräftiger Vorkommnisse entgegenzuhalten.
Wenn wir nunmehr festzustellen suchen, was uns jene vier Fälle für die ganze hier zur Behandlung stehende Frage zu lehren vermögen, so ergibt sich folgendes. In erster Linie macht sich ein Moment bemerklich, welches wirklich zugunsten der positiv -juristischen Geltung der clausula
londern bloß wogen des Principa der Vertra^treae als «olcheu. Vgl. die Depesche Eoseberry» vom la Juli 1886: „Apart W tho ponition of Greiit Britaiu M ooe of tlie powera, partie» to the Declaration of the 19*11 January 1871 and to Ihe Treaty ot Berlia, Her MiJeatyV goveroement luve little or no material interest ia the question."
' Tgl. be». Ä, 57, Änm. 3 (Fall de» Luxemburger BeaatzuugRrechta),
[ 8. 172, Amn. 1 a. E, (Clayton-Balwer- Vertrag), S. 188ff., speziell 189, Anm. 9
I (Barri^re-Traktut) u. a. tu.
54 VI 1.
rebus sie stantibus zu sprechen scheint: mit der Wahr- nehmung, wie Sachsen bei der Leugnung seiner Lausitzer Verpflichtungen sich unverkennbar eines derartigen G^e- dankenganges bedient hat, wie 1864 Preußen und Österreich in bezug auf das Londoner Protokoll vom 8. Mai 1852 ganz ebenso verfuhren, wie endlich auch Rußland zu wieder- holten Malen die vertragsaufhebende Wirkung veränderter Verhältnisse behauptete, ist immerhin soviel dargetan , daß die Elausellehre bisher schon nicht bloß in theoretisch wissenschaftlichen Völkerrechtssystemen existiert , sondern auch im praktischen Verkehrsleben der Staaten eine gewisse Rolle gespielt hat. Indes die näheren Umstände, unter denen letzteres geschah, sind keineswegs danach angetan, der Entstehung eines spezifischen Rechtssatzes als aus- reichende Basis zu dienen.
Es ist nämlich darauf aufmerksam zu machen, daß die praktische Bezugnahme auf die Klausel doch stets nur eine einseitige war. Immer nur derjenige Staat, der sich durch einen alten Vertrag unangenehm beengt, in seinen Interessen beeinflußt fühlte, mit einem Worte immer nur der ver- pflichtete Partner, wenn wir diesen kurzen, aber freilich nicht überall ganz genau zutrefi^enden ^ Ausdruck brauchen wollen, ist es gewesen, der sich auf die Umgestaltung der Verhältnisse berufen und aus ihr das Erlöschen seiner Ver- bindlichkeit herzuleiten versucht hat; dagegen zeigt sich auf der anderen Seite regelmäßig das Bild, daß der Richtig- keit dieser Argumentation scharf widersprochen, der juri-
' Faßt man z. B. den Londoner Traktat vom Jahre 1852 über die Kegelunfc der dänischen Erbfolge in» Auge, so ergibt sich, daß das 1864 die fortdauernde Gültigkeit desselben behauptende England und das sie bestreitende Preußen formell in ganz gleicher Lage waren: es handelte sich bei dem einen wie bei dem andern um die Verbindlichkeit, die Sukzession des neuen Königs Christian im vollen Umfange an- saerkennen. Trotzdem darf auch hier, wenigstens materiell, von dem Verhältnis eines berechtigten Staats zu einem verpflichteten gesprochen werden, weil die Erhaltung der dänischen Gesamtmonarchie für die Politik des ersten Staats nur günstig und erwünscht, dagegen für die des zweiten überaus nachteilig war.
stische Fortbestand des Traktats energisch verfochten wird. Bei dieser diametralen Gegensätzlichkeit der Beurteilung ist aber von vornherein dem ersten und obersten Prinzip aller internationalen Kechtsbildung nicht genUgt, nach welchem eine solche gerade nur aus irgendeiner Überein- stimmung mehrerer Staaten hervorgehen kann.
Letzteres Erfordernis, welches zunächst bei der aus- drücklichen Normsetzung ganz deutlich darin zutage tritt, daß zu derselben nicht isolierte Erklärungen der einzelnen Staaten, sonderu bloß gemeinsame, aufeinander bezogene Aktionen ausreichend und imstande sind, ist der still- schweigenden Rechtsbitdung mutatis mutandis genau so charakteristisch .und wesentlich. Daher erscheint z. B., bloß in diesem Sinne verstanden und speziell in Atiwendung auf das Völkerrecht, auch beispielsweise die Fürmelung Windscheids' — mit der man eich im übrigen durchaus nicht zu identifizieren braucht — als völlig zutreffend, es mUsse bei jedem Gewohnheitsrecht „der Ausdruck einer gemeinsamen Rechtetiherzeugung des Kreises, für welchen behauptet wird, gefunden werden können". Ist dem aber wirklich so, so achließt das offenbar vor allem auch dies mit ein, daß die beiden in concreto beteiligten Par- lien über die Beurteilung der Sache immer ganz einig gewesen sein müssen, widrigenfalls eine zugunsten des fraglichen Gewohnheitsrechts sprechende Übungshandlung von vornherein gar nicht zu entstehen vermochte^ läßt sich doch die gesamte Bildung von internationalem jus non scriptum näher bloß in der Weise konstruieren, daß aus r stets von neuem beobachteten Übereinstimmung dieser sutetzt der allgemeine Schluß gezogen wird, derartiges sei als präsumtiver Wille der Kulturstaaten schlechthin und
\ überhaupt anzusehen. Aus alledem erhellt, wie wenig die i uns analysierten historischen Vorkommnisse als positive
I Unterlage und Stütze der behaupteten Klauselnorm heran-
' Pandekten § 16 im Eingaug».
56 VI 1.
gezogen werden dürfen. Denn selbst völlig zugegeben, daß dafür auf der einen Seite, bei den jeweils verpflichteten Mächten, die geeigneten Voraussetzungen wirklich vorhanden waren, so fehlte es an ihnen doch jedenfalls unbedingt auf der anderen, da hier die Gläubigerstaaten eben stets eine ganz entgegengesetzte Auffassung wie jene an den Tag legten. Wo aber niemals eine Übereinstimmung in concreto zu konstatieren ist, da kann natürlich auf ein innerhalb der ganzen Völkerrechtsgemeinschaft akzeptiertes jus non scrip- tum erst recht nicht geschlossen werden. Das ist umso- weniger zulässig, als einige Male, bei den Ereignissen der Jahre 1864 und 1871, die Zahl der der clausula opponieren- den Staaten notorisch eine größere war wie die der für sie eintretenden.
Zu den Erwägungen dieser Art kommen nun aber unterstützend noch andere hinzu. Es kann nämlich be- gründeten Zweifeln unterworfen werden , ob auch nur die vorhin gemachte Annahme wirklich zutreflFend ist, dafi wenigstens die Haltung der Schuldnerstaaten an sich für gewohnheitsrechtliche Übung der clausula sprechen würde. Sollte das tatsächlich der Fall sein, so müßte in erster Linie auch bewiesen werden können, daß die Betreffenden immer optima fide ein spezifisches Recht im Sinne hatten, die Erfüllung der fraglichen Verbindlichkeiten wegen ge- änderter Umstände verweigern zu dürfen. Qerade diese eigene Gutgläubigkeit erscheint aber aus verschiedenen Gründen ziemlich problematisch. So ist es beispielsweise Tatsache, daß einige Staaten sich bei Anfechtung ihrer Ver- pflichtungen nicht ausschließlich auf die clausula stützten, sondern außerdem noch die Heranziehung anderer Momente für angezeigt hielten ^ und damit selber nicht allzu großes
* Vgl. u. a. die Ba tum -Angelegenheit, bei der ja Rußland sehr wesentlich auch mit der „Einregistrierungstbeorie" operierte. In ähn- licher Weise haben 1864 Preußen und Österreich neben dem Gesichtspunkt veränderter Verhältnisse noch denjenigen der Nichterfüllung gewisser, 1852 ▼on Dänemark übernommenen Verbindlichkeiten („non-accomplissement de couditions pr^liminaires'^) geltend gemacht.
VI 1.
Zutrauen auf die juristiache Durchschlagskraft der ersteren bekundeten. Fernerhin ist in Anschlag zu bringen, wie bereitwillig man teilweise die ursprungliche Argumentation iiinterher ganz aufgab ' oder sich doch mindestens zu ge- wissen Konzessionen an den Standpunkt des Gegners bereit finden ließ^. Endlich muß es noch als sehr bezeichnend gelten, daß oft die nämlichen Staaten, die in der Rolle des Verpflichteten mit der Anwendbarkeit der Klausel durchaus erstanden sind, sich ihr höchst abgeneigt zeigen, sobald sie wider sie selbst ala Berechtigte gekehrt werden soll',
' ßo Rnßland 1871 in der PoDtasfrage; vgl. S. 51 bei Ann». 3.
■ So SschBBn 1845 in Bezug auf die kirehenrechtlichen Verhfiltuiise r Lausita; vgl. 8. 47.
° Sin Beleg hierfür läßt sieb unter nochmaliger AnknDpfang an die SchleBwig-Holateinache Kache gewinnen. Wir wissen, daß bei dieser 'ie dentachen Großmächte UQTerkenubsr für die vertragssnf hebende Wirkung ron res mutatae sich ausgesprochen haben. An anderer Stella jedoch verhielt sieb in diesem Punkte sowohl Österreiub wie PreaBan | ▼Öllig entgegengoBBtüt. Und »war geschah das seileiis de» ersteren rtohtlich der Lsuaitzer Frage, im Verhältnis za Sachsen, dagegen se ■ letzteren im Falle dos Luxemburger Itesatzungarenlits. ßn die z' genauntu Angelegenheit in den vorliegenden Unters ucimngen noch i ber&brt wurde, gleichzeitig aber I3r unsere Zwecke in mehrfacher Be- ziehung reubt instruktiv ist, so mag hier eine kurze Daratellung der- selben Platz Enden. Im Anschluß an Art. 67, Abs. Ü der Wiener Kongreß- akle, durch den die Stadt Luxemburg gan« allgemein Enr deutschen Bundesfestang erklArt wurde, hatte speziell Preußen auf Orand tbi^ Bchiedener völkerrechtlicher Erwerbstitel (bes. zu beachten der Franfc:* furter Vertrag mit dem König der Miederlande vom 8. November ISlSt*! Klüber, Öffentliches Kcchl des deutoohen Bundes, 4. Aufl., 8.280, H.S^n die Befugnis erlangt, in der Hauptsache die Besatzungstruppen dieses Plattes KU stellen. Als dann darcb die Ereignisse des Jahres 1886 das Ende des deutscheu Bundes herbeigeführt worden war, nabm die luxem- burgische Regierung der proußischeu gegenüber sofort den Standpunkt ein, letztere habe unter den veränderten Verhältnissen kein Recht mehr, in Jener fremden Festung Qarnison zu halten (vgl. die Erklärung Bismnrcks im norddeutschen Reichstag am I.April 1867; H a h n , Zwei Jahre preußisch- deutscher Politik, S- 582). Diese Meinung von der cu ipio eingetretenen Hinfälligkeit des BeaatzungsrccbCs wurde jedoch von Preußen absolut nicht gebilligt; vielmehr vertrat dasselbe in amtlichen und halbamtlichen Erklärungen entschieden die Ansicht, es bliebe lediglich „weiterer Er- wägung und Verständigung der beiden beteiligten Mächte vorbehalten, inwieweit sie den in Bede stehenden Vertrag aufrecht erhalten oder
Ietwa abändern wollten" (Hnhu, a. a. O., 8. 589). Tatsächlich sind , dann auch erst durch „nonveanx arrangements", durch den bekaontani — yon den europäischen Großmächten mitunterzei ebneten Vertrag voqI It Mai 1867 (Ohillany, Diplomatisches Handbuch, Bd. lO, S. 408ft) ]
58 VI 1.
Angesichts aller dieser Umstände wird man gewiß mit der Möglichkeit, vielleicht sogar der großen Wahrschein- lichkeit zu rechnen haben, daß nicht einmal seitens der auf Umgestaltung der Verhältnisse sich wirklich berufenden Staaten an eine wahre Rechtsübung der clausula gedacht wurde; im Gegenteil erscheint durch sie die Vermutung sehr nahe gelegt, daß die letzteren die von der Theorie ausgebildete Elausellehre bloß als politisch brauchbares Hilfsmittel zur Bekämpfung drückend gewordener Vertrags- pflichten benutzten, ohne selbst von der juristischen Za- lässigkeit ihres Verhaltens durchdrungen zu sein. Damit wäre dann aber auch der letzte schwache Anhalt geschwunden, in jenen Vorkommnissen praktische Belege zugunsten der behaupteten Rechtsnorm erblicken zu dürfen: wenn nach den früher gegebenen Ausführungen immerhin noch ein- seitige Versuche einer Rechtsübung möglich blieben, Ver- suche freilich, die stets auf den nachdrücklichen Widerstand der Gegenkontrahenten stießen und also schon deshalb nie zur Ausbildung einer positiv -juristischen Norm führen konnten, ist nunmehr auch dies noch mindestens recht frag- lich geworden.
In Summa: das von uns untersuchte Material ist so un- geeignet wie nur möglich, der Annahme einer stillschweigend- gewohnheitsrechtlichen Sanktionierung der clausula irgend- welche positive Stütze zu gewähren ; weit entfernt, für eine solche zu sprechen, vermag es umgekehrt nur aufs Ent- schiedenste wider sie zu zeugen.
§ 6.
Wie bereits (auf S. 53) angedeutet wurde, bietet unsere Beweisführung, daß die clausula rebus sie stantibus bis auf den heutigen Tag auch nicht als Bestandteil des völker-
dem „changement apporte k la Situation da grand-duch6 par snite de la diaso- laüon des liens qui Tattachaient k rancienne confi^d^ration germaniqne* praktisch wirkHame Folgen zugesprochen, eine grundsätzliche Neuordnung des Verhältnisses vereinbart worden.
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reclitlichen ius non scriptum sich dartiin läßt, in gewisser Beziehung noch Gelegenheit zur Beanstandung. Es beruht das auf derselben Schwierigkeit, die wegen der oigentüra- liehen Natur und Beschaffenheit des Gewohnheitarechta mehr oder weniger überaU wiederkehrt, wo der Nachweis resp. wie in unaerewi Falle die Widerlegung eines solchen unter- nommen wird ; bleibt doch dem Gegner trotz aller kon- kreten Belege nach der einen oder anderen Richtung hin atets noch die Chance, durch Anführung einer entsprechend größeren Zahl entgegengesetzter Beispiele zu zeigen, daß jene bloß seltene Ausnahmefölle darstellen und deswegen einen allgemeinen Schluß in ihrem Sinne nicht gestatten. Gerade bei unserem Sposialproblem mag aber ein derartiger Versuch von vornherein gar nicht so aussichtslos dünken, denn nicht bloß haben wir für unsere Auffassung verhält- niamfißig nur wenig Einzelbeweiae beigebracht, sondern es kann sich auch die gegenteilige i^Ieinung unleugbar auf zahlreiche geachichtliche Vorkommnisse berufen, die ihr für den ersten Augenblick sehr günstig zu sein scheinen.
Unter diesen Umständen macht sich nun zur Ergänzung unserer Argumentation noch eine nithore Präzisierung dessen notwendig, was für Merkmale historiacb gegebene Fälle unbedingt aufweisen müaaen , wenn aie in Wirklichkeit für eine positiv- rechtliche Einführung der Klausel sprechen sollen. Wir werden dabei zu dem Resultate gelangen, daß von dem gesamten umfänglichen Gegenmaterial, an das man Eunächst wohl zu denken geneigt wäre, bestenfalls nur ein geringfügiger Bruchteil den zu erhebenden Anforderungen wahrhaft zu genügen vermöchte.
Vor allem ist eine ganze große Gruppe auszuscheiden, bei der sorgfältige Prüfung des Sachverhalts zu dem Er- gebnis führen muß, daß hier überhaupt gar keine rechtliche Aufhebung des Vertrags und also noch viel weniger eine Aufhebung durch veränderte Umstände vorliegt. Zur Ver- ftnschaulichung und Erläuterung mag auf ein praktisches Beispiel Bezug genommen werden.
60
VI l.
Im Jahre 14t)9 übertrug der dänisch-norwegische König Christian I. auf seinen Schwiegersohn Jakob II. von Schott- land an Stelle der ausbedungenen Mitgift von (iOOOO rhei- nischen Gulden die Arkaden und IShctlandiDseln, behielt aber sich und seinem Staate gleichzeitig die Befugnis vor, durch nachträgliche Zahlung den Rückfall derselben an den Vorbesitzer zu bewirken. Weil jedoch eine wirkliche Aus- lösung der verpfändeten Inselgruppen aus Geldmangel nie zustande kam, so blieben dieselben dauernd unter der Herr- schaft Schotttands und weiterhin des diesem folgenden ver- einigten Königreichs von Großbritannien. Demgemäß haben wir jetzt den Tatbestand vor uns, daß ein durch Staats- vertrag' sichergestellter Anspruch jahrhundertelang nicht geltend gemacht wurde, und damit erhebt sich notwendig die Frage, ob vielleicht das bisher Verabsäumte heute noch nachgeholt werden darf.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß im allgemeinen und prima facie hierauf eine entschiedene Verneinung zu erwarten ist, d. h, man wird weit überwiegend der Ansicht begegnen, daß die noch aus dem Mittelalter stammende Einlösungsbel'ugnis jetzt ganz antiquiert sei und nicht mehr zu Recht bestehen könne. Indes diese Auffassung entbehrt, wie noch neuerdings von einem geborenen Schottlftnder * in eingehenderen Untersuchungen gezeigt wurde, der festen und ausreichenden Grundlage. Selbstverständlich haben wir an dieser Stelle nicht nötig, uns auf alle Details der Beweis- führung einzulassen, sondern dürfen uns mit der Hervor- hebung eines Hauptpunktes begnügen, welcher speziell fllr unsere Zwecke von Wichtigkeit ist. Derselbe besteht In dem Umstände, daß der internationalen Rechtsordnung sn-
' Uaß ea sich bei dem 1469 wr Traktat trote des prtTalfargtaii- rechtUcheu Beiwerks wirklich um eineo flal(:)iea handelte, muß hier snr Vi mi ei dang «lUngroßer Weitläufigkeit einfach vorausgesetzt werden.
' QiUiert Ooudie, in den Procoedinf!^ of tUe Socie^ of Anti- qDariee of Scatland. leb verdanke die Kenntui» der Schrift einer freund- lichen Uitteilong des Herrn Prof. Dr. Kahle in Heidelberg. Sie iit angeiührl in „Nord und Sud", Ud, 83, 8. 288.
VI 1. 61
erkanntermiLSen die Verjährung als technisch-juristisches Institut durchaus fremd ist'. Hier vermag niemals der einfache Zeitahlauf als solcher irgendwelche Rechts- verschiebungen zu erzeugen, namentlich die durch V er ti-Üge gewonnenen Befugnisse aufzuheben — ein derartiger Erfolg knnn erat dort in Frage kommen, wo noch etwas anderes hinzutritt, wo näraÜch unverkennbar die beteiligten Staaten durch die lange, inzwischen verstrichene Frist dabin beeinflußt worden sind, dem betreffenden Vertrage keine fernere Wirksamkeit mehr beizumessen.
Schon aus dieser Feststellung resultiert eine bedeutende Verengerung desjenigen Kreises historischer Vorkommnisse, den man hei oberflächlicherer Betrachtung vielleicht zur Begründung der clausula rebus sie stantibus für geeignet halten möchte: indem ganz allgemein gezeigt wurde, daß im Völkerrecht der Zeitablauf immer nur durch das Medium des von ihm determinierten Staaten willens juristische Wirkungen Büßern kann, ist offenbar insbesondere auch dargetan, daß er allein selbst dann nicht genügt, wenn er mit wesentlicher Veränderung der Umstände kombiniert auftritt. Wir gehen nunmehr einen Schritt weiter und untersuchen diejenigen Fälle, bei denen das obige für die Beseitigung vertragsmäßiger Rechte unerläßliche Moment wirklich gegeben ist, oder direkt auf das vorhin gebrauchte ikrete Beispiel angewandt, wir fingieren jetzt, daß sieh sowohl auf Seiten des skandinavischen Heimfallsberechtigten wie des rückgabepflichtigen Englands eine ausdrücklich er- härte Willensmeinung * des Inhalts konstatieren laase, an
' Vgl, n. a. von Lisit. Völkeireeht (2. Aufl. 1902), Ö. 155: „Die /erjAhniDK b^t rölkerrecbtlich weder als acqiiinitive liDsbeBandera ala XrsitzuDg) Doch als eztiuktive di« Kraft eiuer recht«erhebliclieD TatHache." * Eine aulche wird eq dem Zwecke angenommeD , dninit über den :8schverba1t selber abaulat kein Zweifel melir möglich bleibt. An and "Br sich wflfden natürlich auch Mill schweigend dokumentierte Vensichts' ibsichten genügen, vornusgeietzt nur duB auf das wirkliche Vorhandenaein flerselben mit hinlänglicher Sicherheit geBChloaseo werden kann. Gerade hieran pflegt ee aber bei Folgerungen bloB aus kouitludeiiteu Handlungen
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eine Realisierung des 1469 stipulierten Einlösungsrechts sei gegenwärtig nicht mehr zu denken. Es fragt sich nan, ob mit Fällen dieser Art etwas für den Nachweis international- rechtlicher Gültigkeit der Klausel auszurichten ist. Darauf kann die Antwort nur lauten: Nichts, aber auch gar nichts. Wohl steht jetzt das Eine mit aller Sicherheit fest, daß die betreffende Traktatsbestimmung ihre juristische Gültigkeit verloren hat. Aber um das zu erklären, reicht schon voll- ständig die Tatsache aus, daß beide Kontrahenten sich in diesem Sinne übereinstimmend geäußert haben, anders aus- gedrückt, es greift nunmehr einfach die altbekannte Regel Platz, daß offenkundiger mutuus dissensus ganz generell und unterschiedslos die Traktate wieder aufhebt, womit der be- haupteten Spezialnorm von der vertragsaufhebenden Kraft geänderter Umstände von vornherein gar kein Raum zur eigenen und selbständigen Entfaltung mehr gelassen ist.
Auf diese Weise scheint sich für die in Frage stehende Beweisführung eine logische Scylla und Charybdis zu er- geben, an der schlechterdings nicht vorbeizukommen ist Denn eine von den zwei eben erörterten Möglichkeiten muß doch wohl jedenfalls vorhanden sein: Entweder liegt bei den zugunsten der clausula anzuführenden Fällen die Sache so, daß es über das Schicksal des betr. Vertrags noch gar nicht zu einer irgendwie gearteten Willenserklärung beider beteiligten Staaten selber gekommen ist; dann wird notwendig zu wenig bewiesen, weil nach völkerrechtlichen Grundprinzipien der Traktat, mag er noch so lange Zeit unausgeführt geblieben sein und sachlich noch so wenig in die dermaligen Verhältnisse hereinpassen, überhaupt nicht als beseitigt gelten darf. Oder aber man ist wirklich in der Lage, das für seine Aufhebung recht eigentlich ent- scheidende Erfordernis als gegeben darzutun; dann wird wieder umgekehrt zu viel bewiesen, weil hier gar nicht
nur zu oft zu fehlen, und speziell für den Fall der Orkneys scheinen mir die Momente, die nach dieser Richtung hin etwa anzuführen wären, in keiner Weise ausreichend zu sein.
VI 1, 63
mehr der urupriinglidi gesuchte Aut'hebungägriind, aondem ein weit umfassenderer Reehtssatz praktisch belegt wird.
Nichtsdestoweniger wäre es verfehlt, wollte man darauf- hin den NHchweis der gewohnheitBrechtlichen Klausel als logiacli- begrifflich ausgeschlossen, an einem unentrinnbaren Dilemma scheiternd, ausgeben, und zwar deshalb, weil jene Disjunktion genau genommen doch nicht ganz schlüssig ist. Es bleibt nämlich bei ihr die Möglichkeit unberUckaichtigt, daß in concreto uußer der Tatsache neuer, unter sich har- monierender Parteiwilleuserklärungen auch noch besondere Nebenkriterien vorbanden sein künnen, und daß dann viel- leicht diese qualiü zierten Fälle geeignetes Beweismaterial für den Spezialsatz der clausula rebus sie stantibus zu liefern fähig sind. Da dies nun tatsächlich der Fall ist, muß die theoretische Konatruierbarkeit einer gewohn- heitsrechtlichen Ausbildung der Klausel vor wie nach zu- gestanden werden. Gleichzeitig läßt sich allerdings — und rein praktisch wird das so ziemlich zu demselben Resultat wie eine allgemein logische Unmöglichkeit des Beweises fuhren — mit Bestimmtheit voraussehen, daß es meist überaus schwierig sein wird, das reale Gegebensein der erforder- lichen Dctailniomente vollüberzeugend darzutun.
Suchen wir jetzt am Schlüsse unseres ganzen Gedanken- ganges noch die nähere Beschaffenheit der letzteren kurz präzisieren, so wäre da an erster Stelle naturgemäß zu verlangen, daß der von den konkreten Parteien an den Tag gelegte Wille, den bt.'tr, Vertrag nicht mehr als gültig zu behandeln, nicht so abstrakt und schlechthin, sondern mit der ausdrücklichen Spezialmotivierung erklärt wurde, solches geschehe lediglich und im Hinblick auf die große mittler- weile eingetretene Voränderung der Verhältnisse; zum mindeaten muß in anderer Weise, aus der Gesamtheit der Begleitumstände, geschlossen werden können, daß ein der- artiger Zusammenhang zwischen beiden Erscheinungen be- steht. Das will besagen, daß es nicht genügt, bloß gotrennt fllr sich hier das Vorhandensein der res rautatae, dort jener
64
Vll
ätaatlicLen Willensstimmung zu konstatieren ; vielmehr man auch die gegenseitige Verknüpfung, die Tatsache, da8 das zweite aus dem ersten gelbigt ist, gewissermaßen den psychologischen RausalnexuB darzulegen, wenn ich mich dieses bezeichnenden, wiewohl aachlich anfechtbaren Ai drucks bedienen darf.
■ Aber auch das würde für sich allein noch keineswegi. ausreichen; es liegt ja auf der Hand, daß Überall, ■wo aus rein politischen Erwägungen auf einen Vortrag ver- zichtet wird, wo man einen Anspruch freiwillig und bloß deshalb fallen läßt, weil seine Geltendmachung infolge der Umgestaltung aller Verhältnisse nicht länger opportun und dem eigenen Vorteil entsprechend scheint, die ersten und unerläßlichsten Voraussetzungen fUr die Statuierung eines spezifischen Rechtssatzes fehlen. Welcher Art wieder die letzteren sind, was für faktische und sozial psychologische Merkmale positiv gegeben sein mtlssen, wenn aus den betr. Fällen schließlich eine generelle, für die einzelnen Staaten event. auch wider ihren Willen maßgebende Rechts- norm soll gefolgert werden können, das zu untersuchen würde hier zu weit fuhren, denn es liefe nach Lage der Dinge einfach darauf hinaus, an einem Einzel problem die ganz, allgemeine Frage zu erörtern, unter welchen Be- dingungen überhaupt internationales Gewohnheitsrecht zur Entstehung gelangen kann. Demgemäß will ich mich an dieser Stelle bloß mit einer kurzen Erinnerung an das Moment der spezitiachen Rechtaübung, des Handelns opinione j uris, begnügen, ohne den Begriff des letzteren selbst näher zu analysieren.
Wir sehen, es sind recht mannigfache und zum Teil äußerst schwer zu vermeidende Klippen, an denen der Ver- such, mit Hilfe praktisch-historischer Fälle den Nachweis einer positiv-rechtlichen Einführung der Klausel zu führen, Schiffbruch leiden kann; man wird es daher jetzt auch als ein nichts weniger wie leichtes Unternehmen bezeichnen dürfen, wahrhaft einwandsfreie Beispiele Uberliaupt auafindig
lieh
1
äus
zu machen. Mir selbst ist jedenfalls nicht ein einsiges be- kannt, das den oben autgestellten Erfordernissen nach allen Richtungen hin entspreche. Deshalb kann und aoU aber natürlich nicht die Möglichkeit in Abrede gestellt werden, daß hier und da vielleicht doch volibefriedigendea Material «ich aufzeigen ließe; ea ist bloß darauf aufmerksam zu machen, daß derartig vereinzelte und gelegentliche Vor- kommnisse für allgemeine Schlußfolgeruugen unbrauchbar wären. Wir haben in § 5 immerhin eine gewisse Anzahl Fälle kennen gelernt, die direkt wider die gewohnheits- rechtliche Einsetzung der clausula zeugen, und um diese zu entkräften, würde es sicherlich schon einer ziemlich regel- mäßigen und umfangreichen OegenUbung bedürfen. Daß Aber eine solche dargetan werden könnte, halte ich nach I Lage der Sache geradezu fllr ausgeschlossen. — ' Mit alledem erscheint jetzt die in Abschnitt LI zu
lösende Aufgabe als beendet. Wir haben zuerst (§ 4) ge- zeigt, daß die Art, wie die communis opinio die völkerrecht- liche Geltung der clausula zu demonstrieren sucht, von vornherein und begrifflich verfehlt ist; wir haben weiterhin (Sf 5| festgestellt, daß in der internationalen Praxis ge- wichtige Zeugnisse zu Ungunsten der positiv -juristischen Existenz jeuer zu tinden sind; wir haben endlich (§ 6) I dargetan, daß und warum es so gut wie gar keine Erfolgs- I '»ussicht bietet, in letzterer Beziehung den entsprechenden I Gegenbeweis anzutreten. Das Gesamtergebnis dieser Unter- w auehungen ist, daß die In unendlich vielen Lehrbüchern und (Abhandlungen vorgetragene Klau sei theorie als jeder festen |4Jnterlftge entbehrend gelten muß, d. h. es ist wieder einmal («ach einer Spezi al rieh tu ng hin der Nachweis erbracht, wie lihegründet Jellineks' Klage ist, daß „in den Systemen P-des Völkerrechts noch immer das alte Naturrecht seine l^wohlbekannten Orgien feiert".
In der Tat ist das der schwerwiegendste Fehler, der
6t;
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der WiBaenschait des Völkerrechts im großen und ganzei: heute noch anhaftet, und der es vor allen Dingen ver- schuldet hat, daß sich diese Disziplin bisher so wenig der ihr gebührenden Wertschätzung erfreut. Hierin ist eine allmfihliche Besserung nur dann zu erwarten, wenn jene in weiser Selbstzucht allgemein dazu übergehen wird, sich von Haus aus strikt auf Darstellung bloß der objektiv gültigen International normen zu beschränken, dagegen auf alle sub- jektiven Ilaisonnements grundsätzlich zu verzichten. Zu diesem Zweck ist aber unbedingt erforderlich, daß die Wissenschaft bei jeder einzelnen Norm ', bevor sie dieselbe als wahrhaft gegeben statuiert, in eingehender und mühe- voller Untersuchung des von den Staaten p faktisch -ge wohn- heitsmfißig beobachteten Verhaltens zeigt, daß sie aus dem Willen der letzteren und nur dieser als spezifische Rechts- norm hergeleitet werden kann. Verföhrt man streng nach diesem, selbstverständlich ausgebreite tstc Geschichtskennt- nisse voraussetzenden Prinzip , scheidet man rücksichtslos alle SKtze aus, bei denen weder direkt noch auch nur mittelbar, durch zwingenden Analogieschluß usw., eine der- artige Intention der zur positiven Rechtssetzung allein be- fugten Potenzen wirklieh sich dartun läßt, so wird gewiß rein äußerlich das System des Völkerrechts Überaus xa- sammenschrumpfen. Aber was es hier verliert, das gewinnt es überreichlich in anderer Beziehung, denn mit einer Methode, die ,sich bemüht, den Wegen nachzugeben, auf denen das Heale lebend sich bewegt" ", wird schließlich zu einem gewissen Bestände objektiv nachgewiesener und all- gemein anerkannter Normen zu gelangen sein, wogegen die subjektiv -naturrechtliche Methode immer nur im Kreise hemmführt. Gerade die letztere aber wird eben leider noch immer, bewußt oder unbewußt, überwiegend zur Anwendung gebracht: statt durch sorgfllltige Erforschung des historisch
' Abgecehen natürlicL voa den, selbst heute noch ^ertiiiltuisaiittig ■elteneii Fallen, in ilenen eioe ausdrücklicb erfnlgtc RegelBBtEung vorliarl ■ Stoerk, Znr Meüindik des effimtlicheii RechM (1686), S. 8.
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gegebenen Erfahrungsmaterials klarzulegen, was die völker- rechtlichen Subjekte selber als von ihnen juristisch gewollte Verkehrsnormen dargetan haben und was nicht , hat man das System derselben nur zu oft, bestenfalls unter nach- träglicher Hinzufügung einer leichten „geschichtlichen Retouche^", bloß nach subjektiv vernünftig scheinenden Gesichtspunkten zu gewinnen und auszubauen gesucht, uneingedenk des L e s s i n g sehen Wortes, „wieviel andächtig Schwärmen leichter als gut Handeln ist".
^ «toerk, a. a. O., S. 34.
5*
Dritter Abschnitt
Die eminente Gefährlichkeit der spezifisch- jnristiscli verstandenen Klansei.
§7-
Durch die Ausführungen der §§ 4 — 6 ist gezeigt worden, daß die clausula rebus sie stantibus für den derzeitigen Status jedenfalls noch keinen Bestandteil der positiv- gültigen Völkerrechtsordnung darstellt. Indes das auch zugegeben, so wäre damit natürlich über die zukünftige Gestaltung noch gar nichts ausgesagt: es wäre möglich, daß dieser Sachverhalt materiell einen empfindlichen Mangel des internationalen Normenkomplexes bedeutete und dem- gemäß de lege ferenda, wie man für innerstaatliche Ver- hältnisse sich ausdrücken würde, seine baldige Änderung zu wünschen und auch praktisch zu erwarten bliebe.
Wie es nun hiermit in Wirklichkeit steht, ob tatsächlich die Klausel Aussicht hat, die ihr vorläufig bestimmt fehlende formale Sanktionierung durch die Staaten späterhin noch beigelegt zu erhalten, das ist natürlich eine Frage, die nicht mit voller Sicherheit beantwortet werden kann; immerhin ist ein recht wertvolles Indizium vorhanden, welches, zum mindesten für die nächste Zukunft, ihre Aussichten so ziemlich gleich Null erscheinen läßt.
Hinsichtlich der meisten, erst neuerdings entstandenen Völkerrechtsnormen vermag man nämlich übereinstimmend
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die Beobachtung zu niaclien, daß dieselben lange Zeit, be- vor sie generell als solche formuliert und ausgesprochen wurden, zunächst von konkreten Parteien ad hoc vereinbart zu worden pflegten. Um das durch ein einzelnes Beispiel zu illustrieren, so hat jetzt bekanntlich infolge der auf der Haager Friedenskonferenz beschlossenen (5.) Konvention „pour le reglement pacitique des conflits internationanx" die Idee der schiedsgerichtlichen Streitschlichtung zwischen Staaten eine gewisse allgemeine, wiewohl sachlich höchst verklausulierte Anerkennung gefunden. Aber schon ehe dies formell vollzogen war, durfte man mit Bestimmtheit darauf rechnen, daß es über kurz oder lang zu einer der- artigen Einigung kommen würde. War doch ganz abgesehen von den vielen erst hinterher, nach bereits ausgebrochenem Konflikt, der schiedsgerichtlichen Regulierung überwiesenen Fällen, die sogen, kompromissariache Klausel, d. h. die Verpflichtung, alle aus dem betreff'enden Traktate sich etwa ergebenden Streitigkeiten arbiträr entscheiden zu lassen, schon in den Text zahlreicher Handels- und Freundschafts- verträge', des Weltpostvereins, der Brüsseler An tisklaverei- akte UBW. usw. eingerückt worden. Wäre nun Entsprechendes auch ftlr die clausula rebus sie stantibus nachweisbar, mit anderen Worten ließe sich zeigen, daß häutig in Einzel- traktaten von den Kontrahenten expressis verbia verabredet wurde, jene sollten durch wesentliche Veränderung der Um- gtände ihre Oültigkeit verlieren, so würde zweifellos auch ihr ein günstiges Prognostiken hinsichtlich einer spateren All- gemeineinführuog ins positive Völkerrecht zu stellen sein. Denn indem die betreffenden Parteien sich ausdrücklich für die Aufnahme entschieden, trat darin offenbar jedesmal eine entschiedene Überzeugung des Inhalts zutage, die Klausel sei als sachlich angemessen und empfehlenswert anzusehen; wenn aber eine solche Auffassung erst einmal in concreto
I' Bei. dieser vgl. die Anicsben v. Helles io Holtxendarff* Baadbach des VSlkemwbts, Ul, 8. 253 ff,
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mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu konstatieren ist, dann wird aller Voraussicht nach auch die grundsätzliche und generelle Anerkennung nicht mehr allzulang'e auf sich warten lassen.
In der Tat sind derartige Stipulationen praktisch wieder- holt vorgekommen. Zum Beleg soll hier auf ein historisches Vorkommnis aus dem 18. Jahrhundert etwas näher ein- gegangen werden, welches in verschiedenartiger Hinsicht recht lehrreich ist.
Als Ende des Jahres 1740 Friedrich der Große in Schlesien einfiel, suchte die Hauptstadt Breslau von Anfang an zwischen den kriegführenden Parteien eine mittlere Stellung einzunehmen ^. Demgemäß verweigerte sie, gestützt auf ein altes ihr zustehendes Privileg, das sogen, jus prae- sidii, zunächst die Aufnahme einer österreichischen Be- satzung und wünschte dann auch von Preußen die An- erkennung ihres Standpunkts der Nichtbeteiligung zu erlangen. Das glückte ihr auch tatsächlich durch den am 3. Januar 1741 zustande gekommenen „Neutralitätsvertrag** * mit König Friedrich, kraft dessen der letztere ihr überaus günstige Bedingungen wie Freiheit von Kontributionen und Leistungen aller Art, Nichtbesetzung durch preußische Truppen usw., bewilligte. Der Fülle dieser Zugeständnisse gegenüber, die den Breslauer Ratsherrn das glücklich zu- stande gebrachte Werk geradezu als „Meisterwerk der Diplomatie" erscheinen ließ, hatte Friedrich der Große zu seinen eigenen Gunsten nur eine einzige Bestimmung ge-
^ Näheres hierüber s. bei Grünhagen, f, Friedrich der Große und die Breslauer in den Jahren 1740/41", S. 59 ff.
" Daß unter den gegebenen Verhältnissen genau genommen diese völkerrechtliche Bezeichnung keine Anwendung: hätte finden dürflBn, ist klar, und auch bei den preußischen Unterhändlern stieß sie ursprünglich auf schwere Bedenken: erst der König selbst, der hier wie überall nur auf das Sachliche Gewicht legte, hat die gemachte Proposition endgültig akzeptiert (cf. Grünhagen, a. a. O. , S. 77). In Wirklichkeit konnte auf den ganzen Furmalskrupel wenig mehr ankommen, nachdem man sich einmal entschlossen hatte, eine einfache Territorialstadt zur Paktiemng über militärische politische Dinge, d. h. durchaus anomaler Weise als internationales Vertragssubjekt überhaupt zuzulassen.
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troffen, allerdings eine solche, daß er sofort mit vollem Recht seinem Kriegaminister achreiben durfte: „Brealau gehört mir'"; er hatte nämlich den ihm vorgelegten Vertrag bloß mit der Klausel unterschrieben: „bei den jetzigen Konjunkturen und so lange dieselben dauern werden". Was das zu bedeuten hatte, wurde den Brealauern erst klar, als nach wenig Über einem halben Jahr der König plötzlich erklärte, es müsse jetzt mit der Neutralität ein Ende haben, und sich am lO. August 1741 der Stadt durch raschen Handatreich bemächtigte. Formell rechtlich war gegen dieses Verfahren, man mochte im übrigen über dasselbe denken wie man wollte, nichts einzuwenden, denn daß die früheren „Konjunkturen" nicht mehr bestanden, nachdem mittlerweile die Mollwitzer Schlacht von den Preußen gewonnen und auch sonst noch vieles anders geworden war, konnte von niemandem in Abrede gestellt werden.
Eine derartige ausdrückliche Stipulierung der clausula, wie sie in dem eben geschilderten Vorkommnis aus dem ersten schlesischen Kriege zutage tritt, würde nun auch sonst mehrfach noch nachzuweisen sein. Dabei ist es je- doch sehr charakteristisch, daß diese Fälle eigentlich durch- weg Perioden angehören, die schon verhältnismäßig weit zurückliegen ; je mehr wir uns der Gegenwart nähern, desto seltener werden sie ', und was den heutigen Stand der Sache betrifft, so können sie wohl kaum noch, wenigstens soweit meine Kenntnis des einschlagenden Materials reicht, aul nennenswertes praktisches Vorkommen Anspruch erheben. Hieraus ist oifenbar der Schluß zu ziehen, daß die Staaten zurzeit kein wesentliches Bedürfnis, die Klausel in formeller Rechtskraft zu sehen, empfinden, und es wird demgemäß auch die Aussicht auf baldige Einführung derselben als Äußerst geringfügig zu bezeichnen sein.
' Übri^ns sind sie aueh m Älterer Zeit nie gereAe allnu häufig gewesen, weshalb ex auch eine entschiedene Übertreibnng iat, wenn WfaartuD um oben S. 11 angef. Orte die Uebauptung an&l«llt: In t of tbe nid treaties were inserted the „clausula rebus sie itantibus*.
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Ja, man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehet und auf Grund des historisch gegebenen Sachverhalts jede" juriatisclie Sanktionierung der clausula überhaupt für end- gültig und alle Zeit ausgeschlossen erachten: man könnte den Umstand, daß in trüberen Epochen tatsächlich eine gewisse Neigung zur konkreten Statuierung derselben vor- handen war, daß aber gegen die Neuzeit hin diese Tendenz unverkennbar immer mehr abgenommen hat, recht gut da- hin ausdeuten, daß die Staaten bei nüherem Einblick in die Verhältnisae die Klausel als materiell schädlich und gejähr- lioh erkannt haben und folglich präsumtiv niemals mehr Lust spüren werden, ihre generell-rechtliche Satzung vor- zunehmen.
Von dieser Argumentation wäre zum wenigsten so viel ganz richtig, daß wirklich schwerwiegendste Gründe vor- handen sind, die den Staaten auf die Dauer und unter allen Umständen einen solchen Schritt widerraten müssen; nur unter vollständiger Verkennung der wahren und eigentlichen Bedürimsse des internationalen Verkehrs wären sie imstande, der von der Theorie solange schon gegebenen Anregung Folge zu leisten und die clausula rebus sie stantibus prak- tisch unter sich einzuführen.
Machen wir uns klar, von was fUr Erwägungen die Völkerrechts Wissenschaft bei ihrer Befürwortung dieser Norm geleitet wurde, welche Vorteile sie mit Hilfe derselben SU erreichen suchte. Ihren Ausgangspunkt nahm sie von der Feststellung, daß die Staaten als eines der wichtigatea Prinzipien ihres wechselseitigen Verkehrs die Regel Pacta sunt servanda positiv -juristiscb statuiert haben'. Man machte jedoch bald die Wahrnehmung, daß die strenge und
I Daß uud warum die Dnktriii mit dieser Annatime ganz du Richtig trftf, inwiefeni mau keineüiregx mit Gareis (IuBtitutioiien des Velkerrechls, 2. Aufl., S. 34, aacb S. ITü) aur Konstniktiun jeses Satsw bluß auf dea bedenklichen Weg des jus necessarium, des „notweDdigen" VBlkerreobt« angewiesen ist, »ondern ihn direkt auf den Willen der « intemationaleu NomiHctiatfung befugen Subjekte xa »tütüen vermag, d im Hnxelnen ^a zeigen, muli freilich einer anderen Gelc^nbeit t behftllen bleiben.
auBi] ahm alose Durchführung der letzteren hin unt! wieder zu zweifellosen Härten führte, daß die Norm manchmal auf Tatbestände stieß, für die sie mtchlich offenbar nicht mehr recht paSte und geeignet war, und bei denen folglich dem natürlichen Gefühl gerade die Nichterfllllung des Vertrags viel angemessener vorkam als die normalerweise zu fordernde strikte Erfüllung'. Diesem Ühelstande sollte nun dadurch abgeholfen werden, daß man der ersten abstrakten Regel eine zweite beschränkende hinzufügte, ausführlicher gesagt : man wollte den Satz Pacta sunt servanda prinzipiell in lebendig-juristischer Geltung erhalten, gleichzeitig aber aueb durch eine feinere und speziellere Ausbildung des objektiven Rechtssystems den Vorteil gewinnen, daß er sich fortan nur noch innerhalb der Grenzen seiner materiellen Recht- fertigung betätigen, dagegen auf außergewöhnliche Fälle — wie die vorhin angedeuteten — überhaupt nicht mehr er- strecken könne. Dieses letztere Ziel — das muß rückhalt- los zugestanden werden — würde allerdings mit Hilfe der clausula aufs wirksamste erreicht sein; es wäre mit ihr wahrlich ausreichend dafür jjesorgt, daß dem Verpflichteten gegen jede Überspannung des Grundsatzes der Vertrags- treue ein juristisches Verteidigungsmittel zu Gebote stünde. Leider aber auch nicht nur und ausschließlich gegen Über- spannung, sondern praktisch gegen jede Anwendung der obersten und Prinzipalnorm Pacta sunt servanda überhaupt; mit anderen Worten, man hätte über der Erreichung de» zweiten Ziels das viel wichtigere erste allzusehr außer Acht gelassen, dergestalt, daß die vermeintliche bloße Exemtion in Wirklichkeit direkt zur „Inanisierung"* sämtlicher Ver- träge ausschlagen könnte.
- Zur Erläut^^rung sei aa duE bekaimte und vielffebmacble Schul- beispiel erinnert, duä der Staat A dem Staat B für jeden Kriegafall ein bentimmten Uilt'gknDttnRent versprachen hat, dnB aber der casus foederia
B geradd lu einer Zeit eintritt, wo er seinerBeitx mit äem Staat L' sich in
B Kampf befindet und alBo lämtliche militärischen Kräfte weit noC<*'endiger
^B ffir Hieb selber braucbt
H ' Vgl. V. Uulmerincq, Völkerrecht (im Handbuch des BSentlicben
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Um das des Näheren klarzulegen, bedarf es kurzen Hinweises auf die völlig eigenartige Struktur und Beschaffenheit dea Völkerrechts soivie der hieraus sich e gebenden, von seinem Wesen unzertrennlichen Mängel Der internationale Verkehr wird anerkanntermaßen von keiner selbBtandigen Oberpotenz, von keiner die Vielh« der Einzelstaaten zur höheren Einheit vorbindenden Sozial gewalt beherrscht. Daraus folgt neben anderen, hier weniger in Betracht kommenden Punkten, dem Fehlen einer inter- nationalen Legislative, einer durch spezifische Gemeinschafts- organe gehandhabten Zwangsverwirklichung des Rechts, ina- besondere auch dies, daß tlir die Anwendung der abstrakt- juristiachen Normen auf den konkreten Einzelfall keine autoritäre, unabhängig von der Anerkennung durch di^ jedesmaligen Parteien fungierende Richterinatanz zur Ver^j fUgung steht*. Der Schluß, der aus der vollständigen Ab- wesenheit der letzteren für eine gesunde internationale Rechtssetzungspolitik zu ziehen ist, kann natürlich nur der sein, daß von vornherein gleich die abstrakten Regeln so gehalten werden müssen, daß sie das Eingreifen einer in concreto erst entscheidenden Stelle möglichst wenig ver- langen und erforderlich machen: deutlicher ausgedruckt, für jede praktische Brauchbarkeit internationaler Normen bleibt die unerläßlichste Voraussetzung stets die, daß eie ao einfach, so präzis, so unmißverständlich wie nur irgend angängig formuliert sind und folglich den beteiligten Partei« bei voller bona fides derselben ganz selten, am liebsten ni(
Bechu I, 2; 1384), S. 302. Eine ülmliche Weudmtg auch bei Uareii. der, trotzdem er prinzipiell ein AnbKnger der Klausel ist, ea offen ana- cpricht, daß „bei einer l&xen Interpretation die graÜe Ge&lir vorlicgtil das Yertragarocht überbaupt ku unterminieren und nach der andenT iUchtung hin unhaltbare Verhältnisno üu sciinffen" (n, a. O., 8. 213),
' Vgl. iu der ganaen Sache die AoBfrihrungen von Brie, '. der Staatenrerbindnogen, S. 42 ff.
* Daß hieran gelbst die ausgcdehnteute Akzeptierung der 6
gericbt«idee gmndsätzlich nichts ändern konnle, lie^ auf der Hand, eb«. «eil et sich dabei immer am bloße Schiedsgerichte handeln würde.
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AnlaS zu Zweifeln über ihr Zutreffen oder Nichlzutreffen geben können ',
Dieser ersten und notwendigsten Bedingung tut aber gerade die clausula rebus sie stantibus nicht im Entfern- testen Genüge; sie gehört zu einer Gruppe von Normen, die wohl im innerstaatlichen Recht, nie und nimmer aber für den istemationalen Verkehr wahrhaft ersprießliche Dienste zu leisten fkhig ist. In ersterem lassen sich Kegeln genug aufzeigen, die jener nach Anlage und Gesamtcharakter ganz ähnlich sind, aber anders wie sie sich auf ihrem Ge- biet praktisch durchaus bewähren. Greifen wir z. B. § (i2(i des Bürgerlichen Gesetzbuchea für das Deutsche Reich heraus^, in dem es folgendermaßen heißt: p,Das Dienst- Terhältnis kann von jedem Teil ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn ein wichtiger Grund vorliegt." Die äußerlich -formelle Analogie, die dteae Ordnung eines innerstaatlichen Verhältnisses zu dem von uns behandelten internationalen Problem aufweist, ist offenkundig und bis ins einzelnste gehend. Beidemal wird ausgegangen von der Anerkennung einer allgemein und un- beschränkt lautenden Norm, hier des Satzes Pacta sunt ser- vanda, dort der Regel, daß kein Dienstverhältnis anders als nach genau fixierter, im Detail wieder verschieden normierter^ Kündigungsfrist aufgelöst werden kann; darauf sucht man noch, gleichfalls völlig übereinstimmend, etn-aigen außergewöhnlichen, unter die Schablone nicht passenden Füllen juristisch gerecht zu werden und bestimmt daher, daß eine wesentliche Veränderung der Verhältnisse den internationalen Traktat, ein wichtiger Kündigungsgrund
^ üchoii der Temuch, feiner ausgebildete Internatiunalnornieii 8uf- zuslellen, »tflßt auf Schwierigkeit und filhrl lur gleiclieeitigen Ver- klauBuliemiig, (He die praktJBcbe Bedeutung der neuen Bechtsa&tKe alab&ld wieder in Frage stellt. Han bedachte die vieldeutig'en Bedingungen Lvronn die Umstände es gestatten werden" '.) im Haagfer Abkommen *oin ^. Jnli 1899 (Denlsches RG.BI. 1901, ä. 393). S. aueb Garei« 8.303.
* Andere Beispiele bei Stamm ler. Vom riehtigen Hechte, 8.562ff.
» Cf. B.G.B. S G20 ff.
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das private Dienstverbältnia sofort aufheben soll. Hierbä" ist ganz gewiß das zweite Mal die einschränkende Norm an sich nicht präziser ausgefallen als das erste Mal; viel- mehr setzt die eine wie die andere noch schärfere, erst in concreto vorzunehmende Detail feststellungen voraus. Blofi daß das eben im innerstaatlichen Recht nach Lage der Dingn nicht schadet, weil ja dieses die vorläufig noch mangelnde nähere Erläuterung jeden Augenblick nach zubrio gen im- stande ist: sobald die Parteien in einem einzelnen Falle ver- üciuedener Ansicht Über die Wichtigkeit einea KUndigungs- grundes sind, wird die unbedingt maßgebende Entscheidung durch den zuständigen Richter und in ihm durch den realen Gemeinschafts willen selber getroffen. So ist es einzig die stets vorhandene letztere Möglichkeit, wegen deren die staat- liche Gesetzgebung sich gestatten darf, prinzipiell aufgestellte Normen durch unbestimmt gehaltene Ausnahmssätze zu durchbrechen, ohne befürchten zu mUiisen, daß jene durah diese praktisch ganz aufgehoben und illusorisch gemacht werden.
Wie anders im Völkerrecht. Da hier ausschließlich die Parteien selbst Richter darüber sind, ob die einzelnen Normen auf den gegebenen Fall zutreffen , so ist eo ipso jede Formulierung derselben zu verwerfen, die durch Ver- wendung gänzlich vager Unterschiede wie „Wesentlichkeit" und gUnwesentlichkeit" der Veränderungen zu auseinander- gehenden Auffassungen geradezu herausfordert'. Selbst
' Dar gesamte hier verfolgte Gedsakongaiig berührt Hidi in ge- wJBHem äiDue mit ialeressanten AuafQhmngen, die uaoh eiuer andecoi Richtimg hin Bierliue gegeben hat. Dieser |JuriBtinche Prinztpieti- lehre, Bd- 11 (1898), S, 37 ff.) warnt mit allem ßeuht rlavor, „völlig; nicbu- »agende Aasdrücke" zu gebraiicben, „die nur dem veratändlich Bind, der bei ihrer Verwendung eine beHoudere Erkliruog sur Seite hat". Nun heaiehen sieb ja allerdings Bierllngs Bemerknngen auf theoretisd- wiiienachaftliehe Arbeiten, wÄbrend wir es mit einer Frage der praktitohcn Bechtaausgestaltung KU tun balien; trotüdem lassen sich aber beide FTUIe inaofem uuter einen Remeinsaaieu Üesiuhtspunkt bringen, weil der tieftte Grand, wamm sowohl die atigemeine Kechtswiasenschafc wie das poaitJT gesetcte Völkerrecht auf derartig Tieldeutige Wendungen vtrziehten müssen, in dem hier nie dort vorhandenen Mangel einer die leeren fiüUen nadi
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■ wenn wir, entsprechend den S. 20 ff. gemachten Festatel- " hingen, die rein formale Begriäsbestimmung durch einen Versuch der materiellen ersetzen, wenn wir anstatt der viel- fach bloß verlangten essentiellen, wesentlichen, fundamentalen Umgestaltungen solche fordern, vermöge deren jetzt eine ErtMUung des Vertrages nur noch unter Gefahr düng der höchsten Staatsinteressen mög- lich bleibt, selbst dann ist an Präzision kaum viel gewonnen, denn was kann nicht alles auch unter diese Fassung noch eingereiht werden! Daraus erhellt, daß die praktische Ein- führung der Klausel sofort zu einer ununterbrochenen Kette von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Staaten führen müßte: auch ohne jede böae Absicht, ganz von selbst und unwillkürlich, wird der Berechtigte stets zu einer möglichst restriktiven, der Verpflichtete umgekehrt zu einer möglichat extensiven Auslegung der clausula neigen und Niemand ist da, der den Streit für beide Teile bindend zu schlichten vermöchte. Daß gerade in letztgenanntem Punkte und nur in ihm der eigentliche Sitz der Schwierigkeit getroffen wird, darauf gibt es auch noch eine überzeugende praktische Probe. Sobald nämlich eine Anzahl völkerrechtlicher Ver- kehr ssubjekte ausnahmsweise doch durch eine dauernde Sozialorganisation zur korporativen Einheit verbunden ist. sobald über ihnen ein direkt für sie maßgebender Oberwille existiert, verliert die clausula sofort wieder ihre prinzipielle Bedenklichkeit. Denn bei solcher Lage der Dinge, die übrigens meines Erachtens nicht bloß für den, "freilich in erster Linie zu nennenden Bundesstaat', sondern auch schon für den einfachen Staatenbund angenommen werden muß, erdffnet sich jetzt, genau wie ira innerstaatlichen Recht, die Mügtichkeit, eventuelle Streitigkeiten der Mitglieder durch ein besonderes Gemeinschaftsorgan entscheiden zu lassen;
Bedarf mit konkretem Iiibatt bemht.
' Bw. diesei vgl, die Darlegiingei lÄDdesrecht, S. CK ff.
itullenden Erkiriniiigs- und IliltiiinatBiiE iejiBl. Völken-Bcht und
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dieses vermag doiin von sich aus, unabhängig von den Parteien, die Bedeutung aller inzwischen eingetretener Ver- änderungen objektiv prüfend zu würdigen und so der Ge- fährdung der Vertragssicherheit wirksam vorzubeugen'.
Wenn schon die im Vorstehenden niedergelegten Er- wägungen die positive Einfügung der Klausel in die inter- nationale Rechtsordnung unrätlich erscheinen lassen, so gilt dies in noch ungleich höherem Mafie unter einem anderen Gesichtspunkt. Wir haben das Problem bisher stets nur nach der Seite erörtert, daß die Staaten, die praktische Gültigkeit jener einmal angenommen, selbst bei voller bona fides, beim besten Willen, immer nur streng rechts- gemäß zu verfahren, fortwährend in unlösbare Meinungs- verschiedenheiten über die Tragweite der clausula geraten werden, dergestalt, daß man wahrscheinlich bald bei den allerwenigsten Verträgen noch ihres gänzlich unangezweifel- ten Fortbestands gewiß sein könnte. Hierzu tritt nun aber noch der viel bedenklichere Umstand, daß die Klausel ein überaus bequemes Mittel bietet, hinter dem jederzeit auch der bOse Wille, der dolus malus, Deckung zu finden vermag.
' Rei'hl iiutruktiv ist id dieser Rinsicht oin Vorkommnis iwiscbeu zwei eidgenSssischeu KmiloDen, ilber welches in Blumer-Horels Huidbucli des Schweizer llundesstaatBrechts (Itd. 1,8. AuÜ- ISßl, S. 231 ff, ; Bd. 111. S. Aufl. 1Ö8T, S. 35«. 369 ff.) auofübrlicli beriuhtet wird. Es liMidelte sich dabei um einen im Jahre 1830 «wiscben Lustini und Aargau sbgeschloSHenen Vertrag, knift dewen emU^ror Knnton dem letxterea die Vomabin« gewisser ateaerhoheitlicher .\k(e auf seinem Territorinm au- gestand. Dieser Verpäiobtung, die man tbeoretiach als äerritul, al« iStnatsdienstbnrkeit kuDstruiurte, sachte sich Luxem spater zu entledigen und priff deshalb, nacbdom frühere sjidersartige Versuche fehlg«SFhlNgeli waren, 1888 einfach zur Kündigung d«s Traktats, worauf Aargau die Sache vor das II und enge rieht brachte. Letiteres (cf. Bundesgericbtliche Entscheidungen Vllt, S. 55 ff.) erkannte auch in der Tat an, daB viel- leicht nnler bestimmlen Voraussetxuogen eine einseitige Kandigung kantonaler Verträge prinzipiell lulfissig sei, Dämlich dort, wo „ihr Fort- bwtand mit den l^^bensbedin^ngeu des verpflichteten !Jt*ata als selb- stindigen Gemeinwesens oder dessen wesentlichen Zwecken anvereinbar sei, oder wo eine Veränderung solcher Umstände eingetreten ist, welche nach der erkennliaren Absiebt der Parteien lur Zeit Ihrer Begrindung die stillschweigende Bedingung ihre» Bestand» bildeten" ; gleichseitig entschied es jedoch . daß im gegebenen Einxelliille nicht? dergleichen vorliege, und verw«rf deshalb die Liuemer Kändigong als lubi^rCnilnt
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Um zu zeigen, daß mit ihrer Hilfe zur Not selbst der be- kannteete und schlimmste Wortbruch formell sich recht- fertigen läßt, daflir gewährt uns ein recht schlagendes Beispiel die alte Geschichte. Durch das Versprechen einer großen Geldsumme hatte der letzte König von Macedonfen, Peraens, den illyrischen Fürsten Genthios dazu bewogen, sich mit ihm zu verbinden, die gerade an seinem Hofe be- tindliehen römischen Gesandten einzukerkern und so definitiv mit Rom zu brechen; nachdem das aber wirklich geschehen war, „fand der sparsame König es überflüssig, die zuge- sicherten Gelder zu zahlen, da Genthios nun allerdings ohnehin gezwungen war, eine entschieden feindliehe Stellung gegen Rom einzunehmen'"'. Hätte Perseus schon von der modernen Errungenschaft der clausula rebus sie stantibus Kenntnis gehabt, so wäre es ihm gar nicht so schwer ge- fallen, diesem schmählichen Vertrauensmißbrauch ein juri- stisches Entschuldigungsmäntelchen umzuhängen. Denn daß das Verbalten des Genthios eine fundamentale Ver- finderung der ganzen Sachlage herbeigefuhrt hatte, war ja über allen Zweifel erhaben, und auch an dem er- forderliehen Konflikt mit den obersten Staats- interessen fehlte es insofern keineswegs, weil doch zu diesen der Besitz möglichst großer Geldmittel unbedingt gleichfalls zähltl
Ganz ähnliche Konsequenzen, wie sie hier an der Hand eines geschichtlichen Einzelbeispiels entwickelt worden sind, würde aber die Klausel so ziemlich überall und bei der Gesamtheit der internationalen Vertragsbeziehungen hervor- rufen; immer und immer wieder könnte sie dazu ausgenützt werden, bei dolos-willkürlichen Traktataufhebungen eine Art
> Homms«ii, K^miscbe Geschichte (7. Aafl. IB^l) I, 8. 767. Der antike Bericht über die Sache steht bei Livius (XLIT, 27) und lautet: „GentiuB, eiigua parte pocimiiie accepta, quam adaidue a Fautancho ad lacetiseadOB hostiti fHoti) Romanos süinularetur, M. Perpemain et L. Petilliunt legsloi, qui tum forle ad eiun venorant, in costodiam uoDJecit. Hoc audito, Persea», conlraiiaae eum aecessitaten ratus ad beüum atiqne cum Komanis, ad revociudiuii, qai peouniain portabat. misit.''
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rechtlicher Begründung vorzutäuschen. Das ist aber um deswillen unendlich gefährlich, weil auf diese Weise eine der festesten Stützen des Völkerrechts untergraben wird. Einer oft gemachten Beobachtung zufolge sind heutzutage im Allgemeinen die Staaten selber sorgfältig bemüht, nicht in offenen Widerspruch zu anerkannten Normen der inter- nationalen Ordnung zu treten, resp. wie Bismarck^ es aus- drückt, die Bereitwilligkeit zum zweifellosen Rechts- bruch pflegt auch bei gewalttätigen Regierungen nicht vorhanden zu sein." Nun liegt es aber auf der Hand, daß diese halb instinktive Scheu vor der nackten, unver- hüllten Rechtswidrigkeit wesentlich abgeschwächt werden mufi, sobald man durch sachlich schwer präzisierbare Exzeptionalbestimmungen den Parteien Gelegenheit gibt, mit gewandten Deduktionen das konkrete Zutreffen der einzelnen Normen fort und fort anzuzweifeln und so den formalen Rechtsboden, den äußeren Schein des Rechts immer festzuhalten; speziell auf unsern Fall angewandt, es macht einen gewaltigen Unterschied aus, ob der einen Vertrags- bruch planende Staat sich genötigt sieht, mit brutaler Offen- heit wider die oberste Regel Pacta sunt servanda zu ver- stoßen, oder ob er in der Lage ist, sie prinzipiell vor wie nach anzuerkennen und sein Vorgehen durch die Berufung auf einen hier angeblich Platz greifenden Ausnahmesatz zu begründen.
Wie überaus günstig, ja beinahe unangreifbar die Situation sich für ihn im letzteren Falle gestaltet, das wird praktisch in hellstes Licht gerückt durch einen geschicht- lichen Vorgang, den wir bereits in § 5 herangezogen haben (oben S. 49 f.). Als der russische Kaiser während des deutsch-französischen Kriegs sich von der ihm 1856 aufge- zwungenen Neutralisier ung des Schwarzen Meers lossagte, ging das Bestreben Englands zunächst natürlich dahin, das als eine flagrante Verletzung des Grundgesetzes von der
^ Gedanken und Erinnerungen U, S. 247.
n 1.
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Vertragstreue zu churnkteriaiereQ. Rußland wich dem jedoch einfach dadurch aus, daß es von vornherein jede gegen diesen gericiitete Intention in Abrede stellte; es erklärte wiederholt und aufa Feierlichste (Mituoterzeichnung dos Londoner Protokolls vom 17. Januar 1871!), daß ea auch seinerseits von der Heiligkeit des einmal gegebenen Worb» durchdrungen sei, nur erleide nach völkerrechtlichen Theo- remen (die ea in diesem Falle zu acceptieren für gat fand) Ata Prinzip unter gewissen Umständen eice Durchbrechung, die selbst wieder juristisch sanktioniert sei. Indem es nun in concreto das wirkliche Gegebensein eines derartigen Falles behauptete, war die Sache äußerlich, wiewohl es sich dabei notorisch um den „schlimmsten Rechtsbruch" ' handelte, in nicht zu widerlegender Weise auf eine bloße Divergenz in der beiderseitigen Auffassung und Auslegung, des objektiv gegebenen Rechtszustandes hinausgespielt, eine Divergenz, die eelbstverstAndlich wegen des völligen Mangels eines internationalen Richters der formell-autoritären Schlichtung genau so unzugänglich war wie jede andere, ganz bona fide '«Dtetandene auch. —
Wir stehen am Schlüsse der über den rechtspol itiachen 'Wert oder Unwert der clausula rebus sie stantibus entscheiden- den Betrachtungen. Werfen wir einen zusammenfassenden IHUckblick auf das gesamte in § 7 enthaltene Material, so wird schwerlich noch ein Zweifel darüber möglich sein, daß das Urteil über sie schlechthin verwerfend ausfallen muß; man kann nur durchaus der Ansicht beipttichten, die, eben Während der letzterwähnten Pontusangelegenheil, ein prak-
• Herfter-Geffckeii, Europäisches Völkerrecht, S. 21(i, N. 5.
' BuBlnnd lediglich ^die Üunsl der poli tischen Sitnatiuii he-
d war", gab es während der Londoner Konferenzisn inaplicite
nmal insofern «n, xl« e« unter den seit 1856 eingetretenen „Ver-
" anch den Stan des franzSsUehea Rniserreichs mit anrührte
>Bt. N.K.G. XVin, S. 279). Dm bieK doch wirklich dem
ien OroHbritauuien ge^euüber lum Scbadea noch difn l^pott
; denn dieties konnte jn hierin nur eine ahaiuht liehe Erinnernng
ie Tabiaohe erblicken, daH es früher einen mäcbtig'en ftuDdeB^nomen
B gehabe, jetzt aber ihn verloren habe.
Stalte u. •alkerrsobtl. Abhuidl. VI L. - SalimMt. 6
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VI 1.
tiächer HtaAtsniann ^ daliin foroiuliert hat, daß jede allge- meinere Anwendung derKlauael geradezu zerstörend und zer- setzend auf die Vertragsaicherheit überhaupt einwirken würde. Und zwar hat daB mvht etwa blos für jetzt und die nächste Zukunft, sondern ganz unbeBchränkt zu gelten : wir haben ja geächen, daß die Sache in tiefster und letzter Wurzel mit der grundaätzlich nie ablegbaren Eigenart des Völker- rechts als solchen zusammenhängt. Wie die Dinge einmal liegen, muß letzteres es sich unbedingt versagen, nach dem Muster des innerstaatlichen Rechta auf möglichste Voll- ständigkeit und feine Detailauaarbeitung des juristiBchen Systems auszugehen; es bedeutet für dasselbe einen gefähr- lichen Luxus, die obersten und unentbehrlichsten Prinzipien des wechselseitigen Staaten verkehr» mit mannigfach ver- zweigten Ausjmhmsfestsetzungen zu Uberspinnen ^. Denn in demselben Maße wie hierdurch die theoretisch befriedigende Geschlossenheit der völkerrechtlichen Ordnung steigt, schwindet anderseits die praktische Brauchbarkeit: die Staaten erhalten auf diese Weise blos einen Freibrief, mit den Normen und Mitteln des Rechts selbst das Hecht beliebig zu verhöhnen.
§8- Man kann der Wissenschaft des Völkerrechts das Zeugnis nicht verweigern, daS sie die große Bedenklichkeit der von ihr aufgestellten Klausellehrc sehr wohl gefühlt und oftmals, freilich durchweg ohne viel Erfolg, versucht hat, Abhilfe hiergegen zu gewinnen. Die Verbesserungs-
< Lord Oraovitle in Reiaer Note vom la November 1870 (vgl. BluntBcbÜ, Modernes Völherrecht, 3. Aufl., S. 257): ,NBch Jener Lehre norde dem individuellen Sonderermeisen einer jeden Vertragspartei anheim- gegeben sein, den g'Bozen Inbnll des Vertrags wieder ihrer Kontrole lu antarwerfen nnd nur so lange gebunden eu «ein, als e» ihm beliebt,'
* Ähnlich, wiewohl ohne jede nähere AuAtfihraiig und Degrändung, Eoltzendorff im UtmdbDch des Völkerrecbtit II (IttäT), S. 53: „Es wäre im höchsten Grade gefährlich, die GrundsätEe oder die intemationHleD Fandainente durch theoTetiscbe Koiifltruktion«n von Ansnahmeu an dnrch- IGchem."
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yorschlüge, tlie zu diesem Zweck gemacht wurden, haben sich auf mannigfache Teile der Gesamttheorie erstreckt.
Als nächstliegendes Mittel bot sich offenbar diea dar, die Art und Beschaffenheit der res mutatae, die durch ihr Eintreten völken-echlliche Verträge juriatiseh aufheben sollten, noch scharfer zu präzisieren, d. h. weiter auf dem Wege fortzugehen, welchen schon die regelmäßige Lehre einschlug, als sie von der Forderung wesentlicher Ver- andenmgeii zu solchen überging, welche den betreffenden Staat in einen EonBikt zwischen seinen eigenen höchsten Interessen und der Pflicht der Vertragstreue hineindrangen. Als Beispiel für diese Richtung kann u. a. auf die Aus- fuhrungen Bezug genommen werden, die v. Liazt in der ersten Auflage ' seines Völkerrechts gegeben hat.
Zunächst und prima facie scheint derselbe zwar zu den prinzipielle» Gegnern der clausula zu zählen, da er^ ganz allgemein sagt: „Die Beliauptuug, daß alle völkerrechtlichen Verträge mit der stillschweigenden Klausel rebus sie stan- tibus geschlossen werden, ist zweifellos unrichtig"; man hat indes zu beachten, daß letzterer »achlich doch eine partielle in integrum restitutio widerfiihrt vermöge des gleich darauf folgenden" Satzes: ^Bei Verträgen, die auf anbestimmte Zeit, vielleicht sogar auf ewige Zeiten ge- BchloBnen sind, ist keiner der vertragsschließenden Teile mangels besonderer Vereinbarung zur einseitigen Kündigung berechtigt, soweit nicht etwa ein Notstand im technischen Sinne des Wortes vorliegt.'" Indem dann der letztere Begrifl' an einer noch späteren Stelle in- haltlich mit der Rücksicht auf die staatliche Selbsterhaltung gleichgesetzt wird', gelangen wir kombinierend schließlich
■ A. ». O., 8. 117. WSrtÜch üLereiMtimmuHd unch iii üirk- meyerB BechtaeuEyblo pädia (1901), ». 1291.
> Völkerrecht, S. 118; auch BevhUeQE.vklnpÄdie, H. 1291.
* S. 129: „Auch diejenigen tichriftiil« 11 er, welche die Anwendtiarkeit dM NotatandsbegriOea im VDIkerreuht ieugneii, gewähren dem bedrohtea
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zu dem Resultat, dafi wenigstens bei Gefährdung dieser Selbsterhaltuug einseitige Vertragsaufhebung rechtlich doch nicht unstatthaft sein solP.
Es ist nicht zu bezweifeln, dafi auf diese Weise theo- retisch eine wesentliche Verengerung der bedenklich vagen Fassung erzielt wird, welche der üblichen und herrschenden Elausellehre, sehr zu ihrem Schaden, eigentümlich ist:
Staat das Recht auf Selbsterhaltan^. Damit ist derselbe Begriff durch einen anderen Ausdruck bezeichnet.
^ In der zweiten, aus dem Jahre 1902 stammenden Auflage (mit der die dritte wörtlich übereinstimmt) hat v. Liszt die betreffenden Partien einer Umarbeitung unterzogen, dergestalt, daß jetzt die Klausel- doktrin bei ihm folgende Form aufweist. Ausdrücklich anerkannt er- scheint sie nunmehr in dem Maße, daß „Verträge, die im Hinblick auf einen bestimmten rechtlichen Zustand und unter Voraussetzung seiner Fortdauer geschlossen sind, einseitig gekündigt werden können, wenn dieser Zustand sich wesentlich geändert hat'' (S. 166), resp. daß (S. 167) „eine Ausnahme von der Norm Pacta sunt servanda insoweit zugegeben werden muß, als der geschlossene Vertrag eine bestimmte Rechtslage, sei es ausdrücklich, sei es stillschweigend, zur Voraussetzung nimmt und diese Rechtslage sich wesentlich veränd^rt^. Büt anderen Worten, V. Liszt schließt sich jetzt grundsätzlich derjenigen Richtung an, die Art und Umfang der eine TraktalsannuUation gestattenden Umgestaltungen nicht nach objektiv generellen Merkmalen, sondern rein subjektiv, im Sinne der in concreto vertragschließenden Parteien, bestimmt wissen will (vgl. hierzu oben S. 20, 36). Nicht völlig klargelegt wird dabei, in welcher Weise das des Näheren zu verstehen ist. Sollte vielleicht nur an direkte, ausdrücklich oder stillschweigend erklärte Resolutiv- bedingungen gedacht werden, so wäre natürlich gegen die diesen zu- geschriebene juristische Tangierung der Vertragswirksamkeit nicht das Mindeste einzuwenden (cf. oben S. 87). Dagegen gestaltet sich die Sache praktisch wieder recht bedenklich, falls etwa — und Ausdrucks- form wie Art der gewählten Beispiele machen das zu dem weitaus Wahr- scheinlicheren — nicht bloß solche, rechtswirksam gleich bei Abgabe der Vertragserklärung hinzugefugte Willensbeschränkungen gemeint sind, sondern auch schon den (nach außen nicht mit hinlänglicher Schärfe markierten, vielleicht sogar den betreffenden Mächten selbst erst hinterher zu klarem Bewußtsein gekommenen) „wahren und eigentlichen Willen^ der Kontrahenten spezifisch- rechtliche Berücksichtigung, und zwar die Einräumung juristischer Befugnis zur Kündigung (s. unten S. 89 ff.) zugedacht wird (hierüber zu vgl. § 15, S. 183 ff., bes. S. 186, Anm. 2). Eine fernere, durch die zweite Auflage an der ersten vorgenommene Modifikation macht sich bez. der Verwendung des subsidiär aucli jetzt noch herangezogenen (cf. 8. 167/168 in Verbindung mit 182/183) inter- nationalen Notstandsbegriffes bemerklich; doch ist in diesem Punkte, anders als bei dem vorhin besprochenen, richtiger keine materielle Ver- änderung des früher Gesagten, sondern lediglich eine formale Berichti- gung (cf. unten § 12, S. 140, Anm. 3j zu erblicken.
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während fUi- diese die politische Selbsterhaltung blos den wichtigsten, aber keineswegs einzigen FhII der in Betracht kommenden „obersten Staats! ntereasen und -zwecke" be- deutet', soll jetzt eine juristisch erlaubte Bezugnahme auf die clausula eben ausschließlich dort eintreten dürfen, wo die ErflllluDg des betreffenden Vertrags unmittelbar die staat- liche Existenz des Verpflichteten bedrohen würde. Indes wenn damit natürlich auch dem unwillkürlich -frivolen Miß- brauch der Klausel gewisse Schwierigkeiten in den Weg gelegt werden, so sind doch praktisch die letzteren nach Lage der Dinge keineswegs sehr hoch zu veranschlagen; denn offenbar vermag mala fides den Gesichtspunkt der not- wendigen Selbsterhaltnng formell gerade sd (und streng juristisch nicht weniger unwiderleglich!) stets vorzuschützen, wie das bei der allgemeiner lautenden Abstellung auf Wahrung der höchsten Interessen schlechthin der Fall ist. Diese Aussicht ist um so bedenklicher, weil die wahrhaft vitalen Existenzbedingungen bei den einzelnen Staaten je nach ihrer Eigenart und Besonderheit als Agrar- oder In- dustrie-, Kontinental- oder Seemacht etc. etc. auch ganz verschieden sind und sein müssen. Wie nahe gerückt er- scheint da die Möglichkeit, daß, nachdem der Staat A — und zwar von seinem Standpunkt aus mit gutem Grunde — die Einhaltung eines Traktats verweigert hat, der .Staat B in einer analogen Lage unter Berufung auf den gegebenen Präzedenzfall das Gleiche tun wird, wiewohl es sich bei ihm tatsächlich gar nicht um eine Gefährdung seines poli- tischen Fortbestandes handelt.
Nach alledem würde die clausula rebus sie stantibus auch in der abgeänderten Fassung noch immer höchst ge- lUbriich bleiben; man dürfte sich, wenn in wirklich durch- schlagender Weise beliebigen Umgehungen des Satzes Pacta sunt servanda vorgebeugt werden soll, keineswegs mit der
. H. aiil' (lit S. 9'10 wiadei^pge belle Formulierung-
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Aufstellung eines allgemeinen, vielfältigster Mißdeutung aus- gesetzten Schlagworts begnügen, sondern müßte im voraus konkreter die Umstände zu bestimmen suchen, unter denen in Wahrheit von einer Bedrohung der staatlichen Existenz- fähigkeit gesprochen werden kann. Indes sobald man sich auf diesen Weg drängen läßt, wird man mit Notwendigkeit wieder in anderer Beziehung zu völlig unbefriedigenden Ergebnissen kommen. Angenommen nämlich, es gelänge tatsächlich eine Formulierung zu finden, die infolge ihrer Präzision und casuistisch-detaillierten Ausarbeitung jede Mißbrauchsmöglichkeit so gut wie ausschlösse, so wäre das ganz sicher nur um den Preis erkauft, daß die früher zu weite Fassung jetzt wieder zu eng geworden ist. Kann doch jede speziellere Bestimmung der zulässigen An- wendungsfklle stets nur auf Grund und mit Hilfe des bis dahin schon vorhandenen Erfahrungsmaterials vor sich gehen, dergestalt, daß sie von Anfang an auch nur auf dieses in der Hauptsache paßt und zugeschnitten ist. Nun bringt aber anerkannt das praktische Leben wie überall so auch hier fortwährend ganz neuartige Konstellationen hervor, an die man früher absolut nicht denken konnte und die des- halb jetzt auch von der positiven Formulierung der Klausel nicht im mindesten berücksichtigt erscheinen. Demgemäß wird gerade die vorsichtigste und detaillierteste Fassung am allerhäufigsten auf Vorkommnisse stoßen müssen, denen sie nach der Gr^indabsicht der clausula gerecht werden sollte und doch nicht gerecht wird, das will sagen auf Vorkommnisse, bei denen tatsächlich und bona fide die Rücksicht auf politische Selbsterhaltung die Erfüllung eines Vertrags unmöglich macht, die aber trotzdem nicht von dem strikten Wortlaut 'der Regel umspannt und erfaßt werden.
Mit den letztgegebenen Erörterungen haben wir über- haupt ganz allgemein die Schwierigkeit berührt, an der ausnahmslos jeder Versuch, die clausula durch schärfere Präzisierung ihrer materiellen Voraussetzungen zu ver-
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besaern, mit begrifflicher Notwendigkeit scheitert, gleichviel ob man nun dabei an den Gesichtspunkt der Selbst- erbaltung oder an irgeadwelchen anderen anzuknüpfen be- strebt ist. Eb ist nämlieh bei der ganzen Lehre praktieeh nie über eine peinliche Alternative hinauszagelangen. Ent- weder man wiQ der ursprünglichen Idee treu bleiben, d. h. die Obernorm Pacta sunt servanda grundsätzlich von der ErBtreckung auf alle Fälle ausschlitasen, für die sie sach- lich nicht angemessen ist. In diesem Falle muß man die den Ausnahmesatz statuierende clausula unbedingt mit einer gewissen Vieldeutigkeit der Ausdrucksform aus- statten, weil sonst der Mannigfaltigkeit des Lebens er- schöpfend eben nicht beizukomnien ist, öffnet aber damit freilich in der frUher geschilderten Weise auch dem dolosen Mißbrauch Tür und Tor. Oder man bemüht sich in erster Linie, letzteren nach Möglichkeit zu verhüten. Dann wird wieder die Klausel allmählich immer enger und speziali- sierter gehalten; es tritt alsbald an ihr die Erscheinung hervor, daß, wie in der Logik Inhalt und Umfang der ab- strakten Begriffe stets im umgekehrten VerhBltnis zu einander stehen, so Entsprechendes auch von abstrakten Rechtsnormen gilt: je mehr eine solche Einzelheiten als Vor- aussetzungen in sich aufnimmt, desto geringer wird die Zahl der ihr praktisch zu unterstellenden Fälle, womit sie nach der entgegengesetzten Richtung zusehends an Wert verliert. So muß die völkerrechtliche Klauseldoktrin stets zwischen zwei konträren Zielen hin und her schwanken, ohne bei dem Mangel eines internationalen Richters jemals beide gleichzeitig erreichen zu können. —
Auf einem prinzipiell anderen Wege als dem bisher be- handelten sucht Kivier' eine sachlich beschränklere und damit weniger gefiihrliche Fassung der clausula rebus sie aiantihus zu erhalten : er will nicht die Art und Beschaffenheit der zu fordernden Veränderungen schärfer bestimmen,
■ Ober ihn >. § 3, S. 12 bei Aum. 2.
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sondern von vornherein, wie bereits gelegentlich ' bemerkt wurde, blos einen Teil der Stmitaverträge, lediglich j wisse Klassen und Gruppen von solchen der rechtlichen Aufbebung infolge späterer Umgestaltung der Verhältniase unterwerfen. Und zwar läuft seine Ansicht, näher betrachtet^ darauf hinaus, daß lediglich bei einem Vertrage „der fort- dauernde soziale und politische Verhältnisse regelt, also bei Handelsverträgen, Schiffahrts vertragen, Nieder- las SU ngs vertrage II, Post-, Telegraplien-, MUnzvertrUgeu, auch Bündnissen und dergl." einseitige Lossagung juristisch ge- stattet sein soll; dagegen hält er die letztere „für nie zu- lässig bei Verträgen, die ein fUr alle Mal bestimmt sind, einen definitiven Zustand zu achaifen", eine Klasse, zu der ^ er „vorzüglich Dispositiv vertrage wie Friedens- und Gre traktate" rechnet.
Es darf mit Bestimmtheit behauptet werden, daß daa Ganze eine verfehlte Idee ist. An erster Stelle wäre zu bemerken, daß gerade hier die von uns bereits früher' konstatierte Tendenz der Völkerrechts Wissenschaft zu rein naturrechtlicher Fortbildung der internationalen Ordnung 1 wieder einmal so recht deutlich zu Tage tritt; wenn wir | fragen, wie Rivier zu seiner prinzipiellen Unterscheidung zwischen den Verträgen kommt, so ist von irgendwelchem positiven Nachweis, von praktisch-historischen Belegen dafUr, daß die Staaten in dem einen Falle die juristische Aufhebbarkeit der Traktate wollen und in dem andereo nicht, nicht die Rede, sondern lediglich weil der einzelne Autor subjektiv diese Gestaltung fUr vernünftig und an- gemessen hält", „muß man den 8atz aufstellen", wird die betr. Lehre als gültiges Hecht proklamiert. Fernerhin liegt 1 es auf der Hand, daß die versuchte Grenzziehung seibat J sehr unsicher und schwankend ausgefallen ist; namentlich j
' S. 13, Anw. I. " Cf. oben S. 65 ff. ^ Nebenbei gesagt aibd aucti uouh d als änßerst anfechtbar zu bezeicbueii.
a beigebrachttn Oründe |
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der Begriff der Di 8 positiv vertrage igt ein rei^lit unpräzieer, um so mehr, aU bei einigen dereelbeu ausdrlicklicii doch wieder Kündigung ziigelasBen wird'. Und wenn wir schließlich b!oa diejenigen Verträge ins Auge faasen, bez. deren die einseitige Lösbarkeit mit voller Bestimmtheit von Rivier ausgeschlossen wird, so ist nicht im mindesten ein- zusehen, warum beispielsweise allen Grenz- und Territorial- abmachungen dieses Privilegium odiosum zukommen soll; im Gegenteil kann auch bei ihnen sehr wohl eine materielle Notwendigkeit der Nichterfüllung alter vertragsmäßiger Zusagen sich einstellen, wie u, a. bei dem konkreten Falle, der dem Verfasser zu der ganzen liier vorliegenden Arbeit den ersten Anlaß gegeben hat, aufs Klarste zu be- obachten ist*.
Eine dritte Methode^, die clausula rebus sie stantibus praktisch annehmbarer und erträglich zu machen, operiert nicht mehr wie die beiden anderen mit möglichster Ein- Bchrltnkung der materiellen Elemente derselben, sondern ist bemüht, das gewünschte Resultat durch Hinzufügung eines formalen Moments zu erreichen. In der völker- rechtlichen Literatur herrscht vielfach eine große Unklar- heit darüber', wodurch eigentlich das juristische HinMlig- werden internationaler Verträge eintreten soll: ob unmittel- bar schon durch die Veränderung der Umstände als solche oder erst durch die auf sie gestützte Kündigung". Dieser theoretischen Unsicherheit, die manche Spuren auch in dem konkreten Verhalten der Staaten" hinterlassen hat, machen
' Vgl. a 352, Anm. 2.
* 0£ B SüLiaidt, Der BcliwediBcb-meckleaburg'Uchc Pfaudvcrtra^ T Stadt und Harr«cliaft Wismar (Leipzig 1901), ä. 67 ff.
* Die ftbrigüDS mit den swei ar8t«ii auch kombjuiert ttuflreteii ttanu. 0«rade bei den zuletit genaimten Schrift«teilern , lowobl Bivier wij
■ it, ist daa tatBäfhlicii der Fall.
* Nach den Ausfljlirungen, die Pfaff in aeioem Bcbun S. 5, Äain. 2 •tifMOgonen Werke g'ibt, srjkr gaua die oämlidie Erscbeiiiuiig in der ehemaligen liviligtlscben El«tuellebre KlcichfatU la beobacbtea. Cf. a. ». O., S. 20, Anm. I, S. 72, S. lOS, Anm. 1 imd Gfter.
■ Vfl. oben 8, 19 bei Anm. 2.
* El verlieht sich von ulbit. daß melhojologiidi richtiger hier
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nun diejenigen Schriftsteller ein Ende, die mit Entschieden- heit eine ausdrückliche Lossagung von den Traktaten ver- langen und hierin ein ausreichendes Korrektiv wider all- zugroSe Unbestimmtheit der Klausel gefunden zu haben meinen ^
In der Tat sind dieser Formulierung einzelne Vorzüge gar nicht abzusprechen. Vor allem nach der Richtung hin, daß mit ihr wenigstens ein festes äußeres Kriterium für die fortdauernde Rechtsgültigkeit internationaler Verträge gewonnen ist: wenn man bei der Annahme der Ipso-jure- Wirkung wegen der außerordentlichen Dehnbarkeit der clausula rebus sie stantibus eigentlich von keinem einzigen Uebereinkommen mit voller Bestimmtheit behaupten kann, ob es noch in Kraft steht oder nicht, erscheint nunmehr unbedingt jedes gültig, das nicht expressis verbis gekündigt wurde. Ebenso darf man der modifizierten Fassung eine gewisse Erschwerung des ungerechtfertigten und dolosen
abermals nur von einer Untersuchung des Willens dieser hätte aus- gegangen werden sollen. Da dies jedoch nicht der Fall war, vielmehr die Klausellehre, wie überhaupt, so auch in dieser Beziehung rein subjektiv doktrinär entwickelt wurde, so mußten von ihr natürlich umgekehrt die- jenigen Staaten sachlich beeinflußt werden, die erst hinterher (et oben S. 5o) die bequeme, ihnen dargebotene Theorie zu fraktifizieren und in die Praxis umzusetzen suchten. Demgemäß findet sich eben das im Text erwähnte Schwanken der Wissenschaft u. a. auch getreulich wieder in dem russischen Rundschreiben vom 19./31. Oktober 1870 über die Auf- hebung der Neutralisierung des Schwarzen Meeres, denn dort heißt es das eine Mal: „Sa Majest^ Imperiale ne saurait se consid^rer plus longtemps comme li^e aux obligations du trait^ de 18/30 mars 1856" (hier wird offenbar die Annahme einer Ipso -jure -Wirkung angedeutet), gleich darauf aber auch: „Sa Majestä Imperiale se croit en droit de d^noncerla Convention'^ (in diesen Worten ist nur von einem spezifischen Recht auf Kündigung die Rede).
^ Vgl. z. B. Nippold, Der völkerrechtliche Vertrag, seine Stellung im Rechtssystem und seine Bedeutung für das internationale Recht, S. 240 : „Der Vertrag erlischt nicht ipso jure, sondern er muß unter Berufung auf die Klausel gekündigt werden. Die Gefahr des Mißbrauchs derselben ist sonst zu groß." Völlig übereinstimmend Uli mann, Völkerrecht, S. 177: „Es lieg^ in den Bedingungen eines rechtlich geordneten Staats- verkehrs die Forderung, daß in einem selbständigen Akte der Wille, das bestehende Vertragsverhältnis aufzuheben, der Gegenpartei zum Ausdruck gebracht werde, nämlicli durch Kündigung des Vertrags. Die Kündigung fungiert hier zugleich als Mittel zur Verhütung des Mißbranchs."
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Vertragsbruchs lEsoferii wirkHuh nachrdrimen , als die Notwendigkeit, den Traktat formell aufsjtgen und dies im einzelnen auch begründen zu mUsseD, vielleicht manchen Staat von der einseitigen Aufhebung zurUck- lialten wird.
Freilich ist gleichzeitig davor zu warnen, von dem letzteren Moment gerade allzuviel zu erwarten^ ist doch das hauptsächlichste und echlinimste Übel der ganzen Klausellehre, die eigentliche radix malorum, noch immer unausrottbar vorhanden. Wie wir aus § 7 (oben S. 7ö) wissen, besteht dasselbe darin, daß die Staaten durch die clausula in den Stand gesetzt werden, heuchlerisch den wahren Sachverhalt zu maskieren, den schamlosesten Ver- tragsbruch zu begehen, ohne ihn doch offen als solchen eingestehen zu mlissen. Das ist aber unter den neuen Verhältnissen kaum weniger der Fall als unter den alten. Im Grunde bedeutet es doch bloß eine kleine Verschiebung, wenn man nicht mehr sagt „das objektive Völkerrecht er- klärt Verträge, seit deren Abschluß wesentliche Ver- änderungen vor sich gegangen sind, direkt für aufgehoben", sondern die Sache so formuliert „Es gewährt unter diesen Umstanden dem Verpflichtelen ein Recht der Traklata- kUndigung" ; das Eine wie das Andere kann offenbar dem bSsen Willen gleichmäßig als juristischer Deckmantel dienen, weshalb es, sobald ein Staat einmal fest entschlossen ist, unter nichtigen Vorwänden sich über früher über- nommene Verbindlichkeiten hinwegzusetzen, fllr ihn schwer- licli noch viel ausmachen wird, auch die ausdrückliche LoBsagung zu vollziehen.
So wären wir denn immer wieder zu der Erkenntnis zarückgedrängt, daß die Klausellehre unter allen Umständen, auch in ihren Um- und Fortbildungen, ein recht bedenk- liches Geschenk darstellt, welches die Theorie der Praxis gemacht hat, daß sie, sie mag des Näheren formuliert sein wie sie will, stets nur unendlich mehr zu schaden als zu nützen vermag. Das Ganze ist ein recht charakteristisches
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Beispiel dafür, wie leicht auch die beste Absicht in der Wahl der Mittel sich vergreifen und dann geradezu das Gegenteil des gewollten Erfolges herbeiführen kann. Denn blos der materiellen Gerechtigkeit gedachte die Doktrin durch sachgemäße und feinere Ausgestaltung des inter- nationalen Normensystems zu dienen, und sie hat doch lediglich der Ungerechtigkeit formal -juristische Waffen geliefert.
Vierter Abschnitt. Der berechtigte Kern dei* ganzen Lehre.
§9. Die clausula rebus sie stantibus bildet weder zur Zeit eine positiv-gültige Norm des durch die Staaten für ihren wechselseitigen Verkehr geschaffenen Völkerrechts, noch hat sie wegen ihrer eminenten Gefährlichkeit in Zukunft Aussicht, von jenen zu einer solchen erhoben zu werden — das ist das Ergebnis, zu welchem unsere bisherigen Unter- auchuagen notwendig getuhrt haben. Damit ist featgestellt, daß streng juristisch an der Geltang des Satzes Facta sunt servauda schlechthin und prinzipiell festgehiilten werden muß: er ist in der heutigen Internationalurdnung durch keine rechtlich wirksamere Ausnahmsregel durchbrochen und wird es aller Voraussicht nach auch niemals werden. Seine starre und unbeschränkte Statuierung scheint nun Ireilich mit gewissen praktischen ErwÄgungen nicht zu- sammenstimmen zu wollen, die bei tieferem Eingehen auf die Sache jedem von selbst sich aufdrängen, und die auch in der völkerrechtlichen Literatur schon oftmals nachdrück- liche Formulierung gefunden haben, in besonderer Schärie z. B. durch den portugiesischen Staatsmann und Publizisten Pinbeiro-Ferreira. dessen Ausführungen hier in extenso zitiert werden mögen. Derselbe sagt in einem seiner Werke ' wörtlich folgendes.
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Ce n'est pas parce que deux gouverments ont conclu ensemble teile ou teile Convention que leurs nations sont tenues d'en accomplir les obligations, mais parce que les rapports d'oü ces obligations dörivent, continuent d'avoir lieu entre les deux peuples, que ceux-ci (aussi bien que si c'ötaient deux individus dans la 80ci6tö)sont tenus d'observer les stipulations du contrat. — Du moment que ces rapports existent, la r^iprocitö des devoirs qui en est la suite nöcessaire, commencera d'avoir lieu et continuera aussi long- temps que ces rapports subsistent. Aussi du moment oü les rapports d*oü ces devoirs tiraient leur origine auront cessö, Tune des parties aura beau allöguer les Conventions contract^es avec eile et sign^es par Tautre, celle-ci estautorisöe ä lui röpondre qu'on ne saurait concevoir Texistence d'un effet apr^s que la cause a cess^ d'exister; et cette röponse qui serait catögorique entre deux individus qui auraient contractu en vue des circonstances qui ont cessö d'exister pour tous les deux et sans la faute ni de Tun ni de Tautre, acquiert une force irr^sistible lorsqu'il est question de deux nations; car, dans le premier cas, il y a identitö des personnes contractantes, tandis que dans Tautre, ceux qui ont contractu ne sont plus ceux qui devaient accomplir. Or, ce que les tröpassös ont contractu entre eux, ne saurait obliger les vivants qu'autant que eela peut ^tre compatible avec les intör^ts et des uns et des autres; et il serait de la derni^re absurditö de prötendre que la gönera- tion actuelle d'un pays doit faire le sacrifice de ses int^rets a la gönöration actuelle de l'autre, parce que les gouverne- ments de jadis, non contents de Commander ä leurs con- temporains, se sont foUement imagin^s que, m§me apr^s leur tr^pas, ils continueront de Commander ä toutes gön^rations dans Tavenir.
Suchen wir den in diesen Sätzen enthaltenen Grund- gedanken aus dem nebensächlichen Beiwerk herauszuschälen und scharf zu bestimmen, so ergibt sich offenbar als Pinheiro-Ferreiras Meinung dies : Wie alles Recht überhaupt,
' VI 1.
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) stellt auch Jeder konkrete International vertrag stets den formellen Ausdruck matericHer VerhältniGse und Interessen- zustände dar: die Parteien haben ihn geschlossen, weil sein Inhalt damals beiden gleichmäßig angenehm und vorteilhaft erscheinen mußte'. Dieser Sachverhalt, dal3 der eine wie der andere Staat bei dem Traktat seine Rechnung findet und an ihm interessiert ist, kann unter Umsttlnden ein
' dauernder sein; dann bleibt notwendig auch der Vertrag
[ die richtige und zutreffende Formel realgegebener Zustünde und deshalb in permanent unangefochtener Wirksamkeit Die ehemaligen Verhältnisse können sich aber auch später von Grund aus and<Tn, dergestalt, daß, während früher das dringendste Staatainteresee den Abschluß dea Traktats gebot,
I es jetzt gerade umgekehrt seine Nichteinhaltung verlangt; in diesem Falle bat der Vertrag seine materielle Grundlage
' durchaus verloren. Bei der ausnahmslosen Proklamierung der Kegel Pacta sunt servanda wird aber das Letztere aufier Acht gelassen: sobald jeder einmal abgeschlossene
, Vertrag auf die Dauer rechtliche Gültigkeit bewahren soll, erhebt die Vergangenheit die durch nichts begründete
\ Prätension, auch Gegenwart und Zukunft unwandelbar zu binden^; man sucht, indem der nur aus der früheren Interessen läge hervorgegangene und zu begreifende Traktat jetzt auch ohne sie aufrechterhalten wird, längst entschwun-
I dene Zustände künstlich zu petriäzieren, und tritt dadurch lebendigen Wirklichkeit in all er schärfsten Wider-
' Selbst bei (tinem Überciiikommen , dlm ünUerlich betrHchtet für
a Partner nicbto wie achwerste Opfer mit sich bringt, kann äia
BMhl wohl der Füll nein. Wemi beispieleweiBe d[e eiae Macht der anderen
■ durch Friedenitraktst wartvolle Provinzen ledierl, so tut nie diee ans der
KEnfignng hersua, daB sie BoQBt, bei hartnäckigem Widerstände, toq ihrem
fner im Wege der debelintio Tielteicht gäDalich niedergeworfen und
n politischen Selbstündigkeit fiberbaupt beraubt werden wnrde, eine
r«icht, mit der verglichen der Verla«! eines Teil» dea SMat^gebieta
r noch dax kleinere Übel darstellt Tgl. Held, in Botteck-
Welukera Staats texikon, Bd. 14 (S. Aufl. 1866}, S. 594: „Ein VSlkcr-
Tertrkg kann, obgleich hSchat beachwerend, ja lähmend, doch im ersten
Augenblick and auf einige Zeit ein SelbiterhaltungB vertrag eeia — ■"
* Vgl. den Ähnlichen Qedankengang Jellineka, oben ß. 10.
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Spruch. Da das aber für ein wahrhaft gutes und brauch- bares Recht sicherlich unzulässig ist, so bedarf eben die obengenannte Völkerrechtsnorm unbedingt einer entsprechen- den Korrektur.
Daß eine solche wirklich nötig ist, wird so leicht kein Verständiger in Abrede stellen ; niemand, der die Dinge tiefer zu durchdenken bemüht ist, wird in der Regel Pacta »unt servanda unter allen Umständen der Weisheit letzten Schluß erblicken wollen. Daß jedoch die erforderliche Korrektur gerade in Form eines neuen juristischen Satzes vorgenommen werden müßte, diese von so vielen und offenbar auch von Pinheiro-Ferreira ganz selbstverständlich gefundene Folgerung ist damit noch nicht begründet, viel- mehr aufs Entschiedenste zu bekämpfen. Nur derjenige, der das Recht als prinzipiell selbständige Welt, als „abseits gelagertes eigenes Reich *^ ^ anzuschauen gewohnt ist, wird zu derartigen Konsequenzen mit Notwendigkeit gedrängt werden, weil er sich nunmehr naturgemäß auch alles Heil und alle Abhilfe stets blos in spezifisch juristischen Formen vorzustellen vermag; wer es dagegen in der allein zulässigen Weise nicht isoliert und abgeschlossen, sondern als integ- rierenden Bestandteil des sozialen Gesamtlebens, dem Ein- flüsse des letzteren stets unterworfen und ausgesetzt, zu erfassen strebt, der wird für manche Schwierigkeit, welcher der andere wohl oder übel* immer wieder nur durch das Recht selbst beizukommen sucht, ohne und gegen dieses eine befriedigende Lösung finden*. Die Sache gestaltet sich alsdann einfach so, daß auf der einen Seite der betr. formal-juristische Satz konstatiert wird und ohne jede, ihm selbst wesensgleiche Einschränkung bestehen bleibt, daß aber anderseits auch die Macht der Tatsachen als allge- meines, faktisch wirksames Gesetz sich betätigt, daß sie
^ Stammler, die Lehre von dem richtigen Recht (1902), S. 6.
^ Fast regelmäßig gerät man dabei an irgendeiner Stelle rettungslos in den Flugsand des Naturrechts hinein. Vgl. hierzu oben S. 27.
' Auf das ganze, hier angedeutete Problem wird später, in § 16, nochmals zurückzugreifen sein (s. 8. 197 flf., bes. S. 201 f.).
■TI 1.
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fortlaufend in concreto der widerstrebenden Rechtsnorm die nötigen Ausnahmen abringt und damit schließlich doch eine regelmäßige Einzelkorrektur derselben herbeifllbrt '.
Freilich ist hier der Einwand zu erwarten, die Sache werde dadurch auf ein Gebiet hinüber gespielt, welches für die theoretische Betrachtung überhaupt nicht mehr geeignet und zugänglich sei; daß die generellen Rechtsvorschriften sich praktisch oftmals nicht durchzusetzen vermöchten, sei ja ganz zweifellos und anerkannt; es lasse sich aber mit solchen rein faktiacben Vorkommnissen für die Wissenschaft des Rechts weiter nichts anfangen, weshalb sie auch in dieser irgendwelche Berücksichtigung nicht beanspruchen dürften.
Der Einwurf hat seine volle Berechtigung insoweit, als die überwiegende Masse des Zuwidcrhandelns gegen juri- etiscbe Normen in Frage kommt. Denn da dasselbe aus rein individuell bedingten, konkret eigenartigen Verhält- nissen und Zuständen hervorzugeben pflegt, so kann wirk- lich die ihre Aufgabe unter generellen Gesichtspunkten er- fassende Rechtswissenschaft regelmäßig zu ihm keine andere Stellung einnehmen, als daß sie die weiterer Allgemein- bearbeitung weder fähige noch bedürftige Tatsache kon- statiert, jede Regel vermöge unter Umständen übertreten za werden. Das ändert sich jedoch vollständig, sobald unter gewissen genau bestimmbaren Voraussetzungen mit konstanter Regelmäßigkeit die Nichteinhaltung eines Kechts- satxes zu beobachten ist: hier handelt es sich sicherlich nicht mehr um eine bloße Summe unter sich zusammenhangs-
' An deu auRcIi ein enden Selbstniderepruch („dllgemei n wirk- *Miet OeietB" und „ia l^oIlc^eto', „regelmäßige Einzelkorrektur*') wolla nuin sich nicbt BtoSen, nm mich nicht miBiuTenitehen. Icli verweile •diaa hier darauf, daß er im folgenden, an passender Stella (t^I. bea. S. Ulf.. ISS, 149, 2I5r.[aDehS. 222, Anm.4]) seine genügende Aundäning Sndon *rird. Ich hin in dieser Beniehnng etwas vomichtig k^"<"^^"> leltdeiD mir Hehm in einer Uesprechung meiner Studie Tiber den Staat eiiie Reihe von „ Widersprachen " vorgeworien hat (cf. Kritiscbe Viertel- Jabitschrüt, Bd. 89, S. 262 f.), die nach Sinn utid Zosaininenhang sämtlich gax ktäoe sind (vgl. oben S. 2, Anm. 2).
n. vRlk^iTfahtl. Abhandl. VI 1. — Sohmldt.
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loser Einzelf'akta, sondern es kommt darin geradezu eine aligemeine, dem abstrakten K echt durch dae reale Leben unüberateigbar gesetzte Schranke zu empirischem Auedruck. Eine solche darf aber auch die spezifische Rechtswissen- schaft nicht prinzipiell ignorieren, denn wie man überhaupt ein I)iog nur dann ganz zutreffend zu erfassen und begriff- lich zu bestimmen vermag, wenn man seine natürliche, ihm wesentlich eignende Begrenzung genau kennt, so ist ganz entsprechendes insbesondere vom Hechte gleichfalls za behaupten.
Es ist nun sehr interessant, zu sehen, daß auch schon bei dem innerstaatlichen Rechtssystem zahlreiche Erschei- nungen zu finden sind, die meines Erachtens nur unter Zuhilfenahme des eben angedeuteten Gesichtspunkts voU- befriedigend sich begreifen lassen. Zwar kommen dabei wegen der essentiellen Verschiedenheit, die zwischen der völkerrechtlichen Ordnung und jenem obwaltet, Gebilde in Betracht, welche von der nachher zu gebenden Konstruktion der internationalen clausula rebus sie stantibus noch sebr bedeutend differieren ; bei alledem besitzen aber beide doch auch wieder soviel Verwandtes, daß es für die prinzipielle EMasaung der letzteren nur vorteilhaft sein kann, wenn wir jetzt, in einem kleinen Exkurse, zunächst einige voD den ersteren besprechen.
Vor allen Dingen ist da der theoretisch wie praktisch verhältnismäßig spät entwickelte Begriff des kriminalen Notstandes zu nennen. Von den drei verschiedenen Auffassungsmöglichkeiten, die bei der näheren Konstruktion desselben in der Wissenschaft vertreten sind, d. h. von der Zuerkennung eines spezifischen Notrechts* an die in einer „gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben" * befindlichen
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■ Vgl. u. a. Lanaon, Hystem der RecbtsphiloHophi« (l^^X S.460/4UJ ' Oder wie aonet die Detailprälisiening: der materiellen Voraoa Setzungen de« NotHbwdR in der einzelatiuitlicbeu Legislatire atiBgefalla] aeiu mag. Das Obige ist bekauntiieh die Fassung, die von dem dentncbM
Reicbatralgeaetxbucb in g 54 gegeben wird.
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Personen, von der Annahme ferner, daß hier „die Rechta- ordoung weder erlaubt noch verbietet, sondern, ihrer Ohn- macht bewußt, gewähren laßt" ', endlich von der Statuierung eines einfachen S trafausschließungägrunds', ist meines Erachtens die letztgenannte als diejenige zu bezeichnen, die für die ganze Sache die zutreffendste, rech tsselzungspuli tisch empfehlenswerteste^ Formulierung findet. Und zwar haupt- eächlich aus folgenden Erwägungen.
Alle drei Richtungen sind darin einig, daß das gesamte Institut als eine notgedrungene Konzession an faktisch vor- Lsndene Zustände anzusehen ist. Immer von neuem mußte man die Wahrnehmung machen, daß im Falle der Kollision Ewiscben rechtlich anerkannten Interessen verschiedener Individuen der Mensch wegen des natürlichen, ihm einge- pflanzten Egoismus sich regelmäßig für Verletzung der fremden RechtsgUler entscheidet, unbekümmert nra die zum Schutze derselben erlassenen staatlichen Strafandrohungen, und so kam man schließlich zu der resignierten Einsicht, daß eine wahrhaft verständige Kriminal pol itik hierauf von vornherein praktische Rücksicht zu nehmen, den realge- gebenen Machtfaktoren auch ihrerseits gewisse Zugestflnd- nisBe zu machen habe*. Diesen Zweck suchen nun die
t, Lclirbuuh des deutachGii Strnfrevhbt , Ü. Aufl. 1897, «. 144.
Vgl. E. a. die Aunführungen Ui rkiu uyura in der 1901 von ihm legebenen „Enzyklopädie der KechlswiaHenscIiaft", S. 1085 f. Darin ist entLalten, daß ich durchaus nicht de lege Inta ein Urteil darSbei abgeben will, nie die Frage io den geltenden StrafgeaetEbllchem pMitir entachioden worden ist; mit anderen Worten, ich erkenne voll- «Ondfg an, daß in diesen sowohl das Prinzip den Notrcuhts wie da« der bloßen juristischen IndifferenE vielfach ansgesprocben sein mag, und behaupte nur, daß dieae Art der Bcgelung den wirkliirheu Itcdiirf- niiaen nicht völlig gerecht wird. Für das nns nächstliegende Ileispiel also fiir das deutsche BtrafreL'ht, bin ich allerdings der laß hier von Anfang an lediglich ein ätrafausachlieBungsgrund in Sinne Birk meyers ntatuierl werden gnlhe, und daß auch nach dem Inkrafttreten der einschlagenden BeaUmmungeu des ll.O.B. (§§ 22ä u. 804) daran nichta geändert worden ist (zu letzterem Punkte vgl. u. a. Auer, 0er atrafrechtlluhe Notstaud und das Bürgerliche Gesetzbuch, 1903,
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zwei ersten Lehrmeinungen in der Weise zu erreichen, daß aie daa normale, direkt an alle Untertanen sich wendende Regelsyateni selber einer entsprechenden Korrektur unter- werfen, die eine positiv, durch Einfügung einer ausdrück- lichen Ermächtigung zu Gunsten der in Notstand geratenen Subjekte, die andere wenigstens negativ, in der Form, daß sie die generellen Gebote „Du sollst nicht töten" etc, inso- weit als außer Gültigkeit stehend erachtet wissen will. Indes das führt, unter allgemein rechtsphilosophischen Ge- sichtspunkten betrachtet, beide mal zu einem doch recht wenig befriedigenden Ergebnis, Denn soviel wird sich schwerlieh bestreiten lassen: der sozialethisch am meisten wünschens- werte Zustand, das wahrhaft anzustrebende Ziel wäre erst dann verwirklicht, wenn die Menschen in der Tat den „sittlichen HeroismuB" besäßen, daß sie lieber ihre eigenen Interessen verloren geben, als fremde im geringsten schädigen möchten. Warum soll nun das Kecht auf jede erziehliche Einwirkung nach dieser Richtung hin ganz verzichten, warum soll es seinen eigenen Imperativ, der doch wenigstens bei dem einen oder anderen jenes moralisch hüchststehende Ver- halten mit erzeugen helfen mag, selbst der Gültigkeit be- rauben und so von sich aus ein immerhin nicht zu unter- schätzendes Motiv zu demselben außer Kraft setzen? Viel besser und teleologisch weit vorzuziehen wäre es sicherlich, falls sich ein Weg entdecken ließe, der diesen unerwünschten Nebeneffekt vermeidet und gleichzeitig doch erlaubt, sich mit den faktisch nun einmal bestehenden Verhältnissen in ausreichender Weise abzufinden. Einen solchen Weg bietet aber jene dritte Auffassung der Notstandsiehre wirklich dar. Indem dieselbe nämlich die Notstandehandlung auf der einen Seite für straffrei erklärt, trägt sie vollwirk- sam der Macht der Tatsachen den nicht zu verweigernden Tribut ah; sie nimmt den deutschrechtlich formulierten Erfahrungssatz „Not kennt kein Gebot" als etwas bin, was sie wohl anders wUnschen müchle, was aber doch so, wie es in Wahrheit ist, gebührende Berücksichtigung er-
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heischt. Und andrerseits, indem aie die Notatandahandlung trotzdem als verboten und rechtswidrig behandelt, lediglich die straf rieh te;-lichen Organe des Staats ausnahmaweiGe zum Nichteinschreiten verpflichtet sein Iftßt, vermeidet sie den sozial pädagogischen Fehler, der in der kanontstischen Lehre „necessitaa non habet legem" enthalten ist: dadurch daß das Recht die an die Untertanen adressierte BefehU- norm als solche durchaus aufrecht erhält, geht ea nicht bis zu dem Punkte, sich seinerseits mit einem sittlich jedenfalls recht anfechtbarer Verhalten derselben irgendwie einverstanden zu erklaren, sondern sucht dieses vor wie nach zu bekämpfen, soweit ea bei verstandiger Uückaicht- nahme auf die real vorhandenen Zustände eben möglich und ratsam iat.
Im Gegensatz zu dem bisher erörterten Notstands- begriST, der seine eigentliche und ursprüngliche Ausbildung Qur durch das Strafrecht gefunden hat und flir dieses auch in Zukunft wenigstens überwiegende Bedeutung behalten wird, entnehme ich das zweite Beispiel einem anderen Teil des innerstaatlichen Normensystems, dem Privatrecht, näm- lich die zivilistiache Verjährung, apezicU die extinktive Art derselben. So gut wie Überall, selbst auf verhältnismäßig noch recht unvollkommenen Stufen der juristischen Ent- wicklung, stoßen wir in irgend einer Form auf den Grund- satz, daB rechtlichen Ansprüchen der einen Person wider die andere dann fernere Wirksamkeit zu versagen sei, wenn seit ihrer Begründung schon ein betrilchtl icher (nur praktisch- positiv sehr verschieden bemessener) Zeitraum verstrichen ist. Was für Gründe zur Statuierung dieses Prinzips mit zwingender Notwendigkeit geführt haben, da- von braucht hier nicht ausführlich gesprochen zu werden; sind doch die einschlagenden Momente (insbesondere der mächtige Einfluß, den schon der einfacheZeitablauf als solcher auf das menschliche GemUt auaUbt, dann die immenac, durch ihn eintretende Erschwerung der Feststellung der wahren juristischen Sachlage, die sozial-politische Verfehlt-
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heit eines Zustands, bei dem jeden Augenblick jedes vor- handene Verbältnis in Frage gezogen und damit die Streit- möglichlteit und Ungewißheit in Permanenz erklärt werden könnte, usw. usw.) bereita von so vielen und so überzeugend dargetan worden ', daß die grundsätzliche Rechtfertigung, ja Unentbehrlich keit des Verjährungsinstituts heute so leicht von niemandem mehr angezweifelt werden wird.
Indes trotz dieser rückhallloBen Anerkennung des Prinzips darf und muß die Kritik doch Jedenfalls insoweit einsetzen, als die Art, wie dieselbe zur praktischen Durch- führung gelangt, in Betracht kommt. Als gegenwärtig herraehende Meinung kann in dieser Beziehung wohl dioa gelten, daß durch den Ablauf der Verjährungszeit das be- treffende Recht selber gänzlich erlöschen und juristisch auf- gehoben werden soll. Damit vermag man sich jedoch, abermals aus uni Versal- teleogiachen Erwägungen heraua, keineswegs einverstanden zu erklären. Denn „es ist nicht zu leugnen, daß das natürliche Rechtagefühl die verjährte Schuld nicht weniger als Schuld anerkennt; der rechtliche Mann erfüllt sie, obgleich sie verjährt ist" '. Mit dieser allein zu billi- genden Beurteilung des Sachverhalts tritt aber das Recht in offenkundigen Widerspruch, sobald es nach dem oben angegebenen Rezept verfahrt; es macht sich gewissermaßen zum Komplizen des böswilligen Schuldners, setzt direkt eine Prämie auf moralisch verwerfliches Verhalten, wenn es erklärt: „lu Ansehung, daß du es verstanden hast, dich 30 Jahre lang der Erfüllung einer zweifellosen Verbindlich- keit, etwa auf Rückgabe eines empfangenen Darlehns, zu entziehen, erkläre ich dich jetzt zur Anerkennung deiner Gewandtheit überhaupt jeder Pflicht für los und ledig." Will man das Recht diese, ea schon durch den bloßen An-
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1 Vgl. BUS neuerer Zeit Stammler, rom richtig:en Becfate, S. 26S.
■ Windacheid. PHndekteD,§I12,N.5. Äbnlii^h auch Stammler, ' t. a. O., a. 264: Zitierung des volkotümlicheD Sprichwort! „Hundert Jalira Unrecht ist keine Stunde Hecht", S. 4S7: „Aucb das liczohlen von veijibiter Schuld ist eine Pfiichl des richtigen Rechts."
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ächein schwer herabwürdigende Holle nicht spielen lassen, ebenflowenig aber auch auf sachgemäße Berücksichtigung der gewaltigen, dem Zeitablauf unleugbar innewohnenden Macht völlig Verzicht leisten, so wird man ganz von selbst auf das nämliche Auskunftamittel zurückgelangen müssen, welches wir vorbin bereits beim Notstand kennen gelernt haben; d. h. genau wie es dort der Fall ist, empfiehlt sich wiederum, die Rechtapflicht als solche unverändert fortbe- stehen zu lassen, dagegen den realgegebenen Verhältnissen in der Weise Rechnung zu tragen, daß den jurisdiktionellen Organen des Ötaata die Weisung erteilt wird, sie möchten unter gewissen Voraussetzungen die sonst von ihnen vor- zunehmende Tätigkeit unterlassen, denjenigen zivilistischen Ansprüchen nicht mehr zur Verwirklichung verhelfen, bei welchen ihnen eine bestimmte längere Frist als seit der Begründung verflossen dargetan wird'.
Das dritte und letzte Beispiel mag in der Weise ge- wählt werden, daß jetzt, nach Straf- und Privatrecht, auch
n der Harvorhebimg bedarf es wohl, daß auf die nbigen Dtx- II die Note S der Seite S9 ebenblls sinngeoiilBc Anweadung leidet, _ , daß ich aaeh bex. de» Verjäliritugtproblema l^iglich de legE 1 meine Aiuflihniii)^eii geniariit höbe. Woa die wirkliche Ordnung \ dM VerUltniuea in einüelneu poNitiven RecbtsHyttemeu betrifft, ao glaube im rfimiachen Recht die von mir vertretene AalTsssiing tat- I «icÜicli wiederfinden lu können, f&r duaelbe sehe ich nämlich die 1 Ansicht vonSiiviKaj, Puchla and anderen als die richtigere nn, daß I tuieh nach Ablauf der TeijährungxEeil von porsOnlichen Ansprachen noch „obligatio naturalia" übrig bleibt. Da nun das Wesen dieser, im I eraBen und gsiiEen übe rein stimmend, dahin dc&niert wird, daß hier eine Juristisch exiatente, über des Kiagerechb« ermangelnde VerliiDdlich- keit gegeben ist und weiterhin die letztere Befagnis an und für sich g&r keinen integrierenden Bestandteil des eigentlichen uud ursprQnglii'hen Anapruchs Weulrt, sondern einen ganz „neuen, an bestimmte Blaatlidie Oimne erlasseuen Imperativ" (Thon. Rechtsnorm und subjektives Keebt. 8. ffi6) darstellt, so würde demgenüß jener abea al^ noch imiuer vor- handen, der einfache Xnrmeunchutz als durch Veijäbrung nicht entzogen ■u gelten habeii. — Für das heutige deutsche PrivaCrecht wage ich, an- gMiehts des Wortlauts de< § 222 U.G.B. sowie mancher anderer wichtiifcr Momente, Entsprechendes nicht «u behaupten; immerhin ist zn beachten, daft anoh bei diesen teilweise, e. K. von BernhSft, die Meinung ge- iuftert wird, eine Vollendung der Veijährungsfrist bewirke bloB Verlast des Ktagrei'bt«, Inasn dagegun den Tatbesland einer .naiürlichen Ver- bindlicbkeit' gnnz unbcrübn.
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noch das spezifische Staatsrecht zu Worte kommt. Wenn u, a. § 5 der Badischen Verfassung sagt „Die Person des Großherzogs ist Iieilig und unverletzlich", so schließt dieser in konstitutionellen Gemeinwesen Ja überaus häufig wieder- kehrende Satz neben manchem sonstigen Material auch dies nach allgemeiner Übereinstimmung mit einj daß das monar- chische Staatsoberhaupt für Handlungen, die, von einem anderen begangen, den Tatbestand eines strafrechtlichen Delikts verwirklichen würden, nicht zur kriminalen Ver- antwortung gezogen werden darf. Mit dieser Privilegierung bezweckten jedoch die Verfassungen ganz sicher nicht, dem Fürsten eine juristieche Befugnis zu gewähren, nach Be- lieben zu verleumden, zu morden, Körperverletzungen zu begehen etc.; vielmehr sucht sich der Staat nur in geeig- neter Weise damit abzufinden , daß hier wegen der tat- sächlich vorliegenden Verhältniaee eine praktische Durch- setzung seiner allgemein erlassenen Rechtsgebote entweder gar nicht oder bestenfalls bloß unter den allergrößten Er- schwernissen und Unzuträglich keiten zu erreichen wäre'. „Der Verfolgung des Staatsoberhaupts wegen eines Ver- brechens steht teils der Umstand im Wege, daß die Gerichte dem König unter-, nicht übergeordnet sind, teils die Ehre der Krone und das Staatsinteresse, welche den Skandal eines Kriminalprozesses gegen den Monarchen und die da- mit verbundene Gefahr für die öffentliche Ruhe nicht er- tragen. Es erscheint als ein geringeres Übel, wenn einzelnes Verbrechen des Souveräns ungeahndet bleibt, ala wenn durch das Strafverfahren die Rechtsordnung und der Friede des gesamten Staats erschüttert würde". ^ Zur au8*- reichenden Vermeidung aller dieser Übelatände ist abep eine Revision der normaljuristischen Ordnung als solcher^
' Danlber, daß das Prinzip der monarcliischeii Uiivi^rautiTortlichkt aui rein politischen BnrSgungen und nur soleben eu erkIJiren ist, «iel auch V, FriBch, Die Verantwortlichkeit der Monarcben und hScbiti MagiBEralts (1904), S. 104, 128 0'.
* B1unt«ch1i, Lehre vom modernen Staat, 6. Aufl., beBorcrt vi E. LoeniiiKi H, S. 207/208.
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eine personale Außerkraftselziing der Imperative „Du sollst nicht töten" usw. absolut kein unumgängliches Er- fordernis; vielmehr genügt es zu dem Zwecke schon voU- stflndig, wenn den kriminalen Behörden die Pflicht I strikter Passivität sämtlichen etwaigen Verbrechen des I Monarchen gegenüber auferlegt wird, und tatsächlich ist I dies denn auch diejenige Ordnung des Verhältnisses, die der Staat in und durch den vorhin genannten publizistischen I Grundsatz in Wahrheit hat treffen wollen'.
Zu den bisher von uns namhaft gemachten Fällen, zu [ dem kriminalen Notstandsinstitut, der zivilistischen Ver- I jähruug, der staatsrechtlichen Un Verantwortlichkeit des 1 Monarchen, ließen sich noch zahlreiche andere aus den I verschiedensteu Gebieten des innerstaatlichen Normensystems hinzufügen; doch wird an dieser Stelle nach Lage der I Dinge auf die Anführung noch weiterer Belege wohl besser verzichtet*. Suchen wir statt dessen jetzt übersichtlich [ hervorzuheben, was, speziell für die Zwecke der vorliegenden I Arbeit, schon aus den drei erörterten Beispielen mit Sicher- I beit gewonnen ist, so zeigt sich folgendes. An sehr mannig- t fachen Stellen, bei inhaltlich äußerst heterogenen Verhält- len kann sich im innerstaatlichen Recht die Konstellation I ergeben, daß übergewaltig sich betätigenden faktischen I Zuständen und Momenten eine gewisse Einflu6nahme auf
1 Ganz mit dem Obigen überctnatimmenil iit z. B. die Art, wie i«in, Souveränctät, Staat, Uetneiude, Selbstverwaltung (1883), S. 14, to. 3. „dsa Wenen der strafrechtlichen Unverletzlichkeit des KSnigB cbsnkterisiert: „Die Norm ,du »olUt nicht morden' ^It auch für den KBd)^ nicht bloQ als Satz der Moral oder Religion, sondern auch all Bat« dea Rechts: nur der im Falle der Verletzung dieser Norm au den 8traAicfat«r gerichtete Uefphi , in Gemäßheit den Gesetaes zn strsfen, scatiert dem Honnrciion gegonSber." — Ans dem Gesagten folgt flbrigens, daB man in unnerem Falle richtiger gnr nicht von einem, dem Souverin nituektiv »lateheiiden „B e t h t der Un Verantwortlichkeit" apreclien sollte, aondem dafi für ihn höchsteon eine Art der sogen. Reflexrecht« aniunehmen iit. Vgl. hiennit das. was Jellinek, Bystem der aobjektiven öffent- lichen Rechte, S. 14-S (verbunden mit S. 74 ff.}, aber den Gegenstand bemerkt.
^ Weitere ÜKiapiele werden ID anderem Zusanunenbange noch er- Srtert werden. Vgl. unten S. SO^ff. (auch S. 212, Anm. 1],
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die vorausschauende Regulierung des gesaraten Soziallebenv unbedingt zugestanden werden muß, daß aber gleichzeitig bestimmte Gründe es dringendst widerraten, dies in Form einer Modifikation des prinzipiell gültigen Rechtssystems selber zu tun. Aus dieser Verlegenheit vermag sich der ytaat am bequemsten dadurch zu helfen, daß er einfach seine mit der konkreten Kealtsierung des abstrakten Rechts betrauten Organe dahin instruiert, sie sollten unter den und den Umständen ausnahmsweise von jeder Betätigung ihrer- seits absehen: auf diese Weise ergibt sich ganz von seibat das nach allen Seiten befriedigende Resultat, daß das Recht einen praktisch eo ipso aussichisloaen Kampf mit über- mächtigen Tatsachen von vornherein klug vermeidet, daS es sieh damit die Unannehmlichkeit einer fortgesetztes' Reihe eklatanter Niederlagen erspart, und dies doch nicht) um den Preis einer Verleugnung anderer wichtiger Rück- sichten zu erkaufen braucht. Überall nun, wo der Staat von diesem Mittel wirklichen Gebrauch gemacht hat, stellt sieh fUr die Untertanen der normalen und gewühnlicl Rechtsordnung ein ganz eigenartiges Verhältnis heraus. Der Staat hat ihnen gegenüber beispielsweise die generelle Vor*' Schrift, „du sollst das empfangene Darlehen zurückzahlen' erlassen, und nimmt sie auch für den Fall abgelaufen« Verjährungszeit formell keineswegs zurück; darin ist ent*' halten, daß dieselbe eine ihr selbst wesensgleiche Ein-^ schränkung nicht erfahren hat. Andrerseits ist aber auci stets von neuem die Erscheinung zu beobachten, daß dii Norm unter gewissen Voraussetzungen nie zur praktischen Realisierung und Durchführung gelangt; d. h., eine sehr weitgehende und wichtige Einengung derselben muß denn doch als zweifellos vorhanden anerkannt werden, bloß daft diese nach Lage der Sache — immer von den Unte tanen und dem für sie gültigen Recht aus gesel
' Eintiig diese Seite äea Verbal tu issea komrat hier überhaupt i Frage- Kfiuh aoderer RJchtDDg hin von Wichtigkeit und deshalb C eine erschöpfende Beurteilung der Sache notwendig heranzuziehen :
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nicht als technisch-juristiBche, sondern lediglich faktisch- existente, qualifiziert werden darf'.
Vielleicht mag nun etwas Ähnliches auch bei der völkerrechtlichen Lehre von der clausula rebus sie staatibos SU konstatieren sein.
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Wenn wir jetzt daran gehen, den in dem vorigen Paragraphen besprochenen innerstaatlichen Phänomenen ein internationales Änalogon zur Seite zu stellen , so ist dabei von Haus aus jedenfalls das eine völlig klar , daß zum mindesten die Form, in welcher das zugrunde liegende Prinzip praktische Verwirklichung finden kann, hier eine von jenen wesentlich abweichende sein muß. Dort verlief die Sache stets so, da6 die herrschende Staatsgewalt aelbst in den Verlauf der Dinge entscheidend eingriff, daß sie als der oberste Regulator des sozialen Gesamtlebens die richter- lichen Behörden anwies, in bestimmten Fällen von sich aus überhaupt nicht einzuschreiten, und so dem offenen Konflikt zwischen den Anforderungen des praktischen Lebens und des abstrakten Hechts aus dem Wege zu geben. An etwas derartiges ist aber im Völkerrecht von vornherein nicht zu denken, denn nicht bloß mangelt es hier, wie wir wieder- holt schon zu konstatieren Gelegenheit hatten', an jeder, unabhängig von den Parteien, autoritär durch sich Beihst fungierenden Jurisdikttonsgewalt, sondern es gibt vor allen Dingen auch gar keine feste, allgemeine Verkehrsnormen vorschreibende Legislativpotenz, Deshalb bleibt aber der Einfluß faktisch gegebener Verhältnisse gerade so gut fühlbar und wirksam, nur daß er hier nicht von einer maßgebenden Zentralstelle ausgesprochen und sachgemäß formuliert werden kann, vielmehr sich ohne solche ausdrückliche Anerkennung
mier Umntuid, JaD iler »n die jur isdiktionelltiii Orgaue gerichtet« znm eventuelleo NichteiaschreiU'U jedeufslls auoh fiir uunere Auf-
j ein ipesiSscIi-rechtlii-liBB Element in dvn gegebenen üesauittat- k'ftestand hereinbringt. Vgl. noeh S. 20!) bei Anin. 'd.
• Vgl. be«- 8. 74.
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zur Geltung bringen muß'. Die Macht des Lebens wirj sich stets und überall real betätigen, „wenn nicht geregell, 80 ungeregelt", um eine sehr richtige, von Windscheid' bloß für den Spezialfall der Verjährung gemachte Be- merkung hier ganz allgemein aufzunehmen.
Betrachten wir rein empirisch das Nebeneinander- bestehen und den gegenseitigen Verkehr zwischen der Vielheit koexistentcr Staaten , wie es jetzt schon seit Jahr- tausenden in der Geschichte sich abspielt, so ist in der Tat eine gewisse, regelmäßig wiederkehrende Nichteinhaltung internationaler Verträge gar nicht wegzuleugnen, ungefähr in dem Umfange, wie dies die herrschende Lehre der clausula rebus sie stantibus zu bestimmen sucht: sobald die Erfüllung dea Traktats die verpflichtete Macht in Konflikt mit ihren eigenen höchsten Interessen, mit den vitalsten Bedingungen ihres gesicherten Fortbestands bringen mUßte, wird sie immer und immer wieder strikt verweigert, un- geachtet der entgegenstehenden Norm Pacta sunt servanda und im Widerstand gegen sie. Es ist das eine Tatsache von 80 allgemeiner Anerkennung, daß auf die Anführung noch weiterer historischer Belege, abgesehen von denjenigen, die in dieser Arbeit ohnehin schon an den verschiedensten Orten zu finden sind, wohl unbedenklich verzichtet werden darf; ich will mich daher an Stelle derselben auch bloß auf das bestätigende Zeugnis eines Mannes beziehen weitgehendste Sachkunde und Urteilskompetenz sicher nicht abzusprechen ist, nämlich auf die Worte Bismarck „Die Haltbarkeit aller Verträge ist eine bedingte, sobald sie ,in dem Kampf ums Dasein' auf die Probe gestellt wird. Keine Nation wird je zu bewegen sein, ihi stehen auf dem Altar der Vertragstreue zu opfern, sie gezwungen ist, zwischen beiden zu wählen. Das ultra posse nemo obligatur kann durch keine Vertragsklausel
' Wir werden Auf diesen Oegeniiatz später, osQ^ebea hftben.
1 p,
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^ Pandekten, g 105, N. G.
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außer Kraft gesetzt werden; — Selbstaufopferung für die Vertragstreue ist nie zu erwarten".'
Auf Grund dieses konstanten, in der Vergangenheit Btets von neuem beobachteten Sachverhalts erscheint nun
, aber die Wissenschaft von den Regeln und Formen des internationalen Wechsel Verkehrs fiwischen Staaten vollauf dazu befugt, von sich aus zur Aufstellung eines ent- sprechenden allgemeingültigen, auch für die Zukunft Wirk- samkeit beanspruchenden Satzes zu schreiten. Sie darf ihn allerdings in keiner Weise für eine technisch-juri- sche Norm ausgeben, wie zur Vermeidung etwaiger Mißverständnisse hier nochmals nachdrücklich betont werden
' mag^. Aber wenn auch die Annahme einer aolchen von
' Gedaukeii und Eriunoruugen II, S. 249/250. Der giuiKe Oedanken- I R>ng kehrt übrig^ens bei Biaiunrck auch aoont mehrfach wieder, irird I liuiMsondiire in aeioer weltgeticiiiuhtlicheu Keichatagsrede Tom 6. Februar 888 TerBcbiedene Male klar und deutlich zum Ausdruck gebr.ichL
' Die Gründe, warum derartiges unmCKlich ist, aind bereits in den I aiufShrlichen Erdrlermigen des zweiten Abachnitt« sur Oeuä)^ dargelegt; icb will indea auf das Wiulitignte davon liier wiederholend kura Bezug aebmea, und zwar deshatb, weil der jetzt festgeBlellle Tatbeataiid in ge- •riiiaer Hinoicht für die von nnti perhorreazierte Folgerung gar nicht ao angeeignet zu sein eclieint. Man könnte nämlich au aich, bei ober- flftcUieher Betrachtung der Dinge, wohl leicht m dem ächlnaiie geneigt sein: „Wenn denn praktisch die Niehteinhaltnng der Vertrage in dem vorhin genannten Umfange mit ununterbrochener KcgelraäÜigkeit ein- getreten ist, wenn sugeatBodenermaSeti die Staaten (>elber einem Teil der TrfthtAte die Erfilllung konaequeot und stetig veraagt haben, nun so mulS das eben »cblieSlich dahin ausgelegt werden, daU vou ihnen im Wege der gewohnbeitsmilBigen Übung ein entsprechender Rechtsiatz. eine juristisch wirkende Beschränkung der Norm Pacta sunt servanda geschaffen wurde." Daa wäre jedoch eiu schlimmer ParHlogismus, herbeigeführt und ermSglieht durch das Operieren mit dem doppeldeutig su verstehenden Begriff „die Staaten". Die Verwendung dieses allgemein lautenden Aus- drücka hat ihre volle Berechtigung in dem Sinne, daß sicherlich jeder StaAt, wenn er als Verpflichteier in die Lage kummt, auf Erfüllung MDe« seine eigene Eäateni jetxt ge^rdenden Vertrags in Anspruch genommen in werden, die Leistung strikt verweigert; sie wird aber anrolians irreführend und nnzuläasig, sobald man ihm, daa bis dahin immer noch vorhandene Uoment der Differeniiarung unvermerkt fallen- iMsend, die weaentlieh weitere Bedeutung unterstellt, aU sei von einem
ßlktiichen Verhallen „der Staaten" Tßllig nnlorschiedsloa und schlecht- 1 die Kede. Gerade daa letztere tut nun offenbar deijenige wirklich, r hier eine juristische Kegel statuieren zu kOnnen meint; er muB, ■ da ji positives Völkerrecht ntets blott aus koiniidenler WiUenafiber- ~iStimmung melirerer Ktaaten zu eutapringen vermag, notwendig
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vornherein auf unüberwindliche Hindernisse stößt, so gilt nicht daa gleiche von der Postulierung einer rein tatsäch- lichen, bloß faktisch erfahrun gemäß ig sich betätigenden Regel. Die Lehre von dem gesamten Verkehrsleben der Völker, überhaupt allgemein gesprochen die ganze Soziologie, von der die spezifische Rechtsdisziplin lediglich einen, zwar deutlich sich abhebenden, aber doch integrierenden Bestandteil bildet, Ist eine streng empirische Wissenschaft, 30 gut wie nur irgend ein Zweig der mit den Vorgängen in der realen Außenwelt sich beschäftigenden Naturwiaaen- schaft, und vermag daher prinzipiell auch ganz mit den Mitteln und in der Art dieser ku arbeiten. Wenn z. B. von der letzteren die Schwerkraft als objektiv und aua- nahmslos geltend proklamiert wird, so verfilhrt sie dabei in der Weise, daß sie aus immer gleichbleibenden, exakt erfahrungamäßigen Einzelbcobachtiingen der Vergangen-. heit das Bestehen eines überall und immerdar wirk-. aamen Gesetzes folgert'; ganz das nämliche wird alaa, auch jener gestattet werden müssen. Freilich, wie die Dinge praktisch einmal liegen, wird die Soziologie im all- gemeinen bloß unter äußersten Schwierigkeiten zu solchen hinlänglich gesicherten Generalschi üsaen gelangen können, schwerer als ein beliebiger Teil der Natiirlehre, schwer« selbst als die an sich so heikle Physiologie, von d<
subintelligieren , daß die inlemationaku Verkehrssubjekti? bo der Kelle de» Uerecbtigten. wie in der des Verpfl eine entsprecLende Abniclit konstant Iiekundet haben. Wie « diese, nur durch Wechael des Worlsinnn erschlichene Vorstellang mit den tatsächlich gegebenen TerhältDiaBcn hannouiert, du wiBieu wir hinUng- lich aus den, in § S teils ein^hend annljdierteD , teils kurz erwUioten (hierau vgl. die Anmerkani; 1 der Seite 53) hisloriscbon EinzelbeiBpielen; wir habea diinials g^esehen, daß die jeweils berechtigten Mächte, wwt entfernt, von aicb nun der TrakUhkündigunj; seitens des VerpSiditeten regelmäßig- Kuzusüminen, iimgekelirt wider cie, bald mehr bald miader scharf akzentuiert, gmiidgätzliche Verwahrung einunlegen pflej^n.
' Eine nähere KlarlegniiK des hier stattfindenden pK^chologischoi Prozesses bieten die trefflichen AuHtuhrnngen Zitclmanns, Gewohu?' heitsrecht und Irrtiua (188aj, S. 4S0ff., bes. 8. 460/461. Zu vgl. das Ton mir schon bei anderer Gelegenheit (in der Studie über den ä. ib a. E. und im Oewobnheilareoht S. 44/45J bemerkte.
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Mill' nur mit Unrecht behauptet, daß sie , größeren natür- lichen Schwierigkeiten begegne und wahracheinlich eines geringern Grades von letzter Vervotl komm nun g fähig sei wie die soziale Wissenschaft". Immerhin, daß auch die auf FinduDg allgemein-empiriacher Gesetze gerichtete Arbeit der letzteren nicht als grundsätzlich verfehlt und hofTnungaloa bezeichnet werden darf, das vermag gerade der uns liiei beschäftigende Spezialfall recht gut zu illustrieren; denn wann »oll man überhaupt zur Formulierung eines ausreichend festgestellten Erfahrungssalzes gelangen können, wenn nicht hier, wo der entsprechende Tatsachen verlauf im inter- nationalen Soziallebeil immer und immer auf die gleiche Art sich abgespielt hat, wo es notorisch „noch gar nicht dagewesen ist, daß sich ein Volk aus Liebe ftlr das andere geopfert" hätte, bloß weil „der Buchstabe eines unter anderen Umstanden unterschriebenen Vertrags" * dies eo verlangte?
Auf diese Weise sind wir nun wirklich bezüglich der internationalen Klausellehre zu Resultaten gelangt, die den in der zweiten Hälfte des § 9 erörterten innerstaatlichen Erecheinungen dem Grundgedanken nach durchaus analog sind. Wir haben zunächst die positiv geschaffene und gültige Völkerrechtsnorm Pacta sunt servanda vor uns und müssen konstatieren, daß dieselbe formal-techniech ganz umfassend und ausnahmslos gehalten ist, daß sie auch für die Eventualität der total geänderten Umstände keine Ein- engung, die seihst wieder juristischer Art wäre, erleidet, vielmehr prinzipiell rebus mutatis genau dieselbe Befolgung wie rebus sie stantibus beansprucht. Auf der anderen Seite wieder läßt sich aber auch die erfahrungsmäßig feststehende Tatsache nicht von der Hand weisen, daß diese Prätension
I of logic ratiociDativi
I indoetive, 9. Aufl., Bd. I
■ Worte iiisroarcka &ds der vorhin bereit« erwÄhntcn Fohruarredo St» Jshrea 1888; cf. btenographiaclie Berichte über die Keichntagsrer- L SesRion 1887/1888, 8. T»0.
der Allgeraeingültigkeit unter gewissen VornuBsetzunge%. dann nämlich, wenn wegen eines voll st und igen Umschwung» der Verhaltnisse die Erfüllung des betr. Vertrags jetzt den verpflichteten Staat zu einer Gefährdung seiner eigenen höchsten Existenzbedingungen ni3tigen würde, in Wahrheit doch nie beachtet zu werden pflegt. Beide Momente zu- sammengpfaBt fuhren zu der Schlußformulierung: Trot» allea scheinbar dawider Sprechenden liegt auch hier das bo vielfach zu beobachtende Phänomen vor, daß die eine Regel von einer zweiten durchbrochen und in ihrem Geltunga- gebiet weaentlich beeinträchtigt wird; dabei verhält sich nur die Sache des näheren ho, daß diese mit jener nach Beschaffenheit und Charakter nicht übereinstimmt, sondern anders geartet ist, daß ein spezifisch-juristischer Sats von einem bloß faktisch sich betätigenden Geselz partiell seiner Kraft und Wirksamkeit beraubt wird'.
grolta Rolle spielt; nocli zahlreiche andere Bätze, die man hentzutags aU direkt vSlkerrechtliche zu verstehen pflegt, sind meineB Eracblen* lediglich in der obigen Weise aiifreoht zu erlialten. Auf einisea davon werden wir später noch zu sprechen koinmcn; vgl. nimentlioli § 12, S. 139ff. (internationaler Notstand!), daneben auch die in § 14, S. 162 ff. geatreifte Frage nacli dem Einflüsse des Vertrags bruüba vou einer Seite auf den Bestand des Vertrags verlialtnisses. Von weiterem hier in Betracht kommenden Material sei weg«n seiner hervorragenden Wichtigkeit bloB dies noch erwähnt, daB man lediglich mit Hilfe jener Formel dem inter- nationalen VerjAhrungsproblem allseitig ersohQpfend beiEukommen vermag. Für eine wahrhaft befriedigende Erfassung desselben genügt es nSmlich keineswegs, bloQ die Frnge, ob von einer technisch -j iiristiaohen Wirkung die Rede sein hSnne oder nicht, au antersnchen nnd sieb mit der heutzutage weit überwiegenden Meinung im verneinenden Sinne En entscheiden; vielmehr bedarf es, so ziilreffend letzteres an und fiir sieb zweifellos ist, daneben, zur Herstellang eines richtigen Ge samtbildM, auch noch der nachdrüi-klicbeu Betonung dessen, daß wenigalens als tatsächlich gegebene und sieh bewährende Macht der Zeitahlauf fQr den Verkehr der Volker nnd Staaten gleichfalls, trotx der hier mangelnden Formal Sanktionierung, anerkannt werden muli. Daß dem wirklich so ist, ist auch in der internationalen Praxis oft genag zur unverkeniibareii Andeutung gelangt (sehr interessant ist z. B. die Weise, wie die beiden grundsätilich verachiedenen Standpunkte, der formsl-recbtliche nnd der materiell-faktische, bei Gelcgeuheit der ersten Teilung Polens ein: direkt gegearibereeslellt worden sind; vgl. das preußische Patent 1». September 1772 [Ghiltannj. Diplom Uiaches Handbuch, I, S. 205 ff/
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Einzig und allein eine Bolche Auffassung des ProblemB bietet die Möglichkeit dar, dein richtigen Kern, der in der einen wie dar anderen hinsichtlich der clausula bisher ver- tretenen Grundmeinung, d. h. sowohl in der herrschenden Befürwortung als in der aus n ahm a weise vorkommenden Bekämpfung deraelhen, enthalten ist, gleichzeitig gerecht zu werden und beide sachgemäß miteinander zu versöhnen. I Wie aus unserem ganzen Abschnitt IV hervorgeht, ist der I ersten Richtung materiell insofern nur durchaus beizu- I stimmen, als sie mit vollem Recht praktisch gegebene und I gar nicht wegzuleugnende Verhältnisse auch theoretisch be- I rUcksichtigen , ihnen zu entsprechendem wissenschaftlichen I Ausdruck verhelfen will; sie vergreift sich aber deshalb I TöUig in der Form, weil sie ohne alle ausreichende Be- gründung positiv-juristische Kraft für die Klausel in Anspruch nimmt. Hieraus folgt mit Notwendigkeit, daß I die relativ wenigen Autoren, welche die Rechtsgültigkeit der letzteren — regelmäßig freilich mit unzulänglicher j Beweisführung — in Abrede stellen, rein negativ-kritisch [ genommen das richtige treffen ; es ist aber wieder an ihrer I Lehre das zu tadeln, daß sie lediglich bei dieser Seite des Problems stehen bleiben, daß sie sich damit begnügen, ein- fach zu zerstören und so bloß eine klaffende Lücke auf- eureißen, ohne daß der Versuch gemacht würde, etwas I neues an die Stelle des vernichteten Alten zu setzen. rWährend demgemäß der bisherigen Behandlung der Streit- I frage wohl hier wie dort immer entschiedene Vorzüge
m Friedriuli d«r GroSe zur Befürwortung Heiuer, bis auf dna I anrückgroireuden Territorinlannpräche bemerkt, diiG „La Cau- Pologoe, poBuMant cea pHyn inj astement , ne laurait faire le pn^scription paar s'f Tnaintenir" und die Antwort des in 17. September: Qhillanay, a. ii. O., S. 210S.1, die <1 die Dnhealrellliare Tatnacbe einer Jnnissance de plunieurn stiele«" ■ebarf hervorhebt, daß solche anttqaierte „titres ne peuvent Stre sauB inlirmer la sAretä des ponsession« de toutes les aoiiverainet£<t, ranler U baae do tous les Irtlnes", Überhaupt mit lauter Argumenten t, die man snnst Eiir i<nchli(;heii Recbtfertignug i^en inaer« taat lieben rungaiiutitiita vor»u>iriD)rea pflegt).
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eigen, aber atetß auch mit wesentlichen Mängeln gepaart waren, erscheinen nach unserer Konstruktion die ersterea vollständig festgehalten und nur aus der Verbindung mit ■ letzteren losgelöst. —
Es gilt nun hier noch einen Punkt zu erörtern. Wir haben uns in dena Vorhergehenden immer bloß mit der Feststellung des Faktums zufrieden gegeben, daß die Internationalnorm Pacta sunt servanda in bestimmtem Um- fang praktisch nie eingehalten und befolgt wird, sind aber einstweilen auf die Grtlnde, warum dasselbe regelmäßig eintreten muß, noch gar nicht eingegangen. Das soll nun, jetzt am Schlüsse des ganzen Abschnitt IV, noch geschehen; wir wollen versuchen, das zunächst rein empirisch gefundene Spezialgesetz auf eine innere Notwendigkeit zurtickzuf\lhren und ihm so eine tieferfundierte Erklärung zu verschaflTen, Dies wird uns gelingen in Form einer Spezialan Wendung der allgemeingültigen Wahrheit, daß überhaupt jedem Recht vermöge des begrifflich von ihm gar nicht loszutrennenden Zweckgedankens eine gewisse, der technisch-juristischen Sphäre transzendente Beschränkung anhaftet.
Dabei zeigt sich in unserem Falle sofort, daß eben dasjenige Moment, welches die positive rechtliche Er- fassung der gesamten eigenartigen Völkerverkehrsordnung notorisch am meisten erschwert', d. h. die rein verein- barungsmäßige Form ihrer Entstehung, für die klare und durchsichtige Führung des hier zu erbringenden Beweises überaus gUnstig wirkt. Wie wiederholt schon erwähnt worden ist, wird das Völkerrecht den Staaten nicht von oben her, durch einen superordinierten Sozialwillen, auf- erlegt, sondern sie selbst ziehen, im Wege der ausdrücklich oder stillschweigend erklärten Willenseinigung, ihrer aa sich unbeschränkten Handlungsfreiheit gewisse Grenzen. Fragen wir jetzt nach dem Motiv, welches sie zur Ein- führung der letzteren, speziell zur Sanktionierung der Regel
' Vgl. oben ä. 3, Anm. 1
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Pacta sunt servaoda bewogen hat, so ist darauf nur zu antwortet], daß es zweifellos die Rücksicht auf ihr eigenes wo hl verstanden es Interesse war. Ea wurde ihnen klar, daß der für sie alle so vorteilhafte und nutzliehe ständige Ver- kehr zwischen ihnen ohne gegenseitige Vertragstreue über- haupt nicht aufrechtzuerhalten ist; sie erkannten, daS das Opfer, welches jedes Übereinkommen dem verpflich- teten Partner auferlegt, an Bedeutung weit überwogen wird von dem Gewinn, den die nur um diesen Preis mögliche Fortsetzung jenes Verkehrs gewährt, und so, „in kluger Voraussicht künftiger dauernder Bedürfnisse nach dem Rufe der Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit strebend" ', gelangten sie dazu, den Satz von der unbedingten Verbind- lichkeit der Verträge als für ihren wechselseitigen Verkehr allgemeingültiges Rechtsprinzip zu statuieren.
Ans diesem, bloB kurz angedeuteten Grundsachverhalt geht hervor, wie berechtigt es ist, wenn J ellin ek^ ftir inter- nationale Traktate die These aufstellt: „Es ist das Interesse, welches die Treue, und die Treue, welche das Interesse schQtat", oder wenn Bismarck^ mit einem anschaulich- realistischen Bild aus der Schneiderwerkstatt denselben Ge- danken dahin formuliert: „Ich glaube, daB das wandelbare Element des politischen Interesses ein unentbehrliches Untcr- futter für geschriebene Verträge ist, wenn sie haltbar sein Bollen." Indem nämlich der Katz Pacta sunt servanda durch die Staaten von vornherein offenbar nicht um seiner selbst willen, sondern bloß als Mittel zum Zweck geschaffen wurde, indem man vermöge desselben grundsätzlich stets eine Interessenförderung zu erzielen gedachte, er- scheint das wirkliche Vorhandensein der letzteren teleologisch gedacht als beschränkende Voraussetzung für die gesamte An- wendbarkeit jenes Satzes; anders ausgedruckt, die Aussicht, durch einen einseitigen Vertragsbruch das Vertrauen, den
■ Laiaon. RcchlsphÜosapbie, S. 404.
* Becbtlirhe Natur der Staate overtrSge. 6. 57,
* 0«duiheD uad Erinnarungen, II, S. 850.
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ganzen völkerrechtlichen Kredit bei den übrigen Mächten zu erschlittern und eo im letzten Einsatz die Möglichkeit eines geordneten wechselseitigen Verkehrs überhaupt in Frage zu stellen, muß filr den betr. Staat bedenklicher und ge- fUbrlicher sein wie die Hingabe oder Schmälerung desjenigen Einzelrecbtaguts, auf das er im Sinne des konkreten Trak- tats zu Gunsten des anderen Kontrahenten zu verzichten hat.
Das trifft ja nun sicherlich auf die unendlich über- wiegende Mehrheit der FJlllc im vollsten Maße wirklich zu, nicht aber auch auf die ganz besondere Eventualität, die eben hier für uns in Betracht kommt. Denn sobald ein Staat von der praktischen Durchführung eines antiquierten Übereinkommens direkt seinen eigenen Untergang zu be- fürchten hat, sobald er voraussieht, dnß er nach treulicher Erfüllung seiner Vertragspfliclit aller Voraussicht nach seine fernere politische Existenz nicht mehr aufrechtzuerhalten fähig sein wird, muß die Sorge um die ununterbrochene Fortführung des internationalen Staaten Verkehrs (der sich doch naturgemäß immer nur unter lebendig bestehenden Subjekten abzuspielen vermag) notwendig zur cura posterior werden; d.h. das wohlverstandene und wahre Ei gen Interesse gebietet hier ausnahmsweise einmal doch nicht die Ein- haltung, sondern die einseitige Durchbrechung des früher abgeschlossenen Traktats.
Unter diesen Umständen ergibt sich schließlich folgen- der Gesamttatbestand, Die Stellungnahme der Staaten zu dem Grundsatz Pacta sunt servanda ist verschieden zu be- stimmen, je nachdem man lediglich auf ihren in spezitisch- rechtlicher Form dokumentierten Willen Bezug nimmt oder aber über denselben hinausgeht. Geschieht das eratere, ao haben sie die Regel ohne jedwede Beschränkung auf- gestellt und mußten das auch notwendig tun, wenn sie überhaupt zu einer wahrhaft brauchbaren, praktisch nicht mehr schädlichen als nützlichen (vergl. die Ausführungen des Abschnitt III") Verkehrsnorm gelangen wollten. Indes diese Art der Autfassung, die zur unbedingten Konsequenz
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hat, daß auch unter den vorhin charakterisierten Verhält- niBaen jede einen Vertrag einseitig lösende Macht eine zweitellose Rechtswidrigkeit begeht, ist um deswillen nicht die höchste und einzig mögliche, weil der „ausgedrückte und erklärte Wille" sich durchaus nicht Überall mit dem nach Lage der Sache zu vermutenden „wahren und eigent- lichen Willen" zu decken braucht ^ Gerade für das uns beschäftigende Spezialproblera ist aber eine solche Inkon- gruenz beider mit voller Sicherheit anzunehmen, denn unmöglich können die Staaten eine nur zur Interessen- förderung bestimmte Norm auch fUr die exzeptionellen Falle totaler Interessen Vernichtung bewußt gewollt haben. So schwebt in der Tat, nicht formal-juristisch, aber prä- jurislisch- zwecklich, über jedem internationalen Kinzeltraktat eine essentielle und notwendige Beschränkung; es ist, in diesem Sinne verstanden, nur allzu richtig, daß „die clausula rebus sie stantibus bei Staatsv er trägen, die Leistungen bedingen, stillschweigend angenommen wird"*. Mit alledem wäre jetzt der Inbegriff desjenigen erschöpft, was meines Erachteus den berechtigten Kern der vielum- Btrittenen, oft bitter geschmähten und doch nie ganz zu entbehrenden, immer von neuem sich aufdrängenden clau- sula rebus sie stantibus ausmacht. Es wird nicht zu be- streiten sein, daß dieselbe in der Form, wie sie von uns Terstanden und aufrechterhalten wird, sehr wohl ohne ge-
' E» ist doa eine Formel für den GegeiiBst», deren sicli bekauntÜch ■ben AndereD beHondera Winduchoid uiehrfuuh nnd zu Terschiedeneu Zwecken (vgl, z. B. Pandekten g^ 22, 97) bedieut hat
* Biamarck, Gedanken und Erinnerungen, II, S. 259. Es ist be- greiflich, dnß die Anhän^r der berrschenden Klaiuellehre sich auf diesen Au3B{iracb gern zur Begründung ibrer Auffnsaung zu berufen pSe^n; es üt jedoch dagegen zu bemerken, dnä der einfncho äalz aln solcher nicht <|ju HEndeste darüber aasaagt, ob die Wirkung der clausula als spezISacb- roebtlicbe oder nlchtrechtlicbe gedacht sein aolt, ja daß er, mit allem ToMOiigegangenen und Folgendon maammengeli alten (vgl. x. B. den bc- 'rtilt« oben S. 108 zitierten Ausspruch, in welchem lediglich die tabiächliche 'Haltbarkeit der Verträge, also nicht etwa ihre juristische Gültig- "keil, ala eine bediogto beüeichnet -Kird), eigentlich nur die letztere iJDentDng tuUlit.
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fUhrliche Aushöhlung des prinzipiell geltenden Satzes Yon der Vertragstreue bestehen bleiben kann. Wir haben (S. 78 flF.) gesehen, daß dasjenige Moment, welches die herr- schende Lehre praktisch so überaus bedenklich erscheinen läßt, darin besteht, daß sie, einschließlich der Richtung, die eine spezifische Befugnis zur Kündigung (cf. S. 89/90) annimmt, dem bösen Willen die Möglichkeit bietet, die Auseinandersetzung mit seinem Partner formal stets auf juristischen Boden zu verlegen, den frivolsten Rechts, bruch zu begehen, ohne ihn doch brutal als solchen zu- geben zu müssen. Derartiges ist bei uns von Haus aus ausgeschlossen und zwar deshalb, weil wir ja eine ohne formelle Rechtswidrigkeit stattfindende einseitige Vertrags- lösung gar nicht kennen. Ist es nun wirklich richtig, was wir S. 80 festgestellt haben, daß nämlich die Staaten heut- zutage eine weitgehende Scheu vor dem offenen und zweifellosen Rechtsbruch an den Tag legen, so wird unsere Auffassung der Klausel notwendig als starkes Gegen- motiv wider leichtfertige und materiell ungerecht- fertigte Trak tatsauf hebungen wirken müssen; es wird darauf zu rechnen sein, daß man sich zu einseitigen Los- sagungen überhaupt nur sehr schwer und selten, bloß in wirklichen Notfällen dringendster Art entschließen wird.
Fünfter Abschnitt
Das umfassende Geltungsgebiet des (richtig- gestellten) Grnndprinzipg der Klausel.
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Durch die in den Abschnitten II— IV enthaltenen D«r- legangen erscheint jetzt der weitaus wichtigste Teil unserer kritischen Prüfung der üblichen Klausdlehre bereits aU erledigt; wir haben gesehen, daß im vollen Gegensatz zu dieser, die einen apezitischen Rechtasatz als gegeben annimmt, kein solcher, sondern bloß eine ganz anders- geartete Einschrllnkung der International norm Pacta sunt servanda in Betracht kommen darf. Für alle nunmehr noch folgenden Punkte erweist sich eine derartig ausfllhr- liche Behandlung, wie sie dem ersterörterten nach Lage der Dinge zuteil werden mußte, keineswegs als erforderlich, sodaß wir sie viel kürzer, sdmtlich in je einem Abschnitt, erledigen können.
An erster Stelle haben wir da die Frage aufzuwerfon, ob es wirklich in den Umständen begründet ist, daß man gerade den vorhin genannten Völkerrechtssatz und nur ihn vermögo der clausula in seinem GuUigkeilsbereicho woHcnt- lich einzuengen versucht. Das ist auf das bestimmtest^.^ eu verneinen; denn dem von uns richtiggestellten Grundprinzipo nach, d. h. nicht als technisch- rechtliche, sundern rein faktisch-empirische Beschränkung, ist genau das nämliche
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Phänomen wie bei jenem auch bei allen übrigen juristischen Regeln des Staatenverkehrs zu konstatieren : nicht lediglich in Anwendung auf das internationale Vertragsrecht, vielmehr „überall bricht sich die volle Durchführung der völker- rechtlichen Sätze an der Sorge des Staats für sein eigenes Wohl" *). Damit entftlllt aber jedwede Berechtigung, aus- schließlich die eine Norm durch solches Privilegium odiosum auszuzeichnen.
Zur näheren Begründung der von uns aufgestellten These bedarf es bloß einer entsprechend erweiterten Fassung der früher speziell hinsichtlich der clausula gegebenen Be- weisführung. Demgemäß läuft das jetzt Folgende in der Hauptsache auf eine einfache Wiederholung bestimmter schon aus § 10 bekannter Ideengänge hinaus ; das eine unter- scheidet sich bloß äußerlich insofern von dem anderen, als an der ganzen Gedankenfolge eine kleine Umgestaltung vorgenommen wird. Während wir nämlich dort zuvörderst (cf. S. 107 flF.) bloß historisch-erfahrungsmäßig eine gewisse, tatsächlich vorhandene Einengung der Norm Facta sunt servanda statuierten und dann erst (S. 114 ff.) dem empirisch gefundenen Spezialgesetz noch eine tiefere, auf die Eigenart der hier obwaltenden Gesamtszustände gestützte Erklärung zu geben suchten, soll diesmal der umgekehrte Weg ein- geschlagen werden.
Es liegt auf der Hand, daß die am letztgenannten Orte angestellten Erwägungen ganz von selbst und ohne alle Veränderung der Übertragung auf weitere Verhältnisse filhig sind. Denn offenbar haben die Staaten nicht bloß die eine Regel von der unbedingten Verbindlichkeit der Verträge, sondern allgemein und schlechthin das gesamte Völkerrecht bloß in der Absicht einer für sie zu erzielenden Interessen förd er ung geschaffen. Sobald sie überhaupt erkannt hatten, daß ständige Wechselbeziehungen zwischen ihnen für jeden einzelnen vorteilhafter und nützlicher wie
' Zitelmann, Internationales Privatrecht, I (1897), 8. 80.
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(las Verharren in Isolierung seien, und Bobald sie darauf- hin die ungestörte Unterhaltung solcher als wünschena- und erstrebenawerten Zustand betrachten lernten, mußten sie auch zu der Einsicht kommen, daß sie zu diesem Zwecke ihre an Bich unbegrenzte Willensfreiheit einem ganzen Komplex beschränkender Bestimmungen zu unterwerfen hittten. Bloß eine von den letzteren, allerdings gerade zu den allerwichtfgsten zJllilend, ist der Orundsalz, daß einmal abgeacblossene Traktate nicht ganz nach Beliebeu erfüllt oder nicht erfüllt werden dürfen, sondern unbedingt und jederzeit einzuhalten sind; es gehört aber ebensogut hierher die Norm von der Unverletzlichkeit der Gesandten, von der gegenseitigen Achtung der exklusiven Territorialhoheit, Überhaupt der Inbegriff aller derjenigen Regeln, die ini Laufe der Geschichte allinfthlich zu anerkannten Sfttzen des internationalen Verkehrsrechts geworden sind.
Diese grundsätzliche Übereinstimmung in der prÄsum- tiven Zweckanlflge hat nun zur notwendigen Konsequenz, dafl bei den letzteren auch durchweg und unterschiedslos genau die nämliche, eigentümlich -teleologische Beschränkung unterstellt werden darf, die wir seinerzeit zunächst bloß im Hinblick auf die Kegel Pacta sunt servanda entwickelt haben. Das will besagen: nicht bloß bei jener, sondern schlechterdings überall, wo die Staaten irgend einen Satz als generell verbindlich proklamiert haben, nahmen sie sicherlich zur stillschweigenden Voraussetzung stets dies, daß die allgemeine Durchführung derselben sich für die Interessen jedes einzelnen nur förderlich und vorteil- haft erweisen würde; sie haben an die ausnahmsweise vorkommenden Fälle, bei denen das nicht zutrifft, bei denen vielmehr die gewissenhafte Einhaltung einer internationalen Rechtspäicht der betreffenden Macht direkt zur eigenen Seibatvernichtung ausschlagen muß, klarbewußt kaum ge- dacht und sie deshalb aller Wahrscheinlichkeit nach auch gar nicht mittreffen wollen. Daraus würde zu folgern sein, daß aftnttlichen internationalen Verkehrsregeln unter Um-
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ständen die tiefste und letzte Rechtfertigung ihrer Anwend- barkeit durchaus abgehen kann.
Freilich wäre diese Zuhilfenahme eines supponierten wahren und eigentlichen Staatswillens für ^ich allein noch keineswegs imstande, als ausreichendes Fundament für eine feste und präzise Einschränkungsformel zu dienen. Haben wir denselben doch im Grunde bisher immer nur verstandesmäßig-subjektiV; aus Reflexionen über die mutmaßliche Zweckbestimmung des ganzen Völkerrechts deduziert; dagegen mangelt unserer Argumentation noch jede Basierung auf objektiv gegebene, in dem Verhalten der Staaten selbst hervortretende Betätigungsmomente , die den Rückschluß auf das wirkliche Vorhandensein jenes Willens überhaupt erst zu einem hinlänglich gesicherten zu machen vermag.
Soll nun unsere Beweisführuiig nach der angedeuteten Richtung hin noch vervollständigt werden, so stehen dafür von Anfang an wieder bloß die beiden Möglichkeiten zu Gebote, die wir in ihrer essentiellen Wesen- und Verschieden- heit schon mehrfach charakterisiert und einander gegen- übergestellt haben. Man könnte zunächst versuchen, einen das gesamte Völkerrecht sachlich einengenden Willen der Staaten in der Form als realexistent darzutun, daß man direkt eine neue, von ihnen durch gegenseitige Einigung geschaffene Regel entsprechenden Inhalts nachweist. Im Fall des Gelingens würde das natürlich eine spezifisch- juristische Korrektur und Fortbildung des internationalen Verkehrssystems bedeuten: man würde zu konstatieren haben, daß alle seine Normen durch einen, ihnen selbst adäquaten Ausnahmssatz durchbrochen, in ihrem Gültigkeits- bereiche beschränkt werden. Dieser Weg ist derjenige, welchen die Völkerrechtswissenschaft bisher mit Vorliebe eingeschlagen hat; er erscheint jedoch, wie wir unten ^ noch ausführlicher sehen werden, bei schärferer Betrachtung
1 Cf. S. 134 ff., 140 ff.
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scblecbterdings ungangbar und darf daher auf keine Weise in Frage konnnen,
unter solchen Umstanden bleibt von vornherein ledig- lich die zweite Methode übrig, die damit recht eigentlich zum entscheidenden Prüfstein für die objektive Richtigkeit Oller Unrichtigkeit des vorhin rein subjektiv Gefundenen wird. Angenommen nämlich, jener präsumierte wahre Wille der Staaten ist bei ihnen tatsächlich vorhanden und hat sich bloß aus bestimmten Gründen nicht zu einem allgemeinen Rechtssatz verdichten können, so steht ihm, nachdem die generelle Art der Existenzbetätigung ganz ausgeschieden ist, überhaupt nur noch diejenige in con- creto offen; d, h. wir sind jetzt unbedingt auf den Nach- w«s angewiesen, daß die Mächte im Einzelfalle den völker- rechtlichen Imperativen stets faktisch den Gehoruani zu verweigern pflegen.
In der Tat kann nun das letztere aus der erfahrungs- mäßigen Beobachtung des ganzen staatlichen Verkehrs jeden Augenblick und mit Leichtigkeit demonstriert werden: wo- hin wir nur blicken mögen, stets von neuem sehen wir den Tatbestand realisiert, daß bei den Staaten sofort jede Rück- sicht auf volkerrechtliche Sätze schwindet, sobald sie von deren Befolgung — mit Recht oder mit Unrecht ' — schwerste Gefahren für ihre eigene gesicherte Fortexislenz glauben fUrchten zu müssen. Wie konstant und gleichmäßig diese Erscheinung überall wiederkehrt, dafür ist nunmehr not- wendig eine Anzahl historischer Einzelbelege beizubringen; wir haben an der Analysierung praktischer, den ver- schiedensten Gebieten der völkerrechtlichen Beziehungen zu entnehmender Fälle Jetzt den Nachweis zu führen, daß international die Sorge für Selbsterhaltung in Wirklichkeit
' Gelegpentlicb liiiirt ilabei nohl elDtnol eine Bubjaktive Selbat- täascbuQg' , eine objekliv uDrii'htige Wertuni; der potitischea Gesnnitlage mit unter, in der Wotae, daß du einseitige lliDwegxetRen Hber du Vdlker- recht in Wirklichkeit gnr nicht dit> Befreiung aus bedrohlicher Sitnaticn idialll, Bondeni erst rücht eine solche herbeiiilhrt (rgl. unten S. 127'12d). Fflr die priaxipielle Bearteilnng der Bache Ist dies natQrlich belaugloi.
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jene EoUe der letztentsdieideiiden, die Motivatio na kraft des speziäachen Völkerrechts regelmäßig ganz ausacbaltendea Willensbestimmung spielt, die wir früher aus allgemeiaen Erwägungen heraus für sie in Anspruch genommen haben. Erst wenn dies geschehen, wenn in eingehender Spezial- untersuchung gezeigt ist, daß hier die empirisch -induktive Forachung die zuvor abstrakt-deduktiv gewonnenen Ergeb- nisse nun vollinhaltlich bestätigt, darf unsere Geaamt- arguinentation als wahrhaft abgeschloaaen gelten. —
Als erstes Beispiel diene uns die Aufhebung der politischen Existenz der Republik Krakau, die 1846 von den drei Ostuiächten Preußen, Rußland und Österreich einseitig, ohne jeden vorausgegangenen Kriegszustand, voll- zogen worden ist'. Als objektiv feststehend darf dabei gelten, daß dies auch im Verhältnis zu ersterer selbst^ einen schweren Bruch internationaler Rechts pflichten in sich schloß; denn unmöglich kann doeh Personen, die unter sich eine feste, viel geringwertigere Lehensgüter juriatiaeh achützende Verkehraordnung eingeführt haben, gestattet sein, sich gegenseitig aua der Welt zu schaffen I^
' Sämtliche diesen ^'o^gAng betreffende AktenatUcks aiud abgedruckt bei Martena, N.U.G., tome X, S. 1 ff.
' Von vornherein aus dem Spiele bleiben muß bier natürlich die- jenige Rechtiwidrigkeil , die gegen die Mitiintenieiclmer eines völker- rechtlichen Vertragn, das ist die in ihrem Art. 6 die staatliche Selb- ständigkeit Krnkaus verfügende Wiener Eangrelinkle vom 9. Juni 1815, begnügen wurde. Unter anderen Oenichtspunkten |cf. § 13. S. 153) werden wir jedoch aach dieser Seite der Angelegenheit noch einige Worte km widmen haben.
' Über die richtige Formulierung, die mun dienern Gedanken eu geben hat. wird «ich nllerdingH atreiten laBseu. Ganz Kweifellos un- genQgond erscheint er namentlich in der Gestalt, die er bei der commoniB opinio, durch die einfache llerufiing nnf die »o unendlich probtemati scheu internationalen „Grundrechte", speziell das der Selbsterbaltung, annitnntt. Indes mag man die Idee so oder anders fassen, etwa sie mit Jellinek (äjstem der subjektiven Sffentlicben liechte, S. 804) ganz allgeinein dabin wenden, daB „kein Staat von dem anderen etwas fordern oder ihn recht- mäßig zu etwas zwingen darf, als auf Grund eines Rechtasatxes" ; Die Sache selber wird so letcbt von Niemandem bestritten worden, und es kann an diesem Orte, wo ja schon die AnCBhmng von mati:riell an- erkannten Völkerrechts Widrigkeiten durchaus genügt, niclht unsere Än^he nein, nüher xn nntersnchen, ob die letzteren von der herrachenden Meinung falsch oder richtig famuliert werden. iVgl. 8. 130, Anra. 2J.
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Auf der anderen Seite aber wird man, soll eine wahrhaft gerechte urd allumfassende Beurteilung des Falles eintreten, auch wieder nicht verkennen dürfen, daß vom präjuristischen Standpunkte aus, im Hinblick auf ihre eigenen linchsten Staatsinteresscn, die Ostmäcbte sehr viel zugunsten ihrer Handlungsweise anzuführen vermochten. Als das einzige, mit politischer Unabhängigkeit ausgestattete Überbleibsel des ehemaligen Königreichs Polen war naturgemÄß Krakau Mittelpunkt und Sammelslätte aller nationalen Aspirationen geworden, dergestalt, daß es nach einem öaterreichischer- seits gebrauchten Ausdruck ' „von 1830 — ^1840 geradezu im Zostand fortwährender Verschwörung gegen die drei Mächte sich befand". Politische Emissäre und Flüchtlinge hielten sich ständig und in großer Menge, manchmal nach Tausenden zählend, dort auf, fanden für ihre Zwecke die offene Unter- Btützung der Bevölkerung und die stillschweigende Duldung der Regierung, durften ungehindert geheime Gesellschaften bilden, aufreizende Druckschriften in den Nachbarstaaten verbreiten usw. Wie getJlhrlich das alles war, wie überaus leicht der in Krakau latent stets vorhitndene Zustand der Feindseligkeit zu offenen gewaltsamen Ausbrüchen übergehen konnte, das zeigte sich im Anfang des Jahres Iä4i3. Ohne jede Schwierigkeit bemächtigte sich die revolutinnilre Partei Krakaua, bildete h\r:r eine Nationalregierung und suchte dann mit deren Hilfe die Stadt als natürlich gegebenen Stützpunkt auszunutzen, von dem aus das Innerlich doch 80 zerrissene und zers palten e Polen tum wieder zu einer einheitlich -politischen Existenz gelangen könnte. Und diesen brodelnden Hexenkessel, iu dem republikanische und monarchische, altfeudalistische und modern kommunistische Tendenzen wüst gemengt waren, in dem die Bestrebungen des hohen und niederen Klerus, des Adels und der Bauern- schaft und noch viele andere verwirrend sich kreuzten, dieses ordaungsloae Durcheinander, in dem alles sich gegenseitig
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befehdete, das aollteo die Ustmäelite an und in ihren Grenzen ruhig fortbestehen lassen ? Es liegt auf der Hand, daß da energische Abhilfeveraui;he dringend geboten, ja geradezu unentbehrlich waren. Wenn irgendeintnal , so war damals ein Fall gegeben, bei dem die Sorge für die eigene gesicherte Existenz ' die Ergreifung der erforderlichen Qegen maßregeln trotz aller formell ihnen anhaftenden Völkerrechtswidrigkeit sachlich entschnldigto und begründete, und der beste und zu Verl Aasigste Weg zu diesem Zwecke blieb eben unter allen Umständen die vollständiga Aufhebung des gesamten, den Frieden permanent bedrohenden Staatswesens,
Daß 1846 zn diesem radikalsten Abhilfsmittel gegriffen wurde, war um ao weniger zu beanstanden, als früher ge- machte Erfahrungen schon hinlänglich bewiesen hatten, dafi mit gelinderen Maßregeln kein dauernder Erfolg zu erzielen sei. Zu wiederholten Malen ^ hatten sich die Oatmächte bereits genötigt gesehen, zur Wiederherstellung der völlig zerrütteten Ordnung, den polnischen Kleinstaat militärisch vorübergehend zu besetzen; immer wieder hatte, sofort nach dem Abzug der fremden Truppen, das alte Treiben von neuem begonnen. Selbstverständlich waren auch schon d temporären Okkupationen, angesichts des anerkannt im Volkerrecht ausgebildeten Grundsatzes, daß kein Staat im Gebiet des anderen eigenmächtig Uoheitsbetätigungen vor- nehmen darf", zweifellose Rechtswidrigkeiten gewesen ; dod
* Die Hücksioht auf diene, meist freilich mit der grundflätiliDll ■ nnriclitig^n Wendung verbunden, ala ob liierdurch ein spezi^chea Sacht zum Einnchreitcn gegeben Bei, wird auf« deutlichste betont in ÄttB^magen nie den folgenden: „Le droit qu'a chaquo itU de se garsntir dn danger qni le menuce" (Härtens, a. >. O , 8. 45/46).; la premi^re des.loitqtd, a la foiii, conatitue paur les j^auverneinente le premier de* devoirs, oelpt I de Is propra conservation'' (Msrtens, S. 67); „les trtiis Coura ont toori gult£ la premi/iro loi de chaque itat, le drntt de propre conaerration'V (DepeacliB Metternichs vom 4. Januar 1847, Harte " " 8. 125).
» In den Jahren 1831 u. 1837.
* Dtuu kam in untrem Falle noch die anadröckliche Terfflgui^ der Wiener Kongreßakle (Art. 9): „Aaciiue force armSe ne poum junii* j etre iniroduite aous quelque pr^Iexte que ce aoiL"
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liatten dieselben Gründe dringendster Zwangslage, die nachmals die völlige Vernicbtung Krakaus enlachuldbar er- ■L-Iieinen ließen, jene Verletzung des Prinzips der exklusiven Territorialhoheit gleichfalls wahrlich ausreichend genug ge- rechtfertigt.
Bezüglich der letzteren macht sich Übrigens auch sonst recht häufig, mehr fast wie bei jeder anderen I nter national - norm, die Tatsache bemerklich, daß sie von den Staaten in (wirklichen oder vermeintlichen) NotlUUen keineswegs strikt respektiert zu werden pflegt. Um dafür wenigstens ein Beispiel noch anzuführen, sei bloß an die Art erinnert, wie der große Kurfürst gegen den Obersten Christian Lndwig T, Kalckstein verfahren ist. Bekanntlich war der- lelbe in Ostpreußen das Haupt der ständischen Opposition Tfider die brandenburgiache Souveränetät gewesen und hatte den Kampf auch noch fortgesetzt, als der Widerstand der übrigen bereits gebrochen war. Nach verschiedenen Wechsel- ftlUen 1670 nach Polen geflüchtet, suchte er hier bei den maßgebenden Personen in jeder Weise gegen seinen Landea- herrn zu hetzen und ein bewaffnetes Einachreiten herbei- zuführen. Weil nun der große Kurfürst darin eine äußerst liedenklicbe , um jeden Preis zu beseitigende Gefahr für Brandenburg-Preußen erblicken mußte, auch die Auslieferung Kalcksteins in Güte nicht erlangen konnte, so grifl* er lur Selbsthilfe; er ließ jenen auf polnischem Territorium, in der Hauptstadt W'arachau selbst, durch seinen Minister- residenten festnehmen und zu harter Bestrafung Über die Grenze schaffen. Auch hier wieder, wie man sieht, grund- sätzlich das nämliche Bild, welches wir oben zu konstatieren hatten: in der Fürsorge für das Wohl des eigenen Staats wird eine offenkundige Rechtswidrigkeit gegen einen fremden begangen.
Allerdings läßt sich gerade in dem gegebenen Falle billig bezweifeln, ob, rein politisch genommen, das an- gewandte Mittel wirklieb sehr zweckentsprechend war; mußte doch Friedrich Wilhelm nach Lage der Dinge
128
VI 1.1
darauf gefaßt sein, daß es das, was verhindert werden aollla, nämticli die kriegeriüühe Einmischung des Auslands in die ] preußischen Verhältnisse , von sich aus erst herbeiführte '. 1 Ein ganz ähnlicliea Urteil wird auch tlber die jetzt zu b&- J trachtende Angelegenheit zu fällen nein.
Es handelt sich um einen Vorgang gegen Ende desj Jahres 18(31, bald nach dem Ausbruche des großen ameri-a kanisclien Sezeasionskrieges. Der bisherige Verlauf dea f Kampfes hatte bereits gezeigt, daß die Auflehnung der Slid- ataaten, wenn überhaupt, so jedenfalia bluß unter den größtea I Schwierigkeiten zu bezwingen sein würde, und es bedeutete I demgemäß für die Union direkt eine Lebensfrage, den letzteren nicht auch noch den Beistand und die Bundea- genossenschaft einer europäischen Großmacht zuteil werden i zu lassen. Und speziell nach dieser Richtung hin wurden J in jener Zeit seitens der Richraonder Künftderationsregiermig I ernstliche Anstrengungen gemacht; zwei Kommissare dep-1 selben, Muson und Slidell, waren glücklich durch die f von der nordstaatlichen Flotte unterhaltene Klistenblockade | hindurch gelangt und schifften sich nun in Havanna auf! dem englisclien Postdampfer Trent nach Europa ein. um I in London und Paris kräftig t'tir ihre Sache zu wirk« Da indes in Washington das Vorhaben derselben bekannt | geworden war, so vermochten sie ihre Reise nicht vollenden; ein amerikanisches Kriegsschiff, der San Jacinto, I hielt am 8. November 18til den Trent im Bahamakanal an, erzwang trotz allen Protestes die Herausgabe der beiden 1 Agenten und führte sie samt ihren zwei Begleitern gefangen I nach Newyork,
Daß dieser, an Bord eines fremden (noch dazu auf | der Fahrt von einem neutralen Hafen zum andern be- griffenen!) Schiffes erfolgten Festnahme unbewaffneter Zivil- 1 personen von Anfang an jede völkerrechtliche Rechtfertigung
' TabtiicbltcU ist dns durtli die BEtgraote OebietaverleUung BchwerJ gereiste Ptdeo damals nnr mühsam bewogen worden, die t5ai;he nichfl Kiim casus belli au niaoben.
VI 1
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durchaus abging, darüber lierrBcht, abgesehen von den Amerikanern seibat, so gut wie allseitiges Einveretänd- nis ' ; 68 zeigte sich aber bald , daß die ganz«; , auf §taatliche Präventivverteidigung gerichtete Aktion auch im pnlitiaehen Sinne schlechterdings verfehlt war. Weil näm- lich Engtand „tlie violation of international law", „the aflFront to the British flag" nicht ruhig hinnahm, vielmehr in unverkennbar drohendem Tone die FreilasBung der Ge- fangenen forderte, so sahen die Amerikaner eben die zu verhütende Eventualitüt plötzlich in geiährlichste Nähe gerückt; sie mußten atch die Frage vorlegen, ob sie durch eigensinniges Verharren auf dem einmal eingeschlageneu Wege den Rebellenstaaten selber die ersehnte Unterstützung I durch eine auslandische Großmacht zuführen oder nicht I statt dessen lieber einen Schritt ziirllcktun sollten. Unter I den obwaltenden Umstünden konnte die Wahl nicht schwer I werden: wiewohl im Kongreß manche Abgeordnete tatsäch- [ lieh dafUr eintraten, man möge das Geschehene gutheißen I und es auf den offenen Konflikt ankommen lassen, wurde l-darcb den Staatssekretär des Auswärtigen der Kapitän des TSan Jacinlo desavouiert und in einer den prinzipiellen FRUckzug nur schlecht maskierenden Note das Verlangen ^Englands rUckhaltslos zugestanden.
Im Unterschied zu den beiden letzterwähnten Fällen, l,4i]f die man mutatis mutandis wohl unbedenklich den be- I kannten, Talleyrand hinsichtlich der Erschießung des duc
■ d'Enghien zugeschriebenen, Ausspruch anwenden darf, daß Ibier mehr wie ein Verbrechen, nämlich ein Fehler vorlag,
■ bietet beispielsweise das Verhalten, welches Friedrich der BfiroBe unmittelbar vor und bei Beginn des siebenjährigeD
Lriega beobachtete, vom reinen Zweckmäßigkeit« Standpunkt ms der Kritik nicht die geringste Angriffsfläche dar. Nach - formal -juris tischen Seite hin freilich gab es mindestens
Abhunill. VI ].
\m
VI 1.
ebensosehr als jeue zu den schwerwiegendsten Ausstellungen Anlaß, In erster Linie gilt daa natürlich von dem Schluß- und Endpunkt seiner damaligen Politik, d. h. dem gegen Ende des Jahres 1756 plötzlich und unerwartet erfolgten Einbruch in Sachsen; denn dieser Überfall mitten im Frieden war entschieden eine der gröblichsten Verletzungen des Völkerrechts', die sich nur ausdenken lassen. Aber auch schon von einzelnen Maßregeln der vorausgehenden Periode ist ahnliches zu behaupten. Wenn insbesondere zu den Mitteln, durch welche König Friedrich der sich all- mählich wider ihn bildenden Koalition entgegenzuwirken suchte, u. a. auch dies gehörte, daß er durch seinen Ge- " sandten in Dresden den sächsischen Kanzlisten Menzel bestechen ließ, ihm Abschriften der von dessen Regierung mit Österreich und Rußland geführten geheimen Korre- spondenz zu liefern, so kann ein derartiges Unternehmen, fremde Beamte zu korrumpieren und zur Untreue am eigenen Vaterland zu verleiten, nimmermehr zu den völkerrechtlich erlaubten Handlungen gezählt werden'. Indes, wie die Dinge damals für Friedrich lagen, konnte er sich unm^Sglich an Rücksichten formal-juristischer Art kehren. Nachdem er einmal erfahren hatte, daß eine übermächtige Alliuix
' Vnn dorn Umstand, daß die buiden beteiligten Forsten nominell auch noch UDler EemeinBuneD itantsroabtlicben MormeD, outer dur llerracbiift des heiligeD rSmiBcben Reiches deutscher Nstion standeti, »ehe ich mIr unwuneDtlich ganz ab. Die liieriiiiii Biegenden BBaonderheiten bieten blaS KariositfttaintereBB«.
' Bacblich in dieseni Punkte nit der herrBchendca Lehre durcbau» übereinstimmeDd, mScbte ich mich auch hier wieder mit der Art, wi den Gedsuken techuiacb meist konstruiert, keineswegs ideatifixieren, ecbon deshalb, neu sie abenuAls bloB mit BioeiD sogeD. „Grundrechte", n&mlich Aem „auf Achtang " lu operieren pfiegt fcf, u. a. llivior, Lehrbucb des Völker- rechts, 2. AuS-, S. 2TT; Der Gesandte „darf nicht Mittel anwenden, darcb die die den Staaten gescimidete Achtung verletzt würde; aluo nnmeutlich nicbt Bestechong tod Itenmten , Verleitung za Dienst- und anderen Ver- gehen u. dei^t." ; Gareis, Institutionen des VSIkerreobts, 2. Aufl., S. 1" „Der Gesandte darf niemals la Mitteln greifen, deren Gebrauch < Verletzung des Grandrevhtfl auf Arhtnng im vSlherrecbllicbeD Verkehr in «ich nehlieBen wflrde: dem Gesandten ist Spionage nicht aiir Päicbt gemacht, «indem sogar TSikerrecbllii'h verboten"). Vgl. iilerxu daa oben 8. 124, N. 3 Bemerkte.
rvi 1.
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I wider ihn im Entstehen begriffen war, eine Alhanz, der I gegenüber es sich für Preii6en von vornherein offenbar um ISeia oder Nichtsein handelte, war ea für ihn von der ' höchsten Wichtigkeit, stets genau über die Pläne seiner Gegner unterrichtet zu aein, und dieses Ziel vermochte er voUbetViedigend nur durch die Verbindung mit Menzel zu ei-- reichen und hat er so auch wirklich erreicht. Daa von letzterem gelieferte Material, im Verein mit der in Dresden selbst 175ö vorgefundenen Korrespondena, gab später den I Stoff ab für Hertzbergs berühmtes „Memoire raiaonnd", I welches jedem UrteilsiUhigen in der Tat eine „gegründete I Anzeige des unrechtmäßigen Betragens und der gefähr- lichen Anschläge und Absichten des wienerischen und sächsischen Hofs" gewährte.
Das ftnfte und überhaupt letzte Beispiel, welches hier als konkreter Beleg für die allgemeine, im ersten Teil unseres Paragraphen entwickelte Regel angeführt werden soll, mag wegen der besonderen Wichtigkeit des inter- nationalen Gesandtschaftsrechts diesem entnommen werden. I Es bezieht sich auf die noch immer nicht völlig auf- [ geklärten Vorgänge, die unter dem Namen des ^Hastatter l Gesandtenmords " eine berüchtigte Rolle in der Geschichte I spielen.
Um zunächst den äußeren Tataachenv erlauf kurz zu
Ibericbten, so bestand derselbe bekanntlich in folgendem.
L'Oemäß Art. 20 des zwischen Frankreich und Österreich
|l797 geschlossenen Vertrags von Oampo Formio war in
I dem badischen Orte Rastatt ein Gesandtenkongreß zusammen-
I getreten, der einen Frieden der französischen Republik auch
Imit dem Deutschen Reich vermitteln sollte. Die Verband-
I luDgen zogen sich jedoch, ohne endgültige Ergebnisse zu
I liefern, so sehr in die Länge, daß inzwischen die zweite
I Koalition gegen Frankreich sich bilden und den Krieg,
anfangs mit entschieden günstigem Erfolge, neu aufnehmen
konnte. Als die kaiserlich österreichischen Heere Rastatt
näher und näher rUckteu, löste sich der gegenstandslos
132 VI 1.
gewordene FriedenskoDgreß allmählich auf; insbesondere reisten am Abend des 28. April 1799 auch die drei repu- blikanischen Delegierten nach Frankreich ab. Unmittelbar vor den Toren der Stadt wurden sie überfallen, zwei von ihnen niedergemacht und der dritte in unaufgeklärter Weise gerettet.
Die große, der unbestrittenen Lösung noch immer harrende Frage ist nun, von wem diese Freveltat angestiftet und begangen wurdet Der von Haus aus weit über- wiegende Verdacht richtete sich gegen Angehörige der kaiserlichen Armee, speziell gegen Szekler Husaren, wobei die Ansichten des Näheren wieder darüber sehr auseinander- gingen, ob der Mord von oben her angeordnet war oder nicht, und eventuell, wieweit hinauf man beim Suchen nach der den Befehl erteilenden Stelle zu greifen habe. Dieser Verdacht ist auch nach dem gegenwärtigen Stande der Forschung noch nicht als gänzlich widerlegt zu erachten; er ist jedoch, wie zugegeben werden muß, durch Publika- tionen der jüngsten Vergangenheit, namentlich durch das umikngliche Werk von Criste, „Beiträge zur Geschichte des Rastatter Gesandtenmords** ^, mindestens schwer erschüttert worden, sodaß das kaiserliche Heer von der allerschlimmsten Verletzung des internationalen Gesandtschaftsrechts, von der brutalen Tötung der französischen Kongreßbevollmäch- tigten, möglicher Weise gänzlich wird freigesprochen werden müssen.
Indes auch angenommen, daß das wirklich der Fall ist, so ist damit die Angelegenheit für Österreich noch längst nicht völlig erledigt. Selbst eifrigste Verteidiger desselben wagen nämlich nicht zu leugnen, daß alle Papiere der Ermordeten von österreichischen Truppen beschlagnahmt^,
^ Es ist in dieser Beziehung eine ganze Anzahl verschiedener Meinungen angestellt und vertreten worden; eine gute Übersicht über dieselben findet man u. a. bei v. H eifert, „Zur Lösung der Rastatter Gesandtenmord-Frage^. Gesammelte Aufsätze. Stuttgart 1900.
2 Wien 1900.
^ Die spezielle Frage, von wem die ausdrückliche Weisung hierzu
VI I.
133
I
I I
ins Hauptquartier eingeliefert und erst nach gründlicher Durclisicht den zuständigen französiackeii Behörden ausge- folgt wurden, Ea ist auch leicht einzusehen, was für Be- weggründe und Motive damals für dieses Vorgehen maBgebend gewesen sind. Die republikanischen Bevollmächtigten hatten notorisch mit zahlreichen deutschen Reichsständen, teila direkt, durch Verbandlungen mit den betreffenden Kongreß- delegierten, teils indirekt, durch Vermittelung der an den einzelnen Höfen sich aufhaltenden französischen Agenten, weitgehende Beziehungen angeknüpft, und es mu6te jetzt filr den Kaiser militärisch wie politisch von größter Wichtig- keit sein, tlber Inhalt und Umfang derselben ins Reine zu kommen.
Nun kann es aber doch, streng juristisch beurteilt, gar keinem Zweifel unterliegen, daß aus dieser Sachlage eine formelle Befugnis zur Beschlagnahme der Papiere schlechter- dings nicht hergeleitet werden durfte; die gesamte ein- schlägige Literatur ist sich ja darüber völlig klar, daß die dem Gesandten zugebilligte Unantastbarkeit nicht bloß für seine Person unter allen Umständen geachtet werden muß, sondern sich ebenso auf die ihm gehörenden Gegenstände, in erster Linie sein Archiv, mit bezieht'. Hieraus geht tervor, daß Österreich, mag auch die Frage nach dem Ur- heber und Vollstrecker des eigentlichen Gesandten m o r d a ■u beantworten sein, wie sie will, sich doch auf jeden Fall
«rteilt norden war, kann dnbei vullatÄndig auf sich lierubeo bleiben; sa macht einen geringen Unterschied aua, ob man (xo beUpieUweise T. Helfen, a. a. O., S. 40 ff., 130ff.) den Oberkommatidioronden, Ere- faercog Kvl, aelbst an dem Anschlag auf das Archiv tailhaben läßt oder (m> Cri«t«, a. a. O. , S. 43 ff.) bloU Keinem Oeneralslabachef die letEl« Verantwortung mschiebeu will.
1 Statt vieler seien hier bloß die Worte von M arte dm- Bergbob m {VSlkerrecht, Bd. n, S. 41) auadrüuklic-b angeführt: „Die Unverletcbarkeit antreckt lich, wie auf die Gesandten, so auf alle Objekte, welche mit deren Amt und persünliclier Würde unmittelbar insaminenhSngen. Dem-
Ucbe Habe de» Gesandten ,
und
134 VI 1.
in der Kastatter Angelegenheit eines offenkundigen Bruchs positiver Völkerrechtssatzungen schuldig gemacht hat; der ganze Vorfall vermag uns als praktischer Beleg dafür zu dienen, daß auch die den internationalen Gesandtschafts- verkehr regelnden Normen, genau wie alle übrigen, bloß insoweit auf reale Befolgung rechnen dürfen, als der in concreto beteiligten Macht nicht die Übertretung derselben durch dringendstes Staatsinteresse unvermeidlich geboten erscheint.
§ 12.
In dem vorausgehenden Paragraphen ist gezeigt worden, daß der üblichen und meistvertretenen Lehre über die clausula rebus sie stantibus insofern ein schwerer metho- discher Fehler anhaftet, als sie etwas, was in Wahrheit für alle internationalen Verkehrssätze ohne Ausnahme gilt, speziell für die eine Regel Facta sunt servanda proklamiert: wir haben gesehen, daß keineswegs bloß diese, sondern überhaupt prinzipiell das gesamte Völkerrecht dort nie stand hält, wo für die Staaten die Sorge um die eigene gesicherte Existenz in Frage kommt.
Diese letztere Beobachtung ist nun eine so naheliegende und selbstverständliche, daß es kaum zu begreifen wäre, wenn sie noch niemals wissenschaftlich erfaßt und in irgend eine feste Form gebracht worden sein sollte. Tatsächlich ist das denn auch, ganz unabhängig und losgelöst von der Klausellehre, schon längst geschehen ; ja es lassen sich sogar in dieser Beziehung zwei verschiedene Lösungsversuche konstatieren, die aber beide, wie jetzt in aller Kürze gezeigt werden soll, nicht zu sachlich befriedigenden Ergebnissen geführt haben.
Als Beispiel für die erste Richtung können passend die Worte verwandt werden, die der englische Schriftsteller Hall an die Spitze des siebenten Kapitels im zweiten Teil seines International law^ setzt: „In the last resort almost
' S. 226.
VI 1.
135
the whole of the duties of states are subordinated to the righl ofaolf-preaervation".
Das in den völkerrechtlichen Lehrayetemen überhaupt 8o viel heruinspukende „Recht der Öelbaterhaltung" also ist €8, dem hier die Rolle eines Helfers aus der Not zuge- wiesen wirdf d. h, eine internationale Doktrin, der wir schon bei einer früheren Gelegenheit (Seite 124 Note 3) einmal flüchtig begegnet sind. Indes ist leicht zu bemerken, daß ihm jetzt eine wesentlich andere Aufgabe zugedacht wird, als es damals der Fall war; während es dort nur in negativem Sinne verstanden wurde, lediglich den wider alle übrigen Mächte gerichteten Anspruch des Staates darauf zu technischem Ausdruck zu bringen hatte, daß diese jede Vernichtung (oder, allgemeiner gesprochen, jede Verletzung) seiner politischen Existenz unterlassen, erscheint es hier, wie 'aus den unmittelbar folgenden Darlegungen Halls deutlich liervorgeht, in positiver Funktion; es soll eine Befugnis zum Tun, „die Berechtigung zur Ergreifung aller Maßregeln, welche zur eigenen Selbster halt ung notwendig sind" ', gewähren.
In der völlig verschiedenartigen Beurteilung nun, die man diesen beiden heterogenen, von der Theorie zu einem Begriff vereinigten Bestandteilen nach der Lage der Dinge widerfahren lassen muß. tritt an einem Einzelpunkte recht instruktiv eine Eigentümlichkeit zutage, die ganz generell für die Kategorie der sogenannten internatiünalen Grundrechte charakteristisch ist. Dieselben sind nHmlicb ihrem materiellen Gehalte nach keineswegs vollständig zu verwerfen; vielmehr begreifen sie unleugbar zahlreiche und wesentliche Elemente der positiv- gültigen Internationalordnung in sich. Aber freilich, da die letzteren in durchaus unzulässiger Weise mit fremdartigen Bestandteilen vermischt und durchsetzt sind, die innerhalb des eigentlichen Völkerrechts nicht das
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mindeste zu suchen haben, so vermag nur vollständige Preisgabe der Grundrechtsformel als solcher wenigstens sachlich etwas von der ganzen Lehre zu retten; es ist in der Tat ganz richtig, daß „der juristische Inhalt dieser Materie unter anderweite Kategorien im System des Völker- rechts zu subsumieren ist, der naturrechtliche und politische Inhalt dagegen ausgeschieden werden muß^ ^ Speziell auf unseren Fall bezogen, nimmt dies die Gestalt an, daß in jener negativen Funktion des Selbsterhaltungsrechts, ungeachtet der auch hier recht unbefriedigenden Formu- lierung, ein durchaus berechtigter Kern enthalten ist^, daß jedoch die positive jedweder Legitimation und Grundlage entbehrt und daher restlos zu eliminieren ist. Um die prinzipielle Verfehltheit derselben recht augen- fällig zu machen, dazu genügt es eigentlich schon vollständig, auf sie den bekannten Spruch anzuwenden „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen" ; gelangt doch mit ihrer Hilfe insbe- sondere Hall dazu, sogar die kaum noch zu überbietende Brutalität, die England 1807 an Dänemark verübte, ganz unbedenklich und gerechtfertigt zu finden. Er deduziert nämlich^ in aller Harmlosigkeit: weil in diesem Jahre die nahe Möglichkeit bestanden habe, daß sich Frankreich der großen dänischen Flotte bemächtigte, so sei England im Interesse seiner Sicherheit unbedingt genötigt gewesen, diese seinerseits . in Besitz zu nehmen ; da nun Dänemark das entsprechende Verlangen in Güte nicht habe zugestehn wollen, so habe England zu seinem eigenen großen Be- dauern, keinesfalls aber völkerrechtswidrig, dazu verschreiten müssen, die Hauptstadt eines neutralen Staats drei Tage lang zu bombardieren, und so die gewünschten Schiffe schließlich durch sanfte Gewalt zu erhalten! Und doch lag damals die Sache offenkundig so, daß eine bereits vor- handene Gefahr für den Bestand des britischen Staats noch
1 Uli mann, Völkerrecht, S. 80.
^ Das ist ja auch von uns seinerzeit ausdrücklich anerkannt worden.
8 A. a. O., S. 229 flf.
rvi 1.
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gar nicht in Frage kam; vielmehr vei-mochten die englischen Staatsmftnnei' mit einer bloßen Hypothese, mit dem kondi- tionell höchst verklausulierten Gedankengang zu operieren: „Wenn Kaiser Napoleon sich mit Dänemark verbündet
>(oder auch es zwangsweise seinem Willen unterwirft), wenn «r dadurch die gesamte Flotte desselben in seine Macht bekommt, w e n n er sie zum Transport französischer Soldaten an die britische KUste benutzt, wenn diese den langen Weg dorthin trutz der weit überlegenen gegnerischen See- macht glücklich zurücklegen, und wenn es auch gelingt, eine beträchtliche, sofort gefechtst'ühige, mit hinlänglichem Kriegsmaterial und Proviant versehene Streitkraft wirklich
»zu landen, so kann sich daraus (ür unser Gemeinwesen eine recht bedrohliche Situation ergeben/ Man darf wohl getrost behaupten, daß, sobald einmal eine derartige Argu- mentation als ausreichend ungesehen wird für Fälle, bei denen „the right of self-preeervation juatifies the commission of acts of violence .igainst a friendly or neutral state", über- haupt kein Völkerrechtssubjekt nur einen Moment lang wider gewalttätige Angriffe aller übrigen Juristisch geschützt «rschieue; denn die Möglichkeit, daß jeder Staat jedem Staat unter irgendwelchen Zukunftskombinationen einmal gefährlich werden kann, ist offenbar ätets vorhanden, und es müßte daher den Mächten konsequenter Weise auch gestattet sein, zur präventiven Selbstverteidigung einander permanent zu überfallen und unschädlich zu machen.
Aber auch bei vorsichtigster, unmittelbar gegen- I WÄrtige Gefahr fordernder Itestriktivfassung wUrde Idie Sache kaum wesentlich besser ausfallen. Wegen der r Öfters schon' konstatierten Tatsache nämlich, daß dem I Völkerrecht jede autoritäre selbständige, unabhängig von tAtto Parteien über das konkrete Zutreffen oder Nichtzutreffen Ider abstrakten Normen befindende Jurisdiktionsgcwalt Idurcbaus abgeht, muß der Satz „Jeder Staat darf, iinbe-
' Vgl. S. 74, 107.
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VI 1.
kümmert um Inleressen und Ansprüche der übrigen, kraft seines Selbsterhaltungsrechts sämtliche Maßregeln vornehmen, die zu seiner gesicherten Fortexistena objektiv notwendig sind," praktiseh sofort zu dem anderen umschlagen „die er subjektiv für notwendig hält". Damit erscheinen aber alle jene achwernten Unzuträglichkeiten, die wir S, 74 flf. speziell für die clausula rebus sie stantibus entwickelt haben, alsbald wieder auf der BildüUcbe, nur mit dem Untere ciiiedof daß sie hier, wo nicht mehr bloß die eine Regel Pacta sunt servanda, sondern, entsprechend der ungemeinen Dehnbar- keit des angeblichen S el bst er hal tu ngs rechts, überhaupt der ganze internationale Normenkoniplex partiell außer Funktion gesetzt werden soll, geradezu bis ins Ungemesseoe wachsen, Helhst wenn stets auf vollste bona iides der Parteien zu rechnen wäre, müßte die Verwirrung, die infolge der Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der subjektiven An- sichten unbedingt einreißen wird, die unheilvollsten Wir- kungen äußern; noch weit schlimmere Befürchtungen würde aber zweifellos der Umstand rechtfertigen, daß jetzt anch dem bösen Willen überall eine bequeme juristische Mas- kierung gesichert ist, daß er nunmehr die schwersten Rechtsverletzungen formell immer in das Gewand d< eigenen Rechtabehauptung einzukleiden vermag.
Nach alledem würde die real-geltende Völkerrechta- ordnung an sich selber einfach eine Art Harakiri vollstreckt' haben, wenn sie wirklich die positive Seite des doktrinXri gebildeten Sei bs terhal tu ngs rechts hätte gutheißen und in^ sich aufnehmen wollen. In Wahrheit ist aber etwas d< artiges niemals und in keiner Weise geschehen. Daß dii wichtige, ja allea entscheidende Tatsache von der Theori* 80 ganz ignoriert werden konnte, ist lediglich darauf zurück- zuführen, daß die letztere, fußend auf früher ganz allgemein herrschenden Anschauungen, die sogenannten internationalen Grundrechte überwiegend noch heute als absolute sub-' jeklive Rechte, d, h, als solche behandelt, die den Staaten b&-| grifflich und ganz von selbst, ohne besondere Konzeasio
I
VI 1.
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seitens der übrigen, zustehen sollen. Nun paßt aber doch auf diesen ganzen Ideenkreis sicher nicht weniger die Qtialitizierung als „Werte von geetem", wie diese Bc- seichnuDg auf veraltete staatsrechtliche Gedanken Systeme angewandt worden ist ' ; nach dem jetzigen Stande wissen- schaftlicher Erkenntnis dürfte man eigentlich nirgendsmehr subjektive Ansprtkhe anerkennen, die nicht aus positiv fliol3ender Rechtaquelle, in unserem Fall aus der irgendwie zu erschließenden Willensübereinstimmung der mit einander Verkehr pflegenden Staaten, herstammen. So- bald man es jedoch unternimmt, in dieser allein zulAssigen Weise den auf Grund des „Selbsterhaltungsrechts" erfolgen- den Aktiv eingriffen in fremde Rechtssphären ein objektiv gültige« Fundament zu verschaffen, zeigt sich sofort die prinzipielle Haitlnsigkeit der ganzen Lehre; liefert doch schon eine Durchmusterung der wenigen, in § U gegebenen Oeschtchtsfälle Belege genug dafür, daß die jeweils positiv betroffenen Staaten die Sache nicht bloß nicht stillschweigend hiozunehmen pflegen, aondern regelmäßig wider sie scharfen ■Protest erheben. — ■
Angesichts der schweren, vorstehend entwickelten Schwächen und Übelstände kann es nicht Wunder nehmen, daß die hier bekämpfte Konstruktion bald als recht mangelhaft «mpfunden werden mußte, und daß deshalb von manchem Schriftsteller der Versuch gemacht wurde, sie durch eine andere und bessere zu ersetzen. Nach welcher Richtung man die erforderliche Abhilfe zu gewinnen strebte, das ergibt sich beispielsweise aus den Worten Heilborns^, 1a8 in den uns interessierenden Fällen von den Staaten anicht ein Sclbsterhaltungsrecht ausgeübt, sondern im Not- tande gehandelt wird",
Eb iet nicht zu bezweifeln, daß diese Formulierung,
' VooAnai^iiüIz in sein I VeTmCgerubeauliädigun^n ■ ««ralt*'. * A. II. O, S. 2Ö6.
140 VI 1.
verglichen mit der früheren, einen wesentlichen Fortschritt bedeutet. Dann schließt sie auch ganz unverkennbar eine gewisse Annäherung an die von uns adoptierte Auf- fassungsart in sich, wie schon aus dem Umstände sich ver- muten läßt, daß wir seinerzeit^, bei der Vorbereitung zur Entwicklung der letzteren, auf den innerstaatlichen Notstand als eine, in bestimmtem Sinne verwandte Erscheinung bezug nehmen konnten. Freilich, da das damals bloß in An- wendung auf eine der drei an sich hier gegebenen und vertretenen Konstruktionsmöglichkeiten geschah, und da diese alle auch bei der völkerrechtlichen Notstandslehre un- verändert wiederkehren, so kann jene Annäherung nicht bei sämtlichen in Betracht kommenden Autoren mit der gleichen Stärke zu konstatieren sein. Sie ist am wenigsten vor- handen bei denjenigen, die den internationalen Notstand als spezifisches Not recht auffassen^; sie beginnt dort schon etwas mehr hervorzutreten, wo man weder die Erlaubt- heit noch das Verboten bleiben , sondern die juristische Indifferenz der in ihm vorgenommenen Handlungen be- hauptet^; sie ist endlich am meisten bemerklich bei der
' § 9, S. 98ff.
^ Konform der im modernen Kriminalrecht zu machenden Be- obachtung, wird eine solche Lehrmeinung heute auch für das Völker- recht entschieden am seltensten ausgesprochen und verteidigt; daß sie aber in diesem keineswegps ganz unvertreten geblieben ist, daför können als Beleg die Worte Klübers (Europäisches Völkerrecht, 2. Aufl. 1851, § 44, S. 53/54) dienen: „Da die Pflicht der Selbsterhaltung für den Ver- pflichteten höher ist als jede andere, so kann es nicht als Rechtsverletzung geahndet werden, wenn bei evident dringender Not des Staates, in dem Fall unvermeidlicher Kollision zwischen vollkommenen Pflichten gegen andere Staaten und seiner Selbsterhaltung, eine Staatsregierung — die letztere vorzieht und so von der Not^nst Gebrauch macht, die von einigen sogar Not recht genannt wird.
' Zum Beleg für diese, gegenwärtig wohl von der überwiegenden Mehrheit der Schriftsteller angenommene Konstruktion darf auf die Aus- fabrungen V. Liszts (Völkerrecht, 3. Aufl., S. 191, verb. mit S. 11) verwiesen werden. Wie derselbe nämlich schon im innerstaatlichen Recht für die oben charakterisierte Anschauung eingetreten ist, so hat er das gleiche auch für die Behandlung der Internationalverhältnisse strikt durch- geführt; eine scheinbare Hinneigung zur Theorie des spezifischen Not- rechts, die in der ersten Auflage seines Völkerrechts an einer bestimmten, nicht ganz unmißverständlich formulierten Stelle (S. 118) noch vor-
'VI 1.
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durch Ullmann' und andere bekundeten Auflassung, welche der im innerstaatlichen Recht einen bloßen Straf- auaschlieBungsgrund statuierenden Lehrt; entspricht.
Bei alledem ist aber selbst die letztgenannte Richtung noch weit davon entfernt, einen durchaus befriedigenden, der Eigenart des Völkerrechts völlig angemessenen Ausdruck für den zur Erörterung stehenden Sachverhalt zu bieten; im Gegenteil läßt sich auch der völkerrechtlichen Not- Btandsdoktrin in allen ihren bisherigen AusprAgungen nicht der Vorwurf recht mangelhafter Fundierung ersparen. Quell und Ursprung alles Übels ist die viel zu geringe Genauigkeit, mit der sie die beiden Bedeutungen ausein- ! anderzuhaiten pflegt, in denen das Wort Notstand nach I Lage der Dinge gebraucht werden kann.
Dasselbe vermag einmal zur Bezeichnung einea rein tat- [ Bäcblich vorhandenen Zustands zu dienen'. Streng auf l solche Weise, ohne jedes weitere Zusatzelement verstanden, I will 66 lediglich der mit dem Bestehen aller Rechtsordnungen, [also auch der internationalen, ganz von selbst gegebenen EUöglichkeit zum Ausdruck verhelfen, daß manchmal Juri- Istisch gleichmäßig geschützte Interessen verschiedener Per- BD in KoUision geraten können und alsdann eines immer nur auf Kosten des anderen ausreichend zu wahren ist.
bmden war, ist echon in der zweiten durch ächärfere und prSziserc FanButig fJpC. 8. 1S7'168) TollBtSndig vermiedeD.
■ > Vgl. VSlberrecht, S. 81: „Beßndpt «idi ein Staat iu einer Lage,
■in der die Erhaltung Heiner BiiBtenz derart in Frng« gestellt Ist, daß er WMk Qefiibr nur dnrch Übertretung von Narmen des VBikcrrechls — be- Mltigen kann, so liegt ein Fall des NotctandB vor ^; ein Recht znr Tornshue betreSeader Handlungen wird nicht anerkoniiti die Handlungen find rechtswidrig, es xensieren nur die mit aolclien HHiidliuigeu koubF VQTlmfipften rcohllichen Folgen."
* In dicHem t^lnoe wird es, mehr oder weniger deutlich, bei allen •riSabeaümmungen angewandt, die die «trafrechtlichen SjAteme und wrbücfaer allgomeiu-aprioriach , noch ohne Rücksicht auf die jeweils lorhandeDe positiv-juriatiBche AuaprSgung des Gedankens, vonNotstand B geben pfleget). Beaonderti klar tritt die» beiJanke cstage, da dieser JDer «cafrecbtliche Noteland, 1878, 8. 2«/29) unseren Fall als „daa Ver- «Sl t nis" deflniert, .in welchem mehrere aelliatÄndig nebeneinander lebemle, durch da« Recht gesicherte Giilerintereasen tatnichlicb ncben- ' oder nicht bestehen kSnneu".
142 VI 1.
Sorgfältig hiervon zu unterscheiden ist die zweite Be- deutung, bei welcher Notstand das technisch ausgebildete, positiv sanktionierte Institut je eines einzelnen Rechts- sjstems bezeichnen soll. Es liegt nun auf der Hand^ daß, in diesem Sinne gefaßt, mit dem Begriff keineswegs so voraussetzungs- und ausnahmslos hantiert werden darf, wie es beim Gebrauch in der ersten Bedeutung allerdings und ohne weiteres zulässig erscheint. Um ein praktisches Einzel- beispiel anzuführen, so stand auch für die germanischen Stammesrechte die Sache von Anfang an so, daß hier oft genug Lagen vorkamen, „worin man nur durch eine ver- botene Handlung ein gefährdetes Rechtsgut erretten konnte" ^; spezifische juristische Berücksichtigung jedoch haben die- selben lange Zeit, teilweise bis ins 15. Jahrhundert^, nicht erfahren; vielmehr wurde damals die in (faktischem) Not- stand begangene Tat prinzipiell genau so behandelt und geahndet, wie jede andere Verletzung fremder Rechtsgüter auch®. Darin konnte, hier wie überall, eine Wandlung lediglich auf dem Wege eintreten, daß die betr. Rechts- ordnung selber, fußend auf der allmählich gewonnenen Er- kenntnis, daß jene, zunächst rein tatsächlich vorhandene Konstellation gerechter Weise auch eine juristische Privi- legierung verdiene, ihr dieselbe zu gewähren beschloß und wirklich gewährte.
Gerade dieser Umstand aber, daß der faktische Not- standsbegriff einzig und allein durch Akte positiver Rechts- setzung in den juristischen überführt werden kann, wird von der Lehre vom internationalen Notstand so gut wie vollständig außer Acht gelassen ; sie operiert offenkundig mit
1 Binding, Handbuch des Strafrechts, I, S. 759.
* Wie aus den Darlegungen von His, Das Strafrecht der Friesen im Mittelalter (Leipzig 1901j deutlich hervorgeht. Darüber, wie spät und mühsam auch sonst im deutschen Recht der Notstandsgedanke praktisch- wirksame Anerkennung gefunden hat, vgl. Schroeder, Deutsche Rechts- geschichte (4. Aufl. 1902), S. 348.
' Cf. u. a. Lehmann in Birkmejers Enzyklopädie der Rechts- wissenschaft, S. 281.
rvi 1.
143
[ letzterem als rechtlicb relevantem Institut, ohne irgend- I welchen exakten Nachweis dafür zu liefera, wann und wo- I durch die auaschlieBlich zur Um- und Fortbildung des I internntionalen Normenaystema kompetenten Subjekte, die I Staaten, eine entsprechende Regel sanktioniert haben sollen. 1 Und doch waren derartige Unterauchungen für sie in ihren sämtlichen drei Richtungen gleich unentbehrlich und not- wendig gewesen. Denn wenn ein spezifisches Notrecht bestellen aoU. no muß diesea unbedingt allen in gefährliche Lagen geratenden Mächten positiv zugebilligt worden sein; Lvenn die juristische Indifferenz, das Fehlen der He chts- liridrtgkeit fUr Notstandsfhile behauptet wird, so ist die I Schaffung einer einschr äu k en d- ii egati v wirkenden [ Korm des Inhalts eingehend darzutun, daß sämtliche VOlker- ichtspflichten ' auf gewisse ExzeptionalverhfiltniBse keine 1 £r3treckung finden, wenn die UllDiann'sche Auffassung das I aufinabinsweise „Zessieren der sonst mit rechtswidrigen [.Bandlungen verknüpften rech tliclien Folgen" vorsieht, hao hat sie den generell verfugten äatz aufzuzeigen, auf rGrund dessen diese regelmäßig und im allgemeinen ein- I tretenden Folgen* unter bestimmten Voraussetzungen nicht |Flatz greifen sollen. Solaiige für alle diese Dinge der
' Einatliließlich dnr durcli aiisdrilckliche Vereinbarung völlig ilü- B Buttert übemommenen ! Ein Beispiet mag die Suche verdeutlichen. Durch "b St. Petersburger Deklaration vom 11. UeKetnl>er IS68 hal>en die be- a Michto ohne jeden Vorbehalt versprochen, »ich hui Krie^n mit-
JT gewiBBer EiploHivgeschoBne nicht xa bedienen; trotzdem wäre
« nach der durch v. Liszl, Völkerrecht, 6. 19lKattx all^mein aufgestelllBii
rbMe, nicht als formelt völkerrechtswidriff zn Hrachlen, wenn aiu Staat
llWiin lebrten Bingen um seine Existenz im Gebrauch derartiger Ku«aln
ll^e ReHuni; snchen wollte. Das bastreitu ich Jedoch auf das Ent-
KscUedenste: ich vermisse eben gAnzUch die positiv-juristische
■SnuuUaee für den abstrak t-snpponierlen Satz, daß „der Notstand
K*llen Afctou den Charakter der Rechts Widrigkeit lu nebmen vermag"
Efv- Lixt, a. a. O., S. 176), daß „der BegrifT der vaikerreuhts widrigen
■ BandluDgen anter alten Umständen dann enttSllt, sobald das Vorgehen
' le« Staats gegen einen anderen im Interesse «einar eigenen Sichurheit.
r Wahrung seiner SanveränctAt erforderlich wird" (A. Zorn, Qrand-
ge de« VOtkerrechtü, 2. Aufl.. S. U6).
' Was als solche tut das der speziflschen Strafeewalt entbehrende UkeiTetht allenfalls in Betracht komtneu könnte, darüber siehe Uli' i. O., 8. 177 f.; V. Liszt, 8. 183 f.
144 VI 1.
Nachweis entweder gar nicht angetreten ^ oder bestenfalls in unzulänglicher^ Form geführt wird, schwebt die Annahme, daß auch in die internationale Ordnung das Notstands- institut in technisch-juristischem Sinne Aufnahme gefunden habe, vollständig in der Luft; sie kann nur die Rolle eines naturrechtlichen „Mädchens aus der Fremde" spielen — „man wußte nicht, woher sie kam!** ®
Selbstverständlich würde dieses Urteil seine Berech- tigung verlieren, sobald überzeugend dargetan würde, daß die Staaten einen derartigen, sei es nun ausdrücklich oder stillschweigend-gewohnheitsmäßig erklärten Gemeinschafts-
' Das ist u. a. bei Heilborn der Fall, der dem S. 139 von uns zitierten Satze: „Es wird im (faktischen Notstande gehandelt^ noch auf derselben Seite (a. a. O.» S. 296) ganz unvermittelt den anderen folgen läßt: »die Notstandshandlung ist nicht widerrechtlich", worauf später (S. 858) von „der allgemeinen Notstandsnorm des Völkerrechts*' wie von etwas unbestreitbar Feststehendem gesprochen wird.
"^ Das g^lt z. B. von demjenigen, was Lunder in Holtzendorffs Handbuch des Volkerrechts (Bd. IV, S. 255), freilich nicht generell, sondern bloß far einen angeblichen Notstand- Spezialfall (Verhältnis der sogen. Kriegsraison zur regelmäßig einzuhaltenden Kriegsmanier) bemerkt: „Ebensowenig kann die Berechtigung zur Kriegsraison geleugnet werden beim Eintreten äußerster Noträlle. Ist schon bei Notlagen einzelner (!) die Straflosigkeit von noch so schwer verletzenden Notstandshandlungen anerkannt (!!), so muß (?!) das in noch höherem Maße im Kriege der Fall sein, bei dem so viel mehr auf dem Spiele steht." Darauf ist zu erwidern, daß, wenn auch in 100 Kechtsordnungen irgend ein Satz positiv eingeführt ist und besteht, dies noch gar keinen Rückschluß auf die 101. erlaubt, am wenigsten dort, wo die letztere (was auf das Völkerrecht notorisch zutrifft) weitaus unentwickelter und loser organisiert ist wie sämtliche ersteren.
' Übrigens läßt sich ganz die nämliche Kritik auch auf gelegent- liche Erscheinungen aus anderen Rechtsgebieten anwenden. Wenn u. a. H. Schulze (Preußisches Staatsrecht, II, S. 447) das Nichtzustande- kommen des Etatgesetzes einen „abnormen, verfassungswidrigen Zustand nennt, in welchem die Regierung nur nach den Geboten des Notstands die Staatswirtschaft weiter zu führen berechtigt (!) und verpflichtet ist'', so sieht man sich vergebens nach Normen um, durch welche dieses Prinzip in das ^Staatsrecht positiv eingeführt wäre. Sollte etwa eine Basierung auf solche überhaupt für entbehrlich und überflüssig gehalten werden, dann könnte man natürlich mit derselben Berechtigung beispielsweise auch behaupten, in dringenden Notfällen sei die Regierung des Deutschen Reiches zum Erlaß sogen, provisorischer Gezetze formell befugt, trotzdem die spezifisch-rechtliche Regelung unseres Verfassungslebens, insbesondere die Konstitution vom 16. April 1871, von dieser Kompetenz nicht das mindeste weiß (vgl. Lab and, Reichsstaatsrecht, 3. Aufl., 1, S. 265, 567).
'VI 1.
145
I
I
willen wirklich an den Tag gelegt haben. In der Tat stößt man, sobald zunächst die erstere Form internationaler Rechtsbildung, die rechtsetzenden Verträge daraufhin durch- gesehen werden, verhältnismäßig gar nicht so selten auf Bestimmungen, die ganz unverkennbar eine gewisse Regelung des Notstand 8 Problems bezwecken. Indes ist wobt zu be- achten, daß es sich dabei fast stets nur um völkerrechtliche Abmachungen darüber handelt, wie nach beatimniten, auch das Ausland tangierenden Richtungen die innerstaatliche Herracliaftsgewalt gehandhabt werden soll; mit anderen Worten, die betr. Traktate geben weit überwiegend nur bindende Anweisungen, daß und wann einzelne in Notstand geratene Menschen von letzterer für ihre Handlungen nicht haftbar zu machen sind '. Dagegen bieten sie im allgemeinen äußerst wenig, was auf das hier allein in Frage kommende gegenseitige Verhältnis der Staaten als solcher Bezug hätte; vielmehr läßt sich in dieser Hinsicht nur höchst spärlich und ausnahmsweise' einmal eine Fest- setzung, daß die Mächte selber in außerordentlichen Fällen von der Befolgung normaler Völ k errech tssätze absehen dürfen, namhaft machen; und selbst wenn dies häufiger, als
> Vgl. I. B. Art. 2 iea Parieer Vertrags (vom 14. Märe 1884] zum
SoblttEe der imti^rHeeiaubcn Tctegraphenkab«! IMiirteiiN, N.ILG., t, 11,
t XI, 8. 283): „La riipture ou la d^tärioration d'iin cäble — »ouamarin —
mI jnitiisMbU. Cett« dUposition nv a'applique pas aux ruptureB oq
ÜtirioratioiiB do&t les ttuteurB u'auraient eu qae le bnt l^itime de
proliger lear vte ou la a^caritä de leur» bätimeiits, apr^i avoir priii iDutea
Im prfcautioUH pour ^viter ces ruptiire» nu d^teriorations." Einen ireitereii
rechl iDtereHHNDtüu Fall (bei dem der tecbnieche Notstaadsbegriff xu dem
einer Art Notbilfe erweitert auftritt — bez. diesen Begriff« eu vgl. n. a.
E&atier, Ober den strafrecbtlicLen Notstand und die Grenzen dar Selbst-
bille ameh UeiuljuU-alrecbt, 1902, S. IT) gewährt die BeiidnunujBg des
. dmtMh-tiiederländiaeheD Vertrag» vom 11. DisKember 1873, daß Äreten
Lder GrenBgenjeiudea bei drohender TodeHgefahr anuh im Nat^hbar-
EMaat die (somit verbotene) Verabfulgung von Medikamenlen gestattet ist.
■ * üf. ArL 23 des auf der Haager FriedenakonfereaE angenommenen
I K^Bment ooncemant les lois et coutiimes de la guerre lur terre: .,t)ul7e
Im probibition» ätalilies pour des conventionn cpäciales, il e
(Uerdil: — g., de d^trulre ou de saiair des proprift^i enu
3 n^cei
ildti de la
SluU- u
olitl. ,
■Hin.
- SdiDiiJI.
10
146
VI 1. '
es wirklich zutrifft, der Fall wäre, würde bis zum strikten Beweise des Gegenteils jedenfalls immer noch die Regel Platz zu greifen haben, daß gerade die ausdrLickliclie An- erkennung, die einem Qrundsatz für bestimmte Spezial- beziehungen beigelegt wird, weit eher gegen die Absicht J seiner unbeschränkten und generellen Sanktionierung ( spricht ala für sie'.
Demgemäß würde man von vornherein in der Haupt- j sache darauf angewiesen sein, durch Argumentation aus dei gewobnheitsreciitlichen Praxis den Nachweis für die positive Einführung eiuer allgemeinen internationalen Notstandsnorm zu versuchen. Indes, wer diesen Weg einachlägt, für den macht sich alsbald wieder die schon oben*, bei der Lehre
j AuBBinaiider-
' Itei dieser ßelegenlicil wird jiuMiend gleich «ach ^ i ätellung zu nehmen sein, die v, Liszt auf S. Wi! Beioea VSIkerreclitB gibt. Nachdem derselbe nämlicb, S. 191, EuuöchBt bloß die unbewiesene (vgl. üben S. I42f.] Behauptung angestellt hnt: „Uer strnf- rechtliuh und privatrechtlich anerkiinnte Begriff den Notattmd« BohlieBt auch für dns Gebiet de« VöllterrechtB die Bechtawidrigkeit der begangenen Verletzung kub*', xählt er weiterhin nls „auf dem Begriff de« Nutstanda berDfaend" nocb „eine lleihe vun allgctnetn anerkannten (?), wenn auch meiBt nicht unter ihn gebrachten (SpeEial-lRechtagrundBätzen" auf. Daraus h5nnte man »lienfalls schlieBeu wollen, daß indirekt überhaupt das Prinzip aU solcbeiSi in und vermöge der Sanktionierung der letzteren, nach V. Liest ala positiv anerkannt zu erachten sei. Index würde gi^en eine solche Argumentation bei der doch inunerhin recht geringen Zahl (bb Bind bloß vier] der von ihm namhaft gemachten Einzelnomien vor allem natürlich der oben im Text formuliert« OrundBatz wieder mit Tollei ächSrfe Bprecfaen ; anHerdem aber lieBe Eich wider sie auch noch ver- achledenea andere ins Feld führen. Namentlich tväre darauf hinzuwüsen, daB die Bngeiührten Fälle — der grSQere Teil TolUlJlndig, der BcBt wenigstens partiell und nach hostimmteD Richtungen hin ~ dem apesi- üscbou Eriegsrecht angeli5ren: ea maß aber nffenbor als raethodiBch bedenklich gelten, aua einem anomalen, bloß ausnahmaweiEe unter den Staaten herrBchendeu Rechts zuEtande Schlüsse iiuf da» normale Verhältnis zwischen ihnen xu ziehen. Dazu komnil dann noch, daß der Euletlt gt^ebcnc Fall, der der aogen. rel&che farc^e, gar niclit oder höchstens sekundär, in den gegebenen Zusammenhang herein paßt, wie mir scheint;, denn wenn ein (Staala- oder Privat-)Schiff bei Seenot einen freuidan, kri^»v rechtlich blockierten oder aus sonut einem Grunde ihm verachloBseiiBlS Hafen anlaufen darf, so handelt doch eigentlich kaum die HeimatmaohU sondern bloß die Bemannung des Fahrzeugs in dringender Zwangalaj d. h. es wird sfstematisch richtiger eine zugunsten von Individu personell erlassene Notstandsbsstimmuug (und damit in gewissem Si ein Seitenstück zu den S. 145. S, 1 genannten Fällen) anzunehmen a ' S. 139.
I
Vi 1.
147
vom Selbsterlialtungsrecht, kurz bertÜarte Tatsache eut- scheidend bemerklich, daS eigeiitltch jedesmal, wenn eine Macdit in dringender Zwangslage sich über irgendwelt;he IntemationalpBicht hinweggeaetzt bat, die Gegenpartei teb- ha.it dawider remonstriert, und es folglich zu der für die [Entstehung praktisch -gültiger Völkerrechtsnormen sehleohter- dings unentbehrlichen staatlichen Wüleneein igung regel- mftßig nicht kommt. Damit iat nun auch die zweite und letzte Möglichkeit geschwunden, mit der überhaupt die Bildung solcher Normen positiv sich dartun läßt, und man wird deshalb notgedrungen ganz darauf verziehten müssen, in dem dermaligen Bestände rechtlich gesetzter und ge- übter Völkerverkehrssätze etwas ähnliches wie die vou einem Teil der Wissenschaft theoretisch gelehrte Notstands- doktrin wiederzufinden.
Auch ist meines Erachtens nicht darauf zu rechnen, riUS hierin jemals eine wesentliche Änderung eintreten wird, lenn im letzten Einsatz und auf die extremste Möglichkeit xogespitzt, würde die positive Anerkennung jener Norm notwendig doch auch das gegenseitige Zugeständnis invol- vieren müssen, in Fällen dringender Gefahr dürfe der eine Staat sogar auf Kosten des gesamten politischen Bestands des anderen sich helfen. Tiefer und schärfer erfaßt, die Mächte müßten erat altruistisch genug denken, sich unter Umstanden zu Gunsten eines Mitstaats die eigene Existenz- berechtigung abzusprechen; sie müßten dii; Erklärung — formell oder doch der Sache nach — über sich gewinnen, zu sagen: „Ich gestehe dir d^s ausdrückliche Kecht zu, unter Umständen mich selber umzubringen," resp.: „Eine derartige Tat soll mir wenigstens als rechtlich unverboten, materiell verseihlich und entschuldbar (oder wie sonst die Formel gewählt werden mag) gelten," Einer Entwicklung nach dieser Richtung hin steht aber ein für alb^mal die rein egoistische Tendenz entgegen, auf Grund deren der gesamte Völkerverkehr entstanden ist und permanent sich abspielt: wenn die Staaten innerhalb desselben notorisch stets bloß
10*
148 VI 1.
Nutzen und Vorteil, Förderung ihrer spezifischen Einzel- interessen suchen, so wird nie daran zu denken sein, daß sie die Antastung ihres höchsten Interesses, des eigenen Lebens je in irgend einer Form für erlaubt oder auch nur diskutabel erklären sollten^. —
Durch die sämtlichen, vorstehend entwickelten Er- wägungen kann jetzt wohl soviel als ausreichend festgestellt gelten, dafi die Heranziehung des technisch-juristisch geord- neten Notstand sinstituts für das Völkerrecht prinzipiell verfehlt ist Ja es läßt sich aus ihnen im Grunde sogar noch ein wesentlich weitergehender Schluß ziehen, nämlich ganz allgemein folgern, daß überhaupt keine wie immer geartete Konstruktion des uns hier beschäftigenden Problems sich praktisch wirksam zu bewähren vermag, die, wie es bei jenen tatsächlich zutrifft, für den tiefsten und ent- scheidenden Nachweis ihrer Berechtigung lediglich auf das Dartun einer seitens der Staaten selbst gemeinsam gesetzten Regel angewiesen ist; einzig eine solche Theorie darf von vornherein auf befriedigende Ergebnisse hoffen, die von dem letzteren Requisit vollständig zu abstrahieren in der Lage ist.
Das ist nun aber bei derjenigen Lehre wirklich der Fall, die von uns seinerzeit aufgestellt wurde, und die jetzt
' Des Vergleichs wegen sei hier die Einflechtong einer rechts- historischen Reminiszenz ans einem anderen Gebiet gestattet. Als Beccaria sich 1764 entschieden gegen die Zulässigkeit der Todesstrafe aussprach, war einer der Hauptgründe fu% seine Stellungnahme bekanntlich der, „weil in dem Vertrag, worauf der Staat beruht, keiner eine Macht gewollt haben kann, welche das Recht, ihn zu töten, einschlieBt^. Diese Argumentation war, von allem anderen abg^ehen, schon um deswillen falsch, weil der (auf realgeg^bene Naturtriebe basierte) Staat und mit ihm sein Recht in Wahrheit gar nicht erst aus einer Vereiubarung von Individuen hervorgegangen ist und also aus dieser, bei ihm nur &tiver Weise angenommenen Entstehungsart auch keine Folgerungen bez. der Grenzen seiner Betatigungsfahigkeit gezogen werden dürfen. Dagegen paftt jener Gedankengang, sofern man ihn nur seiner spezifisch-krimina- listischen Gewandung entkleidet, nach der tatsächlich gegebenen Lage der Dinge recht gut auf das internationale Leben und das letzterem eigentümliche Völkerrecht.
n 1.
149
I
Kontrastierung nochmals kurz und in ihren Hauptzügen abersichtlich zusammengestellt werden mag,
Selbstv erstand lieh ist auch sie nicht imstande , ohne jedwede Bezugnahme auf den real sich beffltigenden Willen der Staaten auszukommen; das erscheint ja schon gegen- stSndlich völlig ausgeschlossen, da doch die ganze Lehre vom Verkehrsleben der Völker grundsätzlich mit nichts anderem als eben mit staatlichen WiUensaktionen zu tun hat. Demgemäß bilden solche auch für uns den ausschlieB- lichen Gegenstand aller Ausführungen; wir knüpfen an die historisch erfahrungsmäßig festatehende Tatsache an, daß jedeatnal, wenn die getreuliche Erfüllung einer Völkerrechta- pflicht den betreffendne Staat mit schwerer Gefährdung «einer vitalen Existenzbedingungen bedi-oht, ihre Einhaltung schlechterdings verweigert zu werden pflegt. Dabei handelt «8 sich aber ftlr unsere Auffassung stets und durchweg bloß um einseitig vorgenommene Einzelhandlungen; wir behaupten nicht, daß die mit konstanter Gleichmäßigkeit
^ verfahrenden Subjekte selbst schon zur gemeinsamen (aus- drücklich oder auch nur stillschweigend erklärten) Setzung einer derartigen Regel gelangt wären •, Diejenige Ina tanz, welche zur Statuierung dieser verschreitet, ist vielmehr eine total andere: lediglich durch die völkersoziale Wissen- schaft als solche wird sie vollzogen nach derselben Methode und mit genau der nämlichen Berechtigung, wie die Naturwissenschaft^ ihre rein empirischen Gedetze bloß aus der Fülle regelmäßig übereinstimmender Einzelgescheh- nisse herleitet.
Nach alledem ist als SchluSergebnIs jedenfalls dies fest-
■ Hieran ändort nichls dur Umstand, daB wir die partielle Nicht- einbaltoDg aller VÖlltorreiJitsBätEe friiher (vgl. S. 116f., aowie 8. I20f.) knnweg bIb dem „wahren und eigentlichen Willen" der Staaten eiit- nrectiimd bezeichnet halten (s. aucb noch ti. 160 f.). Denn in onserem Sume manifeatiert eich der letEtere eben ausachließlich in aolchen, nin koolcreten Akten und Betätignngen, hat es dagegen in keiner Weise Termoclit, sich in eine allgemeine, vereint geachaSeue und auage- •prochene Norm umznaetRen.
■ C£ oben S. Uüf.
150 VI 1.
zuhalten, daß das Phänomen einer eigenartig- faktischen Beschränkung, welches wir, den Wegen der üblichen Klausel- lehre nachgehend, ursprünglich bloß in Anwendung auf die eine Regel Pacta sunt servanda kennen gelernt haben, überhaupt für das gesamte Völkerrecht unverändert wieder- kehrt und bemerkbar ist. Bei jeder positiv - allgemein- gültigen Norm des letzteren steht prinzipiell die Sache so, daß eine wesensgleiche, d. h. selbst wieder juristische Ein- engung ihrer Gültigkeit schlechterdings nicht stattgefunden hat; deshalb können und müssen vom einseitigen Rechts- standpunkt aus alle Verletzungen derselben, gleichviel welche speziellen Umstände dabei vorliegen, zunächst nie als etwas anderes wie konkrete Zuwiderhandlungen charakterisiert werden. Indem dann aber die praktische Beobachtung lehrt, daß solche unter bestimmten Voraus- setzungen sich unbedingt und mit nie versagender Zuver- lässigkeit einstellen, tritt in gewisser Weise, eben streng tatsächlich genommen, dem ersten Satze trotzdem ein zweiter beschränkend an die Seite: beide lassen sich, wie- wohl nach Wesen und Beschaffenheit völlig von einander verschieden, immerhin in dem Sinne synthetisch zu dem Verhältnis von Regel- und Ausnahmenorm verknüpft denken, weil die eine der anderen offenbar einen Teil ihrer faktischen Wirksamkeit, ihres realen Geltungsbereiches* entzieht.
Zum Schlüsse dieses ganzen § 12 nur noch einige wenige Bemerkungen, die einen Gegenstand rein termino- logischer Natur betreffen. Man könnte nämlich die Frage aufwerfen, ob im Interesse einer knappen Bezeichnung des soeben skizzierten Tatbestands, daß bei Konflikten mit dem höchsten staatlichen Interesse, dem der Selbsterhaltung, kein einziger Völkerrechtssatz praktische Befolgung und Durch- führung zu finden pflegt, nicht dennoch Begriff und Aus- druck eines internationalen Notstands zu empfehlen und
* Über die diesem beizulegende Bedeutung s. ausfuhrlich § 17.
151
Torteilbat't anzuwenden sei. In der Tat wird gegen die analogische Verwertung desselben kaum etwas Stiel ili altiges eingewandt werden können; liegt es doch auf der Hand, dafi es grundsätzlich gleichartige SozialzustSnde und -be- dllrfnisse sind, die einerseits das juristisch -geordnete Not- stand sine ti tut der innerstaatlichen Kechtssyateme, anderseits jene faktisch sich belStigende Eigentümlichkeit des Völker- verkehralebens gezeitigt haben. Mit Rücksicht hierauf er- scheint es keineswegs bedenklich und unangemessen, die für das eine Mal allgemein gebräuchliche Benennung auch auf den zweiten Fall prinzipiell anzuwenden, um so weniger, als wir ja wissen, daß in bestimmt begrenzter Weise für das innerstaatliche Kriminalreclit gleichfalls von einem rein tatsächlichen Notstandsbegriff gesprochen werden kann und wirklich gesprochen wird '. Freilich aber, aur Ver- meidung weittragender Irrtümer und Mißverstflndnisse, muß dabei eben unbedingt an dem von uns klar gelegten Sach- rerhalt festgehalten werden, daß im Völkerrecht die letztere Bedeutung, ganz anders wie bei jenem, die einzig mög- liche geblieben ist, daß, wtlhrend dort im Laufe der Jahr- hunderte aus dem faktischen Notstand allmühlich auch ein irgendwie rechtlieh geordnetes Verhältnis heraus- wachsen konnte, dieses hier durchaus und vollständig mangelt; man muß sich wohl bewußt bleiben, daß, mit dem innerstaatlich-juristischen Institut verglichen und in Parallele gebracht, das von uns beobachtete Internulional- phänomen — bei aller Übereinstimmung im materiellen Grundgedanken ! — formell doch eine ganz selbatftndig geartete, von jenem scharf differierende Bitdung darstellt.
> Vgl. obea S. 141.
Sechster Abschnitt.
Die Unznlängliclikeit des Moments der „veränderten Umstände^^
§ 13.
Wir gelangen nunmehr zur Erörterung und kritischen Prüfung desjenigen Elements der herrschenden Klausel- theorie, dem diese recht eigentlich ihren technischen Namen verdankt. Indem sie das internationale Vertragsrecht dahin geordnet wissen will, daß beim Fortdauern von „rebus sie stantibus^ alle Traktate prinzipiell gültig bleiben sollen, setzt sie ihrer vertragsaufhebenden Wirkung selbst eine festumschriebene Grenze: sie erklärt, unter keinen Um- ständen dort Platz zu greifen, wo nicht irgendwelche Ver- änderung der früheren Verhältnisse objektiv vorhanden und nachweisbar ist.
Jedem, der eine etwas eingehendere Kenntnis von der bunten Mannigfaltigkeit des praktischen Völkerverkehrs- lebens besitzt, werden von vornherein einige Zweifel bei- kommen müssen, ob diese Formulierung nicht auf ein viel zu geringes Erfahrungsmaterial zugeschnitten und deshalb die ganze Beschränkung recht willkürlicher Art ist. Es sind nämlich offenbar die historisch gegebenen Tatbestände gar nicht so selten, für welche die Heranziehung der clau- sula rebus sie stantibus ihrem innersten (von uns bestimmt- artig modifizierten) Grundgedanken nach durchaus passend und geeignet erscheinen würde, bei denen aber das Dartun
-VI T.
153
I
von res mutatae auf erheblichste Schwierigkeiten stößt, wo nicht geradezu anmöglich ist.
Um das näher zu illustrieren, wollen wir zunächst noch einmal auf einen schon früher behandelten Fall, die ein- seitige Einverleibung der Republik Krakau in Österreich, EU rückgreifen. Wir haben seinerzeit' nur dasjenige Rechts- Verhältnis ins Auge gefaBt, welches zwischen den drei Oatmfichten Preußen, Rußland, Österreich einesteils und Krakau selbst anderenteils stattfand, und haben dabei kon- statiert, daß hier naturgemäß nicht so sehr eine Verletzung des völkerrechtlichen Satzes Pacta sunt servanda, als die einer von ihm prinzipiell verschiedenen Internationalnorm anzunehmen ist. Wie jedoch damals bereits kurz ange- deutet wurde, hat man wohl zu beachten, daß die Ange- legenheit fttr die juristische Betrachtung auch noch eine ganz andere Seite darbietet, insoweit nämlich, als die Be- ziehungen Englands und Frankreichs zu der Sache in Frage kommen.
A!s Mitunterzeichner der Wiener Kongreßakte waren diese Mächte rechtlich zweifellos befugt, die Einhaltung aller in ihr festgesetzten Bestimmungen und so u. a. auch desjenigen Artikels zu verlangen, der die Bildung eines besonderen Staates Krakau verfügt hatte. Zwar haben ihre Qe^er den Versuch gemacht, ihnen die juristische Kom- petenz hierzu abzustreiten, aber mit recht schwächUchen, unzureichenden Grlinden : sie stellten nämlich fUr die Trag- weite der W^iener Kongreßbeschlüsse eine eigenartige „Ein- registrier ung8''-Theorie ' auf, derzufolge Angelegenheiten, die zuvörderst durch einen Sondertraktat zwischen einzelnen Staaten ° reguliert und erst nachträglich der allgemeinen
I ' Vgl. 8. 124, insbcH. Anm. 2.
I ' Am deutlichsten gelangt diese, von RuBland 40 Jabrs spiter iu
I der Bstumfrage unverinderl wieder iLn^enommeae (cf. oben 8. 52, N. 2) Lehre Eam Ausdruck iu einer Metternich'dcben DepRucba vum 9. JiuUT 1847. Vgl. MsrteoB, N.R.6., X, 8. 128tf.
* Fflr den Krakaner Fsll fungiert aU solcher der riMi»ch-preuBlMh- -=-i.._..g Vertrag »om 3. Maij21. April 1815.
154
VI 1.
Kongreßakte einverleibt worden waren, in letztere gewisser- maßen bloß zur öffentlichen Kenntnisnahme, ohne öe- Währung eigener vertragsmäßiger Rechte an die Mitunter- zeichner, autgenommen sein sollten, und also auch jederzeit von den ursprünglichen Kontrahenten einseitig abgeändert werden durften. Selbstverständlich geht es an dieser Stelle ' nicht an, uns in eine ausflibrlicher gehaltene Widerlegung' der ostmächtlichen Argumentation einzulassen; es sei daher bloß das Eine in aller Kürze hervorgehoben, daß für die Behauptung einer derartig abgeschwächten Wirkung in der Kongreßakte selber irgend ein Anhaltspunkt nirgends zu ünden ist. Überall aber, wo die Sache so liegt, wo in einem | völkerrechtlichen Vertrag nicht klar und deutlich ges wird, daß derselbe, ganz oder auch teilweise, bloß in einem besonderen, von der üblichen Bedeutung durchaus al>- weichenden Sinne gemeint war, da muß auch „juaqu'k preuve d'une Intention contraire des parttes" * unbedingt präsumiert werden, daß aus der Gesamtheit seiner Beatimmungen für alle Signatarmächte eigene Ansprüche und Rechte ent- springen sollen; oder, speziell auf den hier zur Erörterung I stehenden Fall angewandt, formal-juristisch waren England I wie Frankreich nur zu sehr befugt, in der ohne ihre Zu- stimmung erfolgten Aufhebung des Krakauer Freistaata eine rechtswidrige Verletzung des 1815 mit ihnen abge- achlosaenen Vertrags zu erblicken.
Allerdings aber auch nur formal -juristisch. Denn da | die beiden Seiten des einen RechtsverhAltniases doch un- möglich einer prinzipiell verschiedenartigen Beurteilung I unterzogen werden dürfen, so muß die Rechtfertigung a einem höheren, der spezifisch-juristischen Betrachtungsweise I transzendenten Standpunkt, die wir frUher dem Verfahren [ der Ostmachte Krakau selbst gegenüber zuteil werden | ließen, im Verhältnis zu den Kosignataren der Wiener Kon-
' Speziell in Anwenilung auf die Ualumsffaire gibt eine Bolcha 9
Ko]iu-Jac([uemyDB iu der Revue de droit inteniBtioniLl, XIX, S. Üff. f
* Boliii-Jauquemyiia, a. a. Ü., S. 43.
' VI 1. 155
greßakte nicht weniger eintreten; sobald einmal dort die Verletzung dea strengen Völkerrechts als materiell begründet und zulässig anerkannt ist, kann das Gleiche aucli der Übertretung der Regel Pacta sunt servanda Bclilechterdings nicht mehr versagt werden: d, h. wenn irgendwo, liegt gerade hier ein Fall vor, auf den man auch die fiir das spezielle Vertragsrecht ausgeprägte clausula rebus sie stan- tibus mit vollstem Recht anzuwenden in der Lage ist'.
Ein Anhanger der tlhltchen und herrschenden Klausel- lehre freilich müßte, ehe er das zugestehen dürfte, zuvor eben noch die zu Beginn dieses Paragraphen formulierte Frage aufwerfen und befriedigend beantworten können, er müßte den Nachweis liefern, daß in der Zeit von 1815 bis 184(i eine fundamentale Veränderung in der politischen Gesamtlage vor sich gegangen ist. Das ist aber eine Auf- gabe, an der er, wenn er die .Sache logisch genau nimmt, im gegebenen Falle rettungslos scheitern wird. Der aach- lich entscheidende Punkt bestand ja, wie wir wissen, einzig und allein darin, daß die Existenz des kleinen Freistaats für die Nachbarmllchte eine permanente Bedrohung invol- vierte und deshalb von ihnen im Interesse der Selbst- erhaltung einlach nicht länger geduldet werden konnte. Dieser Sachverhalt ist nun aber keineswegs uls das Resultat einer erst später eingetretenen Entwicklung der Dinge anzusehen; vielmehr stand die Sache gleich von Anfang an 80, daß „eine Republik Krakau unfehlbar der Herd einer höchgefUhrlichen polnischen Propaganda werden mußte" '_ Anstatt also daß, wie die völkerrechtliche Doktrin generell
' TktKibhlicIi tinden sieb in dem auf diu KrHknuer Angelegen lieit be- ■Qfflichen Akleomsterial mebrfach Stellen vor, die eine gswiise Bein^ahme auf jenA dcDtlioh erkennen laason (vgl. 7.. B. die Österreichische Depesche vom \h. NoTember 1&46, Martens, a. a. O., S. 67: „Toute sitnatioa peut Atre altSräedanasesfondementn. llenect ainsi de l'exiBteDce de CraooTie'), wenngleich dieser Gesichtspunkt der vorhin zurückgewiesenen Einregistrierungstheorie gegenüber verhiltnismäBig viel lu wenig kuj lieltung kotniut.
' Treilechke, Deutsche Gesthichte im 19. Jahrhundert! (5. Aufl.J, ». 651,
156 VI 1.
verlangt, im Laufe der Jahre eine wirklich neue Konstella- tion sich herausgebildet hätte, liegt in concreto die Sache vielmehr so, daß bloß etwas Altes, objektiv längst Vor- handenes zunächst latent geblieben, subjektiv übersehen und verkannt worden ist und erst hinterher die zutreffende Beurteilung fand.
Bei alledem soll ja nicht geleugnet werden, daß die Krakauer Affaire auch gewisse Momente darbietet, in denen man bei oberflächlicher Betrachtung immer noch die von der Theorie geforderte objektive Veränderung der Dinge zu erblicken vermöchte *. Es können aber auch Fälle vor- kommen, bei denen von etwas derartigem nicht, selbst nicht bei weitherzigster Auslegung der Sachlage, mehr die Rede sein darf. Das läßt sich sehr instruktiv an einem Vor- kommnis aus der deutschen Kaisergeschichte demonstrieren, welches auf Grund der üblichen schablonenhaften, nicht sachgemäß rektifizierten Klausellehre tatsächlich schon einer recht schiefen und ungerechten Kritik unterworfen worden ist, und das ich deshalb auch hier kurz mitbesprechen möchte, wiewohl es sich dabei nach Lage der Dinge nicht eigentlich um ein technisch - völkerrechtliches Geschehnis handelt
Ich meine den Fall, welchen Pfaff auf S. 28 seiner wiederholt bereits zitierten Schrift* erörtert. Derselbe be- schäftigt sich dort mit der Form, die die Klausellehre seinerzeit bei Leyser angenommen hat, und führt als dessen lileinung u. a. folgendes an: „Man habe mit ihr Mißbrauch getrieben ; unverschämt oft sei sie der Vorwand gewesen, hinter dem sich Wankelmut und Wortbruch ver- bargen. So hätten auf Grund eines mit Heinrich VI. geschlossenen Paktes die Fürsten seinen Sohn zum König
^ Z. B. in der Weise, daß man die erst seit dem Jahre 1830 ein- setzenden offenen Insur^erongen der Nachbarg^biete nicht als bloBe Symptome eines tieferliegenden Gmndübels, sondern als wahre, för sich bestehende novae res aufiaßte.
« Vgl. S. 5, Anm. 2.
rvi 1.
I
^H gewAhlt und ihm Treue geschworeo, seien aber alabald uach ^H Heinriche Tod vod ihm abgelatlcD, und man habe dieBen ^B Vorgang durch die Berufung auf die Kkuael rechtfertigen ^H wollen. Nie aber sei diese Regel unglücklicher angewendet worden, Allee, worauf sich die Füraten zur Beschönigung ihres Abfalls beriefen, hätten sie vorausgewußt, insbesonders
• daß der von ihnen Gewilhlte ein in der Wiege liegendes Kind war, und ebenso seien ihnen bekannt gewesen jene novae res, quas circa llberam Germanorum electionem imperatoris moliebalur pontifex."
Gegen diese ganze Art der Argumentation lassen sich gewichtige Einwände geltend machen. Dabei mag noch vollständig von der Frage abgesehen werden, ob eine Bezugnahme auf das {technisch erst seit der späteren Cllossatorenzeit auftauchende) Institut der clausula nach der Gedankenwelt jener Epoche überhaupt möglich war und praktisch vorkommen konnte'; es ist das ein ver- hältnismäßig nebensächlicher Punkt, der hier um so eher unerörtert bleiben darf, als aus den Leyaer'schen Worten selbst nicht mit voller Sicherheit zu entnehmen ist, ob unter denjenigen, ,die den Vorgang durch die Berufung auf die Klausel rechtfertigen wollten", die deutschen Fürsten in Person oder nur spätere Verteidiger ihres Verhaltens ver- standen werden sollen. Wogegen aber mit aller Entschieden- heit protestiert werden muß, das ist die Behauptung, die ersteren hätten alles Wesentliche von der nachmals er- tblgenden geschichtlichen Entwicklung „vorausgewußt" : woher sollte es ihnen denn bekannt sein, daß Heinrich VI. so unerwartet früh sterben würde? Gerade dies ist aber hier dasjenige Moment, auf welches alles ankommt.
' Soviel mir t^kHimt ist, waren es, dem ganzen Zeilchnrakter ent- ■prechend, weit nndere Gesichtspunkte, die fBr die Zuliniigkeit einer neuen W»bl geltend gemacht wurden, insbe«oiidere das Bedenken, ob ein Eid, il^r einem noch gar nicht gelauften Kinde geschworen Hei (und ein ■olehcs war damaln der Bpster« Kaiser Friedrich n. noch) über- haupt Verbindlichkeit beaitie.
158 < « VI 1.
Als die Fürsten Ende I19l3, auf dem Reichslage zu Frank- furt, dem Drängen des Kaisers nachkameu und sein nicht lange vorher geborenes Söhni-hen zum Nachfolger wählten, da stand Jener in der Blüte seiner Jahre; mensehlicher Berechnung nach war gewiß anzunehmen, daß ihm noeh ein langes Leben beschieden suin wlirde, und man durfte des- halb auch zuversichtlich darauf hoffen, daß mit dem zum König gewählten Kinde vor der wirklichen Thronbesteigung noch eine wesentliche Umwandlung, das Heranwachsen zum Jünglings- oder Manneaalter, vor sich gehen würde. Statt dessen trat aber, schon ehe ea in dieser oder irgendwelcher sonstigen Beziehung auch nur zur geringsten Änderung hatte kommen können, bereits wenige Monate nach vollzogener Wahl, der für Deutschland so verhängnisvolle Tod Hein- richs VI. ein, und es hätte also nunmehr eine langwierige Zeit der Regentschaft vergehen müssen, bis endlich das nominelle Reichsoberhaupt auch tatsächlich die Funktionen seiner Stellung wahrnehmen konnte. Die Erfahrungen jedoch, die man bei früheren Gelegenheilen (insbes. Heinrich IV,) mit einer auf viele Jahre sich erstreckenden Reichsver- wesung gemacht hatte, erschienen sicherlich nicht gerade als verlockend, und ganz besonders die stürmische Zeit gegen Ausgang des 12. Jahrhunderts mit ihren mannig- faltigen weltlichen und kirchlichen Wirren war wohl fUr die Wiederholung eines derartigen Experiments am aller- wenigsten geeignet. Mit Hinblick hierauf hat man im vollen (legensatz zu Leyser auzuerkennen, daß die deutschen Fürsten damals ihren formellen Treubruch materiell mit guten Gründen zu entschuldigen vermochten: die Wohlfahrt des Reiches, auf die es vor allem ankam, wurde tatsächlich schwer gefährdet, wenn sein König ein zweijähriges Kind war, und vor dieser Erwägung mußte die Rücksicht auf frühere, unter andereu Voraussetzungen undE Wartungen abgegebene Zusagen notwendig zurücktreten. Nur bei einer solchen Auffassung der Dinge läßt sich den Motiven der beteiligten Personen vollständig gerecht werden,
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VI 1.
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■nd nur sie vermag es auch zu erklären, warum gerade die treuesten Ghibellinen, darunter Heinrich dem Sechsten per- Bßnlich nahestehende Männer wie sein ehemaliger Erzieher und Waffenmeister, der Reichsmarschall Heinrich von Kalden, die Königswahl des persönlich lange widerstrebenden Philipp von Schwaben entweder von sich aus direkt verlangten oder doch aofiirt acceptierten. —
Ea versteht sich von selbst, daß das zuletzt gebrauchte Beispiel, weit nicht dem spezifiadien Völkerrecht angehörend, für unsere Zwecke keine unmittelbar beweisende Kraft in Anspruch nehmen darf. Um so mehr ist das aber indirekt der Fall; wird doch zum mindesten die Möglichkeit kaum sich bestreiten lassen, daß auf diesem Rechtsgebiet, bei den internationalen Verkehrsbeziehungen, gleichfalls Konstella- tionen eintreten können, die jenem durchaus analog sind und mithin vollständig nach seinem Vorbild beurteilt werden müssen'. In diesem Sinne erscheint es nicht unzulässig, auch aus dem zweiten Falle, genau so gut wie aus der früher erörterten Krakauer AfFaire, Jetzt die entsprechenden Schlußfolgerungen zu ziehen: beide zusammen lern Jedenfalls genügendes Material, um die Revisions-
• Zur Illustration diene ein mögliehsl einfitch iiiid fiberaiiihtlioh ge- wtUtea Beispiel. In frflhcreii Zeilen bildete elneu recht büuügeii Gegen- stand Ton Traktaten zwiaohen HuuverüBDii Staaten die Zuange, dsQ einer dem kndern ein Ijeatimmtes Quantum von Getrpide oder sonstigen Leliens- mitleln g6gea Entgelt tu l>BseLBffen habe (ich erianere u. h. an die von der Repablik Genua regelmäßig abgeguhlosaenen S8lxliererungsvcrtr£ge ; et. Siereking, Genueser Finannweseii, I, 1898, S. 94f.). Wenn nun der Tenprechendo urgprQnglicb einen, seinen eigenen Bedarfaberstuigenden Torrat tatiichiich zur Verrägung gebebt, hinterher über den Cherfluß durcli irgeDdwelcbe Umetfiude eingebaut hatte, ao waren hier offenbar wirkliche na mutatae und damit der typiiche Sdiulfall fBr die Anwendhnrkeit der daiunlB rebus sie stantibus gegeben. Wenn dngegBn ein entsprechender Teitrag von einem Stnate eingegangen wurde, der momentan gar kein UwrKliQsnges Getreide besaß, wohl aber solches spAter mit voller Sicher- bcät *Q erlangen hoffen durfte, und wenn dann die letztere AoHsicht wider lÜM Erwarten fehtgesch lagen war, ho lag hier, an Slelle der vorhin be- ohaebteten mutntio, nur ganz der gleiche tataächliche Zustand noch wie Mlier vor, und doch hat mit Rücksicht auf die ntaatlicbe Beibsterholtung die Hichtliererung in dem zweiten falle sicherltrh ^rnde so als ent- 1 materiell gerechtfertigt ru gelten wie in dem cnlen.
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VI 1
bedUrftigkeit der bisherigen Fassung der Klausellehre übei zeugend darziitun.
Die Bich aus ihnen ergebenden Konsequenzen sindfl offenbar folgende. Es bedeutet eine viel zu enge Auffassung < des zur Behandlung stehenden Problems, wenn lediglich der Veränderung der (zur Zeit des Traktatsabschluaaes vorhandenen) Umstände eine vertragsaufhebende Kraft zugeschrieben wird. An und für sieh vermag über- haupt keine wie immer geartete objektive Gestaltung der Dinge ohne weiteres Einfluß auf den Bestand oder Nichtbestand eines menschlichen Willensaktes zu üben^J vielmehr wird das erst dadurch möglich, daß sie subjektirfl zur Voraussetzung gemacht, das Geschäft von ihr scheidend, wiewohl vielleicht nicht klar bewußt, intern ab- hängig gemacht ist. Da wird es nun zunächst in der T*l überaus häutig vorkommen, daß eine stillschweigende Bs-1 zugnahme auf die Fortexistenz der wesentlichen, dermals vorhandenen äußeren Verhältnisse stattfand. Daneben aber kann man auch auf Fälle stoßen, bei denen (vgl. die Ange- legenheit Krakau) nicht so sehr auf die Dauer der letzteren wie darauf abgestellt ist, daß die innere Beurteilung, die man ihnen seinerzeit zuteil werden ließ, unverändert — dieselbe bleiben darf. Und weiterhin drängen sich wiedefg abweichend gestaltete Erscheinungen nach der Rieht unf hin auf, daß (Königawahl Friedrichs II.) manchmal das dei Fortbestand des rechtsgeschäftlichen Willensaktes tangierendu Moment überhaupt nicht mehr in irgend einer {sei es nai äußeren oder inneren) Veränderung, sondern gerade dari^ besteht, daß eine solche wider alles Verhoffen nicht eln^] getreten ist, vielmehr genau der ursprünglich gegebeof Status auch jetzt noch anhält.
Diese sämtlichen Fälle, die auf den ersten Blick i mannigfach von einander differieren, stimmen unverkennbi in dem einen Punkte durchaus liberein, daß es bei im Grunde darauf ankommt, dem „wahren und eigentlichen Willen" der Parteien wider den ausgesprochenen zur Geltung
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Bu verhelfen': überall ist ein rechtsgeschäftlicher Akt zu- \ etande gekommen, der nicht gewollt worden wäre, wenn » der Betreffende hätte vorauasehen können, daß die in ihm "vorhandene Vorstellung vom Verlauf der Dinge und die nachmalige wirkliche Entwicklung sich in wesentlichen Elementen nicht decken würden. Mit anderen Worten, es ist eben ein rein subjektives Kriterium, welches in den von uns kurz skizzierten FJllIen g!eichmil6ig den Aus- uchlag gibt, und auf das überhaupt, Liernneh zu schließen, Jie gesamte Klausellehre entscheidend zurückgeführt werden muß. Es liegt auf der Hand, daß mit dieser Wendung die von der völkerrechtlichen Theorie regelmRßig gewandelten Bahnen beträchtlich und nach den verschiedensten Richtungen hin' überschritten werden. Indes ein solches Hinausgreifen über sie erscheint als gar nicht zu vermeidende Notwendig- keit; denn nur, wenn jenes subjektive Moment^ und zwar in allgemeinster Fassung* — zugrunde gelegt wird, kann maa dem internationalen KKiuselproblem wahrhaft er- . ichfipfend und vollbefriedigend gerecht werden; namentlich ■iTermag erst dann dem von der herrschenden Lehre allzu ■CJnseltig bevorzugten Falle, dem Eintritt nichterwarteter 'Veränderungen, ebenbürtig seine vollständige Um- kehrung, d. h. der Nichteintritt erwarteter Ver- Xnderungen, an die Seite zu treten*.
I ' Vgl. hierzu oben 8. 117, Anm. L
L * Die vorhin erfolgte Nennung^ vou Ein««lJ311en bcAUBpriic:ht iturch-
üi nicht, voUstündig tu sein.
* Etwa DHch dem Muster der Formuliening, die für doa Privatrecht wn Bekker aufgestellt worden ist; rf. Pandekten, II (1889), S. a67; „Voraouetiiuigen' eiuengeeiJiHflIiehen Willvoa baiBea wir dasjenig« Denheo ■Üd Meinen des Wullendon bezQglieh auf das waa ist und ans wiu geschehen Jat (.annebmen'), sowie aaf das waa iat und du« waa eescheheu wird (,er>- i*n% ohne welch«« er diesen Willen nicht gefaßt haben wQrde. Älao ibt die falsche Voraoasetzung auch einen gefSIschtea Willen."
' Speiiell der letztere Fall würde eine belräehtlich eingehendere IJang verdienen, ata sie ihm hier naeh Lage der Dinge luteil werden Uiuu BeBDoderi wichtig und deihalb sueh an dieser Stelle wenigstens kan SU erwiUinen ist der Umslaad, daß der Zeitpuekt, bis tu welchem ■Bf die aar wesentlichen Vorausietunng erhobene Änderung gewartet werden moB, durch die obwaltenden UmslAnde meist Kiemlicb strliHrf be- BrrtM.-lii.l. AbhimU, VI I. — Schmirit. 11
^^Ut (,ani
^Krurtcn')
^Rriuuidl
§ 14.
Im Anschlufi an die zuletzt gegebenen AusfUhrungea mag noch auf eine spezielle Frago kurz eingegangen werden, ' eine Frage, die nach der gewöhnlichen Formulierung der Klauaellehre mit diesor scheinbar nichts zu schaffen hat, die sich aber für una, in dem vorstehend veränderten und I erweiterten Sinne derselben, aufs engste damit verknüpft erweist.
Zwei eigentümliche Endigungsgr linde sind es, die von ] der völkerrechtlichen Doktrin fast übereinstimmend flir das internationale Vertragarecht in Anspruch genommen und als besondere Singularitäten des letzteren ausgegeben zu werden pflegen: das ist einmal die uns hier grundsätzlich beschättigende „wesentliche Veränderung der Umstände", außerdem aber noch die „Nichterfüllung des Über kommens von seiten der einen Vertragspartei" ', Beide werden regelmäßig als völlig selbständige, isoÜert nebt einander stehende Dinge behandelt, dergestalt daß zwischen
stimmt wird, dei^est<, daß jede frühere DerufiiDg auf den Nlchteintritt 1 jener nls uDEolHüsig erscheint. Wir geben auch dnfilr wieder ein historischBi^ i BeiBpiel. Im Jahre 172t wurde, banptiiächlich auf Betreiben des Regenten 1 Philipp van Orleans, ein apanisch -französischer Traktat des InhAlta al>- 1 geschlossen, daB König Ludwig XV. die damals erat drei Jahre liblenda f luOuitin Marin Anna Viktoria heiraten solle. Indes bereitn 1725 sagte man sich in Frankreich tou dem Vertrage einseitig loa, und zwar mit der ausBch ließ liehen Motivierung, dall das Staats inte resse gebieleriach die mSglichat rasche FortpQanzung des kGuigliclien Mannsstamins erheische, eine aolche aber noch in weite Feme rücke, wenn man auf Kealisiening der apauischeu Heirat warten wolle {cf. Gauthier-Villars, Le mariave de Louia X.V d'apria des documentfl nouveaui [Paria 1900], S. 26, ^, SS, 8ä, 93 nnd Öfter). Dieser Versuch einer materiellen Hechtfertigung des formellen Vertragsbruchs war jedoch insofern zweifellos mit einem bedenklichen Mangel behaftet, weil der geltend gemachte Sachverhalt doch absolut nichts Unvorh ergesehen ea enthielt; vielmehr mnßte man gleich anfangs, als die kleine Prinzessin in Paris ihren Eining hielt „assiae aur les genoux de «a gouvemnnte, en tenant sa poup^e (Qanthier- Villars, a.a.O.. 8. 9), genau wissen, daB die „erwartete Veränderung*, d. i. das Heranreifen sur wirklichen Vollzieh hark eil dor Ehe erat be- iletltend npäter wie 1735 gegeben «ein würde.
■ Vgl. Ulimann, Völkerrecht, 8. 175, Jellinek. BecbtUchaJ N«tur der Staatenvertrige, S. 62'S4 u. a. m.
1 1. Ili3
ibnan venneintlifh kein Zusaiiimeuhang; obwalten soll. In Wahrheit ist aber ein solcher sehr woIjI vorhanden; die zwei Ffille lassen sich recht gut untftr einen gemeinsamen obersten Gesichtspunkt bringen, wobei die Art, wie das zu geschehen hat, nach dem vorausgegangenen kaum noch irgend welche Schwierigkeit bereiten kann.
Wir haben in § 13 geseben, daß dem Eintritt nicht •erwarteter Veränderungen der Nichteintritt erwarteter Ver- Ibiderungen gleichwertig ist. Nun liegt es aber auf der Hand, daß der Traktatabruch ungezwungen als bloßer Spezialfall der letzteren Ocstaltung aufgefaßt werden darf. Denn die erste und nächstliegende „Veränderung" gegen den derzeitigen Stand der Dinge, die vernünftigerweiae bei em Vertrag von den Parteien envartet werden muß, ist h offenbar die, daß der Gegen kontrahent die von ihm ibemommene Leistung auch wii-klioh ausfuhrt; der eine ie der andere Teil hofft, in den wirkliehen Genuß eines
jetzt entbehrten, nunmehr aber ihm versprochenen Interessenguts einzutreten, und gibt lediglich unter dieser •tillschweigenden Voraussetzung seine eigene Zusage ab'. Danach liegt, wenn von der einen Seite der Vertrag ge- brochen, die Ausführung der in Aussicht gestellten Leistung verweigert wird, für den zweiten Paziszenten, gana nach dem iß § V-i allgemein entwickelten Schema, die Sache so, daß derjenige Tatbestand, den er subjektiv erwartete und nach Lage der Dinge erwarten durfte, objektiv nicht ein- getreten ist; mit anderen Worten, die Erfüllung des an
' Znm minde«teD gilt das Huaiuihinsloa von den (weitaun die M«hr- uM Uldenden) Fällen, bei denen die gegenseitig« Verbindlich keil auf eiu poritivea Tun gerichtet iai, Von den (viel neltener vorkommeuden) Ver- pfliebtuiigen auf ein «pesiliBdieR Uuterlaseen ist balJ, je dilcIi den nlhereo Umaländcn, dun nnmliche lU behaupten, bald kommt wieder mehr dar Ouaichtapankt des „Einlrilts nithterwarleter Veränderungen" in Be- tracht Ein geniioerea Eingeben auf diese Fragen int liier unmdglich.
* Vgl. die auf S. 72 der Pfaffschen Schrift über die Klausel (oben H. 6, Anm. 2) Eitierte ÄuBemng Bchmitthenners: „Indem ich die Lelstnng unternehme, Ine ich dies natürlich nur unter der Vorauasetaung. daB die Oegenleistung erfolgen irerde."
11»
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seinem Teile Versprochenen und streng juristisch auch jetzt noch Geschuldetoo steht unter den angenommenen Verhiilt- nissen abermals in Widerspruch zu seinem wahren und eigentlichen Willen und braucht deshalb in Durch- brechung des formellen Rechts von ihm ebenfalls nicht mehr präatiert zu werden.
Wäre dies, und nicht mehr als dies, der Sinn der von der herrschenden Theorie behaupteten vertragsauf hebenden Kraft des Traktatebruchs, so wUrde man sich mit ihr, wenigstens im Resultat, durchaus einverstanden erklären dürfen. In Wirklichkeit jedoch begnUgt sie sieb keineswega mit einem qualitativ so eng begrenzten Ergebnis, sondern sucht weit mehr zu erreichen; damit gerät sie aber auf einen Abweg, wie jetzt gezeigt werden soll. Freilich kann das letztere an dieser Stelle nicht mit der eigentlich erfor- derlichen Ausführlichkeit geschehen, etwa in der Weise, wie solche bei den völlig analoge Verhältniese behandelnden Darlegungen unserer Abschnitte II ff. zur Anwendung gelangt ist; vielmehr müssen wir uns hier mit bloßen Andeutungen zufrieden geben und dürfen das auch, da ja das Ganze für uns lediglich die Bedeutung eines Eickurses hat.
Es geht nämlich die Völker rechts wissenschaftliche communis opinio ' ohne Zweifel dabin , daß die Regel, durch Bruch eines internationalen Übereinkommens werde auch der andere Vertragspartner seiner Obligation los und ledig^, selbst wieder einen Teil des zwisuhen Staaten gültigen technischen Rechts bilde. Um diese'
' Eiuzelne AuBUtlmeii von ihr kommen ftllerdings vor. So erwfthat X. B. Martens-Bergbohm bei Aolxähluiig da juristiBCb wirkBuaett' Endi^nngngrüiide für iDteinationato Vertrüge unseren Fell Qberlmapt nicht' (cf. seiu Völkerrecht, l, S. 425 ff.)-, das gleiche gilt auch von " " (Grandzüge des VSIkerrechts, 2. Aufl., S. 1460.
' Uesp,, mit einer kleinen Variante, er aei »aineraeits zur formellen' liOBsagung von dem betr. Traktat befugt. Vel. hierzu u. &■ Gari Institutionen des VSIkerrechts (2. Anfi.J, 8. 213: „Im GegensatE i Privatrecht wird im velkerrecht der Vertragsbruch «um Eiidignngsgniud) mindestens wird durch ihn der nicht Vertragsbrüchige Teil zum BSoktritt berechtigt'', und die oben S. 19 f., 89 ff. benprochenen Lehre.
rvi 1.
IG5
L Auffassung' zu begründen, wird indeß nie etwas anderes I iitigefiihrt wie allgemeine philosophisehpolitische Erwägungen I darüber, daß und warum im internationalen Verkehr wegen der besonderen Eigentümlichkeiten desselben ohne eine der- artige Hilfe einfach nicht auszukommen sei*. Nun wird ja sicherlich die praktische Unentbehrlichkeit der letzteren so leicht von niemandem verkannt und geleugnet werden; I Anderseits ist doch aber auch gar nicht in Abrede zu stellen, I da6| wofern ihre Qualität als spezifisch -juristische Norm I einzig und allein auf Material wie da« oben kurz charak- I terisierte gestützt wird, reinstes Naturrecht das notwendige [ Produkt sein wird. Soll das vermieden bleiben, soll die I gegebene Erscheinung in dem einzigen Sinne, in dem heut- L latage tiberhaupt noch von Recht die Rede sein darf, als I solches dargetan werden, so muß man unbedingt zeigen L können, daß sie durch gemeinsamen, entweder ausdrück- kjiich oder stillschweigend erklärten Willen der Staaten
Die wieder eine DOtwendige Einzelbau sequenz des (^eDwürtig a weit Tcrbreiteten GmndirrlumB darBteUt, daß jedes ReclitnByslem eine ich selbBt ^nügende, der Eriränzung durch anders geartete Normen EWeder fiihige nach bedArftigc Welt sei. Wir bnlien diesen Punkt schon ittnlAl. bei ErSrtorung der dpeKiäsrbcn Klausellebre, benlhrt (cf. oben J. 96) und werden auf ihn. wie dort (Anm. 5) bemerkt, noch allgemciDer ■«nräokk omman.
Ich verweise z. B. auf Nippoid, Der TSIkcrrecbtIicbo Vertrag , S4ä: „Ein weiterer Onind, der zum Rücktritt vom Vertrnp; b(>- Vreehti(;t — <^iu Grund, der ebenfaHs dem VQlkerrecht eit^ntSmlich WSgt — ist Bruch des Vertrags von selten eines der Kontrabenten. — riüM Bücktrittarecht verstebt sich velkcrrecbtlich wohl (!) doshnlb von aelbit (!?]. weil bis Jetat die Staaten aaf rechtlichem Wege iu den meiilcn räleo keine Erfiillung erlangen kSnnen, und ihnen also solchen- ftlla neben dem Rücktritt nur der Weg der Selbslhilfe bffeu sl4;ht.'' Vgl. ferner t. Liast, VSIkcrrecht (3. AuS.). 8. 17t!: „Nicblerfalluug des Vertrags durch den einen der vertragschlieQ enden Teile berechtigt dm andern cum Uficktritt von dem Vertrage. Die Recblfertigung (aber Aueh die positiv -juristische Quelle?) dieses von den meisten Privat- rechten abweichenden Satzes liegt darin, daß das Völkerrecht keinen mleren Erfüllungsxwiuig als die Gewalt, in letzter Linie deu Kri^, kennt, dem gegenüber der Rücktritt vom Vertrage für beide Teile das kleinere Übel darstellt." Gnnz ähnlich auch Jellinek, a. a. O., S- 64, aefftor-Oeffcken, Earopniscbes Vülkerreeht, 8. 216, Anm. 8, und nodi Tiele andere.
166
VI 1.
selbst positiv eingeführt wurde. Und da nun die erste Entstehungsart, die Statiilerung durch generellen Rechts- setzungsvertrag, anerkanntermaßen nicht stattgefunden hat, 80 kommt hier praktisch, wie schon früher öfters, alles auf den (von der Doktrin nicht einmal angetretenen) Nachweis an, ob hinreichend zahlreiche Einzelfillle auftindbar sind, bei denen unsere Regel in concreto stflndig zur Anwendung gebracht und so gewohnheitsmHfiig schließlich zum Rechts- , aatz erlioben worden ist.
Tatsächlich stoßen wir denn auch in der völkerrecht- lichen Praxis verhUltnismHßig gar nicht so selten (jedenfalls häufiger als dies zugunsten der spezifischen Klauaellehre zutrifft) auf Vorkommnisse, die daftir ein völlig geeignetes Belegniaterial abzugeben scheinen'. Indes ganz abgesehen davon, dafi von den Beispielen dieser Art durchaus nicht sftmtliclie einer schärferen und eingehenderen Prüfung stand- halten werden*, ao ist wohl zu beachten, daß in noch viel zahlreicheren Fällen die (zur eventuellen Rechtsnormbildung unerläßliche) Übereinstimmung beider Parteien voll- ständig fehlt und somit immer wieder dem (hier und da vielleicht wirklieh voihandenen) usus der contrarius usus , gegenübersteht. Ich darf für letzteres hier einen praktische» Einzelbeleg anführen.
Am 19. September 1833 Bchloaaen das Herzogtum Nassau und Prankreich mit einander einen Hnndelstraktat ab, kraft dessen jenes versprach, für fünf Jahre keine ZoU- erfaöhuog auf französische Weine und Seidenstoffe vorzu- | nehmen, wogegen dieses sich zu einer Begünstigung der
I I
* Ea int auuh leicht einiuacheit , ivRrnni ea na sulchvn präsumtiT nicht mHtigelii kann: jcite Hiicht, die efn«n als drückende Posaol emp- I fimdenen Vürtrag doloacr Weise bricht, wird Bieherlich nichla einwendeii, i wenn diest-r daraufhin von dem GogPTik'Hitriihpnten überhaupt für anf- |i;ehaben erklärt wird, denn sie en-Gieht damit im Grundp doch nur c' wan aip (\\t Kiuh erstrebt und gewollt hat.
' Eb kommen d« analoge Erwägungen und Bedenken in t'rs^', sie von uns in g 6, S. 01/62 angedeutet wt.rden sind.
Nassauischen Mineralwäaser verpflichtete '. Wiewohl nun , der Vertrag beatimmungsgeinäß gleich in der nächsten Session von den französischen Kammern hätte genehmigt werden mtlasen, war die Vorlegung an diese im Drange lebhafter parlanientariöcher Kampfe verabsäumt worden; doch hatte Frankreich aachlich seiner Verbindlichkeit da- durch völlig genügt, daß es zugunsten der Nassauischen Mineralwässer eine königliche Ordonnanz erließ und gleich- zeitig versprach, ftir diese Verordnung nachträglich die (mit zweifelloser Sicherheit zu erwartende) Zustimmung der Kammern einzuholen. Nichtsdestoweniger erklärte das Herzogtum, für welches sich mittlerweile der Eintritt in den preußischen Zollverein als eine unbedingte Notwendig- I keit erwiesen hatte, den Traktat für gebrochen und folglich , nicht mehr rec htabeständig. Es fand aber flir diese Art der Beweisführung bei Frankreich keine Zustimmung; im Gegenteil sprach ihm letzteres durch eine geharnischte Erklärung im amtlichen Moniteur^ jede Befugnis zum Rück- tritt ausdrücklich ab und erhob nunmehr seinerseits gegen Nassau die Anklage dolos-rechtswidrigen „Vertragsbruchs", der nur schlecht hinter einer „Spitzfindigkeit" versteckt worden sei.
Eine derartige Auffassung des Verhältniasea hätte nicht vertreten werden können, falls wirklich, wie die Theorie gern glauben machen möchte, der Satz von der durch Ver- letzung des Vertrags erfolgenden Aufhebung desselben in Allgemein anerkannter und unangefochtener Gültigkeit sttlnde; ist doch jedenfalls soviel sicher und wurde auch l'gar nicht geleuj^et, daß ein gewisser Fonnalverstoß gegen Leine Traktalspflicht tatsächlich vorgekommen war. Wohl ^war es ein recht nebensächlicher und materiell belangloser
' Nilherea iiher den Fall a. hei Trc-itachke, Deutsche Geschichte
1 19. Jsbrhitbriert, IW. IV, S, 3fl8 f. Den Vertragstait aelbst anaufuhren
kl l«ider nicht mfiKticfa, da en mir niclit gelungen iat, eineu TolUtändigcn
Äbdriick de» (n«ch TreitBChke aeincneit ängstlich gehcimge halte nea)
IVaktat« in die Hand au bekommen.
■ Cf. Treitschkc, «. a. O,. 8. 399.
168 \
Punkt, um den eis sich hier handelte. Indes es liegt auf der Haod, daß, wenn einmal jene Norm ala rechtlich gültig angenommen wird, jede Differenzierung zwischen den ver- schiedenen Bestandteilen und Elementen eines International' Vertrags schlechterdings unzulässig erscheint: der von einzelnen Rechtslehrern nach der Richtung hin unternommene Versuch, daß nur der Verletzung von wesentlichen, prin- zipiellen, Hauptartikeln die traktatauflösende Kraft inno- wohne, ist wegen der Vagheit und objektiven Unfaßbarkeit dieser rein subjektiv- vernunftrechtlich postulierten Unter- scheidung als gänzlich mißlungen zu bezeichnen'. Dem- gen^ß wäre es unter der gemachten Voraussetzung auck für Frankreich einfach unmöglich gewesen, der Nassauischi Argumentation mit solcher Schroffheit und apodiktischen Sicherheit zu widersprechen; da es aber in Wirklichkeit doch in dieser Weise vorgegangen ist, so kommt darin eben zu deutlichem Ausdruck, daß jene angebliche Rechtsnorm keineswegs von sämtlichen Staaten gleichmäßig als gültig und prinzipiell verbindlich behandelt wird,
Hiermit übereinstimmende Betrachtungen werden über- haupt regelmäßig dort zu machen sein, wo die ursprüngliche Verlragskontravention, analog dem hei der französisch- nasaauisclien Angelegenheit zweifellos obwaltenden Tatbe- stände, nicht aus bösem Willen, sondern aus bloßer Fahr- lässigkeit hervorgegangen ist: jedesmal wenn ein Staat rein versehentlich wider eine, wichtige oder unwichtige, Traktats- bestimmung verstoßen hat, pSegt er sich begreiÖicher weise; energisch dagegen zu sträuben, daß dies gleich zur Auf- hebung des ganzen Vertrags ausgebeutet werden soll. Alle derartigen Vorkommnisse sind nun aber offenbar ebenaa viele Zeugnisse dafllr, daß unser, von der völkerrecbtv<{ wissenschaftlichen communis opinio schrankenlos und ii weitestem Umfange behaupteter, Kechtssatz einer koH'
' Vgl. hie
, Lehrbuch des Völkerrechts, 2. Aufl^
PVI 1.
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Stauten tatsächlichen Übung vollständig entbehrt und deshalb gewohnheitsmäßig entstandene posttiT-juristische Kraft in Wahrheit gar nicht besitzt.
Man wird auch rückhaltlos zugestehen mllsaen, daß letzteres die den realen IJedürfnisaen des Völkerrechts einzig entsprechende Ordnung des Verhältnisses darstellt, daß das Gegenteil einen gesicherten internationalen Vertragaverkehr aufs Schwerste gefährden würde. Um das darzutun, braucht nur nochmals an die schon öfter erwähnte Tatsache er- innert zu werden, daß das Völkerrecht jeder autoritär fungierenden Richtergewalt durchaus ermangelt'. Daraus folgt, daß der Satz: „Ein Traktat verliert seine Rechts^'er- bindlichkeit, sobald er von der einen Partei verletzt wird" praktisch wieder mit Notwendigkeit auf die bedenklich subjektive Lehre hinauslaufen muß: „sobald er von der einen Seite für verletzt gehalten wird". Unter diesen Um- ständen wird man aber bald von den wenigsten Verträgen mit voller Gewißheit sagen können, ob sie noch in Gültig- keit sind oder nicht. Denn die große Mehrzahl derselben ist keineswegs so klar und unmißverständlich gehalten, daß ;jiie die Parteien absolut nicht in verschiedenem Sinne zu interpretieren vermöchten; vielmehr werden die letzteren Auch bei vollster bona fidea immer und immer wieder zu Weht differierenden Auslegungen einzelner Artikel gelangen können und so überaus häutig Gelegenheit haben, den Traktat als von dem Gegenkontrahenten verletzt zu erachten.
Ich will das Ganze durch AniUhrung eines praktischen Falles anschaulicher zu machen suchen und wähle dazu I4en bekannten, nach der Person der beiderseitigen Unter- 'IiAndler so bezeichneten Clajton - Bulwer- Vertrag vom 19. April 1850*. In Art. I deaaelben bestimmten, veranlaßt durch den schon seit langer Zeit bestehenden Plan, den Mexikanischen Meerbusen durch einen Schiffahrtakanal mit
' Vel. 8. 74 ff„ 87, 107, 137, auch unten 8. 186, Anm- 2, * Abgedruckt bei Martc-ns, N.R.O. XIT, 8. 187 ff.
170 VI 1.
dem Stillen Ozean zu verbinden, England und die Vereinigten Staaten von Nordamerika folgendes: „The Governments of Great Britain and the United States hereby declare, that neither the one nor the other will ever obtain or maintain for itself any exclusive control ever the said ship-canal; agreeing that neither will over erect or maintain any forti- fications commanding the same, or in the vicinity there of, or occupy or fortify or colonize or assume or exercise any dominion over Nicaragua, Costa Rica, the Mosquito Coast or any part of Central America — ". Bereits wenige Jahre nach Unterzeichnung dieses Abkommens, schon 1854, ent- standen tiber seine Tragweite unter den beteiligten Mächten wesentliche Differenzen: Nordamerika behauptete, England habe in Eonsequenz desselben die Pflicht gehabt, das von ihm über die Mosquito-Indianer * ausgeübte Protektorat auf- zugeben^, wogegen der andere Kontrahent die Existenz einer solchen Verbindlichkeit aufs entschiedenste in Abrede stellte.
Ich vermag mich nun in dieser Streitfrage keineswegs der mehrfach geäußerten Meinung anzuschließen, nach welcher von vornherein einzig und allein der letztere Standpunkt haltbar erscheinen, dagegen die amerikanische Deduktion jedweder Möglichkeit der Rechtfertigung aus dem Vertrage entbehren soll; umgekehrt glaube ich aner- kennen zu müssen, daß der Wortlaut desselben (mag auch vielleicht die bri tisch erseits geäußerte Auffassung die objektiv richtigere und begründetere gewesen sein) doch zu subjek- tiven Zweifeln sehr gut Anlaß geben konnte. Sollten die Kontrahenten nur keine neuen Besitzungen erwerben (occupy, assume) oder überhaupt in der Nähe des zu er- bauenden Kanals keine Herrschaft ausüben (exercise any
^ Das Territorium derselben bildet jetzt einen Bestandteil des Staates Nicaragua.
^ Daneben wurden auch noch einige weitere Klagen erhoben, die ich hier übergehe. Vgl. zu der ganzen Angelegenheit Martens, a. a. O., t5. 204 — 250, woselbst die zwischen beiden Rogiorungon gewechselten Noten vollinhaltlich mitgeteilt sind.
TU.
171
I
dominion)? Muß nicht der ausdrückliche Vorbehalt, den England zugunsten eines bestimmten, schon länger besessenen Territoriums' machte, die Frage in dem letzteren Sinne entscheiden, dergestalt da6 es außer dem speziell reservierten Gebiet gar keine Hoheit mehr behalten sollte?* Dieses auch zugestanden, involviert ein bloßes Protektorat „any dominion"? Und wenn das wieder im allgemeinen wohl Sil leugnen sein dürfte, muß ea nicht wenigstens in An- wendung auf unzivilisierte Stämme wie die Mosquito-Indianer unbedingt behauptet werden ? Das alles sind Punkte, über die sich selbst unter Voraussetzung beiderseitiger Gut- gläubigkeit immerhin streiten ließ, und die denn auch wirklich in dem englisch- nordamerikanischen Schriften- wechsel als wichtige AuslegungadifFerenzen ausgiebig erörtert worden sind.
Übrigens ist die Art, wie die Auseinandersetzung beider Parteien damals vor sieh gegangen ist, für uns auch noch in anderer Hinsicht wie als Einzelbeleg für die ständig unter Staaten sich ergebenden Interpretationsstreitigkeiten recht instruktiv. Wiewohl nämlich die Vereinigten Staaten den Traktat in einem einzelnen Punkte tatsächlich als ver- letzt ansahen, und wiewohl diese behauptete Verletzung ftier zweifellos einen Hauptartikel, ja recht eigentlich den 'Kern des ganzen Abkommens betraf, so waren sie doch weit entfernt, ihn daraufhin ohne weiteres als hinfällig zu behandeln; im Gegenteil suchten sie gerade auf Grund desselben, aus dem noch als bestehend vorausgesetzten Vertrag heraus die Verpflichtung zur Aufgabe des Mosquito- iProtektorats zu aemonstrieren und so im Wege der ("reund-
' Britisch-HoDdnrBn. DbU auf dipses der Clayttm-Biil wer- Vertrug kninL- Lnwendung xa finden Ltitic, wird in itlncr besonderen Erhlüriin^ vuni 1^ Juni 1850 durch GroQlirilannipn mit. NHchdnick bi'tont imit iinlerm I^Jnli auch von der Uoion amirkanoi. Cf. Märten», h. h. O., (>. 192 ff. * Vgl. die ArgumentÄtion der Vereinigten Siasteii, Marlcna, a. a. i. 232; die Engtinder seien naeli dem Satze Exprecaio uilius i>at lia allf.rius verpfiiclitet eowesen, „to with draw from all their otber nilnd American posauRBions .
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VI lA
schaftlichen Verständigung, durch Ausführungen mancherlMl Art den Mitkontrahenten von der Richtigkeit dieser Auf'l Fassung zu überzeugen'.
In dieser Weise pflegen überhaupt regelmäßig derartig» I Angelegenheiten sich abzuspielen. Abgesehen von demf
, oliglpich mit dieser EvenluaÜtäl an nicht- amtliclien Stellen araerikaniHcherseita oft genug gespielt wurde. Vielmehr ist dor Clayton-Bulwer-Vertrag in Wirklietkeit niu durch rngelreohten nintuug diasenans, duri^h den, Ende 1901 Kwischcn England and den Vereinigten Staaten abgescbloasenea, (Eweiten) Hay-Paunceforc-Tr«kt«t BD^eboben worden; erst seil diesem ist das eachlich sehr begreifliche (schon von Goethe einmal nls durchaus gerechtfertigt bexeicbnele) Be- atreben der letzleren, eich eine gewiBne VorKogskantrole über den pro- jektierten Kanal xn aichem, international voll diiruli|;edruiignn und von dem 1850 übemommenen vertraglicfaen Hindernis formell frei geworden. Ausdrücklich herrorgehoben »ei noch, daß Norditnorika bei den spSteren Verhandlungen mit GroBbrilanuien das Moment der angeblichen Traktato- verletnung achlieHüch ganz fallen ließ, und dafür immer mehr deu Oesicfala- pnnkt der Hpesiflsehen clausula rebus sie stantibns, der „vollständif; i _. ftndertcD Umstftude" in den Vordergmnd rückte. Zwar ist derselbe aoel schon 1854 hier und da gestreift wurden {cf. Härtens, a. s. 0>, 8 20B, 212, 233); doch ist eine schärfere Detonutw e[Bt nachmals eu atatieren, besonders deutlich im Anfang der 80 er Jahre des 19. Jalll hundert«, wo ein amerikanischer Staatsrnnun in einer amtlichen Note efM ganz (itfeo als Leitgedanken aussprach: „The conditiong of 1882 are notl those of 1650" (s. Wharton. International law U, S. 228. Auch dl»^ eigenen Bemerknagen von Wharton über diesen Ge^nstand nelunen ■ sehr entschieden auf die Klausel Bezug, wie n. a. aus der ÄuBcmng aof S. 238 lierrorgeht^ „Stipulations in treaties based an a particular ntate of fauts become inoperativc, when thesc facta are so Diateriolljr modiEod that these stipulations connot be rightfully onfbrced"). Speziell fUr unsere Zwecke recht beachtenswert erscheint bei diesen nenerea Vorgänj^n noch Eweierlei. Einmal daß England auch diese Art der amerikanischen Beweii- ßhrung in keiner Weise als durchschlagend anerkannte, und damit einen neuen Beleg für den, von uns oben auf S. S4 statuierten allgemeinen ESr^ fahmngssntz lieferte, daß immer nur der verpflichtete, keineswegs aber auch der berechtigte Partner etwas van einer praktischen Gültigkeit der clausula rebus sie stantibus wissen will. Andererseits ist sehr charakteristisob, daß auch die Union, wie zu Eingang dieser Note bereits kurz bemerkt, dem britischen Protest gegenüber nie gewagt hat, auf Grund der rer- änderten UmStande ofBziell die direkte Beohtsun Verbindlichkeit des Clayton- Bulwei^ Vertrags »n behaupten, weshalb es z. B. auch aU irreführend und ungenau zu bezeichnen ist, da& Holland in seinen 1898 erschieneneil „Studies in international law" (cf. 8. 274} ohne jeden einschränkenden Kommentar sagt: ,It will be remcmbered thal the United States in IBST ~ gave notico that, owing the chango of circumstonces , and espeuialty i Oie development of their trade on the Pacific coast, they could not eoll'l ■ent to remain bonnd by the treaty."
VI 1.
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großer Völkerkriseii ', die ohnehin rasuh zur Ent- .•cheidung durch Waffengewalt hindrängen, stößt man relativ nur buchst selten auf die Erscheinung, da6 ein Staat die (wirkliche oder veimeintliche) Verletzung eines Traktats Bofort mit der Erklärung beantwortet, er sehe denselben deshalb für aufgeiflst an, Statt dessen zieht die betreffende Macht gewöhnlich es vor, bei der Gegenpartei voretelllg zu werden, ihr das Unzulässige und Rechtswidrige ihres Tuns Dacbzu weisen, auch wohl von sich aus die Geneigtheit zu gewissen Konzessionen, zu einer Revision des bisherigen Zustande durchblicken zu lassen; kurz, sie legt ein Verhalten an den Tag, welches deutlich zeigt, daß fQr sie trotz des Traktatbruchs der Vertrag als solcher noch immer existent geblieben ist und die Basis zu weiteren Verhandlungen bildet. Es wird nun schwerlich zu bestreiten sein, daß diese Tatsachen mit der üblichen kategorischen Lehre , Einseitige Verletzung eines Vertrags hebt letzteren ganz auf" nicht zum besten zusammenstimmen, sodaß also die Untersuchung der völkerrechtlichen Praxis, die uns vorbin*
:Lon auf seiten des Traktatsbrechers selbst wichtiges, gegen 'die Ausbildung eines solchen Satzes sprechendes Material geliefert hat, auch auf seiten der Gegenpartei zu einem fthnltchen Resultat fuhrt. —
Das Sclil ußfazit, welches man aus alledem zu ziehen hat, kann hiemach nicht zweifelhaft sein: wie schon mehr- mals im Verlauf dieser Untersuchungen dUrfen wir auch hier den Tatbestand konstatieren, daß die Doktrin vorschnell
id ohne die unbedingt nötige Durchforschung des realen
) Boi ibiiBU kommt as naturgcmgU bi-süuders leicht EU dem «chon r einmal beobachteten (vgl. ^ 5 S. 5») Tatboatand, dall die Stub-a I, nolchü voo der Dolitrin falscblicb lär ipezifisch-juri »tische MormcD 0 wprdeu , gpru für politische Zwecke als Argumentationnnittel
Recht interL-BHant ist in dieser Hinxicht beiapiciswoige die
■ohidite des läCÖer preuBisch-österreichiHchea Kriegs, insoweit als 1l auf die StelluDE;nahmc beider Parteien zur Gtuteioer Kouvention, tooben BimdsBakte u. dergl. beliebt. Cf. Hahn, Zwei Jalire h-Deutacber Politik, 8. 110. 119, 125. .. oben 8. lös f.
174
VI 1/
Staaten Verkehrs etwas als formelle Reehteregel proklamiert hat, was in Wirklichkeit diese Qualität nicht besitzt und deshalb aus dem spezifisch -juristischen internationalen Normensy fitem zu entfernen ist.
Nun ist es allerdings einleuchtend, daß es bei diesem negativ-kritischen Ergebnis allein unmöglich sein Bewenden haben kann. Wir haben selbst anerkannt', daß die Theorie, indem sie einen derartigen Satz aufstellte, nur einem gar nicht wegzuleugnenden praktischen Bedürfnis wiasensL-haft- lieb Rechnung zu tragen suchte; wir dlirfen es daher auch keinesfalls von uns ablehnen, die durch unsere Darlegungen zweifellos entstandene Lücke nach Müi^lichkeit wieder aus- zuflillen, in anderer und besserer Form für das Aufgegebene Ersatz zu beschaffen. Auch in dieser Beziehung erscheint i der von uns einzuschlagende Weg durch frdheres bereit! I klar vorgezeichnet.
Zunächst haben wir, gleich bei Beginn dieses Para- graphen, schon dargetan, daß es keineswegs dem wahren und eigen tlichen Willen des Kontrahenten entsprechen >J kann, einen Vertrag selbst dann noch einzuhalten, w er von dem einen Partner unerfüllt gelassen wird. El-1 liegt aber auf der Hnnd, daß diese (als latent stets vor-J banden supponiertej Schranke des ausgesprochene nach außen rechtswirksam erklärten Willens notwendig I ^ wofern sie objektiv überhaupt existiert und von unalJ nicht bloß irrtümlich aus der „Natur der Sache" subjektiT^B deduziert wurde — in einer entsprechenden tatsächlichetfr Behandlung der praktisch vorkommenden Einzelfalle i tage treten wird; anders ausgedrückt, die von uns mit den! Mitteln des abstrakten Rechts vergeblich gesuchte Korrektur-J und Hilfsnorm vermag sich noch ohne und gegen davf Recht, in Form eines rein faktisch sich betät igen d eil' J Erfahrungssatzes als gegeben zu erweisen.
Demgemäß würde es an und für sich jetzt unbedingtj
■ T^. oben S. 1G5,
VI 1.
unsere DäcliBtliegende Autgabe ^ein müssen, eio derartiges empirisches Material wirklich zu sammeln und sü das Schlußresultat, welches wir, unsßrer gesamten Grund- anschauung nach, hier wie überall von der verataiidea- mäSigen Deduklion allein nimmermehr erwarten dUrfeii, auf das sichere Fundament erfahriiDgsmäßig gefundener [ndoktioDsreihen unterstützend aufzubauen. Indes mit Rücksicht darauf, daß wir uns bei der ganzen Frage doch auf einem bloßen Seitengebiet unseres Hauptthemas bewegen, mag die (praktisch zwar unschwer zu bewerkstelligende, aber auch der Gefahr ermüdender Eintönigkeit leicht anheim- fallende) Durchführung dieser Aufgabe im einzelnen hier unterbleiben, und es soll dafür nur das gesamte Er- gebnis, das auf solchem Wege zu gewinnen ist, in aller Kürze angegeben werden. Dasselbe lautet:
Unbekümmert um das formelle Völkerrecht, welches in einem derartigen Falle einfach die grundlegende Norm Pacta, sunt servanda fortbestehen, d, h. beide Parteien gleichmäßig Weiler gebunden sein läßt, pflegen die Staaten, sobald Be- Btimmangen eines Vertrags von dem einen Kontrahenten ver- letzt werden, das Übereinkommen am letzten Ende auch ihrer- Mits nicht mehr zu beachten und zur Realisierung zu bringen.
labei sind und bleiben die näheren Umstände, unter denen geauhicht, regelmäßig so ijuaütiziert, daß von dieser fort- Uufeaden Kette faktischer Ereignisse niemals eine, all- mähiich sich anbahnende spezifisch -Juristische Korrektur des bisherigen internatii.'nalen Normenbestands erhofft werden darf'; außerdem ist noch wohl zu beachten, daß die eben
iOostatierte Erscheinung durchaus nicht unterschiedslos bei
iiige Form, in cler wenigstens nlwna ähuliclie» ertiin&l a
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„ „ iMiKn
iipcnditrt wflrdi^, d. h. daß er, unbcschBaet tati aU «olchen, jurinliüch bofogt entthittnc^, dio t mrflokitihRlbm, äla von der andpren Partei dii^ Ongt^nlcintuiig rt wird. Ich will jedoch dtTgleichen in kt^iner WcisD positiv tK-banptfii, m tcdigtich nln nicht gans ■ung«scblos)>ene HSglichheJl xngeben.
Vemprochon« recht-
ier FortcxiBteni des
LBistung lo
176 VI 1.
sämtlichen Vertragsbrüchen, sondern nur bei einer ganz bestimmten Gruppe derselben eintritt. Welcher Art wieder die letztere ist, darüber läßt sich an dieser Stelle bloß so- viel sagen, daß stets solche Punkte verletzt sein müssen, um derentwillen die betreffende Macht den ganzen Traktat recht eigentlich erst abgeschlossen hat, ohne die er also für sie jeden realen Wert, jedes praktische Interesse überhaupt gänzlich verliert.
Siebenter Abschnitt.
Bedingter Wert des Moments der „staatlichen
I "-'
W § 15.
^T Von den einzelnen Bestandteilen, die in ihrer Ver-
einigung das Gesamtbild der üblichen Theorie von der völkerrechtlichen clausitla rebus sie stantibus ergeben, ist nunmehr bereits die Mehrzahl kritisch untersucht und als irrig befunden worden. Wir haben an erster Stelle nach- zuweisen vermocht, daß die clausula durchaus nicht einen spezifischen Rechtssatz, sondern eine ganz andersartige Regel darstellt. Es ist ferner gezeigt worden, daß das, entsprechend modifizierte, Grundprinzip der Klausel keines- wegs bloß dem internationalen Vertrags recht eigentümlich ist, vielmehr einen weit größeren, überhaupt das gesamte Völkerrecht ergreifenden Herrschaftsbereich hat. Wir haben endlich dargetan, daß eine wahrhaft erschitpfende Erfassung des Problems nicht im Siune der herrschenden Lehre aus- schließlich an das Moment der veränderten Umstände KoIcnUpfen darf, sondern nach den verschiedensten Richtungen ber dasselbe hinausgehen muß. Wir schreiten jetzt zur Erörterung dea vierten von ns zu besprechenden Punktes. Derselbe betrifft, wie wir wiMen, die Frage, welcher Art und Beschaffenheit die Ver- Knderung der „res sie stantee" dea näheren zu sein hat, wenn
178 VI 1.
sie zu einem hinlänglichen Anstofi für die Aufhebung des ganzen Vertrags werden soll.
In dieser Beziehung haben wir (abgesehen von dem eine ganz spezielle Frage behandelnden § 14) bisher durch- weg an der Voraussetzung festgehalten, daß die Umgestaltung der früheren Zustände, bezw., genauer und allgemeiner ge- sprochen, die Diskrepanz zwischen der subjektiv erwarteten und der objektiv eintretenden Entwicklung der Dinge eine derartige ist, daß jetzt eine treuliche Erfüllung des Traktats den betreffenden Staat geradezu gefährden, seine eigene gesicherte Fortexistenz schwer bedrohen würde. Es ist nun zu untersuchen, ob diese Beschränkung tatsächlich ganz das richtige trifft oder aber zugunsten einer ausgedehnteren Fassung aufgegeben werden muß.
Getreu der von uns überall befolgten Methode gehen wir hier abermals von der Betrachtung tatsächlich-konkreter Verhältnisse aus; und zwar empfiehlt sich in diesem Zu- sammenhang als äußerst charakteristisches Beispiel ein Fall aus der antiken Geschichte^.
^ Die Heranziehung auch dieser wird wohl insofern grundsatzlichem Widerspruch begegnen, weil nach einer weit verbreiteten Meinung (zu virl. beispielsweise die Ausfuhrungen von F. v. Märten s, Völkerrecht I, lo83, S. 31 ff.) das Altertum ein eigentliches jus inter gentes gar nicht gekannt haben und deshalb auch för spezifisch* yölkerr^^tliche Zwecke kein prinzipiell brauchbares Material darbieten soll. Diese Ansicht ist jedoch nicht als richtig anzuerkennen. Selbstverständlich kann ich nicht daran denken, das hier im Vorbeigehen, sozusagen als Inzidentpunkt, mit darsutun, und will daher an dieser Stelle bloft kurz auf den Uanptirrtum hinweisen, der meines Erachtens das fehlerhafte Schlußresultat in erster Linie verschnldet hat. Es legt nämlich die völkerrechtliche Doktrin, mehr oder weniger bewußt aiä der Grundanschauung fußend, die das Recht nicht als etwas der objektiv-realen Außenwelt Angehörendes, sondern in letzter Instanz als etwas Subjektives, bloß Vorrostelltes , Intern- Psychologisches betrachtet (vgl. hierzu unten § 17, S. ^16 £), regelmäßig viel zu viel Gewicht darauf^ wie das gegenseitige Verhältnis versäiedener Völker damals von einzelnen Individuen, insbesondere von den antiken Philosophen und anderen Schriftstellern in abstracto beurteilt und auf- gefaßt worden ist (cf. Martens, a. a. O., S. 32: Ablehnung des antiken Völkerrechts „schon aus rein theoretischen Erwägungen — a priori" ; S. 49, Anm. 13: „gesamte Weltauffassung der antiken Völker''). Anstatt aber deduktiv aus beiläufig hingeworfenen, allgemein lautenden Aussprüchen dieser (z. B. Aristoteles, Politik I, 4, 7; weitere Angaben bei Martens, a. a. O. , S. 33) prinzipielle Schluißfolgerungen zu ziehen,
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17fl
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Derselbe ist der so wichtigen und Jnbaltreicben Periode des dritten und vierten Jahrhunderts vor Christi Geburt entnonimpn: Za einem nicht genau zu bestimmenden Zeit- punkte, wahracheinlifh gegen 350', hatten nämlich Rom und Tarent miteinander einen Vertrag des Inhalts ge- schlossen, daß die tichiffe des ersteren nicht ilbi^r das lakinisehe Vorgebirge hinaus^ das Meer befahren dürften*.
bitte man nucli hier wieder ulluii Anlaß gebebt, die »treug iuduktivi! Uethode ear Anwondung xu brioguD. Die begriff] iclieD yorHussctzangen der Bntsteliuiig iuteraatiaiialer Eeguln (eine Vielheit untibhängi^r Staaten , (Wischen denen eine gewiBse stiiiidige Beiiefaung und BeFühraug statt- Bndet) waren jedenfalls,. schon im Vcrhültnis der Oriochen und Itömer zu d«n „Barbaren", ^Bnn besonders aber innerhalb der so reich entwickelten btllenisoben Staalauwelt. tatsäclilich vorhanden i wo aber dies der Knil bt, da pSegt aii^h auch, unter dem Druck realer VerhAitniHse, zwischen den beteiligen Mächten objektiv sehr rascb ein in wechselseitigem Bin- TBiatindnis repilnüUig ^&blei Normnnujstem und damit eiu technische» TBIkerrecbt su entwickeln, gleichviel ob man nun subjektiv die Sache richtig erkennt und formuliert oder niclit Mit diesem notwondipen Vor- behalt Tctalandeii, entbehrt auuh das Altertum keioe^wegs einea spezifischen ^utes, ja dasselbe muß, wie teils mit Hilfe der alten Gescbichts- Mdireiber, teils und mehr noch an der Jlaod des uns erhaltenen Urknaden- materiali siub Keigeu laßt, in einzelnen Partien sogar eiu sehr niugebildetes Imd detailliertes gewesen sein. Eine sorgfältige Durchforschung beider IjDelleii wfirde alsbald eil dem Ergebnisse ßhren. daS so maaehes, schein- lur gaiu moderne interoatiooale Kechtsinstitut bereits ia jener Zeit einen Torlsafer. ein iinverkennbares Seitenstück g:ehabt hat! ~ Als für nns esiantes Kuriosum mSchte ich bei dieser Gelegenheit wenigstens das dne erwähnen, daB selbst die Lehre von der eliuiula rebus sie stantibus damal« nicht ganü uuvertreten geblieben ist; spricht sieb dach ein Antiker Historiker (und zwar gerade derjenige, dem schon direkt nachgesagt worden ist, er müsse theoretisch-vSlherrcchlliche, apfilcr leider verloren gegangene, Schriften gekaunt und benutzt haben (cf. v. Ijcala, Bludieti das PolfbioB I, S. I5öf.) einmal mit aller Klarheit dahin an», wenn hei einem Vertrage (im gegebenen Falle einem Kriegsblind nis) die jetzigen VarbklmiMe genau die nämlichen seien wie beim AbBchlusse desselben, ■o kabe mau bei dem Traktat ausinharren, wenn sie sich aber vollständig IMindert bitten, lo dQrfe man sich die 8ache noch einmal von frischem ll1b«i^«a(Pol7biDs iX, H. 87: Tr.0ra d' ijv tl fiit a/ioi tail ib '■truäyuara vüv *iii xnü' u!k xanioÖ! fnoitiaüt liiv avfifiujflar. ititt ttl /tffftv Kai T^f ifififf/tf nfQfnr rwr vnüxfifx/vmr. — li iT' ölo- •jfl]pi3c ^Xlniaiai, 4titi •Slxaiöv ii>Ji xot rüir v/ing If attpatov flov- • • — - 1 räv Ttit^ttktvoft^m/). Vgl. noob das Beispiel oben 8. 44. t er. Mommscn, Rflmische Geschichte (7. Aufl.). I, ü. »91 und 4111. * D. h. nicht östlich *on dem jetzigen Kap Nao i[i Calabrien (aacli L ySiulenkap", Capo Colunne genannt),
■ Van antiken Kcbriftstellern erwähnt den Traktat gelegentlieh (bei lernug der nHuhmaligdii , zum casus belli werdenden Ehreignisse)
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VI^
Dieses Übercinkonimeii, das über der großen mittlerweile^ eingetretenen Umwälzung der poÜtiscben Oesamtlage viel- leiclit etwas in Vergessenheit geraten sein mochte, sollte dann 70 Jahre später die Ursache zu ernstesten Mißhellig- keiten, ja im weiteren Verlauf zum Ausbruch des offenen Kriegs zwischen den Kontrahenten werden. Denn als im Jahre 283 eine kleine römische Flotte, die sich auf der Fahrt nach den kurz vorher von ihrem Staate erworbenen neuen Besitzungen am adriatischen Meer befand, in den Hafen von Tarent eingelaufen war, wies in der Stadt ein Demagog das leicht erregbare Volk darauf hin, daß dies eine zweifellose Vertragswidrigkeit involviere, und reizte die Massen hierdurch so sehr auf, daß sie einen plötzlichen Angriff auf die Römer machten, fünf Schiffe derselben wegnahmen und ihre Bemannung der Hinrichtung oder d^ Sklaverei überlieferten.
Will man in dem hier gegebenen Streitfälle nach Möglich- keit beiden Parteien Gerechtigkeit widerfahren lassen, sa muß zunächst rllckhaltslos anerkannt werden, daß die Römer; da für jenen Vertrag ein spezifisch-rechtlich wirkender Auf- hebungsgrund, insbesondere mutuus diasensus, sicher nicbl vorlag, formal-juristisch jedenfalls im Unrecht waren'. El ist aber weiterhin auch noch zuzugeben, daß für ihre Um« fahrung der ytcm-tvia aA.qa ebenso der Versuch einer materiellen Rechtfertigung, wenigstens in der bis jeferf
Appiaa mit den Worten (Samnit. 7); "Oii Ko^v^lioi iti xaiaifgäurttr
itxB vtmv tSiäro xiiii /tfyalij]r 'EiilniTir — ' — '- '"■-- -* '-
^iitd^Bpif — nalai<öv än/jf/irijaxe avt ngoau .luxivlai äxgnq , nopofi
' Dnmit erledigeo sicli tür uns (Bamische Oeachichte, I, S. 418, N. 16) in einer Polemik wider iii, mit der hier vertretenen AufT&ssuDg durchaus übertinatiiiiinendeii, Darleganna Mommsens die entrüstete if>age safWirft, ob clenii in einem aol^Mi Falle „der TertriK sofort aufhören aolle bindend zn sein"? Ein derr artiges Verlangen wurde in der ThI viel au weit gehen, wird aber aar von der von una gerade alii irrig bekämpften bisherigen Klani lehre (nnd selbst von dieser, mindestens furmell, nii^ht durchweg, cf. * 8. 89 ff.) aufgestellt.
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von uns geiibtfin Weise (cf. oben S. 178), vollständig fehlschlägt; kann doch gewiß nicht davon die Rede sein, daß eie zu ihrem vertragswidrigen Verhalten durch eine dringende Notlage, durch wesentliche Gefährdung der politischen Existenzbedingungen Roms gezwungen worden wären. Dagegen in anderer und neuer, von dem tetzt- angedeuteten Moment völlig abstrahierender Form läßt sich ein solcher Versuch sehr wohl erfolgreich durchflihrtn, woraus dann die Notwendigkeit einer entsprechenden Er- weiterung der nur jenes berücksichtigenden alten Fassung ganz von selbst sich ergibt.
Man darf nämlich nicht außer acht lassen, in welchem Sinne der ganze Vertrag in concreto eigentlich gemeint war. Die Absicht, in der er von den Tarentinern ab- geschlossen wurde, ging anerkannt dahin, der Gegenpartei den Zutritt zum östlichen Becken des Mittelmeers zu ver- sperren und sich seibat so von deren maritimer Konkurrenz £11 befreien; unter Verwendung eines neuzeitlichen terminus technicuB könnte man sagen, sie wollten jenes zur exklusiven , Interessensphäre" ' machen mit der Wirkung, daß sie innerhalb desselben „das Recht, die Ausübung fremder Staatsgewalt auszuschließen"^, erwarben". Dieses Ziel wurde auch ursprünglich durch die von ihnen gewählte Formel vollkommen erreicht. Denn da die Römer um die Mitte
' Die Puralleliflierang mit dicHem lastitut des moderuen VSIherrechts soll sieb natQrlicb nur auf die hier wie dort g-leiclinjäQig Torbaadene Oeaatatteudenz , nicht aber auub auf die, bcidomal rocht vernchiedenen, Mittel lur Kcalisiemiig des angestrebten Zwecks belieben. DaB in letEterer Hiusicht die beutige Pansung: wegen ibrer grüBeren Zuverläitsig- kcil weitaus den Vonitg vor der ziemlich {irimitiren actikea verdient, iat sicher.
» V. Liszt, Völkerrecbt, 2. Aufl., ü. 73.
* Ähnlicbe Vertrage sind im Altertum (Iberaus häuGg la konBlatieren. VkI. e. B. den, binsichtlich seines föroilichen Abschlnssen allerdlnifg etwas xweiJelhaften, Kimonisehun Frieden, den römlsch-karthagiachen Handels- ond [ich iffiüirta vertrag vom Jahre 508 (interessant auch deshalb, weil in Um, vielleicht Eum ersten Haie in der Geschichte, der BegrifT der sogen. reliche foru^e aufgestellt und völkerrechtlich fixiert wurde; uf. v. äcala, Staatorertrige des Altertums. I, S. 29/31X weiter den IQOÜSdpr Vertrag Boms mit dem s}-ris«hen KOnig Antiocbos, a. m, dorgl.
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des 4. Jalirliunderta bloß Besitzungen an der Küste tyrrhenischen Meeres hatten , so vermochten sie von dort aus OHr unter Passierung des lakinischen Vorgebirges nach dem Osten zu gelangen und wurden folglich durch die Sperrung dieser Route überhaupt ganz von ihm abgeschlossen, Hierin war jedoch spdterhin eine große Wandlung ein- getreten. Teilweise schon vor der Vernichtung des keltischen Stammes der Senonen, in erster Linie aber durch diese hatten die Römer am adriatischen Litoral gleichfalls weite Landstriche gewonnen und dieselben auch schleunigst durch Befestigung von Land- und Küstenstädten (Sena Oallica, Castrura Novum, Hadria) gesichert. Damit hatten sie aber offenbar auch im Östlichen Mittelnieer wieder freie Hand erhalten, insofern als keinerlei Vertrag ihnen untersagte, dasselbe von den neuen Kriegahafen aus, also unter gänz- licher Vermeidung der uiemtvia ixu^a, mit ihren Schiffen zu befahren. Mit anderen Worten , wegen inzwischen eil getretener faktischer Veränderungen hatte ji jener alte Vertrag für die Tarentiner seine eigentliche ratio, seinen Grund- und Hauptwert vollständig eingebüßt, dergestalt, daß er bloß die praktisch kaum ins Gewicht fallende, höchstens zu Chikanezwecken noch brauchbare Bedeutung behielt, die direkte Seeverbindung zwischen deikr tyrrhenischen und adriatischen Küstenstrichen der Kftmar^ zu sperren. Unter diesen Umständen hatten aber die letzteren gewiß guten Grund zu der Annahme, das mit ihnen bisher ständig befreundete Tarent werde seine formelle Weiter- beachtung überhaupt nicht mehr verlangen: schon du natürliche Gefühl muß ja jedem unbefangenen Beobachter sagen, daß einem derartig antiquierten, in seinem innerste». Kern und Wesen überlebten Traktat jede materielle Existeni berechtigung fortan eigentlich abgeht.
Es gilt nun aber, für dieses natürliche Geflihl, dii vorläufig mehr instinktiv gewonnene Überzeugung, noch dl geeignete wissenschaftliche Ausdrucks- und Begründunj formel zu finden. Dabei wird gleichzeitig auch zu eol
\
zu _
■Vll.
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I sufaeiden sein, ob und in welcher Weise die hier erürterten I Falle mit der bisher (vor § 15) ausschlieBlich behandelten I Gruppe doch unter einen gemeinsamen höheren Gesichta- I punkt eich bringen lassen.
Die grundsätzliche Mögliehkcit einer solchen Ver- [ einigung ergibt sich leicht aus folgendem Gedankengange. Nach seinerzeit erfolgten Feststeltungen ' erscheint theo- retisch auch das Kriterium der staatlichen Geföhrdung keineswegs schon als solches an und ftlr sich, sondern lediglich auf Grund der komplizierteren Erwägung als die Tertragliche Gültigkeit wesentlich tangierend, weil es prä- , «umtiv dem wahren und eigentlichen Willen der ' Parteion zuwiderläuft, daß eine von ihnen, wenn nötig, «elbat auf Kosten der eigenen Existenz den Traktat durchführen soll. An dieses international-subjektive Moment darf aber offenbar bei den uns jetzt beschäftigenden Fällen genau so gut angeknüpft werden, bloß mit einer kleinen, die volle Gemeinsamkeit des Prinzips nicht beeinträchtigenden Differenzierung. Jener wahre und eigentliche Wille 'ler Kontrahenten kann nämlich inhaltlich entweder «0 gestaltet sein, daß er überall ohne weiteres vorauszusetzen I i«, bei sämtlichen Verträgen generell und unverändert I wiederkehrt; er kann aber auch eine derartige Beschaffen- P heit aufweisen , daß er der einen konkreten Vereinbarung und nur dieser eigentümlich ist. Das erste war der Fall bei der früher besprochenen Eventualität: es liegt eben in der Natur der Sache begründet, daß ausnahmslos jedem Vertrag die prüjuristisch-zweckliche Schranke gesetzt ist, ■eine Erfüllung dürfe niemals auf eine Gefährdung der politiBcben Helbsterhaltung hinauslaufen. Mit dem zweiten haben wir es hier, in § 15, zu tun: es kommen hier die- ieitigei] Tatbestände in Frage, bei denen ein Traktat außerdem voa irgendwelchem Sondermomente wesentlich beherrscht , d. h, bei denen er lediglich um einer, nicht rechts-
« Vgl. 8. 116f.. Ifil, IttOi.
wirksam mitatipulierten ' , deshalb aber nicht weniger existenten, Spezial vorausaetzung; willen überhaupt ab- geschlossen wurde und folglich durch nachträgliche Ver- eitelung derselben seine letzte Basis, sein sachliches Fundament völlig verliert.
Das so gewonnene Resultat ist Übrigens auch noch in anderer Beziehung, im vergleichenden Hinblick auf die entsprechenden Teile der üblichen Klauaclformulierung, von großem Interesse. Wir haben in § 3' gesehen, daß die letztere prinzipiell nach zwei verschiedenen Seiten aus- «.'in and ergeht, daß die völkerrechtlichen Autoren bald nach generellen, bald nach konkreten Gesichtspunkten und Merk- malen die den ßechtsbestand des International Vertrags durch ihre spätere Änderung ungünstig beeinflussenden Momente näher bestimmt wissen wollen. Zu dieser Htreitfrage haben wir unsrerseits nunmehr in der Weise Stellung zu nehmen, daß von den beiden Lehren keine ganz recht und keine ganz unrecht hat, daß es sich hier in Wahrheit nickt so sehr um ein „Entweder — oder" wie ein „Sowohl — als auch" handelt. Die erste, d. h. diejenige Richtung, welche grundsätzlich das öegebensein eines „Konflikts mit deu hltchsten Staatsinter essen" verlangt, in einzi^lnen Vertretern auch, formell noch besser und präziser, diese Interessen ausdrucklich mit der Rücksicht auf Selbsterhaltung : tifiztert^, bringt insofern ein sehr richtiges uud zutreffendes Element zur Geltung, als das durch de erörterte Gebiet nicht bloß das weitaus wichtigste*, sondern vor allem dai
' NatBrlich kann es praktisch auch vorknmmeii , dati im Vertrage selbst mit aller Btistimmtheit erkl&rt ist, er werde nur ini Hinblick i ' gewisao kunkrete Verhältnisse und für die Zeit ibror Finrldauer n geschloBseu; dnch bedarf dieser FaU hier keiner weitereu llieoretischen ErnrtemDg, denn es versteht sich ja von nelbst, daß jedes unter eL spezifiacheu Resolutiv- Bedingnu^j^ [(esetite Übereinkommen sofort i deren Eintritt schon von Bechts wegen seiner OQItiEkeit verlasUe eehl.
' Cf. 8. 20.
' Vgl. § 8, S, 83 ff.
* DaB dem wirklich so ist, wird schon durch die, ron uns S. . . konstatierte Tatsacbe aur Qen&ge bewiesen , daß regelmfißig ancb die I
VI I.
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einzige allgemein- iheoretiseiier Betrachtung überhaupt fähige ist; sie irrt aber darin, daß sie die außerdem noch vor- handenen Müglichkeiten gänzlich ignoriert und ho den bloßen Teil zum Ganzen erhebt. Die andere wieder ver- meidet zwar glücklicli den letztgenannten Fehler; denn ihre These, es komme stets auf das an, waa die Parteien bei jedem Einzeltraktat entscheidend voraussetzten und intima in mente hatten, vermag offenbar den ständig wieder- kehrenden Vorbehalt der politisühen Öelbsterhaltung eben- fajis mit zu decken; hingegen verurteilt sie sich dadurch, daß sie mit dieser streng konkreten FormuliiTung durchweg «nd schlechthin sich zufrieden gibt, selbst zum hoffnungs- 'osen Verzicht auf jede tiefergreifende Erfassung des Problems, die naturgemäß immer nur auf gener eil -gültiger Grundlage ^'^olgreich versucht werden kanu. Erst eine Verbindung ''^« richtigen Gehalts beider Lebrmeinungen vermag hier *** einem wahrhaft und allseitig befriedigenden Ergebnisse
*«» ftihren'. —
. Durch die zuletzt gegebenen Darlegungen ist iniplizitL-
^reits angedeutet, daß und warum dem Wenigen, was Über
£W**hänger der gegneriacheu ^^«irang ihrer Aoaicht melir
^ ' Eb ist nicht m verkennoii. ilnB eine derartige Verachmalzang liier
^^^d du bereits angestrebt worden iat. Wena e. B. Roli n-J acquemr ns _^S^rQe de droit inlernslional , XIX, S. 46) fBr die Anwendbarkeit der ^tcosel rohns eic slantibux aoluhe Verfinderungen verlangt „(a) qoi ^uivAlent i nne impofiBibilitä materielle ou morale d'ei^cutioD ou (b) Htti däsinl^ressent la partie au prafit de Inquelle rei^catioa devait se ^Ure") an paBt iedenfalla die letztere Hälfte dieser Ilegriffgbestimmung ^rtreffUch auf Fälle nie die im Text besprochene rOmiach-tarentiniiche itroverse, während die erstere auf den Gesichtspunkt der Sorge für die „sneEKiatenz sieh wenigsteuB mitbeziehen läßt. Eine äbnlichc TuudeOE Fttitt in den Ausfnbningen zutage, die v. Liszt in der zireiten Auflage •Bioen VSIkern^cbta , S, lij6— 166 über die clausula gibt; dabei zeichnet lieh seine Durstellung (die im übrigen, besonders in ili^r spestiSsch- jariatisoben Qualifizierung der Elausellehre, «owia in dem einseitig- «iklnsiT^Q Betonen das Moments der „veränderten Verbal tnisae", durubaus an den gewOholicben Fehlern partizipiert) nocb durch den weileron Um- itaml wesentlich aus, da^ sie, ganz mit Recht, die aus Rücksichten der Selbsterbaltung erfolgenden Traktats Verletzungen mit einem vic! umfassen- deren Institat, mit der allgomeiiien internationalen Nolataudsnorra in Ver- bindung bringt ivgl. ti. Ö4. Anm. Ij.
186 VI L
das spezifische Thema unseres Paragraphen bisher gesagt wurde, kaum noch viel hinzuzuftigen sein wird. Wir haben uns jetzt, gewissermaßen nachtragsweise, nur noch mit solchen Elausel&Uen näher zu beschäftigen, die nach Aus- scheidung der ganzen, aus dem staatlichen Selbsterhaltungs- triebe zu erklärenden Teilgruppe noch übrig bleiben; für diese muß es aber (allein den ebenfalls schon erledigten und deshalb jetzt nicht mehr in Betracht zu ziehenden Gegen- stand des § 14 ausgenommen) notgedrungen dabei sein Bewenden haben, daß sie nur rein individuell, durch sorg- fältigste Analysierung des jeweils gegebenen Einzelfalls richtig zu erfassen sind — für wissenschaftlich - allgemein gehaltene Erörterungen eo ipso ein höchst sprödes und un- ergiebiges Arbeitsfeld!
Die einzige Aufgabe, die diesen unter den obwaltenden Umständen überhaupt noch zufallen kann, besteht darin^ kurz die Art und Weise zu schildern, wie bei solchen konkreten Untersuchungen regelmäßig zu verfahren ist; wir müssen auf diejenigen Momente hinweisen, an denen eine etwa vorhandene Differenz zwischen dem in Traktats- form erklärten und dem wahren Partei willen auch nach außen hin kenntlich und nachweisbar zu werden vermag.
Am wenigsten kompliziert liegt die Sache überall dort, wo der Text des Übereinkommens selbst eine mehr oder minder klare Hindeutung darauf enthält, daß die Parteien, ohne direkt die Rechtsbeständigkeit ihrer Willenserklärungen davon abhängig zu machen^, doch jedenfalls materiell nur unter der bestimmten Voraussetzung irgendwelchen Ge- schehens, Sobleibens, Anderswerdens usw. gehandelt haben ; hier ist nach Lage der Dinge noch die einfache Vertrags- auslegung imstande, eventuell, beim einseitigen Hinweg- setzen über den Traktat, auf sachlich-metajuristische Recht- fertigung, natürlich aber auch nur auf solche* zu plaidieren.
' Cf. oben S. 184, Adid. 1.
' Da nach den gemachten Annahmen einerseits eine rechtlich-gültige Deklaration des vertraglichen Hauptwillens durchaus gegeben ist, anderer-
Vi 1.
187
Indes wirfl man damit allein bloß in den seltensten [ Fällen auskommen, vielmehr zu diesem Zweck zumeist noch lodere und fernerliegende UnistSnde zu Hilfe rufen müsBen, f Da wSre zunächst auf die dem wirklichen Vertragsabschlüsse [ TToraUBgeh enden Besprechungen und Verhandlungen der ' Ireiderseitigen Unterhändler hinzuweisen: schon aus diesen kann mit voller Deutlichkeit hervorgehen, daß das von den Kontrahenten eigentlich Beabsichtigte in der offiziellen Ver- tragsurkunde durchaus keinen genau angemesBeni-n Aus- druck gefunden hat. Dann haben wir auch, noch weiter zurückgreifend, die ganze politische Entwicklungsreihe in Rechnung zu ziehen, die unter den betreffenden Mächten vor der Vereinbarung selbst sich abspielte, und als deren ächlußprodukt die letztere erscheint; es muß berücksichtigt werden , ob der Traktat am Ende eines Krieges zwischen Sieger und Besiegten zustande kam oder nicht, ob und durch welche praktischen Ein zelvorkonimn lese er nach- weislich angeregt wurde, und mehr dergleichen. Endlich darf aber auch das gesamte sonstige Milieu, aus welchem derselbe hervorgewachsen ist, keineswegs völlig außer acht issen werden. In dieser Hinsicht ist z. B. das Verhältnis I Jes einen oder des anderen Kontrahenten zu fremden Staaten
tdte der in die*äm hinzutretende und ilm beschrankende Nebenwille der idiqiuU wirksamen (d. b. ^radexn regolntiv bedingenden) Erktitruiig um- pkeiut ermangelt, ho muß aus diesen PräntiABen mit begrifflicher Not- wendi(;keit der SdituB gezogen werden, dnß die formal-jurialische Kraft des ersteren nuf nlle Fälle gewahrt bleibt Wenn im Gegeosatz ' 1 für daa innerRtaatlicbe (Frivat-JHecht derartigen Willenserklärungen ir Umständen direkt die jurixtische WirksHmkeil abgesprochen werden ■o kommt dies nur dadurch lualande, daß hier aatoritir ont- Bicbter auf Grund einer entaprer benden positiven Er- ^^iclltigangsnorm tätig xa werden vermögen — iwei schlechthin Ttnenthehrliche TatsnclienToraiunetzungeQ, an denen es je dem juH inter » leider gänzlich gebricht. DemgemäB haben wir ans für letzteren ait dem bekannten, Kchnn su wiederholten Malen [a. B. 169 bei
... _. m. 1| konfitjitierlen Sachverhalt resigniert absuflnden, daB hier
fc' 4as Btwht die ku seiner Bachgemäßen Uorichtigung erforderliehen Mittel nicht aelber eu beEchaffen fähig ist, und daß deehalb. genau wie bei den IrSber«!! Fällen, alle in concreto gebieterisch sich aofdräugenden Korrektaren iniDBr bloB faktisch, im Wege der regelmABIgeii Durch breohung jenes, dntretea kStmen.
188 VI 1. '
manchtnal geeignet, wichtige Aufschlüsse zu geben; sogar Beziehungen lediglich zwischen dritten Mächten können unter Umständen recht bedeutungsvoll werden.
Für sämtliche eben gouannte Momente ist noch wohl zu beachten, daß bei ihnen, genau genommen, überhaupt nicht mehr von eioer Auslegung des Vertrags als solchen, sondern nur des letzterem zugrunde liegenden staatlichen Willens die Rede sein darf: liegt es doch auf der Haud, daß, wenn in einem Traktatstexte irgend ein Element, hier der materiell als Willensbeschränkung wirkende Be- stimm ungsgrund, von Allfang an nicht enthalten gewesen ist, es niemals durch bloße Interpretation nachträglich auB ihm herausgeholt werden kann'.
Zur Ergänzung dieser abstrakten Ausfdhrungen sei schließlich noch eine historische Untersuchung eines Einzel- falls gegeben, die die nicht leicht übersehbare Materie besaer veranschaulichen wird.
Am 15. November 1715 kam zwischen jien nieder- ländischen General Staaten und Österreich der sogen. Barrifere- Vertrag^ zum Abschluß, kraft dessen die erateren in zahl- reichen genau angegebenen belgischen Festungen, in Namur, Vpern, Tournai usw., ein Besatzungsrecht ^ erhielten. Nach ziemlich siebzigjährigem Bestände wurde dieses Überein- kommen von Kaiser Josef II. einseitig aufgehoben, als der^ selbe 1781 zwecks gründlicher Informierung über die ihm' bis dahin sehr wenig bekannten Verhältnisse seiner nieder- ländischen Besitzungen eine Reise durch letztere machte*;,
' 8d n. a. zu v^ratebeii die gnleii Bemarknii^n bei PhllUiu Commentaries upoQ iiilemationnl law, II, W. 105. Vgl. lu der gi Sache aucli die vom ^'erfaaaer an nnderem Ort« (Das Gawohuheibireclrt 'J als Form dos OiiiDoiDwilleiiH, S. '^9, Anm. 1) über analoge inDerataatlich« J Verhältnisse gemachten Auarühningeu. i
" Ahgedrucfct u. b. bei Zioek, Uahe de» jetzt lebendeii Eutoptl (Cobnrg 17261, I, 8. 463. 1
' Übrigens traten zu der speEiflscb-militiriachen StaatsdienatbarkeU-a noch einige anderBgeartete Akseasorien, namentlich krafl Artikel S wiiac kirchlich-koufesnonelle befiignisse.
* Vgl. faierza Scblitter, Die R^erang Josefe ü. in c reiohlMllen Niederlanden, I, (1900); S. U. 148, N. 11.
I
189
: ließ nämlich unterm 7, November des genannten Jahres der Qogen parte! eine Erklärung ' zuatellen, daß er sÄmtlrehe Barrißre-Pl.ltze zu schleifen beabsichtige und aus diesem Grunde die ungesäumte^ Zurückberufung aller auf belgischem Boden garniaoniereuden holländischen Truppen erwarte. Da- bei war er bestrebt, sein eigenmächtiges Vorgehen näher in einer Weise zu motivieren, die, zwar nicht formell und L expressis verbia aber doch sachlich, einer Bezugnahme auf tdie clausula rebus sie stantibus gleichkommt: denn indem fer zur prinzipiellen Rechtfertigung desselben lediglich an- führte, daß die Fortexiatenz einer so großen Menge von Festungen für Österreich „aus vielen Gründen nicht mehr luträglich sei", stützte er sich offenkundig darauf, daß ein an&oglich vorhandener wichtiger Umstand hinterher in Wegfall gekommen und insofern „veränderte Verhältnisse" überhaupt eingetreten seien.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß diese Argumentation,
Izein juristisch beurteilt, durchaus ungenügend ist, in keiner
(Weise von der österreichischen Aktion daa Stigma des
^lechthin rechtswidrigen Traktatabruchs ^ zu nehmen ver-
■ Cf. Martona, Becueil des prlDcipanx tntiHs, IV, S. 433.
* BereilH lua 27. November erging ■□ die Niederländer eine zweite reicbinchc yatu, in weicher von „nccSIfrstion pnrtictiliire qile l'eni-
r däiire danB cett« aSaire" die Kede ist Man siebt, wie aucb nof
I Gebiet die eigeatümliciie Charaliteraulage Joiofa II. aitb nicht lenenen konnte!
'Lediglich ala eolcher ist sie auch von Beilen der gegnerischan Tertragapartei aufgefaßt und empfundm worden. Diea geht iinier nnderem düani dentlich bervor, daß die Geiiernlxtajilen (die bei der großen llti^leieh- hdt der beideraeitlgeu Machtmittel absolut nii'bl, nud am wenigsteD unler den damaligen poliÜBclien KonBlellntionen. an tätliche Wideratondslcistung denken konnten) dem niederbollen UrSogen Jaeeta nur rein foktisih aich filjrira: sie haben zwar die Featnn^en 1781 wirklieb gerinmt, dabei aber j«de jnrtaliflche Anerkennung der Aufhebung ihres Besnliung^rrchti aufs Sor^^tigate vermieden, im Gegenteil dRiaelbe dndurcb unverkennbar in wahren geiueht, dali aie in ihre, formell böihst vorsicbtig gefaUtr Gegen* eiUIrnng vom 20, November eine Erinnerung an „les trHitäs et lea EllgagemeiitB les piu» solennels qui ont subsiali^ jnsqo'ici entre 8. M, et la rApublique, et qui n'ont jamnia it6 Tivoqain" einflieDen ließen. Erat vier Jahre spater ist auch eine juriBii>ehwirk.''iune Veraichtleii'tung ihrei^ ttita aungeaprochen worden, und zwar durch den Österreich ifch-bciliündiarhen DefimtiweTtrigzuFontainebleauvom8.NoTemtierlT85(Te»beiHartenfl,
190 VI 1.
mag; ist es doch nach dem ganzen Wortlaut des Ant- werpener Abkommens als vollkommen ausgeschlossen zu bezeichnen, daß in ihm dem Kaiser unter irgendwelchen Voraussetzungen die Befugnis zur einseitigen Kündigung reserviert worden wäre. Sonach würde die einzige Mög- lichkeit, wie der Beweisführung Josefs II. eine gewisse Legitimation vielleicht zukommen könnte, von vornherein nur darin bestehen, daß jener uns bekannte Zwiespalt zwischen dem rechtsgültig deklarierten und dem wahren, dem eigentlichen Parteiwillen im gegebenen Einzelfalle sich aufzeigen ließe.
Bei Untersuchung dieser Frage ist zunächst vor- behaltlos die Tatsache anzuerkennen, daß von Haus aus nicht bloß die Generalstaaten, sondern wirklich auch der Gegenkontrahent von dem Barriere-Traktat recht mannig- fache Vorteile hatte. Beispielsweise wurde Österreich, sobald es seine belgischen Territorien durch holländische Truppen vor dem westlichen Nachbar, Frankreich, ge- schützt wußte, der Notwendigkeit enthoben, selbst für deren Verteidigung Sorge zu tragen, und konnte also die sonst hierzu erforderlichen Streitkräfte nach Bedarf und Belieben anderweit verwenden. Fernerhin zog es von dem ganzen Arrangement insofern auch finanziellen Gewinn, weil es fortan nicht mehr die gesamte, zur Instandhaltung seiner Festungen nötige Summe aus eigenen Mitteln aufbringen mußte, sondern dazu bloß einen, im Verhältnis zu der ziemlich großen Zahl jener recht mäßigen, Jahresbeitrag zu leisten hatte.
Gesetzt nun den Fall, es wäre der Nachweis zu führen, daß gerade Momente nach Art der letztgenannten die im
t II, S. 602 ff.). Letzterer erwähnt freilich die Barriere-Frage nicht aus- drücklich, aber es ist auf sie sicher mit zu erstrecken der ganz allgemein gehaltene Art XX VII: ^^Les deux Hautes Parties Contractantes r^nonoent respectivement , sans aucune r^serve, k toutes les pr^tentions qa^elles pourroient encore avoir, Tone k la chaige de Tautre, de quelque natnre qu'elles puissent §tre.^
Grunde beabsichtigte Hauptwirkung, die speziüsche causa tinalis des Barriere-Vertrag« darstellteHj das heißt alao an- genommen, daß man ein Beaatzungsrecht eigentlich nicht schlechthin, sondern nur damit und solange der äervituta- ochuldner selbst Nutzen davon hätte, zu schaffen gedachte', so würde offenbar ein späterer Fortfall aller dieser Momente prinzipiell sehr wold geeignet sein, den 1781 einiteitig voll- zogenen Rücktritt sofort in völlig iiDderem und weit milderem Licht« erscheinen zu lasaen: wenn wirklich für Österreich dje Fortsetzung des 171Ö konstituierten Verhältnisses ijli Jahre darnach „aus vielen ürlioden nicht mehr zuträglich" geworden war, wenn es, im schneidenden Gegenajitz zu der BUpponierten Grundintention der Parteien, neuerdings aus ihm absolut keinen Vorteil mehr zog und bloß diu mit jeder ständigen Besetzung von Staatsgebiet durch fremde Trappen notwendig verbundenen Unbequemlichkeiten und Lasten noch übrig waren, so dürfte man, unbeschadet natürlich der formal immer bestehen bleibendi^n Rechts- widrigkeit, doch ganz gewiß aachlich nichts gegen ein Be- streben einwenden, das die gänzliche Beseitigung eines durch veränderte Umstände direkt ins zweckliche Gegenteil umgeschlagenen und deshalb jetzt zweifellos veralteten Traktats sich zum Ziele setzte. Um aber Über das tatsäch- liche Zutreffen oder Nichlzutreffen jener, alles weitere über- haupt erst ermöglichenden Grund-Hypothese ins klare zu kommen, dazu haben wir nichts anderes zu tun, wie die
^ SeßhVieh würde iIsb Gause einFaeh diirauf hiuBiislMufen , diB dem ■cheinbar Iterechti|;teD in Wahrheit mehr eioe üeitntxnligRpflich t anhrlegt werden aollte. Eioe derartig OeHtaltung kann pnktiwh sehr «cdil Torkommeii, und es ist daher als fehlerhaft la bexeicIiDeo, daß die Doktrin, hier wie bei mancbein anderen Völkerrechts vcrhiltois die real- Torhandancii Unterschiede luiBulftssig nivellierend, von dieser MSelichkeil InslwT regeliD&fiig keine Soli* genooimea hat. Mfm m^ es e. B. nur einmal versunhen, diu van 1849 — 1S70 dauernde Okkupation RomH, tenp, CiTitaveccbiag durch fraDzSsiflche Truppen strikt nnch dem gewöhnlichen Schema lU konstruieren, daß Frankreich gegenüber dem KircbeDBtxat ein lechniichea BesatEuagsrechl ausübte , und man wird uutwendig tu einem wahren Zerrbildo den iu Wirklichkeit (gegebenen Zuitauds einer inter- oational Sbemcimmenen Hchulzpflicht gelangen.
192
VI Kl
S, 180 ff. abstrakt bebandelten Punkte nunmehr am konkratea \ Falle einer kurzen Prüfung zu unterwerfen^.
Beginnen wir demgemäß mit einem fluchtigen Blick , auf die das Barriere - Abkommen hiatoriach vorbereitenden, in der Zeit vor Abschluß desselben unter den Kontrabenten obwaltenden Zustände und Beziehungen, so ergibt sich folgendes. Gleich so vielen anderen ein Einzelglied des großen Vertragekomplexes bildend, der nach dem spanischen , Erbfolgekrieg die westeiiropäiaohen Verhältnisae international ■ neu ordnete, steht der Traktat am Ende einer langjährigen ' Periode, die Holland und Öaterreich ständig als Alliierte^ als Teilnehmer an einem umfassenden WaffenbUndnis gegen gemeinaame Feinde (Frankreich-Spanien) gesehen bat. Schon dieser Sachverhalt eröffnet, wie gar nicht zu bestreiten ist, recht wenig günstige Aussichten darauf, daß für die vorhin gemachte Annahme die erforderlichen tatsächlichen Unter- lagen wirklich beige bracht werden könnten; denn wenn Schlüsse eines Kriegs zwei Verbündete über ein erobertes Land in der Weise disponieren, daß dieses dem einen von ihnen gehören, der andere aber innerhalb desselben be- stimmte Festungen besetzen solle, so ist fLir die letztere Bestimmung von vornherein sicher das weitaus wahrschein- lichere dies, daß sie, auch dem zweiten Staate einen posi- tiven Anteil an dem gemeinsam erkämpften Gewinn zu- weisend, nur zu seinem Nutz und Frommen prinzipiell: vereinbart wurde, keineswegs aber den konträr wirkenden Hintergedanken verfolgte, in dieser Form dem au sich und ohnehin schon übermäßig begünstigten Gegen ko n trabe nten materiell noch weitere Vorteile zu gewähren.
In völliger Übereinstimmung hiermit steht auch da»- jenige, was aus den zur formellen Verträgst ex tierun^, zwischen den österreichisch- holländischen Bevollmächtigten!
' AllerdingB kann diese UntersucbuD); , dn der Traktat als solcbm. für unsere Zwecke nicbt die miodeste Ausbent« liefert, hier nicht gleich*' inäßifr an aämlltchen, sondern nar an den die apeiifisclie „VertragMOt- - legang" überschreitenden Momenten praktisch durcbgefShrt werden.
VI I.
193
u
abgehaltenen KoDterenzen und Besprechungen zu entnehmen ist: soweit dieses Material der Beurteilung Überhaupt zu- gänglich ist, läßt ee immer bloß den einen Schluß zu, daß ein Besatz urgsr echt durchaus in normalem Sinne, unter Vermeidung jeder fremdartigen Beigabe geplant war, und daß folglich der auch Österreich aus demselben erwachsende Nutzen als rein zufUllige, unmittelbar nicht gewollte Neben- wirkung angesehen werden muß.
Schließlich erfährt diese ganze Auffassung auch noch dadurch eine höchst wichtige Bestätigung, daß offenbar sie allein den von den übrigen Teilnehmern am spanischen Erbfolgekrieg unmißverständlich geäußerten Absichten voll- kommen sich anpaßt. In dieser Beziehung ist darauf aufmerksam zu machen, daß der 1715er Vertrag inhaltlich durchaus nichts ganz Neues brachte, sondern nur die (etwaa detailliertere, zum Teil freilich auch modifizierte) Wiederholung und Bestätigung früherer Festsetzungen war. Bereits vor dem Ende des ganzen Krieges, im Jahre 1709, War Holland von England, namentlich auf Betreiben Marl- boroughs, ein Besatzungsrecht in Festungen der spanischen Niederlande traktatsmäßig zugesichert worden. Als dann wenige Jahre darnach die (von Österreich zunächst nicht geteilten) Friedensverhandlungen mit Frankreich begannen, verwandte sich der englische Minister Bolingbroke letzterem gegenüber lebhaft für die Anerkennung dieser Stipulation, was zur Folge hatte, daß in den holländisch - französischen Vertrag vom 11. April 1713 ebenfalls eine entsprechende Bestimmung — Art. 7 — Aufnahme fand'. Und wieder ein Jahr später, im Friedensvertrag mit Ludwig XIV. am 7. März 1714 zu Rastatt, mußte sich auch Österreich aus- drücklich damit einverstanden erklären, daß es die belgischen Territorien nicht völlig frei und unbeschwert, sondern nur mit der beschränkenden Auflage erhielt, den Inhalt beider nigenannten älteren Abmachungen durch direkte Ver-
' Cf. Ghillsny, Diplomatiaehes HandhucL, I, 6. 140. StuU- u. TOllterreebll, Al.h»ndl. Vt 1. - Sobmldt. 18
194 V
ständigUDg mit den Generalstaaten nunmehr in Wirklichkeit umzusetzen. Diese sämtlichen, nach der Person der Trak- tatssubjekte mannigfach variierenden und untereinander sich kreuzenden International Vereinbarungen lassen jedenfalls sachlich nicht den mindesten Zweifel darüber aufkommen, daß sie (in strengster Exklusivität!) dem holländischen Freistaat und nur diesem ein politisches lucrum zu ver- schaffen bestimmt sind, und es würde daher einen geradezu unbegreiflichen Bruch in die Kontinuität der geschichtlichen Entwicklung hereinbringen ^ wenn der, in unmittelbarem Veranlassungsnexus durch jene doch herbeigeführten, Schluß- regulierung, d. h. dem österreichisch - niederländischen Barriöretraktat vom Jahre 1715, urplötzlich eine total ab- weichende Grundtendenz eigentümlich sein sollte.
Nach alledem, da auch nicht der geringste Anhalts- punkt für das Vorhandensein eines, dem ausgesprochenen zuwiderlaufenden , wahren und eigentlichen Parteiwillens aus den hierzu eventuell geeigneten Umständen zu ent- nehmen ist, kann für die uns beschäftigende Angelegenheit die endgültige Entscheidung nur dahin ausfallen, daß das Verhalten Kaiser Josefs 11. nach jeder überhaupt möglichen Auffassungsart einen reinen Gewaltakt darstellt, materiell genau so wenig wie formal-juristisch sich rechtfertigen läßt.
Achter Abschnitt.
Völkerrechtliche Clansola und aUgemeine Rechtslehre.
I
§ 16.
Die in den sieben ersten Abschnitten vun uns an- gestellten Untersuchungen sind vielfach über den Gegen- stand unserer eigentlichen und nächstliegenden Aufgabe, die völkerrechtliche Einzel frage der Clausula rebus sie Btantibus, schon weit hinausgegangen. Auf der einen Seite haben wir bei Erörterung dieser wiederholt die Be- merkung machen können, daß die hier gegen die herrschende Meinung zu erhebenden Bedenken zu einem guten Teile nicht etwa auf Mängeln der spezifischen Klausel theorie be- ruhen, sondern ganz allgemeiner Natur sind, d. h. auf ewientielie Fehler der gemeinhin geübten Behandlung des jus inter gentes Überhaupt hindeuten. In dieser Hinsicht ist vor allen Dingen darauf hinzuweisen, daß der in Ab- schnitt II wider die clausula geltend gemachte Einwand einer völlig unzulänglichen positiv-juristischen Fun- dieruDg genau so gut auch auf viele andere der durch die intemationalrechtliche Wissenschaft gelehrten Regeln zutrifft', deutlicher und ausführlicher gesagt, daß von dem ganzen mmat bloß aus apriorischen Erwägungen vernunftrechtlich deduzierten und hinterher unbefangen als „objektives Völkei"-
' Vgl, hierin BpeEi?)! 8. 65 ff.
recht" etikettierten) Nonnen komplex wahrscheinlich nur ein geringer Bruchteil die — für die wahre Rech tsquali tat als condicio sine qua non erscheinende — Probe praktisch zu bestehen vermöchte, daß die betreffenden Sätze auch durch den zur positiven Rechtssatzung allein kompetenten Faktor (d. i. durch den irgendwie erklärten Willen der am Völker- verkehr teilnehmenden Staaten selber) wirklich sanktioniert worden sind; ebenso gehört in diesen Zusammenhang die in § 7' erfolgte Feststellung, daß (nicht bloß bei der Klausel, sondern fiir das Völkerrecht schlechthin) auch rein rechtssetzungspolitisch, sozusagen de lege ferenda genommen, jede feinere Spezialisierung und Detaillierung der internationalgültigen Verkehrsregeln eo ipso als verfehlt und schädlich zu bezeichnen ist. Auf der anderen Seite sei dann in aller Kürze noch daran er- innert, daß des Zusammenhanges wegen außer und neben der clausula selbst auch schon einige sonstige völkerrecht- liche Einzelprobleme etwas näher beleuchtet worden sind: namentlich hat sich in diesem Sinne § 12 mit der Frage des internationalen Notstands und § 14 mit der ge- wöhnlich in der Literatur vorgetragenen Lehre beschäftigt, daß Bruch des Vertrags von selten der einen Partei auch die zweite von ihrer Verbindlichkeit rechtlich freimachen soll-
Immerhin, so mannigfach und teilweise auch weitgehend die bisherigen Überschreitungen des ursprünglichen Themas zweifellos sind, jedenfalls ist bei ihnen regelmä6ig die eine Schranke noch gewahrt geblieben, daß alle Erörterungen dem Sondergebiete des Völkerrechts und nur diesem an- gehörten. Mit dem nunmehr folgenden achten und letzten Abschnitt unserer Abhandlung werden wir auch hiertlber hinausgehen.
Das ist, wie wir wissen, um deswillen unbedingt nötig, weil nach den seinerzeit" gegebenen Darlegungen zu den normalen Bestandteilen der Lehre von der clausula rebus
^VI 1.
197
! Stantibus auch die Tliese zu zählen ist, daß dieselbe ' eine spezifische Singularität dea Völkerrechts dar- [ stelle.
Diese Behauptung kann von Haus aus in zwiefachem ne verstanden und dementsprechend auch auf doppelte , Weise bekämpft werden.
Zunächst empirisch-rechtsvergleichend. So gemeint, [ bringt jener Satz nur ein auf erfahr unganiäßige Beobachtung j und Gegenüberstellung gegründetes Urteil des Inhalts zum ' Ausdruck, daß die Klausel allein im jus inter gentes ala positiv eingeführtes Rechtainatitut wirklich vorkomme. Es würde deshalb auch der Gegenbeweis auf den ebenso er- fahrungsmäßig zu führenden Nachweis hinauslaufen mUasen, L in Wahrheit seien „voränderte Umstände" auch anderwärts I gar nicht so selten als in gleicher Weise wirksamer . Vertragsaufhebungsgrund anerkannt. Tatsächlich wäre auch ein solches Unternehmen an sich durchaus erfolg- veraprechend : wie Pfaff es für die österreichische Gesetz- gebung gezeigt hat', au könnte auch für sonstige inner- staatliche Rechtssysteme dargetan werden, daß in ihnen die Klausel — zwar wohl nirgends mehr unter diesem Namen, aber doch der Sache nach — gleichfalls noch eine bedeutende Bolle spielt*. Mit RUckaicht jedoch auf die Grundanlage unserer Arbeit wird von derartigen Untersuchungen an dJeaer
■ Stelle besser ganz abgesehen und sofort zur zweiten Art
■ der Betrachtung übergegangen.
I Diese besteht in der philosophisch-kritischen Auffassung ^ Abb thema (re-)probandura. Die Behauptung, die Klausel sei eine Singularität des Völkerrechts, läßt sich nämlich auch so verstehen, daß das Institut gerade für diese Rechts- ordnung und nur für sie hervorragend passe, ihren ganz besonderen Bedürfnissen genüge, daß also eben nur bei ihr die sachlichen Voraussetzungen für die Ausbildung des
1 An dem 8. 5, Anm. 2 angeführten Orte,
' Das erkennt beispieUweise auch Stamnile r, Lehre vom richtigen " 562, an. Vgl. oben S. 75 f.
198
VI 1.
Satzes von der Aufhebung der Vertrage durch rea mutatae gegeben seien. Und so meint es vielfach auch wirklich die internationale Doktrin'. Wenn dann im weiteren Verlaufe diese Auffassung, die Klausel sei nur hier materiell an- gemeBsenea Recht, unmerklich in die erat erwiUinte um- schlägt', nur das jus inter gentes habe sie allein als positiv sanktioniertes Institut aufzuweisen, so büßt sie damit ihre Bedeutung nicht ein. Selbst wenn dies durch den oben erwähnten empirischen Nachweis widerlegt würde, so wäre damit die Annahme immer noch verträglich, daß die Klausel nur für das Gebiet des Völkerrechts passe, für andere Rechts- ordnungen dagegen nicht. Indes ist auch sie nicht richtig. Der immer wiederkehrende Grundgedanke der bisherigen, auf das Völkerrecht beschränkten, Untersuchungen über das Wesen der clausula rebus sie stantibus war der, daß, und zwar nicht bloß in Vertragsverhaltnissen, sondern auch da, wo andere als Vertrags normen in Frage kamen (vgl, ^§ 12, 14, 15), das Recht unzulänglich zur alleinigen Regulierung, daß es der Ergänzung durch Normen anderer Art bedürftig erschien, Ist dieses Ergebnis richtig, so handelt es sich aber um etwas, was dem gesamten Rechte eigentümlich ist. Das soll jetzt noch in aller Kürze gezeigt werden. Damit wird dann ein doppeltes gewonnen: Ein- mal weisen wir den letzten noch übrigen Bestandteil der herrschenden Klauseltheorie (wenn auch unter einer gewisses Verschiebung der Frage*) als ebenso irrig wie die früher behandelten nach, und sodann geben wir zugleich durch die Art dieses Nachweises, durch die Zurückführung unserer Grundgedanken auf immanente Beschränkungen des Rechts- begriffs überhaupt, unseren GesamtauafUhrungen die breiteste Grundlage.
' Cf. obBH g .?, 8. 28.
* Manchmal fiiid«ll aich beide AufTaBsungen der Bebflaptung bd'J demBelben SchriftsleUer unmittelbar uebeneinauder. T
* Die bekämpfe Thenrie behauptet den $ats der ClansoJa als Keeblc J Batz; wir finden ja in ihm eine anduBartige Konn. S. Abadinitt IV
»VI 1.
199
Wenn wir die Unzulänglichkeit des Völkerreohts für die Herstellung eines allseitig ausreichenden NormenbestandeB feststellen, so heißt das nichts anderes als wir finden beim Völkerrechte , Lücken im Recht".
Zur vollständigen Erfassung der Sache ist aber noch ein Punkt hervorzuheben, auf den erst neuerdings ganz mit Recht aufmerksam gemacht worden ist*. Es handelt sich in unserem Falle um eine „unechte" Lücke, eine Lücke im un eigentlichen Sinne. Eine den konkreten Tatbestand ergreifende allgemeine Rechtsnorm ist sehr wohl vorhanden, nämlich der Satz Pacta sunt servanda. Aber es wird an- gesichts besonderer Umstände des Falles, mit Rücksicht auf I inzwischen eingetretene ,res mutatae' das unveränderte Platz- greifen jener Norm aachlich beanstandet. Eine Lücke I ist nur in dem Sinne vorhanden, dafi innerhalb des juri- 1 etiechen Gesamtsystems, „für besondere Tatbestände, eine tbesondere von der allgemeinen Regel abweichende recht- I liehe Behandlung vermißt wird" ', Gerade die Fälle dieser pArt aber sind es, in denen man gemeinhin von „Lücken" spricht ^. Und dabei handelt ea sich um eine Erachainung, die schon längst auch innerhalb der innerstaatlichen Rechts- aysteme beobachtet worden ist.
Es ist auch leicht einzusehen, warum derartiges geradezu , unTermeidlich ist, sich überall mit unbedingter Notwendig keit einstellen muß*. Die Gesetze, sowie alle sonstigen generellen Bechtssatzungen, in denen die herrschende Meinung 80 gut wie ausschließlich das Recht der Neuzeit sich ver- körpern läßt, sind stets allgemeine Normen, die bestenfalls auf Grund und unter Verwertung des gesamten bisherigen Erfahrungsmaterials erlassen sind. Wenn sie schon aus
I- snd 23f.
» Zitelmann ' Über die hie:
. Rocht (1903), S. 17 ff., ho8. 8.
a dEH VerfasBers StsBt, S. 80 ff., Qewohnheita-
200 VI Ij
dem letzteren immer bloß einen Teil der konkreten Tat- bestandamomente berücksichtigen ^, und wenn sie deshalb oft genug schon hier Zweifeln über die sachliclie An- gemeaaenheit ihrer Anwendung Raum geben, so erweiaen sie sich gegenllber den von dem realen Leben in unerschöpf- licher Fülle stets hervorgebrachten neuen Gestaltungen erat recht ala nur bedingt zutreffend und brauchbar. Daß aolche Erscheinungen stets von neuem vorgekommen sind und jeden Augenblick noch vorkommen, ist eine unbeatrittene Tatsache. Dafür hier nur zwei Beispiele, Das noch geltende Deutsche Strafgesetzbuch von 1871 konnte nach dem da- maligen Stande der Erfahrung unbedenklich die Diebstahls- strafe {§ 242J auf die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache beschränken. Der ungeahnte Aufschwung der Ver- wendung der Elektrizität stellte gegen Ausgang des 19. Jshr- hunderta die Richter vor die Frage, ob die Aneignung fremder elektrischer Kraft von dieser Strafdrohung (wie ea § 2 StG.E. fordert) getroffen sei, eine Frage, die an- gesichts der nicht zu beseitigenden Verachiedenheit des natUr- liehen Tatbestands zu verneinen war und meist verneint worden ist^. Und wie man hier wegen einer flagranten „Lücke" im abstrakten Rechtasystem gegen das allgemeine RechtsgefUhl zur Freisprechung kam, so kann unter Um- ständen auch das Umgekehrte eintreten. Die Strufdrohung des § 223 StG.B, führt immer wieder zur Bestrafung in Fällen, in denen das Bechtsgefühl sich dagegen ganz ent-j schieden sträubt, so in dem von Zeit zu Zeit zur Sprache^ kommenden Falle, daß der Vater bei Abwehr eines Not- zuchtsvers ucha gegen seine unmündige Tochter dem Täter zugleich eine als wohlverdient empfundene alsbaldige körper- liche Züchtigung angedeihen läßt Im höchsten Qrade billig erscheint das insbesondere dann, wenn zur Strafe not
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der Zwang zu einer SchadloshaltuDg nach § 231 St.G.B. tritt. In allen Fallen dieser Art glaubt die Jurisprudenz als einzige Abhilfemöglichkeit immer nach einem ent- sprechenden GesetzgebuDgBakte rufen zu müssen. Aber mag es nun zu einem aolchen komnoen oder nicht*, eine wahrhaft dauernde Heilung des Übels ist in dieser Weise nie zu erzielen. Denn wenn auch die gesetzgebende Gewalt dem Wunsche wirklich genügt, so hat sieh jetzt nur die Zahl der allgemeinen Normen um eine neue vermehrt. Diese aber nimmt natürlich von vornherein an allen Mängeln dieser Art Normen ebenfalls leil; sie muß alao auch über kurz oder lang abermals zu sozial widrigen, materiell unan- gemessenen Entscheidungen Anlaß geben. Soll dann wieder 4uf gleiche Weise abgeholten werden , so kommt man not- wendig zur Schraube ohne Ende : es ist das B i s m a r c k sehe Wort nur zu wahr, daß „Gesetze wie Arzneien sind, die immer nur die eine Krankheit durch die andere heilen." In dem Vorhandensein dieses Grundmangels, daß ein System abstrakter Regeln der unübersehbaren Reichhaltig- keit des konkreten Lebens nie restlos und vollbefriedigend gerecht werden kann, stimmen innerstaatliches und Völker- Becht überein; es wird daher hier wie dort gleichmäßig niemals an apeziäschcn „Lücken im Rechte" fehlen. Ein «nziger Unterschied zwischen beiden besteht allerdings. Und Ewar darin, dafl dem ersteren wenigstens die Möglichkeit, sich auf anderem Wege au helfen, prinzipiell gegeben ist, n&mlich durch die Einsetzung einer zu autoritativer Entschei- dung berufenen Instanz, zumal unter Verwendung der „freien Becbtsändung" *, die es seiner autoritären Jurisiliktionsgewalt !ni gewähren jederzeit in der Lage ist, während das auf das kummerliehe Surrogat des Schiedsgerichts angewiesene Völkerrecht dem nichts an die Seite zu setzen hal^ und
Was bekanntlich inzwischen Im ersten der beiden BeispieliiAUe geMheben ist (R.O. vom 9. April 1900, B.0.B1., S. 22ä), im letzteren da- gegen niciit.
» Hierüber noch unten im § 17, 8. 324 einige Worte.
* Tgl> obenS. 187 inderAnm. a. die dort in Beiag; genommenen ßlcllen.
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deshalb auf ein ganz besondere einfaches, unzweideutigM' Recht angewiesen ist'. Indes ist auch im innerstaatlichen Leben jener eigentümliche Vorzug noch längst nicht aus- genützt, und insbesondere ist von dem erwähnten besonderen Auskunftsmittel tatsächlich bisher nur höchst vereinzelt und zaghaft Gebrauch gemacht worden. Das an sich be- rechtigte Bestreben, die BeamtenwillkUr auszuschließen, erwartet alles Heil, anstatt von der „persönlichen Ver- antwortlichkeit" ^, von der objektiven Bindung. Man türmt daher lieber Normen auf Normen und kommt mil dieser Sisyphusarbeit niemals zum Abschluß — gerade wie die alte Astronomie, um das im Prinzip unhaltbare ptolemäische Weltsystem aufrecht zu erhalten, immer neue Hilfsfiguren einführte, Epizyklen auf Epizyklen konstruierte, und dal nie darüber hinwegkam, daß das immer kompliziertem] werdende Gebftude ihrer Theorie der Bewegung der Planetea um die Erde von weiteren empirischen Beobachtungen stets wieder als praktisch ungenügend dargetan wurde. Die Erscheinung, daß ein noch so weit ausgedehnter Bestand von Rechtsnormen in fortwährendem Kampfe mit den von ihnen ungenügend beherrschten und sich deshalb fiberall gegen sie geltend machenden tatsächlichen Verhältnissen liegt, ist daher allen Rechtsgebieten gemeinsam.
Wir kommen nun im zweiten, positiven, Teile unsei § IG ^ zu der Frage, wie denn die zu konstatieren gewesenen andersartigen Normen, die faktisch wirksamen Erfahrungs- sätze, berichtigend und beschränkend in den eigentlich dem spezifisch -juristischen System vorbehaltenen Bereich ein- greifen.
Es kann das an sich in verschiedenen, mehrfach a1 gestuften Formen geschehen.
Die erste Gruppe haben wir schon gelegentlich
' Vgl. B. 74. 87.
« Vgl. Jbering. Zweck im
' Vgl. 8. 198.
VI 1. 203
»weiten Teile des § 9', zu erwähnen gehab^, ho daß sie hier nur kurz gestreift zu werden brancht. Greifen wir beispielB- weise noch einmal den Fall der zivilistischen Extinktiv- verjahruog^ heraus, so liegt hier, wie seinerzeit bereierkt, die Sache nach unserer Auffassung so ; Die zivilen Rechtsnormen, die dem Verpflichteten ein bestimmtes Verhalten gebieten, bleiben auch nach Ablauf der Verjährungsfrist in Kraft. Trotzdem vermögen sie regelmäßig keine Befolgung mehr EU erzielen. Und zwar deshalb, weil die Staatsorgane, die sonst zur Verwirklichung der zivilen Rech taansprti che dienen, jetzt vom Staate gerade umgekehrt angewiesen sind, ihre Hilfe zu versagen.
Diese Fälle zeigen also noch ein Doppelgesicht: Vom Standpunkte des einfachen Staatsbürgers angesehen, er- scheint der ftir ihn gültige Normenbestand nur einer tat- sächlichen Beschränkung seiner Wirksamkeit unterworfen. Immerhin macht sich aber doch in dem an die gerichtlichen Behörden sieh wendenden Staats ge böte , nicht einzugreifen, ein technisch-rechtliches Moment bemerkbar". Bei den im folgenden behandelten Tatbestilnden schwächt sich dies aber wesentlich ab, um schließlich ganz zu verschwinden. Das Wesen der nächsten Gruppe ist am besten durch das Beispiel des Duells zu erläutern. Dieses wird be- kanntlich einerseits schon seit langem als Verbrechen mit kriminellen Strafen belegt, anderseits aber auch heute noch in bestimmten Gesellschaftsklassen als unentbehrliche Not- wendigkeit f[ir gewisse Fälle betrachtet, dergestalt, daß dos I einzelne Mitglied einer solchen RIasse unter Umständen lljrich selbst widerwillig dem Zwange ihrer Anschauungen Jugt, anstatt dem strafrechtlichen Verbote Gehorsam zu
' Vgl- S. 88 ff.
» Vgl. 8. 101 ff.
• Vgl. 8. lOfi hei und in Anm. 1. Die verbreitete MflinunR, d»8 li Bifehle nur an etoatliuhe Organe kein nhjektiveH Recht entstehen kSnDe, beruht ntif dem Mangel nunrcichender Featntellung diene! Orund- b«griK; doch kann das hier nicht weiter verfolgt werden. (Vgl. e. ß. Zorn, BeicliMtaatsrecht, 2. Aufl., I, 6. 405, Anm. 35).
204 VI 1
leisten. Die Tatsache nun, daß die Dämliche Handlung, Ton Staate wegen untersagt ist, gleichzeitig gesellschaftlich unbedingt gefordert wird, führt notgedrungen auch zu Ver- suchen innerhalb des spezifischen Rechtsgebiets, den Gegen- satz zu vermitteln und auszugleichen. Ist es doch schon ein Kompromiß zwischen der gesellschaftlichen und der doktrinär-juristischen Auffassung, daß der Zweikampf im geltenden Recht nicht als Fall der gemeinen Tötungs- und Körper verletzuDgs- Vergehen, sondern als delictum sui generis erscheint. Aber auch dieser milderen Gesetzgebung gegen- über erscheint eine noch mildere tatsächliche Handhabung, Schon die Gerichte lassen bei der ihnen zustehenden Fesi Setzung des Strafrnaßes erfahrungsgemäß meist große Mildi walten. Vor allem ist aber der eigentümliche Einfluß zu bi achten, den das Institut der Begnadigung für die tatslicl liehe Gestaltung der Bestrafung gerade des Duells gewinnt Wahrend die Begnadigung in ihrer allgemeinen Anwendung auf alle, oder doch nahezu alle Straftaten, die nur im einzelnen Falle mit Rücksicht auf dessen Besonderheit ein- tretende Ausnahme ist, weil sie nach ihrem Zwecke nur die Härte des im allgemeinen als gerecht empfundenen Gesetzes in dem besonders gestalteten Einzelfalle mildern will, wird sie hier zur Regel und setzt an Stelle der gesetzlichen Regelung eine davon grundsätzlich abweichende tatsächliche Behandlung, bei der die gesetzliche Straftat jedenfalls al»^, ein viel milder zu beurteilendes Delikt erscheint.
Hier wie in den zuerst erwähnten Fällen sind es staal liehe Organe , die von der Rechtsordnung abweichen , gegenüber den Einfluß real gegebener Lebenamächte Geltung bringen. Aber ein wesentlicher Unterschied steht doch auch hier schon. In jenen Fällen keine fi Wahl des Organs, sondern eine ausnahmslose Pflic und in ihr eine rechtliche Gewähr für den steten Sieg je Einflusses über die strenge Rechtsnorm. Hier nur e Befugnis des Organs zur Abweichung von der Recl Ordnung, deren Ausübung im Einzelfalle rechtlich v
in-
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VII.
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Belieben desselben abhängt, also die Gewähr für ihr regel- mäßiges Eintreten nur in der gleichmäßigen Fortdauer der tatsächlichen Verhältnisse selbst findet.
Nach diesem letzteren Schema wird aber im modernen ßechtsleben auch sonst weit häufiger verfahren, als im großen und ganzen wohl angenommen zu werden pflegt. Und in noch zahlreicheren Fällen könnte dieser Weg mit Erfolg dazu benutst werden, um fiir allgemein beklagte Übeiatände ausreichende Abhilfe zu schaffen. Hierfür noch ein Beispiel.
Der Zeugniszwang, die Pflicht zum Zeugnisse vor den Öeriehten, deren Erfüllung durch Strafen ihrer Verweigerung und unmittelbaren Zwang gewährleistet ist, erscheint im Allgemeinen unentbehrlich und ist deshalb wohl in allen Rechtsordnungen von Kulturlandern vertreten ', Ebenso
»gewiß ist aber, daß er mit Rücksicht auf besondere per- •Öüliche Verhältnisse Ausnahmen fordert. Diese sind im ■IJgemeinen ebenso gesetzlich anerkannt, wie die Regel •ö'bst'. Trotzdem kann ein Fall eintreten, der außerhalb der gesetzlichen Ausnahmen liegt, und in dem doch, ebenso ^'^ in den davon betrofi'enen Fällen, der Zeugniszwang ^'Qe ungerechtfertigte Härte enthält. Das ist insbesondere '" neuerer Zeit, zumal angesichts bestimmter Vorgänge, ^•^eenfUllig geworden hinsichtlich des Zwanges gegen «edakteure von Zeitungen zur Ermittlung der Urheber strafbarer Handlungen, die ohne ihre Mitschuld durch die Presse verübt worden sind. Hier ergab sich für den als ®v»ge in Anspruch genommenen Redakteur ein Konflikt •** einer offenbaren sittlichen Pflicht, das ihm geschenkte p^Ptrauen nicht zu täuschen, der den Zwang nicht minder nesaen erscheinen ließ als in den Fällen gesetzlich "^^rkannter Verschwiegenheitspflichten.
Das nächstliegende, tatsächlich auch vorgeschlagene
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radikale Mittel, Anfstellung einer neuen gesetzlichen Aus- nahme zugunsten der Redakteure, erscheint unannehmbar, da den bisher ina Auge gefaßten Fällen andere gegenüber- stehen, in denen der Zeugoiszwang auch gegen sie als un- entbehrlich und nur berechtigt empfunden wird. Man würde also zu einer Kasuistik gedrängt, die von vornherein un- gerechte Ergebnisse für den Eiuzelfall mit sich brächte und ein sehr treffendes Beispiel für die oben geschilderte Entwicklung der GeselzgebuDg durch Einfügung immer neuer Ausnahmen abgäbe. In Frage käme nur eine der neuerdings häufiger werdenden, aber auch vielfach sehr bekämpften Ermächtigungsnormen, die den Wegfall des Zeugniszwangs in diesem Falle vom Ermeesen des Gericht» abhängig machen würde. Eine solche Regelung würde jedenfalls sehr bald zu einem entsprechenden Zustande führen, wie er hinsichtlich des Zweikampfs durch die aus- giebige Anwendung der Begnadigung geschaffen ist. Die Hache läge auch in der Beziehung, die uns hier interessiert, durchaus gleich.
Aber auch schon der unter der gegenwärtigen gesetz- lichen Regelung bestehende Zustand gibt wenigstens in ge- wissen Grenzen, nämlich beim Haftzwang im Straf- prozesse' ein gleiches Bild. Das deutsche Gesetz verfügt hier nur, daß zur Erzwingung dos Zeugnisses auch die Haft — in gewissem Umfange — angeordnet werden kann. Die damit an den Richter verliehene Ermächtigung enthält allei^- dings zugleich auch ein Gebot, von ihr nur nach sachlichett Gründen Gebrauch zu machen. Dazu gehört aber beaondere auch die Rücksicht auf das Wohl des Staats- ganzen im allgemeinen, abgesehen von dem durch daa anhängige Verfahren zu erreichenden Einzel zwecke. Und gerade diese Rücksicht kann sogar zu einer allgemeinen tatsächliclien Außerkraftsetzung des Zeugniszwanges gegea Redakteure fUhren, wenn die Annahme richtig ist, daß seine!
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' StP.O. g 69, Abs. 2.
VI 1.
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Durchführung wegen der dadurch ganz allgemein heraus- geforderten Kritik und Mißatinamung dem Staate selbst mehr Schaden bringt, als der bestimmungsgemäß dadurch zu erreichende Zweck wert ist.
Und so ist ja, nach den Darlegungen von aeiten der Regierungen in der Sitzung des deutschen Reichtaga vom 16. Januar \9U4, der Zeugniszwang tatsächlich seit dem Bestehen der Reichsjustizgesetze gegenüber Redakteuren gebandbabt worden, so daß es nur in einer ganz ver- ficbwindenden Anzahl von Fällen zu seiner Durchfilbrung gekommen ist.
Auch bei den Fällen der zuletzt erörterten Art steht aber zwiacben dem sieb durchsetzenden tatsächlichen Leben and der ihm zunächst widerstreitenden staatlichen Rechts- ordnung doch noch ein Satz derselben Ordnung, der die BerUckaicbtigung des erste ren durch die Staatsorgane wenigstens in gewisser Richtung deckt. Die an sich augen- tkllig gegebene Machtlosigkeit der Rechtsordnung tritt zu- folge einer von ibr selbst wenigstens nachgelassenen Be- schränkung, mindestens praeter legem, ein. Um eine völlige Parallele mit der zum Ausgange der Betrachtung genommenen völkerrechtlichen Erscheinung zu gewinnen, müßten wir aber eine Diskrepanz zwiacben abstrakter Rechts reg el und faktisch- konkreter Erfahr ungsregel nach- weisen können, die völlig contra legem besteht; ca würen Fälle darzutun, in denen juristisch völlig gültige, inner- staatliche Normen der praktischen Befolgung durchaus er- mangeln, ohne daß dies in irgendwelcher Anlehnung an das Recht selbst und durch seine Vermittlung seine Er- klärung findet. Indes gibt es tatsächlich solche Fälle. Dafür zunächst einige historische Beispiele ohne aktuelle Bedeutung.
Als man in Frankreich 1824 nach dem Regierungs- antritte Karls S. die schon unter seinem Vorgänger stark einsetzende klerikal- feudale Restauration zu vervollständigen antemahm, wurde auch ein Gesetz vorgelegt, und im weaent-
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liehen im Jahre 1825 durchgesetzt^, das mehr in mittelalterlichen, ala in einen Staat des 19. Jahrhunderts zu passen schien. In diesem, zur Stärkung von Macht und Ansehen der Kirche bestimmten, „Sakrileggesetz" sollte nach der Vorlage auf Einbruch in katholische Kirchen du weg der Tod angedroht, die gleiche Strafe auch für Eni weihung der heiligen Gefäße festgesetzt werden; unter be- stimmten Voraussetzungen sollte sogar eine qualifizierte Todesstrafe zur Anwendung gelangen. Und nur die letztere Bestimmung gelang es der Opposition zu eliminieren; im übrigen wurde die Vorlage tatsächlich Landesgesetz. Indes zu wirklichem Leben, praktischer Geltung, kam sie doch nur in ganz geringem Umfange, Es suchten nttmlich die zur Handhabung berufenen Staatsorgane, die Gerichte, jeder realen Anwendung so viel wie irgend möglich aus dem Wege zu gehen, so daß die drakonischen Straf- drohungen nur sehr wenig in konkrete Urteile umgesetzt worden sind.
Ein anderes Beispiel bietet uns das Ende der Regierungs- zeit Friedrich Wilhelms I, von Preußen. Im Jahre 1739 erliefi dieser in aller Form ein Edikt', daß, „wenn ein Advokat oder Prokurator oder andrer dergleichen Mensch — Leute aufwiegeln würde, um in abgetanen und abgedroschenen Sachen Sr. Majestät immediate Memorialia zu übergeben, alsdann Se. Majestät einen solchen Advokaten — ohne alle Gnade und Pardon aufhängen und neben ihn einen Hund hängen lassen wollen". Auch hier ergab sich in der Praxis ein ähnliches Bild, wie in dem vorigen Falle: wenn- gleich, nach der Darstellung Adickes', zu wiederholten Malen Gelegenheit gewesen wäre, die menschenfreundliche Absicht des Edikts zur Wirklichkeit werden zu lassen, ist das tatsächlich doch kein einziges Mal geschehen.
In diesen Fällen finden wir einerseits rein juristii
' Vgl. Weber, WelteeBcliiclite, XIV (2. Äufl, 1B88), 8. 770. ' Vgl, Adickes, Zur Lehre von den Kechtsquellea , iabaio Aber diu Gewohnheitaracht (187S), ä. 77.
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gewisse Rechtssätze zweifellos in Kraft und Gültigkeit^, L «odererBeits aber ein praktiBches Verhalten der Staatsorgane, I die ee anging, das nacli empirisch feststellbarer Regel' durchnuB nicht diesen Normen. gemäß war, sondern völlig entgegengesetzt. Solche Fälle sind aber durchaus nicht so selten, auch der Wissenschaft längst bekannt, und von ihr in aUgemeinen Sätzen erörtert. Dabei macht sich aber als solche allgemein aufgestellte These insbesondere die bemerklich, daä man solche Erscheinungen durchweg als recht kurzlebig betrachtet, daB man behauptet, der offene Kontlikt zwischen den Anforderungen der Rechtsnorm und dem faktischen Geschehen vermöge sich nie auf längere Zeit zu stabilisieren, sondern finde immer bald wieder seine Lösung dahin, daß L BDI weder das Recht über das Leben oder dieses über jenes Kaiege, d. h. daß das eine Mal der zunächst blaß faktisch r geltende Erfahrungssatz allmählich unter Überwindung des bisherigen Rechts selbst zur neuen Rechtsnorm werde, das andere Mal das alte Recht die Anfechtung siegreich über- «iode und wieder zur ausschließlichen Herrschaft gelange.
r ' Ans früher herrscb enden AnscbaaimgeD heraos bätle msu dm
' tilerdii>e'* mit der Motivierung bestreiten kOniieii. daB Oeüctse nicht der Sittlicbkeit, der Vernunft, dem eanzen Vulksgeist widemprechen dürften. Qegenwirtig wird aber eine Kolch« unhRltbsre BeweiHführnng kaum noch atBfÜioh nntemommen. Aucb Adickc« a. a. O. erkennt e. B. auB- driloUicJi an, daß mit derartigen Argumeutatiunen der (formalen) Recht«- gUtigkeit der betreffenden Gesetze nicht briEukommen ist. Vgl, u. a.
a. 3&IL, Tet
■ Darüber, waim eine sottlie R«gel aununehmea iat, kasii hier nicht
im ZnaammcDtiange gehandelt werden. Es genügt bier der Hinweis, daß
■ritiv tteU ein rt^lmäSigos Znwiderhüdeln gegen formell - gültige
eebtsoornien stattfindet, diivh so, daß dabei negativ nicht selbst wieder
entsprechend geänderto neue juriatiitehe Norm xuiitaade kommt, sei es,
B die« prinsipiell gar nicht mdglich ist (wie im Falle der iDlemationaleD
lumla rebuB sie stantibus!, sei es, daß bei an sich gegebener Höglich-
t die dazu notwendige längere Frist Doch nicht abgelaufen ist. Die
' "obeZahl von KontraventionBfiUeo lillt sich im altgemeiaen nicht
n. Unter Umatändca erncheint schon eine geringe Anzahl ans-
Hclimd. Nnr je geringer die Zahl der praktiscbou Fälle ist, uuf Omnd
Heu ein empirisches Gesetz au%estellt nird, am so grüBer ist auuh die
Oetkhr, daß es auch wieder empirisch widerlegt werden kann, bei den
Miialempiriaehen Gesetzen so gut wie bei den empiriachen Gesetzen jeder
■■tuTwisaenscbaft. [Vgl. noob ä. 232 ff. O. H.|.
StMt*- n. TUlkerreohtl. Ablmnill. Vi J. — Si'huiidl, 14
210
VTI
Daß „B.a( die Länge das menschliche Bewußtsein spalt zwischen rechtloser Macht und machtlosem Recht nicht erträgt" (Gierke), dafür lassen sich gerade die zwei er- wähnten Fälle recht gut als Beispiele anführen. Denn im eineu dauerte die Diskrepanz gerade fünf Jahre, 1825 bis 1830, im zweiten noch bedeutend kürzere Zeit. Es fragt sich aber, was solche kurzatmige Fälle überhaupt für die uns obliegende Darlegung beweisen.
Wir suchen nach Analogien des innerstaatlichen Rech) für die bei der internationalen clausula rebus sie stantibiu gefundene Erscheinung, daß sich der formell gültige Rechts- satz (dort der äatz pacta sunt servanda) und das tatsächlich abweichende Verhalten der Betroffenen (dort der Bruch der Vertragstreue bei eigener Gefährdung des Vertrags- Btaats) ständig , auf die Dauer , als nebeneinander be- stehende Kräfte behaupten, von denen keine die andere zu verdrängen vermag. Dergleichen ist nun hier freilich sehr selten. Immerhin darf aber sein Vorkommen, im Gegensatz zur herrschenden Meinung, auch nicht als völlig aus- geschlossen bezeichnet werden.
Die deutschen Verfassungen pflegen eine unterschit liehe Behandlung der ätaatsan gehörigen in Bezug auf di« Zulassung zu den Staatsämtern zu verbieten. So bestimmt Art. 4 der preußischen Verlas s u ngs u rkund e : Alle Preußen sind vor dem Gesetze gleich. Standes Vorrechte finden nicht statt. Die öffentlichen Amter sind, unter Einhaltung der von den Gesetzen festgestellten Bedingungen, für alle dazu Belkhigten gleich zugänglich. Der Sinn solcher Be- stimmungen ist ganz klar, insbesondere wenn man berück- sichtigt, welche geschichtlicli vorhanden gewesenen Zustände damit ausgeschlossen sein sollen. Diesen Rechtsaätzen ent- spricht aber die tatsächliche Übung keineswegs durchgängig, wie man immer wieder nachdrücklichst festgestellt hören kann. Allerdinge erledigen sich viele Beschwerden , ins- besondere die konfessionellen Im pari täts klagen, meist damit, daß das Vorhandensein befähigter Elemente in den angeblich
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IU8- _
di«!
"VI I.
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mrückgesetzien Klassen nicht nachweisbar ist Andere dftgegen sind gewiB nicht unbegründet. So ist nicht zu bezweifeln, daß hie und da eine Bevorzugung des ehe- maligen Korpsstudenten! ums bei der höheren Beamten- k&rriere stattfindet. Ebenso gilt es ziemlich allgemein als feststehende Tatsache, daß vom Stabsoffizier an eine nicht sachlich begründete Zurücksetzung des bürgerlichen Elements hinter dem adligen stattfindet. In denselben Zusammenhang ge- hört es, wenn in einzelnen Staaten Angehörige des mosaischen Glaubens grundsätzlich nicht zum Richteramte zugelassen werden. In allen diesen FÄllen liegen hemmende Störungen vor, die den unzweifelhaften Bechtssatz nicht zur tatsäcblicben Durchführung gelangen lassen. Ihre Gründe sind höchst mannigfach, wenn sie auch meist auf eine Art sozialer vis inertiae zurückgehen, die geschichtlich gewesenen Gestalten der gesellschaftlichen Verhältnisse einen Einfluß noch auf die Gestaltung der an sieh veränderten Gegenwart er- mllgHcht
Einfach ignorieren lassen sich diese Erscheinungen nicht. Auch als vorübergehende lassen sie sich angesichts der Tatsache nicht betrachten, daß sie durch ihre Fortdauer seit der Einführung der konstitutionellen Verfassungen bis auf die Gegenwart doch eine ziemliche Lebenskraft be- wiesen haben. Auf der anderen Seite geht diese aber nicht weit, daß es ihnen gelungen wäre oder je gelingen wird, ie Hechtsurdnung ganz zu beseitigen. Die an sich mög- ;be Folgerung aus den Tatsachen, daß die letztere den Bedürlnisseu keineswegs entspreche, »vird von keiner Seite gezogen, auch nicht von derjenigen, die ihrer Nichtbeachtung du Wort zu reden geneigt iat. liier bandelt es sich also wirklich um Fälle, in denen im innerstaatlichen Rechlsleben Rechtssatz und tatsächlich gefundene Erfahr ungsnorm ah ebenbllrtige Milchte sich gegenüberstehen. Hier darf also, wenn ein vollständig getreues Abbild von dem wirklich be- stehenden Sachverhalt gegeben werden soll, auch wiaaen- sohaftlich nur von einem in seiner Geltung durch die
„Uacht der Tatsachen" eigentümlich beschränkt «1| Recht gesprochen werden.
§n.
Die Erscheinung, die sich aus den in § lö erörterte Beispielen ergibt['), zeigt einen mehr oder minder gro6eii,n nämlich durch Beeinflussung des erste ren durch letztere modifizierten, Widerspruch zwischen Recht und Tatsache. Das Wesen dieses Widerspruchs zu erfassen und seine Lösung Ton einem höheren Gesichtspunkte aus zu var-J suchen, ist nun noch unsere Aulgabe. Diese Aufgabe gehl über den Stoff der Rechtswissenschaft insofern hinaus, es sich hier um mehr oder weniger rein tatsächliche Vor« gänge handelt, die der Herrschaft der Rechtssätze sich enfe^
[' Nor um BeiBpiele handelt es aicli. Ihre Auswahl ist vom Yee- iUBter ersichtlich sua dem Oesichlapiuilile getroffcD, möglichst allgeiDein bekannte Fälle zu trefTen. Will man in Sp^Kialgebieto eingehen, so lieBen lie sich leicht qdi weitere Fälle vermehren, die die OeeAmterscheinnng nooh treffender veranschs ulichen würden. So ließe sich der Fall der Verjährung in der Bichtung EinerseitB auf die iogen. Nalnral- obligationcn im allgemeinen, anderseits auf die Einrede im Sinne dea Deutschen B.Q.B. überhaupt verallgem einem. Aber auch sonst hätte daa straf- and livilrechtliche Problem der Orensen der Rechta- widrigkeit mit Kückslcbt auf tataächtiche Verhältnisse, die die be- treffende Handlung forderu, dem Verfasser reichen Stoff zur Durchführung «einer AnscJiauuDg im einzelnen geboten. Man Tergegenw&rtige sich nur die Fälle, die Zitelmann in seinem Auisatze über den AnsecblaB der I Widerrechtlicbkeit im Archiv für die liviliatische Praxis, Bd. 99, S. 1 ff., knOrtert, und die LSsung, die der VerfasBcr in ihnen von seinem 8tand- Ipnnkle aus gefunden haben wQrde. Der Ijehandlnng des Zweikampfs f onrcb Gerichte und Gnfldeninstani steht das VerhSltni» der Poliiei bot ppelei in den gewShnliohen Fällen, die «eitweise gacE begreuMtc Verwendung des gesetzlichen Strafrahmens dafür (§ 180 des Oentsuhen BtO.B.) durch die Oerichto und die ebenfalls zeitweise den weitesten Umfang annehmende Begnadigung in derartigen Fällen sar Seite. Für den Fall des Bndget-Konflikts hat der Verfasser die sieb ihm gehende ADfrassimg selbst wenigstens angedeutet (vgl. oben S. 144, Ä) Ansfiihrtich beabsichtigte er nach vorhaiidenon Aabeichnungen das Thi des Widerstreita zwischen der gesetzten Staats v^rfassnng i den realen Staatgbedürfnisson in polemischer AuseinandersetxnaS mit den Ausführungen von Jagemanns über die rechtlichen Mittel ntt Erhaltung der IlfliuUQngsfähigkeit des Reichs gegenüber Obstruktions- beHtrp.bungen, in de»i<en Vorträgen über die Retchaverfassung, xa behandeln.
D. H.]
vri.
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gegensteilen, genauer gesprochen, um die Wirkung von Ursaclien anderer Art, als es die Rechtsgebote sind, auf die Gestaltung des tatsächlichen Lebens, hior noch dahin- gestellt, welcher Art sie 8ind['], Andrerseits gehört es aber doch auch zu den Aufgaben der Rechtswissenschaft, die Grenzen der Herrschaft der Rechtsordnung im all- gemeinen festzustellen, also auch insoweit, als diese Grenzen in rein tatsächlichen d. h. andersartigen Umstünden bestehen, nicht in dem Wesen der Rechtssatzungen an sich und ihrem eigenen Willen. Ebenso wie die Rechtswissenschaft auch da, wo es sich nur um den Inhalt der Rechtsordnung handelt, an dem rein faktischen Geschehen, das für ihre Ge- staltung wesentlich ist, nicht einfach vorbeigehen darf, sondern z. B. auch den Tod des Menachen, den Besitz u. dergl. in den Kreis ihrer näheren Betrachtung ziehen muß*.
Die Frage nach der Begrenzung der Rechtsordnung durch tatsächliche Verhältnisse gehört der Lehre von der so- genannten Geltung des Rechts an ". Diese Geltung wird heut- zutage ganz allgemein als ein Erfordernis filr die Annahme
[' Die weitere AuEfuhraug dieses otfea gelassenen Puakt^s, ist in
An&eichnnngen de« Verfassers nicht entballeu. Nach Andeutuu^u
1 blieb sie einer für später in Aussicht genommeneD allgemeineil
itslehte Torbehalten. In früheren Teilen der Torliegenden Schrift,
Inders 8. 109tf., aber aach S. 96f. und 184 f., wird auf die nähere
kterisierung des Gegensataea von Recht und Tntsacbe anacheinetid
Tereichtet. IJocb enthält ja schon die Eiuordnung dieses Rechts uod
Tatsache unter den höheren B^riff des J^oiiaUebeua (oben &. 96,
S. 236) wenigstens den Anfang einer solchen. Des weilereo bleibt
inch die Frage oSen, ob das deui Rechte in den besprochenen
nUm BBtgwuDii'esetEte Tatsäehliche als das Sachgemäße aiuasehen iet;
dsDll es wird von einer Kritik, llilligung oder MiSbilligung . der einen
oder anderen iSeite des Oegensatzfs, abgesehen und auf die bluße MSglich-
k^t hingewiesen , daC das tatsächliche Nicbtrecht den Voraug vor dem
Secbta verdiene. Um so weniger läBt sich beurteilen, ab im letzteren
'~ lle die Rechtfertigung des Nichtrcchts gegenüber dum Rechte in der
tckmltBigkeit , oder in einer das Reolit überregenden sittlichen Norm
mtobea ist, oder ob Zweck mäfligfaeLt und «ittliche Berechtigung au-
. fkllen Süllen. Hier bleibt also der Ergänzung noch mancher
Vgl. aber doch oben S. 209, Anm. I und unten S. 225. D. H.]
» Vgl. schon oben 6. 96 ff, H. 107 f.
■ Vgl. oben S. 150 vor N. 1 und auch schon des Vcrfasaers Ocwohn-
beitarecht. 8. 23 f., S. 48 ff.
214
VI 1.1
von Recht ilberliaupt angesehen'. Daraus ergibt sich vornherein ein Anstoß gegen unsere AutTaasung. Denn wenn man daa Erfordernis der Geltung zunächst in seinem Wortainn nimmt, so kann man aus ihm die Verneinung einer beachtlichen Erscheinung der hier behandelten Art überhaupt herauslesen. Gibt es nur geltendes Recht läßt sich scheinbar einfach sagen: In unseren Fällen handelt es sich, soweit die Tatsachen wirklich dem Rechte wider- sprechen, um nichtgeltended, also überhaupt nicht mehr' um Recht; es steht nicht Recht im Widerspruch zur tat- sächlichen Lebenegestaltung , sondern Recht ist überhaupt nicht vorhanden. Dabei liegen aber Mißverständnisse nahe, die durch den Doppelsinn teils des Ausdrucks „Geltung", teils der zur Feststellung dieses Begriffs gegebenen Um*« Schreibungen hervorgerufen werden '.
Die Geltung wird in mehr oder minder abweichenden Förmelungen als die tatsächliche Übung bezeichnet. Selbst- verständlich ist damit nicht die ausnahmslose Befolgung der Rechtssätze in dem Sinn gemeint, daß tatsächliche Voi> gänge, die damit im Widerspruche standen, gar nicht vor-' kämen ["). Das Recht ist und bleibt seinem Wesen nadt eine Forderung, die von denjenigen, an die sie gerichtet ist, befolgt oder nicht befolgt werden kann; ja es gehört gerade das zum Wesen der Forderung auch des Rechts, daß sie Beweggründen zum entgegengesetzten Handeln tob beachtlicher Stärke eben durch ihr Dasein entgegenzuwirk» sucht. Mit einem Worte: Die Verletzbarkeit des Recht liegt notwendig im Begriffe des Rechts, das Vorhanden!
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I Tgl. E. B. JeUinek, ÄII|;cmeiiie Staatslehre (1900), 8. Nippold, Der Telkeirechtliche Tertrag, 8. 18.
* Ähnlich wie in dem S. 109, Anm. 2 erörterten Falle. VgL z folgenilen: Bierling, J uristi sehe Primi p[eii1 ehre, Bd. I, S. 128, i Bd. U, S. 246 tf.
[* Vgl. hierin Jellineh, Verfsssungsäudening und VorTluBiingi^ Wandlung (ISOli, fi. 2. Diese Schrift behandelt nehen anderem andi einen Teil des Itier erörterten Probleme, die BeeinflusBuug des rechtlichen VerfnBBURgsbestsiideB durch abweichende tatsächliche ZuatAude. D. H.]
VI 1.
215
von Unrecht ist, vielleicht paradox, aber durchuus richtig gesagt, geradezu Voraussetzung der Annahme von Recht. Wo das tatsächliche Geschehen ausreichend den An- forderungen des Rechts entspricht, da hört das Recht als solches auf zu wirken. So weit das von vornherein der Fall ist, besteht kein Bedürfnis für die Aufstellung von Itechtsa ätzen und unterbleibt diese deshalb '. Darum handelt es sich hier natürlich nicht. Hier sind vielmehr solche Fälle in Frage, in denen das Leben grundsätzlich die tat- sächliche Herrschaft des Rechtssutzea, ganz oder in gewissen Grenzen, überhaupt oder innerhalb gewisser Zeit, nicht ftufkommen läßt. Es fragt sich, ob das möglich ist, ohne dafi das Vorhandensein von Recht entfallt.
Möglich ist es zunächst zweifellos bei derjenigen Auf- fassung der Geltung, die dazu nichts weiter als das formelle Bestehen, genauer die Entstehung, des Rechtssatzes erfordert, die Erfüllung der Voraussetzungen, die fUr das Zustande- kommen eines Gesetzes oder eines Gewohnheitsrechtssatzes notwendig sind. Das ist die Bedeutung der Geltung, wenn von geltendem Recht im Sinne von positivem Hechle im Gegensatz zu dem bloß aus der subjektiven Vernunft ab- geleiteten, dem Naturrechte gesprochen wird^.
Aber darum handelt es sich wieder für uns nicht. Die Erscheinung, die uns beschäftigt, ist — das wird nach dem Gegensätze, wie er bisher erörtert ist, nun ohne weiteres klar sein — die, daß ein Rechtssatz nicht bloß formell gesetzt ist, sondern auch als bestehend, ver- I bindlich, Forderungen an die der betreffenden Rechts- I Ordnung Unterworfenen begründend anerkannt*, trotzdem
' Vgl. hierau des VorfasseTs OewohnlioitB recht, 8. 42 ff * Vgl. Bergbohm iin dem Anro, 3 «ngetührteo Orte, 8, 51, Anm. *, ■ Dieseii Bugriff der Gdtnng finden wir x. B. bei AffoltBr, Grund- tOn den Allgemeinen SMAtsrecbta, S. 22, aiK-h S. 66 (d«r fteilich dieie GflltuDg liir niehu dem Rechte WeHeiitlicheii »nsieht — vgl. a. a. 0. und Archiv fiir öffenllicheH Recht, Bd, V, 8, 'iOö f.). "iet Bergbohm, Juri«- prndenr und Kechtipbilosophte, H. SO; ferner H. a. O., S. 402, 8. 18, ti. 560 in der Anm.
216
VI 1.
aber aua überwiegenden anderen Beweggründen bei jeder Gelegenheit dazu tatsächlich nicht befolgt wird.
Wie schon angedeutet, ist daa auch dann der Fall, wenn dem anerkannten Satze der Gehorsam nur in gewiaBen Grenzen verweigert wird. Und zwar ist daa die tatsächlich überwiegende Zahl der Erscheinungen : Dabei lassen sich nun, wie auch schon bemerkt, zwei Gruppen von Fallen unterscheiden, Einmal handelt ea sieh um inhaltliche Aua- nahmen, die im Übrigen Bchleehthin mit dem Bestehen des Rechtssatzes verknüpft sind, aber es nicht zur sachlich gleich- artigen Einschränkung desselben bringen, wie im Falle der Verjährung. Oder aber es findet eine völlige Nichtbeachtung des Rechtesatzes statt: dann dauert aber — das soll einst- weilen zugegeben werden ; vgl. aber unten S. 223 f. — regel- mäßig, wie in den geschichtlichen Fällen, dieser Zustand nur begrenzte Zeit, weil, wie oben {S. 209 f.) bemerkt, in aolchen Fällen eine achließlich siegreiche Tendenz der Vereinigung von Recht und Tatsache, genauer, der Wieder- vereinigung nach zeitweiligem Auseinandergehen, in der einen oder der anderen Richtung besteht. Auch solche vor- übergehende Zustände wollen aber — ganz abgesehen von ihrer absolut vielfach ganz erheblichen Dauer — verstanden sein; und davon darf auch der Umstand nicht abhalten, daß die tatsächliche Feststellung, daß und worin der be- treffende Zustand wirklich besteht, sehr schwierig ist und daß vielfach über daa aubjektive Meinen des einzelnen Beobachters dabei nicht hinauszugelangen sein wird.
Wir kommen damit zu einer Seite des Rechts begriffs, die uns bisher noch gar nicht' beschäftigt hat, auf daa Ver- hältnis des Rechts zu dem subjektiven Empfinden der am Rechte Beteiligten, seien dies die theoretisch mit ihm Be- schäftigten, seien es die praktisch davon Betroffenen, die Lebenskreise, denen es gilt, und die möglicherweise damit in
I
. nur die B«rührui>f j^legentliuh einer beaondereD Frage oben
VI 1.
217
Konäikt kommen. Die zur Erörteruug stebende Erscheinung bietet nun der Erklärung ganz verschiedene und verschieden große Schwierigkeiten dar, je nachdem man aicli dieses Ver- hültnis denkt.
Beispielsweise ist für den, der die Existenz des Rechts überhaupt nur in das subjektive Empfinden des einzelnen verlegt, eine Schwierigkeit gar nicht vorhanden. Das Kechtsgefiihl , Rechtsurteil, oder wie man sonst sagen will, steht dann neben anderen Vorstellungen, Beweggründen; es wird fUr die Feststellung dessen, was talsächlich ge- schieht, geschehen soll, von den letzteren überwunden; als solches bleibt es aber trotzdem neben diesen, weder im Inhalt noch in der Geltung an sich beeinträchtigt, weiter bestehen. Die Schwierigkeiten zeigen eich erst, wo ein objektives Element im Rechte anerkannt wird. Deshalb sind die Tei'schiedenen Möglichkeiten der Auffassung des Rechts in dieser Beziehung gesondert zu betrachten.
Die Auffassung, die das Recht nur als Inhalt mensch- licher Vorstellung denkt, ist nicht bloß an sich möglich, sondern auch, wenigstens in gewissem Sinne, richtig und unanfechtbar. Wir gehen aus davon, daß unsere Erkenntnis nicht über den Kreis unserer Vorstellungen in der wirk- lichen Welt hinausreicht, daß also alles, was wir von Er- scheinungen in der Welt aussagen, philosophisch genau genommen, nur von entsprechenden Vorstellungen des Be- obachters gesagt erscheint. In diesem Sinne ist auch das Recht im allgemeinen, wie jeder einzelne Rechtsaatz nur der Gegenstand einer, freilich ziemlich verwickelten, Vorstellung'. Folgerichtig ist insofern auch kein Unterschied zwischen einem bloß vorgestellten, möglichen und einem wirklichen, ^tenden Rechtssatze zu machen: das Paradoxon Kants
' Die Fhilosophiö redet Eamaiat nur von iler Erkenuharkeit der Dinge, des Seins. i5eim Recht liuidelt en aicIi zweifelloB um eine Un- ■atDaie von Vorgängen. Indes er^bt dM in Wirklichkeit keinen tJnterschied. Auch das Sein ial in Walirheit aai eine ZusammenfiiKaung rinM andaaernden Vorgangs oder einer Menge von Vorgäugeu.
von den lUH wirklichen und den H.H) bloß vorgestellten Talern, die sich nicht voneiniinder iinterscheiden, Iflßt sich genau ebenso fiir diese beiden Arten von Recht aufstellen,
In diesem Sinne müßte man »uch den Satz von der Clausula rebus sie stantibus, von dem wir bei allen unseren Betrachtungen ausgingen, als einen Rechtssatz, gleichartig dem Satze Pacta sunt servanda, anerkennen, obwohl er nachgewiesenermaßen eben rein auf der Vorstellung des be- treffenden Bearbeiters des Völkerrechts von dem Zweck- und Rechtmäßigen beruht. Und das gleiche gälte von den anderen einschränkenden Normen der Art, wie wir sie in § \6 erörtert haben. Von dieser Auffassung aus käme man aber zu einer höchst einfachen Lösung der Schwierigkeit auch dann, wenn man diese einschränkenden Normen, wie wir es tun, als solche tatsächlicher Art auffaßte, hier also die Rechtsvorstellung völlig ausschaltete. Denn die Existens der vorgestellten Rechtsnorm würde durch die Anerkennung der Vorstellung solcher andersartigen Normen in keiner Weise alteriert. Diese Anschauung laßt also die Möglich- keit doppelter Lösung der Frage zu, Sie kann schon dee- halb nicht die entscheidende sein. Überhaupt ist aber in dieser Abstraktion mit der Vorstellung vom Rechte ebenso- wenig für das praktische Leben, wie für die weitere wissen- schaftliche Erkenntnis des Rechts etwas anzufangen. B> verhält sich hier nicht anders als mit anderen Erscheinungen aus dem Weltbilde, für die mit dem Stehenbleiben bei dent Satze von der Unerkennbarkeit der Dinge außer uns eben alles weitere Forschen von selbst aufhört.
Tatsächlich sind nun die Einzelwissenscbaften. un- bekümmert um die philosophische Erkenntnistheorie, ruhig ihren Weg weiter gegangen, haben die Dinge der Welt aü' erkennbar behandelt und sind so zu Ergehnissen hinsichtlicli ihres Wesens gelangt, die, wenn auch nicht als erschöpfend, so doch auch von vornherein nicht als praktisch bedeutungor los gelten können. Insbesondere ist das hei der Natup- wissenechaft der Fall, die gerade in ihrer Abwendung toq>
' VI 1.
219
der pbiloHophiscIien Abstraktion einen großen Aufschwung genommen hat. Ebenso liegt die Sache aber auch für die Rechts Wissenschaft. Und zwar handelt es sich dabei nicht bloß um ein gleichartiges Vorgehen wie dort, sondern nach unserer Auffassung ist das Recht als eine Erscheinung des sozialen Gescheliena ebenso ein Gegenstand naturwissen- schaftlicher Betrachtung, wie es die Vorgänge im Leben des Einzel menschen und in der sonstigen Natur sind'. In der Tat steht aber diese, kurz gesagt, naturwissenschaftliche Betrachtungsweise, insbesondere des Rechts, der philoso- phischen keineswegs so fern, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.
Nähere Betrachtung findet ja, daß sich den Vor- Btellungen von Vorgängen der Welt, von denen der Philosoph allein redet, doch noch etwas, was in den rein abstrakten Vorstellungen nicht vorhanden ist, beimischt, wenn sie die wirklichen Lebens Vorgänge ins Auge fassen, nämlich die Berücksichtigung ihrer Wirkung auf Dinge, die außerhalb der Erscheiiiung selbst liegen. Schon die Beobachtung ent- sprechender Vorstellungen bei anderen Personen als dem Beobachter, genauer gesprochen, das Hinzutreten der Vor- stellung von solchen Vorstellungen zur Beobachtung der eigenen, liefert für Jenen in den Fallen, wo sie auftritt, den unmittelbaren Beweis, daß noch mehr da ist, als bloß seine Vorstellung. Auch wenn wir dies hier im aligemeinen nicht weiter verfolgen', dürfen wir, ohne auf Widerspruch stoßen zu müssen, für unsere besondere Frage, die nach der Geltung des Rechts, den 8atz aufstellen, daß in unserer Vorstellung das rein abstrakte Recht von dem wirklich geltenden sich deutlich dadurch unterscheidet, daß mit ■ letKtfirem sich ohne weiteres die Vorstellung einer Ein- wirkung sogar auf das praktische Verhalten auch anderer
' Darüber b. nooli unten.
' Oher die Veracliiebung des GegeriHUinda der B*obacUtiitig|, je nsch- 1 «um seine Eiiiwirkna^; auf die mniRch liehen Viirslelluogan in Betr ' ' p tieht oder nicfat, vgl. a. B. Wuudt, Orandriß der Psychologie, 8. 2
220
VI 1.
Personen verbindet. Selbst wenn wir bei diesem Unter- schiede des wirklichen von dem bloB gedachten ReL'hte stehen bleiben, wie dies heute noch von einer verbreiteten MeiDung geschieht, verschiebt sich unsere Frage schon ganz erheblich. Denn schon hier tritt die Schwierigkeit zutage, der die Anschauung, die das Recht in die bloße Vorstellung verlegt, nicht ausgesetzt ist: es handelt »ich alsbald um die Feststellung, ob in den zur Erörterung stehendeu Fällen eine Beeinflussung des praktiseheu Ver- haltens durch das Recht oder durch Ursachen anderer, tatsächlicher Art erfolgt.
Noch augenfiUliger wird dies aber, wenn wir weiter- gehend das Recht nicht bloß als einen in der Vorstellung wurzelnden und den Willen beeinflussenden Beweggrund des einzelnen auffassen, sondern diesen Beweggrund als eine reale Macht denken, die von außen an die dem Rechte Unterworfenen herantritt, weil dies unseren Vorstellungen vom Wirken des Rechts am besten entspricht. L>iese Auf- fassung kann hier nicht noch einmal eingehend gerecht- fertigt werden. Dies ist vom Verfasser in seinen früheren Schriften ' geschehen, soweit es in dem dortigen Zusammea- bange geschehen konnte; und eine weitere Ausführung, insbesondere von dera im Vorstehenden berührten philoso- phischen Ausgangspunkte aus, könnte mit der nötigen Gründlichkeit nur in der von ihm weiter geplanten besonderen Studie über das Recht^ erfolgen. Hier sei nur noch ein- mal das Ergebnis hervorgehoben. Recht ist nichts Anderes als der Wille der Gemeinschaft, die dazu berufen ist, die Verhältnisse ihrer Angehörigen in irgendwelcher Hinsiebt 2u ordnen, zumal des Staates, der diesen Beruf im um- fassendsten, grundsätzlich nicht beschränkten, Umfange hat. Der Gemeinschaftswille hat in seiner Art keine anderen Voraussetzungen seines Werdens und Seins als der Wille
' Vgl. üiübeBondere die (S. 76 S).
[» Vgl. ebenda im Vorwort (S. V).
über den Staat, Absi^lmitt V iiud n D. H.]
VI 1.
221
des Einzelnen. Auch eine besondere Art der Erklärung ist ihm nicht wesentlich. Die Erklärung macht auch ihn nur nach auSen erkennbar. Das geschieht für den nach innen, auf Verhältnisse im Innern, gerichteten Willen durch Gesetz und Gewohnheit', nach außen durch Übereinkunft zweier oder mehrerer Staaten und wieder entsprechende Gewohn- heit [*]. Aber das sind, wie gesagt, nur die Formen, in denen das Recht erkennbar wird. Vorhandensein kann es auch ohne sie; nur daß es dann eben nicht zu er- kennen ist. Deshalb ist es im einzelnen Falle sehr woht möglich, daß eine scheinbar rein tatsächliche Hand- habung in Wahrheit das geltende Recht ist, das formell erklärte dagegen nicht oder doch nicht mehr, oder, wenn doch, so nur eingeschränkt gilt. Daraus ergibt sich flir dieae Auffassung des Rechts zunächst eine große
' Über lelEtera Tgl. dee VerfiWBers Gewohnlieitareolil.
[' Über die Natur eleu VölkerrecbU, die er ebenfBlU in pinor bo- gouderen Studio «n behandeln fachte (vgl. die Vorrede tum ,8Ust' a. a. O.), insbesondere ilbar seine RechtsquftHtät and seine Einordnung in einen böbereu Kecbtabe griff, der anch das inneretiuillicbe, allgemeiner innergemeinschaflliehe, Kecht rnntiiltte, bat der Verfanger nocb keine Gelegenbeit gebabt, sieb ausEnsprechen. Soviel an eneben, iat ihm auch hier das Entacbeidende , also beiden FKUen Gemein b ame , der Gemein- BchaR8-(8taaIs-) Wille, das Unterscheidende hier die Einseitigkeit des einen Willens, dort der Zusammenschluß mehrerer solcher Willen (vgl. oben S. 2, 3 Amn. 1, S. 28, 81, 55f., 109 Ajim. 2, 8. lU, 165f.). Daß so der Wille der einzelnen StaAlen auch fQr das VSIkerrecht als die einzige Quelle erscbeinti ist übrigens nur die formal-jaristischs Seite der gansen AofcbannDg, die den Staat und sein Interesse in den Mittelpunkt der fietachtuDg anch d^a Kechtea stellt, einer Anschauung, die mehrfach (vgl. 8. 95 f., IIa f., 120 f.) anch auf die Bestimmung des Inhalt« maß- gebenden Einfluß gehabt bat , notem dort auch die TSIkerrecbtticben Pflichten des Staats, insbesondere die der Vertragstreue, im letzten Grunde auf sein eigenes Interesse zurück geßhrt werden, nicht bei dem gemoin- ■amen Interesse aller am Völkerrechte beteiligten Staaten stehen geblieben wird. Diese Grundanscbauung des Verfassers liefert auch den BchlOaael in seiner Verneinung jeden Rechts innerhalb der Gemeinschaft, das nicht roii dieser ausginge, insbesondere eines Privatrecbts, welches dieEi meinen durch Vertrag oder Gewohnheit schüfeu, neben den slnatlicheo und kirch- lieben Normen des Privallebens, Aus der HÖgliuhkeit derartigen Rechts fwiicben Gemeinschaften, wie es das vnikerrecht ist. darf nicht auf jene USglichkeit geschlossen werden, weil ancb dort der Oemeinsohaftawillc das wesentliche ist. Man sieht, wie mit dem Ausgangspunkte alles steht tind filK, warum st. B. der Verfasser zu ganz anderen Ergebnissen kommen BUll ala Bierling in seiner jurittischen Prinxipienlehre. D. H.]
222
VI 1.
Schwierigkeit, festzustellen, was Hecht und was rem tat- sächliches Geachehen iat'.
Die Frage iat im Anschluß an frühere A usfiih rangen ^ dahin zu lösen, daß Recht erst dann anzunehmen ist, wenn feststeht, daß ein tatsächliches Verlialten, welches im Wider- spruch mit den bisherigen Rechtasätzen steht oder doch in ihnen keine ätiltze tindet, keine Rektifikation durch irgend- ein kompetentes Staatsorgan auf Grund des biaherigen Be- standes an Rechtsnormen zu erwarten hat. Daraus ergibt sich für die Unterscheidung zwischen dem wirklich geltenden Recht und dem es wirksam bekämpfenden tatsächlicheo Verhalten sowie für die Begrenzung des letzteren im Gegen- satz zur gewöhnlichen Rechtsverletzung folgendes.
Die letztere erkennt den Rechtssatz, zu dem sie in Widerspruch tritt, als vollwirksain und für den Betreffenden selbst in jeder Richtung verbindlich an; sie handelt ihm nur im einzelnen Falle zuwider. Das tatsächliche Ver- halten, das uns hier beschäftigt, bekämpft die Herrschaft des Rechtssatzea als solche; es will ihm nicht nur in jedem Einzelfalle entgegentreten, sondern grundsätzlich den Gehor- sam versagen, weil ea seine Herrschaft der Gemeinschaft nicht für zuträglich, nicht für sozialgemäß hält*. Es wird zum Recht, wenn es die Anerkennung aller berufenen Staatsorgane und damit des Staates selber, bezw. aller beteiligten Staaten erhält, gleichviel ob in Gesetzes- bezw. Vertragsforra oder durch ihr tataächlichea Verhalten, und, soweit als dies geschieht. Bis dahin und soweit diese An- erkennung nicht erfolgt, bleibt es Nichtrecht, auch wenn es sich tatsächlich dem Rechte gegenüber durchsetzt [*].
' V^l. oben 8. 216 und Qewohnheita recht, 8. 2Bl'.
' BeBODder» Gewobnheitarecbt, 8. 21 f, 29, 47; aber auch schon obea H. 209.
* Darüber nuuh imten ä. 225.
[* M&ber ausgeiübrt ist dieaer Geeensstz von Recht nnd Nichtrecht vom Verfaaaer hier nicht (vgl. such S. 209, Anm. 2). Aus anderen Teilan seines Werkes läBt sich seiue Auflossnng wenigstens in iwei Biohtungen ergänsen. Soviel scheint sicher, daß er aur Annahme eines Hechtasaties eine als allgemeine gewollte Beg;el fordert und im Gegensatae daau das
VI 1.
223
I
Damit ist der Grundsatz für die Beurteilung der in den Beispielen des § lö vorgeführten Erscheinung gewonnen. Er deckt sich mit demjenigen, der nach unseren Aus- führungen fttr die zutreffende Auffassung des Satzes von der clausula rebus sie stantibus und der gleichartigen Er- scheinungen des Völkerverkehrs aufzustellen war. Das wird nach dem Gesagten jetzt näherer Ausführung nicht mehr bedürfer.
Wie nur in Wiederholung des früher* Gesagten noch- mals hervorgehoben werden soll, mag faktisch dieser ZuEtand der Herrschaft der bloßen Tatsache über das Recht vielfach ein bloßer Übergangazustand sein; aber zu seinem Wesen gehört das keineswegs; vielmehr spielt die Herrschaft von Tatsachen ohne rechtliche Sanktionierung im Leben der Staaten, und zwar sowohl im inneren Leben, wie im Ver-
WeBfiti dar hier beHprochenen Eracheinuiig in Einzelentschi üaaeD »jebt, die gleichmäßig mied erkeli reo, aber doch nur von FhII xu FhU erfolgen, ■Jm aar erfnhrungimlBigeD Anhalt für die weitere GesUiltune: in gleichen Flllen liefern (vgl. S. 27. 123, 149). Femer wird sich aus seinen Beispieleu folgern lassen, daß er dem xnr Annatune vom Becht woaentlichea Gemein- Bouftawillen (Staats- und Staaten- Willen] den in der tatsäahlichen Hand- habung luni Ausdrack hnnimenden Willen einzelner Subjekte, eincelner Staaten und einzelner Leben«kreise innerhalb eines Staats, insbesondere elnaelner StaatHorgane entgegensetzt, die, wie die Gnaden Instani in der Joitiz, so gnt wie ausschlieulich zur Normierung der Eiuzelverhältnisse in gewissen Richtungün berufen sind und in ihren regelmSBig befolgten Uaximen leicht den Anachein einer allgemeinen ßechtsregel hervorrufen kfinnen, während es sich immer nar nm eine bloU tatsächliche und als •otche im Gegensatz zn eiuem geltenden Kechtssatze stehende Übung bandelt Dem wird man nicht entgegenhalten dürfen, daB er vielfach den BichterS[imch als dem Rechtssatze gleichwertig behandele, insbesoDdere wo er den Mangel des Vöikern-chts in dieser Hinsicht hervorhebt (vgl. 8. 187, Anm. 2 mit Anfiihmngen); vielmehr erscheint gerade hier der Riabterspnich überall auf einer Stufe mit der tatsächlichen, nicht rochtlichen, Beeindussung des Volk orvorkehrs durch die dafttr erheblichen Umitände (res mutatae, res nie stantcs). Als Zwischenglied zwlcchen den beiden Mächten, Kecht und Tatsachen, erscheint allenüngs äie lie- bfirdliehc Handhabung da, wo nach der Aulfiusung des Verßusers ueb«u dem Bechtasatz für die sämtlichen btsutaunternorfeneD eine besondere recbtiiche Anweisung zur Abweiehmig davon für die Behörden be- sieht, die den Tatsachen bis zu einem gewissen Grade Kechnnng trägt, wie im Falle der Veijährnng — eine Erscheinung, die aber nstni^miK anf das innfirstnatlicbe Lehen beschränkt bleibt, dem VSlkerreoht fremd iat (vgl. a. 106 f., 2m. D. H.)
' 8. 20a. 216.
I
226 VI 1.
einseitigen Rechtswissenschaft verteidigt werden muß. Sie ist die Grundlage einer Rechtslehre, die das Recht am gebührenden Platze in die Gesamtheit der im mensch- lichen Gemeinschaftsleben, zumal im Staatsleben wirk- samen Faktoren einordnet, der empirisch-sozialen, sozial- dynamischen Rechtslehre.
Piereriohe Hofbuchdruckerei Stephan Geibel & Co. in Altenburg.
Staats-
und
völkerrechtliche Abhandlungen.
Begründet Dr. Georg: Jelllnek und Dr. Georg Meyer,
Dr. Georg Jellinek und Dr. Gerhard Anschütz,
ProfeiioreD der Rechte in Htidelbng.
VI. 2. Dbb pari am enta rieche Interpellation arecht. Bechts-
vergleichende nnd politische Studie von Dr. Hans Ludwig
Rosegger.
Leipzig, Verlag von Duncker & Humblot
19ü7.
Das parlamentarische
Interpellationsreeht
Rechtsvergleichende und politische Studie
Dr. Hans Ludwig Rosegger.
Leipzig,
Verlag von Duncker & Humblot
1907.
Alle Rechte vorbehalten.
Pierersche Hofbuohdruckerei Stephan Geibel & Co. in Altenburg.
Vorwort.
Die Darstellungsart, die dieser Arbeit zugrunde liegt, setzt sich aus zwei Elementen zusammen: aus einem juri- dischen und einem politischen; eine rein rechtliche, oder eine rein politische Behandlung des Themas wäre weder dem Geiste noch der theoretischen und praktischen Be- deutung des parlamentarischen Interpellationsrechtes gerecht geworden, denn sein Wesen beruht in allen Parlamenten nicht nur auf Rechtsnormen, oder der Interpretation von solchen, und auf Geschäftsordnungsbestimmungen, sondern auch auf teilweise ungeschriebenen Regeln welche die Be- dürfnisse der Praxis zeitigten. Die Notwendigkeit, alle diese verschiedenen Quellen zu berücksichtigen, bestimmte die Art der Darstellung.
Die Abhandlung zerfällt in zwei Teile-, der erste all- gemeine erörtert den Charakter des Interpellationsrechtes, sein Werden, seinen Ausbau und seine zeitlich und örtlich wandelbaren Erscheinungsformen und streift den „Zweck" der Institution; der zweite besondere Teil bringt das Interpellationsrecht einzelner parlamentarischer Kammern für sich abgeschlossen zur Darstellung.
Die in konstitutionellen Staaten in Kraft stehenden Normen und Gewohnheiten, die sich auf das Interpellations- wesen beziehen, fanden nicht durchwegs gleiche Berück- sichtigung ; die für uns historisch wichtigeren und praktisch bedeutsameren wurden in den Vordergrund gerückt, und überdies war der Arbeit durch das dem Autor zugängliche
VI VI 2.
Material, wie es Theorie und Praxis liefern, eine gewisse Grenze gezogen.
Ohne daß diese Arbeit daher auf Lückenlosigkeit An- spruch erheben könnte, dürfte sie doch auch anderseits keine wichtige Seite des Stoffes gänzlich vernachlässigt haben.
Aufrichtigen und wärmsten Dank für wertvolle Rat- schläge und stets hilfsbereite Unterstützung dieser Arbeit schuldet der Verfasser Herrn Geheimrat Professor Georg Jellinek, und ebenso fühlt er sich verpflichtet, Herrn Pro- fessor Franz Hauke und Herrn Dr. Karl Neisser fUr die liebenswürdige Förderung zu danken, die sie dieser Studie angedeihen ließen.
Dr. H. L. üosegger.
Heidelberg, im Frühling 1907.
Inhaltsverzeichnis.
A. AUffemeiner Teil.
Seite
1. Wesen und Zweck des Interpellationsrecbts 1
2. Gegenstand der Interpellationen 15
8. Der rechtliche Charakter des Interpellationsrechts 25
4. Erscheinnngsformen des Interpellationsrechts 45
5. Dem Interpellationsrecht ähnliche Institutionen 64
B. Besonderer Teil.
1. PreuBen und das Deutsche Reich 68
a) Der Landtag des Königreichs Preußen 71
a) Das Abgeordnetenhaus 71
ß) Das Herrenhaus 77
b) Der Reichstag des Deutschen Reiches 78
Anhang: Die Einzelstaaten 81
2. Österreich 84
a) Das Interpellationsrecht der beiden Häuser des öster- reichischen Reichsrates 88
a) Das österreichische Abgeordnetenhaus 88
ß) Das österreichische Herrenhaus 95
b) Das Interpellationsrecht der Delegationen 96
Anhang 97
a) Ungarn 97
fi) Die Landtage der im Reichsrate vertretenen König- reiche und Länder 97
3. Frankreich 99
4. England 103
5. Das Interpellationsrecht anderer Staaten 109
Abkürzungen.
Abg^.H. = Abg^eordnetenhaus ;
Bericht des Abg^.H. = Bericht des Geschäftsordnongsausschasses über die Anträge . . . betreffend die Änderung der G.O. des Abg.H. ; 1729 der Beilagen zu den stenogr. Protokollen des Abg.H.; XVII. Sess. 1908;
Bericht des H.H. = Bericht der Spezialkommission zur Beratung des Antrages des Fürsten Schönburg, betreffend die Abänderung des Ges. vom 12. Mai 1878, R.Q.B. 94, über die G.O. des Reichs- rates; 247 der Beilagen zu den stenogr. Protokollen des H.H. XVH. Sess. 1905;
G.O. = Geschäftsordnung;
G. ü. d. R.y. (Gesetz über die Reichsvertretung) = Ges. vom 21. Dezember 1867 R.G.B. 141, wodurch das Grundgesetz über die Reichs- vertretung vom 26. Februar 1861 abgeändert wird;
H.H. = Herrenhaus;
I.R. == Interpellationsrecht;
Regierungsvorlage = Reg^erung^orlag^ , wonach das Ges. vom 12. Mai 1878 R.G.B. 94 in betreff der G.O. des R.R. abgeändert werden soll; 2552 der Beilagen zu den stenogr. Protokollen des Ab- geordnetenhauses; XVn. Sess. 1906;
R.R. = Reichsrat:
R.T. = Reichstag; daher z. B. D.R.T. == Reichstag des Deutschen Reiches;
T.O. = Tagesordnung.
A. Allgemeiner Teil.
I. Wesen und Zweck des Interpellattonsreclits,
L'm das Weson der Begriffe „Interpellation" und „Interpellationareclit" zu durchdringen, um es von dem ähnlich gearteter parlamentarische!- Einrichtungen — der Anfragen, Petitionen, Resolutionen — zu scheiden, müssen seine typischen , essentiellen Merkmale hervorgehoben werden.
Allerdings darf die Erledigung einer Vorfrage nicht (Ibergangen werden , von deren Beantwortung es abhängt, ob es überhaupt möglich ist, die in den verschiedenen Kammern in Geltung stehenden Interpellationarechte einer vergleichenden Darstellung zu unterziehen; diese Vorfrage lautet: Existieren solche erwähnte „typische und essentielle Merkmale" ? Hat das Interpellationsrecht in allen den parlamentarischen Kollegien, in denen es in Kraft steht, tatsHchlich eine im Kern gleichartige Gestaltung und einen überall vorhandenen Grundstock derselben charakteristischen Eigenschaften ?
Es ist ja auch denkbar — auf manchen anderen Ge- bieten ist ein konformer Vorgang zweifellos zu konstatieren — , daß unter die Itegriffe „Interpellation" und „Interpellations- recht" völlig von einander abweichende Institutionen sub- sumiert werden, denen schließlich niciils als der Name und nur dieser gemeinsam ist.
Dagegen bleibt es fUr diese Untersuchung gleichgültig, wenn Einrichtungen, die sich auf Grund des noch fest-
2 VI 2.
zustellenden Wesens der Interpellation als solche charakteri- sieren, in einschlägigen Gesetzen, in sonstigen Bestimmungen oder im parlamentarischen Jargon mit einem individuellen Namen bezeichnet werden. Es kommt nicht auf die Be- nennung, sondern auf den Gehalt der Institution an. Gleich- falls ohne Bedeutung wird es sein, wenn in manchen parlamentarischen Kollegien besondere Gruppen von An- fragen mit unter dem Titel „Interpellation" registriert sind, ohne daß diese Gruppen alle deren typische Merkmale an sich tragen; für eine vergleichende Darstellung ist es irrelevant, ob die Grenzen eines BegriflFes bald weiter bald enger gezogen sind.
Tatsächlich gibt es in jedem Parlamente ein besonders qualifiziertes Fragerecht von Mitgliedern der Kammer oder von der Kammermehrheit an einen genau bestimmten Personenkreis ^ , dem allgemein markante Eigenschaften inhärieren, so daß es sich namhaft von sogenannten „ein- fachen Anfragen^ unterscheidet und es nicht nur gerecht- fertigt, sondern geradezu ein Gebot der klärenden Not- wendigkeit ist, es mit einem eigenen Ausdruck zu versehen.
Trotz der Gemeinsamkeit der Grundelemente, die das Interpellationsrecht bilden, zeigt dieses im übrigen auf der Verschiedenheit der Parlamente basierende Eigenheiten, die es in jedem Kollegium doch noch zu einem Individualgebilde stempeln.
Somit sind die Voraussetzungen für eine vergleichende Untersuchung gegeben : Einheit der Gattung und Spezialität des Individuums^.
^ So^ar die Constitution ottomane, promulg^e le 7. Zilhidje 1293 (23. Dezember 1876) — ein Verfassungsversuch in der Türkei — statuierte in Art. 37 u. 38 die politische Verantwortlichkeit der Minister und deren Pflicht, der Deputiertenkammer auf gestellte Anfragen Antwort zu erteilen. Annuaire de legislation ^trang^re, 1877, S. 707 S.
^ Über die Spezialitat dpa 1. R. in den verschiedenen parlamentarischen Kollegien sagt Es mein, Elements de droit constitutionnel fran^ais et compar^; 3. Aufl., S. 813: „. . . le sjst^me de questlons et des inter- pellations est un produit de Tbistoire et de la pratique et, par suite, chaque Parlement Ta modelt selon son g^nie et ses besoins.''
VI 2. 3
Daß dieser allen In terpellations reell ten zugesprochene gemeinasme Charakter auch wirklich vorhandün und nicht nur die Ausgeburt einer theoretisch wuchernden, aystemi- aierungsl liste r 11 en Phantasie, die mit Vorliebe kategoHsierend und uniformierend im Widerspruch mit der Wirklichkeit arbeitet, ist, läßt sich leicht auch aus der Genesis des Interpellations Verfahrens nachweisen. Sein Typus verdankt zwei Ursachen, die sich teils unterstutzten, teils ergänzten, seine Entstehung:
a) der Nachahmung und
b| den gleichen Bedürfnissen.
a) Die MachahmuDg.
Wenn man bedenkt, welche ereignisschwere und kata- strophenreiche Entwicklung der Ausgestaltung die Staaten auf dem Kontinente durchmachten, wie sie — allen voran das zentralgelegene deutsche Reich — den weiten Schauplatz für blutige Kämpfe und Kriege boten, landfremde wUstende Heere gegen andere landfremde sengende Armeen streiten sahen, während England Über ein halbes Jahrtausend im eigenen Stammlande keinen Feind — außer sich selbst — EU bekriegen hatte, wenn man ferner bedenkt, daß dadurch auch das englische Verfassungswesen eine zwar nicht knoflikt- und sturmlose, fUr den RUckblickendeu aber immer- hin organische Entwicklung hinter sich hat, so kann ea nicht wundernehmen, daß seit der Herrschaft des Absolutismus in West- und Mitteleuropa die Blicke aller „liberal" Denkenden, in der* Suche nach berühmten Mustern, un- willkürlich über den Kanal schweiften, und die utopistiechen Köpfe der Reformer in Überschätzung der Rechtsnormen und deren Einfluß auf die Gestaltung des TatsSchlicheii eine Nachahmung englischer Organisationsformen forderten und empfahlen.
England schien und scheint manchem heute noch das Eldorado, das strahlende Vorbild, das man auch verfassungB- rechtlich nachahmen mUäse,
4 VI 2.
Und in der Tat: englische Ideen, englische Systeme zogen über den Kanal nach Osten, genau wie sie vorher über das Weltmeer nach Westen gesegelt; sie wurden akzeptiert und imitiert.
Natürlich konnte von einer sklavischen Nachahmung keine Rede sein, denn erstens kannte man das Urbild zu wenig und zweitens bedurfte das Übernommene gewisser durch die Verhältnisse der Rezipienten bedingter Ver- änderungen, die oft vielleicht in zu geringem Ausmaße, jedenfalls jedoch zu theoretisch-rationalistisch vorgenommen wurden.
Das Frankreich der Revolution schritt mit der Rezeption an der Spitze, der übrige Kontinent, sowie und soweit er konstitutionellen Einflüssen zugänglich, folgte nach und akzeptierte das angelsächsische Vorbild in romanischer Form, die nun jeder Staat für sich abermals, entsprechend seiner Vergangenheit und seiner Gegenwart, ummodelte — und diese Verfassungsurkunden und Verfassungsgesetze , die zumeist unter dem Dröhnen revolutionärer Strömungen ge- boren wurden, übten aufeinander Wechselwirkungen aus; man kopierte einander.
Es läßt sich im einzelnen gar nicht mehr oder nur in groben Umrissen konstatieren, was in einer Verfassung „urwüchsig" das Produkt eigener sozialer Kräfte ist, und was fremden Organisationen entliehen wurde. Und nicht nur gewichtige Organisationsgrundsätze waren es, die ein Staat von einem anderen Staat, uneingedenk, daß es auch auf dem Rechtsgebiete keine absoluten Werte gibt, annahm , sondern auch Nebenbestimmungen , Geschäfts- ordnungen^, unter anderem: Das Interpellationsrecht.
* So z. B. hat auch das englische Unterhaas, als es nach der ersten Reformbill an eine Umgestaltung seiner G.O. ging, Informationen über das Verfahren in der franzosischen Kammer und im Repräsentantenhaus der Union eingeholt. (Redlich, Recht und Technik des Englischen Parlamentarismus, 1905 Seite 106) vergl. bezügl. ähnlicher Vorgänge femer Plate, die Geschäftsordnung des preußischen Abgeordnetenhauses, 2. Aufl. S. 8; ebenso die ^^Regierungsvorlage'^ betreffs Abänderung des G.O.Ges. für den österr. R. R.
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Dieses Wandern doa Inlerpellationsrechts von Parlament zu Parlament, das Aufbauen einer Kammer auf den Er- fahrungen einer andern Kammer, das Nachahmen fremder Formulierungen sind die eine Ursache für die Wesens- gleifhheit der Interpellationsrechte in den parlamentarischen Kollegien.
Tiefer und bedeutsamer liegt die zweite Wurzel der HomogenitSt. Gleifhea erzeugt Gleiches — der Satz gilt auch fUr das Werden sozialer Erscheinungen und das Interpellation arecht bedingten in den Kammern auch
b) die gleichen Bedörftiisse.
Rezipieren , indem anderswo sieh bewährende Ein- richtungen übernommen werden , d. h. daß etwas in Form eines Gesetzes oder einer andern Vorschrift als geltende Norm bezeichnet wird, ist ein formaler Vorgang, der von Einfluß auf die Praxis sein kann, aber nicht sein muß. Nur dort, wo die Verhältnisse, die Vorbedingungen derart sind, daß die rezipierten Regeln ihnen entsprechen, da geben diese ihr leeres Papierdasein auf und werden lebendes ge- übtes Recht, sonst fristen sie in einem Archiv ein Schein- dasein ohne Kraft und reale Bedeutung.
Ein derartiges blutleeres Jammerdaaein war dem Interpellationsrecht nicht beschieden, im Gegenteil: seine Übung zeigt sogar die unbestrittene Tendenz, die ihm ge- zogenen Schranken zu durchbrechen, seine Machtsphäre über das Maß und die Grenzen hinaus zu erweitem, die ihm seine Urheber oder Rezipient«n zugedacht hatten.
Das hängt innig zusammen mit dem Streben der Parlamente, ihre Kompetenz auszuweiten und besonders die ihnen auf den mannigfachsten Gebieten zustehenden Kontroll- befugnisse auszudehnen. Wer zur Kontrolle berufen, bedarf Informationsmittel; nur wer die besitzt, kann Aufsicht, Kritik Üben und Interpellationen sind geeignet, Über Kegierungsaktc authentische Aufklärungen durch die Re- gierung selbst zu erlangen. Das Informationsbedtlrfnis., um
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die Aufgaben des parlamentariöcheii Wirkungskreises erfllllen zu können, iat die zweite überall fließende Quelle des Interpellationsrechts.
Naclialiraung und gleiebartige Bedürfnisse zusammen- wirkend, einander in Form und Inhalt ergänzend, waren e» also, die fllr jede Kammer ein Interpellationarecht schufen und sie zeugten Institutionen, die allgemein durch essentielle Merkmale charakterisiert sind, oline des individuellen Aus- baues für die Anwendung au entbehren.
Betrachtet man die Interpellationen, wie sie in den Parlamenten gestellt werden und greift das in die Augen Fallende heraus , so kann man sagen : man versteht unter ihnen im parlamentarischen Leben besonderen Formen unterworfene Anfragen einer Kammer an die Regierung, Akte derselben betreffend, die nicht Gegenstand der ge- führten Verhandlung sind noch damit zusammenhangen müssen. Uiese Anfragen und ihre Erledigung genießen eine bevorzugte Behandlung in der Geschäftsführung de« Kollegiums.
Bisher wurde der Zweck des In terpellations rechts nur gestreift.
Alle Institutionen staatlicher und nichtstaatlicher Natur dienen Zwecken; keine ist also zwecklos gedacht und das Zweokstrehen des Menschen geht sogar soweit, daB er auch allen natürlichen Erscheinungen eine ihnen innewohnende Zielstrebigkeit imputiert.
Wenn aber auch einerseits anerkannt werden muß, daB kein Ding, keine Organisation, soweit sie sich auf mensch- lichen Willen ganz oder teilweise zurückführen lassen, ein- fach geschaffen wurden, um existent zu sein, sondern mit ihnen immer Äußere Erfolge angestrebt werden, so i&Ut doch anderseits die überall konstatierbare Tatsache auf, daß im Laufe der Zeit die Zwecke einer und dereelben Einrichtung wechseln, daß dieselben Einrichtungen von den verschiedenen Faktoren, die sich ihrer bedienen, ver- schiedenen Endzwecken dienstbar gemacht werden.
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Nicht einmal das einfachste und primiti\~ste ist, in der Grundbedeutung des Wortes, so „einfältig", daß es nur zu einem Ende führen könnte.
In diese Wandelbarkeit der Zwecke unserer Institutionen greift die systemisierende nach Vereinheitlicbung und Ein- heit tastende menschliche Ratio ordnend und Ändernd ein und sucht für jedes Ding einen spezitisehen Zweck zu er- gründen, um das Ei^ebnis dieser rein theoretischen Arbeit als dss einzig „richtige' hinzustellen.
Der Vorgang dieser spekulativen Tätigkeit nimmt seinen Anfang mit Vorliebe bei der Entstehung einer Tatsache, unterlußc es zumeist, zu untersuchen, ob sie bewußt oder unbewußt entstand, nimmt ersteres gewöhnlich kritiklos an, und aus den herausgeklUgehen Motiven ihres wirklichen oder vermeintlichen Urhebers wird ihr Zweck abgeleitet. Ganz abgesehen von den Irrtümern Über die Ursachen vieler Ersehe inimgen, können solchen Untersuchungen besonders noch zwei Fehler zu Orunde liegen: erstens wird oft an- genommen, der Zweck einer Sache stehe unwandelbar fest und sei aus ihrer Genesis zu erkennen, und zweitens, daß jedes Ding nur einen Zweck habe. Und trotzdem müssen wir mit unserem linearen stets einseitig funktionierenden Denken, um dem Probleme näher zu treten, bewußt in den gleichen Fehler verfallen, indem wir flir Einrichtungen, dem Gebote der Praxis folgend, einen Hauptzweck festzustellen trachten und daneben Nebenzwecke anerkennen, ohne uns darüber zu täuschen, damit objektiv allerdings unhaltbare, doch subjektiv zu rechtfertigende Werturteile ausgesprochen zu haben.
Betrachten wir die parlamentarischen Interpellationen und fragen wir nach ihrem Zweck, so können wir keine eindeutige Antwort darauf geben, sondern die Beobachtung zeigt uns, daß sie als Mittel zu verschiedenen Zielen benützt werden.
In die Augen springend ist ein Informationszweck; ja auch rein togisch betrachtet scheint ea so selbstverständlich,
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daß mit einer Frage eine aufklärende Antwort gefordert wird.
Tatsächlich ist dem nicht immer so ; man braucht nur z. B. einen Blick auf die Interpellationen des öst. Abg.H. im Verlaufe des letzten Jahrzehntes zu werfen, um mit Deutlichkeit wahrzunehmen, daß diese vielfach keine In- formationen anstreben, sondern ohne ernstlich auf eine Äußerung des Interpellierten zu reflektieren, obstruktio- nistische Zwecke verfolgen. Anderseits gibt es wieder Interpellationen, die man als „bestellte" bezeichnen kann; Minister wünschen es, sich in einer Kammer über bestimmte Angelegenheiten zu äußern und Anlaß dazu sollen Fragen aus der Mitte des Hauses selbst geben. Der Bericht ist in erster Linie . vielleicht nicht einmal für die Kammer, noch für die breite Öfi'entlichkeit bestimmt, sondern an gewisse Kreise gerichtet, ein Programm, eine Mahnung enthaltend. Interpellationsbeantwortungen über auswärtige Angelegen- heiten tragen nicht selten die Adresse an das Ausland, ihr Charakter ist ein diplomatischer.*
Bei dem heutigen Stande des Interpellationswesens wird man weder die Unterstützung eines ministeriellen Äußerungs- bedürfnisses noch viel weniger aber die Verschleppung der parlamentarischen Arbeit praktisch als dessen Hauptzweck bezeichnen, obschon nicht geleugnet werden kann, daß im gegebenen Falle das eine oder das andere allein angestrebt wurde.
Wir beschränken uns zuvörderst darauf, Interpellationen als ein wichtiges parlamentarisches Informationsmittel zu betrachten.
fX' Aus den einfachen Anfragen erwachsen, haben sie mit diesen den Typus der Frage gemeinsam; solche einfache Anfragen werden im Laufe einer Verhandlung gestellt, nehmen Bezug auf den gerade vorliegenden Gegenstand der T.O. und sind — Seydel nennt sie ein natürliches Recht
^ S. aach Redlich a. a. O., S. 513.
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eines Parlamentes — der aelbatverständliclie Ausfluß geniein- aamer Beratungen, um sicti über die Ansichten anderer, nicht nur etwa der Regierung zu orientieren.
Unbeschadet der staatsrechtlichen Auffassung der Volks- vertretungen als Organe des Staates, in dessen Interesse sie Aufgaben im zugewiesenen Wirkungskreise zu erf'flllen haben, stehen sie der Regierung wirtschaftlich doch immer als Gegenpartei gegenüber und Adolf Wagner' bezeichnet die Regierung bei der Budgetfeatstellung als Partei des An- gebotes, das Parlament als die der Nachfrage. Dieses Ver- hultnis, das im ständischen Staate zu direktem Handel um materielle und immaterielle Werte zwischen Staat und Ständen führte, ist auch heute trotz mancherlei geHnderter Auftiassungen und Formen tatsächlich noch nicht geschwunden. Bemerkenswert ist diesbezüglich ein im englischen Unter- faause' bis 1857 geübter Usus, wonach, wenn in den Aus- BchUssen in Fragen der Geldbewilligung insofern ein Streit herrschte, als es sich um eine größere oder kleinere Summe handelte, zuerst tlber die Gewährung der kleineren Summe abgestimmt wurde, und man den Zweck dieser Regel damit erklärte, dem Volke die Lasten so leicht als möglich zu machen. Auf das ätaatsintercsse scheint weniger Rücksicht genommen worden zu sein.
Überall, wo es sich ura Verlangende und Gewährende handelt, sind Aussprachen, Debatten, Anfragen und Ant- worten ein natürliches Requisit der Verhandlungen und der Verständigung; parlamentarisclie Kollegien nehmen fUr sich hierin keine Ausnahme in Anspruch; die Aufgaben ihres Wirkungskreises machen sie auch für einschlägige Anfragen kompetent. Diese Kompetenz bedarf weder einer Bestätigung durch ein Gesetz noch durch die Geschäftsordnung, eben-
' FinstuwUicD^chuft, 3. Aufl. läSS, I., B. 70.
' Hny, das engUeche Parlameut uud aein Terfabren; ai I 4. Aoflvffe des Origiuals übersetzt und bearbeitet von Oppei l 1860 1 6. 477.
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sowenig wie z. B. die Befugniß zu debattieren^. Anfragen im Laufe einer Verhandlung kamen und kommen überall vor und unterliegen zumeist keiner besonderen Form Vorschrift^. Eine Äußerungspflicht des Befragten korrespondiert nicht mit ihnen. Eine solche existiert nur dort, wo die Anfrage- befugnis ausdrücklich Anerkennung in der G.O. fand; so ist es zum Beispiel gemäß § 67 G.O. des Ost. Abgh. jedem Abgeordneten gestattet, „Anfragen**, die hier nicht gerade glücklich auch als „Interpellationen" bezeichnet werden, an den Präsidenten des Hauses und an die Vorsitzenden der Abteilungen und Ausschüsse zu richten^. Die normative Anerkennung eines formlosen „Fragerechts" ist gleich- bedeutend mit der Begründung einer Außerungspflicht für den Befragten.
Verschieden davon sind Anfragen zu behandeln, die an die Regierung gerichtet sind und auf Angelegenheiten Bezug nehmen, deren Behandlung augenblicklich nicht Gegenstand einer parlamentarischen Durcharbeitung ist. Es liegt an und für sich weder im allgemeinen noch im Interesse der Regierung oder des Parlamentes, es jedem Mitgliede des Hauses anheimzugeben, vom Verhandlungsthema ab- irrende Fragen an die Minister zu richten. Ohne Be- schränkung auf den Verhandlungsgegenstand ist keine geordnete Geschäftsführung möglich und überall ist da- für gesorgt, daß überflüssige Abschweifungen vermieden werden *.
Allmählich und nicht ohne Widerstreit wurde dem
' Allerdings werden zu verschiedenen Zeiten solche „Befugnisse*' besgl. ihrer Tragweite recht abweichend interpretiert; 159B faßte der Kanzler die „Redefreiheit'^ des englischen Unterhauses als Privileg Ja" oder .nein'' zu sagen auf (Redlich a. a. O. S. 54).
^ Ausnahmen kommen vor. Vgl. u.a. Brusa, Das »Staatsrecht des Königreichs Italien, 1892, S 166 f.
^ Bezügl. ähnlicher Anfragen in England vgl. Th. E. May, Parliamentary Practice, 11. Ed. 1906, 8. 247 ff.
* Vgl. G.O. D.R.T. § 46; Preuß. Abgh. § 48; Ost. Abgh. § 56; S. auch May, a. a. O. 11. Ed. S. 324.
englischen Parlamente tJie Kompetenz zuerkannt, Minister auch über Angelegenheiten zu interpellieren, die mit den Materien der Verhandlung keinen Zusammenhang aufwiesen. Der erste Ansatz zu einem solchen der Kootrolte dienenden außerordentlichen Int'ormati ans mittel war in dem Augen- blicke gegeben, als das Parlament sich für kompetent ansah, darüber au wachen, daß die von ihm bewilligten Gelder auch für den von ihm anerkannten Zweck benutzt wurden. Unter Riehard II (1377— 135i!i) drang das Parlament mit seinem Anspruch, Kenntnis von der Verwendung be- willigter Gelder nehmen zu können, durch, doch fand die Forderung noch nicht prinzipielle Anerkennung'. In der Folgezeit wurde das System der Spezialität des Budgets mehr und mehr anerkannt, so daß es heute als sine qua non eines geordneten Staatshaushaltes erscheint. Um aber festzustellen, ob die Regierung die bewilligten Summen im Sinne des Parlament» verwende, muBte die Möglichkeit ge- geben werden, sie zu kontrollieren. An die Seite einer Oeldmanipulationskontrolle trat alloiUhlich die zu einem Rechte sich verdichtende Übung, auch über die gesetzliche ZuläsHtgkeit und praktische Zweckmäßigkeit der Staats- verwaltung überhaupt zu wachen. Ein hervorragendes Mittel dazu konnte durch direkte Anfragen an die Regierung über ihre Akte geschaffen werden, und zwar auch durch An- fragen, die nicht auf einem inneren Zusammenhang mit den Oeschät'ten der Tagesordnung fußen, sondern nach Bedarf unabhängig und getrennt von diesen gestellt werden können ".
' Oneint, ans eiigUtchc Parliinir^Dt in taiiBendjnhrigeu Wiiti<I[uiigt!ii, 2. Aua, S. 157.
' Die „T-O." bU ArbritspenHum de» Kaueei mit dem A'erbot der Vormisehnng von Deballen vtrschiedener GegeuständH entstanil im eng- Ufchen PuUmeDt am Anfang des IT. Jikhrliunderts. wtidurch H«rechtiguDpen, in «iaielnen F&Ucn von ihr absuweicben , erst die rechte Bedeutung- be- kamen, aber in der Folgezeit gibt es wieder Epochen, die «treng geregelte Tafte** und Arbeitaordnun^en nicht lienueo [üedlich &. a. O., S. 6.S; 84f.l.
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Daß das englische Parlament erst im Jahre 1721 eine offiziös beglaubigte Interpellation im Oberhause aufweist und selbst heute noch kein streng akzentuiertes Interpellations- recht besitzt, hat seinen Grund auch in den sonst ihm zu Gebote stehenden Informations- und Kontrollbehelfen, wie sie auf dem Kontinente in gleich wirksamer Weise nicht zur Ausbildung gelangten. Durch die Schaffung mittel- alterlicher Schatzkollegien und später der modernen Rechnungshöfe sind eigene Instanzen in die staatliche Organisation eingetreten, deren Aufgabe die Kontrolle der Ausgaben war, bzw. ist; seitdem fJlllt den parlamentarischen Kollegien bezüglich der übrigen Verwaltungstätigkeit zu, zu untersuchen — nicht nur ob diese sich gesetzmäßig, sondern auch, ob sie sich zweckentsprechend abwickelt.
Die direkte parlamentarische Kontrolle hat somit ihren Wirkungskreis allmählich verschoben. Antworten der Regierung auf Anfragen über von ihr vollzogene Akte bieten nun allerdings nicht das einzige Material, welches die Kontrolle unterstützt, denn daneben stehen den Kammern und ihren Mitgliedern noch zahlreiche andere Informations- hilfen zu geböte ; man denke nur an die Presse, an Enqueten, an private Erkundigungen und dergl., aber fast überall wird die direkte Zuredestellung der Minister am kürzesten und klarsten zum Ziele führen und es entbehrt nicht eines gewissen Interesses, zu sehen, wie hoch von manchen das Interpellationsrecht eingeschätzt wird. In Zola's Roman „Das Geld"* findet sich z. B. folgende Stelle: „Großen Eindruck hatte eine Reihe von Aufsätzen in betreff des Dekretes vom 19. Januar 1867 gemacht, welches die übliche Adresse an den Kaiser durch das Recht der Interpellation ersetzte — eine neue Konzession des der Freiheit zu- schreitenden Kaisers." — Das englische Parlament mit seiner Zuständigkeit, Zeugen — unter Umständen sogar beeidete Zeugen — vor die Schranken eines jeden Hauses
1 Deutsche Verlagsanstalt 1891, II. Band, S. 46.
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ZU rufen ' oder eich aucli von Behörden Urkunden direkt vorlegen zu lassen ^ ist, ganz abgesehen von der besonders intimen Stellung, die das Miniaterium zur Majorität ein- nimmt, bei weitem weniger bemüßigt, zu interpellieren als die kontinentalen Kammern, deren of'tizieller Verkehr nach AuBen zumeist nuf ein gewisses Minimum beschränkt ist^. Aber weder das englische Parlament* mit seinem relativ spät entwickelten Interpellationsrechte noch der auf diesem Gebiete staatsrechtlieh schneller vorgeschrittene Kontinent konnten es ohne weiteres, wie sie es bei einfachen An- fragen tun, dem Einzelnen überlassen, durch Interpellationen, deren Gegenstand nicht der Verhandlungsgegenstand ist, den geordneten Lauf der Geschäftsflihrung, dar regelmäßigen Arbeit, zu unterbrechen und damit zu verzögern. Deshalb ist überall die Zulässigkeit von Interpellationen an die Einbaltnng genau fixiertei- Form Vorschriften gebunden, die bald in höherem bald in geringerem Maße die Eignung be- sitzen, ohne die Kontrolle der Regierungsakte überhaupt zu verhindern, doch den geordneten Arbeitegang eines Hauses zu gewährleisten.
Und dieser Kon trolle Charakter der Interpellationen überwiegt an Bedeutung derart alle anderen von einzelnen oder Fraktionen angestrebte Zwecke, daß die Kontrolle als Zweck einer Interpellation Katexochen aufgefaßt werden kann, dem erst an zweiter Stelle das einfache Begehren nach Information an die Seite tritt'.
Auch der gewöhnliche Sprachgebrauch verleiht schon dem Worte „interpellieren" den bedeutungsvollen Beigeschmack einer kritischen Tätigkeit, ja vielleicht sogar eine Nuance
' Heute werden Zeugun nur mehr durch KoiniteeB 1 Bedlieb a. n. O., ä. 456 f.
' BedlUh n. a. O., tj. 298 f.
* Q.O. Gbs. g 8 d. est K.R. (§ 30 G.O. d. Öat. Abgli.).
* Redlich H. 3. 0., B. 235 f., Anm. 2: W&hrend des elidafriksmxehen J Kriege* wurden ioi Jnhre 1901 aber ieuDoch 7180 InterpellHtionen eiu-
gebnicfat und benntwortel! Die Bedeutung und dnn AusmnB de» engliBchen \ luterpellatinnsreclitB -wird häufig unterschitvt
* Vergl. S. Low, The goTemuica or Bngland. 2, Auf], ü. 98 f.
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von Mißtrauen und Unwillen über das Nichtverständigtsein in einer Angelegenheit oder über die Angelegenheit selbst. Und dieser ünterton klingt auch in den Ruf vieler parla- mentarischer Interpellationen und nur dieser rechtfertigt es^ wenn letztere im deutschen Reichstag^ als „schweres Ge- schütz^ bezeichnet wurden, eine Benennung, die, falls Interpellationen zuvörderst dem Stillen eines anerkennens- werten Wissensdurstes allein dienen würden, gerade nicht sonderlich glücklich gewählt wäre.
In Kammern, wo die gesamte Geschäftsführung ver- wahrlost, verlieren auch die verschiedenen Einrichtungen ihren eigentlichen Charakter ; Interpellationen beginnen außerparlamentarische Ziele zu verfolgen, ihre große Zahl und der Inhalt zeigen, daß ernstlich auf eine Erledigung nicht reflektiert wird und mit der Einbringung der ge- wünschte Erfolg schon erzielt ist, nämlich Zeitgewinnung oder Zeit Verschwendung, Immunisierung der dem objektiven Verfahren zum Opfer gefallenen Drucksachen oder lokal- patriotischer Wählerfang. Andere parlamentarische Kollegien dagegen, die konsequent daran arbeiten, die Grundvesten ihres Bestandes zu verstärken, ihren Einfluß auf die Ge- staltung des Staatswillens zu heben oder ihren Wirkungs- kreis zu erweitern, erblicken in den Interpellationen ein mächtiges Kontrollmittel, dessen Abschwächung durch über- triebene Anwendung vermieden werden muß. Auch Staaten mit parlamentarischem Regime betrachten das Interpellations- recht mit großer Wertschätzung, obschon die Mehrheit den Ministertl politisch verwandt und daher durch die Bande des Vertrauens mit ihnen verbunden ist ; natürlich legt hier ebenfalls die Minderheit mit ihrem immanenten oppositionellen Mißtrauen auf die Kontrollbefugnisse den entschiedensten Wert 2.
I Session 90/92 Stzg. 135. Steno^. Prot. 3254 C.
* Vergl. Redlich a. a. O. S. 236, wo eine diesbezügl. Äußerung des 1902 in der Opposition stehenden CampbeU'Bannermann an- geführt ist; (ferner S. 513.) aber die Regierung hat eine solche Macht
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Auä dem hier gelten nzeiclmeten Kontrollzweckc der lolerpellationen geht theoretisch die Sclieidung zwischen ÜiDea und den Anfra^n, den Petitionen und Kesolutionen klar hervor,
Anfragen entbehren des kritischen Charakters; Petitionen sind Bitten oder Beschwerden des Parlamentes oder an das Parlament, die von diesem an die Regierung allenfalls weitergeleitet werden ' ; Resolutionen stellen sich entweder als Beschlüsse dar, welche die Regierung beeinflussen sollen, oder sind das Resultat von Beratungen in Beschlußform.
In der Praxis fließen die Zwecke mancher dieser Ein- richtungen hie und da vielleicht ineinander, zum njindesten aber bleiben ihnen die verschiedenen Süßeren Formen als trennendes formalem Kennzeichen inhärent,
2. Gegenstand der Interpellationen.
Die Betrachtung des Wesens und des Zweckes des Interpellationsrechtes berührte schon mehrmals das Problem des Interpellationsinhaltes; aber es restiert noch eine spe- zielle Untersuchung, welche Fakten, Tatbestttnde, Aktionen und Verbältnisse, Anfragen zugrunde gelegt werden können, 80 daß diese als gesetzmäßige luterpellalionen erscheinen.
Eine Umgrenzung des Gebietes, worüber die Regierung interpelliert werden kann, ist nicht nur für jene Parlamente wichtig, deren Vorsitzender, oder deren Plenum jene Inter- pellationen zurückzuweisen vermag, die den gestellten An- forderungen nicht entspreolien, sondern eiue Umgrenzung ist für jede Kammer Von großem Werte, da Anfragen zu denen sie oder ihre Mitglieder als nicht kompetent angesehen werden, unbedingt vom Interpellierten ad acta gelegt werden dürfen, da sie als gesetzwidrig gelten mllssen.
ethlilteD, iIaA aie sognr die ilir der Gesinnung nncb nahestehende Mnjoriläl behorracht, wodurch aucb diene geewongen ist, an ihren Kontroltnütteln Btrikt« festziiLaltfU.
' Das das laterpellatioiurecht vi«l&cb berilhreude Petition»- und Beachwerdereubt iil »In Gegenstand für eine weitere Arbeit in Auasicht p^Deninieti.
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Jene Verfassungen, die das Interpellationsrecht selbst nicht erwähnen, enthalten erklärlicher Weise auch keine Bestimmungen über dessen Grundlagen * ; manche enthalten Normen über beides, Normen, die aber einer gründlichen Interpretation bedürfen. Für das österreichische Parlament sagt § 21 G. ü. d. R.-V. ; „Jedes der beiden Häuser des Reichsrates ist berechtigt, die Minister zu interpellieren, in allem, was sein Wirkungskreis^ erfordert, die Verwaltungs- akte der Regierung der Prüfung zu unterziehen ..." Dem Sinne nach muß der Ausdruck „in allem was sein Wirk- ungskreis erfordert" nicht allein auf den Folgesatz bezogen werden, sondern auch auf den einleitenden, denn Interpel- lationen sind eben eins von den Mitteln, welche die Prüfung von Regierungsakten ermöglichen. Damit scheint der Gegen- stand der Interpellation fest umrissen : er muß in den Wir- kungskreis der interpellierenden Kammer fallen; doch türmen sich da neuerlich Schwierigkeiten auf — der „Wir- kungskreis" eines Hauses ist in der Praxis nie so klar, wie Gesetz und zuweilen auch Theorie anzunehmen pflegen. Ferner zeigt das Interpellationsrecht die sichtbare Tendenz, auf den buchstäblich festgesetzten Wirkungskreis eines par- lamentarischen Kollegiums ausweitend zu wirken, dessen Zuständigkeit auszudehnen®.
Die Verfassungen von Hamburg (Art. 65), Lübeck (Art. 45) und Oldenburg (Art. 128 § 2) lassen Interpella- tionen in „Staats- Angelegenheiten" zu.
Werfen wir einen Blick auf die Litteratur, so fällt es auf, daß sie zwar in der Behandlung des Interpellations- rechts recht stiefmütterlich zu Werke geht, dafür jedoch
^ Geschäftsordnungsgesetze und selbständige Geschäftsordnungen be- rühren den Punkt nicht.
* Daß der Gegenstand der Interpellation in den Wirkungskreis der Kammer zu fallen hat, sagt ausdrücklich auch § 56 des Landesgrundgesetzes für Schwarzburg-Sondershausen.
^ Bezügl. des „Wirkungskreises" vergl. u. a. Hauke, Grundriß des Verfassungsrechtes, S. 53 ff; femer Ulbrich im österr. Staatswörterbuch von Mischler-Ulbrich II. Band 2. Hälfte 1897, S. 920 ff.
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^" fcftn
umso großmütiger den Kreis um die Gegenatünde zieht, welche Interpellationen zugrunde gelegt werden können. Ülbrich erklärt die gesamte Regierungstäligkeit ale Gegen- stand der Kontrolle, aoroit als Gegenstand von Interpella- tionen; Eyscben ' und Torres Campoa' lassen die von ihnen eLarakterisiertcn Kammern über alle Angelegenheiten von jjjjßentlicbem Interesse" interpellieren. Der Begriff, „öffent- liches Interesae" ist ziemlieh vieldeutig; man kann sich vor- stellen, daß gewiß Äußerst sonderbare Dinge — nehmen wir B. die , Verkündigung" eines erd zerstörenden Kometen — breite Schichten der Bevölkerung zu , interessieren" im Stande sind; diese-s Interesse an oben angeführten Kometen, ist sogar nicht einmal ein private», und doch dürfte es kaum die Eignung haben, in einer Interpellation an die Regierung Ausdruck zu linden, es müßte denn sein, etwa Form : „Welche Maßregeln gedenkt der Herr Minister ;en allfällige Ruhestörungen oder Paniken zu ergreifen, ,ie eich aus Anlaß der Furcht vor dem Kometen ereignen konnten ....?" So kann bis zu einem gewissen Grade allerdings jede Tatsache zu gerechtfertigten Interpellationen Anlaß geben, aber nicht nur deshalb, weil sie das „öffentliche Interesse" in Anspruch nimmt, sondern weil sie auch eine .rechtlich relevante Seite aufweist.
I Redlich^ spricht dem englischen Unterhause die Kom- petenz zu, die Regierung über die innere und äußere Politik, über die Landes-, Reichs-, und Kolonialverwaltung, über ihre Absichten und Pläne zu interpellieren, woraus hervor- geht, daß das [nterpellations-Material im [JnterhauBe seit dem Jahre 1859* eine beträchtliche Erweiterung erfahren hat, ohne daß ein förmliches Gesetz dies dekretierte.
Von der französischen Deputiertenkammer und dem
' BTRcben, das St&atsrecht des UroQherEogtiuna Luieinbiir|r, D S. 97.
* Torre» Campoa, da<i Stanlsrechl des Küiiigreiche Spanien, B89 S. 37.
■ Redlicb a.n.O. S. 51». S. aucb May, a.a.O., 11. Bd. H. 248.
* Vorgl. Mjiy-Oppeiiüeiin a. «. 0. ti. 26Ö.
atuU- ". »olfce[T«<^litl. Al.linn.ll. VI a. - Rosugger, 2
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Senate sagt Pierre ^, daß alle Interpellationen, welche keinen unkonstitutionellen Charakter tragen, zulässig seien und behandelt an verschiedenen Einzelfällen in Bezug darauf das Problem der Verfassungsmäßigkeit und Verfassungs- widrigkeit. Zorn* stellt fest, daß der deutsche Reichstag seine kontrollierende Tätigkeit auf alle und jede Sphäre des öflfentlichen Lebens erstrecken könne und Laband^ nimmt an, daß „keine Aufgabe, welche das Reich als der souveräne deutsche Staat zu erfüllen hat, kein Gebiet des nationalen Gesamtlebens, auf welche die Fürsorge des Reichs sich er- streckt" von „der Teilnahme und Mitwirkung des Reichstages ausgenommen ** sei.
Die wenigen hier skizzierten Ansichten in der Litteratur können leicht zum Glauben verleiten, die Gegenstände der Interpellationen ließen sich überhaupt gar nicht allgemein für alle Parlamente bestimmen, sondern sie müßten für jedes einzelne speziell auf Grund der Verfassung herausgearbeitet werden ; das entspricht jedoch nicht ganz den Tatsachen : es ist möglich, prinzipiell jene Gebiete zu charakterisieren, die Interpellationen behandeln können, aber zugleich muß für die einzelnen Kammern darauf hingewiesen werden, daß besondere Gesetze besondere Schranken ziehen können. Die Grenze zwischen verfassungsmäßigen und verfassungs- widrigen Anfragen läßt sich allerdings nicht streng und dezidiert feststellen; sie ist wandelbar, von den Ansichten der politischen Strömungen und von der Interpretation der Gesetze durch die verschiedenen Staatsorgane abhängig; gleichwohl liegt jenseits aller Wandelbarkeit ein fester kon- stanter Kern, auf dem die Interpellationen fußen.
Um den gesetzlich zulässigen Inhalt der Interpellationen zu erkennen, muß von dem Wirkungskreis der parlamen- tarischen Kollegien ausgegangen werden : Diese sind durch-
^ Trait^ de droit politique 61ectoral et parlamentaire par Eugene Pierre 2© ed. 1902 S. 793.
2 Zorn, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 2. Aufl. 1895, I. S. 241.
^ Lab and, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 4. Aufl. I. S. 275.
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wegs für Akte der Geaelzgebung. Verwaltung und Kontrolle Euständig, doch ist der Umfang dieser Kompetenz verschieden ausgebreitet; es ist auch kein Gebiet, auf dem sich der Staat betätigt, prinzipiell dem direkten oder indirekten Eindusse eines Hauses vollständig entzogen, aber ihm auch kaum eines auaschließlich vorbehalten.
Wenn nun aber auch im Laufe der modernen Ent- wicklung die gesetzgebende und verwaltende Tätigkeit der Parlamente gesetzlich kaum eine Änderung nennenswerter Art erfahren haben dürften, so nahm doch die Praxis eine tatsächliche Beschränkung der parlamentarischen Arbeiten insofern vor, als sie wohl ziemlich überall den Willen der Regierung gegenüber den Parlamenten stärkte und dieser „Wille" die Tendenz hat, bei der Bildung des „Staata- willena" ein maßgebenderer Faktor zu werden, als der Buch- stabe der Verfassung dies vorzuzeichnen glaubte und es vermuten ließe. Vor allem ist es das Plenum der parlamen- tarischen Kollegien, dessen Bedeutung in Rückbildung be- griffen ist, während die Ausschüsse und Kommissionen mehr und positive Arbeit leisten, doch auch sie unter der Führung der Regierung. Symptomatisch dafiir ist die Schaffung der neuen Zivilprozessordming in Österreich und das Anwachsen des RegterungaeinSusses auf das Budgetrecht in England, Diesem Zurückdrängen der parlamentarischen Betätigung — eine Betätigung, die manche Enthusiasten oft als „souveräne" bezeichneten, — folgte jedoch anderseits eine Korrektur zu Ounsten des Parlamentes; diese ist durch die allmähliche Attsweilfung der Kontrollrechte gegeben.
Die Sta^ttsmascliine wird immer komplizierter, die Leitung und Förderung der ganzen btaatlicheu Organisation erfordern gebieterisch größere und grOßere Sachkenntnis und Konzentration der an ihr beteiligten Faktoren in Bezug ftuf die inner- und au ßer-poli tischen, sozialen, ökonomischen und technischen Fragen, die als Ergebnis der rasenden kuU turellen Evolution wie Pilze aus dem Boden schießen und anwachsen. Die vielköpfige Versammlung eines meist
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ziemlich wahllos zusammengesetzten Parlamentes kann in ihrer Gänze Löchetens koursbeatimmend und anregend, nicht aber positiv arbeitend wirken. Die dem Parlamente zustehende Initiative zur Schaffung materieller und immi^ terieller Mittel, die ausersehen sind, staatliche und sosials BedUrfniase zu befriedigen, schrumpft in praxi mehr und mehr ssusammen und konsequenter Weise nimmt die Ini- tiative der Regierung dadurch unaufhaltsam zu. Die Re- gierung, ein Fachkollegium, beschilfligt sich berufamääig; gestutzt auf einen großzügigen Apparat von Beamten, In- f'ormationa- und Instruktions-Mitteln mit den Aufgaben, die dem Staate gestellt werden. Die Spezialisierung aller Pro- bleme und das lawinengleiche Anwachsen der gesetzlich in den Wirkungskreis der Parlamente fallenden Geschäfte machen diese zur Bearbeitung von Fachfragen, Ubei'haupt für jede eingehende Arbeit von Tag zu Tag ungeeigneter.
Gemahnend an die alten ständischen Versammlungen beginnen die „zweiten Kammern" die Interessen Währung der von ihnen Vertretenen in den Vordergrund ihrer Tätig- keit zu stellen und der Regierung die Sorge für die „Staats" Wohlfahrt" zu überlassen. Die „ersten Kammern" hingegen wirken als retardierendes Moment auf die Aktionen jener Staatsorgane efu, die wenig konservativ oder direkt radikal Änderungen in der staatlichen Organisation inaugurieren^
Mit diesen Ausführungen wurde der historischen Ent- wicklung entschieden vorgegriffen; keineswegs in allen Staaten, kaum in einem einzigen ist der p'ditisch parlamen- tarische Zustand auegesprochen ein solcher, daß die Regie- rungen gegenüber den Parlamenten entschieden in den Vordergrund geschoben werden. Gewiß ist zum mindesten noch Überall ein starker tauschender Schein gewahrt, und nur die Litteratur berührt hie und da das hier Gesagte^ wenn sie z. B. erklärt, daß das englische Kabinett de fact» ein AuaschuBs des Parlamentes sei, der für dieses fast un- bedingt den Ton angiebt; sicher sind in allen modernea Staaten Ansätze zur wachsenden Macht der Regierung vor-
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rn 2.
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banden, die ala positiv schaffendes Organ an Bedeutung gewinnt; hingegen wachen die Kammern über die Gesetz- mäßigkeit der Regierungshandlungen — die parlamentarische Kontrolle und die durch die breite Öffentlichkeit nimmt an Aiiadehuung zu. Dieae Kontrolle erstreckt sich auf den ganzen, sowohl dem parlamentarischen Kollegium, als der Verwaltung zugewiesenen Wirkungskreis und da die in den der erateren fallenden Aufgaben tatsächlich mehr und mehr von der Regierung geleitet werden und die Parlamente durch das Budgetrecht nur mehr oder minder beschränkend und richtunggebend agieren, so lenken sie ihr Augenmerk zu- vörderst auf die Beaufsichtigung und Kritik- Darin liegt auch eine Hauptursache für den stets wachsenden Wert des In terpellations rechts. Wenn die volkavertretenden Staats- organe ihre Kontrolle langsam und tastend auch auf jene Gebiete, die vielleicht nur lose und nicht unbestritten mit ihrem Wirkungskreis zusammenhängen, auszudehnen suchen, 80 nehmen sie sich gewissermaßen eine Kompensation für die Verluste, welche ihr Einfluß aU schöpferischer Faktor im staatlichen Organismus erfuhr. Und da ist es das Inter- pellation srecht mit seinen Anfragen, das Materien berührt, für deren Beurteilung und Behandlung die Kammern nach dem Buchstaben des Gesetzes nicht fraglos kompetent sind und Interpellationen sind es, die aufklärungs bedürftige Akte und Ereignisse durch Aufdeckung und Besprechung im Parlamente der öffentlichen Aufmerksamkeit zuführen, was um 80 bedeutungsvoller ist, da die sogenannte „öffentliche Meinung" sogar mit Umgehung der repräsentativen Institu- tionen eine auf die Regierung unmittelbar und konstant einwirkende politiache Macht zu werden beginnt, in einer Form, der die Verfassung keine gefestigte Grundlage bietet'.
' H. Jellineh, VerfMsUQgsälidenuig und VerfasRuugvwaDdliing.
|490e, H. 71 ff.
Ein nami Etil I barer recbtlicber Einöoit des Volken vit die Regierung n unmittelbaren Ucmokrntien" gegeben; wo die«eB Verisss ungnygtem
[.,ai«ht hemoht, bleibt nur du Waljlrecbt aar rcpräseutatiTen Kammer und I ■chwäcbliche PetitiooBreclit; der oben etwäbute constaut wirkeude
22 VI 2.
Zwei Hauptrichtiingen fallen besonders auf, nach denen die Vorstöße der Parlamente, zumal in monarchisch regierten Staaten mit ihren Prärogativen der Krone, verlaufen : die militärische und die diplomatische. Zumeist ermangelt es auch flir die Praxis der nötigen scharfen Grenzlinie, die zwischen den Machtsphären der Regierungstätigkeit einer- seits und der parlamentarischen Machtsphäre anderseits gezogen ist, und die Repräsentationsinstitutionen des Volkes streben konsequent nach Erweiterung ihrer Aufsichtskom- petenz. Den Ausgangspunkt des Weitergreifens bieten ihnen die Befugnisse, Geldmittel für den Staatshaushalt zu gewähren oder zu versagen; der Zweck des Übergreifens ist, das Gebiet der Kontrolle zu erweitem; die Mittel dazu liefern vielfach die Interpellationen an die Regierung über kompetenzstrittige Angelegenheiten, wodurch die Zu- ständigkeit der Kammern zu solchen Einflußnahmen be- hauptet und dokumentiert werden soll.
Nochmals muß erklärt werden, daß, um so recht klar und deutlich die Hauptursachen für die Erweiterung der kontrollierenden Tätigkeit eines Parlaments zu veranschau- lichen, das Zurückdrängen selbständiger positiver Arbeit desselben und das damit verbundene Vordringen der Re- gierung auf diesem Gebiete dezidierter dargestellt wurden, als die Tatsachen des parlamentarischen Lebens es gestatten, aber dem objektiven Beobachter werden die zu einer solchen Wandlung vorhandenen Tendenzen kaum entgehend
Der Wirkungskreis der Parlamente wird allmählich sachlich tatsächlich erweitert, zu- vörderst ihre Zuständigkeit zu Kontrollakten ausgedehnt, zugleich aber ist die Intensität ihrer Anteilnahme an den Arbeiten, für deren
Einfluß der politisch agierenden „Volksmacht" ist streng zu scheiden von revolutionären Vorstößen, denen zwar die Unmittelbarkeit der Wirkung, doch auch Unstetigkeit und Rechtswidrigkeit zukommen.
^ Vergl. J e 1 1 i n e k , Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, 8. 46 ff.; 71 ff.
IVornahme sie kompetent sind, in Abnalime be- iffeu *. Ob die Zukunft ein Weiterachreiten, Stagnieren oder
■ «ogar ein Zurückgehen dieses Prozesses, der nicht Überall Igleichmäßig vor sich ging, bringen wird, litßt sich kaum i sagen ^ man wird annehmen dürfen, daß eine Rückbildung l'ltller Wahrecheinlichkeit nach nicht zu erwarten steht, doch I keineswegs als aufgeschlossen gelten darf.
Kehren wir zurück zu der mit diesem Problem in Zu- r sammenhang stehenden Frage nach dem Gegenstände der Interpellationen, so ist rebus sie atantibu» zu konstatieren: alle jene Sphären des öffentlichen Lebens, auf die der Wirkungskreis einer Kammer Bezug nimmt', und soweit sie auch nicht dem Ein- flüsse der Regierung entzogen sind, können denStoff für quäl ifi zierte An fragen an letztere abgeben. Dieser Wirkungskreis ist jedoch nicht der in der geschriebenen Verfassung generell, taxativ oder exempli- , kativ bezeichnete und von der Theorie abstrakt interpretierte,
■ fondern der im Verlaufe der parlamentarischen Tätigkeit §aurch die Praxis sich bildende gewohnheitlich gefestigte".
Da die kontinentalen Kulturataaten eine ihrem Wohl- B&hrtssysteme entsprechende Vielseitigkeit besitzen, die bald Kala polizeiliche Bevormundung bekämpft, bald als humane
' Die hier angedeutet« io 4cn partanicntfiriHohen Koilegiea wahr- shmtiare Tondeni iet eine, die in erster Linie den Ze ntralparlnmenton rmkanunt, bh welchen hier nllerdinga aacb der Ssterr. K.R. eiiurhUeBlich ■einer Delegation gerechoet wird. Den Kamraem der OlieditaaleD eines Bandenataatea , den Landtagen der im R.R. vertrcteuen KCnigreiche und Lünder und ähnlich gearteten Organ inationen iet eine derartige Ent- wicklung, wenn auch nicht fremd, so doch in einer anderen auf partikula- ittiBchen Beatrebungen beruhenden Form eigentümlich.
■ Dagegen Soydel, Jlajeriuches fitaataraoht, S. Aufi. 1896 I., S. 48ä: I Interpellati OD «recht ist nicht auf die Qe^eost&nde de» Wirkonga- I dei Landtages beflchräukt" — eine KoDstatierutig , die in ihrer üven BcBtimmtheit nicht unbedenklich erscheint, t^. auch ebda.
. 1. wo äejdel Beine Theorie beernudet. * Siehe n. a. Seydel, n. a. O., S. Sö&ff. u. S. 375 IT. über die den gekreia dei Bayrischen Landlages ausweitenden Petitionen und inigibeBchwerden.
24 VI 2.
Sozialpolitik gepriesen wird, und diese Vielseitigkeit auch den Wirkungskreis der staaüichen Organe sehr weit zieht, so gilt für die Parlamente des Kontinentes cum grano salis der Satz: Interpellationen sind über alle Fragen zulässig, die rechtliehen, politischen und sozialen Inhaltes sind und die nicht in die Prärogativen des Staatsoberhauptes noch in die Unabhängigkeit des richterlichen Amtes ^ ein- greifen.
Und damit ist der Kreis, der das Interpellationsmaterial umschreibt, charakterisiert, zwar nicht mit jener Schärfe, die für jeden Einzelfall alle Zweifel darüber ausschließt, ob er zu den abgezirkelten Tatsachen gehört oder nicht, aber immerhin prinzipiell ; jeder Aufstellung eines Prinzipes haftet eben die Notwendigkeit an, es in der Praxis und für die Praxis zu interpretieren.
Dem hier anerkannten Prinzipe mit seinem festen Kern und seinen fluktuierenden Grenzen widerspricht nicht die Individualität aller staatlichen Organisationen, denen die Gemeinsamkeit gewisser Strukturen typisch ist, ohne daß der Typus es hinderte, daß die abweichenden äußeren Er- scheinungsformen, die oft sehr wesentlich sein können, ihnen einen individuellen Stempel aufdrücken. Dem gleichartigen Aufbau des Staates als Gattungsbegriff und dem Mangel eines Prinzipes, das etwa lückenlos und konsequent in seinen Gesetzen verwirklicht wäre, ist es zuzuschreiben, daß in den einzelnen Parlamenten die zur Interpellation führenden Akte bald engherziger, bald weitherziger anerkannt werden. Das erstere wird zumeist in Monarchien, das letztere in RepuUiken der Fall sein; so ergehen in Frankreich zum Teil nicht widerspruchslos auch Anfragen über die praktische Rechtsprechung, was deshalb begreiflich ist, weil diese
^ Selbstverständlich können aber Fakten, welche die administra- tive Seite der Justiz betreffen, zum Gegenstand von Interpellationen ge- macht werden.
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Tdort mehr aU anderswo politischen ElnäUsaen zugäng- lich ist*.
Wie aber die Verhältniäae heute liegen , bann die Praxis die Interpellationen nicht sehr weit von dem gesetü- lichoD und tatsächlichen Felde, zu dessen Bearbeitung ein Haus zuständig ist, abirren lassen, ohne dadurch — eine
»Duldung von Seite der Regierung überdies vorausgesetzt — die Kompetenz der parlamentarischen Kollegien zu erweitern. Diese rechtliche Konaequenz eines politischen Vor- Ipinges darf nicht zu gering angeschlagen werden, Zusammenfassend lautet das Ergebnis der Spezial- hntersuchung über die als Grundlagen für Interpellationen «ulftesigen Gegenstände: Alle Tatsachen und Aktionen, die in den durch das Gesetz und die Praxis sich fixierenden Wirkungskreis einer Kammer fallen, können Material parlamentarischer Kontrolle werden und Interpellationen begründen. Anderseits sind es auch Inter- pellationen, die ausweitend auf die Kompetenz eines Parla- mentes wirken.
X Der rechtliche Gbarakter des Interpellatlonsrecbts.
Da» Interpellationsrecht als Inbegriff von Bestimmungen, siehe die qualifizierten Anfragen an die Regierung regeln, organisatorischer Natur und zerfällt in ein materielles md in ein formelles.
Das materielle Interpellationsrecht setzt die Kompetenz Mner Kammer zu Interpellationen fest, es schafft damit kein labjektives Recht des Hauses oder seiner Mitglieder, sondern pklärt sie nur für zuständig, Interpellationen zu stellen'.
' Bill Gegenstflck da2u Iktert Kußland, iro nnr Ober gewisie 'ungflakte, die „Dicht gcaetzmäßig; ncheinen", InterpellatioDen der « BnUBaig aind. Ü bei. Teil, Abach.: Da,t Interpellationsrecht anderer
Eng ist scheinbar auch der Kreis der Objekte fflr da« italienisabs PBrlkmeot geiogeii — ver^I, Briisn a. a. O. S. 166.
■ Dngegen d. a. Seydel n. a. O., S. 494", der die „InterpellatJon" als eia „ppreanlichea gesetiliche^ Recht des Kammennitgliedas" nur be- Rcbrinlct dnreh die Nntwesdigkeit einer „ Unter* lütitui^ auffallt.
26 VI 2.
Der Mangel eines subjektiven Interpellationsrechts folgt aus der Stellung, welche parlamentarische Kollegien in der staatlichen Organisation als Organe des Staates einnehmen ; demnach sind sie keine Korporationen, keine juristischen Personen, nicht Träger von subjektiven Rechten, die ihnen etwa zur Wahrung eigener Interessen und zu deren Geltend- machung tibertragen wurden, sondern diese Organe üben staatliche Funktionen aus, woran auch der Umstand nichts ändert, daß die Parlamente zugleich Organe des in Ge- sellschaftskreise, Gruppen und Parteien gegliederten Volkes sind ^.
Wenn nun die Verfassung eine Kammer fUr kompetent
erklärt, die Minister zu interpellieren, so bleibt nur noch
die Frage offen, ob damit auch eine Pflicht des Interpellierten
zur „Antwort" begründet ist^
Gehen jedoch die Gesetze über die „Interpellationen"
völlig mit Stillschweigen hinweg, so tauchen eine Reihe komplizierter Probleme auf: ob etwa ein Parlament nur auf Grund seines Wirkungskreises, auch ohne weitere aus- drückliche Zuständigkeitserklärung dazu, berechtigt sei, Interpellationen einzubringen — ob es sich vielleicht durch die G.O. dafür selbst kompetent erklären könne — ob daraus dem Interpellierten eine Äußerungspflicht erwachse und dergleichen mehr.
Mit der Durcharbeitung dieser Fragen wird das so überaus strittige Gebiet des Gewohnheitsrechtes und sein Verhältnis zum Gesetzesrecht berührt werden müssen, ohne daß es der Zweck dieser Monographie sein kann, an eine
' Bezügl. der Organstellung des Parlamentes vergl. Jellinek, System der subjektiven Rechte, 2. Aufl., S. 228 ff.; ders., Allgemeine Staats- lehre, 2. Aufl., S. 546 ff.; 568 ff.
* Unter „Beantwortung" wird in der Literatur bald nur eine materielle Antwort auf die Interpellation verstanden, bald jede Äußerung des Interpellierten auf eine Anfrage, mag sie auch nur ent- halten, daß das Thema für weitere Erörterungen ungeeignet sei. EUn- deutiger wäre es, ganz allgemein von „Äußerung" zu sprechen, wenn eine negativ formelle Antwort mit inbegriffen sein soll, dagegen von „Be- antwortung", sobald es sich um eine materielle Erledigung handelt.
pVI 2. 27
prinzipielle Lösung der in der Litteratiir hör räch enden Ueinungsdifferenzen heranzutreten.
Für das In terpell.it ionsrecht kommt, und diese Tat- sache darf vor Allem nicht übersehen werden, das maß- gebende Faktum in Betracht, daÖ in allen europäischen Kammern, mag das Gesetz dafür Vorsorge treffen, oder nicht, interpelliert wird und die Praxis keinen namhaften Unterschied zwischen gesetzlich ausdrücklich begründeten und gesetzlieh nicht ausdrücklich begründeten Interpella- tionen kennt. Zur juridischen Durchleuchtung der Er- scheinungen auf dem Gebiete des Interpellationaverfahrens werden wir zu trennen haben das Interpellationsrecht ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage von dem ni i t ausdrück- licher gesetzlicher Grundlage '.
Dem wird sich schließlich eine Besprechung des for- mellen Interpc-Ilationsrechtä anschließen, das die Art und Weise bestimmt, in der Interpellationen in Erscheinung treten.
A. Das InterpellatiOQsrecht ohue ausdrückliche
gesetzliche Grniidlage.
In manchen Htaaten schweigen die Verfassungsgesetze darüber, ob ein parlamentarisches Kollegium zuständig sei, Jlinister zu interpellieren. Solche und ähnliche „LUcken" in Verfassungen sind nichts seltenes, und nicht gerade die flir die Praxis ungeeignetsten Konstitutionen zeichnen oft nur in großen Umrissen die staatliche Organisation und über- lassen es Ergänzungsgesetzen oder der stillschweigenden Übung, alles das zu regeln, was durch sie selbst unerledigt blieb.
Mit Recht vermeidet man es, durch schwerfällige, he- ^nders komplizierte Bedingungen in Bezug auf Abänderung
' WeuD nicht, wtw siDn^mäBer schiene, an «roter Bt«11e das „im GwetzB ausdrücklich bekundete InteriiellalioniTecht" zur (Sprache kommt. ■o lind fllr den Autor teuhnicche Gründe inaBgehend gewesen : er hofft so Wiederliolungen tunlichst zu vermvideti.
28 VI 2.
unterworfene Normen die staatlichen Grundprinzipien bis in alle feinsten Details festzulegen, denn dadurch würde man der Praxis, die sich dem un vorherzusehenden Wechsel anzupassen hat, unleidlichen Zwang anlegen und der wün- schenswerten staatsrechtlichen Entwicklung überhaupt Hem- mungen bereiten.
Gewisse Materi^a scheut man sich wegen der ihnen anhaftenden politischen Delikatesse normativ zu fixieren; die Gesetzgeber begnügen sich mit der Schaffung von „Verheißungsgesetzen," die einerseits gewiesen Forderungen entgegenkommen, anderseits aber der Anwendbarkeit ent- behren, so lange nicht Durchführungsvorschriften, an deren Erlassung nicht einmal gedacht wird, praktisches Recht ^^ zeugen. In solchen Fällen wurde dem Verlangen nach rechtlicher Erfassung dieser oder jener öffentlichen Tatsache theoretisch Rechnung getragen, ohne sich hierbei der Täu- schung hinzugeben, daß praktisch eine klaglose Ordnung dieser Angelegenheiten, vorderhand wenigstens, ins Gebiet der Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit gehört^.
Derartige Lücken ^, falls keine Ergänzung durch Nach- tragsgesetze erfolgt, soweit als möglich zu beseitigen, ebenso wie am geschriebenen Rechte die sich als notwendig heraus- stellenden Korrektionen vorzunehmen, muß der rechtsbil- denden Kraft des Tatsächlichen vorbehalten bleiben. Man könnte nun zur Annahme verleitet werden, daß die sich zu Rechten und Pflichten verdichtenden Übungen der Praxis, wenn einmal genügend befestigt und bewährt, for-
^ Es sei nur auf Art. 19 des österr. StG.G. über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger mit seiner Unrealisierbarkeit hingewiesen.
'^ „Lücken in der Verfassung^ sind entweder von allem Anfange an vorhanden oder entstehen erst später dadurch, daß die wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung neuartige Verhältnisse schafft, die einer prinzipiellen rechtlichen Regelung bedürfen. Von nur „scheinbaren Ver- fassungslücken'' kann man dann sprechen, wenn sie durch eine reguläre Interpretation des Gesetzes zu beheben sind, doch werden widerstreitende Auslegungen bei wichtigen Problemen den Mangel einer ausdrücklichen Bestimmung fühlen lassen. Dem kann abgeholfen werden durch eüun Formalakt der Legislative oder durch Bildung eines Gewohnheits- rechtes.
VI 2.
mell auch in der VerfaaeuDg Aufnahme und wichtige Fragen :*o authentische Löaung finden würden, aber diesem selten zu beo bat; blenden Vorgehen widerspricht eine beinahe wunderliche Abneigung gegen VertasaungeänderuDgen. Typisch dafür ist die nordamerikanische Union, doch auch die D.R.V, bietet aehfttzbares Untersnchungsraaterial.
Wie in den schweren Kämpfen, die den Tod des Ab- eolutiamus besiegelter, das leidenschaftliche Begehren nach einer Konstitution, nach einer Verfassung, ertönte, und eine ideale Anschauung in der Erfüllung dieses politischen Sehnens die Eröffnung kaum geahnter Perspektiven für das Volkswohl erblickte, da entstand oder festigte sich die fixe Idee, die Verfassung sei der Bauplan des neuorgani- sierten Staates; an ihr dürfte man möglichst wenig rühren, sie müsse über dem Wandel der Augen bllcksvariatio neu unversehrt und erhaben thronen. Das war ein arges Ver- kennen des gesellschaftlichen Lebens; die Verfassung, im materiellen Sinne nichts anderes, als die organisierende Hachtsphttrenabgrenzung zwischen den sozialen Bestandteilen des Staates, muß auth den sozialen Machtverschiebungen nachrücken, soll sie nicht Gefahr laufen, mit der Zeit za einem bedruckten oder beschriebenen Stück Papier degra- diert zu werden, so daß nicht sie, sondern nur die Be- obachtung der Tatsaühen ein wirkliches und wahres Bild der staatlichen Organisation gibt Tatsächlich ist die Theorie von der Heiligkeit fundamentaler Gruudgesolze noch nicht verschwunden und daher müssen wir, um die faktische Organisation eines Staates mit allen ihren reichen Hilfs- mitteln kennen zu lernen, neben der formellen Verfassung echeinbar oft nebensilchliche Gesetze, Verordnungen und das
raktische Schalten und Walten auf staatsrechtlichen Terri-
H-ien ine Auge fassen'.
' Ver([l. OuinplowicK, <!m Meir, StK. 1902, 8. 20: „, . . sie (eine VOTTHSBun^urkunil?! kann allen&llii als Oruiidia^ uad AiisgaogH- pDDkt weiterer Entwioklung dienen: um aber Utsichlich die VeräuiRUiig QM Stuti» m werden and eine aoldie in der WirkJicbkeit sa sein, muK sie
30 VI 2.
Und wenn wir nun die Frage nach dem Interpellations- rechte für jene Parlamente, denen es das Gesetz nicht aus- drücklich zugesprochen hat, beantworten wollen, so dürfen wir nicht bei dem, was staatsrechtlich sein soll, Halt machen, sondern müssen auch noch das, was ist, in den Kreis der Untersuchung ziehen. Ein Teil des Problems läßt sich, entsprechend der Theorie von der Organstellung des Par- lamentes, folgendermaßen formulieren:
Ist eine Kammer zufolge der Aufgaben ihres Wirkungskreises ohne weiteres für die Stellung von Interpellationen an die Regierung kompetent oder nicht?*.
Den Wirkungskreis eines parlamentarischen Kollegiums, das nicht auf eine organische Entwicklung zurückschauen kann, zu bestimmen, stößt nicht nur in der Theorie, sondern kuch in der Praxis häufig auf große Schwierigkeiten ; er ist abzugrenzen gegen den Wirkungskreis der Verwaltung und der Justiz einerseits, gegen den anderer zur Gesetzgebung
jene notwendige Entwicklung behufs Anpassung an die wirklichen Machtverhältnisse erst durchmachen und die zu diesem Zwecke nötigen Korrekturen hinterdrein erhalten; sie muß den Ausgleich mit der Wirklichkeit durchmachen, bevor sie als tatsächliche Verfassung aus dem Kampfe der sozialen Bestandteile nach ihren gegenseitigen Macht- verhältnissen modifiziert und approbiert hervorgeht, um sodann wieder in den Strom der staatsrechtlichen Entwicklung gestellt zu werden. '^
Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung , 1906, 8. 2. ,,Wir wissen heute, daß Gesetze viel weniger vermögen, als man noch vor einem Jahrhundert glaubte, daß sie stets nur ein Sollen be- deuten, dessen Umsetzung in Sein niemals in vollem Umfange stattfindet, da£ das reale Loben daher stets Tatsachen erzeugt, welche dem vernünftigen Bilde, das der Gesetzgeber zeichnet, nicht entsprechen. . . . Die Grund- gesetze, wie alle anderen, sind mit unentrinnbarer Notwendigkeit ... in den Fluß des historischen Geschehens gestellt"
La band, die Wandlungen der D.R.V., im Jahrbuche der Gehe- Stiftung, Bd. L 1896, S. 2: „Zwischen dem wirklichen Verfassungszustand eines Staates und den in der Verfassungsurkunde formulierten Regeln be- steht oft ein so großer Unterschied, daß die erstere die größten Um- wandlungen erfahren kann, ohne daß der Wortlaut des Verfassungsgesetzes abgeändert zu werden braucht."
^ Es sei hier gleich erwähnt, daß für das englische Unterhaus Palmerstone 1861 diese Frage wenn auch indirekt, so dennoch unzweifelhaft bejaht hat. Vergl. Redlich, a. a. O., S. 141.
iiri 2.
Mithilfe zur Gesetzgebung berufener Staatsorgane PttDderseits.
Id dieser Darstellung muß das Problem des „Wirkungs- liaea" jener Eammern gestreift werden, um daraus ■ Folgerungen zu zielien, für die der Gesetzesbuchstabe B.daa luterpellationsrecbt ignoriert. Dies ist in der Ver- fassung des Deutschen Reiches bezüglich des Reichs- tages der Fall; sie schweigt über dessen Zuständigkeit zu Interpellationen, aber sie beruft ihn zur Kontrolle der Regierung innerhalb gewisser Grenzen und statuiert die Ver- Lwitwortlichkeit des Reichskanzlers'. Diese Verantwortlichkeit l^rd durch politische Mittel geltend gemacht; die Möglichkeit flines Anklageverfahrens besteht nicht, da es dafür an den nötigen gesetzlichen Bestimmungen fehlt, aber der Reichstag vermag auch gegen Gesetzwidrigkeiten mit seinen politischen Machtmitteln vorzugehen ; auch mufi betont werden, daß dem allgemeinen Interesse oft weniger damit gedient wird, daß alle Aktionen sich streng im Rahmen des Gesetzes vollziehen, als damit, daß sie- zweckentsprechend und nützlich sind und Zweckmäßigkeit wird sogar das Manko der Geaete Widrigkeit in praxi unter Umstünden beheben können.
Das sind Fragen der Politik, zumeist der praktischen Politik im Einzelfalle, aber unsere Beobachtungen der Bosialen Gestaltungen führten uns zur Erkenntnis, daä es weite und wichtige Grenzgebiete giebt, von denen man nicht mit Bestimmtheit sagen kann, oh sie nicht auch rechtlicher Natur, von denen es jedoch gewiß ist, daß sie dtirch die streng juridische, alle gesetzliche und rechtliche Irrelevanz absorbierende Brille betrachtet, die ganze staat- liche Organisation nur als Fragment, nur alt ein Bruchatlick zum Bewußtsein kommen lassen.
So geht es auch nicht an, die tatsAchliche politisch parlamentarische Verantwortlichkeit der Minister als jenseits jeder rechtlichen Sphäre liegend, zu betrachten. Sie ist
' D.ß.V. Art. 4, 17, 72.
32 VI 2.
der Ausfluß der Kontrollbefugnis, die in den Wirkutigskreis eines Parlamentes fkllt — und mit ihr fallen auch Mittel hinein, sie zu üben ^.
Welche Mittel sind nun einem Hause für die Kontrolle gegeben? Abgesehen von dem rein etatrechtlichen der Rechnungsprüfung und abgesehen von mehr minder privaten Erkundigungen kommen neben Adressen, Resolutionen, Petitionen, Kommissionen, die direkten Anfragen an die Minister in Betracht 2.
Sowie ein Parlament für die Kontrolle zuständig ist, muß es auch für competent erachtet werden, den Kontrollierten
^ Fortlaufend praktisch gestaltet sich nur die Verantwortlichkeit der Minister für die Zweckmäßigkeit ihrer flandlungen vor dem Parlament«, das allerdings — was eine Folge der scheinbaren Lebensunfahigkeit eines formellen Anklageverfahrens in den meisten Staaten — auch die Gesetz- widrigkeit ministerieller Akte durch Ausspruch eines Mißtrauensvotums, dessen schärfste Form die Budgetverweigerung ist, zu richten pflegt Und so lange eine Kammer imstande ist, im Etat Striche vorzunehmen, sowie überhaupt Pläne der Regierung zu vereiteln, so lange ist sie auch im- stande, deren Vertreter wegen Rechtsbruches oder Interessenverletzungen insofern zur Verantwortung zu ziehen, als sie ihnen Schwierigkeiten durch eine Durchkreuzung ihrer Bestrebungen bereitet
In diesem Sinne stehen „Kontrolle" und „Ministerverantwortlichkeit" im engsten Zusammenhang.
Ob die politische und eben angedeutete staatsrechtliche Ver- antwortlichkeit der Minister vor dem Parlamente im herrschenden Zuge der Demokratisierung einer Art „sozialen" vor der Öffentlichkeit weichen wird, ist eine Frage, deren Beantwortung in der Zukunft liegt; Anzeichen scheinen für eine Holche bedeutsame Wandlung zu sprechen und „Inter- pellationen" tragen auch die Fähigkeit in sich, schnell und prägnant auf- klärungsbedürftige Regierungsakte in den Kreis der allgemeinen Auf- merksamkeit zu schieben.
Vergl. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassun^swandlung, 8. 41 f.; S. 74; Low, The governance of England, 2. Aufl. 1906, S. 91 ff.; Bezügl. der Arten der Miuiste^erantwortlichkeit s. Hauke, Die Lehre von der Ministerverantwortlichkeit, 1880, S. 8 f.; 12ff. ; Frisch, Die Verantwortlichkeit der Monarchen und höchsten Magistrate, 1904, S. 48, 147 ff.; 8. auch S. 372 f.
* Vergl. Ul brich, österr. Staatswörterbucb , B. II, zweite Hälfte, S. 924; derselbe, das österr. StR., 1904, S. 105 f.
Redlich, a. a. O. , S. 294, sagt betreffs der Informationsmittel, die zumeist auch Kontrollmittel sind „. . . (es) darf wohl vorübergehend bemerkt werden, daß nicht nur die ältere konstitutionelle Theorie des Festlandes wie auch die neuere deutsche Staatsrechtslehre die außer- ordentliche politische und rechtliche Bedeutung dieses Grundrechtes auf Information keineswegs genügend erkannt und gewürdigt hat."
ryi 2,
33
I
über gewiaae Akte zu befragen; es ist eine interne
igelegenheit einer Kammer, zu beatimmen, welche beson-
Formen sie für vom Verhandlungsthema abirrende
terpellationen fordert, aber daß dolcbe gemäß ihrer
Stellung verfassungsmäßig sind, geht aus der sinngemitßen
Grenzbestimmung des parlamentarischen Wirkungskreises
hervor. Natürlich kann ein Gesetz durch ein akzentuiertes
Verbot' Interpellationen kurzweg ausschließen; sowie aber
Gesetze darüber nur einfach mit Htitlschweigen hinweggehen,
mögen sie auch die staatsrechtliche Verantwortlichkeit
der Regierung negieren — eine Negation der politischen
ist m. E. ausgeschlossen — , müssen Interpellationen als in
dea Wirkungskreis einer Kammer fallend angesehen werden.
Daß diese Auslegung so ziemlich allgemein anerkannt it, beweisen die Tatsachen der Praxis.
Die Regierungen hatten ja immerhin, wenn sie die Interpellationen eines Parlamentes als ungehörigen Übergriff betrachtet hätten, die Möglichkeit, deren Einbürgerung durch Ignorierung der Anfragen zu verhindern; taten sie das nicht von allem Anfange, gaben sie dadurch nicht ihre An- sicht über die von ihnen behauptete Kompetenzüberschreitung kund, 80 halfen sie durch ihre Duldung die parlamentarische Konipetenzsphäre dahin zu interpretieren, daß auch Inter- pellationen in sie fallen.
Auch der Umfang des Wirkungskreises ist der Er- scheinung der Verfassungswandlung unterworfen ; tatsächliche Vornahme von Akten durch ein Staatsorgan und rUckhalta- lose Duldung derselben dui'ch andere Staatsorgane können sie zu von berufener Seite vorgenommenen Rechtsakten stempeln. I Die Ergebnisse theoretischer Erwägung und praktischer
B ' Einem solchen Verbote kontnit in den Kon9ei|ueDieii der geseCttiche
AnBichluB der Regieruiigsmitgüeder von den Sitzungen eüiei) tlAUsei );leich; damit i«t praktiach die Möglichkeit nti Interpellationen (nfttltrliob nicht die snr Kontroll« ülierhaupt und die MiuiBterverantwortlielikeil] gt-
34 VI 2.
Folgerungen zusammenfassend, kann somit die Behauptung dezidiert aufgestellt werden, daß einem Parlamente, dem Kontrollrechte zustehen, auch das Interpellationsrecht ge- bührt; und die G.O. welche ein solches annimmt und be- hauptet, nimmt eine Interpretation der Verfassung vor*.
Fraglich mag es für die Theorie sein, wie groß der staatsrechtliche Gehalt eines solchen Interpellationsrechtes ist, sein politischer ist jedenfalls anerkannt^. Es muß aber nochmals wiederholt werden, daß wenn wir in den staat- lichen Einrichtungen alle Institutionen, die nicht der for^ mulierte Ausdruck eines Gesetzes sind, als rechtlich bedeu- tungslos bezeichnen, schließlich theoretisch nur eine ganz unvollständige staatliche Rumpforganisation zurückbleibt. Der durch die Praxis gelieferte Kitt ist durch die Dauer seines Bestandes so hart und uuausscheidbar geworden, daß die aus den Tatsachen abgeleiteten abstrakten Regeln Form und Bedeutung von Rechtssätzen annahmen.
Diese nun als Gewohnheitsrecht zu bezeichnen, oder sie unter einem andern Begriff zu subsumieren, ist eine Frage der juridischen Technik. Solche Regeln sind eben da und Staatsorgane handeln nach ihnen.
Wie es sich nun mit der Außerungapflicht des Inter- pellierten auf im Gesetze nicht ausdrücklich anerkannte Anfragen verhält, ist eine weitere Frage. Ganz allgemein wird man sagen müssen, daß eine solche besteht.
Das Vorhandensein einer solchen Außerungspflicht ist zu bejahen, mag sie nun eine rechtliche, politische oder moralische sein; auf die Bezeichnung kommt es nicht an.
* Für Norwegen leitet Aschehoufi", das Staatsrecht der vereinigten Königreiche Schweden und Norwegen, I086, S. 144, das Interpellations- recht aus der Befugnis des Storthings ab, jedermann vor seine Schranken zu laden, um ihn über Staatsangelegenheiten zu vernehmen.
^ Die politische Durchschlagskraft von Interpellationen hängt von mancherlei Faktoren ab , die juridisch nicht erfaßbar sind , so von der Farteistellung, dem persönlichen Ansehen des Interpellanten u. dergl. mehr. Siehe Low, a. a. O., S. 92; vergl. auch La band, Staatsrecht, I, S. 283 f.
VI 2.
a5
Und aljermals ist ea die Praxis, die zu dieser Bejahung
■ berechtigt.
I Die Äußerung kann sein eine materielle Antwort oder
I die Verweigerung einer aolchen mit oder ohne Angabe von Gründen. Als Regel wird man als Mindestpflicht eine mit Gründen versehene Antwortsablehnung durch den Inter- pellierten annehmen müaaen. Wenn gesagt wird, daß die englischen Minister ohne Angabe von Gründen die Antwort verweigern können, was sich in einem Nichtreagieren auf Anfragen äußert, so bezieht aich das nur auf „inquiry in- oonvenient", wie Low eine gewisse Kategorie von Inter- pellationen nennt, die man also als „ungehörige" bezeichnen I kann'.
■ Die „ÄuQerungspflicht" kUhl erwägend muß man sagen,
■ daß ihre Anerkennung wenig bedeutet, während das Nicht- beachten ordnungsmäßiger Interpellationen deren politisches Gewicht über Gebühr steigern kann und oft zur Schluß- folgerung verleiten wird, die Regierung habe alle Ursache,
r aich der Kontrolle zu entziehen. Natürlich gilt das nicht I iftlr obstruierende Anfragen, die überhaupt auf keine Ant- Iwort reflektieren^.
Es giebt auch kaum eine so starke und so undiplo- tinatische Regierung, welche ea auf eine Kraftprobe mit |«inem Hause nur deshalb ankommen läßt, nur um nicht Igen zu müssen, sie lehne eine materielle Antwort aus oder Jenem Grunde ab. Sollte aich aber dennoch F«n solcher Konflikt im Zusammenhang mit anderen Streit- fragen entspinnen, dann wird, wie ao hituHg bei Verfaasunge- problemen, weder das Gesetzes- Recht, noch das Gewohnheits- recht, sondern die Macht entscheiden. I In Erwägung aller dieser Gründe hat das Verlangen
■ D»li eine AuaernngapHicht im o. S, , dd» bo[at eine Pflidjt lar Antwort, die eine materielle Ertedi^np der Frage entbHIt, nicht exintiert, ttacb nicht in jenen ParlaiDenten, für die das Interpellatiousreclil aiu- drttdclieli dnrah daa Oesetx fixiert ist, wird unter B. erGrtert werden.
36 VI 2.
nach einer Äußerung des Interpellierten mit dessen Willen sie nicht zu versagen, unter normalen Umständen stets harmoniert.
Der Kampf drehte sich nur um die Pflicht, eine mate- rielle Antwort zu erteilen. So ist auch des Bundeskanzlers Grafen von Bismarcks Erklärung zu verstehen, die er an- läßlich einer einschlägigen Debatte im verfassungsberatenden
Reichstag abgab; sie lautet: „ (ich) weiß
nicht welche Gewalt, welche parlamentarische
wenigstens, mich zwingen könnte, zu reden, wenn ich schweigen wilP," .... doch werde die Bundesregierung sich der Beantwortung etwaiger Interpellationen nicht ent- ziehen ^. Mit anderen Worten bedeutet das : die Regierung wird eine materielle Antwort nicht verweigern, wenn sie sich mit dem Staatswohl vereinbaren läßt; nicht jedoch darf aus der materiellen Antwort ein Präcedenzfall geschmiedet werden, daß sie unbedingt zu ihrer Erteilung verpflichtet wäre. Mit keinem Worte wehrt sich der Kanzler gegen eine bloße Außerungspflicht.
Der unter normalen Verhältnissen allgemein übliche Modus, eine Interpellation zu beantworten oder die Antwort aus anzuführenden Gründen abzulehnen, ist eine feststehende Institution geworden, die alle Anzeichen des Gewohnheits- rechtes an sich trägt.
Selbstverständlich und kaum zu erwähnen nötig ist es, daß, wenn ein parlamentarisches Kollegium es seinen Mit- gliedern gestattet, die Regierung zu interpellieren, ohne auf ein damit korrespondierendes Gesetz hinweisen zu können, daraus nicht ohne weiteres eine Außerungspflicht des Be- fragten konstruiert werden kann. Die selbständigen Ge- schäftsordnungen vermögen nur fUr die Mitglieder des Hauses eine Art Recht und Pflicht zu konstituiren, für die Regierung aber nur insofern, als diese gehalten ist, den so
^ Thudichum, Verfassungsrecht des norddeutschen Bundes und des Deutschen Zollvereins, 1870, S. 213 f.
^ Rönne, d. StR. des Deutschen Reiches, 2. Aufl., I. S. 268Anm.3.
VI 2.
37
I
geregelten interncTi Geschäftsgang der Kammer zu reapek- tiereu. Erst die tatsÄehliclie Auätibung von Interpellationen and tatsÄchliche Äußerungen des Befragten darauf, die durch geraume Zeit anstandslos erfolgen, schaffen eine Äußerungapflicht, so daß die „Äußerungen" nicht mehr als inhaltsleere Akte der Kourtoisie erscheinen; auf diesem Punkte der Entwicklung sieht diesbezüglich das Parlaments, recht aller Kulturataaten.
B. Das Interpellatlonsrecht mit ansdrQckliehei-
geHetzIicfaer Ornndlage.
Georg Meyer' sagt: „wo das Interpella-
tionsrecht in der Verfassung förmlich anerkannt ist, hat der interpellierte Regierungs Vertreter stets eine Antwort auf die Anfrage zu geben. Nur braucht diese nicht not- wendig eine materielle Auskunft zu enthalten, es steht ihm frei, eine solche zu verweigern, wenn eine öffentliche Be- handlung der fraglichen Angelegenheit mit dem Staatswohl nicht vereinbar erscheint" '.
Diese richtige Auflassung, daß Interpellationen, die ihre Zulässigkeit auf den Wortlaut des Gesetzes gründen, eo ipso mit einer Äußemngspflicht des Interpellierten kor- respondieren, findet in den verschiedenen Verfassungen und in der Litteratur bald klaren, bald minder klaren Ausdruck. Die Unklarheiten, besonders in der Litteratur, resultieren u. A. auch daraus, daß das Wort „Antwort" bald in der ideutung „materielle Beantwortung" bald auch in der
< Mever-A.asohtilz. LclirbuL^b d. Ueuteclien SlR., 190Ö, B. 299f.
' Üau eine nittcrielte Autwort hei bestehender ÄuBemu^pflicht mit
lia auf d«» flffeutliohe Interease oder unter Angabe von OrSnden
gelehnt werden kiinn, sprechen raanclie Oesetie siiidrflcklicb iuh,
" Art. IX der ZuMtiartikel «ur L.O. (Ür du Königreich Böhmen,
; Oe<i V. T. Mni 1877 Tür latrien, L.O. B. S ; Art 1 1 Os>. v. 2. Febr.
»77 für Steiermsrk, L.G. B. 6: Siohi. L.O. g 31; Verf. v. Hamburg
L, 65; V. Lilbeek Art. 45.
38 VI 2.
Bedeutung einer mit Gründen versehenen Ablehnung der- selben gebraucht wird^.
Wenn, wie schon ausgeführt, selbst für jene Parlamente, die ein Gesetz zur Einbringung von Interpellationen nicht ausdrücklich kompetent erklärt, dennoch mit Hinblick auf ihren ganzen Wirkungskreis die Zuständigkeit dazu an- genommen werden mufi, und es zumeist auch nicht an einer nachfolgenden Außerungspflicht (mag man diese nun als gewohnheitsrechtliche auffassen oder nicht) fehlen wird, so muß unbedingt die Konsequenz aus der gesetzlichen Fest- legung der Interpellations-Zuständigkeit gezogen werden, daß die Regierung auf jede Anfrage zu reagieren hat^.
Interpretiert man z. B. nur rein juridisch § 21 Ges. ü. d. R.V. (Österreich): „Jedes der beiden Häuser des
R. R. ist berechtigt, die Minister zu interpellieren '^
und § 12 Abs. 2 des G.O.Ges., (gleichlautend mit § 08^ G.O. Abg.H.): „Der Interpellierte kann sogleich Antwort geben, diese für eine spätere Sitzung zusichern, oder mit An- gabe der Gründe die Beantwortung ablehnen", dann kann man diese Bestimmungen doch nicht so auslegen, daß ihr Sinn schließlich höchst nichtssagend lautet: Jede Kammer kann die Minister interpellieren, diese können sofort oder spätei Antwort geben oder eine solche mit Angabe von Gründen ablehnen, oder vollständig schweigen. Das Letztere widerspricht durchaus einer gesunden, ungekünstelten Auf- fassung, auf welche doch auch Gesetze in ihrer Auslegung An- spruch erheben können. Nur der absolutistische Niederschlag vergangener Epochen, der noch tief in den Gliedern steckt, mag die Ursache sein, daß eine solche Interpretation ernst-
1 Vergl. österr. Ges. ü. d. R.V. § 21 ; Ungarn, Ges. Art. m, 1847/48, § 29; Sachs. L.O. § 31 u. a.; Ulbrich im österr. Staatsworterbuch II, 2. Hälfte, 1897, S. 924, wo ohne Interpretation § 12 G.O. Ges. zum Ab- druck gelangt; Manuel Torr es Campos, das Staatsrecht des König- reichs Spanien, S. 37; u. a.
*^ Über „Pflichten" als „logische Korrelate" von „ausdrücklich an- erkannten Rechten", vergl. Lab and, Staatsrecht, I. S. 285 Anm. 2; daft einer „Kompetenz" keine „Pflicht" zu entsprechen braucht, s. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 25 f. Anm. 1.
vr 2.
3!)
lieh diskutiert wurde. Ein merkwHrdigeH f/iefnhl der SchwOohe, der Unsicherheit, und ein JingstUcheB Hangen an dem rein Formalen spricht aus dem Zweifel, der sich im Berichte des G.O. Ausschusses ' findet, wonach aus dem Gesetze nicht „zum klaren Ausdrucke" komme, ob dem Interpellierten überhaupt die Verpflichtung obliege, auf eine Anfrage „irgendwie zu "reagieren". Der politische Kampf bis aufs Messer, der im österr. Abg.H, entbrannt war, die obstruierenden Interpellationen, sowie die Verwahrlosung der gesamten Geschäftsführung lassen ja solche Bedenken über die selbstverständlichsten parlamentarischen Institu- tionen verstündlich erscheinen — für den objektiven, außer dem Kriegsrayon stehenden Beobachter bestehen sie nicht. Und faßt man die „Äufierungspflicht" vom politischen Standpunkt ins Auge, so ist sie ebenso unbedingt zu be- jahen; der zitierte § 21 des St. G.G. gehört nicht zu jenen, die praktisch zwecklose Sclieinhefugnisse formulieren, «ondern er betont die Kontrollkompetenz des Rcichsratea, I die sich gewiß nicht in Fragen einerseits und im Schweigen ■ anderseits erschöpft
Keineswegs freilich braucht die Äußerung des Inter- pellierten eine materielle Antwort auf die Interpellation zu enthalten; eine mit Gründen versehene Ablehnung der Antwort genügt, und mehr will auch diesbezüglich der oben- genannte, bewußt bescheidene G.O.Ausschuß , wie aus der I von ihm vorgeschlagenen Ntuformulierung des § C8C G.O. ^ [■ manifestiert, gar nicht anerkannt wissen.
Die Staatsraison, verschleiernd oft auch als „öffentliche Wohlfahrt" bezeichnet, kann sehr wohl einer materiellen I. Antwort unbedingt entgegenstehen. Ist die Kegierung der ^Ansicht, cB sei dies bei einer eingebrachten Interpellation Ider Fall, dann hat sie sogar die Pflicht, ihre materielle I Erledigung zu versagen, damit aber auch die Folgen davon
40 VI 2.
auf sich zu nehmen. Besonders häufig treten solche Fälle bei diplomatischen Angelegenheiten auf; sehr richtig sagt Redlich * : „In betreßt der Mitteilung diplomatischer Akte muß . . jede Regierung die Kompetenz besitzen, rein dis- kretionär zu beurteilen, was veröffentlicht werden kann, und was nicht". Oft werden über eine Angelegenheit Er- kundigungen eingezogen, die entweder noch nicht spruch- reif ist, oder erst dann wird, wenn sie bereits der Geschichte angehört, in die Domäne des Historikers und nicht mehr in die des praktischen Politikers fkllt. Aus dem Aufsehen und den schweren Verstimmungen, die häufig selbst mit der Veröffentlichung von sogenannten Memoiren einst füh- render Staatsmänner Hand in Hand gehen, kann die Rich- tigkeit dieser Deduktionen ersehen werden.
Aber nicht nur ausschließlich auswärtige Angelegen- heiten sind es, für die „Schweigen" — „Gold" zu bedeuten vermag, sondern auch innerpolitische", ebensowenig wie ein ängstliches Vertuschungssystem läßt sich auch die regellose Flucht in die Öffentlichkeit jederzeit rechtfertigen. Die „öffentliche Meinung" beeilt sich gar zu oft, jedes beklagens- werte Ereignis sofort als ein Symptom unter Vielen für die Verrottung der Verwaltung, zuweilen sogar des gesamten Kulturzustandes auszuposaunen ; vorschnelle (oder aus Partei- taktik absichtlich irreführende) Schlußfolgerungen schaden oft nicht nur dem Prestige der Exekutive überhaupt, son- dern speziell auch der Sache selbst, der sie vielleicht dienen sollen.
Natürlich darf hier nicht generalisiert, sondern es muß spezialisiert werden ; es wäre ganz verfehlt, angelsächsische Verhältnisse etwa zum Beweis für die Stichhaltigkeit kon- tinentaler Forderungen heranzuziehen; und auch die staat- lichen, politischen und sozialen Zustände auf dem Festlande differieren abermals in den verschiedenen Staaten, ja sogar
^ Redlich, a. a. O., S. 296.
VI 2.
41
N
Staatsteilen, derart untemnander, daß das, was bier für die Öffentlichkeit geeignet ist, dort ungeeignet ist.
Ganz allgemein und für die verschiedensten Verhültnisac passend, ist deshalb jene Ausgestnllung des Interpellationg- rechts, die es der Regierung überläßt, zu antworten, oder die Antwort mit Gründen versehen, abzulehnen. Diese Auf- fassung des Interpellatron&reclita für die Kammern und in den Kammern ist auch praktisch die herrschende. Die Größe des Vertrauens eines Hauses zum guten Willen, zuv Ehrlichkeit und zu den Fähigkeiten eines Kabinettes ent- scheidet dann darüber, ob das gemeinsame Zusammen- arbeiten zwischen Regierung und Parlament bald mehr bald weniger differenzen reich lat,
und selbst wenn eine Verfassung wie z. B. die dos .Königreichs Ungarn' bestimmt: „Die Minister sind ver- lichtet, in jedem Hause des Reichstages, welches es wünscht, zu erscheinen und die erforderlichen Aufklärungen zu geben," so darf das nicht etwa so verstanden werden, daß die Mi- nister unter allen Umständen materielle Äufklftrungen anf Interpellationen zu leisten haben^; eine solche Auffassung eotsprSche zwar den Intorpretationsregeln, die bezüglich der Privat-Rechte Anerkennung fände», nicht aber jenen, die für Verfassungsbestimniungen gelten müssen. Verfassungen können nie rein theoretisch ihrem Buchstaben nach ausgelegt werden, immer hat die Auslegung auf die Staatsraiaon Rück- eicht zu nehmen, besonders dann, wenn sie in Einzelfällen keine subjektiven Rechte schufen.
Es kann Staatsorganen nicht zugemutet werden, die Verfassung so zu interpretieren, daß das Staatäwesen ge- fÜthrdet würde, statt gefördert. Das übersehen alle atomi- stischen Theorien, die als letzte Konsequenz für alte staat- liclie Aktionen den ungeschriebenen und gleichwohl allen
' G«., Art. 11[ g ai, V. .1. 1847/48,
' Siehe «nch Art, 50 dor rumäniBohen Terfasaung: «Lei miniatreH sant tenna de donner de« expliculinna aur leiir tcneur tontea le» foii i^ iwChMnbrealeademsndenl," Da rede, Leaeanitinodemei^.Ed. II, S.220.
42 VI 2.
Konstitutionen inhärenten Satz negieren: rem publicam vivere necesse est, te vivere non est.
Daher kann auch § 29 für den ungarischen R.T. nur eine Äußerungspflicht des Interpellierten, nicht eine Ant- wortspflicht i. e. S. involvieren und dasselbe gilt für alle Verfassungen, die das Interpellationsrecht objektiv dem Par- lamente zusprechen.
Neben jenen Verfassungen, die das Interpellationsrecht ausdrücklich behandeln, und jenen, in denen es keine Er- wähnung findet, steht noch eine dritte Gruppe, für die, so merkwürdig es klingen mag, Zweifel obwalten, ob sie das Interpellationsrecht regeln oder nicht. Hierher gehört die Verfassungs-Urkunde des preußischen Staates; die hier auftauchende Frage wird im besonderen Teile untersucht werden.
Wie wenig es übrigens praktisch von Bedeutung ist, ob das Gesetz die Materie der qualifizierten Anfragen be- handelt, beweist ein kurzer Blick auf statistische Angaben. Im englischen Unterhause, wo nicht einmal die Parteisitte vom Minister eine Antwort fordert und das nachdrückliche Bestehen des Interpellanten darauf als geschäftsordnungs- widrig angesehen wird, wurden im Jahre 1901 während der Wirren des südafrikanischen Krieges 7180 Interpella- tionen gestellt undbeantwortetM das preußische Abg.H., dessen gesetzliches Interpellationsrecht bestritten ist, erlebte in der Zeit von 1887 — 1906 (abzüglich der zurückgezogenen) 92 Interpellationen^, von denen 8 unerledigt blieben; ein trauriges Resultat zeigt das österr. Abg.H., in dem z. B. in der 13. Sess. 1897 von 336 Interpellationen nur 4, d. i. 1,19 ^/o beantwortet wurden^, — und von allen drei er- wähnten Kammern ist es gerade diese, welche durch die Verfassung und das G.O.Ges. am besten mit Bestimmungen für das Interpellationsrecht bedacht wurde.
1 Redlich, a. a. O., S. 2:35 f. Anm. 2.
2 Siehe bes. Teil.
^ Siehe Regierungsvorlage S. 31 u. bes. Teil.
rVI 2. 43
Nicht deraiiagespi'oohene Kothtsstandpunkt und nicht die mehr oder minder klare Rechte- lage sind maßgebend für die den Inter- pellationen entsprechende Außerungspflicht, ndern in erster Linie das tadellose Funktio- Knieren der parlamentarischen Einrichtiingen L'in einem Staate.
Parlamentarisches Regime oder mchtparlamenlarisches J Regime — keine Regierung schlechtweg wird einem Parla- l^nent, das die Aufgaben seines Wirkungskreises erfaßt und 1 Tollzieht, heute die Zuständigkeit zur Kontrolle durch F prinzipielle Nichteried igungder Anfragen erschweren, sondern t«D dem eingebürgerten Usus der Äußerungspflicht womöglich Inrch Erteilung einer materiellen Antwort festhalten; wo
■ dagegen Interpellationen di>n typischen Charakter politischer ' Hachenechat't an faich tragen oder übertriebenen lokal- patriotischen Neigungen entspringen , dort wird auch die Regierung es mit ihrer Außerungspäicht nicht sehr ernst
■■ nehmen können '.
■ Im Zustande des Kampfes weichen die Rechtaf ragen llonsequcnt gogeuUber dem Bedürfnisse nach politischer ' Zweckmäßigkeit zurück ',
Ein Unterschied ist gleichwohl vom Standpunkte der rechtlichen Theorie aus zwischen dem Interpellationsrecht, I das sich auf den Wortlaut des Gesetzes stützt und dem, sich nur aus dem Wirkungskreis einer Kammer ab- leiten läßt, festzustellen. Die Nichtanerkennung des ersteren ^urch die Regierung, die auch aus der konsequenten Nicht- BtSrledigung der Anfragen manifestiert, ist eine Verfassungs-
I In den niliigen Jahren 1861—1885 wnrde ii BiBig über die HUfte, in einer SesBion vmrdeii teilten luterpelUlionen beintnortet.
* \etgl Redlich, a. h. O., S. If32ff., Aber das Vorgehen vou
iemng, Speaker nnd Unterhausmehrheil gegen die obatruiereoden irischen
ionalisten. Plate, die (i.O. den prenB Abg.H., ». 124: Ini Jahre 1SII$
neigerte lich das Ministeriuiq, an den Verhau dloDgen des preuß, AI'g.H
- ■ - ÖO Ab». 2 V.U. toilKinehmen.
44 VI 2.
Verletzung, welche unter Umständen mit der Ministerankläge beantwortet werden könnte; eine Nichtanerkennung des letzteren bedeutet rechtlich nur einen Interpretationszwiespalt zwischen Parlament und Regierung.
Eine eingehende juridische Untersuchung über die Möglichkeit, ein Ministerium oder einzelne seiner Mitglieder wegen Verletzung eines gefestigten Gewohnheitsrechtes staatsrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, würde interessant und anregend sein, wäre nicht die Ministeranklage als solche auf dem Kontinente eine Totgeburt^ gewesen — ein „toter Buchstabe" geblieben. Und noch aus einem zweiten Grunde wäre in praxi eine Ministeranklage wegen Verletzung des Interpellationsrechts kaum oder gar nicht in jenen Staaten möglich, wo keine Frist gestellt ist, innerhalb welcher eine Äußerung des Interpellierten zu erfolgen habe.
So bleibt schließlich nur die politische Verantwortlichkeit auch in staatsrechtlichen Fragen nach der Gesetzmäßigkeit eines Aktes über — aber diese geltend zu machen, falls Interpellationen durch Nichterledigung von Seite der Re- gierung ihren Zweck als Kontrollmittel zu verlieren drohen, steht jeder Kammer zu.
Wenn das materielle Interpellationsrecht die Zuständig- keit eines Hauses zur Stellung von Interpellationen an Mitglieder der Regierung ausspricht, so bestimmt das formelle dagegen die Art und Weise, w i e qualifizierte An- fragen eingebracht und erledigt werden. Die Bedeutung des formellen geht aber weit — ähnlich der des Straf- prozesses — über die Bedeutung rein formaler Form- vorschriften hinaus; es bestimmt z. B., ob nur das Parlament durch seine Mehrheit oder ob auch eine Minderheit, vielleicht
^ Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlang, S. 41 ff.
Allerdings wird es oft großer Schwierigkeiten nicht entbehren, in praxi ein „Gewohnheitsrecht" von einem einfachen „Usus" za scheiden; so findet z. B. Redlich (a. a. O. S. 657), wenn er die Verweigerung der Sanktion für eine Bill durch die Krone Großbritanniens als „Brach des positiven Rechtes" auffaßt, von manchen Seiten Widersprach and die „Theorie" macht ebenso viel dafür wie dagegen geltend.
"VI 2. 45
Eir schon ein Mitglied des Haueea deu Informatioue- und Kontrolleapparat in Bewegung setzen kann, Daa ist von nachhaltigstem Einfluß besonders dort, wo das Wahlsysteni den in den breitesten Schichten der Bevölkerung basierenden Parteien eine der Zahl nach nur geringe Vertretung er- möglicht, eine Vertretung, der für sich allein durch rigorose Bestimmungen über die Anzahl von Mitgliedernj welche eine Interpellation unterstützen müssen, um sie relevant zu machen, die Fähigkeit genommen ist, .Äußerungen der
, Minister zu veranlassen.
Überdies regelt das formale Interpellationareeht die
Iform der Antwort, daß sie schriftlich oder mündlich erteilt
rwird, setzt deren Behandlung im Plenum fest, indem bald
P]Debatten und Anträge im Anschluß daran gestattet, bald
l'Tersagt werden und dergleichen mehr.
Eine Erörterung dieser wichtigen Fragen und ihrer
ili&sung in einzelnen parlamentarischen Kollegien erfolgt im
■ aSchsten Abschnitte.
4. Erscheinungsformen des Interpellatlonsrechtes.
Nach der Darlegung des Wesens und der Erkenntnis der Ursachen, die zu Interpellationen und zur Ausbildung eines Interpellationsrechta führten, mllssen nun die Erschei- nungsformen, unter welchen das Informations- und Kontroll- recht in die Wirklichkeit umgesetzt wird, einer Untersuchung unterzogen werden. So allgemein und konform die Vor-
Iftuflsetzungen sind, auf denen das Interpellationarecht beruht, io allgemein die Ziele sind, denen es dient, ebenso mannig- Bch und verschieden sind die Bestimmungen über eine Geltendmachung in den einzelnen Kammern. Als Form- Vorschriften, die den Geschäftsgang regeln, stärken bder schwächen sie seine Potenz, machen es zu einer scharfen Waffe selbst kleiner Minoritäten oder behalten seine Realisierung der überwiegenden Kammer- Mehrheit vor. Über die Äußerungspflicht, die der Kompetenz zur
46 VI 2.
Anfrage entspricht, wurde bereits gesprochen; sie ist ein generelles Merkmal des Interpellationswesens ; dagegen sind noch die wichtigsten speziellen oft nur in diesem oder jenem Parlamente zur Ausbildung gelangten Momente zu erörtern. Auf kleine Abweichungen im Einzelnen kann nicht eingegangen werden und es muß diesbezüglich auf den besonderen Teil dieser Abhandlung verwiesen werden.
Fristbestimmimgen bezüglich Interpellationen.
Eioe Bestimmung^ daß der Interpellierte innerhalb einer gewissen Frist zu antworten habe, findet sich kaum in einer Verfassung und ist nur in wenigen Parlamenten durch die G.O. oder einen Brauch festgelegt.
Präsident Grövy erklärte 1874^ in der französischen Deputiertenkammer, es sei „une v^ritable confiscation du droit d'interpellation", wenn eine solche Frist nicht gesetzt sei. Dieser Ausspruch hat allerdings in Frankreich eine besondere Bedeutung, denn das einzelne Mitglied gibt gewissermaßen nur die Anregung zur Interpellation und die Kammer selbst ist es, die interpelliert, indem sie inner- halb einer Frist von vier Wochen eingebrachte Interpella- tionen über die innere Politik (für solche der äußeren exi- stiert keine Begrenzung) zur Behandlung bringt; bei der Fixierung des Datums hat die Regierung nur eine beratende Stimme. Diese Frist von vier Wochen macht es der Kammer unmöglich, Anfragen dadurch, daß sie sie nicht auf die T.O. setzt, in praxi zu unterdrücken^, aber auch die Regierung, beziehungsweise der Interpellierte, sind da- durch wirksam gehindert, durch Zögern und Hinausschieben des Antworttermines, ohne die Antwort direkt zu verweigern, den loterpellanten solange hinzuhalten bis die Anfrage
1 S. Pierre, a. a. O., S. 798.
2 In Belgien darf nur, falls der Interpellant zustimmt, die Inter- pellationshandlung länger als acht Ta^e verschoben werden. Manuel i^ Tusage des membres du senat et de la chambre des representants. 1897, S. 82.
VI 2.
47
nicht mehr akut, interesselos oder durch Tataachen über- holt ist'.
Viel einschneidender wäre die Einführung einer Frist zur Äußerung des Befragten fUr jene KaDunern, in denen die Unterzeichnung einer Interpellation durch relativ wenige Mitglieder des Hauses genügt, um den Informalions- und Kontrollapparat automatisch spielen zu lassen. Ein der- artiger Vorschlag ist im Berichte des G.O.Ausschusaea des österreiohiachen Abg.H.^ enthalten; er will der Regierung zur Erfüllung ihrer ÄußerungspfÜcht eine , angemessene Frist" setzen und sagt, in den meisten Fällen dürfte ein „Zeitraum von sechs Wochen" genügen. Dieser Antrag bedeutet einen gewaltigen Vorstoß des Parlamentes, der besonders für das österreichische Ahg.H. ein wenig ver- wunderlich ist, da die bei ihm zu konstatierende Entartung des J. K. eher eine Beschränkung und Abschwäcimng dea-
twlben erwarten ließe; diese waren allerdings auch von der ^nrch das Herrenhaus unterstützten Itegierung geplant und ÜB scheint nicht ganz unwahrscheinlich, daß die Xeuforderung ^es Abg.H. nur als Kompensationsobjekt für das Fallen- loBeen beengender, von anderen Staatsorganen befürworteter Regeln gedacht war, demnach der Vorschlag nur als poli- tischer Trick aufgefaßt werden müßte.
In England bestimmt einseitig der Interpellant, an welchem Tag er die Antwort der Regierung auf seine An- frage wUnscht, aber dort ist dem J. R. seine Spitze durch mancherlei Verklausulierungen — Beschränkung des ganzen Verfahrens auf eine kurze Spanne Zeit, Häufigkeit der ^K^hriftlicheu Antwort u. dgl. — genommen, so daß der
' NatJi g 74 iler G.I1. des preuB. Abg'h. und § 70 der 0.0. d«i D.E.T. sind auch Interpellationen mit dem Ablnuf der Sitzungsperiode, in welahcT «ie eingebracht und in welcher sie oiclit belinndelt wurden, für Hrledig:t in orschteo. Ähnlich verfithrt auch die Fraiin anderer KKmmeru, jedoch nicht die des francSsiechen ParUment«. Über das '" p der KoDtäDuitit und Diskontinuität der parlameDtari schon
iiKtioo UDdOsHchSftsfiihruag des Ssterr. R.R. vergl. Harike, Orund-
I» TuriaasTiugB rechtes, ld05, S. 70.
' lieri«bt dos Abg.O. S. 24; 30,
48 VI 2.
„Befristung" durch das fragende Mitglied keine sonderliche Bedeutung zugesprochen werden kann.
Jedenfalls liegt in dem Mangel einer zeitlichen Grenze, innerhalb welcher die Äußerung fallen mufi, eine Abschwä- chung der Bedeutung des J. R., aber sein politischer Wert wird dadurch nicht sehr stark tangiert und in regelmäßig funktionierenden Kammern dürfte nicht häufig ein Grund vorliegen, diesen Mangel zu beklagen.
Keineswegs scheint es den Bedürfnissen der Praxis an- gemessen, in Bezug auf die Beantwortungsfrist für Inter- pellationen der inneren und der äußeren Politik gleiche Be- stimmungen zu treffen, und Pierre ^ äußert sich darüber fol- gendermaßen : Les auteurs des r^glements n'ont pas entourä des memes garanties le droit d'interpellation sur la politique extörieure, parce qu' ils ont voulu röserver ä la Chambre pleine libertö d'ajourner des däbats qui pourraient compro- mettre nos relations d'amiti^ avec les puissances ^trang^res. Im allgemeinen wird sich korrigierend hinzufügen lassen, daß die Entscheidung, wann auswärtige Angelegenheiten spruchreif seien, wohl am besten in die Hand der Regierung zu legen ist, denn ihr muß man zuerst die Fähigkeit zu- sprechen, die internationale Lage zu überblicken und daher ein Urteil zu fallen.
Auch was die internen Angelegenheiten eines Staates anlangt, wird es nicht jederzeit wünschenswert sein, sie vor der Öffentlichkeit zu besprechen und zu glossieren ; ein Mittelweg zwischen den parlamentarischen Ansprüchen auf Kontrolle und den praktischen Bedenken, diese immer rück- haltslos zu gewähren, läge in der Ausgestaltung des Frage- rechtes von Kommissionen, deren Mitgliederzahl enger be- grenzt und deren allenfalls wünschenswerte Diskretion nicht allzuschwer zu erzielen ist ; davon wird noch die Rede sein.
Bei diesen Erörterungen handelt es sich zuvörderst um eine Frist zur Erteilung materieller Antworten und die
^ Pierre, a. a. O., S. 801.
VI 2. 49
bloäe Äußerung, eine Angelegenheit eigne eich noch nicht L zur offiziellen Diskussion, wird auch bei kritischen Fragen ftschwerlich die Lage verwirren.
r In jenen Parlamenten allerdings, welche auch Debatten
über negative Antworten des Interpellierten kennen, kann durch unzeitgemäße Besprechungen immerhin Unheil ge-
^ stiftet werden. Es hängt eben immer und jederzeit von der Einsicht, dem Takte und dem guten Willen einer Kammer ab, ob sie die ihr zugewiesenen Aufgaben zum staatlichen und politischen Nutzen auszuführen bestrebt ist oder nicht. Eine Befristung der Außorungapflicht wird dort erklärlich sein, wo ein chronisches Mißtrauen zwischen Regierung und Parlament Platz gegriffen hat, wo eine Regierung sich ihrer Stellung im konstitutionellen Staate wenig bewußt ist, oder wo die Rammern auf Kosten der Staatsraiaon die eigene Machtspbäre zu erweitern suchen; die Befristung wird dort zur Notwendigkeit, wo sie eJn Zwangsmittel für das Haus lelbst enthält, Interpellationen verhandeln zu müssen, die . sonst durch Hinausschieben der Diskussion begraben Btönnte, und die Befristung wird schließlich unbedenklich ind einwandfrei sein, falls sie in einem Parlamente geltende Horm ist, dessen politische Einsicht durch Beachtung der <ehren der Vergangenheit und Jahrhunderte langer Erfah- ■Tongen vertieft wurde.
Wenn wir historisch das iDterpellationsrecht überblicken, F&Ut es auf, daß es im englischen Parlamente aus einfachen Anfragen der Mitglieder an die Regierung entstand. Auf dem Kontinente begann es in Frankreich mit dem Dekret der Constituante' vom 21. Juli 1701, das den Ministem die Pflicht auferlegte, der Deputierten kämm er Auskunft zu erteilen. Seine Ausbildung und Verallgemeinerung in und fllr die verschiedenen parlamentarischen Kollegien vollzog Mch allmählich, erlitt mancherlei Hemmungen und so folgte
50 Via
z. B. in Frankreich auf eine Biüteperiode der Interpellationen im Jahre 1848 ihr vollständiges Verschwinden vier Jahre später und über ein Jahrzehnt währte diese interpellations- lose Epoche; inzwischen bildeten sich allerdings Informations- aushilfsmittel als Surrogate, doch eigentliche Interpellationen waren unstatthaft, gesetzwidrig. Interessant sind die Äuße- rungen MohTs und Mittermaiers aus den Jahren 1829 bezw. 1838 über das Interpellationsrecht; sie beweisen dessen embryonales Dasein in den Ständekammem der deutschen Staaten. MohP schreibt: „Mit den einzelnen Ministerien kommunizieren die Kammern durch ihre Präsidenten. Dasselbe ist der Fall bei den landständischen Kommissionen, welche ebenfalls das Recht haben, mit den betreffenden Ministerien Rücksprache zu nehmen. ... Es handelt sich hier um bloße Geschäftskommunikationen, in welchen kein definitiver Beschluß der Ständeversammlung oder der Re- gierung mitgeteilt, sondern z. B. nur die Mitteilung von Urkunden oder von faktischen Verhältnissen verlangt werden soll ..." Und Mittermaier^: „Über das Recht der Mit- glieder durch Fragen an die Minister . . . irgend einen be- liebigen Gegenstand, der nicht auf der T.O. steht, zur Sprache zu bringen, erklären sich die Geschäftsordnungen nicht oder nur sehr ungenügend." Es folgt nun ein Hin- weis auf England und Frankreich, die zur Zeit hierin weiter vorgeschritten waren, dann filhrt der Autor fort:
„Daß der gefragte Minister nicht genötigt werden kann, eine Frage zu beantworten, versteht sich ; eigenes Interesse wird ihn oft antreiben, zu antworten, damit nicht sein Schweigen als Zugeständnis oder als Schwäche ausgelegt werde. Solche improvisierte Fragen und Äußerungen . . , haben für sich, daß dadurch oft andere, sonst durch eigent- liche Motionen weitläufige ftSrmliche Verhandlungen ab-
* Mohl, Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg, I, 8. 579 und 585.
■ Mittermaier, in Welker 's Staatslexikon, S. 629, im Abschnitte ,)Ge8chäftsordnung" .
mitten werden, und daß oft momentane EreigiiisHe An- fragen und Bemerkungen im Interesse des Volkes fordern können."
Die Entwicklung der Parlamente machte zwar solche primitive und uns selbstverständliche Begründungen des Interpellationsrechts überflüssig , brachte es jedoch auch mit sich, daß der Ausübung des Rechtes gewisse Schranken gesetzt werden mußten, wenn nicht durch überflüssige An- fragen Zeit und Geduld der Kummermitglieder über das nötige Maß hinaus in Anspruch genommen und der normale Geschäftsgang nicht fortwährend gestört werden sollte. Die verschiedeneu Kollegien schützten sich nun auf verschiedene Art und Weise gegen einen Mißbrauch des Interpellationa- rechts und alle waren bestrebt, neben der theoretischen und praktischen Anerkennung der Interpellationen doch auch hemmende Regeln zu schaffen, die eine rücksichtslose oder die parlamentarischen Arbeiten gefUhrdende Ausnützung des Rechts zu verhindern geeignet schienen. Dafür gab es mancherlei Mittel, die zum Teil historisch zu erklären sind.
Fürs erste kommen in Betracht die Bestimmuugen über den Interpellanten. Sie enthalten folgende drei ■uppeo :
a) ein einzelnes Mitglied interpelliert;
b) eine gewisse Anzahl von Mitgliedern ist zuständig, Interpellationen einzubringen;
c) die Kammer, bezw. die Kammormehrlieit, inter- pelliert.
a) Dies tinden wir klar in England verwirklicht. Das Interpeilationsrecht ist hier am individuellsten, doch werden wir auf seine Beschränkungen, die es durch die Fixierung der Ausübung auf eine gewisse kurzbemessene Zeit und durch die Einbürgerung der schriftlichen Antwort erfährt, erat im folgenden zu sprechen kommen und hier nur darauf hinweisen, daß Mißstände, die durch die liberale Einführung, jedem Einzelnen die Interpellationsmöglichkeit zu ge-
■«ri
52 VI 2.
währen, aufkeimen könnten, durch verschiedene Präventiv- maßregeln verhindert werden sollen ^.
b) Auch im D,R.T. dem österr. R.R. und dem preußischen Landtage ist anscheinend ein einziges Mitglied allein der Interpellant, aber es bedarf der schriftlichen Unterstützung einer gewissen Anzahl von Kollegen (9 — 29), wodurch tat- sächlich erst beim Vorhandensein von lOr— 30 Interessenten dieser Minderheit die Möglichkeit zu interpellieren ge- geben ist^
Daß in der Theorie nur e i n Interpellant vorhanden ist, dem eine Gruppe anderer Mitglieder nur ihre Unterstützung verleiht, äußert sich in der Praxis darin, daß er — ein primus inter pares — bei der Behandlung der Interpellation im Hause eine bevorzugte Stellung als Redner einnimmt
Was diese Interpellation durch Gruppen anlangt, so erzielt sie den angestrebten Erfolg einer wünschenswerten Beschränkung der Anfragen auf wichtige Angelegenheiten — da man nur für solche die genügende Anzahl unterstützender Interessenten erwarten zu können glaubte — tatsächlich nicht inmier. Der Parteiverband und die kollegiale Kourtoisie versagten, wo das Interpellationsrecht im Vereine mit anderen parlamentarischen Institutionen verwahrloste, wohl selten einem unterstützungsuchenden Interpellanten ihre Mithilfe; wo aber Interpellationen von sich ihrer Stellung bewußten Mitgliedern streng technisch gehandhabt werden, scheint eine derartige Beschränkung überflüssig, da im allgemeinen eine Selbstbeschränkung des Einzelnen zu erwarten ist.
^ Zwischen den „einfachen Anfragen" und den eigentlichen Inter- pellationen kommen in Frankreich die auch dem einzelnen Mitgliede zu- stehenden questions adress^es aux ministres in Betracht, doch werden sie aus bestimmten später näher zu erörternden Gründen nicht hier, sondern im nächsten Abschnitte besprochen. Yergl. auch SchoUeuberger, Grundriß des Staats- und Verwaltungsrechtes der schweizerischen Kantone 1900; I. Bd. S. 205, wonach in den meisten Kantonen ein einzelnes Mit- glied interpellieren kann; eine Interpellationsdebatte ist nicht zulässig.
''^ Im osterr. Abgh. schwankte die zu einer Interpellation notwendige Anzahl unterstützender Abgeordneter seit dem Jahre 1861 zwischen 15 und 20; ein neuerlicher Vorschlag wollte sie auf 80 erhöhen.
rvi 2.
53
c) Von dem Gesichtspunkte ausgehend, daß die einer Kammer zustehenden Rechte durch die Kamraermehrheit als Verkörijerung des Willens der Kammer ausgeübt werden sollen, gelangte man in Frankreich von der Interpellation Einzelner dahin, daß heute der Einzelne nur mehr gewisaer- maSen den Vorschlag macht, das Haus möge interpellieren und dieses setzt den Tag für die Erledigung der Anfrage fest^. In der preußischen zweiten Kammer* stand eine ähnliche Regel — über die Zulassung der von 31 Mit- gliedern unterzeichneten Interpellation entschied das Haue ohne Debatte ~ im Jahre 1849 einige Monate in Kraft; in Dänemark kann jedes Reichs tagsmitglied mit Ge- nehmigung des Thinges, dem es angehört, jede öffentliche Angelegenheit zur Verhandlung bringen und eine Erklärung darüber von Seite des Ministers verlangen. Ebenso muß in Holland* jedes Mitglied, das zu interpellieren wünscht, die Erlaubnis der Kammer dazu einholen. Eine strenge Interpretation des § 21 Ges. ü. d. R.V. mlißte auch in Osterreich dazu führen , daß nur ein Haus als solches interpelliert, aber das G.O. Gesetz nahm eine andere Aus- legung der Verfassungsbestimmung vor.
Entschieden ist durch eine Interpellationsmöglichkeit, die nur der jeweiligen Mehrheit sicher gewährleistet, qualifizierte Anfragen an die Minister zu stellen, die Minorität stark beeinträchtigt und ihr ein wichtiger KontroU- behclf nur unter der Bevormundung der Majorität zu- gestanden. Wie sich diese zu ihr unangenehmen oder fUr
' OhichoD die Kammer alle Antrageu über die innere Pnlilik binnen vier Wochen aacli ihrer Einbringang Huf die T.O. stellen niuB, so hat sie eleichwoh] die Möglichkeit, ihr genehme Interpellationen za bevonngeo, da die Keilionfulge der Behandlung von dem Ennesnen des Hauses abhängt und die neit. einiger Zeit eingeführte BeachrAnkiing der den Interpollationen ppwidmeten Tage an ungünstiger Stelle angesetatt Anfragen nicht oder erst verepÄtet lur Erledigiuig kommen läßt S. a. bes. Teil: Frankreich.
" PUlB, a. a. O., 8. 118 f.
' Goos and Hansen, das Stsattrecht des Königreichs DAnemarh 1889, S. 70.
' Hart OS, das Staatsrecht des KBnigreichs der Niederlajide, 1686. S. 88.
54 VI 2.
sie interesselosen Fragen stellt, hängt sehr von der parlamen- tarischen Sitte und Eourtoisie ab.
Vorschriften, wonach Interpellationen schriftlich ein- gebracht werden müssen, um dann verlesen oder in Druck gegeben und an die Mitglieder verteilt zu werden, bezwecken erst in zweiter Linie den Schutz des Hauses gegen Miß- bräuche und fbrdern vor allem die Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens. Der Interpellierte bekommt dadurch die Anfrage in authentischer Fassung in die Hand und kann die Antwort, gestützt auf sein Material, durch- arbeiten oder durcharbeiten lassen, während rein mündliche Anfragen Mißverständnisse mancher Art nach sich ziehen können, die weder wünschenswert sind, noch einem regel- mäßigen Geschäftsgange zuträglich. Ferner hat die Schrift- lichkeit der Interpellationseinleitung für jene Kammern noch eine besondere Bedeutung, wo dem Präsidenten das Recht zusteht, Interpellationen, die dem Gesetze oder der Sitte widersprechen, zurückzuweisen. Widerspruchslos gilt dieser Usus in Frankreich und England und galt im Jahre 1849 für die zweite preußische Kammer.
Die Kritik des Präsidenten erstreckt sich zuerst auf die Verfassungsmäßigkeit der Anfragen ; es handelt sich darum, ob durch sie nicht der Wirkungskreis des Hauses überschritten wird. Aber selbst wenn sie in diesem Sinne verfassungsmäßig, wenn die Grundlage der Interpellation die Eignung hat, im Parlamente zur Sprache zu kommen, kann es noch immer möglich sein, daß ihre Form den ge- stellten Ansprüchen nicht entspricht. Wie weit solche Formvorschriften gehen können, ist z. B. in England zu ersehen und wird im besonderen Teile zur Darstellung gelangen.
Es versteht sich eigentlich von selbst, daß, da Ver- letzungen des An Standes und der Sitte durch Verlesung, Niederschrift oder Drucklegung nicht entschuldbarer werden, als wenn sie nur improvisierte Ausflüsse einer plötzlichen Erregung sind, derartige Unziemlichkeiten ebenso unter
" i. *- * *, fc \ .-
I VI 2.
55
die Disziplinargewalt des Vorsitzenden eines parlamen- tarischen Kollegiums zu fallen hätten, wie Ungehörigkeitea in einer Rede oder bei Zwischenrufen,
Gleichwohl beziehen sich die Bestimmungen über eine „gröbliche Verletzung der Ordnung" im D.R.T. (G.O., § ttOff.) ihrer ganzen Fassung nach nur auf tätliche und verbale; aber aus der Stellung, die der Präsident gemäß § 13 G.O. einnimmt („Dem Präsidenten liegt , . . die Hand- , habung der Ordnung . . . ob") wird mit Recht gefolgert werden können, daß er auch aoleiie Verletzungen der Ordnung, die durch SchriftatÜcke erfolgten, diszipllnariter zensurieren kann.
Mit bezug auf die mangelnde Disziplinargewalt der Vorsitzenden der beiden Häuser des iisterr. R.R. über den Inhalt von Interpellationen sagt der Bericht der Spezial- kommission des Herrenhauses ' : „Als eine Anomalie und als eine Lücke der geltenden Geschäftsordnungen stellt es I sich dar, daß der Präsident . . , zwar mit bezug auf die Reden der Mitglieder das Recht des Ordnungsrufes und der Entziehung des Wortes besitzt (G.O. des Abgh., § 57, vergl. G.O. des H.H., § 40), hingegen nach der derzeit herrschendenAuffassung mancher Faktoren jeder disziplinaren , Gewalt gegenüber dem Inhalt und dem Wortlaut selbst solcher Interpellationen entbehren soll, welche den Tatbestand I strafbarer Angriffe gegen Personen oder strafrechtlich ge- schlitzte Institutionen begründen oder gröbliche Verletzungen des Anatandes und der Sitte enthalten." Anschließend daran wird empfohlen, dem Präsidenten ein Zenaurrecht tlber den Inhalt von Interpellationen ausdrücklich zu- I cuaprecben und dabei auf Art. 43 der 0.0. des belgischen i Repräsentantenhauses hingewiesen, wo es ohne Unterscheidung l von Reden und Interpellationen seit 18i'7 heißt: „Le k pr^ident peut faire supprimer des ,AnnAles parle mentai res' du ,Compte rendu analytlque' les paroles confraires
' Bericht dei H.H., S
56 • VI 2.
ä Tordre ou Celles qui auraient iiA prononcies par un membre qui n'avait pas la parole." Nach dem Vorschlage der Spezialkommission wäre § 12 des G.O. Gesetzes unter anderem folgendermaßen abzuändern: „Enthält eine Inter- pellation nach dem Urteile des Präsidenten entweder eine gröbliche Verletzung des Anstandes oder der Sitte oder eine Äußerung, welche den Charakter der Strafwürdigkeit an- nimmt, so hat er den betreflfenden Teil der Interpellation sowohl von der Eintragung in das Buch und der Druck- legung, als von der Verlesung im Hause auszuschließen ** *.
Übrigens machten schon bisher mehrere Vorsitzende des österr. Abgh. in Anwendung ihrer Disziplinargewalt das Recht auf Zensur auch bezüglich Interpellationen geltend ^.
Jedenfalls ist mit einer Ausdehnung der präsidialen Ordnungsgewalt auch auf schriftliche Eingaben gewiß die Möglichkeit gegeben, einer gewissen Kategorie von Aus- wüchsen des Interpellationsrechts wirksam entgegenzutreten, doch — ohne einem übertriebenen Minoritätenschutz das Wort zu reden und die Majorität kann sich immer selbst helfen — setzen derartige Bestimmungen einen taktvollen und einsichtigen Präsidenten voraus, der unparteiisch von seinen Rechten Gebrauch macht. Dem „Speaker" wird dies fast allgemein und jederzeit nachgerühmt, doch selbst hier macht vorher der Clerk des Hauses, ohne selbst eine Ent- scheidung zu fällen, auf Unzulässigkeiten in der ein- gebrachten Interpellation aufmerksam. Es ist nicht immer leicht, zwischen einer „berechtigten Kritik" und dem, was in Geschäftsordnungen ein wenig verschwommen „gröbliche Verletzung des Anstandes und der Sitte" genannt zu werden pflegt, zu scheiden, und zu Zeiten großer Parteikämpfe und in Tagen entfesselter politischer Leidenschaften mag der Präsident — ungewollt — in den Wirbel des Streites gerissen werden, was gerade für die Zensur an Inter-
^ Vergl. Regierungsvorlage, S. 5, § 12 a. ^ Regierungsvorlage, S. 23 f.
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I
pellationen um so unerwünschter eracheintj da ja die Inter- pellationen ein hervorragendes Mittel der Kontrolle sind, dessen eminente Bedeutung in mancher Verfassung und in allen parlamentarischen Kollegien anerkannt wird. Zum mindesten müßte der Entscheidung des Präsidenten in der G.O. ein klareres Prinzip der „Ungehörigkeit" zugrunde gelegt werden und gegen das präsidiale Urteil ein Appell an das Plenum offenstehen.
Die Epoche des rapid zunehmenden Verkehres, von der wir nicht wissen, ob wir uns in ihrem Anfangs Stadium befinden, oder vorderhand wenigstens, schon nuf jener Entwicklungsstufe, die mit den heute gegebenen Mitteln keine erhebliche Beschleunigung des Verkehre mehr erzielen kann, brachte es im Verein mit den mannigfachen ge- steigerten technischen Möglichkeiten dazu, daß gewisse Arbeiten mit einer noch vor wenigen Jahrzehnten kaum geahnten Raschhoit geleistet werden können; aber ander- seits gibt es auch Tätigkeitsgebiete, deren Inhalt in fort- währendem Anwachsen begriffen ist, ohne daß die Ent- deckungen und Erfindungen der Moderne im gleichen Maße in der Darbietung beschleunigender Hilfsmittel zur Be- wältigung Schritt gehalten hätten.
So wächst das Arbeitsfeld und die nötige Arbeits- intensität der staatlichen Aktionen und gerade was den auf die Parlamente entfallenden Teil derselben betrifft, bietet die ausgebaute Technik hier nur wenige Neuerungen, die eine schnellere Erledigung des zunehmenden Arbeits- pensuma ohne Beeinträchtigung der Genauigkeit und Präzision der Tätigkeit und ohne BeeintrJtchtigung der Güte des Resultats gestatten. Einerseits folgt daraus die ao- iichwellende Bedeutung der Regierung mit ihrem stets Steige rungs fähigen Beam tenap parat , anderseits das ent- ^hiedene Begehren der Kammern, die Zeit überall dort zu 'Sparen, wo sie bisher anscheinend oder tatsächlich Überreich -ingem essen war.
Zahlreiche Bestimmungen legen für dieses Bestrebsn
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Zeugnis ab ; auch dem Interpellatibnsrecht sucht man Zügel anzulegen ) um Zeit für andere parlamentarische Geschäfte zu sparen. Solchen Zügelungen dienen mancherlei Regeln, die auch andere Zwecke verfolgen, aber als diesbezüglich typische Institutionen sind zwei zu nennen : zur Entwicklung der Interpellationen wird nur an einem bestimmten Termin oder innerhalb einer bestimmten Frist Gelegenheit gegeben und die mündliche Antwort wird durch eine schriftliche Erledigung ersetzt.
Die zeitliche Begrenzung der Interpellationsbehandlung wird nicht in allen parlamentarischen Kollegien angestrebt, sondern nur in jenen, die durch eine zunehmende Anfragen- zahl ein Verkümmern der andern ihnen obliegenden Arbeiten zu befürchten haben.
Im englischen Unterhause gelangen Interpellationen nur am Montag, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag zur Entwicklung, und zwar ist ihnen jedesmal bloß eine Zeit von 45 Minuten reserviert^; provisorische Bestimmungen in der französischen Deputiertenkammer und Art. 33 der im Jahre 1901 revidierten G.O. des belgischen Repräsentanten- hauses lassen ihre Behandlung in der Regel nur an einem Tage der Woche zu^ und schon seit 1890 sind in der II. Kammer des italienischen Parlamentes ebenfalls nur 40 Minuten an jedem Sitzungstage den Interpellationen und Anfragen und überdies 5 Minuten für die Replik auf die Antwort des Ministers zugesprochen^. Wenn bisher weder der D.R.T. noch das preußische Abgh. solche Beschränkungen für sich vornahm, so kommt dies daher, daß beide Kollegien noch keinen Grund fanden, die den Interpellationen ge- widmete Zeit mit Beunruhigung wahrzunehmen. Für das österr. Abgh. mit seiner chronischen Obstruktion, von der es fraglich ist, ob sie auch noch nach Einführung des all- gemeinen Wahlrechts fortdauern wird, brachte zwar kein
^ Stjyiding Order IX; vergl. auch besonderen Teil: England. ^ Pierre, a. a. O., Supplement 1906, S. 337 ff.; 341. ' Brusa, a. a. O., S. 491, Anm. 2.
VI 2.
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GeBchfiftsiininiingsvorstjhlag eine hier charakterisierte Zeil- beschränkung , doch finden sich in den verschiedenen Ab- änderungaent würfen Hinweise auf derartige in andern Parla- menten übliche Regeln, die beweisen, daß der Gedanke einer zeitlichen Grenze für die Behandlung qualifizierter Anfragen wenigstens in Erwägung kam '.
Gegen eine klug berechnete und nicht zu engherzige Termiuiaierung läßt sich Erhebliches, das mit Hinblick auf die große Zeitersparuia in Betracht körne, kaum einwenden, aber immerhin kann sie dazu führen, daß, falls die fest- gesetzte Zeit zur Erledigung der Interpellationen nicht aus- reicht, ein Großteil derselben unbeantwortet bleiben mUßte, der gewöhnlich mit dem Schluß der Seasion begraben wtirde^, Dem abzuhelfen sind schriftliehe Antworten in Anwendung gekommen, um das mUndlich nicht Erledigte luf diese Weise aufzuarbeiten.
Mit der Schriftlichkeit der InterpeUationsbeaatwortung ist ein neues Problem aufgestellt.
Noch im Jahre 1677 konnte im preußischen Abg.H.
> auf die obligate Mündlichkeit der Interpellationsbehandlung i englischen Parlamente hingewiesen und erklärt werdeu, Interpellationen stellen eich dar — im Gegensatz zu dem in der Budget- und Rechnungakommiasion üblichen schriftlichen Auskunft verfahren — als mündliche Verhandlung zwischen dem Interpellanten und der Regierung^, In diesem Punkte änderte sich verschiedenes. Das englische Unterhaus er- lebte in einer Session über 7tJ00 Interpellationen und da-
^ durch acquiricrte die mündliche Prozedur den Todeskeim;
k ihre Nachfolgerin war die Schriftlichkeit. Die mlindliche
I Erledigung gilt nur mehr als Ausnahmsfall, wenn der Inter-
' Vergl. Berielit d. H.H., S, '. r etwas unklnrea Vi-rbindmiK v I tag'^ bvEügliuli des D.R.T.
* Ober eiiwchllgige Schwierigkeit«!] in der frMueeiachcn Deputierteu- mer, «. Pierre, Hupplement ISO«, fi- Xnß.
• 8«8. 1877/78, Siteg. 18, 8. Ml. i-iUsg. Ü8. S. 709f.; verj^LPUle,
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pellant sie fordert, die Antwort noch innerhalb der £tir In- terpellationen zugemessenen Zeit fällt, oder sonst beach- tenswerte Umstände in Betracht kommen. Auch in Dänemark können die Minister schriftlich antwortend
Die Regierungsvorlage* wollte für den österr. R.R. ebenfalls die Schriftlichkeit der Beantwortung als das nor- male fixieren, doch sollte es den Mitgliedern der Regie- rung (nicht den Mitgliedern der Kammer!) vorbehalten bleiben, auch den Weg der mündlichen Erledigung zu wählen®. Der Bericht der Spezialkommission des H.H.*, schlug flir das Interpellationsverfahren, sowohl für die Ein- bringung der Anfragen, wie für den weiteren Prozeß einen schriftlichen Gang vor, aber immerhin könnten 25 Mit- glieder im Herrenhause, beziehungsweise 50 im Abgeord- netenhause eine Verlesung der Interpellation und eine ver- bale Beantwortung durchsetzen.
Schwere Bedenken lassen sich gegen das schriftliche Verfahren, dem auf andern Gebieten mit Recht energisch entgegengearbeitet wird, erheben. Natürlich werden sie nicht in allen Kammern gleich gewichtig sein, sondern sehr von deren sonstigen Institutionen, Sitten und Gebräuchen abhängen. Gewiß ist nur, daß das Kontrollmittel der Inter- pellationen dadurch aus dem Kreis der Öffentlichkeit ge- rückt wird und eine Abschwächung erfährt, die besonders in der Erschwerung einer folgenden Interpellationsdebatte zutage tritt, wie auch im englischen Parlamente eine Dis- kussion über die ministerielle Äußerung ausgeschloßen ist
Wenn die Zukunft die Tätigkeit der parlamentarischen Kollegien noch weiterschreitend zu einer überwiegend kon- trollierenden ausgestaltet, dann wird möglicherweise die Mündlichkeit im Interpellationsverfahren wieder zurückkehren,
^ Goos und Hansen, a. a. O., S. 48.
* Regierungsvorlage, S. 5; 23.
^ Mündliche oder schriftliche Antworten je nach Belieben des inter* pellicrten Ministers, läßt Art. 22 des Ges. vom 17. Juni 1874, die Und- standische Geschäftsordnung betreffend, in Hessen zu.
* Bericht des H.H., S. 4; 16.
beziehungsweise erhalten bleiben, wenn die Zukunft dagegen
nicht mehr die Tendenz zeigt, die wir heute auf parlaDujn-
tariächem Gebiete wahrzunehmen glauben, so wird es von
der weisen Selbstbese Kränkung der Parlamente und ihrer
Mitglieder abhängen, ob sie durch eine kluge Mäßigung
nur wenige und wichtige Angelegenheiten zur Sprache
bringen und diesen das gesprochene Wort vorbehalten,
■ oder üb sie durch ein Überschwemmen mit nebensächlichen
lAnfragen die Notwendigkeit beweisen, die Zeit für andere
■Arbeiten durch eine schriftliche Behandlung der Interpella-
ftionen freizumachen.
Eine weitere bereits angedeutete Folge mu6 die Öchrift- Sichkeit der Autwort unbedingt nach sich ziehen: Sie schließt ^tdoe weitere Debatte so gut wie aus.
Würden die Interpellationen reine Inf ormations Instru- mente sein, so wären sie mit der Äußerung der Regierung beendet, und nur falls diese keine genügende Aufklärung gäbe, wäre Anlaß fltr weitere Fragen vorhanden, um eine befriedigende Auskunft zu erhalten. Da jedoch die quali- fizierten Anfragen in erster Reihe ein Kontrollmittel sind, das einen kritischen Charakter trägt, so werden die Kammern danach streben, zur Behandlung der Interpellation durch den Minister Stellung nehmen zu können, über dessen Handlungen und Hallung zu diskutieren und allenfalls durch Einbringung, Annahme oder Ablehnung von Anträgen auszusprechen suchen, ob sie der Interpellierte durch seine Äußerung befriedigte oder nicht. Wo die G.O, die Mög- lichkeit giebt, der ministeriellen Antwort eine Debatte folgen zu lassen, kann sie nicht der Einzelne nach seinem individuellen Belieben inaugurieren, sondern sie ist von einem dahingehenden Antrag einer größeren Anzahl von Mitgliedern, allenfalls von einem Mehrheitsbeschluß des Hauses abhängig gemacht'.
' G.O. D.R.T., g 33, dei preoM. Aligh., ü 'Ai. des Raten. Abgh. 9 l}9i Tugl. auch Bma«, «. s. O., 8. 16(! u. a.
62 VI 2.
Im englischen Unterhause war eine Interpellationsdebatte sei^ jeher geschäftsordnungsmäßig ansgeschlossen, im Ober- haase ist eine solche nicht durchweg untersagt Vom Jahre 1849 — 1862 entbehrte auch die preußische zweite Kammer der Möglichkeit einer Besprechung der ministeriellen Ant- wort. Selbstverständlich kann der Interpellationsg^;enstand, wie dies manche Geschäftsordnungen^ ausdrücklich be- merken, in Form eines selbständigen Antrages weiter verfolgt werden, was von besonderer Bedeutung auch dort ist, wo zwar eine Interpellationsdebatte gestattet, aber es unzuläßig ist, diese mit einem darauf bezüglichen Antrag und einem Beschlüsse zu beenden. Eine solche Motion unterliegt der gewöhnlichen geschäftsmäßigen Behandlung, die gegebenenfalls als „dringliche*' beschleunigt zu werd&k vermag^. Eine Diskussion auch ohne folgenden Beschluß ist geeignet, Unklarheiten zu beseitigen, politische Wirkungen zu erzielen, aber auch eine beklagenswerte Zeitverschwen- dung zu begünstigen.
Wie schon erwähnt, untersagen es manche Geschäfts- ordnungen ausdrücklich und bestimmt, die Besprechung einer Interpellation durch Stellung und Erledigung eines Antrages abzuschließen^.
Manche Parlamente dagegen gestatten eine Beselilii&« fassung am Ende der Besprechung. In der französischen Deputiertenkammer können Interpellationen durch die An- nahme einer Tagesordnung beendet werden*; ähnlich ist das für Holland geregelt*^.
Damit hat jederzeit das parlamentarische Kollegium die Macht, dem Ministerium oder Einzelnen seiner Mitglieder bezugnehmend auf eine rechtlich, politisch oder sozial rele-
^ G.O. D.RT., § 33, G.O. preuß. Abgh., § 34.
* Vergl. u. a. auch Scholle nberger, a. a. O., I. Bd., S. 205.
^ Vergl. u. a. im besonderen Teile das über den D.R.T., den preoft. Landtag und den österr. R.R. Gesagte: desgl. s. Aschehoug, jl jl O., S. 62 für Schweden.
* Lebon, das Staatsrecht der Bepublik Frankreich, 1886, S. 72 ^ Hartog, a. a. O., S. 41.
VI 2.
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vante Frage und Antwort, sein Vertrauen oder Mißtrauen unzweideutig auezuap rechen. Einerseits wilclist dadurch der kontrollierende Einfluß des Parlamentes, anderseits können kleine Augenblicksdifferenzen und momentane Ver- stimmungen unsinnig weite Kreise ziehen.
Der Bericht des Geechäftaordnungsausschusses, der fUr
das österr. Abgeordnetenhaus die Zuläßigkeit eines Antrages
im Anschluß an die Interpellation sdebatte in Vorschlag
brachte, äußerte sich u. a. folgendermaßen": „Nach der
1 geltenden Vorschrift durfte auch dann, wenn das Haus die
rDebatte Über eine Interpellationsbeantwortung beschloß, bei
•4'^^^'' Besprechung kein Antrag gestellt werden. Somit
men innerhalb der Debatte wohl die Anschauungen ein-
nlner Mitglieder, aber nicht die Auffassung des Hauses
Ausdruck. Und doch kann es bei Interpellationen
Hber wichtige politische Vorgänge von grußer Bedeutung
ein, zu erfahren, ob die Mehrheit des Hauses mit dem von
Ider Regierung vertretenen Standpunkte übereinstimmt oder
Idiesen Standpunkt mißbilligt In dieser Erwftgung em-
1 plieliU der Ausschuß, bei dem erwähnten Anlasse die
['Stellung des Antrages zu gestatten: ,Das Haus nehme die
■Beantwortung der Interpeltation sur Kenntnis,', «der des
KAntrages, das Haus nehme diese Beantwortung nicht zur
Kenntnis. "
Mit der Darlegung der wichtigsten Ausschmückungen ftdie das materielle Interpellationsrecht formell in den ein- Fzelncn Kammern erfahrt, kann hiermit geschlossen werden. Unbeachtet blieben nebensächliche formale Bestimmungen, die zum Teil aus dem „besonderen Teile" zu entnehmen sind, der auch mancherlei Wiederholungen bringen muß, um die monogratische Darstellung des Interpellationarechta in speziellen parlamontariaohcn Kollegien ohne stOrende Lücken geben zu können.
Damit die Institutionen, die darauf abzielen, durch Ver-
■ Bericht des Ab^h., S. 24, s. auch S. 1
64 VI 2.
klausulierung des qualifizierten Anfragerechtes Zeit zu ge- winnen und Störungen der regelmäßigen Arbeiten zu ver- meiden, für die Praxis richtig gewürdigt werden, möge daran erinnert werden, daß bisher außer den drakonischen Bestimmungen, obstruierende oder sonst störende Abgeordnete aus dem Hause zu entfernen, kaum eine gegen zeitvergeu- dende Bestrebungen gerichtete Regel einer entschlossenen, skrupellosen auch kleinen Minorität gegenüber, die um jeden Preis den Lauf der Verhandlungen ernstlich hemmen wollte, den gewünschten Erfolg erzielte. Nur der mehr gedankenlosen menschlichen Schwäche, in Über- schätzung der eigenen oder vertretenen Angelegenheiten weitschweifig die Geduld und die Zeit anderer in Anspruch zu nehmen, wird durch* einschränkende Geschäftsordnungs- regeln ein wirksamer Riegel vorgeschoben.
5. Dem Interpellationsrecbt Sbnlicbe Institutionen.
Wenn im Abschnitte „Wesen und Zweck des Interpel- lationsrechtes" gesagt wurde: „Es gibt in jedem Parlamente ein besonders qualifiziertes Frageverfahren von Mitgliedern der Kammer oder von der Kammermehrheit an einen genau bestimmten Personenkreis" und dieser später zusammen- fassend als „Regierung" bezeichnet wurde, so darf das nicht etwa so verstanden werden, daß überall Interpel- lation s institutionen vorhanden sind. Solche, im kontinen- talen Sinne, fehlen dort, wo eine strengere Durchführung des Prinzips der „Gewaltentrennung" den Vertretern der Executive untersagt, in den parlamentarischen Kollegien zu erscheinen. Das war in manchen Stadien der französischen Verfassungsentwicklung der Fall und gilt heute noch für die Union *. Hier finden zwischen dem Repräsentantenhaase
' Vereinzelt, doch chronologisch weit zurückliegend, sind allerdings Fälle verzeichnet, daß sich Minister im Senate eingefunden hatten, sowie, daß an sie Vorladungen zu mündlichen Verhandlungen ergingen. YergL Holst, das Staatsrecht der Vereinigten Staaten von Amerika, If 8. 50 ff.
VI 2.
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und den Staate Sekretären, die den Exekutiv- Departemente voratehen, achriftliche Verhandlungen statt, woran grund- aätalich der Umstand nichts ändert, daß an Stelle des Ple- nums seine Komitees mit ihren Vorsitzenden den Verkehr mit der Exekutive fast ausachließlich zu besorgen beginnen*. Ob sich Interpellationen an diese „Vorsitzende" (als „Mi- nister zweiten Grades") einbürgern werden, muß dahin ge- stellt bleiben. Den Übergang von dem auf französischem Vorbilde fußenden Interpellationsverfahren mit seiner flüs- sigen Handhabung zum schwerfälligen Systeme der Union bilden die Questions im englischen Parlamente'.
Neben den eigentlichen Interpellationen kommen in den verschiedenen Kammern noch „einfache Anfragen" vor. Auf sie, die im Laufe der Verhandlung, bezugnehmend auf den Verhandlungsgegenstand, an die Regierung gestellt werden, wurde bereits verschiedentlieh hingewiesen; zumeist bedürfen sie keiner besonderen Vorbereitung und keiner bestimmten Form, doch giebt es auch hierin Abweichungen. In Italien sind Anfragen, auch mehrere Einzelfragen ent- haltend, schriftlich abzufassen , wenn sie mit ,ja oder „nein" zu beantworten sind, also etwa über die Wahrheit oder Unwahrheit einer Tatsache Erkundigungen einziehen *.
Eine besondere IVIiitelstelhing zwischen den , einfachen" und den „qualifizierten" Anfragen (Interpellationen) an die Minister nehmen in Frankreich die sogen. Questions adres-
' Vergl. Jellio ek, VerbssnngÜDdenuig nnil VerfagmmgswandlDiig,
ö. 46 f-
' Der republikanische BandeButaat aaf demokratischer Qriuidliige iu Europ* — die t5thwcizerische EidgenoaaeDBchaft — folgte in seiner Vei^ faSHiin^ beiQ^^I. der InformntioiiB- imd Kantrollmitl«] nicht dem fieispiele den DurdunierikatiischpD SohweBteratJuitea, sondern spricht im Vetf. Ari 85, Abs. II der BnndeaTersBDiiDlDng die Aufsicht über die eidgenSsBioche Verwütlung (u. Rechtspflege) lu und regelt, soweit das vorliegende Problem dadurch lietroffen wird, die Form der AuftichtadurehfÜbrung in Art 102, Ab«. 1». letztem Sntxe. fblgendennoBen: „Er (der Bundesrat) hat Hiich besondere Kerii'.hle zn erstatten, wenn die Bundes vertamminng oder eine Abteilung derselben ea verliingt." Dadurch wird eine Interpell&tioni- berechti^unff beer findet.
' Vergl. Brusa, n. a, O., 8. lÖßf.
66 VI2.
s^es aux ministres ein; ihr Gegenstand ist nicht auf die augenblickliche Verhandlungsmaterie beschränkt, aber sie müssen vom Minister genehmigt sein, werden am Beginn oder am Ende einer Sitzung verhandelt, und zu ihnen haben nur der. Fragesteller und der Befragte das Wort Die Umwandlung solcher Questions in Interpellationen ist durch den Usus genau geregelt*.
Neben den dieser Arbeit zu Grunde gelegten Inter- pellationen an die Regierung oder an die R^gierungsmit- glieder existiert in manchen parlamentarischen Kollegien noch ein Frageverfahren, das in der G.O. (österr. R.R.), oder in der deutschen Literatur (f)ir das englische Par- lament) unpräzis ebenfalls als Interpellationsverfahren be- zeichnet wird. § 67 G.O. des österr. Äbg.H. sagt: „Jedem Abgeordneten steht das Recht zu, an den Präsidenten des Hauses, an die Vorsitzenden der Abteilungen und Aus- schüsse Interpellationen zu richten ..."
Ebenso können im englischen Unterhause an den Speaker, den Leader der Opposition und solche Mitglieder des Hauses, die sonst an einem seiner Geschäfte beteiligt sind, An- fragen gestellt werden, aber nur in Betreff einzelner Geschäftsstücke oder der Geschäftsbehandlung'.
Bei dieser Art Anfragen tritt der Charakter der Kon- trolle hinter dem der bloßen Information zurück.
Von besonderer Bedeutung ist das „Kommisaionen* oder „Ausschüssen*' zustehende „Fragerecht" ; es ist geeignet, solche Angelegenheiten, die im Plenum des Hauses, in An- wesenheit einer großen Anzahl von Abgeordneten — wenn
1 Vergl. Pierre, a. a. O., S. 783 ff; Lebon, das Stamtsreeht der Republik Frankreicb, S. 72 f.
^ Die vom Beriebt des Abgb. vorgeschlagene „Schrifilichkeit* der- artiger „Interpellationen'' sollte nur auf Grund der „mangelhafteu Akustik des Beratungssaales*' und der dort^meist berrscbenden Unruhe*' eingeführt werden, (i^richt des Abgb.. S. 23.)
* Vergl. M &j, a. a. O., 11. Ed. S. 247 ff; — Bezüglich der „InterpeUatioii* von Deputierten der H. Kammer Frankreichs, wenn es sich am An- gelegenheiten bandelt, die etwa in ihrer Stellung als ,3^amte in ihr Ressort fallen" vergl. Pierre, a. a. O., S. 804 f.
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fXl 2. 67
auch mit „Ausschluß der Öffentlichkeit" — nicht ohne schwere Bedenken besprochen werden können , in dem engen Kreis eines Auäsclmsses, dessen Verschwiegenheit und Diskretion alleiifall» noch zu erzielen wäre, zu befriedi- gender Erledigung zu bringen. Materielle Antworten, welche die Regierung aus ganz beatimmten Gründen vor der breiten Öffentlichkeit zu geben sich acheut, können in Komitees erteilt werden.
Manche Gesetze oder Geschäftsordnungen sahen einem Fragerechte der Ausschüsse vor. Üo § 21 G. ü. d, R.V. :
„Jedes der beiden Häuser des R.R. ist berechtigt
Kommissionen zu ernennen, welchen von Seiten der Mini- sterien die erforderliche Information zu geben ist . . ." '
Ein weiteres Informationa mittel mit inhärentem Eon- troll charakt er schuf z. B. Art. 81 Aba. 3 der preußischen Verfassung dadurch, daß Jede Kammer die an sie gerich- teten Schriften an die Minister überweisen und von den- selben Auskunft über eingehende Beschwerden verlangen liann; und § ^5 G.O. des preuS. Abg.H. regelt das nähere Verfahren*.
Auf alle mögliche Art und Weise suchten gesetzliche und 0,0. Bestimmungen das In terpcllations verfahren za ergänzen und dort, wo Interpellationen im eigentlichen Sinn des Wortes ausgeschlossen, untunlich oder zu schwerfällig sind, Surrogate zu linden, um vorhandenen Mängeln ahr-ii- belfen, aber sie entbehren meist einer akzentuierten Prä- sision und Schärfe — und diesbezüglich nähern sich ihnen die „Interpellationen" jener Parlamente, in denen die ^Schriftlichkeit der Prozedur an Boden gewinnt.
' Verg-I. nach § 28 Satz 8 des Gesetzes über die Üsterreich-UngHrn Dsimen Angetegenbeitenj bezahl, eines schrifUichen FrageTerf&hroiiB T KoromiasioneD im preaB. Abcb.: Plate, die G.O. des preiiB, Abgh.. 119.
Ein Fragerecht des „ Bfirgeraunchusses sieht Art. 60' der Ver- lang voD HambuTB vor oud Art. 63' der VerffiHSiing von Lftbeck, •^Veifl. «nch § -34 G.O. de« D.R.T.
B. Besonderer Teil.
1. Preafien and das Deatsßhe Reich.
Die historische Erörterung irgend einer Geschäftsord- nungsmaterie des Deutschen R.T. oder eines Problems, das auch nur teilweise seine G.O. streift, läfit sich nicht von der Einsichtnahme in den geschichtlichen Entwicklungs- gang der Geschäftsfuhrungsbestimmungen für das preufi. Abg.H. trennen, denn dessen selbständige G.O. ist es, die, wenn auch zum Teil abgeändert, doch in den Grundprinzi- pien gleich, über den verfassungsberatenden (24. Februar bis 17. April 1867) und den Reichstag des norddeutschen Bundes (getagt innerhalb des 10. September 1867 und des 10. Dezember 1870) auf den deutschen R.T. überging.
Erst vom 25. Februar 1867 an, dem Tage des Zu- sammentrittes des konstituierenden R.T. gehen die Aus- gestaltung, die Entwicklung und Weiterbildung der G.O. des preuß. Abg.H. und der des späteren Deutschen R.T. getrennte Wege, doch wirkten die Gemeinsamkeit der Ab- stammung, gleichartige Bedürfnisse und Bedürfnisse nach Gleichartigkeit auf die Ähnlichkeit dieser Wege ein.
Was aber die voneinander dennoch abweichende Ent- wicklung der G.O. in den zwei parlamentar. Kollegien anlangt, so ist zu konstatieren, dafi, trotz der vielfach diffe- rierenden Form der Änderungen, Neuerungen und Ergän- zungen, die tatsächliche Übung innerhalb, neben und auch gegen das geschriebene Wort die unverkennbare Tendenz aufweist, über den trennenden Buchstaben hinweg die
VI 2.
m
faktische Gleidiheit oder ALnlichkeit der BestininiuDgen in ihrer Handhabung zu vermitteln.
Ein solcher „Ausgleich" kann bisher nicht beobachtet werden bezüglich der Regeln über die Anzweifelung der Beschlußfähigkeit eines Haueee, über die namentliche Ab- stimmung bei Schluß- und Verl agiingsan trägen, die Dis- ziplinarvorschriften , die Damentlichen Zettelabstimmungen und die G.O.-Bemerkungen '.
SelbatTerstündlich war es der Deutsche R.T. mehr, denn das preuß. Abg.H., der an seiner G.O, herummodelte, denn es galt bei ihm die filr ein anderes Kollegium ge- schaffenea und aus diesem herausgewachsenen Regeln den eigenen, und, wie tn jeder neuen Organisation, schwankenden Ve rhu Uni säen anzupasBen.
Dagegen nahm das Abg.H. des preufi. Landtages seit über einem Vierteljahrhundert keine nennenswerten Ver- änderungen vor ■ — das Haus und seine G.O. traten, vorder- hand wenigstens, in das Stadium innerer Konsolidierung.
Was nun speziell das Interpellation Brecht betrifft, so stimmen die darauf bezugnehmenden gg 32, 3'j G.O. des D.R.T. und die §§ 33, 34 G.O. des preuß. Abg.H. sinngemäß, und sieht man von den Bezeichnungen, die aus der Verschiedenartigkeit des Interpellierten resul- tieren, ab, auch beinahe wörtlich Uberein. Hinter dieser * Formenähnlichkeit verbirgt sich jedoch in der Litteratur ein Dissens; daB das Interpellationarecht des D.R.T, nicht ausdrücklich in der Verfassung ausgesprochen ist, steht fest; üb das Gleiche für den Preußischen Landtag gilt, oder ob Art. (j<l" und 81 "^ V.U. es unmittelbar dekre- tieren, ist in der Theorie strittig, Obschon m. E, ^ es Bei auf den Absch. ,der rechtliche Charakter des Interpel- tat ionsrechtes' im allgem. Teile verwiesen — das Problem nicht die ihm zum Teil zugesprochene Bedeutung besitzt, wird dennoch darauf kurz einzugehen sein und aus diesem Grunde soll zwar die historische Entwicklung des
' S. Piste, die G.O. des preuß. Al.gh-, 1904, 8. vm.
70 VI 2.
InterpellatioDsweseiis im D.R.T. und im preufi. Abg.H. gemeinsam, aber die Erläaterang der heute geltenden Be- stimmungen getrennt dargestellt werden.
Gemäß der sogen. „Viebahnschen, vorläufigen G.O." fiir die 11. Kammer des preuß. Landtages vom 28. Feb- ruar 1849 entschied über die Zulässigkeit der vom Inter- pellanten und außerdem von 30 Mitgliedern (in Summa also von 31 Abgeordneten) unterzeichneten Interpellation der Gesamtvorstand der Kammer; im Falle sich dieser für die Zuläßigkeit aussprach, wurde sie dem Ministerpräsi- denten zugestellt, unter die Mitglieder verteilt und in der Kammer zur Lesung gebracht; wenn auch diese ohne Be- sprechung die Zulassung der Interpellation beschlossen hatte, erhielt der Interpellant das Wort zur näheren Aus- führung und hierauf bestimmte die Staatsregierung den Zeit- punkt der Beantwortung.
Die gegenwärtige Fassung des das Interpellationsrecht betreffenden § 33 G.O. stammt aus der sogenannten „end- giltigen G.O." vom 28. März 1849.
Die „vorläufige" hatte abweichend von jener der preuß. Nationalversammlung keine Besprechung der Interpellations- antwort vorgesehen ^.
Diesen Mangel beseitigte die Simson-Forckenbecksche G.O. vom 6. Juni 1862; ihr entstammt § 34 Abs. 1; einer- seits machte die Regierung dagegen Bedenken geltend, anderseits erachtete ein Teil des Hauses eine „Besprechung*' ohne die Möglichkeit, sie durch einen Beschluß zu krönen, für zwecklos. Mit Recht wurde dieser skeptischen Wertung, die nur rein formal folgerte, die politische Bedeutung einer Diskussion entgegengehalten.
Abs. 2 des § 34 G.O. verdankt seine Entstehung einem
^ Die Dauer der Nationalversammlnng währte vom 22. Mai 1848 — mit einer Vertagnng — bis 1. Dezember 1848; ihre G.O. basierte am firanz. o. belgischen Reglements, diese ihrerseits auf engl, von Bentham rationalisiertem von M o h 1 in Deutschland empfohlenen Vorbilde. VergL Hatschek, a. a. O., S. 426 ffl
rvi 2.
71
I I
Antrage des Abg. Virchow und wurde am 5. Dezbr. 1B77 lieechlosseD. Er eDlhJtlt die Anwendung von Art. 60 Abs. 2 V.U. auf eiuen speziellen Fall und stellt nur fest, da6 die Stellung von solchen Antrügen bei der Besprechung zu- lllasig sei, welche die Verfassung generaliter gestattet'.
Dieser rückbliek enden Erörterung hat nun getrennt die Behandlung der beute geltenden Interpellationsnormen für den preaS. Landt.ig und den D.R.T. zu folgen.
a) Der Landtag des Eönigreiehs Preofien.
Gemeinsam sind beiden HSusem die Bestimmungen der Verfassungsurkunde für den preußischen Staat vom 31. JÄnner 1850 Art. ti'i". 61 und ArL Sl'". Art. 6U" lautet: „Jede Kammer kann die Gegenwart der Minister verlangen', Art. 61 spricht die Verantwortlichkeit der Mi- nister den Kammern gegenüber aus; Art, Sl^^ sagt: ,Jede Kammer kann die an sie gerichteten Schriften an die Minister überweisen und von deoselben Auskunft über eingehende Beschwerden verlangen."
a) Das Abgeordnetenhaai.
Die Verfassung ergänzend und auslegend sagen §§ 33, S4 G.O.; und zwar:
§ 33: H Interpellationen an die Minister müesen bestimmt formuliert und von 3i' Mitgliedern unterzeichnet dem PrS- üdenlen des Uause« überreicht werden, welcher dieaelben dem Staataministenum abschriftlich mitteilt, und dasselbe in der nSchsten Sitzung des Hauses zur Erklärung darüber auffordert, ob und wann es die Interpellation beantworten «erde. Erklärt das Ministerium sich zur Beantwortung bereit, so wird an dem von ihm bestimmten Tage der Inter- pellant zu deren näheren Ausführung verstattet."
' Dieser korae Überblick über den Entwicklungsgui^ de« loter- pdlBNoDArechta iu der 0.0. des preaB. Abgh. ist ein Remniäe kos der Uareo und übenichtlicfaea DarsteUuns' hui Pl*le, die 0.0. de« preuS. Afagb-, 1904, S. 118 f. nnd B. 121 f.
72 VI 2.
§ 34: „An die Beantwortung der Interpellationen od^ deren Ablehnung darf sich eine sofortige Besprechung des Gegenstandes derselben anschließen, wenn mindestens 50 Mitglieder darauf antragen. Die Stellung eines Antrages bei dieser Besprechung ist unzulässig. E^ bleibt aber jedem Mitgliede des Hauses überlassen, den G^enstand in Form eines Antrages weiter zu verfolgen.
Anträge im Sinne des Art. 60 der Verfassungsurkunde Abs. 2 sind jederzeit zulässig. **
Ean recht beträchtlicher unterschied liegt zwischen der ,, vorläufigen*' und der heute in Kraft stehenden G.O.; das Interpellationsrecht wurde gewissermafien „demokratisiert*, modernisiert — aus dem schwerfälligen .Mörser'' ist ein akkurates „Schnellfeuergeschütz'' geworden und, um im Bilde zu bleiben, die neue Konstruktion hat, wie die geringe Zahl der eingebrachten Interpellationen beweist, zu keiner Munitionsverschwendung geführt
Die eine Minorität strangulierende Verfügung, daß Kammervorstand und Kammer über die Zuläßigkeit und Zulassung einer Interpellation zu entscheiden hätten, blieb nur kurze Zeit in Kraft; sie bedeutet ja die von der Mehr- heit absolut abhängige Stellung der Minorität, welche keine der ersteren unangenehme oder von ihr nicht gebilligte Anfrage an das Staatsministerium ^ stellen konnte.
Dem Minoritätenschutze wurde durch die Beseitigung des Kammerkriteriums Rechnung getragen ; belanglos, wohl nur der Ausfluß menschlichen Strebens nach „abgerundet^i Zahlen", ist die Herabsetzung der 31 unterstützenden Unterschriften auf 30.
Dreizehn Jahre nach dieser ersten Reform folgte die zweite ergänzende und brachte die Diskussionsmöglichkeit über die vom Interpellierten erteilte oder verweigerte Ant- wort; sie ist an den Antrag von mindestens 50 Mitgliedern
^ Die Interpelbition wird trotz der Einleitnngsworte des § 33 G.O. nicht an den Fachminiffter^ sondern entsprechend des weiteren Satxinhaltes an das Staatsministeriom gestellt YergL Plate, a. a. O^ S. 119*.
VI2. T3
gebunden: dieae Zahl anf 30 zu beaclirgnken, fand nicht Anerkennung. D&& die Äußerung des Ministers besprochen werden dürfe, lag Dicht im Interesse der Regierung, deren Opposition gegen die Neuerung bereits Erw&hnung fand, ebenso wie das Verkennen des politischen Wertes einer Interpellationsdebatte durch einen Teil des Hauses. Eine .Besprechung" hat aber abgesehen von ihrer kritischen auch noch d i e Bedeutung. daÖ sie wertrolles Material zu Tage fördern und einen Einblick in die Stimmung des Hauses gewähren kann , wodurch ein Mitglied, das den Gcf:enatand der luterpellation in Form eines selbständigen Antrages weiter verfolgen will (g 34 Abs. 2 G.O.). beber- ligenswerte Fingerzeige erhKlt
So lange das preußische Abgeordnetenhaus auf Grand des Dreiklassen Wahlsystems zusammengesetzt wird, dürfte das Interpellationsrecht kaum eine Erhöhung seiner Durch- schlagskraft dadurch erbalten, dafi derÄu&erungsbesprechung ein materieller Antrag angeftigt werden dtirfe, um Frage und Antwort harmonisch mit einer .Abstimmung'', einem Beecbluä, abzuschließen. Es ist eher aus der ganzen Ten- denz, die die GeschSftsordnungen heute durchsetzt, zu er- warten, daß die „ Mändlichkeit" des Verfahrens, die 1877 noch ein Vorbild im englischen Uuterbause fand, ganz oder teilweise einer zeitsparenden Seh rtftl ichkeil weichen werden müsse, — doch das auch erst dann, wenn eine andere so- xiale und politische Strömung in der II. Kanuner Ober- wasser bekommt, die von dem Interpellationsrecht nicht mehr so selbstbescheiden Gebrauch macht, wie das Haas in den verHossenen Jahrzehnten es tat.
In manchen Fällen (z. B. Session 1875 Stzg. 80 S. 2257) wurde vom Interpellierten eine Antwort ohne Angabe von Gründen verweigert, doch ist dieser Umstand deshalb Ton verschwindender Bedeutung, da in den letzten zwanzig Jahren überhaupt nur 8 Interpellationen unerledigt blieben, also nicht 10" o-
Dem Hinister ist keine Frist gesteckt, innerhalb welcher
74 VI 2.
er sich zu äußern habe; tatsächlich läßt die Antwort oft sehr lange auf sich warten ^. Von den sonst bei Interpel- lationen üblichen Formalien sei nur erwähnt, daß eine Drucklegung der Interpellationen und ihre Verteilung an die Mitglieder des Hauses durch die G.O. zwar nicht vorgeschrieben, aber tatsächlich geübt wird; femer wird die Interpellation gewöhnlich nicht fär die nächste Sitzung auf die Tagesordnung gesetzt, sondern nach Verständigung mit dem Staatsministerium spielt sich der Gesamtkomplex ihrer Abwickelung in einer und derselben Sitzung ab und zwar in jener, welche für die Beantwortung vom Minister ausersehen wurde; die nicht vorgeschriebene Verlesung der Interpellation findet bald statt, bald nicht; die Verbindung der Behandlung zweier Interpellationen oder die Besprechung einer Anfrage mit der Beratung eines Urantrages wird in der Regel, wenn kein Widerspruch erhoben, ftir zulässig erachtet *.
Interpellationen können zurückgezogen werden; ob von demselben Interpellanten auch wieder aufgenommen, ist strittig; nach § 24, Satz 1 6.0. scheint jene Ansicht die begründete, die nur anderen Mitgliedern der Kammer die Berechtigung zur Wiederaufnahme zuspricht, doch scheint eine neuerliche Unterstützung durch 30 Unterschriften nötig.
Strittig ist die rechtliche Frage, ob das Interpellations- recht ausdrücklich in der V.U. festgelegt ist, oder nicht. In der Litteratur herrscht diesbezüglich ziemlich bedeutende Wirrnis. Georg Meyer* erklärt z. B., daß viele Ver- fassungen der deutschen Gliedstaaten den Mitgliedern des Landtages das luterpellationsrecht einräumen und zählt zu diesen Verfassungen auch die preußische; Schulze^ sagt: „Jede Kammer kann die Gegenwart der Minister verlangen. Darnach sind die Kammern selbstverständlich berechtigt^
» Ver^l. Plate, a. a. O., S. 121 «
2 Vergl. Plate, a. a. O , S. 121 «>; 124'«.
' Mejer- Anschütz, Deutsches Staatsrecht, S. 299.
^ Schulze, das preußische Staatsrecht, 188d, I., S. 628.
VI 2.
75
voD den Minietern Aufklärungen über die bu ihrem Wirkungs- kreise geböngen GegeDsUlnde zu verlangen, wobei es in der Regel indessen den Ministem vorbehalten bleibt, in- wieweit sie eine solche Auskunft erteilen wollen." Auch jedem einzelnen Mitgliede stehe nach der G.O. daa Recht zu, Anfragen, Interpellationen, an den Minister zu stellen . . . ' Thudichum' äußert sich: „Auch die preafiiscbe Ver- fassung garantiert ein Interpellationeredtt nicht, während die Geschäftsordnungen beider Häuser sie zulassen."
Wenn die Frage nach dem rechtlichen Wesen des Interpellationsrechtes im preußischen Landtage nicht so formuliert wird, ob eine Kammer, die Kammermehrheit oder einzelne Mitglieder ein subjektives Recht zur Stellung von qualifizierten Anfragen hätten, sondern: ob Inter- pellationen an das Staauminisierium in den Wirkungskreia der Kammern fallen, dann entbehrt die LOsung des Problems jeder Schwierigkeit.
Art 61 V.U. macht jedes der beiden Häuser zu Minister- anklagen und damit (ür die Kontrolle der Minister tiber- haupt kompetent. Daraus ist auch die Zuständigkeit zur Einleitung von Interpellationen abzuleiten ', deren Form die selbständigen Geschäftsordnungen bestimmen.
Nach ArL IJ<J" kann jede Kammer die Anwesenheit der Minister fordern; dadurch vermag sie auf die Vertreter der Regierung einerseil« einzuwirken, bei den Beratungen anwesend zu sein — allerdings liegt es außer ihrer Macht- sphäre^ sie zur aufmerksamen Anteilnahme an den Ver-
' HarkwQrdi^r erich«ii)t e« bier, dafl dip Amnitbmea von der .Begel" keine Beeprecbnn^ finden, um klanalec^en, in welchen Fitlen vom Autor für den luterpellierten eine Anfklärungapflicbt Bncenommea icird.
etengel. DudStMtorechtdesKBni^reiehsPranBen, 1^8.71, ■prichl jeder Kammer das „Roebt" lur fitellung Ton iDterpellatioDeu m: ver^ auch LiiliaDd, Stubrecht, I.. 8. 284, Anm. I.
*ThndicbDm, VeiÜascungsivcfal de« norddentachen Bundes und dM denuchen ZollvereiBe«, 1870, S. 213, Anw. 2.
' S. im >llg«m. Teil den Abarh. „Der rechtliche Chanbter dei Inter- «lUtioiunoht«''.
76 VI 2.
handlangen zu zwingen^ — anderseits unterstützt die Be- fugnis, auf ihrer Gegenwart bestehen zu können, die Durch- führung des Interpellationsprozesses, dem die Interpellierten ansonsten durch beliebiges Absentieren arge Hemmungen zu bereiten vermöchten. Art. 81 ^° V.U. nimmt Bezug auf Bitten und Beschwerden, welche an die Kammer gerichtet durch diese an die Minister weitergeleitet werden können; anknüpfend daran regelt § 35 G.O. des Abgh. (bezw. § 52 G.O. des H.H.) das einschlägige Verfahren. Ein direkter Zusammenhang des angezogenen Artikels mit dem Inter- pellationswesen kann nicht behauptet werden — aus seinem Inhalte läßt sich unmittelbar nur schließen, daß jede Kammer Petitionen auch aus ihrer eigenen Mitte zu erheben befugt sei — , aber gleichwohl ist daraus indirekt eine Auskunfts- pflicht der Regierung auf Anfragen noch besonders ab- zuleiten, denn wenn diese die an sie über eingegangene Beschwerden gerichteten Schriften durch Auskunfterteilung zu erledigen hat, so kann logischerweise eine Art Ver- bindlichkeit, sich auf gestellte Interpellationen zu äußern, denen zumeist ein kritischer, oft ein beschwerender Charakter anhaftet, kaum geleugnet werden ; faßt man demnach Art 61 und die darauf fußende Kontrollkompetenz der Kammern, Art. 60^^ mit der dafür geschaflfenen Erleichterung und Art. 81^^^ mit seiner Auskunftspflicht der Regierung auf qualifizierte Petitionen, sowie die durch die selbständigen Geschäftsordnungen interpretierend geregelten und danach tatsächlich geübten Interpellationen ins Auge, so ist die Frage nach der Kompetenz der beiden Kammern des preußischen Landtages zur Stellung von Interpellationen an das Staatsministerium zu bejahen und mit Recht eine damit korrespondierende Außerungspflicht zu behaupten'.
Unabhängig vom formalen Interpellationsrecht ist die Befugnis der einzelnen Mitglieder der Kammer an die
1 Plate, a. a. O., 8. 124 1».
3 Yergl. auch Rehm, aUgemeine Staatslehre, 1899, S. 850 £
VI 2.
77
Minister im Zusammenhang mit dem Gegenstande einer Verhandlung Fragen zu stellen*.
Folgende Statistik gibt ein übersichtliches Bild über die Übung des Interpellationsrechtes im preußischen Ab- geordnetenhause ^.
Session Zahl d. Interpell. zurückgez. beantwortet
1887 ,
1888 .
1889 .
1890 . 1890/91 1892 . 1892/93
1894 .
1895 .
1896 . 1896/97
1898 .
1899 .
1900 . i901 .
1902 .
1903 . 1904/05 1905/06
1 2 2 4 8 5 4 6 8 4 7 4 6 10 11 10
1 2 2 4 6 5 4 5 6 4 6 3 6 8 11 10
ß) Das Herrenhaas.
§ 51 G.O. des Herrenhauses" weist nur unbedeutende Abweichungen von den §§ 33, 34 Q.O. des Abgeordneten- hauses auf, die zum Teil in der verschiedenen Struktur der
* Über ein in der G.O. nicht TOrj^ehenes, doch tatstchlich aus- gebildetes schriftliches Frageverfabren in den Kommissionen vergl. Plate, a. a. O., S. 119«.
' IKese Zosammenstellnng verdanke ich dem Entgegenkommen Herrn A. Plates, Boreandirektors des PrenBischen Abgeonlnetenhanses.
* Die G.O. des preoBischen Herrenhauses bembt anf einem Be- sohlasse vom 15, Jnni 1892.
78 VI 2.
beiden Häuser begründet sind — so beträgt hier die ZM der eine Interpellation unterstützenden Mitglieder nur 20 — ; teilweise glich die Praxis formell bestehende Differenzen aus. Die Drucklegung und Verteilung der Interpellationen, die für das Herrenhaus vorgeschrieben sind, werden der Sitte gemäß auch in der IL Kammer geübt.
Über die verfassungsmäßigen Grundlagen des Inter- pellationsrechts gilt das bei der Behandlung bezüglich des Abgeordnetenhauses Gesagte.
b) Der Reichstag des Deutschen Reiches K
Obschon die das Interpellationsrecht regelnden §§ 32, 33 G.O. des D.R.T. fast wörtlich mit den bereits ange- führten §§ 33, 34 G.O. des preußischen Abgeordnetenhauses übereinstimmen, sollen sie dennoch der klaren Übersicht wegen wörtlich zitiert werden; sie lauten:
§ 32: „Interpellationen an den Bundesrat müssen, be- stimmt formuliert und von 30 Mitgliedern unterzeichnet, dem Präsidenten des Reichstages überreicht werden, welcher dieselben dem Reichskanzler ^ abschriftlich mitteilt und diesen in der nächsten Sitzung des Reichstages zur Erklärung darüber auflFordert, ob und wann er die Interpellation beant- worten werde. Erklärt der Reichskanzler sich zur Beant- wortung bereit, so wird an dem von ihm bestimmten Tage der Interpellant zu deren näheren Ausführung verstattet."
§ 33 : „An die Beantwortung der Interpellationen oder deren Ablehnung darf sich eine sofortige Besprechung des Gegenstandes derselben anschließen, wenn mindestens 50 Mit- glieder darauf antragen. Die Stellung eines Antrages bei dieser Besprechung ist unzulässig. Es bleibt aber jedem Mitgliede des Reichstages überlassen, den Gegenstand in Form eines Antrages weiter zu verfolgen".
^ Verel. Pereis, das autonome Reichstafifsrecht , 1903, 8. 42 ff: 67, 65 f.
^ Während des Bestandes des Norddeutschen Bundes stand sinn- gemäß an Stelle des Wortes „Reichskanzler" die Bezeichnung „Bundes- kanzler".
^"VI 2.
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Das Interpellation arecht des Deutschen Reichstages ist nicht ausdrücklich in der Verfassung ausgesprocheri ^, den- noch ergiebt sich die Rechtlichkeit seines Bestandes aus der Kontrollbefugnis des Hauses und der Verantwortlichkeit des Kanzlers (Art. 4; 17; 72 der Verfassung des deutschen Reiches). Von diesem Standpunkte aua, der den R.T. zur Stellung von Interpellationen kompetent ansieht, und mit Hinblifk auf die Praxis, die tatsächliche Übung, wird auch eine Außerungspflicht des Intorpellierten — welcLo wohl zu scheiden ist, von einer Pflicht zu materiellen Antworten — I Angenommen ".
Die Reichs Verfassung berechtigt den Reichskanzler als [ aolchen nicht zur offiziellen Anwesenheit im Reichstage; r nach Art. fl R.V. kann er nur als preußischer Bevollmüch- f tigler zum Bundesrat den Sitzungen beiwohnen, um die [ Ansichten seiner Regierung zu vertreten; tatsächlich nimmt als Vorsitzender des Bundesrates und als verantwort- [ lieber Minister daran teil, als dieser wird seine Anwesen- ( lieit gefordert und als dieser wird er interpelliert^. Mit f dieser Wandlung der Verfassung ging Hand in Hand eine ' Wandlung der G.O. ; diese spricht von Interpellationen an Eden „Bundesrat" ; der Bundesrat ist aber unverantwortlich rund seine Tätigkeit der Kontrolle des R.T. entzogen; daher
* Ein darauf zielender Aotrng Lnskers und ABinsaaB im kon-
■'■(itiiierenden R.T. wurde als nicht erforderlich ab^lehnt, da auch ohne
1 mudrückltche VerfansuiigHbestiinmnngen der R.T. vermüge seiner ät«ltaD|;
f Äu Becbt KU InterpeliHtionen (u. Adressen) besitze. Vergl. KBnne, das
StMbirecbt des Deatscben Reiches, 2. Aafl,, I., S. 26ä, Anm. 3, 4, 6.
" Laband, .Staatsrecht, 1., S. 283, nennt du« Interpellation! recht ein .Paendorecht" ; Zorn, das St.R. des D.R-, 1895, I., 8. 240f., ein .moraliaohes", während Sloerti, zur Metliodik des Sifentlicheu Hechtes, 1S85, 6. 63 f. es als ein „verCnssungsrnftBiges Recht" bezeichnet, wogegen Seydel, EommnnUr zur Verfassimgs Urkunde für das Doiibiche Reich, 2. Aofl., 1897, 8. 203, sagt: „Ein ,Becht- ... der InterpellatiDuen hat der E.T. nicht. ... Da ein Kocht der Interpellationen nicht besteht, gibt es ffir den Bundesrat und den Beichakanzler sueh keine Pflicht der Be- antwortung." Vergl. damit da» im allffemeinsn Teil iui Abschnitte „der rechtliche Charakter des Inlerpellationsrechts'' Oesngtc.
' Vergl. Jetlinek, VerfnisongaHndarung und Terfasaungawandlimi;, S. 24 ff.
80 VI 2.
können Interpellationen nur an den Kanzler als verantwort- lichen, der Eontrolle unterliegenden Minister ergehen, was auch der tatsächliche Zustand anerkennt. Dem Kanzler gleich stehen seine „Stellvertreter"^ und die Anfragen, ob der Reichskanzler zur Beantwortung einer Interpellation bereit sei, werden in praxi an den „Herrn Vertreter der verbündeten Regierung" gerichtet — eine Form die nicht ganz entsprechend ist, da die verbündeten Regierungen einer Kontrolle nicht unterliegen ; soweit dieser „Vertreter" aber zugleich ein Vertreter des Reichskanzlers ist, scheint diese Formulierung gleichwohl zulässig'. Überhaupt ist die faktische Übung des Interpellationsrechts recht liberal und es kommen sogar Anfragen an Unterstaatssekretäre vor^. Jedenfalls hängen die Schwankungen des Interpel- lationsrechtes im D.R.T. eng mit den Verfassungswand- lungen zusammen und werden erst zur Ruhe kommen, wenn diese stabiler geworden sind.
Was die Behandlung der Interpellationen betrifft, so wurden sie bis zum Jahre 1874 nicht auf die T.O. gesetzt, was seit 1879 jedoch Regel ist. Jetzt ist die Feststellung der T.O. durch die Interpellationen gebunden, welche auf der T.O. jener Sitzung erscheinen müssen, die ihrer Ein- bringung folgt. Sind es mehrere Interpellationen, so steht von ihnen keiner der Anspruch auf Priorität zu, sondern über die Reihenfolge ihrer Verhandlung entscheidet das Haus durch Mehrheitsbeschlufi. Ebenso können die Inter- pellanten nicht verlangen, daß ihre Anfragen als erster Gegenstand angesetzt werden. Liegen tatsächliche oder rechtliche Gründe vor, welche verhindern, die Interpella- tionen auf die T.O. der ihrer Einbringung folgenden Sitz- ung zu bringen, so werden sie auf die der nächstfolgenden gesetzt.
^ Yergl. das Reichsgesetz betreffend die Stellvertretang des Beichs- kanzlers vom 17. März 1878.
* Vergl. PerelSf a. a. O., S. 65, Anm.
' Z. B. am 1. Mai 1880, Leg. Per. IV: 3. Sess. Stenograph. Protok. S. 1071.
2, 81
EinBtimmtgkeit des R.T. kann eie auch auf einen spä- teren Termin verschieben.
Vor der Beantwortung gebührt dem Fragesteller du
frt zur Begründung; durch die Verweigerung einer mate- len Antwort ist auch eine formelle Interpellationshe- ndung in der Interpellationsdebatte ausgeschlossen. i
Anfaaug: Die Einzelstaateo.
Die parlamentarischen Organisationen der Gliedetaatett
3eB Deutschen Reiches bieten zum Teil ein buntes Gemisch
ständischer Einrichtungen mit modernen Institutionen und
an diesem Gemenge mit seinen interessanten etaatarecht-
liehen Gegensiltzen zwischen der Struktur des Reiches und
per Einzelstaatea partizipiert auch das Interpellationsrecht.
ald hat es eine Regelung in den Verfassungen erfahren,
nie teilweise eingehender', teilweise nur grundsätzlich- Be-
itimmungen festlegten, bald ordnen es einfache Gesetze*,
kld bauen die selbständigen Geschäftsordnungen — wie
, B. in Baden nnd Württemberg — auf der Baeia der
■en Kammern zustehenden Kontrollrechte das Interpella-
|Ions Wesen auf.
Preußen mag vielfach vorbildlich gewesen sein; so
1 Lübeck: Verfassung vom b. April 1875, Art. 4ö; Hamburg Ferfaisimg der freien und Haiifei>Udt Hambarg', pabliiiert am 18. Oktober "^" in Kraft getreten am 4. Man 1880, Art 60»; 65.
■ Sachsen-Weimar-EiBenacb: Raridiertes GrundgesetE Tom rW. Oktober 1850 Aber die Verfassung dea Großlierzogttuna Ssvhsen- Weimai^EiBenach, g 29, Abs. 2; Oldenburg: Reridierle» Staats- grundgefleti vom 22. November 1852 tiir das GroBherzogtum Oldenburg, Art 128, § 2 and Art 12, §4; Schnanburg-Sonderabansen: Lanitesgrundgeseti vom 8. Juli 1857 für daa F'ürstentnm Schwanbnrg- Sondershauiea, § 66 n. a.
' ilsyern: Qes. vom IS. Januar 1872 den Geschäflsgang des Land' Uges belreflend, Art 18—21, 83, Abs, 1, abgeändert durch Laiidtn^- aböcbied vom I. Juli 1868, § 26; äachaen: LandtagsardnuDg vorn 12. Oktober 1874, § 31; Hessen: Gesetz vom 17. Juni 1874, die land- ständiaclie Geachäftsordnung betreffend, Art. 22; Sachaen-Heiningen: Ges. vom 23. April 1868, die Binführang einer neuen Qeachäftsordnuag für d«n Landtag betrcOend, g 28.
auala- D. valkarrechtl. Abhandl. VI t. — Buegg«'. 6
82 VI 2.
auch für Bayern*, wo die Interpellation von einem Ein- zelnen kurz begründet und schriftlich eingebracht wird und dann in der Kammer zur Verlesung kommt, worauf die Unterstützungsfrage zu stellen ist; im Übrigen lehnt sich das Verfahren an das preußische an.
Ähnlich ist das Verfahren inSa'chsen^; in Hessen' kann der Minister die Antwort mündlich oder schriftlich geben und in Schwarzburg-Sondershausen* soll die Antwort auf die Interpellation „nur dann verweigert werden, wenn sie schwebenden Verhandlungen nachteilig sein würde."
Für Baden besagen §§ 45; 46; 47; 48 der G.O.
§ 45: „Motionen, Anträge, Interpellationen müssen schriftlich angezeigt und von mindestens^drei Abgeordneten unterzeichnet sein."
§ 46. „Interpellationen an die Regierung werden von dem Präsidenten dem betreffenden Minister oder Regier- ungskommissär in Abschrift und mit der Anfrage mitgeteilt, ob und wann er die Interpellation in einer öffentlichen Sitzung beantworten werde.**
§ 47. „An einem bestimmten Tage findet dann die Begründung der Interpellation durch einen der Interpellanten statt."
§ 48. „An die Beantwortung der Interpellation kann sich eine sofortige Besprechung anschliefien; dabei ist jedoch die Stellung eines Antrages unzulässig. Es bleibt jedem Abgeordneten überlassen, den Gegenstand später in Form eines Antrages weiter zu verfolgen."
In Württemberg*^ fehlt den Interpellationen, da die Anwesenheit der Minister verfassungsgesetzlich von den
^ S. auch Sejdel, das Bayerische Staatsrecht, 2. Aufl., 1896, I., S. 354ff., 488f.
^ S. auch Leuthold, das Staatsrecht des Königreichs Sachsen, 1884, S. 238 f; Opitz, das Staatsrecht des Königreichs Sachsen, 1887, II., S. 195 f; 203 f.
' a. a. O.
* a. a. O.
^ Siehe Gaupp-Göz, das Staatsrecht des Königreichs Württemberg, 1904, 3. Aufl., S. 119.
83
KEsrnmern nicht getordert werden kann, die durchdringende Icharfe.
So verschieden präsentieren sich das Interpellationsrecht *and seine Ausgestaltung in den verschiedenen parlamenta- rischen Kollegien der Gliedstaaten entsprechend den Ver- fassungen und den selbständigen Geschäftsordnungen, welch letztere — eine merkwürdige Erscheinung — in dem den i beiden Großherzogtüraern Mecklenburg- Schwerin und Meck- I ienburg-Strelitz gemeinaanien Landtage überhaupt fehlt*.
In der Stadtrepublik Hamburg stellt das Interpella-
J-tionsrecht eine kunstvolle Kombination von besonderer Ver-
klauBulierung unterworfenen einfachen Anfragen, formellen
»Anträgen und eigentlichen Interpellationen dar*. Ob der
■rfienat eine von fünfzehn Mitgliedern der Bürgerschaft unter-
Bitützte Interpellation beantworten will oder nie ht , liegt
■T&llig in seinem Belieben. Entscheidet eich der Senat für
■ die Nichtbeantworlung , so kann die Interpellation zum
Qegenstand eines selbständigen Antrages gemaeht werden
«nd, wenn die Bürgerschaft diesem zustimmt, so hat der
Senat die Pflicht, sich über die Anfrage zu äußern. Die
Äußerung muß in einer materiellen Antwort bestehen, falls
es sich nicht um Angelegenheiten handelt, die obschwebende
Verhandlungen des Reiches oder auswärtige Agenden be-
rUiiren. Wird das Interpellationsverfahren als „dringlieh"
bezeichnet, dann hat der Senat bereits in der nächsten
Sitzung zur Anfrage in oben erwähnter Weise Stellung zu
nehmen.
Eine Antwortablehnung ist mit Gründen zu versehen. Älinlicli wie Verf.-Art. liS für Hamburg regelt das Inter- pol alionsr echt für Lübeck Verf. Art. 45.
< Siehe BriHing, das Staatsrecht der GroBheran^fimer Mecklpuburg- Schwerin und Mecklünburg-StrelilE. 1888, 8 91 f.
* Ü. auch Wolffson, das Staatsrecht der frcicit und Hansostad. Iliimhiirs. 1888. S. 19
2. Österreich.
Die Pillersdorf'Bche Verfassung für Österreich vom 25. April 1848 — die sogenannte oktroierte April- verfassung — , welche die weatlicben Länder zum erstenmal zu einem Staate vereinigte^, enthielt zwar keine Be- Btimmungen über das Interpellationsrecht, doch statuiert einerseits § 32 die Verantwortlichkeit der Minister für alte Handlungen und Antrftge in ihrer Amtsführung, anderseits wurde die Initiative jeder der beiden Kammern und ihre Kompetenz, Über eingehende Petitionen zu verhandeln, in § 48 anerkannt; somit war, ähnlich wie durch Art. 81 der preuß. Verf. Urkunde von 185t), für die Entwicklung des Interpellationsrechta die Grundlage gegeben, aber die Folgezeit hat eine ununterbrochene Entwicklung nicht ge- bracht; die inner- und auöerpolitischen Vorgänge der nächsten Jahrzehnte zeugten Verfassungen, vernichteten Verfassungen und die Materie des Interpellationsrechta stand mitten in dem Wirbel der wechselnden Konstitutionen. Der nie realisierte „Kremsierer Entwurf'"' sagte in § 67, Abs. 2; „die Kammern können die Anwesenheit der Minister fordern ..." in § 91 : „Jede Kammer hat das Recht, von den Ministern Auskünfte zu verlangen, Erhebungen durch dieselben zu veranlassen, und ihnen Petitionen zur Erledigung zu überweisen oder zur Beachtung zu empfehlen" und in § 92: „Jedem Mitgliede des Reichstages steht das Recht zu, die Minister zu interpellieren'". Dieser Entwurf, der, wie erwähnt, nie in Kraft trat, wollte das I.R. atomisieren, indem er es jedem einzelnen Abgeordneten gewiBsermafien als „Individualrecht" — eine Auffassung des Rechtes, wio
4
4
' S. BerofttKik, die Ssterr. Verfassimgsgesetie 1906, 8. 73L
' Bermtaib, a. a. 0-, S. 85 ff.
* Dieser Paragraph fehlte in dem Verfassungavorachlagp , den ( FünferkoDiitee dem VerfaBaaugsausscbusse des B.T. vorlegte, warde «1 dem Antrag« des Abg. Scholl entaprechend autgencimmcii. Protokolle d_ VerfansiingaauBsehusBea im Bsterr. Rfichi^tage, 1848 — 1849. heraiug«rebe und eingaleitet von Antou Spring- '^"'^ " "" "•"
S. ni, 334.
VI 2. 85
«ie heute noch in Frankreich lebt — zusprach. Die Reichs- verfaasung vom 4. März 1849 („MärzverfaBsung") führte die Interpellationen auf jenem rechtlichen Wege weiter, den ihnen die oktroierte Aprüverfaaaung angewiesen hatte, doch • das Jahr 1851 brachte einen absolutistischen Rückschlag, der dem Reichstag mit allen seinen Rechten und Pflichten ein jfthes Ende bereitete; § 22 des Kaiser], Patentes vom 13. April 1851 R.G.B. Nr. i)2 hatte dagegen dem Reichs- mit seiner rein beratenden Stellung eine wenig akzentuierte formale Informationamöglichkeit dadurch ver- ' liehen, daß dieser den „Wunsch" aussprechen konnte, Mit- glieder des Ministerrates zwecks Aufklärungen über Vorlagen leinen Beratungen beizuziehen.
Das A.H, Kabinetteschreiben vom 20. August 1851 IB.O.B. 196 griff hierin noch beschränkend ein und das 'Patent vom 5. März 1800 R.G.B. 56 mit der Schaffung des '^verstärkten Reichsrates" änderte für das Interpellations- M;ht nichts zum Besseren. Die prinzipiellen Bestimmungen aes Oktoberdiploms (20. Oktober 1860, R.G.B. 226) und das Februar-Patent (26. Februar 1861, B.G.B. 20) gaben «war dem Interpellationsrecht einen neuen Inhalt, aber ohne ^tlafUr ausdrückliche Normen zu enthalten; § 21 des Patentes sjedoch lautete: „Die näheren Bestimmungen über den Ge- -«chäftsgang, den wechselseitigen und den Außenverkehr beider Häuser werden durch die G.O. geregelt." Obsehon, vie Bernatzik' liervorbebt, darin nicht gesagt wird, wer [iese G.O, zu erlassen habe, so löste sich docli die Frage n der Praxis durcli das Gesetz vom 31. Juli 1861, in IwtrefF der G.O. des Reichsrates R.G.B. Nr. 37 und dessen ) 12 besagte: „Interpellationen, welche ein Mitglied an einen ^ Minister, Hofkanzler oder den Chef einer Zentralstelle richten will, sind dem Präsidenten schriftiich, und zwar im H.H. mit wenigstens zehn, und in dem Hause der Ab- ^ordneten mit wenigstens zwanzig Unterschriften verseben
I Bernatzik,
1. O., a, 227, Anm
86 VI 2.
zu übergeben, werden sofort dem Interpellierten mitgeteilt und in der Sitzung vorgelesen. Der Interpellierte kann sogleich Antwort geben, diese für eine spätere Sitzung zu- sichern oder mit Angabe der Qründe die Beantwortung ablehnen/ Durch dieses Qesetz ist das Interpellationsrecht jeder Kammer ausdrücidich und bestimmt anerkannt.
Die Sistierungsperiode von 1865 bis 1867 bedeutete aber- mals einen Einschnitt in das Verfassungsleben. Und das Jahr 1867 stellte die Organisation der österreichisch- ungarischen Monarchie , den tatsächlichen Verhältnissen besser Rechnung tragend, auf neue Grundlagen; § 29 des Ges. — Art. XII („über die zwischen den Ländern der ungarischen Krone und den übrigen unter der Regierung Sr. Maj. stehenden Ländern obschwebenden gemeinsamen Angelegenheiten und über den Modus ihrer Behandlung"; sanktioniert und kundgemacht in beiden Häusern des Reichstages am 12. Juni 1867) sieht „Delegationen^, sowohl des R.T. als des R.R., zur Behandlung der dem Gesamt- reiche gemeinsamen Angelegenheiten vor, und § 39 Satz 2 f. des oben zitierten Gesetzartikels, auf den wir noch zurück- kommen müssen, spricht den Delegationen das Interpellations- recht zu. Dadurch, femer durch das Gesetz vom 21. Dezember 1867, über die Reichsvertretung R.G.B. 141, und das Gesetz vom selben Datum R.G.B. 146, über die allen Ländern der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten, wird das Interpellationsrecht des österr. R.R. bezw. des ungarischen R.T. sachlich in zwei Teile gespalten, in einen, der jeder Kammer für sich innerhalb ihres Wirkungskreises zustellt, und in einen, zu dem jede Delegation zuständig ist.
Mit den Verfassungsgesetzen vom Jahre 1867 ist die Frage nach der rechtlichen Natur der Staaten Verbindung Österreich- Ungarn aufs neue akut geworden, die hier jedoch nur soweit zu streifen ist, als es die Besprechung des Interpellationsrechts bedingt ^.
' Vergl. Hauke, Grundriß des Verfassungsrechtes 1905, S. 141 ff. auch bezgl. der dort angeftlhrten Litteratur.
VI 2.
Die zwei extremen Anschauungen bezüglich der Delegationen lassen sich kurz dahin charakterieieren , daß diese einerseiU als Reichsparlament, andereeits als qualifizierte Auaachüsae des öaterr. und des ungar, Parlaments angesehen werden'. Keine Theorie wird vollkommen den Tatsachen des praktisch -politischen Lebens gerecht; ftlr die erstere ließe sich manches vom Standpunkte der Gesetzesbuchstaben und der Interpretation des ideologischen österr. „Staats- gedankens" gelten dmachen, für die letztere liefert die Ent- wicklung der Praxis mehr und mehr Grundlagen. Sie ist es auch, die der ungarische Reichstag in seiner Majorität propagiert und sie ist es, die durch einen Beschluß der Delegation des österr. R.K. vom 7. Januar 1907 dadurch eine neue Stärkung erfuhr, daß von nun an auch die speziell österreichischen Minister in der Delegation des österr. R.K. erscheinen dürfen, befragt, und um Antwort und Auskunft
Lgebeten werden können '.
m Was das Interpellationsrecht anlangt, so werden im
tusterr. Abgh. und im österr. H.H. die Minister interpelliert, und zwar tatsAchlich auch oft über Angelegenheiten des Heeres und der auswärtigen Politik, die streng genommen in den Bereich der Delegationen fallen. Da diese jedoch relativ selten versammelt sind und außerdem ihre „Ausschuß- stellung" politisch behauptet wird, so scheint der Usus den Wirkungskreis des R.R. bezw. des R.T, ausweitender Inter- pellationen immer markantt^re Formen anzunehmen*.
Anderseits hat jetzt auch die Delegation des Ost. R.R.
■nne Art Fragerecht durch ihre G.O. an die österr, Re-
L. a. O., S. 160 ff.
' DiesbeKüglich kano ich mich r freien Presie" bexw. des „Neuen Wiene stBtxen.
* Wenn sicli diu) Mitglied den österr, U.H. Hofral Czilarc« am 7. Januar 1907 in der aaleir. Delegation gegen die AufiksBimg der gDeleeation" als „AuBschnB" verwahrte und sie aU „Organ des R.R," beMichnet« , ho durfte damit von dem herrorragenden juriet«u douh nur eine praktücb wenig bedeutsame NamcndiflerenzremDg rorgenommen
88 VI 2.
gieruDg zu statuieren gesucht und damit ihr bisheriges Interpellationsrecht (an die gemeinsamen Minister) aus- gedehnt; die weitere Entwicklung ist allerdings der Zukunft vorbehalten.
Im folgenden wird das Interpellationsrecht der beiden Häuser des österr. R.R. und das seiner Delegation getrennt behandelt, obschon sie kaum etwas anderes, als zwei Stämme aus einer Wurzel sind.
a) Das Interpellationsrecht der beiden Häuser des
österr. B.B.
Der aus dem G. 0. Gesetz vom Jahre 1861 angeführte § 12 regelte das Interpellationsrecht des Parlamentes; er findet sich in § 12 des G. O. Gesetzes vom 12. Mai 1868 R. G. B. Nr. 17 wieder, nur daß er in Berücksichtigung der staatlichen Neuorganisation Anfragen an den Hof-Kanzler ausschaltet und überdies die Zahl der unterstützenden Mit- glieder im Abg.H. auf 15 herabsetzt. Inzwischen hatte das Ges. ü. d. R.V. § 21 auch in der Verfassung folgendes ausgesprochen : „Jedes der beiden Häuser des R.R. ist be- rechtigt, die Minister zu interpellieren . . ." Diese Be- stimmung, ferner § 12 des heute geltenden G. O. Gesetzes vom 12. Mai 1873 R. G. B. Nr. 94, die §§ 68, 69 der selb- ständigen G.O. für das Abg.H. (beschlossen am 2. März 1875) bzw. § 57 der selbständigen G.O. für das H.H. (beschlossen am 25. Jan. 1875) enthalten die in Kraft stehenden Inter- pellationsnormen für die beiden Kammern des Ost. Parlamentes.
a) Das österreichische Abgeordnetenhaus.
§ 21 Ges. ü. d. R. V. wurde bereits zitiert; § 12 des G. 0. Ges. vom Jahre 1873 ist gleichlautend mit § 12 G. O. Ges. vom Jahre 1868 und fand mit Weglassung der speziell auf das H. H. bezugnehmenden Bestimmungen — gemäß § 17 G.O.Gesetz — in den korrespondierenden Para- graphen der selbständigen G. O.Aufnahme, die sagen :
§ 68: „Interpellationen, welche ein Mitglied an mnen
VI 2.
89
I;"
I
Itnist«r oder den Chef einer Zentral stelle richten will, sind dem Präsidenten schriftlich und mit wenigstens 15 Unter- ichriften versehen, zu übergeben, werden sofort dem Inter- pellierten mitgeteilt und in der Sitzung vorgelesen. Der r Interpellierte kann sogleich Antwort geben, diese für eine r«patere Sitzung zusichern oder mit Angabe der Gründe die f Antwort ablehnen (Ges. § 12)."
^ Ö9: „Ob infolge der Beantwortung einer Interpellation fl-odei' deren Ablehnung sofort oder in der nächsten Sitzung eine Besprechung des Gegenstandes slatifinden soll, ent- scheidet das Haus ohne Debatte, Ein darauf zielender An- trag muß in der Sitzung, in welcher die Beantwortung der I Interpellation erfolgte, oder in der nächsten Sitzung ein- gebracht werden. Die Stellung eines Antrages bei dieser Besprechung ist unzulässig" ', Zwischen den Bestimmungen des Interpellationsrechta in § 21 Ges. ü. d. R.V. und § 12 G.O.Gea. (1873) besteht «in kleiner Unterschied auch darin, daß letzterer die „In- terpellationen an den Chef von Zentralstellen" aus dem G.O.Ges. vom Jahre 18t}8 mitübernahm. Ferner enthält § 12 eine Art Interpretation der Verfassung; diese spricht
»das Interpellation Brecht jedem Ilau^e des R.U, zu; das O.O.Ges. legt das so aus, daß bereits eine gewisse Anzahl ▼on Kammermitgliedern zuständig sei, die Minister zu inter- pellieren. Nach dem Wortlaute der Verfassung müßte die „Kammer" bezw. die Kammermehrheit, interpellieren und diese Auffassung ist z. B. in Holland, wo die Ver-
thältnisse diesbezüglich ähnlich liegen, so maßgebend ge- wesen, daß jedes Mitglied, welches die ülinister zu inter- pellieren wünscht, die Erlaubnis des Hauses dazu einholen > Nicht hierhar guMtt g 67 aber die „ Interpol lationen" an den FriHidenleo und die VarsitKeoäen der Abteilungen und Auaschftuse. Vergl, AbKi^hnitt über die dem InteqiellatiODareuhl ihnlichen Inttitutirinen,
* Hartog, du Stastsrecht des Klinigreiohit der Niedertatide,
90
VI 2.
1 als
huDg maß Pra-
ß.O.Gea. keine Bedenken lier vorgerufen und wird «1» völlig korrekt angesehen.
Die Beatimmungen der §§ 68, 69 G.O. bedürfen, dem sebon im allgemeinen Teile Geaagten, hier nur nochl einer geringen Erläuterung. Der „Autrag" auf Besprechung einer Interpellation ist nach § 18 G.O. zu bebandeln, muß also von 20 Abgeordneten unterstützt acbriftlich dem Prä- sidenten überreicht werden ', Das Verbot, einen Antrag b der BesprecLuQg selbüt zu stellen, bezieht sieb materielle, nicht aucb auf formale.
Ein interessantes Licht einerseits auf die praktische Unzulänglicbkeit der Beatimmungen über das Interpellati- onareeht, anderseits auf die verschiedenen Bestrebungen der an der parlamentarischen Arbeit beteiligten Faktoren werfe» drei auf eine Abänderung der G.O. hinzielende Vorschlägeu die sich alle drei auch mit den Interpellationen befasaen u vom Abg.H., dem H.H. und der Regierung stammen.
K!ie an die Besprechung dieaer Vorlagen, denen rigena es bisher an praktischen Konsequenzen fehlte, herai getreten werden kann, muß ein Blick auf die Übung dM Interpellationarecbts im Abg.H. geworfen werden , dem diese Übung, d. h. die Art derselben, wie sie Regel wurd«^^ bedingte die auf eine Reform bedachten Pläne, Die Inter- pellationen bewahrten hier aus verschiedenen an dieaer i Stelle nicht näher zu erörternden Gründen ihren Informar tions- und Kontrollcharakter nicht, sondern in Epochen parlamentarischer Kämpfe verfolgten sie zum Teil Zwecke, die nicht als „staatliche" bezeichnet werden können; lokale Interessen, das Bedürfnis den dem objektiven Verfaliren zum Opfer gefallenen Zeitungsartikeln und Broschüren das Immunitätsprivileg zu verschaffen oder der Drang, die regel- mäßige Arbeit zu obstruieren, traten in den Vordei^rund. Die große Zahl der Anfragen in manchen Sessionen allein
' Die Untttrstützung kann ancb nach Bekanntgabe de» Antragei in Hause auf Grund der vom Präsidenten geelellten UnterstüUiungtfrag« er- {o]gea — g läE O.O.
VI 2.
91
»
war es nicht, daß ein ungeheurer Perzentsatz davon ohne Antwort blieb, sondern andere Umstände spielten da herein: rasch aufeinander folgende Wechsel der Minister und jene Obstruktionsinterpellationen , die auf gar keine Antwort reflektierten, sondern mit ihrer Einbringung schon ihr Ziel erreichten ^ nämlich Verzögerung der Geschäftsbehandlung anderer Gegensüinde.
Schon lange vor dieser Kontliktszeit hatte ein durch die Q.O. nicht begründeter modus procedendi Zeilgewinnnng bei der Interpellationa- Behandlung angestrebt; nur jene wurden naralich ira Hause wörtlich verlesen, von denen dies ausdrücklich begehrt wurde; zur Regel wurde es, nur den Titel, allenfalls noch die eigentliche Anfrage ohne Begründung, mündlich vorzubringen^.
Mancher Vorsitzende nahm auch das Recht in Anspruch, die Zensur Über den Interpellationsinhalt zu üben, beriet sich dabei auf die §§ G, 57 G.O,, und binderte die Vor- lesung der Anfragen so weit, als sie Anstand und Sitte verletzten oder gar den Charakter der Strafwürdigkeit an- nahmen*.
Soviel über die Praxis.
Die anfangs angedeuteten Mißstände, die Entartung des Rechtes, brachten es dazu, daß Rufe nach Reformen laut wurden. Um den Rufen nachzukommen, schlug der Geschaftsordnungsauaschuß des Abg.H.^ gerade nicht den glücklichsten Weg ein, da er eine Umbildung der selbstfin- digen G.O. plante, statt des G.O. Gesetzes — nur dieses könnte eine rechtliche Bindung der Regierung bewerkstel- ligen.
§ 68 6.0. lautet mit den vom Ausschüsse angeregten Änderungen * :
' Etieieo Vorgang beieichnetenTenchiedenePriUidenteii — Clumeckj, Smolka, Kathrein — als „Usas*. S. B^ieruu^vorlafrv, S. 23.
* Vergl. die AaBerungen des Präaidenlen Ur. Smolka in der 142. Sitzutig vom IT. Juni 1^92; XI. 8ms. 6. 6502.
■ Siehe Bericbl äex Abgli.
' Bericht d«a Abgh., S. 86.
92 VI 2.
„Interpellationen, welche ein Mitglied an einen Minister oder den Chef einer Zentralstelle richten will, sind dem Präsidenten schriftlich und mit wenigstens 15 Unterschriften versehen zu tibergeben, werden dem Interpellierten mitgeteilt, in Druck gelegt und im Hause ver- teilt. Falls 50 Mitglieder es verlangen, mufi die Interpellation im Laufe der Sitzung ver- lesen werden. Der Interpellierte ist verpflich- tet, binnen 6 Wochen Antwort zu geben oder mit Angabe der Gründe die Beantwortung ab- zulehnen" *.
In § 69 G. O. sollte nur der letzte Absatz neu redigiert werden und zwar*:
„Bei dieser Besprechung kann der einfache oder begründete Antrag, das Haus nehme die Beantwortung der Interpellation zurKenntnis, oder ein solcher Antrag, das Haus nehme die Beantwortu-ng der Interpellation nicht zur Kenntnis, gestellt werden."
Von wenig einschneidender Bedeutung ist der Vor- schlag, an Stelle der zum Teil auch heute schon nicht mehr geübten „Verlesung der Interpellation" deren Drucklegung und Verteilung an die Mitglieder einzuführen und eine Ver- lesung nur auf einen besonderen Antrag hin vorzunehmen. Groß wäre dagegen die politische Tragweite der Einrichtung, die Diskussion mit einem Vertrauens- oder Mißtrauens- votum für den Interpellierten beschließen zu können, es wäre dies gleichbedeutend mit einem Versuch die parla- mentarische Regierungsform zu inaugurieren. Die „Äußer- ungspflicht" des Ministers besonders zu betonen, scheint infolge § 21 Ges. ü. d. R.V. einerseits überflüssig, anderseits, falls man annimmt, sie sei dort nicht begründet, ist die selbständige G.O. nicht geeignet, sie zu fixieren.
' Hier, wie im folgenden, ist das neufonnalierte dnrch gesperrten Druck hervorgehoben.
^ Siehe Bericht des Abgh., S. 36 f.
VI 2.
93
Wahrend das Abg.H. auf den kräftigeoden Ausbau dea Interpellationsrechts hinarbeitete und die Besserung der lierrscheaden Zustände von einer Einkelir aller Abgeord- neten in aiL'h erwartete, betrachtete das H.H. in seinem Berichte der Spezialkommission ' das Interpellations prob lern ausschltcfilicb von der technischen Seite und glaubte schein- bar nicht dem Satze, der in dem Berichte der H. Kammer steht^: „Im Übrigen kann, wenn sich nicht die Mitglieder freiwillig zu einer liöheren Auffassung des Interpella- tionsrechts aufschwingen, keine Änderung der Vorschrift wirkliche Besserung schaffen."
Aus der Mitte des H.H. wird folgende Änderung des § 12 G.O.Gesetzes in Vorschlag gebracht^: „Interpel- lationen, welche ein Mitglied an einen Minister oder den Chef einer Zentralstelle richten will, sind dem Präsidenten schriftlich zu übergeben. Sind dieselben im Herrenhause mit wenigstens 10, im Abg.H. mit wenigstens 15 Unter- schriften versehen , so werden sie in ein besonderes im Hause aufliegendes Buch eingetragen. In eben dieses Buch erfolgt die Eintragung der Antwort oder der Erklitrung. daß der Interpellierte aus bestimmten, von ihm anzugebenden QrUnden die Antwort ablehne. Die in das luterpellations- buch eingetragenen Anfragen und deren Beantwortungen werden in Druck gelegt und dem Sitzungsprotokoll als Beilagen angei^lgt. Wenn der Interpellierende es verlangt und dieses Verlangen im H.H- von 25, im Abg.H. von 50 Mitgliedern durch deren Unterschrift unterstützt wird, so ist die Interpellation im Hause vorzulesen und erfolgt auch deren Beantwortung bezw. die die Beantwortung aus bestimmten Gründen ablehnende Erklärung in der Sitzung des Hauses. Enthält eine Interpellation nach dem Urteile dea PrAsidenten entweder eine gröbliche Verletzung des Anstandes oder der Sitte oder eine Äußerung, welche den
94 VI 2.
Charakter der Strafwürdigkeit annimmt, so hat er den be- treffenden Teil der Interpellation sowohl von der Eintragung in das Buch und der Drucklegung als von der Verlesung im Hause auszuschließen."
Der hier zur Anregung gebrachte schriftliche Interpel- lationsprozeß sollte die mündliche Erledigung nicht voll- kommen ausschließen, aber der Typus des Verfahrens würde dennoch ein anderer werden und die Kontrolle — auch von Seite der Öffentlichkeit — eine Abschwächung er- fahren.
Bisher waren die Parteigegensätze im R.R. so bedeu- tend, die Gegensätze, zuvörderst in der großen Krisenzeit so schroff, daß die präsidiale Zensur unter Umständen grö- ßerer Unordnung statt gesteigerter Regelmäßigkeit Vorschub leisten könnte. Der bisher übliche Usus sah nur von der Verlesung beanstandeter Stellen ab, der neue Vorschlag wollte solche als null und nichtig erklären. Verfehlt ist der etwas verschämte Hinweis des Berichtes * auf England, dessen parlamentarische Verhältnisse wegen ihrer vom Kon- tinente verschiedenen Grundlagen keine kritiklose Nach- ahmung von Institutionen gestatten.
Noch weiter geht in mancher Beziehung die Regierungs- vorlage^. Der reformierte § 12 G.O.Gesetz sollte lauten: § 12: „Interpellationen, die ein Mitglied an einen Minister richten will, sind dem Präsidenten schriftlich, und zwar im H.H. mit wenigstens 10 und im Hause der Abg. mit wenig- stens 30 Unterschriften versehen, zu übergeben, werden sofort dem Interpellierten mitgeteilt und ohne Verlesung ins stenographische Protokoll aufgenommen. Der Interpel- lierte kann mündlich oder schriftlich Antwort geben oder mit Angabe der Gründe die Beantwortung ablehnen. Schriftlich erteilte Antworten werden ohne Verlesung so- gleich ins stenographische Protokoll aufgenommen. **
' Bericht des H.H., S. 4. ^ Regierungsvorlage, S. 5.
; „Der Präsident ist berechtigt, Interpellationen, sowie sonstige, von Mitgliedern überreichte Schriftstücke zurückzuweisen, wenn sie Stellen enthalten, die atrafgeaetz- ■widrigen Inhaltes sind, oder den Anatand oder die Sitte blich verletzen."
Die Mündlichkeit oder Schriftlichkeit der Antworten ,rde demnach völlig in das Belieben des Interpellierten leBtellt, dem Fragesteller und dem ganzen Hause keinerlei linfluß auf den Modus der ministeriellen Äußerung ein- geräumt! Die Beseitigung der „Chefs der Zentralstellen" als durch Interpellationen kontrollierbare Personen steht im Einklang mit § 21 Ges. ü. d. R.V. und die Hinaufsetzung der Zahl der eine Anfrage unterstützenden Mitglieder von 15 auf 30 wäre nur eine Konsequenz der seit 18ö7 fort- dauernd steigenden Anzahl der Mitglieder des Abgh.
Die Abänderungsvorschläge der Regierung und die aus Mitte der I. und der II. Kammer des iisterr. R.R. 'urden, obschon sie bisher keine Reform des Interpellations- rechts herbeifüTirten, hier genau registriert — wobei ihre Besprechung mit Rücksicht auf das im Abschnitte; ^Erscheinungsformen des Interpellationsrechta" gesagte starke Beschrünkung erfuhr — , weil sie dem Gedankengang nach, kommenden auf Grund des allgemeinen Wahlrechts ge- TTfihlten Abgh, eine große Rolle spielen dürften und Über- dies klar und deutlich die Tendenzen zeigen, die der Re- gierung, den konservativ staatlichen und den aggressiv politischen Elementen bei der Behandlung dieses Problema 1er parlamentarisch an Kontrolle innewohnen.
ji) Das österreichische H.H.
Der § 21 Gea. ü. d. R.V. und § 12 G.O.Ges. von
1873 geben auch dem H.H. fUr sein Interpellationsrecht die
Metzlichen Grundlagen, dessen genauere Regelung § 57
der aelbstAndigen G.O. enthält. Dieser unterscheidet sich
»inahe nicht von den §§ (i8, 69, G.O. dos Abgh., nur
rei B ,E
Km
96 VI 2.
braucht eine Interpellation von blofi 10 Mitgliedern unter* stützt zu werden und der Antrag, eine Debatte anzugliedern^ kann nur in derselben Sitzung , da die Äufierung der Re- gierung erfolgte, eingebracht werden — nicht, wie in der
11. Kammer, auch noch in der nächsten Sitzung. Die Reformanträge der Regierung und der Spezialkommission des H.H. tangieren auch dessen Interpellationsrecht, doch ist die ganze politische Stellung des Oberhauses eine solche, daß die Einschränkung dieser Kontrollmittel und seine Umsetzung in ein schriftliches Verfahren weniger in die Wagschale fielen, als dieselbe Änderung es im Abgh. täte»
b) Das Interpellationsrecht der Delegationen.
§ 39, Satz 2f des ungarischen Ges. Art. XII vom
12. Juni 1867^ besagt allgemein: „Jede Delegation wird das Recht haben , an das gemeinsame Ministerium oder je nach dem Ressort an das betreffende Mitglied desselben Fragen zu richten , und von demselben Antwort und Auf- klärung zu verlangen. Eben darum wird das gemeinsame Ministerium das Recht und — wenn es hiezu aufgefordert wird — die Pflicht haben, bei der einen Del^ation, sowie bei der andern zu erscheinen, zu antworten oder mündliche oder schriftliche Aufklärungen zu geben, oder, wenn es ohne Nachteil geschehen kann, auch die nötigen Dokumente vorzulegen,**
Diese bestimmte Formulierung hat in § 28 Abs. 3 des Ges. vom 21. Dez. 1867 R.G.B. 146 (betreffend die allen Ländern der österreichischen Monarchie gemeinsamen An- gelegenheiten und die Art ihrer Behandlung) für die Delegation des österr. R.R. eine Abschwächung erfahren: „Die Delegation hat das Recht, an das gemeinsame Ministerium oder an ein einzelnes Mitglied desselben Fragen zu richten und von demselben Antwort und Aufklärung zu verlangen^
1 Bernatzik, a. a. O., S. 289 ff.
rvi 2.
97
femer Kommissiooen zu ernennen, welchen von Seiten der Miniflterien die erforderliche Information zu geben ist,"
Erst eine sinngemäße Auslegung des „Anfragerechtes" zeitigt hier dieselben Ergebnisse, die oben zitierter § 39 klar und deutlich auch ausspricht.
Ein G.O.Beachluß der Delegation dea österr. R.R. vom 7. Januar 1907' enthält eine Weiterung der authentischen Informationamöglichkeit der Delegation insofern, als von nun an auch die Mitglieder dea österr. Ministerrates den Sitzungea beiwohnen können und von ihnen Antwort und Aufklärungen
Iftuf Anfragen gefordert werden dürfen. Mi]
Anhang: «) Ungarn.
Daa Interpellationsrecht des ungarischen R.T. behandelt
i 29 Ges. Art. III vom Jahre 1847/48*; er lautet: „Die ' Minister sind verpflichtet, in jedem Hause des R.T. welches ea wünscht, zu erscheinen und die erforderlichen Auf- klärungen zu geben."
u) Die Landtage der im R.R. vertretenen Königreiche ■ and Länder.
Der nicht realisierte, nicht einmal zur ersten Lesung gelangte „Kremsierer Entwurf" vom Jahre 1849* enthielt in § 118: „Der Landtag ist berechtigt, von der Regierung Aufschlüsse über alle Zweige der Landes Verwaltung zu ver- liingen, Petitionen an und in Verhandlung zu nehmen, Unterauchungskomniiasionen anzuordnen . . ,"
Die Landesordnungen (Beilagen II a — p zum „Februar- patent") vom 2tj. Februar 18(il* bestimmen in § M Satz 2 (bezw. § 36 Satz 2*): „Wenn die Absendung von Mit-
' Der Verfnsc^r stiitzt sich auf die bereits erwähntou Berichte der
n 8. Jnnuar 1907. ' Abgedruckt bei Mani, die StaatugrundgieaetEe.
• 8, Bernatzik. «. ». O., 8. 85 ff.
* AbKedi'uckt bei Msnz, a. a. O. ' § 36* der L.O, iUr die Bukoiriua, Dalnuitieii, Salabarg und
Rbiarlber^.
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VI ■;.
7
98 VI 2.
gliedern der Regierungsbehörden wegen Erteilung von Aus- künften und Aufklärungen bei einzelnen Verhandlungen notwendig oder wünschenswert erscheint, hat sich der Land- marschall ^ an die Vorstände der betreffenden Behörden zu wenden".
Daran anknüpfend können die selbständigen Geschäfts- ordnungen der Landtage die Formalien der Interpellationen regeln *.
Übersicht fiber die Interpellationspraxis im österreichischen Abgh. 1861—1907.«
Session |
Zahl der Interpell. |
beantwortet |
I. |
85 |
83 |
1 1. |
22 |
13 |
ITT. |
27 |
14 |
IV. |
68 |
51 |
V. |
15 |
8 |
VI. |
26 |
15 |
VII. |
25 |
16 |
VIII. |
249 |
152 |
IX. |
227 |
120 |
X. |
524 |
257 |
XI. |
2063 |
770 |
XII. |
294 |
7 |
XIII. |
336 |
4 |
XIV. |
452 |
96 |
XV. |
749 |
110 |
XVI. |
1167 |
125 |
XVII. |
11520* |
2946 kii Mt 1905 |
^ Bezw. Oberstlandmarschall, Landeshauptmann.
' Ein förmliches gesetzliches I.R. jedoch mit Ausschloß einer Debatte über die Äußerung des Interpellierten fand Anerkennung für Böhmen (laut Kundmachung der K. K. Statthalterei vom 1. Dez. 1863, L.O.B. 56)| Steiermark (Ges. vom 2. Februar 1877, L.G.B. 6) und Istrien (G^. vom 7. Mai 1877, L.G.B. 8).
^ S. Regierungsvorlage, a. a. O., S. 30 f.
^ Letztangefnhrte Zahl, sowie die Daten bezägl. des H.H. stammen aus dem „Neuen Wiener Tagblatt" vom 28. Januar 1907.
I
In der XVII. Session tH)01— 1907) wurden im H.H. r Interpellationen eingebracht und eine davon be- antwortet.
3. Frankreich'.
AU Bentham auf Betreiben des Grafen Mirabeau aua der Geschäft sordnnng des englischen Unterhauses gewisse Prinzipien herausarbeitete, welche von nachhaltigem Einfluß auf das Reglement der französischen Constituante wurden, hatte England seibat noch kein ausgebildetes Interpellations- recht und Frankreich schuf sich ein aolchea aus Eigenem',
Das Dekret der Constituante vom 21. Juni 1791 be- stimmte, daß die Minister der Nationalversammlung Auskunft auf Anfragen zu erteilen hätten und diese machte von ihrer Fragebefugnia auagiebigen Gebrauch, Darin liegt die Wurzel des ganzen Interpellationsrechtes'.
F ' DlMem AbachnUte siDd zugrunde gele^; Pierre, Trsile de droit
politiqDe 61ectoral et parlementaire , 1903, S. T83tf. u. T90ff; äxsa Sapptlment 1906, ä. 'iS5B; EBmein, ^UmeDts de droit coiutituttoniiBl franfiiis et campsrf, S. Aufl., S. 809 ff; Leben, das Stoatarecbt der franzSaiacheD Kepublik, lä86, S. 17, 73.
' Vergl. über dieae G.O. Hatschek, daa englisclie Stastsreoht, 1905, 1. ä. 426ff. u. Rcdlicb, Becht u. Technik des oaglischea ParU- raeuUriamuB. 1905, S. 777 ff.
' Uie AaskunlterleilunK der Minister aaf Aatrieb der Kamtnem ge- schieht beute auf dreierlei Weise ;
a) auf Qrtind von Antragen einzelner Mitglieder im Verlaafe der Budgetdebatte, wobei auBer dem Fragealeller sich auch noch andere Mit- glieder der Kammer an der Debatte beteiligen kOnnen ;
b) auf Qnmd von besonderen „Queetiona adreaa^es aox ministrea", die EU Beginn nder am Ende einer Sitzung gestellt werden kSnnen, falls der zu befragende Minister die question vorher genehmigt hat, und wozu nur dem Frageatoller und dem Minister das Wort zukommt. Die „Ge- nehmigung" ist im Art. HO des Reglements fBr den Senat ausdrilcklieh gefordert, in der DepDtierteakammer zwar nicht durch die G.O. wohl aber rturch das Herkommoii verlangt. Bsmein, n. a. O., S. MWf., der, nebenbei bemerkt, daa „Interpellationsrecbt" mit dem parlamentariaciien Regime in eugsle Verbindung bringt und es als «.laeatiellea Merkmal der Interpellationen, sie durch ein Vertrauens- oder HiBtrauenavotam au be- enden, betrachtet, «teilt die Qitestions der Kammern des franilsiachen Pnrtameutes den Queationa der beiden Häuser dea englischen gleich, ohne den tiefen Unterschied zu beohnchten. der dadurch zwischen ihnen liegt, daä der Kontrollcharakter der englischen questiona durch die Un-
100 VI 2.
Die Verfassungen zwischen den Jahren 1795 bis 1814 schlössen mit den Vertretern der Exekutive zugleich ihre Interpellation aus den Kammern aus und erst die Charte von 1814 brachte mit dem Zutritt der Minister zu den Sitzungen auch die Möglichkeit wieder, von ihnen mündlich Auskunft zu fordern. Die Geschäftsordnungen regelten bis 1849 das Interpellationsrecht nicht, obschon Interpellationen tatsächlich vorkamen.
Auch die Epoche der Restauration beschränkte die Initiative des Parlamentes und ebenso auch die direkte Übung der Interpellationen, so daß Anfragen über die innere und äußere Politik vor Allem im Anschlüsse an Finanz- gesetze, Petitionen und dergl. erfolgten. Seit der Juli- monarchie, genau: seit dem 5. November 1830 setzten wieder ausgesprochene Interpellationen mit Diskussionen ein und fanden zuweilen ihren Abschluß durch Annahme einer einfachen, seltener einer motivierten Tagesordnung*.
Dieser Usus weckte manchen Widerstand — und das Reglement ordnete das Interpellationsrecht noch immer nicht. Es wurde allmählich üblich, den Gegenstand und den Tag der Anfrage vorher mitzuteilen, und am 5. März 1834 nahm von diesem Formalismus ausgehend die Depu- tiertenkammer die Befugnis für sich in Anspruch, über die Zulässigkeit einer Interpellation zu bestimmen und den Tag ihrer Behandlung festzusetzen.
Das Jahr 1848 mit seinen Verfassungsbestimmungen brachte den Interpellationen eine Blütezeit, das Reglement vom 8. Juli 1849 regelte sie*. Aber die Konstitution des zweiten Kaiserreiches beseitigte das Interpellationsrecht im Jahre 1852. An seine Stelle trat seit dem Dekret vom
abhängigkeit ihrer Einbringung vom Willen des Interpellierten absolut gewahrt ist;
c) endlich als Äußerung auf die eigentlichen Interpellationen, von denen im folgenden allein die Rede sein soll.
* „Motivierte Tagesordnung", wenn die Kammer ihr Vertrauen oder Mißtrauen ausdrucken will, „eiiufache" dagegen, wenn dies nicht der Fall.
> Art. 79, 80, 81, 82 des Reglements der „Assembl^ l^slative**.
_ wie
!. 101
24. November IßÖO die „Adresse" ala Antwort auf die Thronrede, und neugescliaffene Minister ohne Portefeuille, die durch das Dekret vom 23. Juni 1863 dem ,Miniatre d'Etat" den Platz räumten, vermittelten den direkten Verkehr zwischen der Regierung und den Kammern. Das Dekret vom 19. Januar 1867 ersetzte die Adresse an den Kaiser durch ein allerdings verklausuliertes 1 u te rpe IIa tionsr echt, das durch Zugeständnisse der in den Grundvesten wan- kenden Monarchie allmählich erstarkte, um endlich im Gesetze der Repuhlik vom 31. August 1871 sogar ein Frage- recht an den Präsidenten zu erhalten, das jedoch apater wieder beseitigt wurde. Die für Frankreich pvaktiüch- wicbtige Scheidung von Interpellationen über Akte der aus- irtigen und Über solche der inneren Politik vollzog sich Tch das Gesetz vom 13. März 1373.
Die Verfassung von 1875 enthält nichts über das droit d'interpellation, das jedoch aus dem Prinzipe der Minister- verantwortlichkeit resultiert und in der Geschäftsordnung normiert ist*.
Einer besonderen Unterstützung bedürfen die Anfragen nicht; sie werden vom Interpellanten oder dessen Stellver- treter dem Präsidenten überreicht und von diesem der Kammer vorgelegt. Da über den Gegenstand der Inter- pellation keine näheren Bestimmungen bestehen, so fUllt daa Zensurrecht des Präsidenten schwer in die Wagschale; er weist konstitutionswidrige Anfragen zurück und läßt beleidigende Stellen und dergleichen nicht zur Verlesung kommen. Was der Verfassung entspricht und was nicht, ist oft eine Frage des Einzelfalles, welche nicht immer im selben Sinne beantwortet wird. Vor Allem wichtig ist, daß die Regierung nur darüber interpelliert werden kann, wofür sie verantwortlich ist. Dem älteren Reglement war ea
' B^glemcDt de chambre des dipatSR, Art. 40; Reglement da Benat^ Art. 61 ; inliBltlidi Btimmen in lieiug aaf dn» Interpellitionsrecbt die Oo* Msb&ftaordDiuigen der beiden Kammem Sberein.
102 VI 2.
fremd, daß Interpellationen über die „innere Politik" nicht auf länger als einen Monat zurückgestellt werden dürfen; heute ist das Vorschrift; eine Vorschrift, die sich aber nicht auf Anfragen bezüglich der äußeren Politik erstreckt ^ Interpellationen können auch sofort nach ihrer Einbringung in Behandlung genommen werden, doch geschieht dies nur im Einverständnis mit dem Interpellierten, während sonst die Kammer nicht an den Tag gebunden ist, den dieser vorschlägt, und ihn ohne Debatte festsetzt. Eine Debatte im formellen Sinne, nämlich soweit es sich um die Be- stimmung des Termines handelt, ohne auf das Tatsächliche der Anfrage einzugehen, ist dabei nicht ausgeschlossen.
Der Minister kann die Beantwortung einer Interpellation ablehnen.
Die G.O. untersagt es, ein anderes Mitglied des Hauses zu interpellieren, doch wird solches in praxi ausnahmsweise gestattet, wenn es ein Beamter ist und die fragliche Ange- legenheit in sein Ressort feilt. Zwei oder mehr Interpel- lationen können, wenn die Kammer es beschließt, gemeinsam unter gewissen Klauseln zur Behandlung gelangen.
Die Zurückziehbarkeit von Anfragen — übrigens darf der Minister auch solche zurückgezogene beantworten — und die Möglichkeit, daß sie unter Umständen von Anderen wieder aufgenommen werden dürfen, ist deshalb von Be- deutung, weil sie wieder eingebracht ihren Lauf dort be- ginnen, wo dieser sich befand , als sie fallen gelassen wurden.
Der Sessionsschluß erledigt die Interpellationen nicht eo ipso. Daß die Interpellationsdebatte durch Annahme einer einfachen oder motivierten Tagesordnung abgeschlossen zu werden vermag, wurde bereits erwähnt und ist deshalb von Bedeutung, weil die usuelle politische Empfindlichkeit
^ Der Bestimmung ist jedoch Genüge getan, wenn die Interpellation vier Wochen von ihrer Einbringung an gerechnet, auf die T.O. gesetzt wird; daß sie dann aus irgendwelchen Gründen nicht zur Verhandlung kommt, wird als rechtlich irrelevant angesehen.
VI 2.
103
der Regierung sie aus jeder Mißtrauenskundgebung die weitestgehenden Konsequenzen ziehen läßt'.
Die lange Praxis unter den wechselnden Systemen hat sowohl im Senate wie in der Deputierten kämm er manchen Usus erzeugt ; hier griff eine Beschränkung auf die wesent- lichsten Prinzipien des Interpeliationswesens Platz.
Zu erwähnen bleibt nur noch, daß die zweite Kammer, ohne die Textierung des Art. 40 G. O. einer Revision zu unterziehen, zu verschiedenen Malen (u. A. 1897, 1900, 1901, 1902 . . .) Beechiüsae mit provisorischer Kraft faßte, wonach — für Einzelfalle einen entgegengesetzten Beschluß offen lassend — die Freitagssitzungen für die Diskussion von Interpellationen bentimrat wurden. Diese Zeitbeschränkung macht es faktisch unmöglich, alle Anfragen, bezugnehmend auf die innere Politik innerhalb eines Monates nach ihrer Einbringung zu erledigen.
4. England'.
Einfache Anfragen ira Laufe der Verhandlung und bezugnehmend auf ihren Inhalt gehen im englischen Par- lamente weit zurück, aber erst das XIX. Jahrhundert schuf ein eigentliches Recht der Interpellationen — die hier „que- Btions to members" genannt — ^, das aber von der kon-
' Die übertriebene politiicbe Nervosität der Kabinette ]fi£t sich aug der Inatilatioii des parlamentariBcUen Regimea aar teilweise erklären; vielleicht spielt noch dae psfcbolof^nche Momeiit aus der Zeil des NatioDal- honventes herein, daß Jedes J'accuse' aus der Mitte der Versammlung ge- schlendert den „ Verdächtigten " zittern machte.
■ Tb. B. IStkj, Parliamentary Practice, II- Ed. 1906, S. 210f: 246ff; dasselbe 10. Ed. 1893, S. 205f; 336ff.i femer Maj, da« en^ liache Parlament und sein Verfahren, aus der 1659 orschieneaen 4. Aofl. des englischen Oripnala flhersetzt und bearbeitet von Oppenheini 18130, S.268f; Todd, über die parlamentariHCbe Regierung in England, deutsah von Ast mann. II. S. 286 ff; S. Low. The governanceof England, 2. Aufl. 1906, S. 91 f; Bodlich, Recht und Technik des englischen Parlamen- tariamuB, 1905, 8. 144ff; ÄMff; 301; 51.3ff; 52:1; 570; 572ff; 596; Hatschek, Englisches Staatsrecht, 1905, I. S. 375 IT., 395 f; II. S, 220.
* Formell sind demnach die Interpetlati''iien an die Uinlster in ihrer Eigeniolufl als Mitglieder des Hauses gerichtet.
104 VI 2.
tinentalen Gestaltung namhaft abweicht und keinen fran- zösischen Einschlag aufweist.
Die früheste Aufzeichnung einer formellen Interpellation an einen Minister datiert vom 9. Februar 1721, als Lord Cowper den Premier Earl of Sunderland fragte, ob eine Person, gegen die das Oberhaus ein Strafverfahren ein- zuleiten gedachte, tatsächlich im Auslande, wie ein Gerücht besagte , verhaftet worden sei. Im U n t e r h a u s e finden sich Interpellationen zur Zeit des jüngeren Pitt, doch erst zu Beginn der dreißiger Jahre des verflossenen Jahrhunderts begannen sie jenen eigenartigen Charakter anzunehmen, der sie typisch von den einfachen Anfragen unterscheidet; die Parteicourtoisie gewährte ihnen eine besondere Stellung in der Geschäftsbehandlung und seit dem 27. Februar 1835 erscheinen Interpellationen gedruckt im Notice Paper, ein Verfahren, das allmählich konstant wird, wobei sie über- dies noch bis zum Beschlüsse vom 7. März 1888 im Hause zur Verlesung gelangen. Dennoch ist der Usus ihrer An- erkennung nur langsam gefestigt worden ; noch 1859 schreibt May^: „Dergleichen Fragen (d. s. Interpellationen) sind aber möglichst auf solche Gegenstände zu beschränken, welche zu den Parlamentsgeschäften in unmittelbarer Be- ziehung stehen ..."
Nachhaltigen Einfluß auf die Institution nahm eine Bestimmung des Jahres 1861, da die T. O. zu Gunsten der Regierung insofern gebunden wurde, dafi diese ein Anordnungsrecht der Beratungsgegenstände an gewissen Tagen — den „Order- Days" — zugestanden erhielt. Durch diesen Einflußzuwachs des Kabinetts gewannen die Inter- pellationen als Eontrollmittel für das Parlament an Wert und allmählich, nicht ohne Widerspruch, erstarkte die In- stitution. Gleichwohl bestand seit je das Verbot, an- schließend an sie eine Debatte über die Antwort zu führen ; dieses wurde zeitweise durch einen Antrag auf Vertagung
^ May-Oppenheim, a. a. O.
lYI 2.
105
[ des Hauses zum Zweck der Diskussion zu miigehen gesucht, etn Vorgang, der Bchließlich keine Duldung mehr fand, Die Interpellationen selbst, als parlamentariscIiGs Inrorma- tions- und KontroUmittel, waren aber durch Geschäftaord-
I nungsvorschriften anerkannt und geregelt und die Sitte er- gänzte nur mehr die Bestimmungen fllr die Praxis.
Die geltende Gestalt des Interpellationswesens setzt sich
[ ftu3 Beschlüssen des Unterhauses vom 7. März 1888',
\ 29, April 1902^ und S.April liMlÜ^ zusammen und ist mit Berückaiehtigung des Usus folgende: Der Inlerpellatit über- reicht die an den Ressortminister gerichtete und schriftlich formulierte Anfrage dem Clerk des Hauses und sie wird im Notice Paper dor belreffeuden Sitzung, für die sie bestimmt , abgedruckt. Die Interpellation hat den Naraou des Fragenden zu enthalten, ferner die Angabe des Tages, an dem er die Antwort wünscht ^ soll diese eine mündliche iein. so ist dies durch ein „.StcrnchcD" anzudeuten, doch
I iteht dem Minister, falls er die Angelegenheit für wichtig
. tält, auch sonst der Weg einer mündlichen Erledigung frei.
I Der Clerk prüft, ob die Anfrage jenen Anforderungen ent- spricht, welche an sie gestellt werden. Der Koiivenienz nach
I soll sie nur jene Dinge enthalten, die zu ihrem Verstund- nisse unbedingt notwendig sind; für die Korrektheit der ihr enthaltenen Behauptungen ist der Interpellant ver- antwortlich; sie darf keine Argumente, Folgerungen, Epi- theta, ironische Satzwendungen in sich schließen und nicht auf Debatten, die in der laufenden Session stattgefunden, oder auf einen späteren Punkt der T.O,, noch auf Vor- gänge in einem Komitee, das seinen Beriebt dem Hause noch nicht vorlegte, bezugnehmen. Auch sind Questions
> SUnditif l'rder XX, abgedruckt büi Mny, lu >i. O., 10. Ed. B. 820 F.
* KeueSI.O, IX, abgedrackt bü Redlich, n. n 0., K.8Wf; ilb«r d«a nicht re&lisierteu Entwurf Balfoors vom Juble 1902, der auf Wider- ■tand itieß, liobe sbendn, S. ZUB. u. 839.
* tu Kraft stehende StO. IX mit ihrer Umaestalliuig vom A. April 1906, abgedruckt bei Maj, a. a. Ü-, 11. Ed. S. 91df.
106 VI 2.
bezüglich abstrakter Rechtsfragen, sowie solche, die mög- licherweise eintretende Eventualitäten ins Auge fassen, un- zulässig.
Persönliche Ausfälle sind zu vermeiden.
Interpellationen dürfen nicht als Vorwand [für eine Debatte dienen und, ist eine Frage einmal genügend beant- wortet, dann ist ihre wiederholte Stellung ausgeschlossen, doch kann eine erteilte Antwort zum Gegenstand weiterer der Aufklärung einzelner Punkte dienenden Anfragen ge- nommen werden.
Finden sich in einer Interpellation Unzulässigkeiten, so hat der Clerk den Interpellanten darauf aufmerksam zu machen, jedoch das eigentliche Zensurrecht steht nur dem Speaker selbst zu, in dessen Macht es auch liegt, die Ver- lesung einzelner Fragen im Hause zu gestatten. Ebenso scheidet der Sprecher Interpellationen aus, welche die Krone oder deren Einfluß auf irgend eine RegierungsmaB- regel in Frage stellen, auch kürzt er unter Umständen, wie es besonders 1887 anläßlich der irischen Obstruktionsinter- pellationen geschah, langathmige oder sich häufende Que- stions. Die Zeit zur Stellung von Interpellationen ist erstens auf Montag, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag beschränkt und zweitens hier wiederum auf 46 Minuten, nämlich auf die Frist von 3.0® h. bis 3.*» h.
Wenn auf eine mündliche Antwort reflektiert wird, so muß die Interpellation — durch das „Sternchen" gekenn- zeichnet — auf die T.O. spätestens des Tages gesetzt werden, der dem Tag vorangeht, an dem die Erledigung gewünscht ist.
Zur üblichen bereits erwähnten Zeit — der „Question time" — ruft der Sprecher jene Interpellanten, die eine mündliche Antwort verlangten, der Reihe nach auf, sie oder ihre Stellvertreter melden sich und stellen durch die Angabe der Zahl, die ihre Frage im Notice Paper erhalten hat, die Interpellation an den Minister. Solche „Stellvertreter" sind
VI 2.
107
zulässig, soweit es sich nicht um persönliche Beschwerden gegen den Interpellierten handelt.
Interpelliert können werden : Minister (bezüglich jener Angelegenheiten, die in ihr Ressort fallen). Exminister, Mitglieder des Hauses, welche der Regierung sonstwie an- gehören, jedoch nur, wenn der Kabinettschef nicht anwesend ist, ferner der Speaker, der Leader der Opposition und solche Mitglieder, die mit einer Bill zu tun haben, Antrüge anmeldeten oder sonst an einem Geschäfte des Hauses be- teiligt sind; der Sprecher, der Leiter der Opposition und die letztgenannte Kategorie nur betreffs der Geschfifta- behandlung oder einzelner in ibre Tätigkeit einschlagender Gescbfiftsstücke, was übrigens relativ selten vorkommt.
Sonst gelten als Interpellationsgegenstäude alle Vor- gänge der inneren und äußeren Politik, der Landes-, Reichs- und Koloniat-Verwaltung; man fragt auch die Regierung über ihre Absichten in einem konkreten Fall und von ihr selbst werden selbstverständlich im Bedarfsfälle Interpella- tionen inauguriert.
Nicht einmal die Parteisitte erfordert es, daß der inter- pellierte Minister eine Antwort zu erteilen habe; es steht ihm immer zu, eine solche mit Berufung auf das öffentliche Interesse abzulehnen. Das Bestehen eines Mitgliedes auf Beantwortung gilt als geschäftsordnungswidrig, doch ist es möglich eine unerledigt gebliebene Angelegenheit in Form eines Antrages vor das Haus zu bringen. Eine von einem Minister zurückgewiesene Interpellation darf nicht an einen ideren neuerdings gestellt werden.
Der Minister, der sich in seiner Äußerung kurz und indig fassen soll, kann im Notice Paper enthaltene Inter- pellationen auch dann beantworten, wenn sich weder der Interpellant noch ein Stellvertreter zur Ausübung des Rechtes meldeten, auch darf er sich durch einen anderen Minister vertreten lassen. Wurden bei der Beantwortung Schriftstücke verlesen und sind diese öffentliche Dokumente, so müssen sie, wenn es ohne GelUhrdung öffentlicher Inter-
108 VI 2.
essen angängig ist, auf den Tisch des Hauses niedergelegt werden.
Eine Beantwortung von Questions nach Ablauf der question time, erscheint nur dann zulässig, wenn ihre Er- ledigung in Folge der Abwesenheit des Ministers unterblieb oder wenn es sich um Fragen handelt, die nicht im Notice Paper erschienen, aber einen dringlichen für die Öffent- lichkeit wichtigen Charakter tragen, oder die Feststellung der künftigen Tagesordnung betreffen. Seit 1902 wird die mündliche Antwort — maßgebend wirkt das Bedürfnis nach Zeitersparnis — mehr und mehr durch die schriftliche Er- ledigung der Interpellationen ersetzt und zwar regelmäßig
1) wenn der Interpellant nicht auf „Mündlichkeit" besteht,
2) wenn weder das interpellierende Mitglied noch dessen Stellvertreter beim Namensaufruf im Beratungssaale an- wesend ist und der Minister sich nicht aus Eigenem zu einer verbalen Antwort entschließt, 3) nach Ablauf der In- terpellationszeit, falls bis dahin eine Interpellation nicht er- ledigt werden konnte und der Interpellant auch nicht das Begehren aussprach, die Frage zurückzustellen. Eine schrift- liche Antwort wird in Druck gelegt und am nächsten Tag mit den Notes und Proceedings (Verhandlungs berichten) publiziert.
Wie schon erwähnt, ist eine Debatte anläßlich der An- fragen ausgeschlossen ; im englischen Unterhause der Gegen- wart gibt es keine Möglichkeit für ein von der Antwort des Ministers unbefriedigtes Mitglied, eine solche zu provo- zieren; das Äußerste ist, daß es beschränkte „Supplemen- tary questions" zur Aufklärung einzelner Punkte in der Beantwortung stellt und dies darf nicht in ein „Kreuz- verhör" ausarten.
Im Oberhause ist die Interpellation vorher bekannt zu geben und auf die gedruckte T.O. zu stellen ; die Form- vorschriften werden hier nicht sehr streng beachtet und es ist die Möglichkeit gegeben, eine unformale Debatte zu führen.
VI 2.
109
— Interpellationen
Folgende Übersicht ' Aber die Praxis der Interpellationen an die B^erong seigt von dem erstaunlichen Anwachsen der Anfragen im ünterhause:
1800 gab es
1847 . , 129
1848 „ , 222
1850 ,. , 212
1860 „ 099
1870 . , 1203
1880 , 1546
1885 „ , 3354
1890 , 4407
1894 , , 3567
1897 , „ 4824
1899 „ „ 4521
1900 , „ 5106
1901 , „ 6448
1902 bis 5. Mai 2917
von da ab nach Änderung der standing
Order gab es mündl. beantwortete . 2415
schriftl. beantwortete 1836
115 (
Summa 7168
1903 mündlich beantwortet schriftlich
25541 1992 I
Summa 4546
5. Das Interpellationsrecbt anderer Staaten.
Aus den Ausführungen über das Interpellationsrecht der wichtigsten West- und Zentralstaatcn Europas und den kurzen Erörterungen der Materie für die Deutschen Bundes- staaten und die österreichischen Provinzen kann man cr- sehen, wie überall sein Kern in einer gesetzlich ausdrücklich ausgesprochenen oder aus der Kompetenz eines parlamen- tarischen Kollegiums indirekt hervorgehenden Fragebefugnis
^ Siehe Redlich, a. a. O., S. 235, Anm. 2 u, 516.
110 VI 2.
besteht, welche an Aufgaben der Minister oder ihrer Unter- gebenen anknüpft, gewissen Formalismen unterworfen ist, nicht auf den augenblicklichen Verhandlungsgegenstand beschränkt bleiben muß und mit einer Äußerungspflicht des Interpellierten korrespondiert. Daneben zeigt das Inter- pellationsrecht in den einzelnen Parlamenten und Kammern eine individuelle Ausgestaltung, die durch die verschieden- artige, wechselvolle Verbindung jener Einrichtungen, die im Abschnitt „Erscheinungsformen des Interpellationsrechts'' besprochen wurden, zustande kommt.
Ganz derselbe Typus: Gleichartigkeit des Grundcha- rakters, des Prinzips, und individueller Ausbau im Spezi- ellen — eine Folge konformer Bedürfnisse, rechtlicher und politischer Nachahmung, angepaßt an die Eigenart der ein- zelnen konstitutionell-parlamentarischen Organisationsformen — ganz derselbe Typus ist auch in den verschiedenen an- deren Staaten, die ein modernes Parlament haben, zu beob- achten.
Wenn die Union dabei eine Ausnahme macht, so ist das darauf zurückzuführen, daß sie streng konservativ an dem System der „Gewaltentrennung" festhält, das einen offiziellen mündlichen Verkehr zwischen Legislative und Exekutive in den Vereinigten Staaten von Nordamerika ausschließt. Der „Kongreß' ' ohne Interpellationsrecht ist eine exzeptionelle Erscheinung unter den parlamentarischen Kollegien.
Die markantesten Organisationsformen, die sich um die Interpellationen in den Parlamenten am Kontinent weben, fanden bereits im allgemeinen Teile an den entsprechenden Stellen Erwähnung ; schon ein oberflächlicher Vergleich der geltenden Normen und Gewohnheiten scheint zu dem Ur- teile zu berechtigen, daß es dem Interpellationsrecht in den germanischen, besonders in den angelsächsischen Staats- wesen nicht bestimmt ist, eine so bedeutende Rolle zu spielen, wie in den romanischen, vor Allem in Frankreich.
Nur von dem Interpellationsrecht eines der jüngsten
VI 2.
111
koQsti tut! on eilen Staaten — nämlicli Rußlands — soll noch die Rede sein >.
AIb Japan mit der Verfaasnngaurkunde am 11, Februar 1889 auch das Gesetz betreffend den R.T, verkündet wurde, euthielton die g§ 48, 49 dieses Gesetzes die Formulierung des Interpellationsrechts, das dem des preußischen Abg.H. nachgebildet ist*. Nicht so einfach rezipierend ging Ruß- land im Jahre 1900 zu Werke. Dieses verband Einrich- tungen verschiedener westeuropäi scher Staaten und krönte sie durch einen Schlußstein, der spezifisch den russischen Verhältnissen entsprechen mag, aber ein absolutistischer Block im konstitutionellen Interpellatio na recht ist, das hier Übrigens nicht mit einer staatsrechtlichen Minis terverantwort- lichkeil Hand in Hand gebt.
Es ist bei den verwirrten politischen Verhältnissen im
russischen Reiche noch nicht klar, ob und wie die Praxis
auf den Buchstaben und die Auffassung der Bestimmungen
korrigierend einwirken, wie die tatsächliche t!lbung das
■ Interpellationsrecht gestalten wird.
Der A.H.Ukas vom 30. Februar 1906 (russischen Datums) über die Reichsduma' sagt in den §§ 58, 69: eine von 30 Mitgliedern der Duma unterzeichnete Interpellation ist dem Präsidenten schriftlich zu übergeben und dieser legt sie dem Hause zur Beratung vor; sie kann eine An- trage enthalten, die Aufklarung und Auskunft über solche Akte der Minister, der Chefs von Zentralstellen oder der ihnen unterstellten Personen und Amter fordert, welche
' RuQlaiid» Zustlireiton auf eine KonntituKun fand Nachahmung in Peraien unJ Moutenegra; ilie Verfassung lieiiter Staaten, soweit Tages- blätter darüber bericliten, regeln aurh das Interpellationsrechl, das in Persien sogar zu einem VerfasfluiiKskonflikt »wischen Parlamont und ße- giemog AnlaS (;ogeben haben fioU.
' Vergl. Reklam Nr. :^7%, „die japanische Verfassungsurkunde", S. 25.
" Abgedruckt in dem Werke „die geaetslichen Akte der Übergangs- epocbe 1904/1806", Petersburg 1906. Die hier augrunde gelegten gosetz- lichen Besümmungen wurden mir liebenswürdig von Dr. MarkeU aus dem Bnasiscben übersetzt Vergl, iiuob Pierre, Suppl.^menl, 8. S3I; :it3, der den Ukas vom 19. August 1905 datiert.
112 VI 2.
nicht gesetzmäßig scheinen. Stimmt die Mehrheit der Duma der Interpellation zu, dann wird sie dem betr. Mi- nister bezw. dem Chef der Zentralstelle mitgeteilt und diese müssen innerhalb eines Monats entweder die nötigen Auf- klärungen und Auskünfte erteilen, oder die Gründe an- geben, warum sie eine materielle Antwort verweigern.
Doppelt hat sich die Regierung gegen Interpellationen gewappnet: 1) sind sie an die Zustimmung der Duma- mehrheit gebunden und die Minderheit ist so dem „guten Willen" der Majorität ausgeliefert; 2) sollen nur Akte, die nicht gesetzmäßig scheinen, Gegenstand der Anfrage sein.
Aber entschieden die eigentümlichste Einrichtung blieb dem § 60 vorbehalten : falls sich nämlich die Reichs- duma mit den Auskünften und Aufklärungen der Interpellierten nicht zufrieden gibt und dies durch einen mit Zweidrittel-Mehrheit ge- faßten Beschluß deklariert, so wird die Ange- legenheit durch den Vorsitzenden des Staats- rates zur A.H.Entscheidung gebracht.
Dieser Passus muß in praxi entweder ein „Begraben" der ungenügenden Interpellationserledigung zur Folge haben, oder, falls die Krone sich der Angelegenheit annimmt, wird der Monarch leicht in den politischen Kampf gezogen. Keineswegs scheint die Formulierung politisch klug oder glücklich.
Allgemein sind die Bestimmungen über das Interpel- lationsrecht in § 66, Kap. IV der Staatsgrundgesetze vom 24. April 1906 (russischen Datums) gehalten*. Sie regeln die Materie auch für den Staatsrat. Soweit sie hier nieder- gelegt sind, können sie nur auf Initiative des Zaren abge- ändert werden, da bezüglich Verfassungsgesetzen nur ihm die Initiative zusteht.
^ Abgedruckt (russisch) in der Sammlung der Gesetze und Ver- ordnungen der Regierung; herausgegeben vom Regierungssenat.
Staats-
und
völkerrechtliche Abhandlungen.
Begründet Dr. Oeorg JelUnek und Dr. Oeoi« Heyer,
herausgegeben
Dr. Georg Jellinek und Dr. Gerhard Änschütz,
PrDfessoiCD der B«chle in Haidalb«g.
VI. 8. Die GsBellttchafta- und Staatslehre der Physiokraten. Von Benedikt GHntzberg.
sm,
Leipzig,
Verlag von Duncker & Humblot.
1907.
Die
Gesellschafts- und Staatslehre der Physiokraten.
Benedikt GOntzberg;.
Verlag von Duncker & Humblot 1907.
Alle Reehte yorbehalteB.
Pierersche Hofbuchdmekerei Stephan Geibel k Co., Altenbnrg.
Meinen Eltern.
Vorwort.
Die vorliegende Schrift behandelt den Physiokratismus von einem bis jetzt noch wenig beachteten Standpunkt und beansprucht somit, eine der noch zahlreichen Lücken aus- zufüllen, die die Geschichte der politischen und sozialen Ideen aufzuweisen hat
Die Arbeit ist im Seminar des Herrn Geheimen Hof- rats Georg Jellinek entstanden, dessen mannigfachen geistigen Anregungen der Verfasser als Hörer und Schüler in seinem Wissen und Auffassen vieles zu verdanken hat.
Besondem Dank schuldet Verfasser Herrn Prof. Jellinek für die Aufnahme dieser Arbeit in seine Staats- und völker- rechtlichen Abhandlungen.
Inhalt.
S«it« Einleitung. Die bisherige literarische Behandlung der sozialen
und politischen Ideen der Phjiiokraten und der Pkn der vor-
liegeadea Arbeit |
Erstes KapiteL Die philot<^pbischen Gmndlagem des Phjsio-
kratismiis 7
I. Die Gmndsüge der theoretischen Philosophie Qnesnaj^s«
seine Erkenntnislehre 9
U. Die Moralphilosophie Quesnay^s und seiner Schule . . 16 ni. Die Quelle der Quesnay 'sehen Moralphilosophie — Male- branche 24
Zweites Kapitel. Die Sozialphiloiophie der Physiokraten und
die Methode ihrer „neuen Wissenschaft'' 32
Drittes Kapitel. Die Lehre von der Gesellschaft bei den Physio- kraten 41
I. Die Gesellschaft als natumotwendige Erscheinung. Staat
und Gesellschaft 41
II. Der Entwicklungsgedanke im Physiokratismus und die
soziale Struktur der „soci^t^ r^guliire'' 49
Viertes Kapitel. Die Lehre vom Rechte bei den Physiokraten. 57 Fünftes Kapitel. Der Staat und seine Au%abe in der physio-
kratischen Lehre 66
I. Der Staat Die Vertragsidee bei den Physiokraten . . 66 II. Die Staatsgewalt, ihre Funktionen, ihre „physische^
Unterlage 70
III. Die Au%abe des Staates : die Sicherheit und die ilerbei-
führung des „ordre naturel'' 75
Sechstes Kapitel. Die Politik der Physiokraten in der ersten
Periode ihrer Entwicklung 89
I. Die Ausgangspunkte der physiokratischen Politik und ihr revolutionärer Charakter 89
XII VI 3
Seite IL Die Kritik der verschiedenen Staatsformen und die Lehre
von dem „despotisme l^gal" und der „monarchie 6cono-
mique" 95
III. Fortsetzung der Lehre von der monarchischen Crewalt
und der sie einschränkenden Momente: die Hervorhebung
der öffentlichen Meinung und der Übergang der phjsio-
kratischen Politik in die zweite Periode ihrer Entwicklung 107
Siebentes Kapitel. Die zweite radikalere Periode in der Politik
der Physiokraten 113
I. Die inneren, in der Lehre beruhenden, und die äußeren
Gründe des Umschwungs 113
II. Der Munizipalitätenentwurf als das Dokument dieser Periode: sein Inhalt und die in ihm enthaltenen Ten- denzen 118
III. Turgot's Sonderstellung. Der Marquis Mirabeau. Schluß 127 Achtes Kapitel. Die historische Bedeutung der behandelten Seite des Physiokratismus für die Geschichte der sozialen und poli- tischen Ideen und für die vorrevolutionäre politische Bewegung in Frankreich 185
Yerzeichnis der benatzten physiokratischen Literatur.
Fr. Quesnay, Oeuvres 6conomiques et philosophiques de F. Qaesnaj,
fondateur du Systeme physiocratique, publikes avec une introdaction
et des uotes par Auguste Oncken, Francfort s/M. et Paris, 1888; derselbe, Fragmente aus der Abhandlung ,,Hommes'', mitgeteilt von St.
Bauer in Conrads Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik,
N. F., Bd. II, Zur Entstehung der Physiokratie; derselbe, Brief an den Intendanten von Soisson, mitgeteilt von Ottomar
Thiele in der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte,
1906, Bd. IV, S. 644—652. Marquis de Mirabeau^ Theorie de l'impdt, 1760. derselbe, Philosophie rurale, 1763, 3 Bde.; derselbe, Lettres sur la l^gislation ou Pordre social, d^prav6, r^tabli et
perp^tu6 par L. D. M., Beme 1775, 3 Bde; derselbe, Les ^conomiques, Amsterdam, 1769, 4 Bde.; derselbe, La science ou les droits et les devoirs de Thomme, 1774; derselbe, Education civile d^un prince par L. D. M., k Durlach chez
. Müller, 1788; derselbe, Briefvrechsel:
a) an seinen Bruder, den bailli, mitgeteilt (in Auszügen) von L. de Lom^nie, Les Mirabeau, t. II;
b) an den Marquis Longo — im Anhang des dritten Bandes der „M^moires biographiques , litt^raires et politiques de Mirabeau ^rits par lui-m6me, par son p^re, son oncle et son filH adoptif;
1 In das Verzeichnis sind die Torphysiokratischen Sohriften Mirabeau's — der nAmi des hommes" und der „Preciii de rorffanisation ou memoire tor les Etat« provinciauz** — nicht aufgenommen, wenn me auch in der vorliegenden Arbeit in Betracht gezogen werden mUssen, besonders die zweite der genannten Schriften.
XIV VI 3
c) an Charles de Butr6, mitgeteilt (in Auszügen) von Rodolphe Beuss, Un physiocrate tourang^au en Alsace et dans le Margraviat de Bade, 1887;
d) an Karl Friedrich von Baden — in dessen Briefw^echsel mit Mirabeau und Dupont, herausg. von Karl Knies, 1892, Bd. I.
Le-Mercier de la Rivi^re. LWdre naturel et essentiel des soci^t^s politiques, 1767;
derselbe, L^int^ret g^n^ral de T^tat ou la libert^ du commerce des bl6s (eine Streitschrift geg^n Galiani), 1770;
derselbe, Memoire sur rinstraotkn publique, in den Nouvelles Eph^m^rides Economiques vom Jahre 1775, Heft IX und X.
Dupont de Nemours. Discours de l'^diteur im Sammelwerk — Phjsio- cratie ou Constitution naturelle du gouvemement le plus avantageux- au genre humain , publik par Du Pont, Tverdon 1768 , t. I ; daselbst t. ÜI — De l'origine et des progr^s d'une science nouvelle;
derselbe, Table raisomi^ des principee de T^conomie politique« 1773;
derselbe, sahireiche Abhandluiigen in der Zeitschrift EphSm^rides du cito^ren.
derselbe, Briefwechsel:
a) an L. B. Say — in E. Daire's Ausgabe der Phjsiokraten , 1846, t. I;
b) an Turgot (in Auszügen), mitgeteilt von Schelle, Dupont de Ne- mours et r^cole physiocratique, 1888 (daselbst auch Auszüge aus Dupont^s Reden während seiner parlamentarischen Tätigkeit);
c) an Karl Friedrich von Baden und an den Erbprinzen Karl Ludwig in der schon genannten Knies^schen Ausgabe des Briefwechsels des Markgrafen Karl Friedrich, Bd. I und II.
d) an den Baron Edelsheim, in der Politischen Korrespondenz Carl Friedrichs von Baden, bearbeitet von B. Erdmannsdörffer , 1888, Bd. I.
Abb^ Baudeau. Introduction k la philosophie ^onomique in der Daire^schen Ausgabe der Physiokraten, t. II;
derselbe, verschiedene Abhandtungen in den Eph^m^rides du citoyen;
derselbe, Nouveauz ^Uments du commerce, Discours pr^liminaire zu Bd. I der Abteilung „Commerce^ in der Encyclop^die m^thodique, Bd. 78.
Turgot. Oeuvres, nouvelle Edition par Eugene Daire, 1844, t. I — II;
derselbe, Briefwechsel mit Condorcet:
a) Charles Henry, Correspondanee in^dite de Condorcet et de Turgot;
b) in Dupont's, an den Erbprinzen Karl Ludwig gerichteten Abschrift, in der E[nies' sehen Ausgabe des Briefwechsels des Markgrafen Karl Friedrich, Bd. II, S. 282—261 ;
VI 3 XV
c) in den Letters of eminent persona addressed to D. Home, Edin- burgh and London, 1894^. Le-Trosne. Recueil de plasieurs morceaux ^conomiques, 1788; derselbe. De Tordre social, 1777. derselbe, De Tadministration provinciale et de la röfonne de Timpdt t. 1,
livre V; t. II, Dissertation sur la feadalit^. Die Zeitschrift Ephem^rides du citoyen, Jahrgänge 1767 — 1770.
> Der Briefwechsel der Physiokraten , besonders Turgot's, Mirabeau's und Diipont's, ist in verschiedenen Werken und Zeitschriften zerstreut abgedruckt. Wir haben in das Verzeichnis nur dasjenige aufgenommen, was uns ftlr unser Thema von Wert erschien.
Einleitung.
I
Das Interesse für die phjaiokratische Doktrin ist erst vor verhältnismäßig wenigen Jahren wach geworden.
Ein ganzes Jahrhundert lang wurde sie geringschätzig behandelt, und wenn man es für geboten hielt, bei einer kritischen Übersicht der nationalökonomischen Lehren, zwar wohlwollend, aber doch herablassend, über die Phantasien der „Sekte" kurz hinwegzugehen, so war von ihrer Sozial- lehre, mit wenigen Ausnahmen, oder gar von ihrer Politik, fast überhaupt nicht die Rede. Auch die Neuausgabe ihrer Hauptwerke in den vierziger Jahren des vorigen Jahr- hunderts von Engine Daire und dessen Schrift' über die Physiokraten haben wenig zur Hebung des Ansehens ihrer politischen und sozialen Lehren bi.' iget ragen.
Bekanntlich hat sich mit den Physiokraten besonders liebevoll Karl Marx^ beschäftigt; er bat auch die beste Erklärung des Tableau ^onomique gegeben und nicht nur die Genialität seines Autors gepriesen, sondern sich auch nicht gescheut, ein anerkennendes Verständnis fUr die über- triebenen LobsprUche des älteren Mirabeau zu zeigend
' Zuerät im Joamal des läcouomistes Dd. X.VII encbienen und dann, mit wenigun Abäuderungen, als Jutroductiun tni ersten Baude der im Texte an^liihrten Ausgabe wieder abt^edruckt.
' Wozu nähere Beweise der erste Band der von Kauti)k}> aus ManeuB NaeLlsB herauBgegebeuen Tbuorion über den Mehrwert, 1905, iJBd. I lieFem. ^ Außerdem das von Man herrührende 10. Kapitel im L IL Abschnitt des Engels'aclien An(i-DQhring.
■■ 8. Karl Marx, Theorien Qber den Mehrwert, S. 92.
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1
2 VI 3
Das alles galt aber nur für die nationalökonomische Theorie (speziell für die Lehre vom produit net als Mehrwert) ; von der Sozial- und Staatslehre der Physiokraten war aber bei Marx kaum die Rede.
Erst in den letzten Jahrzehnten hat, Hand in Hand mit den erweiterten Untersuchungen zur Geschichte der Nationalökonomie, auch die uns hier interessierende Seite des Physiokratismus die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Neben August Onckens zahlreichen Schriften * ist die Arbeit Hasbachs *^ hervorzuheben, die die allgemeinen Grundlagen der physiokratischen Lehre im Zusammenhang mit der Ge- schichte der Naturrechtstheorien in ihrer Bedeutung für die Entstehung der Nationalökonomie behandelt. Eine zusammenfassende Darstellung seiner Soziallehre hat dann der Physiokratismus in neuerer Zeit in der französischen Literatur in allgemeinen Werken und in speziellen Mono- graphien über einzelne Physiokraten gefunden*.
* Die Kapitel über die Physiokraten in den zahlreichen deutschen Qeschichteu der Nationalökonomie und der Staatswissenschaften treten ihrer Bedeutung nach hinter Onckens Schriften zurück. Von den älteren französischen Werken ist besonders Blancqui's Geschichte der National- ökonomie zu nennen.
^ W. Hasbach. Die allgemeinen philosophischen Grundlagen der von Fran^ois Quesnay und Adam Smith begründeten politischen Ökonomie, Schmollers Forschungen, Bd. X 2 (im folgenden kurz — Hasbach — zitiert).
** Besonders hervorzuheben sind folgende Werke : Espinas, Histoire des doctrines ^conomiques, 1902. (Das ebenso betitelte Buch «von R am band ist von geringer Bedeutung). H. D^nis. Histoire des syst^mes ^conomiques et socialistes, 1904. B o n a r , Philosophy and political Economy, 1896. M. Kowalewski (aus dem Russischen übersetzt^ Les origines de la d^mocratie contemporaine, Bd. I, Abt. EL. A. Lichten- berger, Le socialisme au 18 i^me si^cle, Ch. X. Schelle, Dupont de Nemours et T^cole physiocratique , Paris 1888. Henri Ripert, Le Marquis de Mirabeau (L'Ami des hommes). Ses th^ories politiques et sociales. Th^se. Paris 1901. — Versuche über die Sozial philosophie der Physiokraten enthalten neben der Daire'schen Schrift auch zwei ältere französiche Abhandlungen im Journal des Economistes: Passy, De T^cole des physiocrates (Bd. XVII) und Baudrillart, La philosophie des physiocrates (Bd. XXIX); s. auch des letzteren Abhandlung „Quesnay, du droit naturel'^ im I. Bd. seiner Etudes de philosophie morale et d'dconomie politique. — Von den älteren französischen Werken über die Geschichte der sozialen Theorien war mir das Werk von Bar ni, ebenso
I
[VI 3 3
Weniger wurde die Politik der Phyaiokrateii beliandelt; meistena beachät'tigen sich mit ihr nur allgemeine historische Werke: so, um die bedeutendaten zu nennen, schon Louis Blanc in der Geschichte der französischen Revolution, dann besonders Tocqueville ' ; zuletzt auch Adalbert Wahl in eeiuen verschiedenen Schriften. Schließlich ist der Physiokratis- mus neuerdings auch in den Streit über den Ursprung der Erklärung der Menschenrechte hineingezogen worden".
Im allgemeinen hat sich das Interesse für die sozialen und politischen Ideen der Physiokralen derart gesteigert, daB vor kurzem eine Stimme laut werden konnte, die den Mangel der Behandlung dos Phjsiokratismus in einer all- gemeinen Geschichte der Staats theo rien für eine nicht un- wesentliche Lücke erklärte". Dieser Mangel mag nun den in der vorliegenden Arbeit enthaltenen Versuch rechtfertigen.
Unsere Darstellung wird mit den allgemeinen philo- 'Aopbiachen Grundlagen des Physiokratismus und den Grund- seiner Sozialphilosophie beginnen, um nach Fest- itlung der philosophischen Tendenzen, in deren Rahmen sich bewegt, an die Lehre von der Gesellschaft und vom ichte anzuknüpfen. Darauf wird dann die Lehre vom Staate und der Politik folgen. Aufgrund dieser Erörterungen wird es am Schlüsse auch möglich sein, ein Urteil Über die historische Bedeutung der in dieser Arbeit behandelten Seite des Physiokratismus zu gewinnen.
) dns Hiitii dos zum PhjBiokralismuB »ich bekeiiDuudeu DutcDs, La Ulosuphie de l'eooiioinie politique 1837 aiizugäiig:liah.
^ Im „Ancien regime'', im Kapitel: Comment lea ITrsnvais ont voulu .. B riformes avitnt de vouloir des libert^s; dnoD Bpoziell über den Turgot' ^^npont'when HuniEipalititenentwurf in dea MMHnges et fragmentB plüitoriqne». Taine bebandelt die Phjsiokrnteti nirhl besondera, — er itBt tie im all^mi^lneu „■'sprit claisique" anfgeheu; vgl. Bein „Ancien rfiKime". livre trniiiime. — Kura bebandelt, vom Standpnnlite der Oe- •obiokle der politiBvbtiii Ideen, iit auch das Hauptwerk des Ph/iiolcralan Iie-Mercier hei Jauel. Ilistoire de ta science politique, 1. U. Ob. XI. * Mareseei, Les originixi de la d^claration dea droits de rhotume i9. Paris l'.m.
' Biermann — gelegeatlich einer Besprechung der , Geschichte Ir Staatstheoriea" ron Qumploivics in der MQncheDer Allgemeinen Zeitung, "', Beilage vom SQ. Mai.
!•
4 VIS
Bei den folgenden Ausführungen wird uns der Physio- kratismus nur in seiner französischen Erscheinungsform interessieren und die Darstellung wird sich hauptsächlich auf die ihn als Ganzes charakterisierenden allgemeinen Gedankengänge beziehen, so daß nur hier und da auf die wichtigsten Abweichungen einzelner Physiokraten hingewiesen werden soll. Diese Einheitlichkeit wird aber bei der Be- handlung der eigentlich politischen Ideen nicht gewahrt werden können : hier ist vielmehr der Physiokratismus, gemäß der Entwicklung, die er durchgemacht hat, in zwei Perio- den einzuteilen.
In der ersten Periode, zu der die Werke von Quesnay, Le-Mercier, Mirabeau des Alteren und teilweise von Baudeau, sowie die ersten Schriftenvon Dupont (später de Nemours) ge- hören, ist das Hauptgewicht auf die rein ökonomischen, wirt- schaftspolitischen und naturrechtlichen Fragen gelegt (die Lehre vom „ordre naturel" !), wobei das praktisch-politische Problem kaum gestreift und nur als nebensächlich betrachtet wird. Wohl beschäftigen sich die Physiokraten schon hier mit der besten Form der Regierung, wofür ja ihr in dieser Hin- sicht bedeutendstes Werk, das Buch von Le-Mercier ^^, ge- nügenden Beweis liefert Nur schweben die hier vor- getragenen Ideen noch in den fernsten Gebieten des „ordre naturel"; die Physiokraten suchen die allgemeinsten Prin- zipien festzustellen, ohne sich über die Einzelheiten und die praktische Durchführung zu kümmern. Von den Höhen rein naturrechtlicher Postulate haben sie sich zu den niederen Regionen praktisch-politischer Sätze noch nicht herablassen können. So ist, im Zusammenhang mit den legitimistischen Tendenzen der ersten Physiokraten, die von den Zeitgenossen so sehr mißverstandene und viel ver^ höhnte Lehre vom „despotisme l^gaP entstanden, die den
*^ Le-Mercier de la Rivi^re. L'ordre natarel et essentiel des soci^t^s politiqaes. — Im folgenden kurz — Le-Mercier — zitiert (nach der in 4" Ausgabe vom Jahre 1767).
Ü
VI 3 5
«igentlich revolutionären Keru, der dem Fliysiokratiämus BU Grunde lag, fast vollständig verhüllte.
Diese Periode hat aber nicht lange anhalten können; schon am Ende der Regierung Ludwigs XV, Ist ein ge- wisser Umschwung eingetreten. Unter dem Einfluß Turgot's und hauptaäclilich unter dem Drucke der damaligen politischen Verhältnisse, die eine Stimmung erzeugten, welcher sich auch die Geraäßigsten nicht entziehen konnten, haben sich auch die Physiokraten mehr der praktischen Politik augewendet: da galt es unter Festhaltung der früheren [«Ugemeinen Prinzipien , besonders der der monarchischen taatsform . aber unter allmählichem Verlassen der Idee despotisme lögal", aus den natu r rechtlichen Grund- radikalere Konsequenzen zu ziehen. Dies ist nun iurch Turgot, Dupont und Le-Trosne geschehen. Aus be- facheidenen Anfängen entwickelt sich hier der Pliysiokratis- us zu einem immer entschiedeneren , wenn auch etwas [verhüllten Radikalismus, der schließlich über den Physio- selbst hinausführt, was schon, wie wir sehen erden, bei Turgot, der immer als strenger Monarchist ge- ilten hat, deutlich hervortritt. Diese Entwicklung greift iber noch über Turgot hinaus und zieht in ihren Strom luch Condorcet bis zum Jahre 89 hinein".
Das ist die zweite Periode in der Entwicklung des 'hysiokratismus, wo die politische Doktrin nicht melir ipezitisch physiok ratischen Charakters bleibt, wie am An- "mg, aber doch noch von phyaiokratischen Gedanken durch- drungen ist. Sie gehört aber auch in unsere Darstellung hinein, weil die immer radikaler werdenden politischen An- schauungen der physiokratisch gesinnten Schriftsteller als Konsequenzen der im Physiokratismus selbst niedergelegten ivolutionftren naturrechtlichen Gedanken zu betrachten
" Übur die nicht unweBButlicben physiokratisclien Elemente in den palitiichen Anscbaaungen Condorcet'a vgl, beaonder« L. Cahen, Condorcet et Ir rovolutioQ franfaiie, erster Teil, Thise. Paris 1W4.
6 VI 3
sind, denen nur das persönlich revolutionäre Temperament ihrer Träger gefehlt hat.
Dieses alles berechtigt uns auch Turgot, der nicht nur Physiokrat war, vollständig in unsere Darstellung hineinzuziehen. Nicht als Schüler, als treuer Adept, was er durchaus nicht war, sondern grundsätzlich und ur- sprünglich hat er mit dem Physiokratismus viel Gemein- sames; daher werden auch seine Jugendschriften in Betracht gezogen werden müssen. Besonders deutlich tritt seine geistige und weltanschauungsmäßige Verwandtschaft mit dem Gründer der „neuen Wissenschaft**, mit Quesnay selbst hervor, und zwar speziell in bezug auf die Stellung zur Enzyklopädie und zum Condillacismus. Näheres darüber soll uns die Darstellung der allgemeinen Grundlagen des Physiokratismus bieten.
Erstes Kapitel-
Die philosophischen Ausgangspunkte des Pfaysiokratis- mus, die in den geistigen Strömungen des Zeitalters liegen, haben wir hauptsächlich in den Schriften des Gründers der Schule zu suchen.
Fran9ois Quesnay hat, wie uus seine Biographen be- richten , ^ noch als Student in Paris , neben den medizini- schen eifrig philosophische Studien betrieben. Zu jener Zeit — und noch tief bis ins 18. Jahrhundert hinein — galt als offizielle akademische Doktrin die kartesische, deren Vertreter an den französischen Hochschulen mit allen Kräften für ihre Alleinherrschaft kämpften. Dieser Kampf wurde durch die im 18. Jahrhundert beginnende starke Einwirkung der englischen Denker verschärft, die ihre Philosophie mit den das Zeitalter besonders interessierenden Erörterungen über soziale und politische Fragen zu ver- einigen wußten^.
Der englische Einfluß zeigte sich vor allen Dingen in den Naturwissenschaften. Es war hauptsächlich Newton, dessen Lehre, dank der popularisierenden Tätigkeit Voltaire's siegreich durch das Land zog, um die Unhaltbarkeit der
^ Physiocrates , 6d. Eugene Daire, Bd. I, Notice sur la vie et les travauz de Fr. Quesnay, p. 6. — A. Oncken, Zur Bio^aphie des Stifters der Physiokratie , in Kuno Frankensteins Vierteljahrschrift fQr Staats- und Volkswirtschaft, 1894, S. 409.
^ Vgl. Bouiller, Histoire de la philosophie cart^sienne, 8 6d.| 1868, Bd. n, Ch. XXIX— XXXI.
8 VI 3
Prinzipien der kartesischen Naturwissenschaft allen einsichts- vollen Geistern klar zu machen.
Auf dem Gebiete der reinen Philosophie dagegen war der Siegeszug der englischen Denker nicht von gleichem Erfolg. Trotz eines Condillac, war es auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der alte kartesische Geist, der in mancher Hinsicht noch das Feld behauptete, auch bei solchen Denkern, die sich von ihm befreit zu haben glaubten^. Das gilt auch für die Moralphilosophie, in der ja gerade die Engländer zu jener Zeit viel Anregendes ge- leistet haben.
Was die eigentlich theoretischen Probleme betriflFt, so begegnen wir bei der Behandlung derselben überall den Locke'schen Prinzipien in Verbindung mit einer starken An- feindung der kartesischen Überlieferungen, die sich zu einer allmählichen Verwerfung der Metaphysik und zu den An- fängen einer positivistischen Philosophie zuspitzt*, ohne in allen Fällen die materialistische Einseitigkeit eines Holbach anzunehmen. Doch ist die lange kartesische Schulung nicht ohne Wirkung geblieben, und in dieser Periode sind Ver- suche gemacht worden, den alten Standpunkt mit neueren, auf den Resultaten der Naturkenntnis und der eng- lischen Philosophie beruhenden, zu vereinigen. Zu diesen Ver- suchen die Locke'sche Sensationstheorie mit dem karte- sischen Spiritualismus in Einklang zu bringen, gehören auch die Versuche Quesnay's ^ und Turgot's, von denen der erstere, wie wir sehen werden, dem Alten näher steht, weil er trotz seines vom exaktwissenschaftlichen Geiste gegen die Meta- physik genährten Sträubens sich der kartesischen Frage und Antwort nach dem Rapport zwischen Seele und Körper
8 Vgl. Henri Michel, Vidie de l'^tat, pp. 64-68.
* Vgl. Georg Misch im Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. XIV, Zur Entstehung des französischen Positi7i8mas, besonders SS. 18-39.
^ Vgl. A. Oncken im Handwörterbuch der Staats Wissenschaften, 2. Auflage, Bd. VI, S. 281; Derselbe, Geschichte der Nationalökonomie, 1902, SS. Ui/by 397/8.
I
Vr3 9
nicht entziehen konnte. So steht Quesiiay, noch viel mehr als Turgot, in gescbichuphilosophiseher Hinsicht an der Grenze zwischen der traditionellen französischen Philosophie und dem neuen philosophischen Geist.
Diese philosophische Stellung ist auch für das uns speziell interessierende Thema von Bedeutung: je mehr wir uns im folgenden in den Gedankengängen Quesnay's orien- tieren, desto klarer wird sie zu Tage treten und desto ver- ständlicher wird uns dadurch die Eigenart seiner sozialen und politischen Anschauungen erscheinen , die mit ihm Tui^ot geteilt hat,
Es scheint daher geboten, zum Verständnis der geistigen Verwandtschaft Quesnay's und Turgot's womöglich auf die Übereinstimmung der beiden Denker hinzuweisen. Diese Übereinstimmung war in zwei wichtigen Fragen vor- handen, die auf ihre Stellung in der Geschichte der franzü- sischen Philosophie hinweisen: erstens, in der Verwerfung der metaphysischen Konstruktionen der Kartesianer und in der Annahme der Sensationstheorie ; zweitens, in der Er- kenntnis der Einseitigkeit der von Locke ausgehenden Lehren,
I. Der Ausgangspunkt der Quesnay 'sehen Betrachtungen ist der kartesische Dualismus zwischen Materie und Geist, deren unmittelbares Aufeinander wirken für uns unbegreif- lich sei". Die Vereinigung dieser beiden Substanzen bildet daher ein Problem, dessen Lösung mit den Mitteln der natUrIluben menschlichen Erkenntnis unmöglich ist Die Lösung, die Malebranche, der „große Mann", in seiner Lebre vom „Schauen in Gott" zu geben versucht hat, ist I fruchtloses Unternehmen, denn das Prinzip von dem er I ausgeht, meint Quesnay, ist falsch: die Idee der unendlichen
" Oeuvre* äcnnorniqueti et philosophique^ de Fr. Qnesnaj, ii. l A. OncksD, Ig88 (im folgenden kunc — Quexiui.T — Bitiert), p. 791t; en SpinoHu McmiBinns Innil^ de substanoe), daselbit p. T9T.
10 VI 3
Ausdehnung, auf der er das ganze System aufbaut, ist eine intelligible, also eine willkürliche, weil sie auf keine wahre Ausdehnung hinweist und daher unfafibar, unerkennbar (ineoneevable) bleibt ^.
In diesen Auseinandersetzungen tritt schon die Ab- lehnung der angeborenen Ideen hervor, die Quesnay mit Nachdruck in seinem späteren Enzyklopädieartikel „Eyi- dence'' mehrmals wiederholt hat
Die eben genannte und wichtigste philosophische Schrift des Vaters der Physiokratie enthält auch die Grundlagen seiner eigenen Erkenntnislehre, die völlig an die Sensations- theorie Locke's sich anschließt und inhaltlich an die analogen Ausführungen Turgot's erinnert®.
Quesnay löst alle psychischen Zustände in Sensationen auf, in denen er die Grundlage (fondement) aller unserer Kenntnisse und das Prinzip ihrer Gewißheit (certitude) er- blickt. Nicht nur die angeborenen und allgemeinen Ideen, sondern auch die Urteile führt er auf Sensationen zurück, auf die „radikale** Eigenschaft des Menschen als eines „Stre passif" Eindrücke zu empfinden. Dieselben Eigenschaften schreibt er auch den Tieren zu und entzieht sich konsequenter Weise nicht dem Schlüsse, daß auch Tiere abstrakte Ideen haben. Schließlich führt er aus, daß der Mensch nicht nur in seinen Urteilen, sondern auch in seinem von Schmerz- und Lustgefühlen bestimmten Wollen von den Sensationen geleitet wird. —
Verfolgen wir jedoch weiter die theoretischen Aus- führungen Quesnay 's, so ergibt sich, daß er in derselben Abhandlung „Evidence" die früher (im Essay physique) um- gangene Frage nach der Einwirkung der Materie auf den
"^ Quesnay, Auszug aus dem III. Bande des „Essai phjsiqae sur r^conomie animale", p. 745/6, Note, Abs. 4.
^ Für das im Texte folgende s. Quesnay, Art. Evidence, besonders: p. 765 und §§ 1—3, 15 (p. 769), 26, 'M, 38 (p. 780), 39 (p. 782). Dann Turgot, Oeuvres, 6d. E. Daire (im folgenden kurz — Turgot — zitiertX Bd. II, Enzyclopädieartikel „Existence , pp. 756—770. Vgl. über Turgot auch die erwähnte Abhandlung von G. Misch, S. 25/6.
VI 3
11
Geeist, oder nauh der ersten Ursache unserer Em ptin düngen, dennoch aufwirft. Er kommt also auf den scheinbar (il)er- wundenen kartesischen Standpunkt zurück, und auch seine Antwort auf die traditionelle Frage lautet, daß diese , erste Ursache" — und zugleich das aktive Prinzip in uns — Gott sei". Eine nähere Erklärung dieser ^Aktion" Gottes muß er sich freilich versagen.
Durch die Rückkehr in verlaBsene Bahnen wird die Körperwelt in ihrem Rapport zu den seelischen Zustünden zu einer Ursache anderer Art, als es nach der öenaations- theorie anzunehmen war, herabgedriiekt: sie bildet von nun ab, im Gegensatz zur „cause primitive" — der Gottheit, bloß die „cause conditionelle" oder „instrumentale" '". So ent- halten die Gedankengänge Quesnay's im Keime die Annahme zweier Kausalreihen in unserer Erkenntnistätigkeit: die Quelle der einen ist die Außenwelt, der anderen — die Innenwelt, die Vereinigung unserer Seele mit Gotl.
Mit diesen Anschauungen konnte Quesnay nicht lange im Fahrwasser der englischen Philosophie verbleiben und erschöpft er daher die geistige Tätigkeit des Menschen, weder als eines erkennenden, noch als eines handelnden Wesens, mit dem, was er von Locke gelernt hat. Der Mensch ist nicht nur, wie alle Tiere, ein passives Wesen, denn Gott macht ihn, wie schon oben angedeutet, durch die ihm verliehene Vernunft auch seiner Aktivität teil- haftig. Wohl bleibt der Salz besteben, daß ea keine Ideen gibt, die unabhilngig von den von der Außenwelt hervor- gerufenen Reizen wären; aber durch die dem Intellekt eigentümliche Aktivität, die sich in der Aufmerksam- keit äußert, vermag der Mensch in den Sensationen vieles
" QnBsiiay, Art. Eviileace, S§ 50— .^3. Tiirgot umgeht die direkte Ffiaantwortuiig diaaer Frage. G. Miacb fShrt in seiner Untersuchung aus, PfdaB sie tod d'Alembert, den er mit Titrgot als Begränder des fmnxfisischcin IrVllSnonienaliBmus hinstellt, ausffihrlicher berOhrt and in konsequenter ■'WeilereDtwicklnng seines Standpunktes mit einem ignonunun beantwortet * • •; ». Misch, a. ■. O. SB. 25—29.
"> Qaemay, Art. Evidence, § 50.
12 vr3
zu entdecken, was ihm sonst unmöglich wäre: „c'est par ces exercises qu'elle se procure des idäes ou des pereeptions intellectuelles et qu^elle n'est pas born^e comme Päme sensitive des betes" ^^
Nähere Ausführungen darüber, worin die Aktivität des menschlichen Geistes bei der reinen Erkenntnis sich äußert, finden wir bei Quesnay nicht. Es ist aber wohl anzunehmen, daß er nicht nur etwa die Bildung der „v6rit6s id^Ies^ (über die Beziehungen der Sensationen untereinander) im Auge hat, sondern auch die der „värit^s räelles*^, die die Beziehungen zwischen den Dingen und den Sensationen betrefFen und deren Inhalt imser eigentliches Wissen von der Außenwelt ausmacht*^. Mit Hilfe der formalen Logik und des Syllogismus, meint Quesnay, kann man die Welt nicht erkennen lernen. „Die Kunst der wahren Logik besteht darin, an die notwendigen Sensationen zu erinnern, die Aufmerksamkeit zu wecken und sie zu leiten, um in den Sensationen das entdecken zu können, was man darin be- greifen will"^^. Also auch hier, bei den „vörit^s reelles", ist es die Aufmerksamkeit, das aktive Prinzip, das die Erkenntnis erst möglich macht.
" Quesnay, p. 745, Note, auch Art. Evidence, § 52. — Dieselbe Wendung nehmen auch Turgot's Ansichten an; vgl. besonders die ein- leitenden Bemerkungen zum Art. Existence, Turgot, II, p. 757: das, was Quesnay das „aktive Prinzip^ nennt, heißt bei Turgot das Bewußtsein des ..jlch" (moij. — Dieser Punkt ist von G. Misch nicht hervorgehoben, dagegen ist er ausführlich, aber einseitig, in den älteren französischen Schriften über Turgot von Batbie, Tissot und Mastrier erörtert worden ; ähnlich auch Baudrillart in der ersten Abhandlung seiner ,,£todes de Philosophie morale et d'^conomie politique", Bd. I, p. 10/11. — Wir betonen an dieser Stelle diese Seite in den philosophischen Anschauungen Turgot's, um das früher Gesagte über seine geistige Verwandtschaft mit Quesnay und beider analoge Stellung in der Geschichte der fran- zösischen Philosophie zu rechtfertigen. Die Tatsache, daß Turgot von metaphysischen Erörtenmgen im kartesischen Geiste sich fern g^alten hat und daß er die Locke'schen Prinzipien ausgeprägter vertreten und weitergebildet, berechtigt also nicht zu der oft vorkommenden Annahme, daß er in seinen philosophischen Ausgangspunkten von Quesnay voll- ständig divergiert.
^'^ Quesnay, Art. Evidence, § 87.
13 Ibidem, §§ 20—22.
VI 3
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Das Ergpbois des bisher Gesagten kann nun derart aufgefaßt werden, daß die Erkenntnietätigkeit nach Quesnay sowohl durch die Sensationen des passiven ,ctre aensitif". wie durch dos dem Menschen innewohnende Prinzip der Vernunft, bedingt ist. Dementsprechend kann die Richtig- keit unserer Ideen vor allen Dingen nur durch ihre Zer- legung und ZurUckflihrung auf ursprüngliche Sensationen bewiesen werden. Danach lautet auch die Ueünition des Quesnay'schen Kriteriums der Wahrheit — der Evi- dence: „Evidence, une certitude k laquelle il nous est ausai impossible de nous refuser qu'il nou8 est impossible d'ignorer nos aensationa ac tuellea" '*.
Es ist aber daraus nicht zu schließen, daß die Wahr- heit sich mit derselben physischen Notwendigkeit aufdrängt wie die Sensationen: dieser Annahme widerspricht ja das aktive Prinzip unseres Wesens, die freie Intelligenz, die in une tätig ist, die „cause puissante et directrice" unseres ganzen vernünftigen Oedankenlebens. Die Sensationen bilden daher nur die physisch notwendigen Elemente unserer Denk tätigkeil, und nur in diesem Sinne sind die Ausdrücke der Physiokraten „övidemment nÄcesBaire" oder „physi- quement n^cessaire" zu verstehen Oberall, wo sie von menschlichen Dingen sprechen: also eine pbysisch-de- terminierte, eine „passive" Notwendigkeit ist trotz des so oft gebrauchten Wortes„ physiquement" keinesfalls gemeint. Wenn von einer Notwendigkeit hier die Rede sein soll, so kann das nur die Notwendigkeit der Vernunft, eine logische Notwendigkeit sein. Die Sensationen als solche, sagt Quesnay, sind nur die Motive der Vernunfttätigkeit '*. Daher aber auch, wo sie als Grundlage dienen, und nur , da, haben wir die natürliche Erkenntnis, die natürliche Evidenz; wo sie fehlen, da herrscht entweder bloße Will-
' [bidem, pp. 7M, 780.
1* Ibidem, p. 793 (Art. Evidenoe, § 56): ,
itifs QU \ea caiuea dStermiiiaiitea de la i
t de 1a Yolonti
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kür, oder es kommen andere Mittel hinzu — der Glaube (foi) und die Offenbarung (secours surnaturel). — So mündet aber die Erkenntnislehre Quesnay's in ein neues Gebiet ein. —
Die Vereinigung mit Gott, der „sagesse supreme", voll- zieht sich nicht nur auf dem Wege der Vermittlung durch die Sinne, sondern auch unmittelbar durch den Glauben (foi)^®. — Das, was wir mit Hilfe der Sinneseindrticke erkennen und dessen Kriterium die unmittelbare Sicherheit einer aktuellen Sensation bildet, ist, wie schon erörtert, die natürliche Evidenz. Ihr Bereich ist aber beschränkt, und sie ist da- her ungenügend, weil unser physisches Wesen, von dem sie abhängt, beschränkt ist. Hier setzt eben ergänzend der Glaube ein, da er uns das erschließt, was für die natürliche Evidenz unerklärlich, unerkennbar bleibt, — nämlich die ethischen Werte, den Unterschied zwischen dem „bien moral" und dem „mal moral". EJs ist dieselbe „erste Ur- sache" — die Gottheit, die bei der natürlichen Erkenntnis wirkt, welche uns auch die ethischen Wahrheiten offenbart. Sie ist hier nur auf eine andere Weise tätig: „C'est moins une facult^ active qu'une lumifere qui 4claire la voie que nous devons suivre" ^'.
Doch muß dabei bemerkt werden, daß mit der Vor- stellung von der „foi" als einer Erkenntnisquelle nicht die gött- liche Offenbarung, die in den religiösen Dogmen ihren Ausdruck gefunden hat, gemeint ist, denn für das Religiöse hat Quesnay eine andere Bezeichnung: er nennt es die „lumieres de la röv61ation" im Unterschiede von den „lumi^res de la raison ^^. Bei der Frage nach der Quelle der ethischen Werte heißt es daher nicht, daß Gott uns direkt dieselben offenbart, sondern nur, daß dasjenige geistige Vermögen, welches die Erkenntnis dieser Werte ermöglicht, ein Teil der
»6 Ibidem, p. 764/5. **^ Ibidem, Art. Evidence, § 56.
*^ Vgl. darüber einen Auszug aus dem ^^Essai physique** über die Unsterblichkeit der Seele, Quesnay, pp. 759—763.
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^'Weisheit des höchsten Wesens ist. Man ist daher zur An- nahme berechtigt, daß es Quesnay mit dem Begriffe der „foi" hauptsachlich darauf ankam zu zeigen, daß die ethischen Werte eigentlich nichts anderes, als a priori uns zukommende, aber nicht demonatri erbare Maximen sind, daß ihre Quelle in der von jeder empirischen Gegebenheit befreiten Vernunft zu suchen ist'*. Hierdurch wird der Weg zur Kechtfertigung des deduktiven Verfahrens offen- gelegt und ihm eine gleiche Stellung neben der Induktion, I als der Grundlage des „natürlichen" Erkennens, eingeräumt. Fassen wir nun das bisher Gesagte zusammen, ao ergibt »ich überall bei Quesnay als letztes erklärendes Prinzip Wäie Gottheit, die im Menschen in dreifacher Weise tätig ist: psle erste Ursaclie der Empfindungen (der passiven Sen- Mtionen^, als aktives Prinzip unseres natürlichen Erkennens B^nd als unmittelbare auf dem Wege des Glaubens wirkende Cinaicbt'". So steckt im Grunde genommen der Vater der 'hysiokratie , trotz seiner positiv - wiBsenachaftlicheu Ge- Bdnnung und trotz der Aufnahme der wichtigsten den jsianlsmuH bekämpfenden Lehren, mit seinen letzten Hieoretischen Prinzipien noch tief in den Schuhen der von Descartea ausgehenden philosophischen Richtung. Quesnay war ein metaphysisch veranlagter, nacli den letzten Gründen grübelnder Geist, der weder mit der Oberflöchlichkeit seines Zeitalters, noch mit dem zu früh einsetzenden „ignoramua" eines d'Alembert siclj befriedigen konnte. Wohl wuSte auch er der menschlichen Vernunft Grenzen zu ziehen; er
KBgt es aber dennoch, wenn nicht zu erklären, so doch enigstens anzudeuten, wo die „letzte Ursache" zu suchen
DHgo^^ii iist X. B-, Locke keiuu Belbstevidente ethiBclie HaiimBIl lerkaunt, sondern sie bloß au» der Erfkhrung oder der Offenbarung ab- Kollen. Vgl. JodI, Oefrliichte der Ethik, ßd. I. S. 15!^. '" Eine «jntematitiche Darstellung der dreifachen Art, in der die Gottheit aU .cause primitive" in der Itetäti^ung der raenschliohBH Vbt' ntinft erscheint, ist bei Que«na7 nicht vorhanden; der darauf geriditats Oedankengang Iftltt sich aber ans seinen philosophischen Sehriften, trotx ' Widerspräche, ermitl«l]i.
manoher Ünklarheilen und s
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ist. Und das tut er in einer Weise ^ die in ihm einen Schüler der Kartesianer erkennen läßt. Noch deutlicher und verständlicher wird das uns werden, wenn wir die Prinzipien seiner praktischen Philosophie erörtern. Dort sollen wir in Quesnay einen Schüler Malebranche's kennen lernen.
II.
Die Entwicklung der theoretischen Probleme führt Quesnay, wie wir eben gesehen haben, zur Erörterung der Frage nach dem Ursprung der ethischen Werte — des „bien moral^ und des „mal moral". Es ist uns dabei klar geworden, daß ihre Quelle im Glauben, einem der Evidenz beigeordneten Kriterium der Gewißheit zu suchen ist. Was ethisch gut oder böse sei, ist daher empirisch nicht ab- zuleiten; denn es ist rein induktiver Natur und hat seinen letzten Grund in der Vernunft (intelligence).
Nun wissen wir aber auch, daß unser Willen und unsere Werturteile von Lust- und Schmerzgefühlen bestimmt sind, die in uns die Sensationen auf empirischen Wege her- vorrufen^^. So entstehen die natürlichen unser Leben ent- haltenden Triebe, die uns das „bien physique" vom „mal physique" zu unterscheiden lehren. Diese „physischen" unsere Handlungen bestimmenden Werte sind also in ihrer Quelle von den ethischen verschieden. Natur und Morali- tät stehen sich auf diese Weise ihrem Ursprung nach in der Quesnay'schen Philosophie gegenüber.
Derselbe Dualismus, dem wir bei den erkenntnis- theoretischen Erörterungen begegneten, zieht sich also auch durch die moralphilosophischen Ansichten Quesnay 's hin- durch ^^. Wie bei der Erkenntnistätigkeit von zwei Kausal- reihen, so sind wir auch in unserem Handeln von zwei Motivenreihen bestimmt. Erstens sind es die auf empirischem
"* Quesnay, Art. Evidence, §§ 55—56.
«2 S. für das im Text folgende Quesnay, pp. 794—797, 747—758 und Note auf SS. 369/70.
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Wege entstandenen Affekte und L^idenscliaften {motifs senaitifs et affectifa), die unsere Taten stimulieren ; zweitens sind es die auf Grund freier Überlegung nufgestellten Sätze (motifs instruetifs), die entweder als objektive Maximen oder als durch die Erziehung gewonnene subjektive Zustände in uns tätig sind und in das Walten der ^physischen" Motive, wie Quesnay die ersten nennt, mächtig hineingreifen und ihnen Richtung geben. Der „mechaniache" Vorgang in der menachiichen Seele besteht im Kampfe dieser Motive, wo- bei es bei den erateren — den „physischen" — die Stärke dieses oder jenen Motivs iat, die über den Sieg entscheidet. — Quesnay bezeichnet diesen Kampf der Affekte ala ,libertö animale" oder „libertd physique".
Aber außerdem steht noch dem Menschen als ver-
[ nünftigem Wesen die andere oben gekennzeichnete Motiven-
I reihe zu — die „motifa instructifa". Sie bildet die freie
Motivation — die „libertö raorale"**. Und hier iat es
wiederum die Aufmerksamkeit, die die Tätigkeit der Seele
[ leitet, und die Willensfreiheit besteht in nichts anderem, als in
r der Macht dieses unseres Vermögens **. Was sie kenn-
(asichnet iat nicht die Freiheit von der Motivation, sondern
! Freiheit in der Motivation, in der Möglichkeit, die uns
^Urch die Sinne sich aufdrängenden Motive durch anders-
rtige, weil frei gewonnene, durchbrechen zu lassen.
Wir sehen nun, daß das Gebiet der menschlichen Tätig- Kkeit durch die „libertä morale" in dem Gefltge dea Weltalls laich besonders hervorhebt. Was überall nach notwendigen [ehernen Gesetzen geschieht und was nueh den Menschen eilweise umgarnt, das hat in seinem vorausbestimmten un- L«blenkbaren Ablauf für ihn doch keine unbedingte Geltung,
j8i l'etro «uprgroe n'flvait pafi eii cette inteation ixtun ein Feld
__r freie» TltiglieH la gawährenj, il dous Hurnit iissujet« Dfcessairement
I i'eiäcutidii du scs volont^a, ü mpiiü aurait fuil Bgir sans inteliigenae,
■ libertj conune des bSleR, c'est k dire par den impulaiona domiDantea
jl puremeul phyBique»". Queanay, p. 761.
" „Ve pouvuir de la libertd coaaiBie diii;i; rndicalement dsos Ib
. ••- - " Qnesnay, p. 751.
Abli«nJl. VI ». - OQnWbBrg. 2
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Das vernünftige Wesen schaltet frei in seinem Bereich und wird selbst maßgebend für seine Stellung» inmitten von gleichgültigen Dingen und Vorgängen der Außenwelt. Neben der „Ordnung" im Weltganzen — im kosmologischen Sinne — erhebt sich eine spezitische Ordnung der menschlichen Dinge für sich, eine neue, eigenartige ethische Welt***. Die eine unterliegt der Notwendigkeit der Natur, die andere der Notwendigkeit der Vernunft.
Dadurch ist auch die Stellung dieser beiden Welten zueinander bestimmt. Alles was einer naturnotwendigen Gesetzmäßigkeit unterliegt und dem menschlichen Willen entrückt ist, kann an und für sich weder als gut, noch als schlecht bezeichnet werden. Von diesem Standpunkte ge- sehen, stellt sich uns die Natur als indifferent dar, denn sie ist die gleiche Ursache (cause physique) des Guten und des Bösen 2«.
^^ Diese Gegenüberstellung zweier Welten, zweier Ordnungen („ordres"), tritt besonders klar in Quesnay's Erörterungen über die Willens- freiheit und in der Abhandlung über das Naturrecht hervor, wo die Scheidung des „ordre de la nature" (oder „de pure nature") vom „ordre naturel" durchgeführt ist. Übrigens ist terminologisch diese Scheidung nicht überall gewahrt, was aus der Zweideutigkeit des Wortes „nature^ sich erklären läßt, das sowohl als naturwissenschaftliche, wie auch als norma- tive Kategorie im stoischen Sinne gebraucht wird. — Auf der Trennung der beiden „ordres" begründet dann Quesnay die Scheidung des Tat- * sächlichen vom Rechtlichen (Quesnay, p. 756/7).
^® Belege für diese Auffassimg finden wir hauptsächlich an den- jenigen Stellen, wo vom „bien physique" nicht im Sinne einer bloft tierischen Genugtuung, sondern im Sinne eines befriedigten vernünftigen Interesses die Rede ist, was unter allen lebenden Wesen sich nur auf den Menschen beziehen kann, dank der bloß ihm zustehenden vernünftigen Beherrschung der indifferenten Naturkräfte. Es wird daher von Quesnay hervorgehoben, daß das von der Natur Gegebene — „ne sont, dans Tordre naturel relatif aux hommes, des lois obligatoires que pour le bien". Denn dieser „ordre naturel relatif aux hommes** ist nicht gegeben, sondern wird erst von den Menschen herbeigeführt, daher heißt es auch: „II faut donc bien se garder d'attribuer aux lois physiques les maux qui sont la juste et in^vi- table punition de la violation de Tordre meme des lois physiques, institn^ pour op^rer le bien. Si un gouvemement s'^cartait des lois naturelles qui assurent le succ^s de Tagriculture , oserait on s'en prendre k l'agri- culture eile meme de ce que Ton manquerait de pain ?" — Quesnay, eh. III der Abhandlung Le droit naturel (vgl. Text SS. 33/84 über den Begriff der „loi physique" in Quesnay's Sozialphilosophie). — Ähnliche Gedanken
bei Le-Trosne, De l'ordre social, Paris, 1777 (im folgenden kurz
Le-Trosne — zitiert), pp. 206 et suiv.
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Zu diesem Bereich der Natur geliört auch der Mensch aU SinnesweBcii , als passives Snbjekt. Wir werden daher die Erhebung eines Naturtriebes oder eines Gefühls zur Höhe eines ethischen Motivs bei Quesnay oder bei seinen Schülern vergebens suchen. Die menschlichen Triebe sind, solange sie nicht von der Vernunft geleitet werden, für die Phjsiokraten ethisch gleichwertig. Es gibt von Natur aus keine unmoralischen Triebe, denn alle können gleich- zeitig als „Motive", sowohl des Guten, wie des Bösen, dienen. Daher wendet sich auch Mirabeau gegen diejenigen Moralisten, die entdeckt zu haben glauben, daß es „deux etres taoraux oppos^s" als Verkürperungen des „guten und des bösen Prinzips" gebe — „landis qu'ils ne aont que deux effets divers d'un seiil et meme ressort de notre action, ressort util dans l'ordre, inutile dans le dör^glement" *', Aus den- selben Gründen wendet sieb auch der Phyaiokrat Baudeau gegen die Gef'ühlsmoral der „Shaftesburysten", die die Prin- zipien der Vernunft mit den natürlichen Trieben vermengen und zu einem „rein passiven Instinkt" herabsetzen wollen ".
Denn jenes Prinzip, das die sittliche Welt schafft und den „physischen" Vorgängen ihren ethischen Wert verleiht, kann nur von der Vernunft ausgehen. Mögen die mensoh- lichen Handlungen gut oder schlecht sein: die Natur als solche geht das nicht an. Die guten oder schlechten Folgen der natürlichen Vorgänge sind daher im Menschen selbst begründet, je nach dem er sich durch freie und vernünftige Überlegung oder durch die Macht seiner Triebe hat lenken lassen. In letzterem Falle sind es die Leidenschaften, nicht
" Mirsbeau, Lettre» tut is I^Ulation oii t'oMrc tociai däpravi, rJtabli et perp^tu« par L. D. H., Beme, 1775. Bd. II, p. 299'^WO; äbnUch derselbe, La science ou los draits et les devoir« de riiomnie, 1774, p, 117.
" „. . . 11 ne nufSt pHH de dire, l'inRtiiict nmn doane de la ripa- gnance pour ce qui out vice, de l'attrait pour ee qni est vertu, il tallait «ipliquer coinmeDt et paurqDoi. La raisoo i|ai cotuuiit l'onlre iage d'npi^a »et principes, et c'e«t en coM^quenoe ijirelle riproiive le vice, üU qu'elle Charit la vertu. Appelez cette facultä de jiigcr aens monJi mal* ne la qualiäec pa» d'iDBtinct, et ne la confoudei pas avec la doolenr et 1« plaiilr . . ." Ephim^ridwi da citoyen, 1767, Befl II, pp. IS?«.
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die Vernunft, die über ihn geherrscht haben; oder es ist der Mangel an Einsicht, die unvollkommene Erkenntnis, die auch die gut gesinnten zu falschen Schlüssen und Taten führen kann. So werden die Ursachen der Störungen in der ethischen Welt dem Bereiche der Natur entzogen und in unsere Vernunft, vielmehr in unser Wissen, in unser Er- kennen verlegt. „Le d^r^glement moral est toujours accompagn^ du d^rfeglement d'intelligence".*®
Es wäre daher unrichtig, wenn man behaupten wollte, daß flir die Physiokraten die ethische Welt und die phy- sische, das Sein und das Sollen, zusammenfallen^^. Es ist nicht in ihrem Sinne anzunehmen, dafi die ethische Ordnung die ganze Natur durchdringt, oder dafi sie nichts anderes als das Natürliche selbst, das mit „physischer" Notwendigkeit aus dem Walten der Naturkräfte Entstandene bedeute. Denn das Ethische bleibt für Quesnay und seine Schule immer in der Vernunft, als der „cause primitive", begründet.
Anlafi zur falschen Beurteilung der Physiokraten hat ihre metaphysische Grundtendenz gegeben, die in einer geschlossenen optimistischen Weltanschauung Natur und Moralität, durch einen einheitlichen göttlichen Zweck ver- eint, zusammenfassen will. Es war also wiederum der Gottesgedanke, in dem das Band zwischen Natur und Moral gefunden werden sollte.
Da Gott der Schöpfer der Natur und die Quelle der ethischen Werte ist, so mufi zwischen diesen eine Harmonie bestehen, die wir nicht ergründen können, zu deren An- nahme uns aber die Idee Gottes, als des Allgütigen [und Allweisen zwingt. Diese Harmonie beruht auf dem das Weltganze durchdringenden einheitlichen Zweck, der im
29 Quesnay, Art. Evidence § 29 (p. 776).
^^ Wie es zum Beispiel Kaut z annimmt, Die geschichtliche Entwick- lung der Nationalökonomie in ihrer Literatur, S. 374; ähnlich H. D6nis. Histoire des syst^mes ^conomiques et socialistes, 1904, pp. 68. — Auf dasselbe läuft auch die Marxen'sche Auffassung hinaus: s. Text 8. 45.
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21
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Plane Gottes nur in der Vollkommenheit seiner St'höpfniig bestehen kann; — in hezug aber auf den Menschen, der wertvollsten, weil allein unter allen lebenden Wesen mit Vernunft begabten Schöpfung^', ist dieaer Zweck die Glückseligkeit.
tio gesehen, bekommt auch die Natur und mit ihr die natürlichen Triebe, wie Überhaupt die ganze menschliehe Sinnenwelt, ihren ethischen Werl als Mittet, die zu dem von Gott gesetzten Zwecke führen. Nur müsäen diese Mittel in ihrer unabänderlichen Wesenheit {esseoce immuable) und ihren untrennbaren Eigenschaften (propri^tös ins4- parables) erkannt und ihrer Beatiraraung nach vernünftig angewendet werden. Ist dies nicht der Fall, bo geht doch die Natur unbeschadet ihren Weg, aber zum Unheil der Menschen. Nur die Rückkehr zur wahren Erkenntnis und vernünftigen Einsicht gibt der Natur wieder ihre heil- bringende Bedeutung, die Quesnay und seine Schüler vom Standpunkte ihres eben geschilderten weltanscbauungs- mUBigen Optimismus als die „hygi^ne de la nature" be- «eichnet haben**. —
Diese Gedankengänge in ihrer optimis tischen Be- leuchtung geben der physiokratischen Ethik die dem ganzen Zeilalter gemeinsame utilitaristische Färbung.
Quesnay, p. 375, Note.
Diuse Gedanken lie^^en ullen Kuliriftea Quesiiaj''» zugrunde. Es bt bemi'rkenBWL'rt, daß das Motiv der .Ujgi^ne de U natare", das die 'ifiebülur Quesnay'« und viele seiner Kritiker (nicht im Sinne der Aa*- ftbrunguii im Text», sondern im ZusainniuDliaog luil dem Laiisen fü>e- Prinxip), betonen, von Adam Smith dem Orfinder der Phifsiokratie votl- stSndig, abgesprochen wird, Für Smith ist QuoKuay einer jener „speknlB- liv«n Ärzte" für diu „the health of the human bod; could be preeerved only by a cerlaln previae regimen of diet and exercise, of which every, the Bmallest, violation necessarily occasioned Bome degree of dissens or iliflorder pro|>iirtinned to the durree of the viotation". ^ A. Smith, Wealth of nalions, ed. 1791, vol. Ül. p. 286/7. — Das ist ein sehr lehr- reiches Beispiel für die Art. wie der Physiokralismiu beurteUt wurde, in- dem die einen — um phyat akratisch xn sprechen — in ihm nnr den lOTdrc nalurel", die anderen dat^esen bli>B den „ordre de la nature" betont m 'en glaubten. Indexseu liestand gerade die Eigentflmlicbkeit der Physio- itie darin, daß sie diese beiden Momente vereinigen wollte, wie ea JD irilegendeu Schrift m zeigea versucht werden toll.
22 VI S
Ist der Zweck des Menschen als des vollkommensten Geschöpfes seine Glückseligkeit, so muß diese auch da» leitende Prinzip seiner Tätigkeit werden und mit dem ethisch Guten (bien moral) in Einklang stehen. Auch das Irdische und das Sinnliche, soweit es diesem Zwecke dient^ bekommt seine ethische Sanktion, wird in das „Reich Gottes" hineingezogen. Daher ist auch das Nützliche als das, was unsere Selbsterhaltung fördert, zu gleicher Zeit das ethisch zu Bejahende und das Gerechte. Diese Kongruenz ist aber nur in der höheren Einheit des Weltganzen aufzufassen und nicht etwa so, als ob das Gute und Gerechte aus dem Sinnlich-Nützlichen abzuleiten wäre. Denn die Quelle der ethischen Wertung ist in der Vernunft, und, sobald wir den metaphysisch- religiösen Standpunkt verlassen , bleibt die Natur für Quesnay außerhalb der Sphäre des Ethischen. — In diesem Sinne entwickeln die Physiokraten auch die utilitaristische Tendenz ihrer Morallehre.
Als Prinzip gilt ihnen nicht das eigennützige, sondern das wohlverstandene Interesse, welches aus der Wertung des Ganzen, nicht des Einzelnen fließt. Das egoistische Interesse, der tierische Trieb zur Selbsterhaltung ist nur ein psychologisches Motiv und gehört zum Bereiche der Natur. Es wird aber in den Bereich der Moralität durch das höhere, das Ganze umfassende Prinzip des wohlver- standenen Interesses hinübergeleitet, das nicht mehr als Motiv, sondern als Regulativ, als eine in unserem freien Wesen und seinem „principe actif" begründete Norm der Vernunft aufzufassen ist. War nun die ganze Propaganda der physiokratischen Schule darauf gerichtet, die Moral aus der rein intellektuellen Predigt in die Willenssphäre hin- überzuführen ^^ , um sie im Leben wirksam zu machen, so bleibt ihnen doch das egoistisch-persönliche Interesse als das „physische" Moment nur die „cause conditionnelle ou in-
^^ „II fallait donc prendre Thomme par ses d^airs, par son int^ret, et se servir de ces motifs pour le conduire ä la verhi morale et civile". Le-Trosne, p. 79.
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Btrumentale'' der ethischen Betätigung, deren letzte Quelle in den „lumieres de la raison" zu suchen ist.
Bezeichnend fiir diese Auffassung des ethischen Problems bei den Phjsiokraten sind die Ausführungen Le- Mercier's, dessen Ausdrucksweise— oft nicht ohne Grund — zu ganz anderer Beurteilung ihrer Moralphilosophie Anlaß gegeben haben. Indessen stimmen sie völlig mit der im Kartesianismus wurzelnden Gesam tan sc hauung Quesnay's überein **.
Die Quelle der Wertachätzung ist auch für Le-Mercier ein „principe actif ; er nennt dieses Prinzip ,aniour propre" und erhebt es gleichzeitig zum selbattosen Regulativ unserer Handlungen, weil es, wie er in origineller Weise sich. aus- druckt, in uns die geistige Macht erweckt — «ii compter 8on int^ret pnur tntit, el celui de notre existence pi>ur rien." Dieses Prinzip ist ihm etwas, was von unseren Sinnen unter- i schieden werden soll, „quoiqu'il ait besoin de nos aena qui I ne sont que paasifs". Er bemüht sich zu zeigen, daß die I Wirkungen der Sinne und des „amour propre" ganz ver- p schieden sind: während die ersteren uns nur dasjenige L geben, was uns gefftlll („ce qui nous plait") — also einen Itnomentanen, vergänglichen und trügerischen Zustand der I Befriedigung"^ — , bewirkt das letztere in uns „une sensibi- 1 lH& qui fait naitre en nous l'amnur de la gloire, la crainte [ de l'humiliation, tous les autres sentiments qui tiennent de I ces deux premiers, en un mot un besoin tr^a reel, trös lliressant, de l'estime de soi m§me et de celui d'autrui''. I Dnd hier ist der Grund, daß „wir freie Wesen sind, deren [ GlUck und Unglück in ihrer eigenen Macht und in der Art tder Ausnutzung ihrer Eigenschaften liegt"*. —
; 1775
'* Drs im Teile folgenile Ut nach eintr Schrift L«-Meri'ie l^Htullt, diti unter dem Titel Memoire lur l'inatriiction [)ubli<iue ■ ''Ulli X, tiefte der Noiivellee Ejjb^märidex ^unoiniqiiea vnm Jkh f HbK^dniekt isL
«n Vgl d^j,, giieKnaj'H Aiwdi'ucks weine, Oeuvre«, p. 750, I. Absatii.
** Pitjehologiatische Tendenieu Rind kber bei Le-Merrier keiiiexwegs l)|n verkennen: nennt er dueb 8uch den niuuour propre" eiuf Leidenauhäft
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So wird es klar, wie tiefgehend im letzten Grunde der Unterschied der physiokratischen Moralphilosophie von der zeitgenössischen von Shaftesbury beeinflußten englischen ist, die das Ethische direkt in das Natürliche hineinlegen wollte ^^. Wohl haben beide die Bedeutung der natürlichen Triebe und Leidenschaften hervorgehoben; nur sind diese für die an den Kartesianismus sich anlehnenden Physiokraten bloß notwendige Mittel, unabwendbare „Motive" — um mit Quesnay zu sprechen — , die bei ihrer vollständigen ethischen Indifferenz erst durch die Vernunft zu Trägern ethischer Werte erhoben werden ; dagegen werden bei den Engländern die „passions" schon als solche gewertet. Die Rehabilitation des Sinnlichen, die wir also in der französischen, wie in der englischen Moralphilosophie vorfinden, geschieht in beiden auf verschiedenen Wegen, trotz der sie bedingenden gemeinsamen optimistischen Weltanschauung. Denn der an Shaftesbury anknüpfende Optimismus ist ein empirischer: die emotionellen Regungen sind gut, wie sie gegeben sind. Dagegen ist der Optimismus bei den Physiokraten in seiner letzten Grundlage ein transzendentaler: die emotio- nellen Regungen sind gut — nur im letzten Plane Gottes^s.
III.
Die bisherigen Erörterungen haben den Zweck gehabt, die philosophischen Ausgangspunkte der Physiokraten, trotz der positivistischen Elemente, die sie in sich aufgenommen
(„nous avons deux sortes de passions tr^s distinctes . . . Celles des sens et Celles de Tamour propre"). Dieser Tendenz hat schon Descartes in der französischen Philosophie den Anfang gegeben, indem er als Tagend den „Affekt" der Bewundening („admiration") hingestellt hat — Der prinzipielle Unterschied von der englischen Ethik (s. weiter u. im Text) bleibt doch bestehen, wenn auch in der Lehre von den Affekten Be- rührungspunkte, die für die spätere Entwicklung von großer Bedeutung wurden, festzustellen sind.
" Vgl. Jodl, a. a. O. SS. 170—173.
'* Die im Texte vertretene Auffassung weicht völlig von derjenigen Hasbachs ab, der die physiokratische Moral so interpretiert, dafi das Gerechte aus dem Sinnlich-Nützlichen abzuleiten sei. Dies geschieht bei
I
"VT 3 25
haben und trotz des inodem-wissenscbaftlichen Geiates, von dem das ökonomische System Quesnay's durchdrungen ist, in der Beleuchtung ihrer Abhängigkeit von der karteaiachen Philosophie darzustellen. Bei der schon früher hervor- gehobenen philosophischen Stellung des Physiokratisraus verdient diese Abhängigkeit, die für ihn von entscheidender Bedeutung geworden ist, ganz besondere Betonung, was bis jetzt in der Literatur nur wenig geschehen ist.
Da man mit Recht gewohnt war, die einzelnen Elemente der. nationalökonomischen Doktrin Quesnay'a in England zu suchen, so hat sich auch Hasbach bei seinem Versuch, die philosophischen Ausgangspunkte des Phyaiokratiamus zu erläutern, dorthin gewendet, wobei die traditionelle französische Philosophie von ihm fast ganz außer acht gelaasen wurde. Die Resultate, zu denen Hasbach gelangt ist, und an denen er in einer späteren die LUcke aus- flillenden und talsäcblich, u. E., die Darstellung prinzipiell verändernden Abhandlung"", doch festhält, — weichen von der hier vertretenen Ansicht ab. (Vgl. Anui. 38).
Im Vorlauf dea Bisherigen haben wir schon auf den prinzipiellen Unterschied zwischen den Grundlagen der an die karteaisclie Philosophie anknüpfenden Pliysiokraten und der englischen Gefuhlsmoral hingewiesen. Es sei nun noch
■«iniges über die ebenfalla von Hasbacb stark betonte Be- deutung dea Cumberland 'sehen Buches „Dtsquiaitio de legibus naturae philosopliica" ftir die Entstehung der
, Quesnay'schen Anschauungen erwähnt*".
ub&oh aus dem Gründe , weil ^r den FLysiokratismiis tu euge Vur- bodang mit der englischeu MoMlphilonophic nml ipeEioll mit Slittftesl>ury bringen vill. 8. da^ in der Einleitung ^nannte Werk von Hnsbnch, hkuplaSchlich 88. 88 -BO und Knp, V.
** Hflsbnch in der RevQe d'Economio poliliqae Ud. VII, Le«
fbndementa pbiloaophiquea de l'^ouomie polilique de Qaeauay et de
r Ad. Smith. Vgl. auch 8L l)sH«r, eiue BeBprechaoK de« Hnabauh'sclieu
L Verkai in Cnnrad» Jahrbüchern, J&hrganir 1891: Derselbe, im Economic
■<}oumBl, 1895. p. 9. Note I.
■" Hasbftch. SS. 149-152.
26 VI 3
Das genannte Buch, ein seinerzeit sehr bedeutsames Werk, hat sicherlich, dem Inhalte nach zu urteilen, zur Herausbildung der philosophischen Ansichten Quesnaj's manches beigetragen. Man könnte noch auf viele von Hasbach nicht betonte übereinstimmende Momente hin- weisen, die aber trotzdem Quesnay nicht aus Cumberland, sondern aus der beiden Denkern gemeinsamen Quelle — der kartesischen Philosophie — zu schöpfen brauchte: ge- hört doch noch Cumberland einer Periode an, die der- jenigen, die mit Locke beginnt, vorangeht.
E^ ist aber überhaupt nicht einzusehen, warum man in der Frage nach dem Ursprung der grundlegenden Quesnay'schen Ideen sich nur auf Cumberland beschränken soll. War doch der Optimismus jener Tage, sowie das In-eins-setzen von gerecht und nützlich und die Lehre vom Zusammenhang zwischen der ethischen und physischen Welt schon zum Gemeingut aller Denkenden geworden, als Quesnay seine philosophischen Anschauungen herausgebildet hat. Es waren alles Glaubenssätze der damaligen Welt — und Lebensanschauung, sie galten als feste communis opinio und man ist nicht mehr berechtigt in diesen Punkten fUr Quesnay diesen oder jenen bestimmten Schrfftsteller als Quelle anzugeben.
Der Optimismus als Rehabilitation der Sinne und des Sinnlichen und der eudämonistische Gedanke, erweitert auch auf das irdische Leben — früher bezog es sich nur auf das Jenseits — war ja überhaupt jener mächtige ge- dankliche Zug, der nach Abschüttlung der mittelalterlichen Dogmen seit der Reformation die ganze Philosophie be- herrschte. Die Fortschritte der Naturwissenschaften und — auf politischem Gebiete — die Vorzüge des im steten Wachsen begriffenen mächtigen weltlichen Staates, haben diese Gedankengänge noch bestärkt. Auf welchem Wege diese Rehabilitierung des Sinnlichen auch geschehen sein mag, wir begegnen ihr überall, auch bei Malebranche, wie wir zu zeigen haben werden.
VI 3
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Kehren wir aber üii Cumberland zurfifk, so tinden wir gerade in dem Punkte, den Hasbacli als den für seine An- nahme entscheidenden hervorhebt, auch die Grllnde des wichtigen Unteracbieda von Quesnay's Gedankengängen. Denn die vom engliachen Theologen betonte „aanction physitjue" des Ethischen hat, bei dem mit Queanay gemein- samen optimistischen Hintergrund, im spezielleren doch eine wesentlich andere Bedeutung als dieselbe Vorstellung in der Dupont 'sehen Interpretation des phjsiokratischen Systems*': bei Cumberland dient diese Vorstellung zur Verschärfung der eudftmonistiachen Tendenz seiner Moral, bei Quesnay dagegen tritt dieser Gedanke zurUck, um das moralische Handeln mehr in seiner Abhängigkeit von der äußeren Natur zu erklfiren, als es nach seinen Folgen zu recht- fertigen. Auf dieses Moment der „Erklärung" haben aber die Physiokraten ein besonderes Gewicht gelegt ; darin haben sie ihr Haiiptverdienst, das „Neue" in der Wissenschaft er- blickt".
äind sie dazu durch den spezielleren Gegenstand ihres ^Nachdenkens und durch den herrschenden Zeitgeint, den wohl zum größten Teil die englische Philosophie geachaflFen hat, getrieben worden, so hatten sie die weltanschauungs- mäßige Rechtfertigung dieses ihres Versuchs, dieser fast ausschließlichen Zuwendung zum Irdischen, nicht jenseits des Kanals zu suchen: sie konnten sie in der heimatlichen Philosophie finden, und zwar bei Malebranche, den uns die Biographen Quesnay's als seinen Lieblingsphilosophen an- geben, und den auch Le-Mercier und Mirabeau als hohe philosophische Autorität gepriesen haben, was jedenfalls auf das hohe Ansehen hinweist, dessen der genannte Philosoph
" Queenay. p. 1-V2 (Aunzug aus eiDer Dupont'sdieii Schrift). " Auch ist bei CDinberlniid ätia wohlTcrstiindeiie Interenne kein 1 VeraiuittaprinKip, mmdern einGefQhl der Gottes- und (W NächBtonliebe, im menschlilJiun Wptien al* «in „pencbant nnturel" BiwgeprAgt i«t I Eomit Eur ^nalure btlinsine" ^hSrt. Darin lieifen die ertten AnaiUe
späteren englischen Gefilhi*nioral, Vg\. Ciimberlanil in der fraiiEÖHi-
■chen (ybemetEung von BnrbcjTHC, Les Tniii de In unture einliqaün pNr [ le DoeteuT Hiehard Cumberland, cb. V, g 4Ti aiieh eh. U, §§ »-4.
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noch in manchen Kreisen und speziell bei den Physiokraten sich erfreuen konnte, wenn auch im allgemeinen seine Lehren schon längst keinen Einfluß mehr ausgeübt haben.
Die physiokratische Scheidung der physischen und der ethischen Welt und die Auffassung von ihrer gegenseitigen Beziehung geht ganz in der Malebranche'schen Teilung aller „Wahrheiten" in Größenverhältnisse und Vollkommenheits- verhältnisse auf (rapports de grandeur und i^apports de perfection) *®. Die ersteren bilden die Erkenntnis der Natur, der ^puisaance de Dieu", die von den „d^crets divins** be- herrscht wird, — die letzteren beziehen sich auf die sittliche Welt der menschlichen Handlungen (den „ordre immuable'), wo unabänderliche und unverletzbare Regeln „de tous les mouvements d'esprits", denen Gott selbst folgt, maß- gebend sind. Die Natur und die ethische Ordnung fallen nicht zusammen, sie durchkreuzen sich; daher heißt es auch der Natur nur dann folgen , wenn die Gesetze der Ethik es gebieten, denn die Natur für sich „est plutfit nöcessit^ que vertu**.
Das sind Grundgedanken der Malebranche'schen prak- tischen Philosophie, in denen die Lehre Quesnay'a am nächsten zu suchen ist, daß die Natur gleichgültig und unbiegsam der ethischen Ordnung gegenübersteht, daß wir in der Natur den Unterschied von gut und böse nicht finden können. Regen und Wind sind Naturerscheinungen, die mit dem Verdienst und dem Vergehen nichts zu tun haben, sagt Malebranche gerade so, wie es später Quesnay wieder- holt hat*^
Neben dem Dualismus zwischen dem „ordre immuable*' und dem „ordre de la nature" verschwindet aber hier bei dem Philosophen des Oratoriums die Gegenüberstellung des
■*' Darüber und über das folgende s. Malebranche, Oeuvres, 4d. J. Simon, 1871, Bd. IL M^ditations chretiennes, eh. III, §§ 21 (pp. 83/4), 23, 34; eh. IV, §§ 7—8: Trait^ de la morale, Rotterdam 1684, eh. I, §§ 4—6, 18—19, 21, 23. Vgl. auch ßouiller, a. a. O., Bd. IT. pp. 89-91.
** Trait6 de la morale, eh. I, § 21; Quesnay p. 368.
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Körperlich-Sinnlichen und des Geistigen, weil auuh für ihn alles Natürliche im Plane Gottes, alao vom Standpunkte eines sich überhebenden metaphysischen Optimismus, gut ist nnd in seinen Best im mutigen nur durch den mensch- lichen Willen entartet und vereitelt wird**, Denn die Sinne und die Leidenschaften sind nicht nur als Vermittler zwischen der Seele und dem Körper bei der Erkenntnis der Außenwelt, sondern aue als Mittel zur Förderung unserer Selbaterhaltung zu bejahen: daher sind sie auch von Natur aus keinesfalls schlecht und man soll ihren Ur- sprung nicht in dem Sündenfall suchen: „pas tout un d^s- ordre du cötä des sens, <jue de celui de l'esprit et de la volonte des hommes". — Malebranche wird nicht müde, auf die Bedeutung des Sinnlichen, der Lust- und Schmerz- gefühle, als unserer „radikalen" Eigenschaften, hinzuweisen. „Du liebst deinen Leib", sagt er „du willst und sollst ihn erhalten (conserver), — du sollst daher auch in zwei Richtungen arbeiten, für das Wohl deines Körpers und dein eigenes (d. h. deine Seele)" ", So haben wir es hier klar mit einer anderen Rehabilitation der Sinne zu tun, als es in der englischen Gefühlsmoral der Fall war, und auch hier liegt es am nächsten, die Quelle der weltanschauungs- mfißigen Grundlage des Physiokratismus in diesen Gedanken- gängen zu suchen.
Es darf nicht befremden, daß wir einen mystischen Theologen, wie Malebranche es war, in eine Untersuchung über die Entstehung moderner, weltlicher Ansehauungeu hineinziehen. Malebranche war nicht nur Mystiker, sondern auch Rationalist (man erinnere sieh seiner Ausführungen über die Religion , wonach diese der Philosophie als dem Böheren unterstellt werden soll!) — und oft ein radikaler:
' Darüber uud über das fulgende ». Ualebranche, Oeuvres,
I. n, Hiditationg chr^ticnnea, eh. X, gS 2—4; Kd. Hl und IT, BecbercJie
Wae la firM, Uvre 1, ek. V, up. 35—40, livre IV, cb. X, pp. 73—77;
Traiti de la morale, eh. XI, ^§9 et «uiv,, eh. XUI, g 7, ch, XXIV, g 10.
«MMitaUoiut chritieniiei, XX, gg 15.
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wurde er doch wegen seiner Rechtfertigung der Sinne von den Kartesianern Arnauld und R^gis bekämpft und sogar Epikureer genannt*^! Freilich ist bei ihm alles Sinnliche dem „ordre immuable" dienstlich unterstellt, und wo es in selbstgenügsame Leidenschaften umschlägt, da soll es bekämpft und unterdrückt werden bis aufs Äußerste. Das aber haben auch Quesnay und seine Schüler gepredigt mit dem Unterschiede, daß Malebranche sofort vom Rationalis- mus in einen radikalen Mystizismus und Asketismus ver- fällt, der ihn fast bis zur Verneinung alles Sinnlichen führt Damit ist aber eine Tendenz von bleibender Bedeutung nicht aufgehoben worden, nämlich, daß alles Sinnliche ein not- wendiges Mittel zur Erreichung höherer Zwecke ist „L'homme renvers^ par terre, s'appuie sur la terre, mais c'est pour se relever"*®, sagt Malebranche an einer Stelle. Dieser Satz könnte als Motto an die Spitze des physio- kratischen Systems gestellt werden**.
*'' Vgl. Bouiller, a. a. O., Bd. 11, p. 98; Windelband, Geschichte <ier neueren Philosophie, 8. Aufl., Bd. I, § 27.
*8 Trait^ de la morale, V, § 18.
*^ Die von Hasbach in seiner Abhandlung in der Revue d'Economie politique gegen die Abhängigkeit der Moralphilosophie Quesnay^s von Malebranche dargebrachten Argumente erscheinen uns wenig stichhaltig. Z. B. , daß Malebranche vom „ordre'' spricht, Quesnay dagegen vom „ordre naturel" : wichtig ist aber für uns, daß beide vom „ordre immuahle^ sprechen ; oder , daß die Geschichtsschreiber des Naturrechts sich nie auf Malebranche berufen: das ist selbstverständlich, da Malebranche sich mit dem Naturrecht nicht beschäftigt, und uns kommt es nur darauf an, die allgemeine philosophische Stellungnahme zu ergründen. Auch, daß Male- branche unter dem „ordre immuable" Vollkommenheitsverhältnisse versteht, wird wenig gegen die im Text vertretene Auffassung zu besagen haben, da wir uns ja nur mit der Feststellung begnügen, daß M. die ethische und physische Ordnung gegenüberstellt Diese Gegenüberstellung schließt aber trotz Hasbachs Behauptung die Annahme ihrer Verneinung in einer höheren Harmonie vom Standpunkte eines transzendentalen Optimismas gar nicht aus, wie das auch bei Malebranche wirklich geschehen ist. Und wenn das bei den Physiokraten in einer empirischen Bejahung des Sinnlichen sich äußert, so ist es, wie wir gezeigt haben, auch bei Malebranche nach der Abschüttlung der mystisch-theologischen Zutat nicht anders der Fall. — Bei dem allen dürfen die mannigfachen Anregungen, die Quesnay von England aus bekommen hat, durchaus nicht geleugnet werden. Uns kommt es aber nicht darauf an, den einzelnen auf ihn ausgeübten Ein- flüssen nachzugehen, sondern auf die Feststellung dessen, wes Geisteskind er doch im letzten Grunde war.
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EIh darf wohl nur angedeutet werden, daß auch die Konse- quenzen, die die Physiokraten, wie die ganze Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, aus der karteaiachen Philosophie gezogen haben , nämlich der Glaube an die Möglichkeit, die Menachen zum vemlinftigen Dasein zu er- ziehen, schon bei Malebranche zu finden ist.
Die Erziehung muß danach nicht nur auf die Aus- bildung der Vernunft gerichtet sein, sondern auch auf eine derartige Lenkung der Sinne, daß ihre Forderungen den- jenigen des ^ordre immuable" entsprechen, mit anderen Worten, in jedem Menachen muß, wie Malebranche es mehrmals ausdrückt, ein „amour propre öclairö" er- zogen werden^".
Es ist daher auch hier anzunehmen, daß die phyaio- kratiachen Erörterungen über die Eigenliebe (vgl. oben Le-Mercier's Lehre) im Prinzip näher den analogen An- sichten Malebranche's als irgend welchen anderen Aus- führungen über denselben Gegenstand stehen, wenn auch andersartige Beeinflusaungen im einzelnen nicht zu ver- kennen sind. Einer der letzten „reinen" Kartesianer, der 17ö9 voratorbene Chancolier d'Arguesseau, hat ebenfalls in seinem rechtsphilosophischen Werke die Lehre vom „amour propre" zu vertreten gewußt, ohne dabei an seinen philo- sophischen Ausgangspunkten 7,u rütteln*'. Es ist also klar, daß eine gewisse Auffassung von der Eigenliebe mit den moratphiloaophischen Grundlagen dea Kartesianismus nicht Im Widerspruch steht. An diesen Punkt konnten also die Physiokraten anknüpfen.
So stehen wir auch im Rahmen der Malebranche'schen Philosophie auf dem Boden einer ideellen Harmonie zwischen der sinnlichen und der sittlichen Welt und kommen genau zu demselben Schluß über ihre gegenseitige Beziehung, wie wir es bei den Physiokraten gefunden haben
'" Trfti« de U morale, ch, IV, gg 13-19, cb. V. Sg 16, 22, eh. Via ■< UonilUr, A. n. 0„ Bd. II, ch. XXX, p. 605/6.
Zweites Kapitel.
Auf den philosophischen Voraussetzungen, wie wir sie bisher dargestellt haben, beruhen die Ausgangspunkte der Sozialphilosophie der Physiokraten.
Die Gesellschaft ist die Sphäre, in der der Mensch sich betätigt als zugleich passiv-sinnliches und aktiv-ethisches Wesen; in ihr durchkreuzen sich zwei verschiedenartige Elemente und schmelzen zu einem neuen Ganzen zusammen : das physisch Determinierte mit der freien Tat und der ireien Wertschätzung. Das erstere bildet die unabwendbaren, vom menschlichen Willen unabhängigen, ihren eigenen Gesetzen folgenden Gegebenheiten des gesellschaftlichen Daseins. Die Abhängigkeit von diesen dem Willen entrückten Daten, hauptsächlich in der Gestalt der Bedingungen der An- häufung materieller Güter, ist der leitende Gedanke der physio- kratischen Sozialphilosophie.
Nur diese Abhängigkeit, nicht das Aufgehen der Welt der menschlichen Betätigung in dem „Physischen" ist ge- meint, wenn die Physiokraten vom „ordre physique" in der Gesellschaft sprechen, oder wenn ihnen die daraus sich ergebenden Konsequenzen „physiquement nicessaires" er- scheinen, oder wenn sie die von den Daseinsbedingungen und den natürlichen Trieben abhängigen ethischen, recht- lichen und politischen Maximen, als „morale physique" be- zeichnen. Das, worauf es ihnen ankommt, besteht darin, die Motive der menschlichen Tätigkeit, die Elemente seiner Bewußtseinsinhalte in der „physischen", seinem Willen ent-
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rückten Welt zu auchen, zu der auch seine eigenen natür- liclieD Triebe gehören. — Auf Grund dieser Erkenntnis soll das Gerechte von nun ab auch den nicht Aufgeklärten in der faßbaren Gestalt ihrer eigenen Bedürfnisse und in der erkennbaren Gesetzmäßigkeit der Jtußeren Natnr ein- leuchtend gemacht werden: „La justice doit avoir un point d'appui sensible pour devenir manifeste dans toutes sea cons^quencea aus faommes ignorants", heißt es bei Le-Trosne ^.
So soll auch der normale, zu verwirklichende gesell- schaftliche Zustand — der ordre naturel — wie das Weltganze im Plane Gottes, eine harmonische Einheit der Natur und der Moralität darstellen. Auf dieser Doppel- seitigkeit des „ordre naturel" bei der gewaltigen Betonung der ^physischen" Abhängigkeit einerseits, und der schließ- lichen weltanschauungsmäßigen Anerkennung des Primats der freien Vernunfttätigkeit — die sowohl im Einzel- dasein und in der unorganisierten Existenz der Menschen- menge, als auch ganz besonders in dem organisierten staat- lichen Leben zum Ausdruck kommt — andererseits, beruht das ganze physiokratisehc System. Es ist notwendig dies hervorzuheben, um sich klar zu machen, daß für die Physio- kraten die „loi physique" in ihrer Gesellschaftslehre nicht identisch ist mit dem Naturgesetz, weil sie das Eingreifen der überlegten Tat in die natürlichen Vorgänge voraussetzt, was beim Naturgesetz ganz ausgeschlossen ist'. Doch dies bedarf noch näherer Ausführungen,
Da die ethischen Werte den „ordre de la nature" niclit berühren, so kann der menschliche Bewertungsmafistab der Natur nur insofern angelegt werden, als diese in den Bereich der menschlichen Betätigung hineingezogen und die ethische
' Ls-Tfosne, p. 84.
' Es ist muerefl Ernchl«Ds nicht genügend darauf liiiig(iwie)i«ii I worden, daB Quemuiy in aeinen soziiilphilosopliiBcbeD AuKtiitinmgeu unter 1 «loi pbysique" durcbauB kein Naturgesetz ini Sinne der Nulurwisitea- I «ohaften meint; er hesieht «ie nur auf die GeaetUuhaft nnil den soziiilen
SU&t«- u. vOlkuriDobtl. Abhundl. Vt s. - oantiherg. g
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Welt somit in realen Vorgängen konkretisiert wird. Die Beziehung der moralischen Ordnung zur nattlrlichen ge- staltet sich dann derart, dafi die erstere nur einen durch die freie menschliche Betätigung erzeugten und kraft der ethischen Sanktion hervorgehobenen Ausschnitt der letzteren bildet^. Jede Erscheinung, die wir als gut oder schlecht bezeichnen, ist aufierdem auch natürlich, aber nicht um- gekehrt: nicht alles, was in der Natur ist und vorgeht, wird von der menschlichen Vernunft gut oder böse geheißen; denn nur die vom Menschen geregelte Natur, deren Gesetze aber dabei unveränderlich bleiben, kommt hier in Betracht. Daher gehören nur diejenigen Vorgänge, die von menschlichen Zwecken geregelt sind, in den Geltungs- bereich der „loi physique^ hinein, und so heißt es auch bei Quesnay: „On entend ici par loi physique le cours r^gl^ de tout^v^nement physique de Tordre naturel le plus avantageux au genre humain^.
Nur so wird der Sinn der theoretischen Sätze der Nationalökonomie verständlich, wie sie sich aus dem Tableau ^onomique ergeben, und wie sie die Physiokraten in den „lois physiques" aufgestellt haben. Sie sind unabhängig vom menschlichen Willen, weil sie den Gesetzen der Natur unterworfen sind, sie unterscheiden sich aber von den letzteren, weil sie tibertreten werden können — und tat- sächlich übertreten werden. Daher ist im letzten Grunde die physiokratische Auffassung von einem in sich ge-
^ Das erkennt am besten E. Daire, wenn er sagt (Physiokrates hd. I, Introduction, p. XI, Note 2) : „Par lois physiques, on n'entend pas pr^cis^ment les lois de la mati^re, mais bien plutdt la direction utile que Tintelligence humaine peut donner k ces lois. Que l*on cultive oa ne cultive pas le sol, il est certain que Tune ou Tantre hypoth^e ne ühangera rien aux lois physiques de la v6g^tation*^.
*■ Quesnay, p. 375. — liebt die Definition der „loi physique" die Zweckbestimmung för den Menschen hervor, so betont dagegen die Definition der „loi morale" die andere Seite des physiokratischen Grand- gedankens, nämlich die Abhängigkeit von den physisch-determinierten Voraussetzungen — und so lautet sie: „. . . une r6gle de toute action humaine de 1 ordre moral con forme a Tordre physique 6videmment le plus avantageux au genre humain".
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Bublosaenen Ganzen, das von den „lois physiquea" beherrscht wird, keine „organische" Lehre von der Gesellschaft, aondarn eine Lehre vom „richtigen" geseltschaftlicheD OrganiamuB, wie er sein soll". So fehlt von vornherein jedem Ver- suche, in der physiokratiachen Gesell sc ha ftsi ehre eine posi- tivistische Auffassung im Sinne einer Lehre von der „sozialen Statik" zu erblicken, jede Berechtigung". Unter diesen Voraussetzungen tritt in der ersten wissenschaftlichen Soziallebre, als welche zu gelten der Physiokratismua das Recht hat, die „Wirtschaft" nicht als Naturprodukt, sondern als Kulturprodukt auf, denn die ^lois physiques", die den wirtschaftlichen Organismus schaffen, kommen erst durch die freie menschliche Tat und die menschliche Be- wertung zur Geltung, —
Daraus ergeben sich auch die methodischen Grund- lagen der phygiok rauschen Gesellschaftslehre. Ist der Gegenstand ihrer Betrachtungen in seinen Erscheinungs- formen von der vernünftigen menschlichen Tat bedingt, so muß er auch seine letzte Erklärung in einem Vernunft- prinzip finden, das gegeben, das aber nicht abzuleiten ist. Dieses Prinzip ist das durch richtige Einsteht erkannte, wohlverstandene eigene Interesse. So bildet die deduktive Me- thode den eigentlichen Weg, den die Fhysiokraten beschreiten.
Erwfigt man aber daneben die Bedeutung, welche die Physiokraten der äußeren Natur und ihren Gesetzen für den Abiaul des menschlichen Lebens beimessen, so ergibt sich von vornherein die Notwendigkeit einer exakten Er- kenntnis dieser Außenwelt. Das ist aber nur auf induktivem Wege möglich, wie es die Sensationstheorie, die Verwerfung der angeborenen und die Lehre von den allgemeinen Ideen
'^ Vgl. A. Oncketie Ausführungen über da» Tfthloau äcouomique, 2 Owaliichte der NAlional Ökonomie, Sä. S44, 386 — 102.
' Ähnliche VcrsuuliB Hiud aueb yoa solchen gemacht wonlen, die
t4i« »toiadie Orunillni^ das PhysiokratiRniiu erkannt haben: H. Deuia,
La. a. O., [ntrodaküon § 2, H. Bipert, Le Marquie de Mirabean. get
[-fUoricB politiquM et sociale», p, 320 ähnlich Juhn Morley, Critioal
"boeUanie*, L aerie, pp. ^9, 81.
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in der Quesnay'schen Auffassung zur Gentige bewiesen haben. Übertragen auf die Wissenschaft von der mensch- lichen Gesellschaft, ergibt sich daraus die Forderung der Beobachtung von Tatsachen („donnäes^ oder „conditions donn^es" nach Dupont^), die als Material Air die Kon- struktion des normalen gesellschaftlichen Organismus dienen sollen. So ist auch für die induktive Methode der Boden geebnet.
Doch bleibt die Bedeutung der Beobachtung und der Ableitung aus induktiv erworbenen Daten nur im Rahmen der endgültigen Deduktion aus dem Vernunftsprinzip be- stehen. Die Induktion ist nur ein Hilfsmittel ohne selbst- ständigen Wert fUr die Wissenschaft von Moral und Politik, die den Physiokraten mit der Lehre von der Gesellschaft identisch war. Das wohlverstandene Interesse bleibt ihnen stets als Regulativ der Obersatz, der es erst möglich macht, die auf dem Wege der Induktion errungenen Tatsachen zu theoretischen Sätzen zu erheben.
Trotzdem sprechen die Physiokraten im Geiste des von den Naturwissenschaften getränkten Jahrhunderts in ihrer Gesellschaftslehre immer von Naturgesetzen. Abgesehen also von der Art, wie wir diese „Gesetze" erkennen und von der Überzeugung, daß der „ordre naturel" und der „ordre de la nature" zwei verschiedene Welten bilden, haben sie den formalen Begriff des Gesetzes auf die soziale Ordnung übertragen, ohne daran Anstoß zu nehmen, daß das Gesetz- mäßige sich hier bei ihnen auf das Gewünschte, nicht auf das Seiende bezieht. Diese Übertragung war um so nahe- liegender, als die Vorstellung des Gesetzmäßigen haupt- sächlich auf dem Boden der Mechanik ihre herrschende Be- deutung gewonnen hat, so daß unter dem Naturnotwendigen nicht die kausale, sondern die mathematische Notwendigkeit verstanden wurde. Daher liegt auch die Beweiskraft der
^ S. A. Oncken, Geschichte . . ., S. 390.
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Physiokraten im Kalkül, und ihre „Notwendigkeit" sie seibat überall die „geometrische ^
So haben die Physiokraten einerseits die Bedeutung und das Wesen des sozialen Ideals verstanden, anderer- seits es aber naeh der Formel des Naturgesetzes erfüllt sehen wollen. Daher haben sie auch keine Ausnahmen in der zu konstruierenden Wirklichkeit und folglich keinen Gegen- satz zwischen allgemeinen und individuellen Interessen zu- lassen können. In dieser Forderung einer sozialen Lücken- losigkeit lagen schon die Keime einer Knechtung des Indi- viduums verborgen.
Neben dem Zeitgeist mag aber auch das besondere Be- Btreben, das Neue in ihrer Doktrin hervorzuheben, maß- gebend gewesen sein , wenn sie vom Naturgesetz in der Lehre von der Gesellschaft sprechen. Denn hieß es früher die Menschen sollen nach den Kegeln der abstrakten Moral handeln, so blieb doch die Erfüllung dieser Hegeln den Meisten tatsächlich versagt; jetzt soll aber den ethischen Maximen in der menschlichen Tätigkeit ein fester Boden gegeben werden, sie sollen in eine vom jeweiligen Willen unabhängige Motivenreihe hineingezogen werden und als konstant wirkender Beweggrund in gleichen Fällen bei gleichen Voraussetzungen die gleichen Folgen hervorrufen — mit derselben mathematischen Notwendigkeit, wie es in der Natur vorgeht. Dieser feste Boden sind die natürlichen Triebe des Menschen, sein Streben zur .Selbsterhaltung.
Steht also das Naturgesetz in seiner außerzeitlich an Abstraktheit im Mittelpunkt der methodischen Prinzipien des Phyaiokratismus, so wird damit dennoch nichts an der An- nahme geändert, daß der „ordre naturel" und seine Gesetze etwas von der naturnotwendigen Ordnung ganz Ver- «chiedenes ist.
, Den eigentlichen Gegenstand der Lehre von der Ge- lUscbaft soll aber nur der „ordre immuable" bilden. Da- it liegt die Erklärung für die Methode, der die Physio- Juesn«)-. p. 645, § (*
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kraten folgten, klar auf der Hand. Der Physiokrat Dupont, dem manchmal das für den modernen Beurteiler so ver- führerische Wort von einer „exakten'' Wissenschaft ent- schlüpft, hat diesen Standpunkt der Schule unzweideutig hervorgehoben.
In kritischen Bemerkungen über eine Rede Beccaria's* tritt er dessen Behauptungen entgegen, dafi man auch in den Sciences morales et politiques nicht von allgemeinen Wahrheiten, sondern von den „värit^ particuliöres'' ausgehen müsse. Wer so denkt, meint Dupont, der glaubt in diesen Wissenschaften ein nur für Botanik, Physik und Chemie taugliches, ja ausschliefilich notwendiges Verfahren an- wenden zu können. Das ist aber falsch, denn die volle Wahrheit bei der Erkenntnis der äußeren Natur ist dem Menschen, wegen der Beschränktheit seines Geistes und seiner Sinnesorgane und wegen der Unermefilichkeit des zu erkennenden Gebiets, für immer versagt. Daher können die „physiciens"^ die Natur nur hier und da in Bruchstücken erfassen („Obligos de prendre par les rampeaux quelques portions de connaissances""), ohne imstande zu sein je die wahre nur der Gottheit erschlossene Ursache zu ergründen. Anders aber verhält es sich mit den Wissen- schaften der Ethik und der Politik, weil ihre Regeln uns betreffen, nicht die äußeren Vorgänge „qui n'ont aucun rapport ä nous", weil sie von der Vorsehung für uns „sous nos yeux et dans nos coeurs'' als Regeln unseres Handelns bestimmt und daher mit voller Einsicht von uns erfaßbar sind : so ist es mit der Idee des Rechts, der Pflicht, der Gerechtigkeit, des gegenseitigen Interesses usw. Hier haben wir also die Prinzipien, von denen wir ausgehen müssen, vor uns, ohne sie erst auf Grund einzelner Tat- sachen aufstellen zu müssen.
So gesehen wird es klar, daß für die Physiokraten die Gesellschaftslehre nicht eine Lehre von den Er-
« Ephem^rides du citoyen, 1769, Heft V, pp. 63- 66, Note.
schemuDgen des aozinlen Lebens ist, wie sie sich natur-
I notwendig entwickeln; sondern sie ist ihnen eine Lehre von der Einmischung der vernünftigen menschlichen Tat in die
I Gestaltiing der Gesellsehnft, wie sie nach den Forderungen ■ Vernunft werden soll. Die physiokratiache Gesetl- ecbafts- und Staatslehre läuft somit auf die ökonomische und rechtlich-politische Konstruktion eines Idealstaates hinaus. Daher hat sich Quesnay direkt die Aufgiibc gestellt, nur den bestmöglichen (einen „archiä-type des gouvernements", wie es bei ihm an einer Stelle hei0t), nicht den wirklichen Staat zu schildern '<*. ^Die Theorie hat sich nur mit dem Besten zu beschäftigen", sagt mit ihm sein großer Schüler Turgot " und wiederholt es bei jeder Gelegenheit. — Der bisherige Erfolg der naturwissenschaftlichen Methode, heißt es bei Dupont au der schon angeführten Stelle, sei nur durch den Schutz zu erklären, den sie bei den Macht- habenden in der bestehenden Ordnung gefunden hat: diesen war ea bequem die Völker in Ungewißheit über ihre Rechte und Pflichten verharren zu lassen, um den „despotisme arbitraire", der ja gegeben ist, den wir Überall wahrnehmen, in seinem Bestände zu rechtfertigen ".
Wohl sei BS notwendig und wichtig, ergänzt Mirabeau Beine GesinnungagenoBsen'", auch über die bestehenden Staaten zu belehren, doch soll man sich weder mit dieser Auf-
I ^abe allein begnügen, noch diese Aufgabe gar mit der Lehre 1 „ordre naturel" vermengen. Das aber sei der Fehler des
■ „genialen" Montesquieu gewesen, der im Geiste der Ge- e den Geist der Gesetzgebung zu finden geglaubt bat,
t ohne einzusehen, daß „l'esprit des lois ou l'esprit de la
1» que»ui<y. 1». -Mi.
" Tiireot, tl, p. ^iK\i ähnlich Le-Meraier, p. 117; «iich Bsadeau, i IntrcHlnctioii n la jihilusophle economiqae in der Daire 'scheu Aus^Hbe der I PhTBJokritten, Ud. 11 (im folgonden kurz — B&udena — litiert), pp 691 ^ " ■ I 1, G92.
■■ . hnlicb Turgot in einem Briefe an M-elle de l'GspinSHs«, Oourren .. BOl.
■■ Mirabeau, Lettrea nur U ligislaüon Bd. II, pp. tiSh'i.
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lägislation ne sont pas la m§me chose''. Man muß aber stets der Verschiedenheit dieser beiden Aufgaben eingedenk sein. „Nos deux objets", sagt Mirabeau weiter sich gegen Montesquieu wendend, „n'ont rien de commun; le g6nie et r^rudition ätaient ses guides et Tordre naturel est le mien".
Drittes Kapitel.
Die am Schluß des vorigen Kapitels angeführten ÄuöeruiJgen Mirabeau's legen uns die Aufgabe der „neuen Wiflaensehaft", wie aie sich die Physiokraten aeibst (lachten, klar vor Augen. Methodisch haben wir ea hier mit einer uralten, aber ewig sich verjüngenden und dem Geiste der Aufklärung so sehr entsprechenden Form des politischen Raisonneinents zu tun: nicht die verwerfliche Wirklichkeit, sondern die vollkommene soziale Ordnung, den Idealstaat, soll die Wissenschaft schildern. Das Neue aber, was hinzu- kommt, ist der Versuch, die Konstruktion nicht aus der Luft zu greifen, sondern sie ans den zu einem System zu- sammengefaßten notwendigen Bedingungen abzuleiten, von denen die im gesellschaftlichen Zustande lebenden Menschen in ihrem Streben zur Selbsterhaltung abhängig sind. So wird von den Physiokraten der Staat, wie er sein soll, auf der Grundlage der Tatsachen des sozialen Lebens aufgebaut, die vor- und außerstaatlicher Natur sind, insofern sie zur Staatenbildung führen oder neben dem Staate von setbst- stSndiger Bedeutung und Wirksamkeit bleiben. Auf diese Weise wird es notwendig, in der physiok rat! sehen Doktrin diejenigen Ideen besonders auszuscheiden, die sich nicht das Seinsollende, sondern auf die soziale Wirklichkeit [ In ihrem Sein und Werden beziehen.
Die erste und wichtigste Tatsache, die an der Spitse ■■ physiokratischen Systems steht, ist die des geselligen
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Zusammenlebens der Menschen, die Tatsache der Oesell- Schaft. — Dieser Gedanke, den Quesnay schon im vierten Kapitel seiner Abhandlung über das Naturrecht andeutet, wird nachher von seinen Schülern besonders scharf hervor- gehoben. Die Gesellschaft ist ihnen eine „physische" Not- wendigkeit, der eigentliche „natürliche Zustand" des Menschen \ Le-Trosne betont dies direkt im Gegensatz eq der Theorie, die den Ursprung des sozialen Daseins in einem Gesellschaftsvertrage erblickt^. Der junge Graf Mirabeau rühmt in einer polemischen Wendung gegen Rousseau's Contrat social diese Lehre „des klaren und methodischen Entdeckers (auteur) der wahren Grundlagen des Naturrechts" ®. Und wirklich ist in der ganzen physio- kratischen Literatur nur an einer Stelle, in einem unter- geordneten Artikel Baudeau's in den Ephemeriden vom Jahre 1768*, vom „pacte social" die Rede.
Die Gesellschaft ist also keine freie Schöpfung, sondern
* Le-Mercier, eh. I und Anfang des eh. III; Dupout, Physiocratie ou eonstitution naturelle du gouvemement le plus avantagetix au genre humain, Reeueil publi6 par Du Pont, Yverdon, 1768 (im folgenden knn — Physioeratie — zitiert) Bd. III, De Torigine et des progr^ d*Qne seienee nouvelle, p. 15; Mirabeau hat ähnliche Gedanken schon in seiner vorphysiokratisehen Periode im Ami des hommes, eh. I, geäußert.
^ „. . . que la soei^^ n'est pas un ^tat de ehoix et de Convention . . .' „L'^tat de la nature que tant de philosophes opposent continuellement k r^tat social, est une pure imagination, et une supposition absolument gratuite, qui ne peut donner aueune Inmi^re, ni conduire k la connaiuance de Thomme puisqu'elle met k la place de Thomme tel que Dieu Ta (bü, un etre faetice et id^al". (Le-Trosne pp. 13/14 und Anmerkung.)
^ ComtedeMirabeau, Essai sur le despotisme, 2-i^me ^d., Londret 1776, pp. 86—39. Das war die erste bekannt gewordene, ganz physio- kratisch gehaltene Schrift des großen Volkstribunen, vgl. A. Stern , Das Leben Mirabeau s, 1889, Bd. I, SS. 84/5.
* Im VI. Heft des im Texte genannten Jahrganges in der Abhand- lung „Vrais prineipes du droit naturel". — An einer anderen Stelle äußert sich jedoch Baudeau gegen den Gesellschaftsvertrag noch schärfer als die anderen Physiokraten, indem er sagt: „Nous aimons k croire que' l'homme est le fruit de la soci^t^ qui pr^c^a sa naissance . . . Cette phrase banale si souvent r^p^t^c par la tourbe de nos ^erivains „quand les hommes se r^unissent en soci^t^s*^ n'exprime qu^lne chim^re absurde, tout mortcl de uotre esp^ee ^tant n4 dans une soci^te dont il etait l*ef fet et non la cause.^ S. Baudeau, Nouveaux Clements du commerce, Discours pr^liminaire zu Bd. 78 der Encyclop^die m^thodique, pp. VII und XII.
eine auf notwendigen , pliysiauhen " Voraussetzungen be- ruhende natürliche Ordnung des menschlichen Daseins.
Die Phyaiokraten begniigen sich im allgemeiuen mit dem Hinweiö auf die Notwendigkeil des geselligen Zusammen- lebens, die in der Natur des Menschen und seinen Lebens- bedingungen begründet ist, ohne näher auf die hier in Be- tracht kommenden psychischen Voraussetzungen einzugehen, wie das vor und nach ihnen in den meisten Theorien der Fall ist. — Le-Mercier, der im ersten Kapitel seines großen Werkes den Versuch einer psychologischen Erklärung unter- nommen hat, beschrankt sich nicht auf die Betonung einer bestimmten psychischen Eigenschaft; ftir die Erklärung des sozialen Daseins sind ihm die emotionnelle Seite der mensch- lichen Natur und die Vernunft, rein „natürliche" Beweg- gründe „dans l'ordre phyaique" und ideale Zwecke „dans ['ordre m^ta phyaique" gleichbedeutend. Man könnte daher im Sinne der Physiokratcn die psychischen Motive mir all- gemein aU das Streben zur Selbsterhaltung auffassen, das psychisch von der ganzen Fülle des menschlichen Seelen- lebens bedingt ist. Diese atigemein gehaltene Erklärung hat oft die Schüler Quesnay's veranlaßt, die psychischen Beweggründe des gesellBchaftlicben Zustandes in der bloßen Vorstellung vom persönlichen Interesse zusammenschrumpfen zu lassen, wogegen sie aber an anderen Stellen durch den Hinweis auf die selbstlose Seite der menschlichen Natur selbst Einspruch erheben''.
Diese Lehre von der Oeaellschaft als einer dem mensch- lichen Willen entzogenen Daeeinsbildung , knüpft an die ' Altere, den Gesellschaft »vertrag bekämpfende französische
^ Dics^ beldun Beliaiiptim^ii ßadeu wir besundera olt bti Mirabeau;
Tgl. ilbar das Gute in der meoschlithen Nntur in der Philosophie rurale,
I7K8, l, III, p. 14; ähnlich in den hettra» mr 1« l^alstion, Bd. I.
ATertiBiemunl. — Ini nllgemeincD wird sbcr ron den Pliysiokreten die
tute Beile der men^chlirheu Natur Dur bei der bekünipliiijf der Vertra^-
Jienri« lierror^hobeu. dn diese Theorie von der Annahme ausgeht, daB
I die Menschen den „pacle Kodfti" erhtießen, am ihreii „ natu r liehen'
I FeiDdielittkeiten nnd (^treilJKkeiten ein Ende kq mochen: ». besonders
I Baudeau'i NouTeanx £lämenta d
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Literatur an, etwa an F^nelon und Bossuet*. Zweifa log haben auch bei Quesuay metaphysisch-religiöse Motiv« insoweit mitgewirkt, als er die Gesellschaft als eine gott- gewollte, der menschlichen Willkür entrückte Institution auffaßte. Die göttliche Sanktion bezog sich aber bei ihm auf die Gesellschaft nur als Naturerscheinung im Gefilge des Weltgauzen, nicht auf irgend eine bestehende staatlich organisierte Form der Sozietät. Wenn die Pbysiokratäii aber von einer „Theokratie" sprechen^, so verstehen sie darunter den „ordre naturel" als ein Ideal, welches fem ist von jeder Wirklichkeit und dessen vollständiger praktischen Undurchführbarkeit sie eich wohl bewußt sind'*; dagegen war das Bestreben ihrer Vorganger ausgesprochen auf die Rechtfertigung des französischen Königtums gerichtet.
Auch die Ähnlichkeit zwischen dieser physiokrattscboj Lehre und der späteren katholischen Staatstheorie ist noi eine scheinbare, weil für diese die göttliebe Sanktion dem historisch Gewordenen galt, wodurch das Bestehen einer un- erschütterlichen und greifbaren Autorität über den einzelnoBn gerechtfertigt werden sollte. Eine ähnliche Autorität i Gegensata zur „Anarchie der Meinungen" haben aucb ( Physiokraten gesucht; nur sollte sie nicht außerhalb dw" Menschen, sondern in ihm, ebenfalls in einer „Meinung", die sich aber zur „Evidenz" erhoben hat, gefunden werden: denn das gesellschaftliche Dasein wird nicht nur durch das Naturnotwendige " , sondern auch durch den freien menacb- lichen Willen bewirkt, der sowohl die „Depravation" wie den
di«^^
dem nn-
t is^M idiM
* V^l. Oierke, Joliannes Altosiua. S. 82, Anm. 22, S. 100, Anm. OB ' QueRnny, ]>. 642: handeau, 799. V
• Darüber Bandeaii, p. 792i Le-Trosne, p. 265. ■ ' Der charKkleriüCiiiclie Zug der kathnlischen StnatHlehre. der ikr
das realiatisoh-liistaTiHtiscbe Oepräge verleibt, ist siien die IdentifiEi«ran|{ de« Gotteowillens mit der rohen, den menaublichen Willen brei^hendca „gBKetini&liigfjt" Natiimotwendi^keit; nie kannten in Gott keinen Unter- tdiied, wie Halebranohe es tit, twisohen den ,.däcreta divini'' oder der „puii sance de Dien" (dem „Nstii notwendigen") einerBeita und der „Tolonti d Diou" (dem frei vom Mensohen eu verwirklichenden „ordre immiuibW Aadererseita.
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I
„ordre naturel" herbeiführen kann. Darin äußert sicli der individualtstisch-aufklareriBche Zug des Physiokratismue im Gegensatz zur späteren legitimistischen Staatstheorie. Es ist daher schwer, einen Zu.*ammenhang zwischen den Lehren des Physiokratisinus und des späteren Legitismus zu finden, weil sie aul' Verschiedenee gerichtet sind und in entgegengesetzten Weltanschauungen wurzeln : jene in der Aufklärung, diese in der Romantik '",
Gehen wir nun den grundlegenden Ideen der Physio- kraten weiter nach, so ist an dieser Stelle noch einmal hervorzuheben, daß sie in ihrer Gesellachaftslehre den Ge- danken der Notwendigkeit mit demjenigen der freien mensch- lichen Handlung in eine Einheit zu bringen wußten. Den Schwerpunkt der zwingenden Ursache bei der Erklärung des sozialen Daseins haben sie aus dem güttlichen Willen, wie es sonst die den Sozialvertrag verwerfenden Theorien taten, oder aus einem unbewußten sozialen Trieb in die auf den Menschen einwirkende äußere Natur, in die Be- dingungen und Mittel der Herstellung materieller Güter verlegt. Im Prinzip hat das schon eigentlich Montesquieu getan , nur haben es die Physiokraten auf Grund ihrer nationalökonom lachen Theorie versucht — um mit Baudeau zu sprechen — „d'expliquer par l'ordre physique, comment fl'opere lo bien commun de tous". Dadurch haben sie die Möglichkeit gewonnen, den Grundstein zu einer wissenschaft- lichen Gesell Schafts lehre zu legen und, wie Karl MarxQuesnay nachrühmte, „materielle" Gesetze der Gesellschaft, die „von Willen, Politik usw. unabhängig sind" , aufzustellen ". I Diese Äußerung Marxens entspricht aber nicht ganz dem
"^ Diesen ZuBitmmeDhaii|; liat indessea Henry Michol a. a. O. p. 20 EU Gilden (^egUnbl. — DA^eeen ist intorexsAnt ku sehen, diiB äe Bonftld (Ebsm/ Bnn1;li<|Ue aiir les loin nsturelJes de l'ordre socIaI, Oeavreii, Bd- 1, p. 'iÖHIl) dum (iliiloRophisulien hebier der Pbyaiokrateii Malebrauche den Vorwurf matüit, daft er eine von Gott BHnktionierle GeaetEmiBigkeit nur in der phjaiachvn und in der ilbernatürUi^en W«lt — dem „ordre imnua.lile'' — , nickt aber in der hiitoriscb ^nardenen Oesellschaft feHl- genellt hal.
■< K. Uarx, a. ». U. S. U.
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Sinn des physiokratischen Systems, weil sie die Vorstellung hervorruft, als ob in der Organisation der Gesellschaft der menschliche Wille bedeutungslos wäre. Das war aber nicht die Anschauung der Physiokrateh ; denn für sie war wohl der Mensch ganz von „physischen" Voraussetzungen ab- hängig, seine Vernunft wurde aber dadurch keinesfalls ge- bunden oder in ihrer realen Bedeutung beeinträchtigt. Denn die Vernunft ist es, welche es dem Menschen möglich macht, im Rahmen der Notwendigkeit sich zu orientieren *', das „Physische" bewertend, ordnend, ja sogar in das Zu- sammenwirken der natürlichen Erscheinungen gebieterisch eingreifend.
Die Vereinigung dieser beiden Gedanken, die sich scheinbar bekämpfen, und der Versuch, darauf ein neues systematisches Gebäude zu errichten, bildet die Eigenart des Physiokratismus und bedingt seine eigentümliche Stellung in den naturrechtlichen Gesellschaftstheorien. Aber angesichts dieses scheinbaren Widerspruchs zwischen der Determiniert- heit des sozialen Lebens und der alles beherrschenden Ver- nunft, ist die literarische Beurteilung der Physiokratie verschieden ausgefallen, je nachdem man auf die eine oder die andere Seite die Aufmerksamkeit gelenkt hat.
So haben die einen betont, daß die Physiokraten gegen den Sozialvertrag waren und die Gesellschaft aus ihrer „physischen" Notwendigkeit erklärt haben, die anderen, unter ihnen Oncken und Hasbach, sprechen unumwunden vom Sozialvertrage bei den Physiokraten, ohne überhaupt näher auf diese Frage einzugehen. Hasbach scheint bei der Analyse des Le-Mercier'schen Werkes doch daran Anstofi zu nehmen und macht schließlich diesem Physiokraten den Vorwurf des Widerspruchs und der inneren Inkonsequenz ^^
^* „Se conduire avec sagesse, autant que le lui permet Tordre des lois ))hy8iques qui constituent rimivers", Quesnay, p. 370.
^^ Hasbach, S. 60; ähnlich Espinas, Histoire des doctrines ^conomiqueSf p. 217. — Hasbuch sieht in den Ausführungen Le^MercierV ein Salto - mortale , weil er dessen Grundidee durchaus auf Lockens Lehre vom Staatsvertrag zurückfuhren will. Indessen muß dieses Unter-
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Indessen läßt sii-h dieser Vorwurf vermeiden, wenn man den phyiiiokratischen Gedanken so auffaßt, daß die Ge- bundenheit an die äußere Natur in voller Übereinatimniiing Diit der freien VernunfttÄtigkeit bestehen kann, die in den Grenzen ihrer Macht die Natur zu überwältigen und unter ihre Zwecke zu beugen sucht.
Kb darf daher nicht wundernehmen, wenn wir nun behaupten , daß diejenigen Publizisten , die Montesquieu immer vorgeworfen haben, daß er das Wesen der staat- lichen Ordnung auf die Einwirkung der äußeren Natur, wie Klima, geographische Lage usw. zurückfiihren wollte ", selbst die Determiniertheit der menschliehen Gesellschaft scharf betont haben. Der Unterschied bestand aber darin, daß Montesquieu nach der Auffassung der Phyaiokrateo auch die Prinzipien der vernünftigen Organisation des ge- sellschaftlichen Lebens von den Bedingungen abhängig machen wollte, die sie nur fllr den Unterbau des Staates, fUr die „physische" Basis der Gesellschaft gelten ließen'".
Die wichtige Konsequenz, die sich aus alledem er- gibt, ist. daß wir es bei den Physiokrateti mit einer deut- lich hervortretenden Unterscheidung von Staat und Gesell-
Mhmeu miBlingen, weil bei Locke das Indiriiluiini staatai^Tideiid ist {vgl. JcllUek, Allgomeine (ttaatslehre , 1. Aufl., BS. ISö.T), bei Le-Mercier iagegen, wie bei allen Plij-Bio c raten , i«t es, wie wir iiuch Mben werden, nur ein rational istiBchea Prinzip.
'* QneaDsj, p. 578; Dupout, Physiocralie, Bd. III, p. T/S.
" In vüllem MnBe liBt sich dies aach kuf Tnr^ot beaieben, der in Beinen berdhmlen Jugendscbriften , anter dem EiiiSuH Monteaqaieu's, die Bedeutung des Klimas nnd der geographiHclien La|i^ für di« t^taalen- bildnoRen hetont (Oeuvres. II, p. 611 et sniv. und an vielen nnderen BMllen). Er hebt dabei aber auch den anderen ätaudpunkt hervor, und awar ausdrQoklich ge^u Montesquieu |pp, 646/7), wenn er HHgt, daS so- bald ea unx auf das bewußt organisierie soziale Leben ankommt, wir dann den Uripning in den leitenden PrtnEtpieii der organiiatorischen TStii;keit — in der Vernunft, in den „caugex morales" — »uclien inOasen. Erst wenn diese Quelle emi'hBpft ist. wenn wir Eur O renne des Bereiches des dem Menschen offen stehenden freien Tittigkeittgebietes an- gelangt sind, dtinn i^t es erlaubt auf die natürlichen Ursachen au kommen. Also aucib nach Turgut, wie hei den nudereu Ptysiokratea, ist im gesellschaftlichen Lebeu das frei Erworbene und frei KoDftruierte von dem tatsäoLlieb Gegebenen und Naturnot wendigen ta n
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Schaft zu tun haben . Diese ist eine in allen Stücken von der Natur abhängige „physische" Erscheinung , jener da- gegen eine bewußt vollzogene, vernünftige und vereinheit- lichende Organisation der ausgereiften sozialen Beziehungen auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung.
Diese staatliche Organisation soll sich nach Prinzipien vollziehen, die als allgemeingültige, aufierzeitliche und un- veränderliche Maximen des Handelns freier Wesen in ihrem gesellschaftlichen Leben gelten müssen. Die staatliche Ordnung, die auf diesen Prinzipien aufgebaut ist, bildet das für alle Zeiten und alle Länder gültige Vorbild eines „ordre naturel et essentiel des hommes räunis en soci^t^'^. Das ist der eine rein naturrechtliche Standpunkt der Physiokratie in ihrer Auffassung der Gesellschaft.
Daneben wird aber von den Physiokraten der zweite an dieser Stelle uns speziell interessierende Standpunkt ver- treten, von dem aus die sozialen Beziehungen in ihrem Sein und Werden einer Betrachtung unterzogen werden sollen. Hier wird das Veränderliche, vom Menschen Unabhängige, nach den Gesetzen der Natur sich Vollziehende zum Gegenstand der Erörterung gemacht. Das ist das „Relative" bei Ques- nay", das ist die Veränderlichkeit „selon les lieux et les circonstances" , die auch seine Schüler trotz der Angaben der Gegner hervorgehoben haben ^'.
^^ Vgl. darüber Oncken, Zur Biographie des Stifters der Physio- kratie , in Kuno Frankensteins Vierteljahresschrift für Staats- und Volkswirtschaft, 1895, S. 154.
^"^ Diesen Vorwurf hat den Physiokraten Rousseau in einem Briefe an Mirabeau gemacht; vgl. A. Oncken in der oben (Anmerkung 16) g^ nannten Zeitschrift, Jahrg. 1896. S. 277. Dagegen ließen sich aber manche Stellen aus den physiokratischen Schriften anfuhren, die die Not- wendigkeit der Anpassung „selon les lieux, les temps et les circonstances** betonen. So Baudeau in seiner Hauptschrift, p. 688 und in den Epheme- riden, 1767, Heft I, p. 5/6, Heft II, p. 93. Ähnlich Mirabeau über die Variabilität der „lois constitutives** eines Staates nach der Beschaffenheit des Klimas und des Bodens, Lettre» sur la l^gislation, II, p. 688. — Baudeau bezeichnet an einer der angeführten Stellen (in den Ephemeriden 1767, II) den Inbegriff der relativen Kegel für einen gegebenen Staat als den „ordre national de chaque empire*^ im Unterschiede vom „ordre social '^ im allgemeinen.
VIE
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I I
Hier stehen wiederum Turgot und die anderen Physio-' kraten auf ein und demselben Boden, und daher wird der Versuch sie scharf gegenüberzustellen , weil Turgot in seinen Jugendschriften den Entwicklungsgedanken ver- treten hat, nicht ganz der wahren Sachlage gerecht. Der Vorwurf der prinzipiellen Einseitigkeit gegen die Physiokraten tat ebensowenig berechtigt, wie derjenige, der gegen Turgot gerichtet worden ist, daß er allmählich seinen Jugendgedanken untreu geworden sei, um schließlich in einen engherzigen Dogmatismus zu verfallen.
Das Mißverständnis beruht darauf, daß raan sowohl hei Turgot, als bei den übrigen Physiokraten entweder den einen oder den anderen der von ihnen vertretenen Gesichts- punkte in der Gesellschaftslehre außer acht läßt. Bei den Physiokraten wird vergessen, daß sie neben dem Unver- änderlichen, ewig sich gleich bleibenden „ordre naturel" auch das Veränderliche, von der Natur im steten Wechsel Gegebene, das sich Entwickelnde, wie wir gleich sehen werden, hervorgehoben haben'*. Turgot wiederum wird es als Widerspruch angerechnet, wenn er neben seiner Evolutionstheorie hartnäckig an dem Gedanken festhält, daß die Wahrheit unabhängig bleibt von ihrem Entstehen im menschlichen Geiste, unabhängig von all den Stadien, die der Geist durchzumachen hat. um zu ihr zu gelangen.
II. Den Enlwicklungsgedanken im Zusammenhang mit der Perfektibilitätaidee hat, wie schon erwähni, zuerst Turgot als befruchtenden Samen auf den Boden der französischen Philosophie gestreut. Von ihrem mehr positivistisch ge- färbten Standpunkt aus (im Gegensatz zum naturrechtlichen) wußten die Physiokraten diesen Gedanken nicht nur anzu- erkennen, sondern auch in dem systematischen Aufbau ihrer liChre zu verwerten.
"* In hexug aar Quesosy wird dji* von Oncken in vollem MnBc nn- Kukannti da er durauf nein ganxe« ijyatein der Dartitt>llnBg bnal, iiidem r flbersll den „ordre naturel" vom „ordre positif unterncheidet. StiioK- 11. v.iIkDirechtL. Abhudl. VI 3. — GfliKiber«. 4
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Die Entwicklungsidee äußert sich in der physio- kratischen Schule in der Lehre vom allmählichen Entstehen der Bedingungen, die die Verwirklichung der „natürlichen Ordnung" in den „ötats policös" ermöglichen, dann in der Lehre von den Entwicklungsformen der staatlichen Oi^ni- sation und schließlich in dem allgemeinen Glauben an den Fortschritt des menschlichen Geistes.
Was diesen letzten Punkt anbetrifft, so ist er schon in der sokratischen Lehre Quesnay's von dem Zusammenhang der Erkenntnis und der Tugend enthalten. E^ ist ja ein Grundgedanke der ganzen Doktrin — und zwar im rein Quesnay 'sehen Sinne — , daß die Erkenntnis zur Tugend und Glückseligkeit führt, und daß die wahre Einsicht nach Überwindung der im Laufe der Geschichte begangenen Irrtümer zum Wohle der Menschheit schließlich doch ein- treten wird. Die Menschheit entwickelt sich also in der Richtung immer besser werdender Daseinsbedingungen, je weiter die fortschreitende vernünftige Erkenntnis gelangt Mit Recht nennt daher auch Espinas die Physiokraten die Schule der Progressisten ^®. Der Unterschied von Turgot besteht hier nur darin, daß die Physiokraten den Fortschritt mehr in der Zukunft betonen, während Turgot auch in der Vergangenheit den allmählichen Progreß konstatieren wollte, um darin die Bürgschaft für das Kommende zu erblicken.
Doch liat auch Mirabeau, trotz seines Sträubens gegen den allzu „philosophischen" Turgot, auch diesen Gedanken von ihm übernommen, indem er vom „principe präpara- toire" spricht, das auch den Erscheinungen der Depravation eigentümlich ist. Das ist derselbe Gedankengang, den wir in Turgot's „ Disco urs sur l'histoire universelle" finden, nur weist die Mirabeau'sche Formulierung („il n'est point de mal qui n'ait son bien ä port^e") auf die innere Verwandtschaft mit Quesnay's Lehre von der „hygiene de la nature" deutlich hin**^
^^ E s p i n a s , La philosophie sociale du 18-i6me si^le et la r^volution, p. 94.
^^ Turgot, II, 682 et suiv. , Mirabeau, Lettres sur la l^g^slation, Bd. I, Avertissement und pp. 125 6; Quesnay, p. 868.
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Überlassen wir nun die Lehre von den Entwicklunga- formen der staatlichen Organiaation dem später Folgenden, und wenden wir uns dem ersten der oben erwähnten Punkte — über die Entwicklung der sozialen Bedingungen, die zum Staate ftthren — zu.
Es ist hier vor allen Dingen zu bemerken, daß wir diese Lehre fast in allen pliysiokratischen Schriften tinden können, ausgenommen denen Quesnay'a, bei dem sie nur flüchtig gestreift wird ^^ Dieser Umstand beeinträchtigt aber imsore Auffassung wenig, denn auch Quesnay hat — neben Turgot — Diipont's „Table raiaonn^e des principes de l'öconomie politique", in der diese Lehre systematisch aus- geführt wird, gutgeheißen ''.
Zuerst sind die Gedanken, die wir hier darzulegen baben, in der Gestalt einer Auffassung von der stufenweisen Entwicklung der menschlichen GeselUchaft in den Jugend- scbriften Turgofs zu finden". Als Gemeingut aller zur Physiokratie- sich bekennenden Publizisten sind sie dann in der eben genannten Schritt Dupont's, an die auch wir uns halten werden, behandelt worden.
Den Ausgangspunkt bildet die Vorstellung von einem ungordneten sozialen Dasein der Menschen, vod einem Nebeneinander Violer („4tat de multitude"), die jedem Blut- vergießen fremd, in ihren Bedürfnissen und Beziehungen Äußerst primitiv, friedlich leben, alle von demselben Bestreben
I
*' Quesna; , Am EingRngr des in. Kh|i. der Abbtindluot; Qber dns NAtnrrecht, dium noch ji. 6-16 § 11.
" Schelle, Dupont de Nemours et l'^cole phyiiocratique, p. 163: vgl. DaponfB Schreiben an den Markgrafen Karl Friedrich von Baden in dem von K. Knii» herHusgegebonen IJriefwechsel de» Mark^afen mit Uirabeaa und DnponI, 1892, Bd. I, S. IM6. (Im folgenden — Briefwechsel 4m Markgrafen Karl Friedrich — citiert)
" Turgot, JI, p. 629—6^1; auch Miraboaa, Pliiloiophie riirale. Bd. II, p, 17—20. Mastrier — Turgot, sa vie et sa doctrine, p. 410 — weist daranf hin, daB diese Gedanken dberhaupt luerst von Turgot aui- ftCHprodien waren-, das ist aber nielit ganz riubtig, denn der vemieiutlicli originelle Turgot'sche Qedanke int uralt — wir finden ilin solion bei Ariatgtelaa, vgl. Handwörterbuch der Staats wissonachnfleni Jl. Aoftage, Art. Aristoteles, Bd. I. ß. 1051.
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zur Selbsterhaltung geleitet, das durch aufgefundene Bode fruchte, durch „spontane Erzeugnisse", befriedigt wird. D war das Stadium „de la recher che des productions v^ tales spontan^es". In dieser kurzen Periode gab es tum fast keine Ungleichheit; alle Menschen bildeten eil Klassn; nur die vliterliche Gewalt war das Brzeugn dieser Periode. Die Familie, „les liens du sang'^y ist al der Anfang jedes sozialen Zusammenschlusses.
Als der natürliche Ertrag der Erde sich dann allnifthlic als ungenügend zur Befriedigung der Bedürfnisse erwiese hatte, da mußten neue Wege gesucht werden , und es h gann das zweite Stadium in der Entwicklung des soziale Daseins. Nicht mehr durch Sammlung verschiedem Pflanzen, sondern durch das Töten anderer lebender Wese konnten die Menschen jetzt ihr Leben und ihre Gattun erhalten. Hier entsteht das Verderben im menschliche Geschlecht, meint Mirabeau'*: mit dem Blutvergießen b< ginnt die Geschichte der Gewalttaten, die Menschen werde blutgierig, kampfeslustig, rachsüchtig. Das ist die Jägei und Fischerperiode. Auch hier gibt es noch keine Klassei aber die gemeinschaftliche Jagd macht eine obere Leitun notwendig und so entsteht die Gewalt.
Mit dem dritten Stadium tritt eine Milderung der Sitte ein: es entsteht die Viehzucht und mit ihr die Hirtei periode. Gesellschaftlich ist diese Zeit dadurch bemerken« wert, daß neben der schon früher erfolgten Ausscheidun gewalthabender einzelner Personen jetzt eine weitei Difl^erenzierung sich vollzieht: die Eigentümer wirtschaf lieber Güter — naturgemäß beweglicher Güter — trenne sich von den Nichteigentümern, die ihre Ernährung vo den ersteren erhalten; neben der Klasse der „propri^taires entsteht die Klasse der „salari^s".
Je weiter aber die Menschheit fortschreitet, desi
"^ Mirabeau, Lettres sur la 16g^islation, Bd. I. Avertissemeii pp. XVI— XIX.
VI 3
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dürftiger werden die natürlichen Mittel zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Hier kommt dem Menachen seine Intelli- genz, die Möglichkeit durch seine „Kunst" („art") die Natur zu beherrschen, zu Hilfe, und es beginnt die Behauung der Scholle. So entsteht die Ackerbau- und Ansäasigkeits- periode, das letzte und höchste Stadium der Entwicklung.
Hier beginnt die eigentliche Gesellachiift („ötat de so- ciöt^"). Die menachÜcheo Beziehungen entfalten und ver- vielfältigen sich. Die Mittel, die zur Selbsterhaltung, zur Vermehrung und Anhäufung materieller Güter dienen, können nicht mehr von den nebeneinander stehenden, lose zusammeiigeechloasenen Einzelnen erreicht werden. Die Aufgaben müssen geteilt werden, und diese Teilung bedingt die Struktur der Gesellacliaft. Was Queanay hier im Quer- schnitt der Geaellachaft darstellt — die Lehre von den drei Bevölkerungsklassen — , das hat schon Le-Mercier in den «raten Kapiteln seines Werkes in dem Übergang von der ^soci^t^ universelle" zu den „aoei^tös particuliörea" (a, unten S, 67) in aeinem Werden geschildert. Noch deutlicher mit direkter Betonung der Bedeutung der Arbeitsteilung fltr die gesellschaftliche Differenzierung ist das bei Turgot ge- Bchehen"'. — Auf dem Boden dieser neuen mit dem Ackerbau entstehenden Bedingungen bildet sich nun die „aoci^tö r^guliöre" heraus, der Staat, der „corpa poli- tique".
Wir sehen also, wie in der Phyaiokratie die Voratellung von einem vorstaatlichen sozialen Zustand entsteht, die von der Locke'schen und Hulcheson 'sehen Lehre von der „natür- lichen Geaellachaft" aich unterscheidet, weil durch den Ent- wicklungsgedanken neue Perapektiven in die bisherige Be- handlung dea Gegenstandes hineingetragen werden. Wir haben es hier mit einer Fülle von Tatsachen zu tun, die ihrem Bestände und in ihrem Werden unabhängig vom
' Turgot, IMfleiions s
ributioa des richesBas,
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menschlichen Willen sind und erst auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung die Notwendigkeit und die Möglich- keit des Staates als einer durch freie Bestimmung gelenkten sozialen Ordnung schaffen.
Betrachten wir nun näher die Struktur der Gesellschaft in der Periode, wo das soziale Leben sich zum staatlichen organisiert ^®.
Die Grundtatsache, die hier die Gestaltung der sozialen Verhältnisse verursacht, ist das Entstehen des Privateigen- tums auf Grund und Boden. — Die Grundeigentümer als diejenige Bevölkerungsschicht, die zuerst durch ihre Arbeit dem Boden seine Erträge abgezwungen hat, stehen der Natur der Sache gemäß („physiquement", wie es die Physio- kraten ausdrücken) an der Spitze der Gesellschaf);. Auch nach- dem die unmittelbare Bearbeitung der Erde auf die „salari^^ übertragen worden war, haben sie wegen der einst ver- wendeten und in die Scholle hineingelegten Arbeit das Recht auf das Grundeigentum nicht verloren. Sie bilden nun die „classe des propri^taires**, deren soziale Bedeutung einer- seits in der indirekten Erhaltung und Vermehrung der Fruchtbarkeit des Bodens, andererseits in der Handhabung der verschiedenen Funktionen der öffentlichen Gewalt be- steht. Durch diese zweite Seite ihrer sozialen Tätigkeit, für die sie durch einen Teil der Bodenerträge entschädigt werden, geraten sie in die Klasse der „salari^s**. Daher be- zeichnet sie auch Quesnay als die „classe mixte^ ^^.
Die Landbebauer bilden die zweite, die eigentlich pro- duktive Klasse der Bevölkerung. Innerhalb dieser Klasse sind aber die kapitalkräftigen Leiter der landwirtschaft- lichen Unternehmen, die Pächter (fermiers), von den eigent- lichen Arbeitern — den „salari^s" — zu unterscheiden. Zur produktiven Klasse im eigentlichen Sinne haben die Physiokraten nur die erste Kategorie gezählt. Hier tritt
^^ S. hauptsächlich die Analyse du Tableau 6coiiomiqae , Quesnay, p. 805 et suiv.
»•^ Quesnay, pp. 318, 529.
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die Besonderheit zu Tage, daß die pliysiokratische Snzrallehre nur die in ihrem Sinne für den „ordre naturel" bedeutsamen Klassen hervorhebt, ohne den tatsäehlicben Bestand der Gesellschaft restlos zu erschöpfen. So bleibt fast die Mehr- heit der Bevölkerung, die landwirtschafthchen und in- dustriellen Arbeiter, ohne Beaclitung. Nur in dem nn- gedruckten für die Enzyklopädie bestimmten Artikel „HomraeB" ^* erwähnt sie Quesnaj unter dem Sammel- namen „menu peuple" oder „bas peuple". Charakterisiert werden sie nicht durch ihre produktive Kraft, sondern durch ihren Verbrauch, durch die Kosten, die sie dem eigentlich produktiven Leiter eines Unternehmens ver- schaffen ".
Neben den Eigentümern und den im Ackerbau Be- schäftigten steht die dritte gesellschaftlich bedeutsame Be- Tölkerungsschicht, die mit der Nutzbarmachung der Er- zeugnisse der Erde Ijeschäftigt ist, entweder durch Ver- teilung der Guter auf dem ganzen Gebiete der menschlichen Gemeinschaft (traticants) oder durch ihre Umformung (arti- sans). Auch hier, wie schon erwähnt, sind die Unternehmer von den eigentlichen Arbeitern in derselben Weise zu unterscheiden, wie bei den Ackerbautreibenden. Die soziale Leistung dieser Klasse besteht nicht in ihrer Produktivität, sondern in ihrer Nützlichkeit^"^'.
Die Gütererzeugung, ihre Verteilung und Erhaltung,
die die eben genannten drei Klassen bewirken, bildet den
eigentlichen Inhalt des sozialen Lebens. Diesen Inhalt in
L winer Vielfältigkeit einem obersten /wecke zuzuwenden,
^ Aoatüge im Uriginal und iu ÜlHirsetxuiig in St. Jiaaen Ab- ' handlung' in CoorailB Jahrbüi'hem , N. F. , Itd. II, Zur Entstehung dei Fhyriohrfttie.
■* Hirabenu, Philosophie rurale. Bd. I, eh. V. p. 152 et »uir. '" Itkudcnu, p. ti60; Je le r^p^te . • . gtSril«« pur Opposition Ji , l'art fäoond, mais iion par Opposition k utilea . . ."
Im Art. „HommeB" spricht Quesuay noch nicht von einer pro-
I und sterilen Kinase, Bondem von direkt und indirekt prodoktiven
__ 8. St. Bauer, a. a. O., 8. 127/20; Mirabenti. Tli^rie de l'impat,
Sm, p. 166.
56 VIS
ist die Aufgabe der staatlichen Organisation. Der Staat ist also nur ein Mittel^ und neben ihm bleibt das eigentlich Soziale als das Primäre, als der Inhalt des LebeDs, in seiner Bedeutsamkeit und Wirksamkeit bestehen. Die speziellen Aufgaben des Staates, die „besoins politiques'', müssen da- her stets den sozialen, den „besoins physiques" — in der Terminologie der Physiokraten — unterstellt sein. Das Ideal des „ordre natureP ist, daß zwischen diesen beiden Arten der „besoins", zwischen dem Staatlichen und dem Sozialen kein Qegensatz bestehe, und so wird, als Konse- quenz der durchgeführten Scheidung, die Frage nach den Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft zum Zentral- punkt der physiokratischen Politik. Doch bevor wir an diese Frage herantreten, soll uns noch die Rechtslehre der Physiokraten beschäftigen.
Viertes Kapitel.
Das Recht wird von Queanay als soziale Erscheinung und als ethischer WertbegrifF einer doppelten Betrachtung unterzogen. In dem einen Falle Bpricht er und mit ihm sein Schüler Le-Mereier von der „idöe relative" des Rechts, im anderen — vom Juate abaolu" im Rechte',
Als soziale Erscheinung bedeutet das Hecht eine zwischenmenachliche Beziehung (relation), und es ist nur da zu finden, wo ein Zusammenleben der Menschen vor- handen ist. Willst du den Menschen als isoliertes Weaen betrachten, sagt Quesnay, so wirst du auch vergebens den Unterschied zwischen gerecht und ungerecht suchen*. Da- her ist es auch unmöglich, eine inhaltlich allgemeingültige Definition dea Rechtes zu geben, wie das die meisten Philo- sophen tun, denn es ist den jeweiligen Zuständen der Menschen entaprechend verschieden. Da aber diese Zu- stände von den Bedingungen abhängig sind, in die der Mensi'h von der äußeren Natur gestellt wird, so wird auch das Recht von vornherein in das Naturnotwendige, vom menachlichen Willen Unabhängige hineingezogen.
Je komplizierter daa soziale Leben dui-ch die Stellung
' Der im Texte durchgefübrteu Aosicbt von der dopiielten Uehsud- lung des Hechts bei den Phyninkratea liegen baupbrSchlich dns 1, und U. Kap. der Q Des uay 'neben Abliaiidluiig über das Naturrecht oud der An- fang dos II. Kap. in Le-Mercier's groäem Werke lugrunde. Vgl. aueb Itaudrillart, La philoBD|jhie des Pbjliocrates im Jonrnat des fconomiates, Bd. 29, p. «.
■ Queinaj'. 364, Note 8, p. »71.
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zur äußeren Natur wird, desto komplizierter und vielseitiger wird auch das Recht. Das Recht entwickelt sich mit der Qesellschaft und ist überall, je nach den sozialen Be- dingungen, verschieden. Das ist ein sich stets wiede^ holender Gedanke bei den Physiokraten. Es ist eine Illusion , meint Baudeau , zu glauben y dafi es ein einheit- liches natürliches Recht für „alle Menschen, Air alle Staaten, für alle Verhältnisse'' gebe^ Daher ist auch in den ersten Zeiten des menschlichen Zusammenlebens , in den primi- tiven Zuständen, das Recht primitiv : es entspricht dann voll- ständig dem Wesen und der „Natur" der einfachen Vei^ hältnisse, die allen gleich klar und verständlich sind. Zwischen dem Natürlichen und dem Gerechten herrscht auf diesen ersten Stufen der Entwicklung volle Harmonie. Zwischen dem Rechte und der Wirklichkeit besteht noch kein Konflikt, so wenig wie zwischen dem persönlichen Interesse und dem Interesse des Ganzen. Das primitive natürliche Recht ergibt sich aus den primitiven natürlichen Beziehungen *,
Aber mit der Entwicklung der Lebensverhältnisse er- weitert und entfaltet sich das natürliche Recht , und im Einzelbewußtsein wird dann sein letzter Zweck durch das Vorwalten der Triebe und durch das egoistisch- persönliche Interesse verdunkelt. Dann entsteht die Notwendigkeit, daß die Menschen sich über ihr natürliches Recht ver- ständigen. So beginnen die „Conventions" — das eigentlich positive Recht — , die ihrem Sinne* nach eine allgemein- gültige Formulierung der vernunftsgemäß entwirrten natür- lichen Rechtsverhältnisse bedeuten. Daher ist auch das positive Recht kein neugeschaffenes Recht, denn seine Auf- gabe ist nur eine „deklaratorische" in bezug auf das natür- liche Recht*. —
Gehen wir nun zur Betrachtung des Rechts nach seinem
« EphÄm^rides du citoyen, 1768, Heft VI, p. 188 9. * Le-Mercier, p. 121. ^ Quesnay, p. 648.
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jrfinderlichen und , absoluten"' Wesen über, ao ist zu- vörderst festzustellen, daß das Eingeliea auf diese Frage durcliaiis nicht mit der tatsächlichen Veränderlichkeit des Rechts im Widerspruch steht, denn das absolut Gerechte verwirklicht sich im Relativen , in zwischenmenschlichen Beziehungen, die immer wechseln". So kann sich der In- halt des Rechts verändern, ohne dadurch etwas an seiner Bedeutung einzubüßen, gerade so wie ein und dieselbe Materie verschiedene einander aiiBschtießende Formen, an- nehmen kann'.
Dieses Wesen des Rechts erschließE sich uns nicht auf empirischem Wege, sondern durch die Einsicht der Ver- nunft, daher gipfelt auch von diesem Standpunkte aus die Definition des Rechts als des Gerechten in den Worten — „regle naturelle et souveraine reconnue par les lumiöres de la raison".
Die Vernunft deckt uns unsere Pflichten Gott und deu Mitmenschen gegenüber auf: die Pflicht der Selbe terhaltung, der ein natürlicher „unersättlicher" Trieb entspricht, und die Pflicht, den Mitmenschen in ihrer Erfüllung der gleichen Aufgabe nicht zu schaden. Auf diesen Pflichten und den aus ihnen folgenden Rechten mit allen daraus für die je- weiligen Zustände sich ergebenden Konsequenzen beruht der zu erstrebende „ordre naturel" ; durch das Bewußtsein dieser Pflichten wird der soziale Zustand in die ethische Welt hinübergeleitet und gestaltet sich zum „ordre de la justice" im Unterschied vom , ordre de la nature": denn ist auch der letztere ein Kampf um die Daseinsmittel und die Daseinsbediogungen , so steckt darin noch kein Recht^.
' „hv tenae d'abi>olii n'cnt point ici (^mpto;^ pur D|>|)oiiitioD rd '; CHT ce n'est qua Jan» le relstif que le Juate et rinjuil« pouvent lieai miis ce <|ui , rigourfeiuemeDt parlant, a'est qu'un ju*te relatif i«jit FependsDt un jiiate absolu par rApport A U aicBisili abHoIue oh de vivte ta aoeiiti." L6-M*rciar p. 11. ine verit^ «D eiclut nne aittre daoB on meme etre krequ'il cluuii^ d'AlJit, comme nne forme e»t U privsüon actaelle d'one autre forme daiui nn mSme crirps." Qii«siiay, p. -{68.
" QneniBj, pp. 366'7 iPulemik gegen Hobbea): vgl. auch Minbeau, Lettrea »ar Im l^gislatiun, Bd. II, p|). 471—473.
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Ein Recht kann man nur auf etwas Bestimmtes httben, ab« nicht auf alle Möglichkeiten: „die Schwalbe besitzt kets Recht auf alle Mücken, die in der Luft schweben'^. Recht iat eine Beziehung, die auch effektiv da vorhanden iat, sie in aktuellen Handlungen im gegebenen Moment oichl hervortritt". Und im Gegenteil, nicht jeder faktische Za- stand ist ein Rech tazus tan d ; daher bekämpfen auch die Phyaiokraten , besonders Queanay und Turgot, die Macht- theorie. Die Gewalt der Tatsache, führt der erstere auM, erstickt in uns nicht das Streben zum Besseren, zur freies gegenseitigen Selbsteinschränkung'", Auch der Sieger unct der Tyrann, meint Mirabeau ", bedarf des Rechtes, um dia Früchte seiner Eroberungen zu genießen. Wenn das Rech^ nichts anderes wäre als die Macht, heißt es bei Turgo^ so könnte ja der Herrscher nur das unternehmen, was ihi seine Untertanen gestatten würden '^
So bleibt das Recht seinem Wesen nach etwas von dem Tatsächlichen ganz Verschiedenes, in seiner Bedeutung nie dadurch beeinträchtigt, daß die Wirklichkeit von ihm ■ abweicht. Daher ist auch das Wesen des Rechts unabhängig von seinen jeweiligen Erscheinungsformen, und will i es erfassen, so muß man sich das Recht vor jedem tat- sächlichen Zustand denken, wenn es auch in der Wirklich- keit nur mit diesem erscheint. Niemand hat dies unter den Physiokraten scharfer hervorgehoben als Le-Mercier, wenn er sagt, daß das Recht nur gleichzeitig mit der Gesellschaft ent- steht, weil die Gesellschaft die naturliche Form des menscli- lichen Daseins ist, daß aber seiner Bedeutung nach als Vor- stellung von den Rechten und Pflichten der Menscheo das
* „, . . son droit (des Menachen) ■ . . doli etre cnnsidärä daus rordr» de 1» natura et dans Tordre de la jaetice; car danH l'ordre de la nBtora i! est iiidäterminä tant qu'il ti'eit piu asatu^ par la poHsesaion actudlttj' et dans l'ordre de la justice il est dätermioä par une poeseaBiun MBenS'n- de droit naturel . . ." Quesnay, p. :i67.
'" Qaesnay, pp, 7.W7.
" Mirnbvau, Lettre» aar U l^alation, Bd. 1. p, 13, Bd. tl, p.
■- Turgot, II, pp. C80/1, Lettre» aar la tolfrauce, 2. Brief.
VIS
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I
Recht — „dans l'ordre des id^es" — als vor der Ge- sellschaft bestehend gedacht werden muß '^.
So wird das Absolute im Recht zum festen Kern des phyeiokratiachen Systems, dem es sein besonderes Gepräge verleiht, ao daß es sein Licht — oder vielmehr seinen .Schatten — auch auf alle anderen .Seiten der Lehre wirft und ihnen eine eintönige Färbung gibt oder sie gar völlig im Duükel läßt. —
Verfolgen wir nun weiter mit den Physiokraten — und hauptsächlich mit Quesnay — ihre Ausfuhrungen über das Wesen des Rechts, so ist vor allen Dingen festzustellen, daß der rechtliche Zustand, wie schon aus dem Obigen folgt, eine Einschränkung des natürlichen Zustandes darstellt. Diese Einschränkung ist wiederum doppelter Natur; denn sie hängt von der physischen und moralischen Beschaffen- heit des Menschen ab.
In erster Hinsicht ist das Recht durch die Bedürfnisse des Menschen und durch das Maß der ihm zustehenden Herrschaft über die äußere Natur bedingt; durch die Be- dürfnisse aber wird das Recht nur ungenau (vaguement) bestimmt, dagegen werden ihm durch das Maß der Herrschaft über die äußere Natur feste Grenzen gesetzt. Dieses Maß wird durch die Arbeit bestimmt, und es gibt also nur ein Recht auf diejenigen Güter, die wir uns durch unsere Arbeit erworben haben. Je größer das Quantum und das Resultat unserer Arbeit, desto umfangreicher unser Recht. „C'eat le travail des homraes . , . qui 6tend l'exerciee de leur droit" '*.
In zweiter Hinsicht — dans l'ordre moral — beruht
" nQuoi qii'ü iioit vrsi de dir« ((ue chiique homme aaisse en Bovi^tö, cepeudant dann l'urdre des idto, le besoin qua tea bommM nnt de la ■oci£l^, doit HO pinuer ikvant l'exifitetice de In socift^. Ce n'est parce qae las hommea »e aont r^unis en Hociätia, qu'ila out entre enx dea devoiri et dea droit« r£cipru(|uea; mui c'iMt parc« qu'ila aTaieat naturelleiDeal et näceaaairement entre eux dea dovoira et dee droits r^cipraqilea qu'ila TiTent natnrellement et n^eaasiremetit en fiociätä." Le-Uercier, p. 11 — 13. Da« ist die Stelle, die Hnabach ala äallo-mortale in den GedonkeugBngen Le-Mercior'a betraubtet (Vgl. IIl. Kap. dieser Sehrlft, Note 13}
'* Bandeau, Tg;!, die in Note ^ dieae* Kapitels angegebene Stelle.
62 . VI
das Recht auf der moralischen Beschaffenheit des Menschei Da der Zweck des Daseins eines jeden gleich ist den jenigen seines Nächsten, so wird dieses letzteren Wohl zu Orenze der rechimäßigen Betätigung: man darf daher nu das unternehmen, was in die Sphäre des Nächsten nie! hinübergreift.
Die eben geschilderten einschränkenden Momente sin aber von den jeweiligen realen Verhältnissen abhängig/ an daher ist die endgültige Definition des Rechtes oder der G< rechtigkeit nur formell bei Quesnay gehalten und lautt wie folgt: „Une regle naturelle et souveraine, reconnu par les lumieres de la raison qui dätermine ävidemment c qui appartient ä soi-meme et k un autrui*'.
Aus diesem grundlegenden Gedanken folgen die weitere Sätze des physiokratischen Naturrechts. — Da die £ii schränkung der Tätigkeit des Individuums durch den ebei hurtigen Zweck des Nächsten eine Pflicht diesem Nächste gegenüber ausmacht, so entspricht ihr bei diesem letztere ein Recl)t, dem aber durch dessen Pflicht dem erstere gegenüber wiederum feste Schranken gezogen sind. S steht an der Spitze der Lehre der Satz — ,,point de droit sans devoirs, et point de devoirs sans droits" ^^.
Das ist die Maxime, deren praktische Anwendung vo; Turgot in seiner sozialpolitischen Tätigkeit manchem spätere) liberalen französischen Nationalökonomen Anlafi gegeben hai den großen Minister Ludwigs XVI. als halben Sozialiste zu betrachten. Ja sogar Louis Blanc hat geglaubt in Tui got's Tätigkeit, auf der „wohl sein Ruhmestitel beruht' eine Inkonsequenz seinen Prinzipien gegenüber erblicke zu können ^^.
Indessen verkennen diese Urteile den eigentliche Charakter des Physiokratismus. Denn überall, wo di Physiokraten von der bezeichneten Maxime ausgehen un
^'^ Le-Mercier, p. 16.
*® L. Blanc, Histoire de la r^volution fraii^aise, t. I, p. 533.
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vom Rechte auf Existenz oder vom Rechte der Armen auf den Überfluß der Reichen und dergleichen (Turgot) sprechen, da bedeutet „Recht** nur einen objektiven vom „ordre naturel" geforderten Zustand, aber keinen 8ubjekti>ren Rechtsanspruch. Freilich muß für die Verwirklichung dieses objektiven Rechts, dessen Wirkungen als „Reflex", um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen, den einzelnen zu gute kommen , die Oesamtheit, der Staat Sorge tragen. Der Staat muß auch Hilfe leisten, wo die objektive Ordnung (aber nicht ein subjektiver Rechtsanspruch!) verletzt wird. Das ist aber die Fürsorge, die von oben kommt, von einer aufgeklärten Regierung, nicht von unten, aus dem eigen- mächtigen Recht der Regierten. Doch kehren wir zur Naturrechtstheorie der Physiokraten zurück.
Die Pflicht zur Selbsterhaltung und das Recht auf Selbsterhaltung, die in dem Mittelpunkt der Lehre stehen,, ist von den Physiokraten den landläufigen naturrecht- lichen Theorien entlehnt und nur durch die Betonung der Oesetzmäßigkeit der Ökonomik zur besonderen Be- deutung erhoben. Unter dem deutlich hervortretenden Ein- fluß Locke's " hat sich die Vorstellung von dem Rechte auf Selbsterhaltung zu dem Rechte auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit entwickelt. Das ist in der Weltanschauung Quesnay's eine logische Folgerung aus dem ethisch-religiös begründeten Zweck des menschlichen* Daseins, dessen Er- füllung durch den Selbsterhaltungstrieb bedingt ist, der also zur Pflicht gegenüber dem Schöpfer der Natur erhoben wird. Damit ist das erste Grundrecht, das Recht auf Freiheit gegeben.
Frei zu sein — oder das Recht auf Freiheit ist aber das persönliche Gut des Menschen, sein persönliches Eigen- tum. So ergibt sich zu gleicher Zeit mit Notwendigkeit aus dem Rechte auf Freiheit das Eigentumsrecht, zuerst in der allgemeinsten Form des Eigentums an seiner eigenen
" Vgl. Hasbach, S. 47 ff.
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Person. Daher sind eigentlich Freiheit und Eigentum Wechselbegriife, und sie können sich gegenseitig als Mafi dienen ^®.
Nun bedarf aber der Mensch zur Erhaltung seiner Persönlichkeit materieller Güter, die er durch seine Arbeit erwirbt, d. h. in den Bereich seiner Person hineinzieht. So wird auch das Recht des Eigentums auf materielle Güter, zuerst auf bewegliche Güter und dann im Laufe der Ent- wicklung auch auf Grund und Boden, abgeleitet und gerechtfertigt ^®.
Da aber dieses Eigentumsrecht aus den natürlichen Rechten der Menschen und aus der Idee der Gerechtigkeit deduziert wird, so ist auch in der Gerechtigkeit die wirk- samste Einschränkung des Eigentums zu erblicken. Daher haben die Physiokraten das ungerechte Eigentum verworfen, so vor allem die Feudalrechte. Hier sind besonders Turgot und seine Schüler Boncerf und Le-Trosne hervorgetreten *®. Diese physiokratische Einteilung des Eigentums in gerechtes und ungerechtes mag auch für den Beschluß des französischen Adels in der Nacht des 4. August nicht ohne Bedeutung gewesen sein^^ —
Fassen wir nun unsere Betrachtungen über die physiokratische Rechtslehre zusammen , so ergibt sich für uns an dieser Stella als Hauptresultat, daß das Recht so- wohl als soziale Erscheinung, als auch seiner inneren Be-
^^ Le-Mercier, p. 46.
'^ Das ist die in allen physiokratiscben Schriften vorzufindende Lehre von den drei Arten des Eigentums: dem persönlichen und dem- jenigen auf bewegliche und unbewegliche Guter.
^^ Le-Trosne, Dissertation sur la fSodalit^, im U. Bande seines Werkes De Tadministration provinciale et de la r^forme de l*impdt, 1788. Boncerf, Les inconv^nients des droits f<6odaux. Paris et Londres, 1776. Ähnlich auch Mirabeau, Les Economiques, Amsterdam, 1769, Bd. II, p. 73 imd Le-Mercier, L'int6ret de letat, 1770, p. 70.
*^ Es ist interessant, daß Le-Mercier im Namen der Gerechtigkeit sich überhaupt gegen allzu großen Besitz ausspricht, weil solcher meistens nur aus einer Verletzung des Eigentumsrechts entsteht. Nouvelles Eph^m^rides Economiques, 1775, Heft IX, p. 172, Note.
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deutung nach, nicht vom Staate geschaffen wird, sondern schon als vorstaatliche Tatsache besteht.
Somit ist der Inhalt des sozialen Lebens nicht nur seiner materiellen, sondern auch seiner rechtlichen Seite nach schon vor dem Staate gegeben. In diesem Sinne ent- wickeln auch die Physiokraten ihre Lehre vom Staate und seiner Aufgabe.
Staats- u. TOUcerreohtl. Abhandl. VI 8. — Gflntzb«rg.
Fünftes Kapitel
I.
Bei der Gegenüberstellung von Staat und Oesellschaft ist uns schon in allgemeinen Zügen klar geworden , worin die Physiokraten das Wesen des Staates gesehen haben. Um das kurz zusammenzufassen, war ihnen der Staat eine bewußte vernunftgemäße Organisation der von Natur aus gegebenen menschlichen Gemeinschaft. Diese Auffassung ist als Folgerung der schon im zweiten Kapitel dargestellten Lehre von der Gesellschaft und dem „ordre naturel" als einer Verschmelzung der physischen und der ethischen Ordnung zu betrachten: das „Physische" bezieht sich da- nach auf die Abhängigkeit von der äußeren Natur und ihren Gesetzen und bildet die Elemente des naturnotwendigen sozialen Daseins ; das „Ethische" dagegen ist die Organisation der zwischenmenschlichen Beziehungen nach den durch die Einsicht der Vernunft den Menschen sich erschließenden ethischen Maximen auf der Grundlage der physischen Not- wendigkeit. Diese Organisation ist der Staat: insofern er sich diesen „physischen" und „ethischen" Anforderungen anpaßt, bildet er den „ordre naturel" ; im entgegengesetzten Falle — den „ordre de döpravation" , wie er in der Ge- schichte und in der Gegenwart überall zu konstatieren ist
Als Form des sozialen Daseins ist der Staat auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung entstanden: mit dem Beginn der Ansässigkeit und des Ackerbaues hat er sich mit Notwendigkeit („physiquement") herausgebildet. Ent-
VI 3
67
sprechend dem Fortachritte in der Bewältigung der äußeren Natur hatten sich dann die Aufgaben der menschlichen Ttltig- keit vermehrt und verwickelt, so daß die einem jeden wegen seiner Selbaterhaltung obliegenden Pflichten von ihm allein nicht mehr erfüllt werden konnten: das Objekt der Be- arbeitung, der Grund und Boden, ja die Arbeit selbst, mußte daher zwischen den Menschen geteilt werden, „Les hommes se sont trouv^s dans la n^cessit^ ph^sique de se ■diviser comnie lea terrea memes" ',
Damit aber alle einen und denselben gemeinsamen Zweck verfolgten, der diese Teilung hervorgerufen hatte, ■war es notwendig, daß man Bestimmungen traf, die die Menschen gegenseitig verpflichteten. So sind an Stelle der einfachen Beziehungen, wonach jeder nur für seine eigene Unabhängigkeit zu sorgen hatte, jetzt kompliziertere, die einzelnen in ein höheres Ganze verflechtende, eingetreten. Diese Bestimmungen über die gegenseitigen Beziehungen sind die Bedingungen der neuen Gemeinschaft, ihre eigentlichen Gesetze, ihre „conventionB". Le-Mercier schildert dieae Entatehung der „aoci^t^ r^guliÄre" als den Übergang der „Eoci^tt^ universelle et tacite" in die eigentlich staatlichen Formen der „aociöids particuliörea et conventionelles" ^
Die erste Aufgabe, die dieae „Conventions " zu lösen haben, ist die Schaflfung einea Zentrums, von dem aus die geteilte gesellschaftliche Arbeit zu dem einen gemeinsamen Ziele geführt werden soll. Dieses Zentrum ist die Staats- gewalt, die „autoritö tutölaire". So beginnt der Staat mit dem Moment, wo die ansBsaigen und ackerbautreibenden Menschen eine Macht schafi'en, die, wie wir nachher aehen werden, unparteiisch über die Einaelinteressen »ich erhebt und Eigentum und Arbeit der Glieder der Gemeinschaft nach innen und nach außen zu schützen hat. So knUpfen die Phyaiokratcn das Zustandekommen der „Conventions",
' Le-Mereier, p. 19/20. » Ibidem, pp. 18—20. 31 1768, Heft VI, p. 134^.
; Utindeau ia deu Ephtn
68 VI»
das Eingreifen der vernünftigen organisatorischen Tätig- keit in das soziale Dasein, an das Einsetzen der Staats- gewalt an^
Die Unterwerfung unter eine alles befehligende Macht setzt aber die Annahme voraus, dafi die verschiedenen Klassen, in die die Gesellschaft auf dieser Entwicklung»* stufe gespalten ist, zu einer neuen Einheit zusammen- geschlossen werden. Die „Conventions" fuhren also nicht nur die Unterwerfung unter eine Gewalt, sondern, auch eine neue Vereinigung herbei. Der Staat, sagt LiC-Mercier, ist eine durch das gemeinsame Interesse, durch den „accord parfait" der diesem Interesse dienenden sozialen Institutionen geschaffene Einheit^. In dieser Einheit, die durch die Herausbildung eines leitenden vernünftigen Willens, einer Zentralgewalt (un centre commun, une intelligence, une volonte premi&re) verwirklicht wird, hat Baudeau den eigentlichen Kern eines „ätat polic^** zu sehen g^laubt C'est ce qu*on appelle souverainetö, fügt er hinzu ^.
Wollte man nun diese physiokratischen Erörterungen im Sinne einer Vertragstheorie auffassen, so ist festzustellen, daß die Physiokraten im Anschluß an Hobbes^ die her- kömmlicheTheorie vom Gesellschafts- und Herrschaftsvertrage zu Gunsten eines einzigen Vertrages, der die beiden ge- nannten in sich enthält, verlassen haben — mit besonderer Betonung des Herrschaftsvertrages als des eigentlich staats- bildenden.
^ Quesnaj, p. 378; Le-Mercier, 20; Dupont, Physiocratie, Bd. I, Pr^face, p. XIV; auch in der schon erwähnten Table raisonn^ aar les principes d'^onomie politique.
* Le-Mercier, pp. 25, 369.
^ Baudeau, p. 797, — Vereinheitlichend und zentralisierend war auch die nationalökonomische Lehre der Phjsiokraten, da sie die Ab- schaffung aller „binnenländischen Verselbständigungen" verlangte. VgL Knies, Einleitung zu Karl Friedrichs von Baden brieflichen Verkehr mit Mirabeau und Dupont, Bd. I, SS. 88/9. Über die Bedeutung des Physio- kratismus in dieser Hinsicht vgl. auch J. S. Drojsen, Vorlesungen über die Freiheitskriege, Bd. I, Kiel, 1846, S. 97.
« Über Hobbes vgl. Gierke, a. a. O., SS. 86, 101/2.
l VI3
1)9
Die Hobbes'sche Theorie war flir die Phyaiokraten eine passende Auslegung des Naturrechts , an die sie am besten mit ihrer Lehre von der Gesetlschaft als einer natur- ootwendigen, „physischen", von dem Willen und der Über- einkunft der Menschen unabhängigen Erscheinung anknüpfen konnten. Denn dank dieser Auslegung war das Eingreifen das freien menschlichen Willens nicht etwa schon bei dem Entstehen der Gesellschaft betont, sondern erst bei der be- wußten Einsetzung einer zentralen G-awalt, mit a. \\'., bei der vernünftigen und vereinheitlichenden Regulierung der sozialen Beziehungen und der „natürlichen" KechtsverhSlt- niese, die als Tatsachen von vornherein gegeben sind.
Dadurch erhält aber der Gedanke des Staats Vertrages eine besondere Beleuchtung; denn die schöpferische Kraft des Individuums, die der Vertragsidee zu Grunde liegt, betätigt sich danach nur im Bereiche der Vernunft, neben der die sozialen Beziehungen als naturnotwendige Er- scheinungen unberührt bestehen bleiben, der freien Vemunft- tätigkeit feste Grenzen setzend und sie nach einer be- stimmten Richtung hin zwingend. So spielt der Vertrags- gedanke im Physiokratismus nur die Rolle eines Vernunft-
Von einer zeitlichen oder örtlichen Angabe des Zu- standekommens eines „Vertrags" kann dalier gar nicht die Rede sein, wenn auch „dans l'ordre des id^es" angenommen werden muß, daß die Rechte und Pflichten der Menschen vor der Gesellschaft feststehen und zur Ausgestaltung des liemeinwesena führen; in der Wirklichkeit ist es aber ein- fach so, daß die Gesetze „naissent avec la soci^t^" ', wie «8 bei Le-Mercier heißt. Wollte man sich daher fragen, sagt Baudeau an der schon erwähnten Stelle, wo er vom „pacte social" spricht, „corament ont-ils formö le premier ^acte social", so wird man durch diese Frage die „Lehre der ^Philosophen" (vom Staatsvertrage) gar nicht erschüttern:
* Le-Hercier, pp, 71/2.
7U
vu
„coiDtne si la lai pliysiqtie, <^vidente, äternelle, immu&ble pourrail etre detruite par un erreur de fait sur \es temps ti lee lieiix oü les homraes l'auront connue, l'auront suivie"? —
So wenig nun die Phyaiokraten die Gesellschaft in allgemeinen als menaciilicbe Schöpfung betrac:btet itatieJi. so vtcnig ist ihnen aber auch der Staat in seiner tvirk- lichen Gestaltung das Resultat der freien Ubereiiikimti gewesen. Auch die Staatsgewalt ist nicht ao sehr eine ht> wußte Institution , als eine aus der Natur der Oesellsclistt sich notwendig ergebende Erscheinung; dem meaechlicheu Willen bleibt auch hier nur die nähere Bestimmung und FesisetBung der Aufgaben frei.
Im Anschluß an diese Ausführungen haben Turgot, Mirabeau und Le-Troane auch hier den Entwicklungsgedanken eingeüochten und das zeitlich erste Staatswesen, ohne {rg«nd> wo auf einen Vertrag hinzuweisen, aus der Natur de« sozialen Daseins erklärt^. So haben sie ein Schema der Entwicklung; des Staates aufgeätellt: die zeitlich vorangebende Despotie, die auf ihren Zerfall folgenden kleinen Kepubliken, dann der neue Zusammenschluß unter einem despotischen Herrscher, und schließlich der allmähliche Übergang zur aufgeklärten Monarchie.
II. Bedeutet nun die Einsetzung einer zentralen Macb|
eines „centre comraun'", einer „volonte premiöre", den Anfall des Staates, so fragt sich jetzt, wie das Wesen der so ent^ standenen Staatsgewalt aufzufassen ist,
Der prinzipiellen Stellungnahme der Physiokraten niäß, soll es uns hier nur auf die Idee der Staatsgewät nicht aber auf die wirklichen Verhältnisse ankommen.
* Toroot — üa iweilvii an der äurboiinc gehallenen Diccoors. i
Esquiise d uu plan de geographie politit|UB lud im eratvn Diacoun am liistoire oniverielle; Mirahsaa, Lettrea aur U l^islalion, Bd. I Aver1i«#- ineot und Ud, II Sur In d^pravation du l'ordre soaJal, pBasim; Le-Tronw. hnupteäcblich der dritte und vierte Dioeoim MJnea Uauptwerkea.
VI 3
71
I I
Wir wenden uns daher QueBTiay'ä „Maxi'mes g^nörales d'un gouTernement economique" zu, in denen der Gründer der Physiokratie den von allen seinen Hchülern in ver- echiedenen Variationen wiederholten Satz aufgestellt hat: „Que l'autoritö aouveraine aoit unique et supörieure 4 toua lea individus de la sociöl^ et k toules lea entreprises injustes de» inidrßta parti c ulier s" ", Die Staatsgewalt ist also eine Macht, die sich Über alle partikulären Interessen erhebt und sie zu einer dem Wohle dea Ganzen dienenden Kinheit zu- sammenschließt.
Da aber das Wohl der Menaeben durch ihre natlir- lieben Rechte und Pflichten bestimmt ist, die in den „natllr- lichen" von Gott gegebenen Gesetzen (die ^'"'^ naturelles" des „ordre immuable") verkündet sind, so wird die Staats- gewalt zum Depositar und Hüter dieser Gesetze*". Daher ist auch das erste Attribut der Staatsgewalt die Gesetz- gebung: freilich, nicht die Schaffung der Gesetze, denn diese bestehen nach der „natürlichen Ordnung" für immer fest und sind der vernünftigen Einsiclit zugänglich, sondern ihre Anwendung, ihre Auslegung und Anpassung an die (gegebenen Verhältnisse". Die positive Gesetzgebung ist daher nur ein „recueil de calcule touts faits."
Um aber die Gesetze wirksam zu machen, muß die Staatsgewalt die Macht haben, ihre Erfüllung zu erzwingen. lo der Macht besteht daher ihr eigentlicher Kern, denn sie soll als Mittel zum Zweck dienen diese Gesetze Überall da durchzufuhren, wo das durch menschliche Unvernunft und Leidenschaften verhindert wird. Die Staatsgewalt befiehlt daher über die Macht der geordneten Gesellacbaft, und ihre gesetzgebende Funktion geht in Anbetracht der Tatsache, cUß die Gesetze unabhängig von ihr bestehen, im Grunde
• Auch an einer anderen Stelle bei Qucsna^ — p. 651 — heißt w: . une autorite nuiqite, Rup^rieare aui clitferenta int^rtla eiclutiis [n'elle doit riprimer." Vgl. snch Le-Mercier, pp. 122, 140/1. '0 Le-Uercier, pp. 9% 102, 112, 120.
' „Le pnQToir ligislatif consiite dooc h d^daire, h Mppliqaer. k
ir" Le-Tro«ne, p. 53, 'Note.
72 VI 3
genommen fast völlig in der vollziehenden auf: „dicterdes lois positives c'est Commander". Aus diesem Grunde be- zeichnet auch Le-Mercier die Staatsgewalt end^ltig als die „administration de la force publique" ^*. Die Verwaltung wird somit von den Physiokraten in den Mittelpunkt ihrer Erörterungen gestellt, die gesetzgebende Tfttigkeit aber in den Hintergrund geschoben. Alle ihre Reformvorschlfige, einschließlich des Turgot'schen Muniztpalitätenentwurfs, be- ziehen sich daher nur auf die „Administration''.
Durch diese einseitige Betonung der Verwaltungs- funktion, die, wie wir sehen, aus der rigorosen, rein natur- rechtlichen Auffassung des Gesetzes folgt, wird auch der Begriff der Souveränität bei den Physiokraten beeinflufit
„La souverainetä est dans la justice'', formuliert Mirabeau die Ansicht aller Anhänger der Schule. In dieser Beziehung ist also die Staatsgewalt nicht irei, nicht souverän, denn die Prinzipien der Gerechtigkeit stehen schon vor ihr unerschütterlich fest. „Oü s'arrete la justice, Ik se bome Tautoritä'* ^^. Die Souveränität kann sich aus diesem Grunde nur bei der verwaltenden Tätigkeit der Staatsgewalt geltend machen, und sie besteht daher in der Handhabung der organisierten gesellschaftlichen Macht, um die Ausübung der Gesetze zu überwachen. Die Souveränität als Merk- mal des Staates und Attribut der Staatsgewalt bedeutet so- mit die höchsteMacht der geordneten Gesellschaft: „la souverainetä vue en eile m6me n'est autre chose que la force publique formte par le concours et la räunion de toutes les forces particuH^res" ^*.
Diese Definition weist auch auf die eigentliche Quelle der Macht der Staatsgewalt hin, nämlich auf die Macht der vereinigten Staatsuntertanen. Damit wird aber
'2 Le*Mercier, eh. XIV.
1» Mirabeau, Lettres sur la l^gislation, Bd. n, pp. 542, 634, 648.
^* Le-Mercier, 201: ähnlich Mirabeau, La science ou les droits et les devoirs de Thomme, p. 121, Dapont, Phjsiocratie, Bd. I, p. 92, Bd. UI, p. 26.
VIS
73
I die Basis der Staatsgewalt berührt, und Le-Mercier stellt
. fest, daß die Vereinigung der „forces physiques" der Ge-
Bellscliafl nur durch die Vereinigung der Willen der einzelnen
I („reunion des volontis") möglich ist. Daher bildet der Wille
I der Staatsglieder die eigentliche Grundlage, auf der die
Herrschaft der Staatsgewalt beruht, denn „la force n'existe
qu'apres la räunion et par la reunion" '^
Le-Mercier kommt wiederholt in seinem Werke auf diese Gedankengänge zurllck und hebt sie mit Kachdruck hervor, um eine psychologische — eine „physische" würde er sagen — Erklärung des Wesens der Staatsgewalt zu geben.
Die Art und Weise, wie das bei ihm geschieht, gibt den besten Beweis dafür, wie er seine Staatslehre auf der doppelten Beschaffenheit des Menschen als eines nach natur- notwendigen Trieben und freien Vernunftschlüseen handeln- den Wesens begründen wollte. Dies tritt deutlich in dem Beatreben hervor, die zum „ordre naturel" führende Staats- maschine so aufzubauen, daS das egoistisch-persönliche Interesse nur als Naturtrieb genommen und als mechaniache Größe behandelt wird, während als Regulativ und Vemunfts- prinzip — im Sinne der eudämoniatiachen Ethik — das wohlverstandene, also auch auf die Gesamtheit sich be- ziehende Interesse dienen soll. Darin besteht die ganze , Magie" einer wohlgeordneten Gesellschaft, heißt es bei Mirabeau'". Daher muß in der Leitung des Staates jedes partikularistische und persönliche Interesse ausgeschlossen sein, in ihrer psychologischen Basis dagegen soll sie eben auf diesen Interessen beruhen. Die Gesellschaft soll da- durch geheilt werden, schreibt Mirabeau an seinen Bruder (den bailll), daß man einen jeden „im Lazarett seines persön- lichen Interesses isoliert" ". Daher soll auch die Interessen- loaigkeit des Herrschers, die ja nach dem Wesen der
" Ibidom, p|.. 43, 57. 105— lOÖ.
>■ PbiloBophie rurale, Bd. I. p. 1.18.
" 8. L. de Lom^nie, Lm Hirnbeau, L II, p. 392.
74
Staatsgewalt notwendig ertbrderlicb ist, auf seinem persOa liehen Interesse begründet werden '*.
Das „physische" Molekül, aua der die StaatsgewaM herauswächst, ist also das Einzelinteresse, der Einzelwilld Wir können schon hier die weiteren Gedankengänge c Physiokraten andeuten, um die Tragweite dieses Punkte ihrer Lehre ilir ihre Politik zu bemesseu.
Die Macht der Staatsgewalt beruht auf der Vereinigung der Willen, der „röunion des volont^s" : diese aber ist nichts anderes, als die Trägerin dessen, was roan die „Meinung", die „opinion" nennt. Die „Meinung" ist aber die Herrscherin der Welt'". Dank ihr, solange sie auf falschem Pfade sich befindet, können Despoten ihre Willkür über die Völker ausüben; denn sie ist es, die eini einzelnen die Macht über viele verleiht: „ils ob^tasent J un chef, parce qu'ils sont d ans l'opin ion qu'ila lui doiventH ob^ir". Die „Meinung" regiert über die Menschen, mn^ ihr Inhalt auch noch so absurd sein. Unsere physist Kraft ist ihre gehorsame Dienerin: will man über jene verfügen, so muß man die „Meinung" zu leiten verstehen. ist die „opinion", mit anderen Worten die OffentlicbM) Meinung, die notwendige Grundlage jeder bestehenden. I Staatsgewalt. — Wir haben es in diesen Erörterungen der Physiokraten wohl zum erstenmal mit einer so aachdrucke- voUen Betonung der Bedeutung der öffentlichen Meinung und ihrer Einfügung in eine systematische Lehre vom Staatu zu tun. I
Es ist nun klar, daß diese „physische" Grundlage der ' Staatsgewalt, die ,röunion des volontös", eben dieser ihrer Eigenschaft wegen, zum „physisch" notwendigen und un- fehlbaren Mittel werden muß, den „ordre naturel" herb«- zufUhren. Es ist nur notwendig, die öffentliche Meinung bis zur „Evidenz" aufzuklären um dieses Ziel zu erreichen.
i3/4; Le-Trosne, pp. 294/5.
VI 3 75
Die „Evidenz" wird dann jeder Willkür entgegensteuern und zur Garantie rechtmäßiger Zustände werden*''.
Le-Mercier war noch aber zu zaghaft, um die daraus mit vollster Deutlichkeit aich ergebenden Konsequenzen zu ziehen und die öffentliche Meinung nicht nur als einen die Macht gewahrenden, »ondern auch als einen sie ein- schränkenden Faktor zu erklären.
UI.
Die nächste an dieser Stelle zu berührende Frage ist die nach der Aufgabe des Staates in der physiokrati sehen Auffassung; ihre Beantwortung ergibt sich schon teilweise aus dem bisher '
l
Der Zweck des menschlichen Daseins ist die Glück- seligkeit. Die Gesellschaft ist die natumot wendige Be- dingung zur Erreichung dieses Zweckes. Daher hat auch der Staat als die bewußte und vernünftige Organisation der Gesellschaft zu einem Endzweck das Wohl und die Glückseligkeit der Menschen.
Die Bedingungen des glücklichen sozialen Daseins sind aber die Freiheit der Betätigung und die Möglichkeit, die Früchte seiner Arbeit sich aneignen zu können. Frei- heit und Eigentum mu6 also auf dem Banner des Staates geschrieben stehen. Der Staat hat diese höchsten Güter zu fördern und zu schützen: „protection" und „süretö" sind daher die Aufgaben des Staates, Zweck und Aufgabe werden dann von den Physiokraten in einer Formel zu- sammengefaßt, die die Losung ihres Zeitalters war: libert^, propri^lä, siiret^"'.
In dieser allgemeinen Formulierung wiederholen die Physiokraten die hergebrachten Resultate der zur Zeit
' La-Mercier, pp. 51 — 53. ■' Ibidem, p. 445; der SIcbei hei Ui weck wird besonders betont bei QueNiay, pp. 329— 38'^, 650 (§ 18); veI. auch Dnpont, PhjiiacTatis, t. I, p. U, t m, p. 24.
76 VI 3
herrschenden naturrechtlichen Staatstheorie, wie sie auch von den Theoretikern des vernünftigen Polizeistaates prokla- miert wurden. Bei näherer Einsicht in ihre Ausführungen erweist sich jedoch der Unterschied und die Eigenart ihrer Lehre. Das tritt schon vor allem bei der Rechtfertigung des Staates als einer die Freiheit einschränkenden Zwangs- institution hervor.
Das Naturrecht hat die Freiheit als die Ureigenschaft des Menschen im Naturzustande betrachtet. Der Gesellschafts- vertrag hat nach dieser Auffassung den Menschen eines Teiles seiner Freiheit beraubt, um ihm den Genuß des anderen Teiles in Sicherheit und Ruhe zu gewähren. Das praktische Resultat war, trotz des beständigen Hervorhebens der Freiheitsidee, die völlige Unterwerfung des Individuums unter die leitende vernünftige Obrigkeit Nicht nur in seiner politischen Stellung, sondern auch in seiner ökonomischen Tätigkeit (von den Franzosen oft als „libert^ materielle" bezeichnet) war der einzelne bevormundet. Der Merkantilismus und der Protektionismus, wenn sie auch zeitlich vor der litera- rischen Ausbildung des vernünftigen Polizeistaates geherrscht haben, ist die eigentliche Konsequenz dieser Theorie.
Die Lehre der Physiokraten bietet uns hier ein ganz anderes Bild. Indem sie die Idee des Gesellschaftsvertrags in der üblichen Formulierung ihrer Zeitgenossen verworfen haben, ist ihnen auch der Gedanke fremd gewesen, daB der Mensch in der geordneten Gesellschaft, im Staate, einen Teil seiner Freiheit einbüßt. Ihre Auffassung in diesem Punkte war die direkt entgegengesetzte. Die geordnete Gesellschaft ist es, lehrten die Physiokraten mit Quesnay an der Spitze, die erst den Menschen frei macht, weil er im Naturzustande unfrei ist*^. Denn Freiheit ist nicht nur ein abstraktes Reclit, sondern vor allen Dingen die kon- krete Möglichkeit des Könnens , die wirkliche Äußerung
*^ Quesnajf pp. 373, 377; Le-Mercier, p. 20 et suiv.; Le-Trosne, Discours II, Note 8; Mirabeau, Lettres sur la l^slation, Bd. II, p. 520.
I
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der iDdividuellen Energie in ihrer Tätigkeit ^^. Im un- geordneten Zustand, wie er bei kompliziertet! sozialen Ver- hältnissen vor dem Staate zu denken ist, besitzt der Mensch dieae Freiheit nicht. Nur der Staat als eine auf der An- erkennung von gegenseitigen Rechten und Pflichten be- ruhende Ordnung kann hier Abhilfe leisten und der Tätig- keit des einzelnen wahrhaft frei machen. Entstehen für das Individuum dadurch neue Pflichten, so eröffnen sich ihm aber auch neue geschützte Rechte, die ihm erst die eigentliche Freiheit gewähren (^point de droits sans ' devoirs, et point de devoira sans droits").
Es kann wohl erscheinen, daß dieses nur eine andere I Wendung der älteren Lehre ist von der Aufopferung eines ( Teiles der Freiheit-zur Wahrung des anderen Teiles ; dennoch I bleibt der Ausgangspunkt bei den Phyaiokraten ein gänzlich verschiedener, nfimlich: die Unfreiheit des Menschen im KatuFEUstande (ötat de pure nalure). Die wirkliche Frei- heit besteht also nur im Staate, und dieser bedarf daher keiner weiteren Rechtfertigung. —
Mit der Freiheitaidee hängt dann die nähere Be- stimmung der Aufgabe des Staates zusammen , denn die I Frage nach dem gegenseitigen Verhältnis des Wirkiings- Icreises des Staates und der Freiheit der Staatsbürger wird ▼erachieden beantwortet, je nachdem es auf die wirtschaft- liche Freiheit ankommt oder auf die politische Tätigkeit, auf die Handhingen des Individuums als eines Gliedes einer organisierten Gemeinschaft. So erwachsen innerhalb der Frage von den Aufgaben des Staates zwei Probleme: das von den Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft einerseits, und denjenigen zwischen Staat und Indivi- duum andererseits. Wenden wir uns zum ersten dieser beiden Probleme.
Dem Menschen als wirtschaftlichem Subjekt steht die _ökonomische Freiheit zu, die Freiheit der Tätigkeit, die
* Le-Heroier, p. %.
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sich auf die Selbaterhaltung richtet, die den eigentlichen Inhalt des socialen Daseins ausmacht und in strikter Ab hangigkeit von den sozialen ,loiB physiques" sich befindet. Diese „lois physiques" sind, wie wir schon an anderer Stelle erörtert haben, im Quesnay'auhen Sinne die Gesetze der sozialen Ökonomie, die durch das Eingreifen der freien VernunfttStigkeit tn das Wallen der Natur zur Geltung gelangen und in ihrer objektiven Bescbaffenh^'l dem mathematischen Kalkül unterliegen. Den von iliesen Gesetzen beherrschten natllrlichen Erscheinungen ninß ihr freier Lauf gelassen werden, damit der Gang dieser Er- scheinungen seiner Bestimmung nach „le plus avantAgeux au genre huraain" werde. Hier ist jede Beeinflussung, jede von außen kommende Regelung unstatthaft. Die wirt- schaftlichen Subjekte dürfen in ihren Bestrebungea und Unternehmungen nichl gestört werden. Ihrem Tun und Treiben muß der freie Wettbewerb offen stehen , denn auch die freie Konkurrenz hat nur den Sinn, im sozialen Leben den „lois physiques- freie Entwicklung zu gewahren und so die normale Preisbildung herbeizuführen , die dem ge- gebenen Zustande des Ackerbaus ohne störende Beein- äussung der produktiven Arbeil entspricht".
Das ist der Kornpunkt der physiokratlschen Wirtschaft»- piilitik, die in der berühmten Formel „laissez faire-Iaisses aller" ihren Ausdruck gefunden hat. Somit hat sich t Frage von der Beziehung zwischen Staat und Wirtschi zu der sogenannten negativen Interventionstheorie gestalte die vom Staate nur die Abschaffung der Hindernisse vei langt, die der freien wirtschaftlichen Tätigkeit im We^ stehen '*.
Man könnte annehmen, daß diese Ansicht der Allmat des Staates, wie es der aufgeklarte Absolutismus — dio t
" Le-M6rci«r, L'int^ret gAaiia\ de l'Etat, pp, 122, 396. Vgl. i H. DbhU fl. 11. O., pp. 117—119.
^ Vgl. Hlertnann, SWial uud Wirtsdiaft. Ud. I. Die den Öhonomiiclieii IndivEdualieinnB, 1904, cli. IIL
jener Zeit herrachende Staatstlieurie — lehrte, einen starken Schlag versetzte, denn uuu wui-de ein konkret abgegrenztes Gebiet entdeckt, wo dem Staate keine Rechte zustehen. Doch sehen wir näher zu, ho ergibt sich, daß in der Frage nach den Beziehungen zwischen Staat und Individuum dieses neue Moment innerhalb der physiok ratischen Lehre zu keiner wesentlich anderen Stellungnahme geführt hat, aU das in der Theorie des aufgeklarten Ahsolutismus der Fall war; denn in bezug auf die politische Stellung des einzelnen ■in der Gesellschaft ist der PhyBiokratisinus in den Bahnen der herkömmlichen Theurie und der Praxis des französischen Königtums geblieben**.
Der Hauptzug dieser Slaatsauffaasung im 18. Jahr- hundert besteht darin, daß im Staate, der die verschieden- artigen Tätigkeiten und Interessen zu einer Cinheit zusammenschließt, keine andere neben ihm organisierte partikuläre Interesseneinheit bestehen darf, weil dadurch der Staat in seinem Wesen beeinträchtigt wird; alles Soziale wird aus diesem Grunde vom Staate absorbiert und kein ,nderes selbständige soziale Gebilde neben ihm geduldet. Das ist die im 18. Jahrhundort herrscheode Gegner- baft gegen jeden „eaprit de corps" innerhalb des Stnates. Es ist nun interessant zu sehen, wie auch bei den 'hysiokraten die in ihren Ausgangspunkten durchgeführte egenüberstellung von Staat und Gesellschaft verschwindet, iobald sie auf das Gebiet der Politik gelangen. Hier 'erschlingt der Staat alles Gesellschaftliche, und so iht ihm, gerade wie in der herkömmlichen Theorie,
" Uit Beeilt glaubt dalier II. Micbel a. a. 0., pp. 11 et aaiv,. die Phyiiokrat^u EUBanimeii mit Voltaire iincl den EnityklopitdiHten unter ?.jne politische Qrupp?, dio dem aufgeklärteii AbsolutiamaH hnldigle, iiuterbrinveii lu kBnnen. Ein ist inttreaaant, daß die Politik der PbyAiakritten mit der JBDigsn Holbitcb's, eiues euageBprodieiiBn Vertraters des anfj^ kl Arten Alisolutismna, stihr viel Oemeinnames hat (H. Micliel a. a. O , pp. 15 -17). Hulbach war es auch, der zu^aninien mit Diderot Tdr das f^roBe Werk Le Mercler'g tieb besoadera begeiatort hat, (vgl. Schelle ini NouTeaii DictioDnaire d'Eeonomie pnlitiqae, 11, p. 114).
80 VI 3
nur das „schwache'' ^'^ Individuum gegenüber, und nur fiir dieses gilt auch auf wirtschaftlichem Gebiete die Maxime des „laissez faire''. Nur die Einzelpersönlichkeit wird frei gemacht; sobald man aber aus diesem Rahmen hinau^geht^ sobald die Persönlichkeit ihre Freiheit bis zur Erweiterung ihrer Macht durch Zusammenschluß mit anderen Individuen ausdehnt, da legt der Staat sein veto ein ; denn solche Er- scheinungen enthalten die Keime einer politischen Oegen- macht, die den Staat in seiner Bedeutung und Aufgabe aufheben könnten.
Die Vorstellung von einer Assoziation innerhalb des Staates war noch speziell für die Physiokraten eng mit der Vorstellung einer die Harmonie des „ordre naturel*' aus- schließenden und die Hemmung der „lois physiques" herbei- führenden Interessengemeinschaft verbunden. Daher sind auch im Interesse der sozialen Ökonomie keine Assoziationen zu gestatten. Das ist auch die Grundlage der berühmten Turgot'schen Zunftpolitik, die freiheitlich erscheint, wenn sie die Rechtsbanden des alten Zunftwesens auflöst, und aufklärt — despotisch, wo sie jede Arbeitervereinigung verhindert*®.
Mag also in wirtschaftspolitischer Hinsicht in der physiokratischen Lehre ein großer Fortschritt liegen, rein politisch betrachtet, tritt hier die alte Weisheit des Polizeistaates hervor, die den einzelnen seiner Freiheit und seines Glückes halber in seiner Freiheit beschränken will, um ihn zu verhindern, ein starkes, dem Staate trotzendes Individuum zu werden.
Allen diesen Gedankengängen liegt der Fetisch des Staates zu Grunde, der das 18. Jahrhundert beherrscht hat. War auch der Staat, den man kannte, der schlechte und verwerfliche, so ist er doch zu dem, was er ist, erst durch die depravierte Menschheit geworden : nicht also, weil
^'^ Dieser Ausdruck ist von Faguet geprägt; s. seine Abhandlung „Sur les id^es maitresses de la r^volution" im Sammelwerk L^Oeuvre sociale de la r^volution fran^aise, p. 24 et suiv.
28 Turgotf Pr^ambule zum Edikt über die Abschaffung der Zünfte und § 14 des betreffenden Gesetzes, Oeuvres, U, p. 802 et suiv.
»
er Bchon an und für siuh eine zu bekämpfende Institution ist. Bis spät in das 18. Jahrhundert hinein war der Staat in der Idee für die meisten auf dem Kontinent ein Zauber- wort geblieben. Er war das einzige und höchste Mitte], das Individuum nicht nur glücklich, sondern auch sittlich zu machen. Keine höheren Zwecke konnten danach ohne den Staat erreicht werden. Alle Neuerungen, alle Um- wälzungen sollten fUr den kStaat, durch ihn und in seinem Namen, aber nicht gegen ihn geschehen. Dem un- bistoriacheu Geiste jener Zeit fehlte jedea Verständnis dafür, daß der historische Staat sich so gestaltet hat, daß jeder Ver- such, ihn neu aufzubauen, um den individualiatischen frei- heitlichen Tendenzen einen Weg zu bahnen — wozu ja das Zeitalter strebte — , die konkrete Form einer Bekämpfung des Staates annehmen und zu der Herausbildung eines Rechtes gegen ihn fuhren muß. Daher auch die schon früher hervorgehobene Anfeindung jedea „eaprit de corps" und, wie manche vielleiclit mit Recht betonen, das Fehlen der Idee der politischen Freiheit im modernen Sinne auf dem Kontinent im 18. Jahrhundert'^; allerdings bilden hierbei Montesquieu, der das Wesen des politischen Lebens ' Englands erkannt hat, und Blackstone, dem die politische Freiheit nicht bloß Lelire, sondern greifbare Wirklichkeit war, eine wohl zu beachtende Ausnahme.
Diese Betrachtungen gelten in vollem Maße fUr die Beurteilung des Physiokratismus. Wollten die Physiokraten einerseits der vom Naturrecht ererbten abstrakten Freiheits- idee eine konkrete und wirksame Gestaltung in ihrem öko- nomischen Laisseji faire-Prinzip geben, so haben sie doch andererseits an einer diese Intention untergrabenden Idee vom Staate festgehalten. Denn kann das Individuum seine natDrlichen Rechte nur durch die Gesellschaft verwirklichen, 4ie aber, wie wir gesehen haben, politisch ganz im Staate iofgeht, so gewinnt der Staat Über das Individuum diejenige
■ Vgl. Fsquat, Le IS-iime si^te, | 1 Bay, Torgot, p. 159.
393: in benig »ufTurgot -
1. VI 3. — GlinWb«g-
82 VI 3
Macht, die in anderem Falle, wenn auch unter ihm, so doch neben ihm bestehende gesellschaftliche Bildungen ausgeübt hätten.
Von einer „Selbsthilfe^ etwa in einer staatsfeindlichen Zuspitzung, wie es in folgerichtiger Weiterentwicklung des Laissez faire-Prinzips das Manchestertum im nächsten vor dem „esprit de corps" nicht zurückscheuenden Jahrhundert herausgebildet hat (die Anfänge der englischen Trade- Unions!), kann daher beim Physiokratismus gar nicht die Rede sein^ denn die in seiner Wirtschaftspolitik verborgene liberale Absicht wird durch andere Gesichtspunkte vereitelt.
Ein sozial befreites (die „libert^ materielle'' !) und po- litisch bevormundetes Individuum — das war der Gedanke der Physiokraten. Was sich aber gedanklich trennen läfit, das bildet tatsächlich ein untrennbares Ganzes. Eine ab- solutistische Staatsgewalt muß auch da eingreifen, wo es ihr theoretisch die Idee der „materiellen Freiheit" verbietet Das sieht man am besten an Turgot's sozialpolitischer Tätigkeit, die, trotz ihres überwiegend philantropischen ' Charakters, mit einer folgerichtigen Durchführung der im Physiokratismus festgelegten wirtschaftspolitischen Prin- zipien nicht völlig übereinstimmt**^.
An diesem Festhalten am Prinzip der politischen Bevormundung hat auch die Tatsache nichts geändert, daß die „soziale" oder „materielle" Freiheit sich aus den Engen der rein ökonomischen Tätigkeit auch auf das weite Reich der Entfaltung der Persönlichkeit auf kulturellem und geistigem Gebiet ausgedehnt hat, wie es bei den Physiokraten der Fall war.
Denn auch die ethisch-liberale Idee der freien Persönlich-
^® Vergl. Neymark, Turgot et ses doctrines, Bd. I, pp. 407 et suiv., wo die entsprechenden Maßnahmen Turgot's hervorgehoben sind ; ähnlich Tocqueville, Oeuvres, Bd. VIII, p. 158. — Am besten erscheint uns doch Mastrier's Formulierung — Turgot, sa vie et ses doctrines, p. 261 — wenn er sagt: „Turgot regardait donc la charit^ comme un devoir de droit, c'est k dire comme pouvant etre impos6e par la force sociale''. —
VI 3
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I I
keit ist von den Physiokraten dem vernllnt'tigen, den „ordre naturcl" herbeiführenden ötaale zum Opfer gebracht. Auch in dieser Hinsicht hat der Phyaiokratistnua .den alten Stand- punkt nicht verlasaen; und nur die AViederbelebung der naturrechtlichen Postulate am Vorabend der Revolution, wo die alten Formeln einen ganz anderen Sinn gewinnen konnten, suwie die ethische Emphase und Überzeugungs- kraft, mit der sie ein Turgot gepredigt hat, können hier zu anrichtigen Annahmen verführen*'.
Bei diesem Sachverhalt ist mit der Feststellung des äicherheitszwecks („de sonner l'alarme daus la com- munant^", wie das der junge Gral" Wirabeau'''^ formuliert) die Frage nach der Aufgabe des Staates in der physio- kratischen Auffassung durchaus nicht abgetan. Denn ist auch die Sicherheit des Staates vornehmste Aufgabe, so ist er daneben noch berufen, die Tätigkeit der einzelnen auf verschiedenen Gebieten zu fördern, weil er ja die Macht des Ganzen, die dem einzelnen dienlich ist, allein und ausschließlich in sich aulnimmt.
Neben dem Sicherheitszweck entsteht daher ein im weitesten Umfange gedac^htor Wohlfahrtazweck , neben der „süretö" die „protection". Der radikalste Vertreter des Laissez faire-Frinzips, Mirabeau, der oft betont, daß des Staates „action" nur in der „Jurisdiction" "^ besteht, hat auch
" Tnrgol wußte ea, die Hecht« den ludiTidnuini nichi nur iu der vag^n Formel einer Harmonie iwisehen dem allgameinen und dem iudiri- duellen InteresBe im „ordre nntiirel", loadem auch in viel intuüt^ reicheren Siltaei] auuudrQcken. und ho nn)it nr unter anderem: „Ce principe
3ne rien me doit bomer \ea droils ds la sociätä, me pnrait faux et ■Dürens. Toat honime eat u& libre, et il u'est jamais permis de gener cette litwrtä, ji moins qu'elle ne dig^äre en licence" (Lettres sur la tolirftuce, 1753, Oeavrei, II, p, G9Ö). ^ Gans beaonderB ener^ich iat Turgot fSr die Gewisaensfreiheit eingetreten, wenn er auch der Ansieht war, dsB die Kirche dem Staate in der Krnillung seiner Au^be Hilfe leisten soll, worin mit ihm auch alle anderen PhvHiokraten üherein' stiBiniten: so Queau^. pp. 573, 506, Le-Troane, p. 284, Mirabeau, Ami dei Hommea (öd. 1883), p. '241.
'* Comte de Mirabean, Snr le deapotisme, p. IOC. '* Theorie de rimpfit, piuilm,
84 • VI 3
diese andere Seite hervorgehoben, wenn er sagt, daS der Staat zur Aufgabe habe nicht nur „de r^primer le brigan- dage" , sondern auch „de protäger et diriger raction de la soci^t^, de pourvoir ä Tabondance qui comprend la sub- sistance et la commodit^" ^*.
Dieser allgemeinen Formel des Wohlfahrtszwecks haben die Physiokraten auch einen Inhalt zu geben gewufit. So obliegt dem Staate vor allen Dingen die Förderung des Ackerbaues. Alle Maximen, die Quesnay für einen „gouveme- ment ^onomique" aufgestellt hat, sind von diesem Gedanken durchdrungen®^. Daneben erhebt sich zur Pflicht für den Staat, die von der Gemeinschaft zu Gunsten des Ackerbaues auszuführenden öffentlichen Arbeiten zu übernehmen. Diese „travaux publics", besonders den Wegebau und das Ver- kehrswesen, haben die Physiokraten immer als eine der wichtigsten Aufgaben des Staates betrachtet**.
Aber in noch viel höherem Mafie wurde von ihnen die Sorge für die Volksauf klärung , für den allgemeinen obligatorischen Unterricht hervorgehoben, mit der aus- gesprochenen Absicht auf diesem Wege eine staatserhaltende öffentliche Meinung zu schaffen °''. Das ganze politische
^^ Lettres sur la l^gislation , Bd. U, p. 875; Theorie de Timpot, p. 17. — Wenn Biermann, a. a. O. S. 40, meint, daß der „Wohl£siirt8- zweck mit dem Physiokratismus unvereinbar ist", so können wir das jet£t dahingestellt sein lassen, denn wir haben nur festzustellen, dafi die Physiokraten den Wohlfahrtszweck dennoch anerkannt haben.
^^ Quesnay verlangt vom Staate für die Landwirtschaft „une protection d^cid^e", Quesnay, p. 183. — Wie Quesnay sich diese y,protection*' im Unterschiede von der üblichen Auffassung des Polizeistaates gedacht hat, beweist folgende Stelle aus seinem Briefe an den Intendanten von Soisson (mitgeteilt von Ottomar Thiele in der Vierte\jahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 1906, S. 644): „. . . c'est du gouvemement seul que dopend la prosp^rit^ ou la d^gradation de l'agricaltore et non des instructions que l*on prätend donner aux cultivateurs^ (gesperrt von uns. B. G.).
"• Quesnay, pp. 333 (VIII Maxime), 553; Mirabeau, Philosophie rurale, Bd. I, pp. 185—192.
^^ Quesnay, pp. 375—377, 594—598, 641, 645—646. Auch bei allen anderen Physiokraten bildet die „instruction publique** den wichtigsten Teil ihrer Lehre. (Vgl. auch den Munizipalitätenentwurf, Turgot, U,
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System der Pliysiok raten war auf dieser Seite der Tätig- keit des Staates aufgebaut, wie wir schon oben angedeutet haben, und wie es uns im Verlaufe der weiteren Aus- führungen noch klarer werden wird. Eb kann oiuht genug hervorgehoben werden, welche Macht über das Individuum durch die Leitung der Volksaufklärung, dieses „Palladiums" Jedes Staatswesens, wie Mirabeau sieb ausdrückt, dem Staate gegeben werden sollte. So haben einige Phyaiokraten auch die Forderung gestellt, daß im wohlgeordneten Staate die Vollberechtignng der Bürger von einer staatlichen Prüfung abhängig gemacht werden soll"". Auf denselben Punkt der Wirksamkeit des Staates sich stützend, hat Baudeau die Frage nach der Beziehung zwischen Staat und Individuum in einer Weise entschieden, die am besten die Aufgabe des Staates ini Sinne der Physiokratie charakterisiert: „L'^tat fait des homnies tout ce qu'il veut", faßt er kurz
Das alles ist nur daraus zu erklKrea, daß die Physio- kraten im letzten Gründe dem Staate die Aufgabe auferlegt haben, die Gesellschaft aus dem „ordre de döprava- tion" in den „ordre naturel" hinllberzuführen. Diese Auffassung schließt aber die Idee vom Staate als «inem bloßen „Nachtwächter" gänzlich aus. Daher hat auch
[ B. 506 et auiv.). Sie bsbeu sfieziolle Sohrifteo über die Orgauifiittioii der L VolkiaofkläriiDg verTaßt (ao L,a-Meruier, Mlmbeau, Dupoat) und mit be- r londerer Energie filr dieaeu ihreu LteblingHgedAiikeD ia der Oeaellacbaft I Btiraumiig in machen gesucht, ('ondorcet hat ipSter in »einer literariaeben ! nnd politischen Tütigkdt (aU Vorsitiender der Kommiasion für die [ Organisation der Volkfanfklänrng im EooTent) in dieser Hinsicht nur
' I Erbe der Physiokraten Obemommeu.
'* Mirabeau in einer uugedruukteu, an den Kfinig von Schweden I MTichteten Denkacbrift über die Volksaufklilrung; aitiert bei J. Edel- I Seim, Beiträge zur Geachicbta der SnzialpSdagogik mit besonderer Bh- 1 (fiajuicbtiguag der frantfiitiscbeu KevolaÜon, 1902, »K. 106'7; ibnlicb,
Le-Trosne, p. 2&S.
" Zit. bei Tocqueville, Anoien nigime, 7-i4äie id. (OeavreB, IV),
p. 240; vgl. auch Queaiuij fibar die Aufgabe der Staatsgewalt — p. 688:
„. . . maintenir el r^farmer les cautumes et les usng^s introduits dan»
Ia natiDn''.
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die „destruction des obstacles" — eine Bezeichnung, mit der Turgot die Aufgabe des Staates charakterisieren will — nicht den Sinn, daß der Staat bloß eine „polizeiliche", sondern auch eine schöpferische und umgestaltende Tätigkeit ent- falten soll. Die Hindernisse sind die bestehenden Zustände: diese sollen zerstört und abgeschafft werden; die negative Bezeichnung enthält nur den Hinweis auf die der Willkür entzogenen , jeder von außen kommenden Einmischung widerstrebenden sozialen „lois physiques".
Es ist also aus dem bisher Gesagten zu schließen, daß die Physiokratie mit dem Manchestertum (nicht als bloß ökonomische Theorie, sondern als Staatstheorie gedacht) nur die negative Seite, die Bekämpfung des Merkantilismus und Protektionismus gemeinsam hat. Bei der positiven Auffassung von der Aufgabe des Staates ist aber die Ver- wandtschaft der Gedankengänge durchaus nicht so ein- leuchtend ; denn die weltanschauungsmäßige Grundlage von der Harmonie der Interessen hat in den beiden Theorien eine verschiedene Bedeutung.
Das Manchestertum bezieht die Harmonie der Interessen auf das wirklich Bestehende und historisch Hergebrachte, und es hat daher etwas Gemeinsames mit der Bestaurations- politik, mit der es auch zeitlich zusammenftlllt Die Physio- kratie dagegen hat den hartnäckig vertretenen Gedanken von der Harmonie zwischen dem Einzelinteresse und dem Gesamtinteresse nur auf den „ordre naturel", auf die ideale, zu verwirklichende Zukunft und nicht auf die schlechte, unvernünftige, depravierte Gegenwart bezogen. Um diesen idealen Zustand herbeizuführen und aufrecht zu erhalten, bedarf es aber eines starken Staates, der die Geister zum „ordre naturel" erzieht und formt.
Hier teilt die Physiokratie ihre Auffassung mit dem ebenfalls aus dem 18. Jahrhundert herrührenden „rationalen Sozialismus"^, und die Berührungspunkte sind aus der gemeinsamen Quelle, aus der sie fließen, zu erklären: den
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kartesischen Tendenzen der tVanzösisthen Philosopliie*". Es ist einerseits der Glaube an die Macht des vernünftigen Willens, der die Welt umzugestalten berufen ist, der sie vereint, ebenso wie andererseits der Glaube an das All- gemeingültige, Vernünftige, „Natürliche", an jenen „urdre innDuable" Malebranche's, der das Reich der Ethik und der menschlichen Tat im Gegensatz zum Reiche der physischen [otwendigkeit darstellt, und den die Menseben auf Erden zu verwirklichen haben.
So beruht die Lehre von der Nichteinmischung und der Harmonie der Interessen bei den Physiokraten auf einer ganz anderen weltanscbauungsmäßigen Grundlage, als die spätere dieselben Maximen vertretende Mancheater- theorie, wenn das auch oft verkannt wird. Zu Miß- verständnissen hat die dem 18. Jahrhundert geläufige Ver- mengung von Erkennen und Künnen geführt; denn, glaubte man, ist die natürliche Ordnung mit ihrer Harmonie der Ijiteressen erkannt, dann ist sie schon herbeigeführt, und das Ziel ist erreicht; jeder muß sich nur von dem Gedanken ihres Vorhandenseins durchdringen lassen, um sie verwirk- lichen zu können.
Es war nun ein leichtes, von hier aus auf den Stand- punkt hinüberzugleiten, der die Harmonie der Intereasen aucb auf die bestehenden Verhältnisse bezieht, wie es im Physiokratismus in ökonomischen Dingen wirklich oft ge- schehen ist. Gerieten die Physiokraten dadurch auf eine ihreraufkläreriachenWeltanschauung fremde Bahn, so beweist schon die Mj5glichkeit dieser Entgleisung, daß ihr wirtschafts- politisches Prinzip, sobald man es in der Praxis folgerichtig anwenden wollte, nicht ganz — wenn auch nicht subjektiv — mit ihren anderen Ansichten über die Aufgabe des Staates und überhaupt mit der aufklärerischen Beurteilung der Wirklichkeil barmonierte. Daher haftet auch an der ganzen Lehre das Gepräge eines Widerspruchs zwischen der alten ., SuEiHliBTRii8 und BOEialc Bewegtmf^, ö. Anfl.
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Staatsphilosophie und einer modernen dem Geiste des auf- strebenden Kapitalismus entstammenden Tendenz. Wir werden im folgenden sehen, wie sich dieser Widerspruch mit der Zeit auch in ihrer Politik wiedergespiegelt hat. Doch soll vorher diejenige Periode geschildert werden, in der die älteren Tendenzen im Physiokratismus noch die vorherrschen- den waren.
Sechstes Kapitel
I.
Der Staat, für den die Physiokraten die politischen Prinzipien festlegen wollten, ist der landwirtschaftliche Staat. Die Geschichte und die Gegenwart, lehrten sie, kennt aber noch barbarische Staatswesen und industrielle Staaten: den ersteren fehlt überhaupt jede Ordnung, die letzteren unterliegen in ihrer Organisation ganz anderen Prinzipien.
Gegenstand theoretischer Erörterungen kann daher nur der „6tat agricole" werden *, weil er das Staatswesen einer auf produktiver Arbeit beruhenden Gemeinschaft darstellt. Die industriellen Staaten dagegen sind schon aus dem Grunde für die theoretische Betrachtung minder geeignet, weil sie ein kleines, für die Ernährung der Einwohnerschaft ungenügendes Territorium besitzen und daher immer vom landwirtschaftlichen Staate abhängig sind ^. Sie spielen nur die Rolle großer Warendepots und Vermittler im Verkehr (commerce) — besonders im maritimen — zwischen den großen Staaten. Als solche stehen sie in engen Beziehungen zu den Handeltreibenden aller Staaten und bilden mit ihnen eine universelle, kosmopolitische Republik, den ersten An-
* Quesnay, p. 647.
* Die Physiokraten hatten dabei ihre zeitgenössischen Verhältnisse vor Augen: das kleine Holland und die handeltreibenden Städterepubliken ; Vgl. Mirabeau, Lettres sur la l^gislation, Bd. II, p. 647, Theorie de rimpöt, p. 297/8.
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satz und die beste Bürgschaft für die künftige Brüder- schaft der Völker ^
Aus diesen Gründen ist auch die Verfassung der industriellen Kleinstaaten ganz anderer Art. Wir haben uns aber jetzt dem wahren Staate, dem „^tat agricole", zuzuwenden.
Der Staat ist, wie wir schon früher gesehen haben, kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Sicherung und Förderung der sozialen Güter: er wird daher von der Gesellschaft geschaffen, und das geschieht auf jener Stufe der Entwicklung, auf der von den* produktiven Arbeitern die beiden Funktionen der Erzeugung und Erhaltung der Güter nicht mehr ungetrennt ausgeführt werden können. Die „avances", die aufgewendet werden müssen, um die Ertragsfähigkeit der Scholle zu heben, werden nun in die „avances fonciferes" (für die Produktion) und in die „avances sociales" (zur Aufbewahrung der angehäuften Güter) eingeteilt, und diese letzteren werden dem Repräsen- tanten der neu eingesetzten Ordnung, dem Souverän, über- tragen. Die „avances sociales^' gestalten sich auf diese Weise zu den „avances souveraines" , dem eigentlichen Mittel der Ausübung der Staatsgewalt, die also wie aus dem Gesagten folgt, keine ursprüngliche, sondern eine er- teilte Macht ist — „instituöe dans la soci^t^ et par la soci^t^" *.
Es ergibt sich daraus, daß, wenn bei den Mitgliedern der staatlichen Gemeinschaft die Rechte den Pflichten vorangehen, weil diese nur die Bedingungen der Ausübung jener sind, so ist für den Staat, bezw. den Träger der Staatsgewalt, dagegen das Verhältnis ein umgekehrtes. Für den Souverän sind seine Rechte nur eine Bedingung zur Ausführung seiner Pflichten, die vorangehen. Denn nur die Eigentümer haben ihre Rechte von der Natur, der Souverän bekommt sie erst von der Gesellschaft*. Wir
^ Quesnay, p. 520, Note (ein Auszug aus einer Dupout^schen Schrift).
* Quesnay, p. 687; Le-Mercier, 154.
^ Vgl. Dupont, Table raisonn^ des principes de l'^conomie politique.
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haben ea hier also mii OcilankeD r.u tun. <lie von vorii- berein auf eine Einschränkung der Sbwt^g««-»!! Biclen. 8iA knUpten im Kerne ao ia& ftitere NaliirnH'Ut an. aber, wio wir seheD, keinestallä an die absolutistUchpu StAMblhrorU'ii. wie man es vielleicht nach dem ersten Eindruck vun der physiokra tischen Suatslehre anttohmcn kaniUe. B»- merkeDsweri ist im Qegeateil, daS di« Physiokrxtun K*>K*>n die sLaatsabeolutisti sehen Tendenzen Rouaaean's und Muntctt- qaieu'a, die in der Betonung des tbrmcUen OetteUcHtiogritls ■um Ausdruck kommen (Rousseau'ä „volenti^ ){ifn*'rnlu" «inea souveränen Volkes und Montesqiiimi's berlllimto Deünitton der politischen Freiheit!), gelegentlieh Eins)iruch erheben. So hat Dupont bei einer Bospreohung der Gonfnr Angelegenheiten in einigen gegen Rousseau gorichttflen Ausführungen darauf hingewiesen, daß »b hucIi ia oiuur Republik nicht genüge, wenn das Volk soiiTerlln svt, denn auch das souveräne Volk müsse gerecht «ein und seinoii Pflichten nachgehen °. Daneben polemisiert auch BftudeHU gegen Montesquieu's DeHiiitlou der politiaihoii Freihält, di« nach den phyaiokratischen Vorstellungi») dazu fuhren nuißtn, dnä die Gerechtigkeit, die ju, uur mw: soi, in den vsr- flchiedenen Staaten eine verschiedene wenin'.
Bestimmend ist auch hier ftlr die Ilaltunff dtiT Fliysio- Lten dasAblehnen jedesKomprnmtM«"«gewe«<m, der irgend- oberste Gesetz der Gerechtigkeit iMioinlrtiebtlgen Auf diesen Grundsatz ist ihre ganz«! Politik itten, der dadurch nicht zum mindesten ninn gut« Dosis .rerolationären Temiferameiit»" h»ig(tbracht wurd«. Daneben kommen aber schon in den politisclHMi Aruganga- pnnkten der Pbysiokraten auch andere fUr diu ahsolril« Ksnigtam geftfarlicbe Momente hinzu, di« io jenen h^wtffUra
• tfätmiriin da ciU.ytN. I7?0. D*»Mf'i
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Zeiten nicht lange verborgen bleiben konnten und gar bald reife Früchte tragen mußten.
Wir haben schon betont, daß der Staat den Physiokraten nur ein Mittel zum Zweck war, eine von der Oesellschaft für ihre Interessen geschaffene Institution. Als Folge daraus mußte sich ergeben, daß der Träger der Souveränität eben- falls die Gesellschaft, das Volk ist. So haben es auch die Physiokraten gelehrt.
Le-Mercier knüpft hier an den Begriff der Souveränität als den der höchsten Macht an. Der eigentliche Depositar und Hüter der Gesetze, führt er aus, ist das Volk, nicht weil es allein die Wahrheit besitzt, — diese ist nur da vorhanden, wo die Evidenz herrscht — sondern weil das Volk als die Summe der physischen Kräfte, dazu von der Natur aus bestimmt ist®. Es ergibt sich dann daraus mit Notwendigkeit, daß Souveränität und Souverän nicht dasselbe ist. Das hat mit besonderer Deutlichkeit Mirabeau hervorzuheben gewußt. Es ist falsch, meint er, wenn der König sagt — „la souverainetÄ est k moi": der Souverän ist nur der Repräsentant der Souveränität und dieser, nicht jenem gehören die „avances souveraines". Es war nur ein Schritt von diesen Ausführungen zu dem kühnen, wenn auch nicht mehr neuen, von Mirabeau Ludwig XV. gegenüber hingeworfenen Satze, daß er nur der erste Staatsbeamte sei^, ein Satz, den der berühmtere Sohn später seinem Vater entlehnt hat.
Diese Gedanken, besonders in den Erörterungen der Mirabeau'schen „Theorie de Timpot"^, stehen im inneren Zusammenhang mit dem ganzen physiokratischen System,
^ Le-Mercier, p. 92.
* Mirabeau, Theorie de l'impöt, pp. 48 — 50; La science ou des droits et des devoirs de rhomrae, p. 260. — Mirabeau erkennt dann weiter, daß man dieses Prinzip mit der Forderung einer erblichen Monarchie vielleicht unvereinbar finden würde, weil die Souveränität kein Eigentum des Monarchen ist. Er kommt aber diesem Einwurf in folgenden bemerkenswerten Worten zuvor: ,,lor8 de la vacanoe da trdne la loi saisit le roi, d^s lors il fait partie lui-mSme de la propri^t^ publique'^. Lettres sur la l^gislation, Bd. I, p. 197.
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mit dem VerBuuh, die Entatebung des Staates und wo- möglich auch seine Organisation auf der OkonomiBchen Basis der Geaellachaft zu begründen. Denn wird diese ökonomische Grundlage durch die Tätigkeit der Individuen geschaffen, so folgt daraus mit Notwendigkeit die ent- scheidende Bedeutung dieser letzteren für die Gestaltung des Staates und fUr den Gang der Dinge in ihm. Es liegt lar auf der Hand, daß dies vor allen Dingen in derjenigen 'atigkeit des Staates zum Ausdruck kommen muß, die seine materielle Existenz bedingt, also in der Finanz- und Steuerpolitik. Das war aber für jene Zeit von größter politischer Wichtigkeit.
Im Laufe des ganzen 18. Jahrhunderte bildeten die Finanzen in Frankreich den Brennpunkt aller politischen Erörterungen, weil am Finanzwesen der französische Staiits- körper am meisten gekrankt hat, und weil jedenfalls in seiner Unzulänglichkeit die Zeitgenossen den Grund der kritischen Lage des Staates zu sehen geglaubt haben. Nun sollen nach der physiokratischen Lehre die Steuern, auf die es hauptsächlich damals ankam, jeder Willkür entzogen werden, und nicht von den Staatsgliedem, als solchen, sondern aus der Quelle des Reichtums selbst, und zwar aus seinem , disponiblen" Teil, dem Reinertrag, gewonnen werden. Da aber die Herstellung dieses Reinertrages aus- schließlich von der Tätigkeit der einzelnen abhängt, in der sie durch keine Rticksichten gestört werden dürfen, so wird der Staat in seiner eigentlichen „physischen" Grundlage in direkte Abhängigkeit von den Staatsuntertanen gebracht, denn die Maxime, daß die „besoins politiques" den „besoins physiques" unterstellt werden sollen, verleibt denjenigen, die für die letzteren zu sorgen haben, das entscheidende Wort in Finanz- und Steuerfragen , d. h. in den Fragen, die den damaligen Politikern in jeder Beziehung die auS' echlaggebenden waren.
Freilich ist diese politische Rolle nicht dem ganzen Volke sondern einem kleinen Bruchteil zugedacht, oämlicb
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demjenigen, der nach der Auffassung der Physiokraten die ökonomische Grundlage des Staates schafft, also der pro- duktiven Bevölkerungsschicht, als welche ihnen nur die Grundeigentümer ' und die Ackerbautreibenden (vielmehr die in der Landwirtschaft Beschäftigten) erschienen sind. Diese sind also die eigentlichen Gründer und Erhalter des Staates; bei ihnen ruht die Souveränität, von ihnen geht sie aus und wird auf die Staatsgewalt übertragen. Sie bilden daher die politisch bevorzugte Klasse, die von Natur aus zu herrschen berufen ist*®.
Diese Tendenz, deren Nachklänge wir nicht nur bei Turgot **, sondern auch bei Condorcet finden, hebt aber den Grundgedanken nicht auf, den wir aus dieser Stelle zu be- tonen haben, und zwar, daß die Physiokraten schon in ihren Ausgangspunkten dem Gedanken einer unbeschränkten, jede Volksanteilnahme ausschließenden Herrschergewalt fremd waren. Wir werden im nächsten Kapitel der Weiter- entwicklung dieser Keime innerhalb des Physiokratismus nachgehen; hier sei nur bemerkt, daß sie für die physio- kratische Lehre von der Staatsform nicht von entscheiden- der Bedeutung geworden sind. Denn in diesem Punkte haben sich die Physiokraten von andersartigen, mehr historisch zu erklärenden Erwägungen leiten lassen.
Prinzipiell war ihnen die Frage nach der Staatsform
^® Mirabeau hat diese politische (und staatsrechtliche) Unterscheidung auch terminalogisch durchgeführt: die Grundeigentümer bezeichnet er als „r^gnicoles", die übrige Bevölkerung als „sajets" oder „habitants*^. S. Mirabeau, La science ou les droits et les devoirs de Thomme, p. 168; älmlich in einem Briefe an den schweizerischen Physiokraten de Butre, mitgeteilt von R. Reuß, Charles de Butr6, un Physiocrat tourenguau p. 95/6; vgl. auch Lettres sur la l^gislation, Bd. II, p. 675. — Louis Blanc, a, a. O. , p. 521, will die Nachwirkung dieser Unterscheidimg in der später durchgeführten Teilung aller Bürger in aktive und inaktive sehen.
^^ „Dans la Constitution naturelle des soci^t^s il n'y a que deox ordres reellement distingu^s, c'est-ä-dire, dont la distinction soit nette, tranch^e et donne Heu k des droits diffi6rents, Tordre des propri^taires de biensfonds et le reste des citoyens non propri^taires." Turgot in einem Briefe an Condorcet, in der Knies^schen Ausgabe des Briefwechsels des Markgrafen Carl Friedrich, Bd. II, s. 243.
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glt^ichgUltig, weil es ihueii bloß darauf ankam, daS im Staate des „ordre natiirel" die Evidenz sonverän walte, wer auch der konkrete Träger der Souveränität sein mag: einer, mehrere uder gar alle. Das hat schon voa Anfang an Quesnay eelbst betont'*, und der Phyaiokrat Baudeau, den Dupont gelegentlieh als einen eifrigen Verfechter der absoluten Monarchie hinstellt, ist noch viel weiter gegangen, indem er es sich Überhaupt versagt zu entscheiden, welche fitaatsform für den „ordre naturel" die beste ist, und die liöBung diese« Problems der Anschauung seiner Leser Überläßt '*.
Es ist nun klar, dafi bei einer ähnlichen Auffassung die Physiokraten die oben beaprochenen Tendenzen ihrer Lehre zu einer Politik, wie es ihre Zeit verlangte, nicht ausbilden konnten, weil ihnen wenig daran gelegen war. — Die physiok ratische Doktrin ist daher in der ersten Periode ihrer Entwicklung weniger Politik, als ausgesprochene Äaturrechtslehre. Zur Politik ist sie allmählich eher unter dem Drucke der politischen Verhältnisse, als aus inneren Gründen geworden. Und nicht diese, sondern jene haben .in Ihr mehr und mehr den „esprit rövolutionnaire" genährt, der eigentlich jeder Naturrechts lehre innewohnt.
IL Wofern die Physiokraten, besonders Quesnay und Le-
tfercier, die Präge nach der Staataform näher berühren, P legen sie doch großes Gewicht darauf zu beweisen, daß die
Monarchie dem „ordre naturel" am meisten entspreche.
Bei der grundsätzlichen Anerkennung der untergeordneten
Bedeutung der Staatstbrm ist diese politische Tendenz nur IrBua pereönlicber legitimistischer Gesinnung und Königstreue IjSU erklären, die die meisten Franzosen des IS. Jahrhunderts, ibeeonders dem „roi bien-aimö", Ludwig XV. gegenüber.
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ausgezeichnet hat. Eine nicht unerhebliche Rolle mag auch der Gedanke gespielt haben — wenigstens nach den Angaben Dupont's ** — , daß es mit Hilfe eines aufgeklärten Prinzen leichter sei den Staat zu reformieren. Diese Ver- mutung Dupont's beruht hauptsächlich auf den mißlungenen Versuchen Quesnay's, den König fiir die Doktrin zu gewinnen.
Hat diese Gesinnung den Physiokraten Le-Mercier nicht verhindert, in privaten Gesprächen sehr radikale Gedanken über die französischen Verhältnisse auszusprechen ^^, so war er es doch hauptsächlich, der die Monarchie als „physique- ment nöcessaire" für den Staat im „ordre naturel" hin- gestellt hat. An seine Ausführungen, die die politischen Tendenzen des Physiokratismus in seiner ersten Periode illustrieren, soll auch hauptsächlich die folgende Darstellung anknüpfen.
Ausgehend von dem Gedanken der Einheitlichkeit und Unteilbarkeit der Staatsgewalt, haben die Physiokraten zu- vörderst mit allem Nachdruck sich gegen diejenige Staats- form ausgesprochen, die schon dem älteren Naturrecht unter dem Namen des „Ätat mixte" bekannt war und als dessen Vorbild vielen seit dem „Esprit des lois" die englische Ver- fassung in der Montesquieu 'sehen Darstellung gegolten hat^®. Das Hauptargument, das gegen diese Verfassung, das sogenannte „Systeme des contrepoids" oder „systfeme des contreforces", von den Physiokraten ins Feld geführt wurde, war der Hinweis auf die der Staatsidee wider- sprechende Einführung der sozialen Gegensätze in die oberste Leitung des Staates, die dem allgemeinen Interesse
'^ Quesnaj, p. 125, Note; vgl. Blanqui, Geschichte der National- ökonomie (in deutscher Übersetzung , 1S40), Bd. II, S. 70; Condorcet ähnlich über Turgot's Überzeugungen, Vie de Turgot (Oeuvres, t. V), p. 119/20.
^^ M^moires de Mme. du Hausset, Collection des M^moires relatifis k la Revolution fran^ise, p. 185/6.
^* Vgl. darüber Tchernoff, Montesquieu et J. J. Rousseau in der Revue du droit public, Bd. XX, p. 61 et suiv.
zu dieuen berufen ist und die nicht auf den jeweiligea MachtTerhältDiBseD, sondern auf den unerachütter liehen und allgemeingültigen Prinzipien der Gerechtigkeit beruhen aolP'. Die Gesellschaft ist wohl auch in der physiokratist-hen Auf- fassung sozial geschichtet, aber im Staate sollen sich alle Klassen zu einem gemeinsamen Zwecke vereinigen. Danach Boll sieh auch die Leitung des Staates richten, und daher muß jede parteiische Regierung oder auf immer wechselnden Kompromiaaen beruhende Staatsordnung im „ordre naturel lea plus avantageux aux horames rt^unis en soci(5t^" aua-
» {geschlossen sein'*. — t Es ist interessant zu sehen, daß Quesnay in der ersten teiner Maximen die Verurteilung des „Systeme des contre- poids" in einem Satze mit der Verurteilung des Stände- staates zusammenfaßt („la diviaion des sociöl^a en differents ordres de citoyens"). Diese Gleichstellung des „^tat mixte" und des Ständestaates lüßt erkennen, daß der erstere seinen phy sink ratischen Gegnern nicht als eine Teilung der ver- schiedenen Funktionen vorkam, sondern die Gestalt einer jeden Einheit baren Staatsgewalt angenommen hat, bei der die Ordnung auf bestfindigen zu Recht gewordeneu Kämpfen beruht. Nur so wird es verständlich, daß alle physiokra tisch gesinnten Publizisten, einschließlich Turgot's und Con- dorcet's'", immer ihre feindliche Stellung der englischen Verfassung gegenüber bewahrt haben*". Dupont hat noch
KifÜr im Jahre 1818 dieselben Argumente angeführt, wie " QufWDay, pp. 329 — 331, 624 et suiv.; besoniien Le-Morcicr, eh. U; Dupant, Physiot^rMtie, Bd. 1, p. 51/2; Bsudenu, p. 783 et boIv. I' Le-Uercier p. lb!i hetunt besonders, daß dna alles nur (tt den „ordre tarer gilt; in einem depravierton Staate kann dagegen such du „afittme dea contreforcea" nütilich sein; „. . . la mauvaiea volontd pont trouver des oppositions pour faire le mal, Eomme In bonne voloutÄ ]>eiit en troiiier pour faire le bieii".
" Turgot, II. p. 807 (Brief an Price); über Condoroet vgl. L. Cahen a. a. O., p. ■477, Note 5.
** Von allen physiokralisdien PnblisiBten hat nur der für den Physio- kralismns wenig bedeutende Abb£ Morellet die englituhe Verfasini^ ver- teidigt. Vgl. desacn .MSlanges de lilt^rnlure et de philoaophie du Id-iAme Staala- a. vOlkBiroehtl. Abhan.n. Vis. — Oanttbsrg. 7
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seine Gesinnungsgenossen vierzig Jahre vor der Revolution*'. In den Ausführungen Le-Trosne's wird es uns auch besonders klar, wie in den Augen der Physiokraten das „Systeme des contreforces" auf der Voraussetzung beruhte, daß die Staats- gewalt dazu da sei, von anderen Mächten im Volke, denen sie feindlich gegenübersteht, bekämpfit zu werden**. Wir haben schon an einer anderen Stelle gesehen, dafi eine der- artige Auffassung mit der Staatsidee im 18. Jahrhundert völlig unvereinbar war.
Daher haben die Physiokraten mit ihrer ablehnenden Haltung gegen das „systfeme des contreforces" nicht gegen die Teilung der Funktionen innerhalb einer einheitlichen Staatsgewalt Einspruch erhoben, sondern gegen eine Ze^ splitterung der Staatsgewalt überhaupt, als welche ihnen die englische Verfassung vorkam. Sie haben ja selbst in ihrer eigenen Lehre die vollständige Abteilung der richter- lichen Gewalt verlangt und sind, an französische Verhält- nisse anlehnend, sogar bis zur Forderung gegangen, daB diese zwischen Souverän und Nation über die Verfassungs- mäßigkeit der Gesetze zu entscheiden habe (vgl. unten S. 109). Und dann haben sie auch die Vereinigung der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt in einer Hand nicht so sehr im Zusammenhang mit der Polemik gegen den „ötat mixte" als mit der Auffassung von der bloß ver- waltenden Aufgabe der Staatsgewalt befürwortet, worauf wir noch näher zurückkommen werden*®.
si^cle, t. III., Lettre ecrite k roccasiou de rouvrage intital^ — Examen du gouvernement de TAngleterre (besonders p. 177).
«' Phvf'iocrates, ^d. E. Daire, Bd. I, p. 413.
22 Le-Trosne, pp. 249/51.
*^ Die im Text vertretene Ansicht wird auch dadurch bestätigt, daß zwei während der Revolution tatige Schüler der Physiokraten, Con- dorcet und Dupont, bei der fortgesetzten Bekämpfung der englischen Ver- fassung oder des „Systeme des balances", wie man es damals nannte, dennoch nichts gegendieTeilungder Funktionen derStaatsgewalteingewendet haben; daß sie sogar bei der Forderung einer einheitlichen Volksvertretung die Teilung der letzteren in zwei Kammern vorgeschlagen haben. L. Cahen a. a. O., pp. 477 — 479, 511/2 berichtet, daß die diesbezüglichen Vorschläge Condorcet's von den Jakobinern sogar direkt als ein Zweikam mersyatem
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B Staatsgewalt, die von den Datürlichen Gesetzen ein- geschränkt ist, darf also in der AuaUbung ihrer Pflichten auf keioe Hemmungen stoßen, wie es in den „4tat8 mixtes"
tder Fall ist. Welche Staats form bürgt aber am besten fcr die Erfüllung dieser Forderung? ' Das erste, worauf man bei einem Versuche diese Frage au beantworten kommt, bezieht sich darauf, wem eigentlich im Staate die gesetzgebende Gewalt gehöre. Hier treten bei den Physiokraten gleich diejenigen Erwägungen auf, mach denen es ein Problem der Gesetzgebung im eigent- pchen Sinne des Wortes gar nicht gibt. Die Gesetzgebung [ehöre „primitivement" weder dem Volke, noch dem marcheo, denn die Gesetze sind von Gott für immer in Ben „lois physiquea et morales" niedergelegt. Die Staats- [ewalt ist, wie wir schon mehrmals hervorgehoben haben, nur eine vollstreckende Gewalt. Als zweckmäßigster Voll- Btrecker erscheint ihnen aber nur ein mit voller Macht aus- gestatteter Monarch.
ILe-Mercier versucht ea dennoch naher auf eine Kritik ■er Staatsform einzugehen, bei der die gesetzgebende Ge- Pralt der „nation en corps" übertragen wird". Die Vcr- Kidigung einer derartigen Verfassung, meint er, beruht ftuf dem Wahn, daß die primitiven Menschen von Natur Aus gleich seien. Das ist aber falsch, weil es dem in der menschlichen Natur begründeten Prinzip des Eigentums, das die Ungleichheit voraussetzt, widerspricht. Und wenn diese Annahme auch richtig wäre, konnten doch nicht alle ICitglieder der Nation an der Gesetzgebung teilnehmen, Ireil die Gesetze ihrem Inhalte nach keine Gleichheit her-
^ trarden. Belege dafür lu bezog fLaf Dupont b. bei Schalle a. a. O.,
. 271—276. — Auch der Graf Mirabeau ist ala Verteidiger der Ge- altanteilang (s^paratiaD des ponvoire, besonders der Selbstündtg-keit der erichte) and, in AnlchnuDg na »eine ph/siokratiacheD Lehrer, gE){«n doü „sjBtime deo balances" aiifgetret«n ; vgl. F. Deerne, Lh id^a
Slitiquea de Miraheati in der KeTDO historiane, 1883, t. KXIl, pp. 43, 6 et auiv.
•♦ Lfl-Mercicr, oh. XVI.
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stellen, sondern im Gegenteil die Ungleichheit konsolidieren. Auch ist es verfehlt, lehrt er weiter, wenn man die Demo- kratie auf dem Begriff der „nation en corps^ begründen will, weil dieser Begriff das Vorhandensein eines gemein- samen Interesses schon voraussetzt, das durch einen ein- heitlichen Willen repräsentiert wird. Dieser einheitliche Wille muß aber ein Zentrum, einen Sitz haben, der nichts anderes als die Staatsgewalt selbst sein kann. Daher wird die Nation zu einem „corps" erst, wenn eine Staatsgewalt vorhanden ist; denn ohne diese bildet sie nur eine Vielheit verschiedener ^ordres des citoyens" , die ihre besonderen Interessen vertreten und zwischen denen Einheit eigentlich nur durch Stimmabgabe zu erreichen wäre. Da stellt sich aber gleich heraus, daß Einstimmigkeit zu erreichen tat- sächlich unmöglich ist, während das Mehrheitsprinzip jeder vernünftigen Unterlage bar ist, denn es setzt an Stelle des monarchischen Despotismus die Tyrannei der Mehrheit (der „Demokratie") und gewährt somit einem Teile des Volkes die Herrschermacht über den anderen. Le-Mercier fürchtet dann auch die Allmacht, die sich die Volksversamm- lung, wenn sie gesetzgebend wirkt, zu eigen machen könnte, weil sie sich dann über alle Gesetze erhaben fühlen würde. Da die Beschlußfassungen auf Machtverhältnissen beruhen (das Mehrheitsprinzip!), so, glaubt er, wird die Volksversamm- lung stets bemüht sein, die richterliche und vollziehende Gewalt in ihre Hand zu nehmen, was ihr aber nur zur Zeit ihres Funktionierens gelingen wird; sobald sie aber aufgelöst ist, verliert sie ihre Macht und mit ihr der Staat jede autora- tive Gewalt^*.
So ist die Kritik der „nation en corps" als eines Gesetz- gebers allseitig begründet. Diese Kritik läuft schließlieh
^^ „. . . par ce moycn tout serait confondu: lors qa'eUe serait asserabl^e, eUe forraerait une puissance absolument et nScessairement ind^peudante des lois d6j4 faites, mais d^s qu'eUe serait dispersa, ii ne resterait plus apr^s la dissolution de cette puissance arbitraire, que des lois Sans autorit^, et un 4tat gouvem^ sans 6tat gouvemant . . .^ (Le- Mercier).
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wiederum auf die Behauptung hinaus, daß man bei der
Entscheidung der Frage nach der Staataform hauptsächlich
im Auge haben muß, daß die eigentliche Aufgabe der
Staatsgewalt die Verwaltung im weitesten Sinne des Wortes
Ea bleibt aber doch noch die Frage bestehen, ob nun
I die verwaltende Funktion vom Volke als Ganzem ausgeübt
I werden kann. Naher sind die Phyaiokraten darauf nicht
I eingegangen. Es leuchtet aber aus allen ihren Ausfllhrungen
daß sie diese Frage entschieden verneinen mußten.
I Begieren heißt nicht Gesetze machen, sagt Le-Trosne, und
lea wäre daher etwas „Monströses", wenn man die Regierten
I mit den Regierenden vermengen wollte *".
Le-Mercier geht noch dann kurz auf die ariatokratiscbe Regierungsform ein*'. Er lehnt sie ebenfalls ab, weil sie zu Interessen kämpfen innerhalb des „corps desadministrateura'' und zu Spaltungen der oberaten Gewalt führt und dadurch die Tätigkeit hemmt. Der Glaube, daß die aufgeklärte öffentliche Meinung hier die Mißbräuche entfernen könnte,
»fährt er fort, beruht auf einer falschen Annahme, daß die Begierten aufgeklärter sein könnten als die Regierenden, einer Annahme, die die Physiokraten Überhaupt gar nicht ßmsen konnten. Dann werden auch bei einer aristokratischen Begierung die Beschlüsse nicht auf Grund vernünftiger Ein- sicht, sondern nach der Meinung der Mehrheit gefaßt. Alle diese Mängel besitzt sowohl eine „natürliche" Aristo- kratie, wie auch Kollegien gewählter Administratoren, mögen sie auch aus Vertretern der oberen und unteren Volksschichten zugleich bestehen. Die einzige rationale Staataform bleibt also nur die monarchische, deren allseitige positive Ver- teidigung Le-Mercier nun unternimmt.
Der Monarch soll als Träger der Souveränität nur iTerwalten und zu diesem Zwecke über die „force publique" »Verfügen. Da der Hauptinhalt seiner Tätigkeit in der ein-
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walt ' lan-
heitlicben Leitung der Gesellschaft in dar Richtung eines | all gemeinen Zweckes über alle Einzelinteressen hinweg bestehen soll, und da bei den anderen Staatafornien sowohl die Einheit als die Möglichkeit, Über partikulare Interessen sich zu erheben nicht vorhanden ist, so muß nun bewiese! werden , daß diese Bedingungen bei der monarchisch« Staatsform zutreffen.
Was vor allen Dingen die Einheit der Staatsgewalt betrifft, 80 ist sie durch den einen physischen Träger gaian- tiert — „par rapport a l'action et par rapport au principe", wie sich Le-Mercier auadrückt^". In erster Hinsicht (.pai rapport ä l'action"), weil nur einer die Unteilbarkeit dei Staatsgewalt repräsentieren kann, und weil die Ausübung der Gewalt in der Gesellschaft nur durch einen hüchstei Willen vollzogen werden muß, widrigenfalls wir nicht einoj sondern zwei und mehrere Staaten und Staatsgewalten^ hätten. In zweiter Hinsicht („par rapport au principe'), weil die soziale Gerechtigkeit, oder die Evidenz der natür- lichen Gesetze der Gesellschaft, auch nur eine ist und daher ebenfalls nur von einem vertreten werden kann; denn wollte man glauben, daß dazu mehrere notwendig sind, so mUßto man annehmen, daß die Wahrheit nicht aus der EinsicbftH der Vernunft, sondern aus dem Kampfe der Meinungen her« rUhre und auf dem mechanischen Majori tlUsprinzipe berubafl
Dann ist es zweitens ersichtlich, daß nur ein Monarch allen EinzelinteresEen gleichgültig gegenüberstehen kann, um das Interesse des Ganzen zu verfolgen '", Der Beweis dafür beruht darauf, daß nur bei einem Monareben daa nilgemeine Interesse zu seinem persönlichen Interesse werden kann , so daß es „physisch" unmöglich ist, daß er zum Nachteil des Staates handle, weil man nicht annehmen kann, daß man sich selbst schaden wird, sobald man dio richtige Einsicht darüber, was schädlich und was nUtzlidi ist, gewonnen hat.
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Nun besteht aber das atigemeine Interesse der Gesell- schaft in der Vermehrung der materiellen Güter durch den Äckerbau, d. b. in der Vergrößerung des disponiblen Teiles der Ertrage. An diesem disponiblen Ertrag hat auch der Monarch einen rechtlichen Anspruch zur Bestreitung seiner Ausgaben. Dieses Recht stützt sich darauf, daß der Souverän auf seinen Anteil an Grund und Boden und dessen unmittelbare Ausnutzung (aU ^propriölaire" und „cultivateur") naeh der vollzogenen sozialen Differenzierung verzichtet hat, um sieh vollstilndig der Aufgabe der öffent- lichen k)icherheit zu widmen. Das so entstandene ^Mit- eigentum" ^", welches nun das Recht der Besteuerung be- gründet, Süll auch den Beweis der „physischen Notwendig- keit" einer monarcliischen , durch Erblichkeit in ihrer Wesenheit bekräftigten Gewalt liefern : denn nur ein Monari.-h
Ikann durch das Miteigentumsrecht an den Interessen aller von dem disponiblen Teile der Erträge Lebenden gleich- inBßig gebunden werden. Wo die Hlaatsgewalt mehreri.n ^hört, die nicht nur Über der Geseilsehaft, sondern auch iin ihr stehen, die nicht nur Eigentümer der öffentlichen Qewolt, sondern auch Vertreter partikulärer Interessen sind, dort wird es stets Konflikte geben, die gewöhnlich zu Gunsten 4ieser Interessen entschieden worden. Diese Begründung der monarchischen Slaatsform spitzea die Physiokraten noch durch folgende Ausführungen zu. Da der Souverän für die Verwirklichung der sozialen Ge- rechtigkeit zu sorgen hat, die im , ordre naturel", so wie die Theoreme in der euklidischen 'leoraetrie, despotisch herrschen sollen, so ist auch die wahre Monarchie nach der physiokratischen Terminologie als ein „deapotisme l^gal" L»u bezeichnen^'.
Le-Mercier ist noch einen Schritt weiter gegangen Lcd hat im Hinblick auf die „physische" Eigenschaft dieser
im, pp. 146'9; Queanay, p. 517. ' Dero „deapotianio l^gul" wird der „despotigme arbitraire" gegen* hergestellt; Le-Hercier, .cb. XXU und XXIV.
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keine „loie fondaraentalea" Laben, sondern nur „reglemenU ] de detail et de police" bedürfen*^. Dort gibt es keine Richtscbnur für einen Monarchen, wie im agrarischen Staate, dort muß in jedem Falle besonders entschieden werden, damit man sich an die jeweiligen Umstände anpassen kann. Darüber soll aber nur das ganze Volk Entschlüsse fassen; daher bedürfen die nichtagrarischen Staaten keines Oberhauptes, und sie bilden eine Republik, für die auch der kleine Umfang des „dtat marchand" günstig ist^'
So verstehen die Physiokraten auch die republikanische Staatsform zu rechtfertigen, und zwar wiederum von ökonomischen Voraussetzungen ausgehend: wo die Steuern den „lois physiquea" nicht unterworfen werden können, da muß das ganze Volk dem jeweiligen Souverän entgegen- treten und über sie entscheiden; da haben wir es mit einer republikanischen „Constitution orageuse" zu tun.
Wird aber die Republik im industriellen Staate sur Notwendigkeit, so ist sie dagegen in einem Staate wie Eng- tand nur als das Resultat der Unkenntnis des „ordre naturel' zu betrachten, wenn auch die dadurch hervorgerufenen Miß- stände durch andere gute Gesetze gemildert werden. Man , sieht nun, wie den Physiokrateu nach ihrer eigenartigen Ter- minologie auch eine Monarchie wie England als ein seinem I Wesen nach republikanischer Staat gelten konnte, wenn die ■ Steuergesetzgebung nicht auf den „lois phyetques", sondern auf einem Kompromiß zwischen Volk und Herrscher beruhL Unter diesem Gesichtspunkte sind auch die Physiokraten ii ihrer Zeitschrift, den Ephemeriden, bei den bestehendei steuerpolitischen Verhältnissen sowohl für die englische Ver- I fassung überhaupt, wie auch für die Forderung der nord- amerikanischen Kolonien, nicht ohne Bewilligung besteuert | zu werden, eingetreten,
" Darilber Miraheau in der Philoaophio rurale, U I, jip. 24'5 uud j Dupont in den sohon erwÄbuten Abhandluagen über dio Genfer Bepublik in den Ephemeriden vom Jahre 1710, Beli XII.
" EphimitiduÄ du eitoyen, 1768, Heft VH, p, 31; 1770, Heft SIL I pp. 186/18Ö. ' V ^ ' "* j
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Wie tief diese Anschauung im PhyBiokratisrnua gesteckt hat, bfiwetst ein Brief Dupont's an den badischen Minister
Edetsheim am Vorabend der Revolution, in dem der Beschluß vom 9. Mai 1787 über die Einführung eines port de repartition" an Stelle eines „import de quo- It^"^' als ein Moment von größter historischer Bedeutung bezeichnet wird, weil dadurch Frankreich von einem monarchi- schen zu einem republikanischen Staatswesen geworden sei ; denn von nun ab soll die Höhe der Steuer nicht von der Höhe des disponiblen Teiles des Nationaleinkommensabhängen, sondern von der Summe der Ausgaben, die von der Re- gierung bestimmt wird, und gegen die die Eigentümer im Interesse des nationalen Reichtums stets das Recht haben werden Einspruch zu erheben*'.
Immer wieder kommen also die Fhjsiokraten auf die „natürlichen" Gesetze der Steuerverfassung im landwirt- Bchaftlichen Staate zurück und geraten somit allmählich auf umstürzlerische, anfänglich nicht beabsichtigte politische Bahnen. Doch treten sie mit den eben geschilderten Er- örterungen schon in die zweite Periode der Entwicklung ihrer Politik ein,
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Kehren wir nun zu den Ausführungen über die monarchische Staatsgewalt zurück, so sind ihre Haupt- bedingungen die Vereinigung der Legislative und der Exe- kutive in einer Hand und die vollkommene Selbständigkeit der Gerichte. — Die erste dieser Bedingungen folgt wieder- um aus der Grundauffassung von dem Wesen der Staats-
la bezieht sii^h withrsclieialich nuf die von Briemie nficli dt FAUr(|Deai'B Kiichtritt (dessen erster MiUrboiter Dupont war) bestimiiit tetgewtete Summe, die durch die der NotRbcliiTerBftniiDlaDgTorgeschlH^eiio Stenerrefonii erzielt werden soll. V);l. A. Wahl. Die NotsbelnreTBainm- limg von 1787, 8. 72, Anm. 1.
"* PolitiBcho Korrespondenz von Kiirl Friedrich von Boden, hernusg. von B. EMmonnsdörfer, tb68, Bd. I; Briefe vom U. Juli und 21. Aagatt 1887 (8. 27» ff); vgl. des>elben Krilik der ent^litchen Verfassung im Aii- schluB Hn eiue Aualjse des bekanntea Buches von de l'Olme in einem Schreiben an den Erbprinien Karl Ludwig von Baden, a. Briefwei^el Markgrafen Karl Ir^iedrich, II, SS. 216—234.
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gewalt, wonach ibre eigentliche Funktion die Verwaltung iat. Die Gesetze, die der Souverän verkündet, sind Veroi-dnungen, die im Rahmen der „lois naturelles" gehalten j werden müssen. Wer Verordnungen erläßt, muß aber auch | die Macht haben, sie auafuhren zu können; daher, schließen die PJiysiokraten, ist im „ordre naturel" die Exe- 1 kntive „physiquement" an die Legislative gebunden, weil J im entgegengesetzten Fall die Slaategewalt die Macht nicht J ausüben könnte, die sie de jure besitzt^*.
Mit großem Nachdruck wird dann die Notwendigkeit^ der Trennung der richterlichen Gewalt von der gesell- f gebenden betont. Die Richter sind in der geordnetea I Gesellschaft berufen „gardiens et d^positairea" der Gesetss ' zu sein *". Ihnen muß die Evidenz der natürlichen Gesetze erschlossen sein. Der Kichterstand ist der „corps moral de la natioE, c'est k dire la partie pensante du peuple* (Quesnay); er bildet daher durch die Anwendung und Aus- führung der Gesetze den „Heu commun de la soci^t^'.
Dem Souverän muß die richterliche Gewalt entzogen bleiben, weil ihre Hauptaufgabe auf die Feststellung der Tatbestände sich bezieht, welche Tätigkeit bei den hier leicht vorkommenden Irrtümern die Autorität des Souveräns beeinträchtigen könnte. Außerdem, wenn der äouverän Richter wäre, wüßte man nicht, wann er als Gesetzgeber und wann er als Richter aussagt, und bei einem möglieben Irrtum wäre keine höchste Gewalt vorhanden, an die man appellieren könnte. Sprechen diese Gründe für die Unab- hängigkeit und Selbständigkeit der Gerichte, so sind aber die Formen der richterlichen Tätigkeit, die für die Objek- tivität bei der Feststellung des Tatbestandes bürgen sollen, von dem Souverän zu bestimmen, der auch in Fällen der Verletzung dieser Formen als Appellationsins tanz gelten soll*'.
s» Le-Mercier, pp. 101—103, 181/2; Dupont, Phj-Biocralie, tin,p.2 *" Le-Marcier, eh. Xm.
*' Ibidem, cb. XU, pp. 82—85; Dupont, Physiooralie , I p. 27— -Ä.
VI 3
109
Doch steht den Gerichten not'h eine weitere, viel
wichtigere Aufgabe zu, AU „d^positaires et gardiena des
vollziehen sie nicht nur den Willen des Gesetzgebers,
mdern sie prüfen auch dessen Verordnungen auf ihre
Verfasaungsmäßigkeit, ob sie nicht etwa mit den ,lois
I naturelles et easentielles" im Widerspruch stehen — ,dans
lea caa oü on serait parvenu k ögarer son (des
(Herrschers) opinion."'^ Ist nach den phyaiokratischen
Y Anschauungen die „Evidenz" die einzige natürliche „contre-
I force" gegen die möglichen Ausschreitungen des Herrschers,
\ so bekommt sie nun im Richterstande einen konkreten
Darin liegt die Einschränkung, die Mäßigung der
lanonarchiachen Gewalt.
Unzweifelhaft stand hier dem Physrokraten Le Mercier, Ksinem Parlamentsherm , das parlamentariache Recht der l^remontrances" vor Äugen; man erkennt in der ganzen Darstellung den warmen Verteidiger dieses in der zweiten iHfilfte des 18. Jahrhunderts politisch ao hoi'hbedeutenden, I bis torisch hergebrachten Instituts*'; ja sogar die Termino- Klogie (z, B. die Bezeichnung „gardiena et d^positaires dea tlois") erinnert an die Sprache der Parlamente. Ea war ■den Phjeiokraten um so leichter, dieses Inatitut in den
■ „ordre natural" zu übertragen, als Quesnay es auch im I Ifl US ter lande China entdeckt zu haben glaubte. Daß da- I mit gerade ein einschränkender Faktor gemeint war, beweist
■ auch der Umstand, daß in bezug auf die „ rem on trän ces", ' die die monarchische Gewalt mäßigen aollen , Quesnay es
fbr notwendig hielt hinzuzufügen, daß sie die Staatsgewalt nicht untergraben, sondern im Gegenteil stutzen und be- festigen. Dennoch warnt er den Herrscher vor den Folgen, I wenn er die „reraontrances" nicht beachten sollte".
' Iie-MoreiBr, p, IlO/li. ■"■■■■ E. etwa
B pUyaioi
s gewagt l'StellQiig der GerEchte ■ 'i ce qui devait fttni in Uour siipnli ■■Ii'tdäe de la SouverainutiS d'npri» li |:«i«cle. ThAse. Paris. 1904, p. 281. * QueanBr, p. 60a/7.
nun , daß duruli dioae prupoaent uno Institution analogue 1 dea EtatH-Unis". L. Amiline. iurivains fransaia do XVIII-iAroo
111)
VI 3
In (lieBör Lehre von der Stellung der Gerichte tritt der Zusammenhang deutlich vor Augen, in dem die politische Doktrin der Physiokraten in der ersten bis jetzt geschilderten Periode ihrer Entwicklung mit den zu ihrer Zeit herrschenden Anschauungen von den Grundgesetzen des frauKösischen Staates steht.
Schon KU Zeiten Ludwig XIV, und dann besonders im Laufe des 18. Jahrhunderts sind die Überreste der von altersher der königlichen Gewalt widerstreitenden Machte zu einer Theorie der „monarchie tompöröe" zu- sammengefaßt worden, als welche auch nach seinen Grund- gesetzen das französische Königtum gelten sDlIte**, Die Phjsiokraten, die auf möglichst friedlicliom Wege die Reformierung des französischen Staates erreichen wollten, haben immer ihre Plane und Ansichten an bestehende Verhältnisse anzuknüpfen gesucht, und sieht man nun nilher zu, so erscheint auch wirklich ihre Lehre vom ^despotisrae I4ga!" nur als eine neue Begründung der Lehre von der „raonarchie tempöröe" *^. Neben der mäßigenden Wirkung der Gerichte und der unverletzbaren „natürlichen" Gesetze, die die Physiokraten mit den historisch her- gebrachten Grundgesetzen des französischen Königtums oft zusammenfassen, ist hier auch die Stellung hervorzuheben, die sie den Grundeigentümern in ihrem Staate zuschreiben als denjenigen, die von Natur aus berufen sind, die herrschende Volksschicht zu bilden. Diese Auffassung war sehr günstig für den Adel, und die Physiokraten haben eich dadurch trotz der Bekämpfung der Standeprivilegien wiederum an einen Faktor aus der ,monarchie temp^r^e- angelehnt, der den Monarchen, wenn nicht einzuschräDken. so doch zu mäßigen berufen ist. Und wirklieb soll die ganze Verwaltung nach der physiok ratischen Lehre in den
* Vgl. A, Wühl, Nota bei nvernammlnng, 8. 5,
s V, Note 15 — hervor
Hunden dieser bevorzugten Klasse sich befinden, die Bau- deau ausdrücklich die „classe des propriitaires" oder es nobles" nennt, wobei er gerade im Hin- blick auf ihre poÜtische Stellung auf die zweite Beziehung besonderen Nachdruck legt*'.
Waren schon in dieser Theorie von der „monarchie terapör^e" einige einschränkende Elemente vorhanden, so kommt aber nun bei den Physiokraten noch ein neues Moment hinzu, nämlich: der Staatsgewalt soll als „contreforce" auch noch das gesamte aufgeklärte Volk gegenübergestellt werden **. Wohl sind sie noch vorsichtig genug zu behaupten, daß die eigentliche „contreforce" die Evidenz der natürlichen Ordnung ist. Gar bald kommen sie aber darauf zu sprechen, i6 der Träger dieser Evidenz die Gesellschaft, das olk ist.
Das war ein Gedanke, der in den Anfängen noch in sehr bescheidener Formulierung in die Lehre von der gemäßigten Monarchie unter der Bezeiclinung „publicit^", „4vidence publique", „opinion gönörale", „opinion pub- lique"*^ eingeführt wurde. Aber schon Baudeau's Er- örterungen in seiner „Introduction k la philosophie (5cono- mique", wo von einer Organisation der öffentlichen Meinung noch gar nicht die Rede ist, laufen vom 6. Kapitel ab auf den Beweis hinaus, daß die „monarehie iSconornique" nicht die Herrschaft eines einzelnen, sondern die Einheitlichkeit 1er Staatsleitung und die Mäßigung der Staatsgewalt durch lie Öffentliche Meinung bedeute.
Wie gesagt, haben wir es anfänglich nur mit Ansätzen, lie Bedeutung dieses neuen Momentes hervorzuheben, zu
>
uri
i
' Biudeau, p. 669. — Es iat «elbBtrerständlicti , daß dar MNrquis ■irabean an dieser ADfTasBiing Hieb beiondcrn fealhiolt, vgl. seinen Brief T Longo Tom 3, Nov. 1778 im Appfindice dos III. Bandes der MÄmoirea ' raphinues, litt£raires ot politiquca de Hirabean Berits jiar lui mfime.
n pere, sod oncle et «on fils adoptif.
" Qaemar, pp. 831 (II Maxime), 584 et Buiv., 641; Le-Trosne,
m.
* Le-Mercier, pp. 110, 155 et miy., 169, 198-200, 212.
112 VI 3
tun. Es wird daher im Anschluß au Quesnay's „Despo- tisme de la Chine" mehr die Bedeutung der „instruction publique" als der „opinion publique" betont. Die Auf- klärung (instruction) soll eben die öffentliche Meinung im Sinne der Forderungen des ^ ordre naturel" gestalten, zu welchen Zwecken die nötigen Bücher, die Katechismen der Volksautklärung, wie in China, allen zugänglich gemacht werden müssen. Im Anschluß daran haben auch die Physio- kraten die Bedeutung der freien Presse anerkannt, wenn sie auch manchmal die Meinung aussprechen, daß schlechte Gedanken und verführerische Bücher unterdrückt werden sollen *®.
Diese ersten Äußerungen über die Bedeutung der öffentlichen Meinung haben den Boden geschaffen, auf dem der anfänglich von Quesnay und Le-Mercier so stark legitimistisch gefärbte Physiokratismus allmählich in das Fahrwasser der damaligen staatserschütternden Theorien geriet. Diese revolutionäre Wendung war aber schon in den naturrechtlichen Ausgangspunkten der Lehre begründet.
Erinnern wir uns, daß die Staatsgewalt für die Physio- kraten nur eine dienende Rolle spielt, daß sie von der Gesellschaft bzw. den Eigentümern eingesetzt ist, daß ihre Grundlage die „röunion des volontös" bildet, so wird es verständlich, wie leicht sehr weitgehende Konsequenzen aus der Betonung der öffentlichen Meinung gezogen werden konnten, sobald der Gedanke einer faßbaren Organisation des „voeu public" aufgetaucht war. Das ist auch bald geschehen.
^® Mirabeau, Ami des Hommes (^d. Eoozel), p. 240; Dupont, Physio- cratie, t. I, p. 52/3.
Siebentes Kapitel.
I.
Einer der unversöhnlichsten Gegner der physio- kratischen Doktrin, der Abbö Mably, hat dem Physiokraten Le-Mercier vorgeworfen, daß er im Widerspruch mit der Lehre von der Unfehlbarkeit des Monarchen ein Gegen- gewicht in der kontrollierenden Tätigkeit der Gerichte ein- gesetzt habe ^. Mag dieser Vorwurf auch den Kernpunkt der Theorie vom „despotisme 16gal" nicht treffen, jedenfalls weist er richtig darauf hin, daß die Physiokraten, nachdem was wir bis jetzt von ihnen geschildert haben, zwischen Monarch und Volk keine Zwischenstufen, keine „corps inter- mödiaires" dulden konnten, weil das nach ihrer Meinung zur Spaltung der Staatseinheit führen muß. Diesen starren Standpunkt hat aber der Physiokratismus , als Ganzes be- trachtet, im Laufe der Zeit verlassen müssen, als er in der praktischen Politik, vertreten von Turgot und Dupont, in der Gestalt eines Systems von Reformplänen zur Rettung Frankreichs auftrat ^. Die Gründe für den Umschwung sind ebenso sehr innerhalb, wie außerhalb der Doktrin zu suchen.
Was die inneren Gründe betrifft, so haben wir darauf schon in der früheren Darstellung, bei der Hervorhebung der oppositionellen Momente in den Ausgangspunkten der
^ Mably, Doutes propros^s auz philosophes ^conomistes sur Tordre natarel et essentiel des soci^t^s politiques, eh. III.
' Über die allmähliche Radikalisierung der Physiokraten vgl. A. Jobez, La France sous Louis XVI, p. 341/2.
Staats- u. Völkerrecht!. Abhandl. VI 3. — Qflntzberg. 8
114 VI 3
physiokratischen Politik hingewiesen. Von praktischer Be- deutung sind dabei die Grundsätze der Steuerpolitik geworden. Mit der Steuerlehre — also von den die Zeit am meisten bewegenden finanzpolitischen Problemen aus- gehend® — sind daher auch die Physiokraten zuerst hervor- getreten, um die Umbildung der sozialen und politischen Struktur des französischen Staates anzubahnen. Was wir aus dieser Lehre hier hervorzuheben haben, ist die mit Notwendigkeit aus ihr sich ergebende Forderung, bei einem Versuche, die Reform ins Leben zu rufen, das Volk bzw. die Grundeigentümer, zur Finanz- und Steuerverwaltung heranzuziehen. Denn hängt die Steuerquote, also die materielle Grundlage des Staates (man beachte, daß die indirekten Steuern von den Physiokraten aufs Schärfste verdammt und zur vollständigen Abschaffung verurteilt waren) von der Höhe des Reinertrags ab, an den sie sich anzupassen hat, so müssen die „rägnicoles" nicht nur über die Höhe ihrer Erträge befragt werden*, sondern auch das Recht haben, sich regelmäßig zu versammeln, um über die Steuerveranlagung und Erhebung zwecks gleich- mäßiger und gerechter Belastung zu beraten und zu be- schließen. Die Verwaltung des Steuerwesens und alle anderen damit zusammenhängenden Verwaltungszweige müssen also von den königlichen Beamten auf die Steuerzahler selbst übertragen werden.
Mag dadurch nur eine tiefgehende Verwaltungs reform angebahnt worden sein, so enthält dies doch schon im Keime den Gedanken der Notwendigkeit einer gewissen Organisation der Staatsuntertanen dem Monarchen gegen- über, eine klare Absicht diesen, wenn nicht in seinen Rechten einzuschränken, so doch, um mit Mirabeau zu reden, „Ätablir un compte ouvert entre le Souverain et la nation"*. Nun kann aber diese Berufung des Volkes zur Anteil-
« Vgl. St. Bauer, a. a. O. S. 153/4.
* Durch die Forderung der Selbstanzeige; vgl. Qaesnaj, p. 191 '2.
^ Theorie de l'impot, p. 473.
115
BSahme an der Regierung nur unter der Bedingung zu ersprießlichen Resultaton fiihren, daß daa Volk, wie die Physiokraten lehrten, über die Grundsätze der Politik unterrichtet wird und eine aufgeklärte öffentliche Meinung herauBbUdet ; nur dann werden auch eeine RepräHentanlen die Volksmeinung tiber die Zustände im Lande, über die allgemeinen Bedürfnisse und die geeignetesten Maßnahmen dem Herrscher gegenüber vertreten können. Dieses Ver- langen eines „compte ouvert" zwischen Volk und Monarch Iund die Forderung einer aufgeklärten, das Volksintereeae wahrenden öffentlichen Meinung vereinigen sich aber mit Kotwendigkcit zu der Erkenntnis, daß der ^voeu public" gewisse greifbare Formen annehmen muß und daß schließ- lich die Bildung der anfänglich so energisch abgelehnten ,corp9 intermödiaires" zwischen dem Souverän und dem Volke doch unumgänglich ist.
Zu diesen Konsequenzen, die die politisch zaghaften ■Physiokraten aus ihrer eignen Lehre unter anderen Um- ntflnden vielleicht nicht gezogen hätten, haben sie auch ■feoch Süßere Gründe bewogen.
Schon seit dem Ende der Regierung Ludwig XIV., als die ersten Symptome des allmählichen Verfalls der alten französischen Monarchie zum Vorschein kamen, hat sich die öffentliche Meinung in der Person einiger hervorragender Geister mit Plänen zur Rettung des Staates von den ihm drohenden Gefahren zu beschäftigen begonnen. Wie es in solchen Fällen oft vorkommt, hat man zuerst die Mittel zur Genesung bei den alteu, zur Zeit besiegten Mächten zu finden geglaubt. FUr Frankreich waren es diejenigen Mächte, die einst der emporsteigenden, starken, zentra- lisierenden Köuigsgewalt langen und hartnäckigen Wider- stand geleistet haben, also vor allem der feudale Adel, P So sind auch zuerst am Anfang des 18. Jahrhunderts die ffeudalistiscb-aeparatisti sehen Pläne der Herzöge von Burgund mnd St.-Simon sowie Fönelon's aufgetaucht, denen sich in
116 VI 3
ihrer Jugend die Brüder Mirabeau, der Marquis und der bailii, angeschlossen haben®.
Bald darauf ist die Erinnerung an die Reichs- und Provinzialstände wach geworden, besonders an die letzteren, seit den von Marquis Mirabeau in seiner vorphysiokratischen Periode (1750) geschriebenen „Mömoires sur les ötats pro- vinciaux", in denen die Aufmerksamkeit auf die besseren Verhältnisse in den noch bestehenden vier „pays d'^tats" gelenkt wurde. Das Buch hat großes Aufsehen erregt und Gärung hervorgerufen'; es wurde mehrmals aufgelegt und hat die in ihm enthaltenen Gedanken zum bleibenden Besitztum der öffentlichen Meinung gemacht.
Im Zusammenhang mit den Mirabeau'schen Vorschlägen ist auch das Beispiel der benachbarten, republikanisch regierten niederländischen und schweizerischen Staaten, besonders dank der schriftstellerischen Tätigkeit eines der merkwürdigsten Publizisten des 18. Jahrhunderts, des Mar- quis d' Argenson®, nicht ohne Einfluß auf die Gemüter gewesen.
Seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ist schließlich auch die Forderung der Reichsstände lauter geworden, die dann dem jungen Ludwig XIV. von Malesherbes, dem da- maligen Präsidenten der Chambres des Aides und späteren Mitarbeiter Turgot's, offiziell überbracht wurde •.
Alle diese Forderungen sind aus monarchisch gesinnten Kreisen hervorgegangen und haben in der öffentlichen Meinung das immer reger werdende Verlangen einer posi- tiven Anteilnahme des Volkes an der Regierung erzeugt,
* Vfifl. L. de Lom^nie, a. a. O., pp. 3 — 5, 116, 351 et saiv; W. Oncken, Das Zeitalter Friedrich des Großen, Bd. I, 18 ff.; H. Ripert, a. a. O., p. 68; de Lu^ay, Les assembl^es provinciales sous Lrouis XVI, 2-ifeme ^d. 1871, eh. VI.
"^ Vgl. Lom^nie, a. a. O., p. 125; Eocquain, LWprit r^volation- uaire avant la revolution, p. 285.
^ Besonders seine Considerations sur le gouvernement ancien et präsent de la Franke.
^ A. Wahl. Zur Vorgeschichte der französischen Revolution, 1905, Bd. I, p. 255.
Vi 'i
117
toiclit zum wenigsten unter Berufung auf die Verhältnisae ^m alten Frankreich. In diese Bewegung ist nun aucli Däer PhysiokratisniuB hineingezogen worden.
Schon die phys!okr;itisehen Pläne Mirabeau's sind " später in die von ihm gemeinschaftlich mit Quesnay ge- schriebene „Theorie de PimpSt" , allerdings in physlo- kratischer Modifizierung, aufgenommen worden. Freilich sind die Ständeversammlungen, wie sie Mirabeau in den fünfziger Jahren verlangt hatte, und die nach den physio- kratischen Prinzipien folgerichtig konstruierten „assembl^es
Provinciales'' Turgot's — zwei ganz verschiedene Dinge. Nichtig ist aber featzu 8 teilen, daß in der allgemeinen Frage ach der Anteilnahme des Volkes an der Regierung die leibenden Mäuhte der Zeit mit den konsequent aus dem 'hjsiokratismus gezogenen Sätzen zusammenfallen^". Das eigentliche Dokument der jetzt von uns zu schildernden zweiten Periode in der politischen Entwicklung der Physiokraten , ist der berühmte Turgot-Dupont'sche Munizipali täten entwurf, der von praktisch-politischer Be- deutung fllr die Zukunft auch außerhalb Frankreichs ge- worden ist". Eine theoretische Rechtfertigung der in diesem Entwurf enihnitenen Gedanken in dem oben von > angedeuteten, als Konsequenz aus den physiokra tischen Ausgangspunkten sich ergebenden Sinne rinden wir bei Uem Freunde Turgot's, dem Parlamentsherrn von OrMans, e-Trosne*'.
Dieser Physiokrat verteidigt schon ausdrücklich den l^edanken der aus den Grundeigentümern gebildeten „corps btermädtaires", die, ebenfalls ohne die Macht des Monarchen
" Aach der doktrinärste und am meisten vera|iotlele Phjaiokrtit
A-Hercier konnte dem Andrang der Zeit nicht nidereteben, und so
"* ' ' ihn in don Nouvcllc EphämSrideB ^conomiqoeB vom JAhra
foß. X< pp. 114—124 — davon sprechen, daß die Legi.ilative
„Corps politique" aelbut gehöre, wenn auch die best« H^ierongsform
r die monarchische bleibe.
" Darüber A. Wahl in den Aniuilen dts Deububen Beiclis, 1903, r Geschichta von TurgolV Muniiipalitätenenlwurf, S, 876.
" Hauptsächlicb im VI. Discoura »eine» Werkes „De l'ordre social".
118 VI 3
rechtlich einzuschränken, als Träger der öffeDtlichen Meinung die Garantien eines rechtmäßigen Staates bilden sollen. In einer derartigen Organisation der öffentlichen Meinung, sagt er, besteht eben die „Constitution'' eines Staates, auf- deren Notwendigkeit er im Anschluß an Turgot hinweist ^*.
Le-Trosne geht nicht mehr, wie Le-Mercier, von dem Gedanken der Unfehlbarkeit des Monarchen aus; er setzt gerade das Gegenteil voraus und sieht das Gegengewicht gegen dessen Willkür nicht mehr ausschließlich in den Gerichten , sondern eben in den „corps interm^diaires''. Nur Tyrannen, meint er, versagen dem Volke „tout con- cours ä la chose commune''; sie betrachten die Gewalt als ihr persönliches Eigentum: „ils n'ont garde de la communiquer k des corps permanents, encore moins de consulter la nation par des repr^sentants et de Tintäresser k la chose commune" ; sie verzichten auf den glorreichen Titel des ersten Bürgers im Staate.
Aber eine Nation, die ihren Wünschen und Bedürf- nissen keinen Ausdruck geben kann, fährt er fort, ähnelt einem Menschen, dem man das Sprechen verbietet und dem nichts mehr als seine Arme übrig bleiben, um das zu be- kunden und zu fordern, was er wünscht**.
Doch wollen wir uns die Grundzüge des Munizipalitäten- entwurfs näher vergegenwärtigen ^.
n.
Die einleitenden Ausftihrungen beginnen zuerst mit der Feststellung des Zwecks der vorgeschlagenen Reform. Dieser Zweck ist ein doppelter und ist durch die Miß- stände im französischen Staate gegeben, die ebenfalls auf zwei Grundübel zurückgeführt werden können und zwar: erstens, auf die durch den Mangel an „öffentlichem Geist" („esprit public") bedingte ständische Zerrissenheit und
>8 Le-Trosne, pp. 260/1, 276—278.
1* Ibidem, pp. 279—281.
" Turgot, Oeuvres, II, pp. 502—551.
VI 3
119
Spaltung, die den Staat seiner Einheitlichlieit beraubt und eine vom Zentrum herrührende allgemeine Leitung ver- eitelt; zweitens, auf das Beatreben der Regierung vom Zentrum aus alle ^dfStaita" der Verwaltung zu bestimmen, ein Mißstand, der in seinen schlechten Wirkungen durch die Unkenntnis der Lage mangels eines „voeu public" noch verstärkt wird. Es muß nun zur Gesundung dieser Ver- hältnisse, besonders des zweiten der angeführten Mißstände, eine Selbstverwaltung geschaffen werden, die in den Händen der „magiatrata naturels" (Mirabeau) sich befindet — „afin que la plupart des choaes se fassent d'ellea memea".
Es ist hier gleich zu bemerken, daß diese Worte im Munde Turgot's politisch keine Einschränkung der Prärogativeo der Staatsgewalt bedeuten; denn sie beziehen sich nur auf das Gebiet der Herrschaft der „loia physiques" in den Steuersachen, welche im Zusammenhang mit den öffentlichen Arbeiten, die Im Dienste der Landwirtschaft stehen, den eigentlichen Gegenstand der Lokal Verwaltung ausmachen aollen, also auf solche Dinge, die der Willkür der Staats- gewalt so wie so entzogen sind, und llber welche diese bei den Staatsuntertanen Auskunft suchen muß, um nach den „natürlichen Gesetzen" den Staat zu verwalten. Wie diese letzte Begründung deutlich zeigt, läuft die Rechtfertigung der Selbstverwaltung darauf hinaus, die Regierung im laufenden über die allgemeine Lage zu halten, denn um die Nation gut zu regieren ,il faudrart connaitro sa Situation, aes besoins, acs facultöa, et memo dans un assez grand detail'
So gehen wir unmittelbar zum anderen Zwecke des Turgot'achen Planes über, zur Stärkung der Regierung, zur Hebung ihrer Macht mit Hilfe der durch die organisierte Öffentliche Meinung geschaffenen Auakunfts Instanzen
" Dupont bnt Aber deu Zweck der Refnrm in seiner Ansgtibe dai Werke Turgot's noch liiusugefii^ : „donner nu chef äo la social^ um aatariti d'autaot plaa grande, i)Ub n'dWnl, ne pouvant etre qae bien- fniisate, il D'atirait jnmitis, oi motif, a\ int^rpt du U coDlestur" ; s. Turf^t, Oenvrei, id. Daire, U, p. 550.
120 VI 3
Denn die Aufgabe der geplanten assemblöes besteht nur darin, über die Zustände aufzuklären, und bei einem etwaigen Widerstand ihrerseits entscheidet der König eigenmächtig: „ces assembl^es municipales, depuis la premiere jusqu'ä la dernifere, ne seraient que des assemblöes municipales, et non point des Etats** — fügt dabei Turgot hinzu.
Diesen Grundsätzen gemäß soll auch eine Hierarchie der Selbstverwaltungskörper geschaffen werden. — Die niedrigste Einheit soll danach auf dem platten Lande die „assembl^e de village", in den Städten die „municipalitö" bilden. Aus den Deputierten, je einer von jeder assembl^e, wird die municipalit^ der nächsten Stufe, in den „arrondissements" (^lections, districts) zusammengesetzt. Aus diesen wieder kommen auf dieselbe Weise die „assemblöes provinciales*" zustande, und aus den letzteren schließlich die „grande municipalitö" , die „municipalit^ g^nörale du royaume^'*. So soll eine Stufenleiter von Verwaltungskörpern nach dem Vorbilde administrativer Instanzen entstehen, wo jedes Mit- glied nach den Instruktionen der Wähler vorzugehen hat. Es ist aber auch gestattet, die Deputierten einer höheren assemblöe (in den Distrikten und Provinzen) nicht bloß aus den Mitgliedern der niederen zu wählen, um somit auch außerhalb stehenden befähigten Männern Zutritt zu geben.
Als Organe der „assembl^es de village" und der Munizipalitäten in den Distrikten und Provinzen sind ein Präsident und ein Greffier angegeben, wobei in den größeren Städten dem Monarchen die Mitwirkung bei der Ernennung der „officiers municipaux" vorbehalten wird. Diese Organe bilden mit dem aus der betreffenden assembl^e gewählten Deputierten einen beständigen Ausschuß, um die Korre-
17 Turgot behält, wegen der noch bestehenden Verschiedenheit der Stäudeverhältnisse , die Standeunterschiede in seinem Entwurf bei; da- nach soll es dreierlei Gemeindeversammlungen geben: eine kleine nur für den dritten Stand, eine mittlere — für Entscheidungen in Steuer- sachen, die auch den Adel betreffen und eine große für Fälle, in denen alle Stände besteuert werden.
i'VI 3
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[' Bpondeuz zu führen, — „compulaer les registres et veiller leur conservation".
Difiten erhalten die Deputierten nur für eine ganz L kurze Zeit, Ihre Wahl soll jährlich erneuert werden. Die E Sessionen der assembl^es sind ebenfalls auf kurze Zeit , berechnet.
Was die ZusainmeDsetzung anbetrifft, bo haben in rein I physiokratischem Sinne nur diejenigen das aktive und I passive Wahlrecht, denen „phjsiquenient" die politische \ Vollberechtigung gebührt — also nur die Grundbesitzer. I. Damit aber die Versammlungen nicht zu groß werden, soll paur derjenige eine ganze Stimme erhalten, der ein Ein- kommen von GOO Livree aus dem Grundbesitz bezieht. Die kleineren Einkommen dürfen aich behufs Erlangung einer Stimme zusammentun und einen in der aaaemblöe Stimmberechtigten aus ihrer Mitte withleu. In den Städten j werden den Grundbesitzern die Haushesitzer gleichgestellt, I aber nur nach Maßgabe des Kapitalwertes des Bodens, auf [dem das Haus gebaut ist, und zwar ist der Besitzer eines I Grundstückes im Werte von 15000 Li vres stimmberechtigt. L Bezieher größerer Einkommen haben auch mehr Stimmen; sind aber einige Maßnahmen gegen Majorisierung vor- ^esehen.
Die Befugnisse der assembläes beziehen sieb:
1. auf die Steuerveranlagung: in den niedrigsten Stufen auf die Verteilung der aufzubringenden Steuern auf die Individuen, in den höheren — auf die unter- geordneten Verwaltungscinheiten '";
2. auf die öffentlichen Arbeiten und das kommunale Verkehrswesen ;
3. auf die Armenpolizei;
4. auf die Beziehungen zu den gleichen und höheren Verwaltungseinheiten ;
^ Den nssemlileea ist es ancli gestattet für koiumnaale Zwecke Oeld («nfxiibringen: »ie mQaaen aber dnrOber den hSheren HMemblfe» Rechon- " "laft «bl^eii.
122
VIS
5. auf die all mäli liehe Aufatellung eines Kataalers (terrier g^iiöral).
Von dem dritten Punkte ist bei den höheren assembl^ea nicht die Hede. Im Hinblick auf den zweiten Punkt haben die höheren Braunicipalitös" die von den unteren angenommenen und den ganzen Distrikt betreffenden Vorschlilge zu prüfen und darüber zu entscheiden, sowie Raklaraationen entgegen- zunehmen und Beiträge bei etwaigen „granda accidents physiques" oder größeren öffentlichen Arbeiten zu leisten. Schließlieh ist die Aufgabe der „grande muuicipalitä", den vom König verlangten SteiieraoU unter den Provinzen zu verteilen und über die von der Regierung vorgeschlagenen „travaux publics" zu beraten und BoschlUase zu fassen. Ein- tritt und Recht zur Teilnahme an den Debatten in der „muni- cipalitä du royaume" haben auch die Minister des Königs.
Wenn wir nun die im Munizipali tätenentwurf nieder- gelegten Ideen unter einem Gesichtspunkt zusammenfassen wollen, so tritt uns hier hauptsächlich der Gedanke der Notwendigkeit einer starken Staatsgewalt vor Augen, die, ganz im physiok ratischen Sinne, kraft ihrer Autorität die Gesellschaft aus dem „ordre de d^pravation" in den ^ordre naturel" hinüberzufuhren berufen sein soll. Von diesem Ge- danken war sowohl der Gründer der Physiokratie Quesnay, wi« sein genialer Schüler und praktischer Befürworter der Doktrin, Turgot, beseelt; wir finden ihn also In den eben skizzierten Reformplänen wieder. Die Volksvertreter bekunden nur die Meinung des Volkes und klären die Regierung über den Zustand der Dinge auf; das Entscheiden und Handeln im Namen des Staates gehört aber nur der letzteren. Ist jetzt die Regierung ohnmächtig, weil sie die Verhältnisse im Lande nicht kennt, und weil sie in der „räunion des volont^s" keine genügende Stütze finden kann, so muß sie nun mit Hilfe der Volksvertreter als Organen der öffent- lichen Meinung gestärkt werden, um die Macht in ihren Händen zu konzentrieren. Der „r^union des volontäs" soll durch die politische Erziehung der Bürger eine bestimmte
h
Richtung gegeben werden, um die Bürger an politischen Dingen zu interessieren und in ihnen das Bewußtsein der Wohltätigkeit einer aufgeklärten Regierung zu erwecken, damit aie diese in ihrem reformatorischen Vorhaben unter- stützen. Zu diesem Zweck wird die Organisation der „Instruction nationale" vorgeschlagen, die unter der obersten Leitung eines ^conseil"' sich befinden soll. Dazu soll auch die geplante Verwaltungare form dienen, um bei den Bürgern das Bewußtsein einer Harmonie zwischen den privaten und öffentlichen Interessen zu schaffen, und aus ihnen die Staatsgewalt unterstützende, nicht dieser feindlich gesinnte Elemente zu bilden '".
Wie wenig es Turgot daran lag, aus den Volks- 'ertretern eine die Staatsgewalt einschränkende und etwa lie gesetzgebende Gewalt handhabende Macht zu schaffen, möge auch das beweisen, daß er die zur Anteilnahme an der Regierung berufenen Bürger als bloße Teile einer großen Verwaltungamaschine betrachtete; denn sie sollten sich nicht mit allgemeinen politischen Fragen beschäftigen, sondern nur für die enge Sphäre ihrer eigenen lokalen Bedürfnisse , die sie öffentlich zu vertreten haben, Sorge tragen, damit ihre partikularen Interessen ein Teil dea allgenieinen Interesses werden , weil dieses nach der mechanistiscEien Auffassung nur die Summe jener darstellt: „Le premier principe de la mnnicipalitd pour les villoa est le meme que pour les campagnes. C'est que personne ne ae mele que de ce qui l'intt^resse et de t'administration de sa propriet^ *"■'. Daher haben auch die vorgeschlagenen indirekten Wahlen nur den Sinn, daß die Deputierten in jeder assembläe bis zur „municipnlitö g^näralc" hinauf nicht das ganze Volk, sondern bloß jeder seine lokalen Interessen zu vertreten hat Daher sind auch die Mandate weaent-
» Tnrgot. U, pp. 506 -50tt, 549.
124 VI 3
lieh imperativen Charakters*^. Die ganze Vertretung war also nur als eine Interessenvertretung geplant.
So ist der Physiokratismus im Munizipalitätenentwurf sich selbst treu geblieben : die zentrale Gewalt teilt nicht mit dem Volke ihre Befugnisse; die Volksvertreter sind bloße Organe der Selbstverwaltung, die ihrerseits die zentrale Gewalt noch stärken sollen.
Und doch enthält der Turgot'sche Plan ein gutes Stück revolutionärer Gedanken, und das war im letzten Grunde, sowohl der Gedanke der Berufung der Volksvertreter zur Anteilnahme an der Regierung, als ganz besonders die Art, in der das geschehen sollte. Mag auch der König ein Jahrzehnt später sich gezwungen gesehen haben, vieles aus dem Plane Turgot's zu verwirklichen, so mußte in der Mitte der siebziger Jahre dieser Plan noch als ganz unannehmbar erscheinen**. Und gerade der Mangel näherer Bestimmungen über die neu zu schaflFenden Institutionen und über ihre Beziehungen zu den bestehenden Staats- einrichtungen, sowie die ganze Art des Vortrags in der berühmten Denkschrift heben deutlich hervor, daß es dem Verfasser nicht auf eine bloße Reform der Verwaltung, sondern auf eine, wenn auch nur allmählich durchgeführte Umwälzung der Staatsverfassung im demokratischen Sinne
^^ Sehr deutlich spricht sich für imperative Mandate und gegen das englische System Dupont aus, s. Briefwechsel des Markgrafen Karl Friedrich, II, S. 226, 229/30.
22 Ob Ludwig XVI. den Munizipalitätenentwurf je gelesen hat, ist noch nicht entschieden; zurzeit bleibt nur mit Dupont anzunehmen, dafi das nicht der Fall war. Die ganze Frage ist wegen der von Soulavie (Mömoires historiques et politiques du rfegne de Louis XVI, t. III) mit- geteilten ßandberaerkungen des Königs zur Denkschrift angeworfen worden. Die Brüder Oncken haben trotz des von Soulavie angegebenen Datums (das Jahr 1788) angenommen, daß Ludwig XVI. die Denkschrift schon in den 70-er Jahren gelesen hat und deswegen gegen Turgot ver- stimmt wurde, was zur Demission des Ministers führte. A. Wahl hat da- gegen zu beweisen versucht (in den Annalen des Deutschen Reichs, 1903), daß der König die Denkschrift erst in einer Ausgabe des Qrafen Mirabean vom Jahre 1787 gelesen und darauf seine Anmerkungen gemacht hat. Neuerdings wird aber in der Historischen Zeitschrift (Bd. 9o, Ologan, Turgot's Sturz) ausgeführt, daß die Randbemerkungen überhaupt eine Fälschung sind.
VI 3
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l«iikaiti. Denn bestand auch die Absicht, die zentrale I Staatsgewalt durch die Reform zu stJlrkeii, ao wurde dennocli ftdem absoluten Monarchen als solchen durch die r "Vorschläge ein starker Schlag versetzt^". Bleibt also der Munizipalitätenentwurf von dem ursprünglich physio- kratischen Gedanken durchdrungen, daß eine starke, po- litisch alles beherrschende Staatsgewalt notwendig ist, so tritt jetzt noch ein zweiter Gedanke hervor, der zwar eben- falls in der 'Jihysiokra tischen Lehre begründet ist, aber erst in der zweiten Periode ihrer Entwicklung zu ent- scheidender Bedeutung gelangt: der Gedanke von der Not- wendigkeit, Volksvertreter zur Anteilnahme an der Regierung , SU berufen. Die vom aufgeklärten Absolutismus ererbte I Idee einer starken Staatsgewalt wird hierdurch d e m o ■ rfcratisiert. Eine sehr bezeichnende Erscheinung zur ■'Charakteristik der politischen Geschichte Frankreichs, wie sie sich auch nach der Revolution entwickelt hat!
Betrachten wir aber den Munizipali tiltenentwurf als
öanzes, so bleibt doch in uns das Gefühl zurück, daß die beiden
I ihm enthaltenen Hauptgedanken in Wirklichkeit zu einer
inneren Einheit sich doch nicht zusammengeschlossen haben.
Das, was wir uns jetzt dank unserer größeren politischen
" Einen gsni aoJerBn Chamkler tragt der dein Turgot'arliea Plnno oschgaLildete Versuch Le-Trnsne'a — De l'iuiiiiinistratiun provinoialii et ds la ritbrme de Tirapöt, t I, livra V — . wenn auiih bei diesem den neu ■u ichaffendea Institutionen weitgehende ßefugnisae einer ausfübreiiden und baapbäcblicb kontrollierendon Gewalt genäbrt sind. Denn tritt in Tnrgot's Entwurf, dnuk den knappen und unbestinioiten Aiulülirnngen Aber die Angaben der asiembläci) nnd ihre EinfOgung in die besteheade VerwaltangBrnascIiine, haaplaäcblich der Gedanke der Notwendigkeit ainer Organiaation des „vueu public" hervor, eo zielen Le-Trosne'B Pläne aas- gIMproohen auf eine bloße Reform der Verwaltung, man kQnnte lagen — ■nf die Schaffung: einus au<i Valkswahlen herrorgeh enden Beamtenstaudes hin. Dieaen Charakter verleiht dem Plane LiB-Tronue's neben einer Bcbärieren Betonung des „bon plaisir du roi" und einer sehr undcmukra- tiicheu Einengung dea Kreises der pasair Wahlberechtigten in ileu höheren Terwaltuagseinheiten (durch einen immer steigenden Zensut) hauptsncb- lich der Umstand, daß er den Schwerpunkt der gaiuien Koform von den Provinzial- nnd DistriktaverBammliiogen auf die «üb lebenslänglich gewAhlten Mitgliedern bcEtebondcn „conseils" überträgt, denen fast die ganie Verwaltung lugsteUt weiden «oll,
126 VI 3
Erfahrung leicht denken können: eine starke Regierangs- gewalt einerseits und eine weitgehende Liberalität in bezug auf die politische Betätigung der Staatsuntertanen anderer- seits, — dafür mangelte es dem 18. Jahrhundert an Ver- ständnis. Versuche einer ähnlichen Vereinigung mußten in praxi zu Kollisionen führen, und auch im Geiste der sie vertretenden Politiker konnte sie sich nicht zu einer wahren Einheit gestalten. Denn die „starke Regierung" trug in ]enen Tagen noch den Abglanz und lebte noch zu sehr von den Traditionen der absoluten Monarchie, — und was man sich dabei vom „freien Individuum" dachte, das triflFt nicht ganz mit der modernen Idee der politischen Freiheit zusammen, wie wir es schon früher erörtert haben. Gerade in bezug auf diesen letzten Punkt war das 18. Jahrhundert noch politisch unreif genug, um den Gedanken einer freien eigenmächtigen Persönlichkeit, die zu gleicher Zeit politisch gebunden ist, vertreten zu können : denn für dieses so stark politisierende Zeitalter blieb die Freiheitsidee im letzten Grunde vielleicht doch eine außerpolitische, und die Bedeutung der Frei- heit vom Staate konnte daher wegen Mangel an politischer Erfahrung, in ihrer ganzen Tragweite noch gar nicht ge- würdigt werden **. Sobald aber das Bestreben wach wurde die Freiheit nicht nur in der Idee zu vertreten, sondern sie auch zu verwirklichen — mag es auch anfänglich nur in der Form der ökonomischen Freiheit mit allen daraus sich ergebenden Konsequenzen geschehen sein — , so mußte die anfänglich einheitliche Auffassung des 18. Jahrhunderts sich zersetzen.
^ Wenn Locke als der erste Theoretiker des modernen Liberalis- mus betrachtet wird, so geschieht das mit Recht nur aus dem Grunde, weil er ein Interpret von politischen Verhältnissen in seinem Lande war, die sich historisch ganz anders entwickelt haben als auf dem Kontinente, und weil er den Liberalismus nach einer glücklich durchgeführten Revolu- tion zu vertreten hatte. Mag auch die naturrechtliche Begründung der Freiheit bei den kontinentalen Schriftstellern keine andere gewesen sein, als bei Locke, so mangelte ihnen dennoch jener Sinn für die politische Frei- heit, die der Engländer schon besaß: erst während und nach der großen Revolution ist auch auf dem Kontinent in diesen Vorstellungen ein Um- schwung eingetreten.
127
Daher fehlt auch dem Munizipali tätenentwurf die innere, organische Vereinigung zwischen den beiden in ihm enthaltenen Gedanken — dem einer starken Regierungs- gewalt und demjenigen der politischen Freiheit im Sinne ■ Abachüttelung der gouvernementalen Bevormundung. j5o ist Turgot, im Herzen der glühendste Befürworter der IVeiheit im weitesten Sinne des Wortes, zu gleicher Zeit mn ausgesprochener Vertreter einer im Namen des Volks- pückfi absolutistisch regierenden Staatsgewalt gewesen^". Beim näheren Zusehen werden wir hier wieder die Folgen jener Kollision zwischen der alten Staatsidee und den nach Verwirklichung ringenden freiheitlichen Bestrebungen er- kennen, die wir schon einmal festzustellen hatten, als wir [bei den Physiok raten die Frage nach dem Verhältnis wischen Staat und Individuum anders beantwortet vor- jefunden haben, als diejenige nach dem Verhältnis zwischen ptaat und Wirtschaft.
III.
Es ist in der Literatur darauf hingewiesen worden, IaQ es auch Quesnay und sogar Mirabeau hauptsächlich tar auf eine starke Regierungsgewalt ankam, und daß 3tnen an der monarchischen Form wenig lag^^. Wenn Biese Annahme vom Standpunkte der naturrechtlichen Brundlagen des PhysiokratismuB eich auch rei-htfertigen lät, so muß doch dem gegentiher entschieden hervorgehoben Irerden, daß alle Phjsiokraten monarchisch gesinnt waren; EVm Quesnay und Mirabeau anbetrifft, jeder verschieden, nach der Art seines Temperaments und seiner sozialen Stellung.
Die rein politische Abachwächung des monarchischen ßedankens ist aber nur bei Turgot zu konstatieren, wenn
Bemerkiingen, Oeuvres, VIH,
• Vgl, über Turgot Tocqi pp. 152—168.
" Kellner, Studien Kur Gesehichte der Ph^siokrntii 8. 60; H. Ripert, o. a. O., p. S95.
128 VI 3
auch er in seiner Jugend ähnlicher Gesinnung, wie die übrigen Physiokraten gewesen sein mag*"^. Wegen der späteren Wandlung dieser Gesinnung nimmt er aber inner- halb der Physiokratie eine besondere Stellung ein, die ihn schließlich über die Grenzen des eigentlichen Physio- kratismus hinausführt.
Daß Turgot für Frankreich unter den bestehenden Verhältnissen einen glücklichen Ausweg nur von der Stärkung des Königtums erwartet hat, dürfte wohl keinem Zweifel unterliegen. Eine prinzipielle, allgemeine Recht- fertigung der Monarchie werden wir aber bei ihm dennoch ver- gebens suchen. Dagegen weisen manche seiner Äußerungen auf die Anerkennung der Idee einer Volksregierung hin.
So ist vor allem das Interesse und das Wohlwollen hervorzuheben, das er für die neuentstehenden amerikanischen Demokratien zeigte, wenn er auch die Rezeption der eng- lischen Verfassung, die ihm, wie allen Physiokraten eine „Constitution orageuse" war, getadelt hat. In seinem Briefe an Price vom Jahre 1778 lernen wir Turgot als aus- gesprochenen Anhänger der freien Demokratien kennen. Er fühlt, daß diese seine Anschauungen mit denen, die er als Minister für Frankreich vertreten hat, nicht harmonieren und bittet deshalb seinen englischen Freund den Inhalt des Briefes nicht bekannt zu geben ^®. In einem anderen Briefe, an Dupont, hat er noch schärfer seiner Anschauung Aus- druck gegeben, indem er gelegentlich sagt: „je ne suis pas ^conomiste, parce que je ne veux pas un roi" ^®.
Aber noch wichtiger erscheint uns zur Charakterisierung der politischen Überzeugungen Turgot's die Tatsache der Einführung einer „municipalit^ g^n^rale du royaume" in seinen Reformplan. Darin kommt das verhüllte Verlangen eines Mannes zum Ausdruck, der sich für die neuen
'"^ Vgl. M^moires de Mme. du Hausset, p. 163 (enthält einen Aus- zug aus einer Rede Turgot's).
'^8 Turgot, ir, pp. 805—811.
*® Mitgeteilt von L. de Lomänie, a. a. O. p. 416.
rvi 3
129
I
amerikaDi'sclien Demokratien zu begeistern wußte, — das Verlangen, durch die Konzentrieninyder Volksinteresaen in einer aus Wahlen hervorgegangenen Institution, auch in seinem Vaterlande die künftige Volkaregierung vorzu- bereiten. Das war ein neuer, wahrhaft revolutionärer Gedanke.
Denn die Publizisten, die in dem öffentlichen Bewußt- sein die Erinnerung an die allen Provinziabtände er- weckten und durch deren Umgestaltung in Provinzial- versammlungen der alten Monarchie neues „republikanisches" Blut^" zuführen wollten, wie Mirabeau und d'Argenaon, haben sich deutlich gegen alles ausgesprochen, was an eine derartige ,municipaht6 gön^rale" erinnern könnte, weil sie nicht ohne Grund fürchteten, daß eben dadurch die monarchi- sche Gewalt beeintrUchtigt werden müßte*'; Turgot dagegen, wie wir sehen , hat die Einführung einer „municipalit«^ g^n^rale" direkt befürwortet.
Wenn er auch vieles fVlr seinen Plan, wie Adalbert Wahl nachzuweisen gesucht hat, d'Argenson entlehnt liat^', so war doch der Gedanke einer zentralen Munizi-
'* Die AuBdrBoke — republikaniacli, Republik, Demukrstie und der- gleichen wurden im Sinne von Selbstvarwnltung gebrancht. So epriclit "Argenson, ». a. O, , p. 133, von ainor „viriuble dämocrfttie au milieu I I& monkrchie". Und Mirabeau schreibt in einem Briefe an Longo ' vom 5. Sept. 1775 (in den schon i^tierten Memoiren); „11 est impoB.iible
^tie In r^publiqiie gouverne jamaiB bien mais eile consulte tr^s
bien pour un chef abtolu".
'' D'Ai^eDijon, a. n. O. pp. 24/5; Mirabeau, Lettrea sur la Ifgislatioti, im Briefe vom 29. Nov. 1767.
" A. Wahl in den Annalen des Deutschen Reichs, S. S70/I. — Dali der d'Ar^nson'ache Flau in seiner ersten F'nsaung (nach der Niederschrifl vom Jahre 17^7 und nach der gedrackten Auflag vom Jahre 1767) von besonderer Bedeutung fftr Turgot s Denkschrift war, ist nicht anzunehmen ; denn vraa d'Argengon bicr vorschlägt, sind keins Oemeindeversammlangen. «oodem nur ein neuer Modus der Beaetzung der GemKindeämter dnrcli Mitwirkung der Gemeindemitglieder, die Eaudldnltm zu wählen haben, KUB deren Mitte der KOnigliche Beamte nach eigenem Ermeaaen die Er- nennnng vollzieht; vgl. d'Arganaon's Plan a. a. O., p. 17(1 et »uiv., passim, besonders Art. 1, 37 tmd 39, — Anders scbciul ea mit der zweiten Auf- iMge bestellt zu lein (una liegt die vom Jahr« 1787 vor). Hier haben wir es achon mit dem Qedanhen der eigentlichen asaemUlfea zu tun. Hauptsächlich kommt es dem Verfasser auf eine Btofenartig durchgeführte vnlkBrrBcbtl. Abhaodi. VI H. - aantibtrs. 9
130
VI a1
palität ein vüUig selbständiger, Mirabeau, der im Jahre 1787 die EinfttliruDg der „assembl^es provinciales'" begrüßt und sich sogar als ihren geistigen Vater bezeichnet hat, ist in den siebziger Jahren Turgot gegenüber feindlich aufgetreten, weil er ihm zu republikanisch war*'*. Dieser Republikanismus Turgot's, der in verhüllter Form in dem Vorschlag einer „municipalitd gön^rale" zum Ausdruck kommt, war in den eingeweihten gesellachaftlichen Kreisen wohl bekannt, und der königstreue Mirabeau hat sich nicht ohne Grund gegen diese „republikanischen" Tendenzen gestrHubt^'.
Es ist daher anzunehmen, daß Turgot trotz seiner Versicherungen über die Untastbarkeit der monarchischen Gewalt, wie er ea auch in einer oftizielleu Denkschrift nicht anders tun konnte, bei seinem Verlangen nach einer starken Regierung den Monareben dennoch allmählich ein- schränken wollte, um den Boden für eine Staatsfonn zu schaffen, die ihm vielleicht auch prinzipiell als die beste erschien — und diese konnte die nubeschränkte monarchische nicht sein**.
noi mit oniüprecheDiIcii gewählten Beamten versehene DeEOnb'BliMfion au, tlber den Modus der Beamtenwnbl, der jn den Schweq>iuikt der ersten Auflage bildet, Enden wir in der zweiten nielit« mehr- Die M- sembläes Hotlea aus Beamten. Vertretern des OroBgrundbecitzes und vfi-nigcQ Vertretern der Bärgerachsfl ansammengeBetzt werden. Die »d- miniBtratiTen Funktionen sind den BeNmten iiigedacht. Die usemblfiM sind nur SteaerveranUgungskommisaionen, die in bestimmten Fälleii fdl stAsdige Vorschläge machen und die motivierten, die Prorinz betreffe Beform vorschlage der Regi eräug anhSren Itönnen. ~ Im allgein unterscheiden sich die Plfine d'Argenson's von demjenigen Mirabeau' durch, daß sie „modemeT" und durch Rezeptionen aus der hoUSndil Verfassang, die für viele freie Geister jener Tage mustei^ltift fruchlel sind. Was die Beziehung der d'Argpusou'schen Pläne KU dwl- jptiigen Turgot'a betrifft, so ist eine lieeinSussung hier keinetMll n leugnen, wenn auch bemerkt werden mall, daß den ersleien der demckni- tiscbe Zag und der umwälzende Geist des Munizipalitätenentwnrb fei'
•» Vgl. L. de LomÄQie, pp. laO, 412/3.
'* Üo schreibt Turcot an Hume über Gonssean's Coutrat Hocia]: 1a värit^, ce livre se reduit ii In distinction pi'^clse du souveraia et gouventenient ; mais cette distiuction präsente une v^ril^ bien lumini et qui me parait fiier i janiaU Ics idiSes sur l'iualiioabilite de ta veraiuetS du peuple dans queli]Ue gonveruement que ce sait." of eminent persons addrcssed to D, Hume, p. 152.
^' A. Wahl, der besonders stark die monarchischen uod seatrali
Von diesem Standpunkt aus stellt sich auch Con- dorcet's Darstellung der politischen Ansichten Turgot's, die man gewöhnlich mehr als den Ausdruck der persön- lichen Gesinnung des Autors auffaßt, in ganz anderem Lichte dar. Die oben angeführten, nicht von Condorcet herrührenden Argumente berechtigen also vielleicht zur Annahme, daßTurgot's pri n zi p i eile politische Ansichten, auf die es uns ja hier hauptsächlich ankommt, und über die er, der praktische Politiker, der sich den Verhältnissen doch anzupassen wußte, fast gar nicht oder nur gelegent- lich sehr knapp sich ge&ußert hat, — daß diese seine Ansichten vom Verfasser der „Vie de Turgot" , seinem intimsten Freunde, treu wiedergegeben worden sind^". Und dae um so mehr, als zu Beginn der achtziger Jahre,
(ibidem , pp.
de droit de pntem
Beben Teadeazen TorROt'« im MunicipMlitStenentwarf betont, weist im Gegensatz dazu auf Mirsbeau hin, der für seine Etats prorinciaux di» Steuerbewilligiingsrecbl verlangte, was natb Taryot's Plan nicht der Fall sein snilte. Dennoi^b ist es u. E. Mirabcnu, der in den alten Vorstellnngen einer unbescii rankten Monarchie sich bewe^ nicht Turgot.
Wenn Mirabeau aucb ausdrücklich vom „conaentement dn peuple' •pricht (Tli^orie de l'impat, pp. 157/3), an will er damit nur auf die ob- jektiv-ron den „natörliehen" Gesetoen der lienteuBTUng gegebenen Grenien der KdnigBgewalt hiowciaen, aber keine Reclitsanaprücbe des Volkes gegen '' B bEgründen, was gegen alle Gesetze „der Menscbheit und des Staats" . 173/4) wäre ; „Quand je parle ici da droit vis-A-»is roon ' s'agit pna de droit jiiridique, de droit t^gsl, mais , de droit uui n'impüqae pas ooutradiction avec 1 de la äouverainel^" (ibidem, p. 41S). — Daß Turgot's verhallte Absichten andere waren, haben wir schon im Text lu zeigen versucht, aber eine leise Andeutung Snden wir in bezog anf das Ile- ■teneningsrecht auch im Munizipalitätenentwnrf: da haiBt es nämlich (Turgot, II, p. 54ß), daß, wenn der jetzige Plan gelingen sollte, auch das möglieh iein wird „qui a pani chimärique jusqu' i prSsent" , und Kwar „qne le revenu public urdinaire, ätant une portion d^terniinfe des rcvenns particuliera , s'accrüt avec cux pur lee goins d'une bouno admiiiistratiou, on diminoSt avec eni si le royaome devenail mal goavem^". Zar Ans- fQbmng der hier gemeinten rein pbfsiok ratischen Forderui^ wird es natürlich nicht mehr genflgen, wenn die Itegierang „ferait declarer par Bon miniatr« des Gnanccs, lea aommea dont celle nvait besoin". wie es nach den vorläufigen Vorschlägen des Entwurfes sein aoll. Vgl. auch P, Foncin, Bssaj sur le minintire de Turgot, Parin, 1677, über Turgot's politische Ansichton, p. 551.
" Condorcet. Vie de Turgot (Oeuvres, V), pp. 120 et suiv. j vgl. Ober Turgot und Condorcet die Bemerkungen St. Ueuve's, Caaseriea du tundi, S-iAme iA^ t Ul, pp. 340-344.
13:
VI i
wo das Buch geschrieben wurde, ihr Autor noch nicht extrem republikanisch gesinnt war, als die im Buche ent- haltenen Gedanken von einem sehr mäßigen Geiste ge- tragen sind, ala ea noch ein starkes Gepräge des Physio- kratiamus sogar in politischer Hinsicht zum Vorschein kommen läBt, und als ea schließlich in bezug auf Frank- reich ausgesprochen königstreu ist*'.
Ist nun also anzunehmen , daß Targot mit seinen endgültigen politischen Überzeugungen aus dem Rahmen der Phjsiokratie heraustritt, so kann doch andererseits nicht stark genug betont werden, daß seine Anschauungen eine Weiterentwicklung der Ausgangspunkte des Physio- kratismua waren, eine Weiterentwicklung, die aus ihrer ursprünglichen Quelle die wichtigsten £leniente beibehalteD hat, und zwar: die Forderung einer starken, die Gesell- schaft zum „ordre naturel" führenden Staatsgewalt, die Ab- neigung gegen die englische konstitutionelle Eompromißform unter dem Zeichen eines unbiegaamen natorrechtlicben Rationalismus, die Hervorhebung der politischen Bedeutung einer aufgeklärten öffentlichen Meinung und die Be- schränkung der politischen Rechte auf die Eigentümer (Grundbesitzer). —
Finden wir nun, daß die Sonderstellung Turgot's darin besteht, daß seine politischen Anaichten über diejenigen der anderen Pbysiokraten hinausgreifen, so können wir noch die Frage aufwerfen, ob ein anderer aus dem Chorus der Ökonomisten, der Marquis Mirabeau, politisch auch wirklich bis zu jenen von Quesnay und Turgot vertretenen Anaichten emporgewachsen ist, wonach vor allen Dingen eine starke zentrale Gewalt notwendig ist. Zweifel über den „Ami des honunes" könnten wegen seiner in der Jugend gehegten separat! etischen Hoffnungen und seiner in den ersten Schriften (im „Memoire sur las ötata provinciaux" und im „Ami des hommes") auch noch später zum Vor-
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lebein kommenden Bekämpfung einer ailzu zentralisierenden Und nivellierenden Staatsgewalt bestehen, Eb ließen sich Tielleicht auch in der Verteidigung der ^ Etats prorinciaux' Nachklänge dieser Stimmung vernehmen. Etwas Positives dafür oder dagegen läßt sich aber doch aus seinen schwülstigen Schriftbn nicht anführen. Das Überall durchbrechende Temperament macht es unmöglich, die politischen An- schauungen Mirabeau's in klaren Umrissen zu kennzeichnen. Die beste Charakteristik bleibt daher auch hier das Wort Tocqueville's : ^un esprit Ködal envahi des id^es ■^imocfatiquea" ", Dennoch kann man sich dem Eindrucke Weht entziehen, daß die extreme Propagierung des Laissez feire-Prinzips bei Mirabeau eine innere Genugtuung zum Vorschein kommen läßt über die Möglichkeit, auf Grund der „neuen Wissenschaft" alten Gedanken nachgehen zu können und der zentralen Staatsgewalt womöglich viel zu entreiäen. Was uns aber trotzdem berechtigt, ohne Rilck- «icht auf die persönliche Stimmung Mirabeau's, ihn auch politisch unter die Physiokraten einzureihen , ist einer- ;aeits die konsequente Verteidigung der Monarchie, die oft die Form der rücksichtslosen Übergewalt des Staates über das Individuum , das diesem gegenüber keine Rechts- ansprüche hat, annimmt ^ und andererseits die durch Unabliängigkeitsreminiszenzen gestärkte Forderung eines „compte ouvert" zwischen Volk und König, die den demo- kratischen Einschlag der feudalen Gesinnung dieses jeden- falls ungewöhnlichen Mannes bildet.
Fassen wir alles bisher Gesagte zusammen , so ergibt Knch uns als Schlußfolgerung vor allen Dingen, daß die Physiokratie kein stabiles politisches System ausgebildet nicht wegen der Verschiedenheit der Gesinnung
" Tocquorille, OeuvrM, VIII, p. IM.
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einzelner Physiokraten, sondern wegen der Wandlungen, die sie im Laufe ihrer Blütezeit mit der rasch dahinflutenden revolutionären geistigen Bewegung durchgemacht hat Stabil war sie nur bei ihrem ersten Auftreten ; hier hat sie sich aber auf rein naturrechtliche Sätze beschränkt, die eine faßbare politische Gestalt erst mit der allmählichen Radikalisierung angenommen hat.
Doch ist der feste Kern, den der Physiokratismus von Anfang an bis zu den ihn überragenden Anschauungen Turgot's behält, die Forderung einer starken Staats- gewalt unter dem Zeichen eines sehr ideal aufgefaßten Staatszwecks mit zweifellosen, anfänglich verhüllten, aber allmählich sich offenbarenden demokratischen Tendenzen.
Achtes Kapitel.
»
Überblicken wir die Gesamtheit der Bozialen und poli- ^chen Ideen der Physiokraten, um über ihre Bedeutung ■ein historischoa Urteil zu gewinnen, so wird sich die Not- wendigkeit ergeben hierbei zweierlei zu unterscheiden. — Es wird das Urteil über die Bedeutung der Physiokraten für die Wissenschaft von der Gesellschaft und der Stellung des Menschen in ihr von einer anderen Frage geschieden werden müssen — und zwar: von der Frage nach ihrer Stellung zu den politischen Ström ungen ihrer Tage und nach ihrem Zusammenhang mit den späteren großen poli tischen Ereignissen. Die Beantwortung der ersten dieser ■Fragen steht in enger Verbindung mit den Erörterungen ttber die Grundlagen des Pliysiokratiamus.
Wir haben rn den ersten Kapiteln zu beweisen ver- sucht, daß die vermittelnde Stellung, die Quesnay in seinen philosophischen Grundlagen zwischen Malebranche und Locke einnimmt, und die im wesentlichen auch Turgot kennzeichnet, ihren Stempel der ganzen physlokratischen Doktrin aufdruckt. Wir wollen nun einiges aus dem schon Behandelten rekapitulieren.
Fern von der alten kartcstschen Metaphysik, hat sich der Physiokratismua, wie wir gesehen haben, die englische empirisliache Philosophie zu eigen gemacht, ist aber bis zu den Konsec^uenzen des Condillacismus nicht gelangt; er hat diesen im Gegenteil sogar bekämpft. Daher steht er auch lern G^ei8te der EnzykiopHdisten feindlich gegenüber. Er it in der Enzykioptldie die materialistische Zuspitzung, den
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Atheismus und die egoistische Moral bekämpft. Mag auch das, was er dem entgegengestellt hat, nicht völlig klar ge- wesen sein, jedenfalls ist ein innerer Protest festzustellen, ein Protest, der nur durch die philosophische Schulung im kartesischen Geiste zu erklären ist, durch die unaustilgbare Wirkung, die dieser Geist, angesichts der Einseitigkeiten des englischen Empirismus und seiner materialistisch ge- färbten Moral- und Sozialphilosophie, auch auf kritisch ge- stimmte Denker, wie es Quesnay und Turgot waren, aus- geübt iiat. Besonders deutlich ist dieser Zusammenhang mit der älteren Weltanschauung in Quesnay's philosophi- schen Schriften zu erkennen. Im allgemeinen läßt sich aber das Charakteristische in der philosophischen Position der Physiokratie nur niehr negativ, mehr als Gegensatz zur Enzyklopädie, als positiv kennzeichnen. Man könnte daher auf den ganzen Physiokratismus ein Wort anwenden, das Turgot in einem Briefe an Öuponi — im Zusammenhang mit einem schon erwähnten ähnlich klingenden Satze* — auf sich bezogen hat; „Je ne suis pas encyclop^diste, parce que je crois ä Dieü". In diesen Worten lag fiir jene Zeit ein ganzes Programm.
Bei der Darstellung der Grundlagen der physiokrati- schen Sozialphilosophie haben wir dann zu zeigen versucht, wie diese ihre Stellungnahme deutlich in dem Bemühen zum Ausdruck kommt in menschlichen t)ingen das notwendig sich Vollziehende und vom Willen Unabhängige mit der freien vernünftigen Tat zu vereinigen. So konnten die Physiokraten von der Naturnotwendigkeit der iGiesellschaft einerseits und von der freien vernünftigen Regulierung des sozialen Lebens andererseits sprechen; so haben sie den BegriflF der sozialen „loi pliysique" atifgestellt, die weder mit aem reinen Naturgesetz noch mit dem Begriff der Norm im Sinne eines naturrecnÜichen Gesetzes völlig zu- sammenfällt; so haben sie die „idie absolue" des Rechts
' Kapitel VII dieser Schrift, Anmerkung 29.
von der „idi5e relative" untorscliiedeii , und achließlicli in der Methode Beobachtung und Tatsachen verlangt, und doch hervorgehoben, daß man in den „sciences socialea et politiquea" nicht von einzelnen Tatsachen, wie in den Natur- wisaenachaften , sondern von allgemeinen Prinzipien auszu- gehen hat. Mag auch der Versuch, diese beiden ver- schiedenen Elemente zu vereinigen, dem Physiokratismus nicht gelungen sein, mögen sie sich einmal völlig nach der einen, das andere Mai gänzlich nach der anderen Seite ge- neigt haben, er bleibt als solcher in aeiner ganzen Eigen- art doch bestehen.
In den späteren Lehren hat das naturwissenschaftliche Prinzip in der Gesell seh aftswissenachaft den Sieg davon- getragen, und die Geaetze der Gesellschaft sind zu Gesetzen im naturwiasenschaftlichen Sinne erhoben worden: dem Physiokratismus war diese Einseitigkeit fremd, wenn er auch den formellen Bogriff des Gesetzes beibehalten hat, weil er an die Möglichkeit glaubte, eine soziale Maschine, wie irgend einen anderen Mechanismus, aufbauen zu können. Jedoch soll nicht behauptet werden, daß dieses Vermeiden einer einseitig naturwissenachaftlichen Auffassung und der Versuch, diese mit einer entgegengesetzten Anschauung zu vereinigen, aiia kritischer Weitsichtigkeit und Überlegenheit geschehen ist. Die Eigentltütltchkeiten der Physiokratie sind vielmehr aua ihrer oben geschilderten Stellung zu den Philoaophemen ilirer Zeit zu erklären. Eb war kein Vor- Sprung in ihren Lehren vor dem, was nach ihnen kam, sondern vielmehr eine Rückständigkeit in bezug auf die- jenige Stellungnahme in der Gesellschaftswissenschaft, die schob damals die Oberhand zu gewinnen begann. Daher konnte in dieser Hinsicht ihr Versuch auf die sjjäteren Lehren keinen Einfluß ausübet), weil man geriLde in setner eben aufgedeckten Besonderheit eine unersprießliche Ver- qiiTckung der zur Wissenschaft werdenden Nationalökonomie iiiil dem alten Naturrecht zu sehen glaubt»;. In Aet rein naturwissenschaftlichen Richtung sind aber die Physiokraten
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von den späteren völlig verdrängt und in deo Hintergrund geschoben worden. — So stellt sich uns der Phyaiokratis- mus, vom Standpunkte der Geschichte der sozialen Theorien betrachtet, als eine bloße Illustration der nach beiden Seiten hin wirkenden Periode des Übergangs von der alten wissenschaftlichen Auffassung zur neuen.
Was aber, u. E., im Phyaiokratismua von Bedeutung geworden ist, ist die Art der evolutioniatiachen Auffassung der Gesellschaft, die man ihm dem ersten Anblick nach gar nicht zutrauen müchte. Wir haben wohl gesehen, daß zuerst von Turgot in einer Jugendschrift der Gedanke von den drei Stadien der Entwicklung der Gesellschaft ausgesprochen worden ist. Diesen Gedanken haben aber nachher alle Phjsiokraten aufgenommen, ihn zum Gemeingut ihrer Lehre gemacht und in ihren zahlreichen Schriften popularisiert. Mag diese Auffassung auch aus einer abseits liegenden Quelle herstammen, sie hat aber vollständig in die grund- legenden Anschauungen der Physiokraten von der Gesell- schaft und dem Rechte als natürlichen, sich entwickelnden Erscheinungen hineingepaßt. Damit hat der Phydiokratis- mus zweifellos jener Auffassung den Weg gehahnt, die dann durch Condorcet's Esquisse d'un tableau historique auf die spätere Geseüachaftslehre bis Comte hinaus eingewirkt hat. Aus den positivistischen Elementen der physiokrati sehen Lehre von der Gesellschaft ist dieser Punkt, u, E., der einzige, der von historisch weiterwirkender Bedeutsamkeit , geworden ist.
Völlig fremd war dagegen dem Physiokratismus dieser evolutionistische Gedanke bei der Beurteilung der politischen Gebilde seiner Zeit und der Aufstellung seiner reformatori- schen Pläne. — Nicht durch den Grad des historisch be- dingten menschlichen Könnens im gegebenen Zeitpunkt der Geschichte, sondern durch das bloße Wissen, durch die unsere Vernunft erhellende Erkenntnis des sozialen Ideals soll nicht nur die Gegenwart beurteilt, sondern auch das Handeln bestimmt werden. Es war jenes verh&ognis-
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ToUe, utopische Vermengen von Können und Wissen, das dem ao klugen, geistreichen und skeptischen 18. Jahrhundert den Stempel einer kindlich-naiven Weltfremdheit aufdruckt.
Wir haben aber gesehen, daß, sobald der Physiokratis- mus in die praktische Politik eingetreten ist, die Verhält- nisse ihn mit sich gerissen haben. Er mußte mit seinem Ideal, dem souveränen Vernunftprinzip, den treibenden historischen Machten dienen, und sich zu einer immer radi- kaler werdenden politischen Doktrin umbilden. Es ist eine interessante Erscheinung, daß der auf der Geschichte be- ruhende spätere Legitimismus, mit dem man die physio- kmtiscbe Politik in Zusammenhang bringen wollte, trotz der Geschichte, in deren Schofle er geboren, unbeweglich stehen blieb, während die souveräne Vernunft der Physio- kraten, die über die Geschichte erhaben ist, in ihren Strom hineingezogen und zu ihrer Dienerin gemacht woi-den ist Aus diesem Grunde hat auch der Physiokratisnius kein geschlossenes politisches System aufzustellen vermocht, das iUr die spätere Geschichte der politischen Ideen von Be- deutung hätte werden können.
Freilich war der Physiokratismus grundlegend und von weitgehender historischer Bedeutung für die wirt- schaftspolitischen Grundsätze, die die Revolution und die vorrevolutionäre reformatorische Periode bei ihren zer- störenden und aufbauenden Versuchen beherrscht haben. Diese Bedeutung ist schon längst anerkannt und ist neuer- dings von einem der letzten Historiker der französischen Revolution, Adalbert Wahl, ins volle Licht gerUckt. — Wir haben indessen nicht darauf unser Augenmerk zu richten, sondern vielmehr auf die historische Bedeutung ihrer rein politischen Lehren und Bestrebungen. Diese aber haben keine positive Wirkung auf ihr Zeitalter aus- geübt, denn sie sind mit ihm gegangen.
Entstanden in einer Zeit der keimenden Revolution, liat der Physiokratismus geglaubt, mit Hilfe der alten Mo- narchie auf friedlichem Wege in Frankreichs alterskranken
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Ötaatakörper neue Lebenssäfte hineinbringen zu känaen. Zu diesem Zwecke war es nötig, die königliche AutoriUt in dem skeptisch-kritischen GemUte der Zeitgenossen wieder zu heben. Persönliche Stimmung, Nachklänge der Theorie der „monarchie teinpöröö''j ein aristokratisch-autklärerischer Geist, starker Idealismus und politische Weltfremdheit, die jede Kompromißform prinzipiell von sich abweist: das alles im Zusammenhang mit der starken Einwirkung der hergebrachten jannsköpfigen n a tu r rechtlichen Qesellschafts- und Staats theo rien hat ihnen ihre Aufgabe erleichtert und den Boden für den „despotisme lögal" geschaffen.
Wir haben aber gezeigt, wie in dieser Lehre viele Elemente verborgen waren, die mit Leichtigkeit «u gaiu anderen Konsequenzen führen konnten. Wir habeu auch gesehen, wie das wirklich geschehen ist, und wie die politische Doktrin über die Kilpfe der Physiokraten selbst hinaus- gewachsen ist und schließlich zu einer politischen Außassung sich gestaltet hat, die in sich wohl auch physiok ratische Elemente enthält, aber selbst nicht mehr physiokratisch ist. Diese Elemente, die zu solchen Folgen geführt haben, ver- leiben dem Physiokratismua von Anfang an den schon früher besprochenen Charakter einer von Wideraprfichen nicht freien Lehre. Sehen wir aber näher zu, so war dieser M'iderspruch in der Politik des „ancien rögime" in den letKten Jahrzehnten seiner Existenz begründet , Wo es mit einer Hand an seiner alten Macht festhalten, mit der anderen, dem „esprit r^volutionnaire" nachgebend, seinem alfcn Wesen widersprechende Reformen einführen wollte. So sind jene Schwankungen in der Politik entstanden, die schließlich, wie schon Tocqueville bemerkt hat', zur Kata- strophe flihrten. Hätte Turgot durch sein energisches Vor- gehfen auch noch so viel erreichen können, wenn er Minister geblieben wäre, dieser innere Widerspruch charakterisiert auch ihn als Politiker, weil er überhaupt da* gan/e
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1 i^^ma, Iiitre III, eh. V und VI.
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politisch taumelnde Zeitalter kennzeichnet. Ein Abbild solcher politischen Zustände bietet uns die Politik der Phyaiokraten, — ihr Versuch das Alle mit dem Neuen auf irgend einer theoretischen Grundlage zu vereinigen. So ist der Phyaio- kratisinus in politischer Hinsicht, um es nochmals zu wieder- holen, nur ein Abbild der kritischen Überzeug ungsperiode gewesen. Seine historische Bedeutung beruht also auch hier, gerade so wie in seiner Gesellschaftslehre und seinen theoretischen Ausführungen über die Politik darauf, daB «r seine Gegenwart illustriert; dariiher hinaus ist sie kaum anzuschlagen. —
Man bat versucht, dem Physiokratismus ftir die Egt- Btehung der Erklärung der Menschenrechte eine besondere iBedeutung zuzuschreiben. Ein t'ranzö Bischer Autor Mar- ^ggi (vgl. Einleitung, Anm. 8) ist fdr diesen Gedanken jn einer besonderen Schrift eingetreten. — Es mag nun sitvörderst auf den in der Polemik über den Ursprung der ^anzösischen ,Döclaration" hervorgehobenen entscheidenden Uoment hingewiesen werden, daß in der umstrittenen Frage die verfftssungsgeschichtliche Seite von der ideen geschicht- lichen zu trennen ist: die Präge nach dem Ursprung der Erklärung der Menschenrechte als einer Tatsache aus der Verfaasungsgeschichte Frankreichs, und die Frage nach dem Ursprung der in der Erklärung enthaltenen Ideen — sind zwei verschiedene Dinge*. Mit dieser Scheidung ist die Streitfrage prinzipiell entschieden, indem sie sich in die Frage von dem Einfluß der Ideen und Theorien auf die Ereignisse der Geschichte umwandelt.
Vertritt man nun den Standpunkt, daß Ideen — nicht als psychologischer Faktor, sondern als Theorien, als Systeme von Erkenntniswerten — keine Geschichte im wirklichen Sinne des Wortes machen, so ist es ebenso verfehlt, den Ursprung („les origincs") der verfassungsgeachichtHchen
° Tgl. .Tellinck, Erkläraiig der Mtoscheui echte, Vorrede nur zneiten
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Tatsache der Erklärung der Menschenrechte in irgend einer „Schule" zu suchen, wie es unangemeasen wäre, den Ur- sprung der französischen Revolution, etwa in den Schriften Rousseau's aufdecken zu wollen. Damit ist aber nattirlicb der Zusammenhang zwischen der Ideengeschichte einerseits und der sozialen und politischen Geschichte andererseits, sowie die Einwirkung jener auf diese durchaus nicht ge- leugnet. Auch in der uns hier interessierenden Frage gebührt eine nicht hoch genug zu bewertende Bedeutung der seil dem Beginn der neueren Geschichte aufgebauten indivi- dualistischen Ideenwelt, auf deren Ursprung wir hier nicht näher einzugehen haben, und die unter anderem in den Naturrechtslehren systematisch zur Geltung kam.
Hier darf aber diese Ideenwelt nur als Ganzes, mit ihren wenigen allgemeinen im Resultate gewonnenen festen SStzen in Betracht gezogen werden. Von den einzelnen Lehren und ihren einzelnen Vertretern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verdienen nur diejenigen hervorgehoben zu werden, die aus irgend welchen Gründen von der Sffent- lichen Meinung als Trftger der schon längst in ihrer Be- deutung für die Geschichte vorbereiteten und reif gewordenen Ideen betrachtet wurden. So sind von besonderer historischer Bedeutung die zdndenden Schriften Rousseau'» geworden*, die während der Revolution in aller Munde waren. Von den Physiokraten kann das aber nicht behauptet werden, wenn auch ihre Lehre zum Beetandteil des geistigen Eigen- tums mancher hervorragenden Männer während der Re- volution, vor allem des Grafen Mirabeau, geworden ist.
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* NGUerdinga wird die Bedeutung RoUiMeüu'a für die Rerolation he- 1 iitritten (Jellinek, F&gnet). Qegen diese Meinung ließe sich kiHin etma I einwenden, inaofem sie sich nur auf die Terfaniungsrechtlichen Ermngen- 1 Schäften der Berolntion bezieht. Anders verbält es sich aber in facaof J nuf die allgemeine Stimmung, für deren HerBusbildong die t^chrinaD J Kousseau'e von großer Bedeutung waren , und vou der aDch di^enigiea I Hänner dev Kevolution beseelt und in ihrer politischen Tntigksit bectitnml I waren, die darxus — - aus Gründen, die anch auQerhnlb der Ideenf;«achicbM'l ticken — Konsequenzen gezogen haben, die mit den politischea AnaicbM ihrei Urhebers nicht übereiustimmeii.