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3. und 4. Tausend

Copyright 1920 by E. P. Tal & Co. Verlag

Leipzig und Wien

OTTO WEININ GER

TASCHENBUCH

und

BRIEFE AN EINEN FREUND

1920 LEIPZIG E. P. TAL & Co. VERLAG WIEN

AN. 18 f977

KW OF TOS^S

Herausgegeben von ARTUR GERBER

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Bildnis des Toten

ECCE HOMO!

Das Jahr 1903 ist das Geburtsjahr der modernen Charakter rologie: Im Mai dieses Jahres hat Otto Weininger sein Werk Geschlecht und Char akter " veröffentlicht. „Das Licht scheinet in der Finsternis und die Finsternis hat's nicht begriffen/' Die Zunft schwieg.

Weininger fuhr nach Italien. Er wartete. Kein Wort der Aner^ kennung, keine ernste, gerechte Stimme über das Buch kam aus der Heimat. Rührend, erschütternd sind die Stellen seiner Briefe, in denen dies unerfüllt gebliebene Sehnen Ausdruck fand.

Vier Monate nach dem Erscheinen des Buches tötete er sich durch einen Revolverschuß ins Herz. Da ward es plötzlich offenbar: Eine Gemeinde war ihm erstanden, gewillt, Zeugen' schaft für ihn abzulegen. Friedrich Jodl grüßte das Werk durch den Ausspruch, daß in der Diskussion über die Psychologie der Geschlechter dieses Buch nie mehr werde übergangen werden. Weininger hat diese Genugtuung nicht mehr erlebt.

„Geschlecht und Charakter" erzielte binnen kurzer Zeit eine so hohe Auflagenziffer, wie schon lange kein wissenschaftliches Werk, eine beträchtliche Anzahl von Broschüren erschien, eine ganze Weininger-Literatur bildete sich. All diese Schriften, die Weiningers Werk und frühen Tod dem Verständnis weiterer Kreise erschließen wollten, brachten wohl eine Menge theoretischer Weisheit; auf die Frage nach dem Menschen Weininger blieben sie die Antwort schuldig.

„Der seltsame, rätselhafte Mensch, der Weininger l" schrieb mir August Strindberg im Jahre 1903.

Mochte Weininger, den Blick zu Boden gerichtet, in Gedanken versunken dahinschreiten, dann mit einem Ruck stehenbleiben,

den Kopf in den Nacken zurückwerfen; oder mochte er nachts dunkelste, stillste Gassen suchen, dem Freunde mit leiser, doch eindrucksvoller Stimme Seelisches enthüllen, unvermittelt schweigen, sein großes, fragendes Forscherauge aufschlagen, um den Widerschein seiner Gedanken in den Mienen des Begleiters zu sehen, bevor sich noch das Wort der Erwiderung geformt hatte; mochte er dann, wenn die ersten Tageslaute hörbar wurden, die Hand des Freundes nehmen, sie lange innig drücken und ohne ein Wort des Abschieds ihn verlassen; stets war schon äußerlich der Eindruck da: seltsam, rätselhaft. Ein Letztes blieb unausgesprochen, in ein Dunkel gesenkt, in das kein schüchternes Wort einer Frage zu dringen wagte.

Sein Äußeres war befremdend. Die hagere Gestalt mutete steif an, entbehrte aller Biegsamkeit und Grazie. Die Bewegungen, oft nur linkisch, unbeholfen, waren meist jäh und unvermittelt. Glätte und Ausgeglichenheit fehlte ihnen. Wie seltsam mußte es den mit seiner Wesensart weniger Vertrauten erscheinen, wenn seine Hand einen Gegenstand zu fassen zögerte und dann rasch, ja heftig zugriff. Diese Hand, die, zart, fast schwächlich, doch meist zur Faust geballt war! Seine Kleidung, schlicht und unmodisch, glich der anderer, unbemittelter Studenten. Er schritt oft zaghaft seines Weges, das Kinn auf die Brust gestützt, oft wieder stürmte er eilig dahin.

Keiner aber, der es jemals gesehen, vergaß sein Gesicht. Markant schon durch die Wucht der Stirn, einzigartig durch die großen Augen, deren Blicke die Dinge sanft zu umfassen schienen, bei aller jugendlichen Farbenfrische von gesammelter Kraft war dies Antlitz dennoch nicht schön, fast häßlich. Lachen sah ich es nie, lächeln selten. Würde und tiefer seeli' scher Ernst beherrschten es in jedem Augenblick. Nur an Frühlingstagen, im Freien, schien es entspannt, erhellt und

heiter, bei mancher Musikaufführung leuchtete es voll Freude, und in den schönsten Augenblicken der gemeinsam ver' brachten Jahre wenn Weininger einen seiner neuen Einfälle, an dem er besonders innig hing, besprach, stand in seinen Augen der Schimmer vollkommensten Glückes« Sonst aber blieben seine Mienen undurchdringlich. Niemals bis auf die allerletzten Monate ließ das Äußere die Wege ahnen, auf denen seine Seele schritt. Manchmal vibrierten wohl die angespannten Muskeln, manchmal ging ein Zucken über diese Züge wie von uneingestandener Qual. Um den Grund befragt, faßte er sich rasch, gab ausweichende Antwort oder sprach von anderen Dingen, so daß jedes weitere Forschen unterblieb.

Weiningers Gehaben hat bei anderen oft Erstaunen, gewiß manchmal auch ein Lächeln erregt. Denn althergebrachter Gewohnheiten und Anschauungen achtete er wenig.

Stark aber, daß sich ihm nicht leicht jemand entziehen konnte, war der Eindruck seiner Persönlichkeit erst, wenn es Abend ward. Sein Körper schien größer, die Linien seiner weit ausladenden Bewegungen bekamen etwas Gespenstisches, sein ganzes Wesen, dem das Dunkel der Gassen eine wirksame Folie abgab, bekam den Nimbus von Dämonie. Und wenn er, wie es vorkam, im Gespräch leidenschaftlicher wurde, plötzlich mit Stock oder Schirm, den er gerade trug, einen Schlag in die Luft führte, als kämpfte er mit einem unsichtbaren Geist, gemahnte er stets an eine Figur aus dem Phantasiekreise E. Th. A. Hoffmanns.

Oft gedenke ich eines Abends: Lange waren wir um die Votivkirche gewandert; dann war er mit mir bis zu meinem Hause gegangen, ich hatte ihn ein Stück zurückbegleitet, bis wir endlich nach stundenlanger Wanderung spät nachts wieder vor meinem Hause standen. Wir reichten einander die Hände. Kein Laut war hörbar außer seiner Stimme, kein Mensch

auf der Gasse außer uns beiden. Er sah mich an und flüsterte: „Hast du schon an deinen Doppelgänger gedacht? Wenn er jetzt käme! Der Doppelgänger ist derjenige Mensch, der von einem alles weiß, auch das, was man niemand sagt!" Dann wandte er sich und verschwand.

Otto Weininger ist ein Mensch von außergewöhnlicher seelischer und geistiger Intensität gewesen. Die größte Rolle in seinem Denken hat der intuitive Einfall gespielt. Dem folgte jedoch stets eine scharfe, rastlose Denkarbeit. Aus allen Richtungen ging er das Problem, das ihn gerade beschäftigte, an, mit rück" sichtsloser Selbstkritik prüfte er immer wieder seine Resultate, verglich sie miteinander und mit dem ursprünglichen Einfall, er durchdrang sein Problem und gab sich nicht früher zufrieden, als bis er sein gedankliches Gebäude in der Erfahrung festbe' gründet und gesichert sah, lückenlos, blendend und überzeugend.

Wie er mit ganzer Kraft und ganzer Seele forschte und dachte, so lebte er auch sein Leben mit ganzer. Kraft und Seele. Ob ein Mensch ihm begegnete, eine landschaftliche Schönheit, eine Melodie, ein Gedient ihn fesselte oder irgend" ein Kunstwerk ihn entzückte, er war niemals bloßer Betrachter, bloßer Zuhörer. Er genoß nie in untätigem Bc hagen. Er nahm den Eindruck nie passiv auf, er erfaßte ihn aktiv. Und das mit solchem Eifer, mit solcher Ganzheit und Erlebensfreude, daß das, was für jeden anderen höchstens zu einer Bereicherung der Kenntnisse geführt hätte, bei ihm gleich" bedeutend war mit einer vollständigen Erschließung ganzer, großer, geistiger Welten. Er erlebte Menschen und Kunstwerke ebenso wie Ereignisse, er fand in ihnen das Verborgenste und Letzte, er durchlebte ihren Gesamtkomplex. Das nannte der aus tiefstem Grunde still bescheidene Mensch: Verstehen.

Gerade dieses Verstehen aber erzeugte in ihm wieder seinen eigenen reichen Erfahrungsschatz und damit jene große Sicher-' heit, die ihm Mut und Möglichkeit gab, auf seinem Wege weiterzuschreiten.

Selbst geringfügigste Erlebnisse hatten für ihn Bedeutung. Tatsachen, die bei anderen Menschen kaum Beachtung finden, waren ihm wichtig; ihm waren sie Symptome und Symbole, ihm galten sie als Glieder einer Kette, von denen jedes einzelne nach Welt'Urgesetzen aus dem andern folgte und mit allen zusammenhing. Ihm waren sie ein Stück Schicksal, ein Stück seines Lebens. Wie bedeutungsvoll ihm dieses Leben war, das er später von sich warf! Er liebte es, er genoß den Gedanken, daß es sein war, er klammerte sich daran, er belauschte es in allen seinen Tiefen, um nicht einen einzigen Ton dieser Polyphonie zu überhören.

In den letzten Lebensjahren Weiningers gab es in Wien kein Ereignis von irgendwelcher Wichtigkeit, das er nicht miterlebte, es gab kein belangreiches Buch, zu dem er nicht Stellung nahm, keine Ausstellung, keine besondere Musik' oder Theater auf führung, der er fernblieb, kein Erscheinen irgend" einer Persönlichkeit von Ruf und Bedeutung, die er nicht gesehen, gehört, betrachtet und zu ergründen versucht hätte. Daß dies neben seinen umfangreichen wissenschaftlichen Studien und Forschungen möglich war, ist unbegreiflich gewesen.

Als er von jemand einmal die Redensart hörte: „Ich möchte dieses Erlebnis um keinen Preis hergeben", war er nahezu erzürnt. Schon den Gedanken, sich eines Teiles seiner Erlebnisse, also seineslchs,bewußt entäußern zu wollen,bezeichnete er als sündhaft. Die Summe der Erlebnisse eines Menschen nannte er die „Projektion dieses Wesenskomplexes auf die Welt" und als solche zu ihm gehörend und von ihm nicht

lösbar, wie von einem Stück Grund und Boden die über ihm befindliche atmosphärische Luft nicht lösbar ist« Er sagte ein' mal: „Ein Mensch, der sich an jedes einzelne Ereignis seines ganzen Lebens erinnern kann, muß ein guter Mensch sein/'

Mit welchem Ernst betonte er jedes einzelne seiner Erlebnisse: „Ich bin Protestant geworden am Tage meiner Promotion !" „Ich bin in Bayreuth gewesen und habe den Parsifal gehört!" „Ich habe jetzt die leibhaftige Sixtinische Madonna gesehen!" „Das Meer » . !* „Jetzt wird auf zweitägiger Seefahrt endlich ausgeprobt, ob ich seefest bin oder nicht/' „Also geh' ich doch nach Christiania!" (Gerade nach dieser Stadt hatte er sich besonn ders gesehnt, weil sie ihm als die geistige Heimat der großen skandinavischen Schriftsteller besonders viel bedeutete.) „Heute früh 5 Uhr 48 Minuten hier angekommen !" „Ich komme eben aus dem Institut für experimentelle Psychologie!" „Ich bin seefest!" Er registrierte geradezu alle wichtigen Eindrücke, die das Leben und die Welt ihm zu geben hatten»

Aber er belauerte auch sein Leben und sich. Er prüfte es mit einer Strenge des Denkers und Psychologen, wie kaum ein Mensch vor ihm. Wenn er sein Gesicht im Spiegel betrachtete, so war dies für ihn Studium der Seele. Wenn ihm ein guter Einfall kam, blickte er oft in den Spiegel, um zu suchen, ob sein Gedanke im Gesichtsausdruck eine Spur zurückgelassen hätte. Sicherlich hat das von ihm ausgesprochene Gesetz: „Je bedeutender ein Mensch ist, desto ,mehr Gesichter' hat er, desto öfter verändert er sein Aussehen", ihn oft sein eigenes Spiegelbild betrachten lassen. Wie tief war seine Liebe zur Wahrheit, wie groß seine Furcht, einem andern weh zu tun! „Ich hätte gestern dem Dr.S. eine Lüge oder eine Beleidigung versetzen müssen, wenn ich mit Dir geblieben wäre!" lautet eine Stelle in einer seiner eiligst geschriebenen Mitteilungen,

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Daß er selber ein Genie sein müsse, war ihm bewußt. Er hatte schon früh die feste Überzeugung, daß es ihm gelingen werde, neue Wahrheiten zu finden. Damals hatte er auch den festen Glauben, er werde ein hohes Alter erleben und reichen Erfolg und Ruhm ernten. Als selbstverständlich betrachtete er es, daß alles, was ihn betraf, künftig einen größeren Kreis interessieren werde. Er studierte die Biographien jener be' deutenden Männer, die er besonders liebte, und forschte in ihren Werken, ob nicht Wesenselemente erkennbar wären, die auch er besaß. Alles, was er über Genie und Genialität sagte und schrieb, war von Selbstbeobachtung stark beeinflußt. Und doch kam oft eine Zeit des Zweifels, des Verzweifeins. „Diese Reise", schrieb er von der Ostsee im Jahre 1902, „hat mir die Erkenntnis gebracht, daß ich auch kein Philosoph bin. Wirklich nicht! Aber bin ich sonst noch etwas? Ich zweifle sehr daran!" Das war tiefster Schmerz. Denn in jener Periode seines Lebens war ihm der Geist noch alles.

Seine Geistesschärfe war maßlos. Oft sprach er auf Grund kurzer Beobachtung Urteile aus, die verblüffend waren. So gelang es ihm, Menschen, denen er zum ersten Male begegnete, Beruf, Lebensgewohnheiten, sogar psychische Anomalien an' zusehen. Manche geradezu unfaßlich anmutende Proben sind mir noch in lebhafter Erinnerung.

Weinin ger als Frauen h a s s e r erklären heißt : ihn als Menschen vollständig mißverstehen. Denn sein Antifeminismus ist das gerade Gegenteil von Haß gewesen, auch wenn die Sätze, die er schrieb, so klangen. Otto Weininger konnte nicht hassen! Er hatte nur ein einziges, ihn voll beherrschendes, Übermenschen großes Gefühl in seiner Seele, und das war Liebe,

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Liebe für Menschen, für Pflanzen, für Tiere, Liebe für alle Erscheinungen der Welt! Seine Liebe umfaßte alles, nichts konnte sich ihr entziehen. Wer das Gegenteil behauptet, wird Otto Weininger nicht im entferntesten gerecht. Auf all meinen Wegen habe ich keinen zweiten Menschen gefunden, der so nur zur Liebe fähig war, wie er, keinen, dessen Herz so ganz voll Liebe war wie das seine. Wer dies Herz nicht zurückstieß, wurde von seiner Liebe umschlossen.

Was an Otto Weininger wie Haß anmutet, war Schmerz!

Ein Mensch, der hassen kann und haßt, kann unter Hassens" wertem und Häßlichem nicht leiden. Wenn Weininger Gutem begegnete, litt er nie. Gelitten hat er immer nur dann, wenn er „Wert" suchte und „Unwert" fand, wenn er Positives wollte und auf Negatives stieß. Und daß er, wenn er Häßliches sah, auf' schrie unter dem Schmerz, den er dabei empfand, war das seine Schuld, war das Schuld seiner Liebe?

In den vielen Stunden, die ich Weininger sprechen hörte, hat er Haß nicht ein einziges Mal gezeigt. Man suche in den hier veröffentlichten Briefen, in denen er sich nicht als Wissenschaft" licher Streiter, sondern als Freund dem Freunde, als Mensch dem Menschen gegenüber fühlte, auch nur eine einzige Stelle, die sich als Haß gegen irgendetwas deuten ließe ! Ein Mensch, der so schreiben kann, der solchen Zartgefühls fähig ist, der sich mit solcher Innigkeit, Reinheit und solchem Gefühlsreichtum einem andern zu erschließen vermag wie er, kann nicht hassen!

Aus ethischen Gründen bejahte er „das Leben" in jeder Form, auch wenn es sich nur um das Leben eines Grashalms handelte, dem er auf seinem Wege auswich, um ihn nicht zu zertreten. Als er mir in einem seiner Briefe aus Sizilien einige Blüten sandte, betonte er mit der ihm eigenen feierlichen Art, um seine Unschuld an ihrem frühen Ende darzutun : „Was du dem Umstände zuzu*

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schreiben hast, daß die Schiffer. . gegen meinen ausdrücklichen Willen und ohne mein Wissen eine Pflanze abschnitten!"

Wie seine Stellung gegenüber dem Judentum nicht Haß war, sondern nur Leid darüber, daß er es in sich noch nicht über' wunden hatte, so kann auch seine Stellung gegenüber der Frau nicht als wirklicher, echter Haß gedeutet werden, wenn auch die Lockung zu dieser bequemen Auffassung unleugbar vorhanden ist.

Ein bestimmtes Ereignis, das ihn in seine „Richtung" drängte, hat es nicht gegeben. Sein vornehmes Zartgefühl, das sich auf alle Dinge erstreckte, hielt ihn ebenso von Fragen ab, die das Privatleben anderer betrafen, als es ihn hinderte, eigene Angelegenheiten aus eigenem Antriebe zu besprechen, so' weit nicht durch sie Kardinalfragen der Menschheit berührt wurden. Zu jenem Komplex von Themen, die wohl das Programm anderer junger Leute beherrschen, in seinen Gesprächen jedoch nur ganz selten auftauchten, gehörte besonders die Frage seines seelischen und sexuellen Verhältnisses zur Frau.

In seinem Verhalten gegen andere war Weininger von beispielloser Güte und Sanftmut. Verzeihen konnte er wie keiner. Unnachgiebig war er nur dann, wenn es sich um die Verletzung einer moralischen Forderung oder um Beeinträchtig gung seiner Würde handelte. Was er für Recht hielt, vertrat er mit einer über seine Jugend weit hinausgehenden Energie.

Obwohl schwächlich und nicht waffenkundig, forderte er (Ende 1900 oder anfangs 1901) einen körperlich ihm zweifellos Überlegenen zum Duell, weil dieser sich hatte ein Recht anmaßen wollen, das Weininger zustand. (Er durchschlug dem Gegner die Temporaiis, blieb aber selbst unverletzt.)

Im Jahre 1902 war Weininger aufgefordert worden, einem literarischen Unternehmen als Mitarbeiter beizutreten: für

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den armen Studenten hätte dies Befreiung von allen Sorgen bedeutet. Als zwischen dem finanziellen Leiter des Unter' nehmens und einem Freunde Weiningers Streit ausbrach, wurde Weininger vor die Alternative gestellt, entweder mit dem Freunde zu brechen oder auf seine Stellung zu verzichten. Er billigte das Verhalten des Freundes und verzichtete ohne Bedenken auf seine Stellung.

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Einige seiner stets wiederholten Forderungen waren : „Nie' mand hat das Recht, Vorsehung zuspielen!" „Man darf einen anderen Menschen seines Willens nie berauben!" „Es ist unmoralisch, andere als Marionetten zu betrachten, auch wenn dies gut gemeint ist und zu ihrem Besten ausschlägt."

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Auf flache Geselligkeit war Weiningers Sinn nie gerichtet. Zwar gehörte er durch kurze Zeit auch einer Studentenverbindung an, weil ihn die Möglichkeit zu sportlichen Übungen lockte und er die akademische Jugend bei ihren Freuden aus nächster Nähe betrachten wollte ; doch Befriedigung fand er hier nicht.

Gespräche mit Freunden bedeuteten ihm mehr. Viele Abende und Nächte hat er disputierend verbracht. Alle gewaltigen Erscheinungen der Menschheitsgeschichte, die tiefsten Probleme der Seele berührte er in diesen Gesprächen. Beethoven (von dem er sagte, daß kein Mensch je so beglückt gewesen sein könne wie er, wenn er seine großen Themen fand), Wagner, Ibsen, Strindberg (den er für den bedeutendsten Geist seiner Zeit hielt) und Zola kehrten ständig wieder. Sie alle erschienen von einer so hohen Warte aus gesehen und erkannt, wie eben nur ein großer Genius den andern schauen und durchschauen kann.

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Daneben besprach er stets sein späteres Hauptproblem: Mann und Weib! Auch im Jahre 1901 bereits die Frage, die ihn bis zum Tode begleitete: „Gibt es eine Möglichkeit, auf die Geschlechts^ bildung beim Kinde Einfluß zu nehmen?" ferner: Wille! Grausamkeit! Liebe! Mord! Lange vor der Niederschrift seines Buches sagte er, daß Liebe und Mord miteinander verwandt, im tiefsten Grunde dasselbe sein müßten. Denn ein Mann, der ein Weib in Besitz nehme, vernichte den Willen des Weibes ebenso, wie der Mörder sein Opfer vernichte. Alles, was mit Mord irgendwie zusammenhing, fand sein höchstes Interesse.

Über eine Novelle, die ich ihm im April 1902 gezeigt hatte, schrieb er mir: . . . „Der Inhalt der Geschichte ist das Los alles Künstlers. Innig verschmolzen drängen die Sehnsucht nach der Schönheit und das Leiden unter der Schönheit zu dem tragischen Ende, zum Lustmord. Aber es ist nicht der Lustmord der Bete humaine, die Grausamkeit keine rein tierische wie bei Zola. Es ist die notwendig grausame Antwort auf die grausamste Heimsuchung durch die Liebe, sie ist der letzte Akt der Verzweiflung des aufs höchste vergeistigten Sinnenmenschen. Wenn ihm diese Schönheit wirklich zu erscheinen droht, nach der ihn Sehnsucht sein Leben lang einzig beherrscht hat, so muß er sie töten. Sie muß ver^ gehen! Aber in Schönheit. Es ist Sadismus, geistiger Sadismus, der doch soweit an die körperliche Sphäre noch gebunden bleibt, soweit ein äußerer Abschluß überhaupt noch möglich ist. Ibsens Hedda Gabler das Weib, das Khnopff immer malt hat ein ähnliches Schicksal. Aber ihre Gelüste sind die eines Weibes, physiologisch, trieb' haft; bei G. werden sie zum ,Künstlermotiv' . . ."

Anscheinend durch eine Gedankenassoziation auf dem Umwege über La bete humaine ergab sich das Thema „Mord"

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stets von selbst, so oft Weininger einen durch die Dunkelheit dahinsausenden Eisenbahnzug erblickte. Oft erwarteten wir (es war auf dem Lande) über seinen Wunsch abends den Orient'Expreß. Der vorüberrasende Zug, der glühende Funkenregen, der aus der Lokomotive stob, die Erschütterung der Erde versetzten Weininger stets in eine gewisse Erregung. Lange konnte er stehen bleiben und den sprühenden Funken nachblicken, bis der Zug nicht mehr sichtbar war.

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Als er im September 1902 aus Norwegen heimkehrte, schien er verändert. Seine Urteile waren strenger, die Stimmung, die er zur Schau trug, war düster und gedrückt. Dies konnte aber nicht allzusehr auffallen; waren doch schon in den Sommerbriefen dunkle Andeutungen genug gewesen: „Mir geht es gar nicht gut, inwendig." „Verlang' nicht zuviel von mir über mich zu erfahren etc." „Das Wetter bleibt schlecht, drinnen und draußen!" „Seit meiner Abreise kein einziger schöner Tag!" „Von mir hast du eine viel zu gute Meinung, das sehe ich immer wieder. Freilich ist auch dieses Bekenntnis, das ich dir mache, von meiner verfluchten Eitelkeit wieder begleitet." Alles Gewölk hatte sich bald wieder verzogen.

Am 20. November 1902 erschien in den ersten Nachmittags^ stunden sein Vater bei mir und brachte die Botschaft, daß Otto tagsvorher im Elternhaus gewesen sei und sich von Familienmitgliedern in einer so herzlichen und doch so ernsten Art verabschiedet habe, die zu Befürchtungen Anlaß gab. Ich wußte keinen Bescheid.

Mein Freund war um diese Tageszeit in Heiligenstadt, wo er Unterricht erteilte. Ich eilte dorthin und wartete auf der Straße. Es dauerte lange, bis er endlich kam. Langsamen, feierlichen Schrittes trat er aus dem Hause. Die konzentrierte

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Kraft seines Ausdrucks war einer Mattigkeit und trostlosen Schlaffheit gewichen, wie sie vorher bei ihm nie sichtbar gewesen, seine Züge schienen entstellt, sein Gesicht abgezehrt, düster und streng. Aus dem Klang seiner Stimme war Ernst und dumpfe Qual zu hören. So arg hatte ich mir seinen Zustand, nicht denken können. Hatten wir doch den Nach' mittag und Abend des 18. November miteinander verbracht, ohne daß zu dieser tiefgehenden Veränderung ein Anlaß wahrzunehmen gewesen wäre. Auf die Frage nach dem Grunde seines sichtlichen Unwohlseins antwortete er ab- weisend: „Von meinem Mißbehagen könnte ich mich am wenigsten dadurch befreien, daß ich es jemandem anvertraue".

Mit der Stadtbahn fuhren wir in seine in Gersthof gelegene Wohnung. Es war ein trüber, stürmischer Tag. Obwohl Otto seinen Wintermantel trug, fröstelte ihn fortwährend. Der Besorgnis des Freundes begegnete er mit den Worten: „Ich habe die Kälte des Grabes in mir/' Dies sprach er ganz leise und mit eigentümlicher Betonung, daß mir jedes Wort ins Herz schnitt. Daß er in diesem Zustande nicht allein bleiben durfte, war klar. In seinem Zimmer angelangt, fragte er: „Nicht wahr, hier ist schon Leichengeruch?" Das Zimmer machte den Eindruck, daß es an diesem Tage nicht gelüftet worden sei. Ich bat ihn, mich zu begleiten und den Abend bei mir zu verbringen. Wie von ungefähr erzählte ich ihm die Nachricht, die in einem Morgenblatte gestanden war, sich aber später als irrig erwies, daß Knut Hamsun, dem er sich innerlich verwandt fühlte, dessen Bücher er besaß, dessen Roman „Pan" er oft als den großartigsten der Welt bezeichnet hatte, sich erschossen habe. Weininger zuckte zusammen, blickte mich verstört an und sagte: „Also auch er?" Er war noch stiller geworden, weigerte sich, die Wohnung zu verlassen und mich zu begleiten

Weininjjer: Taschenbuch 3 X}

und sprach nur in Andeutungen, von denen er vielleicht glaubte, daß sie nicht verständlich seien, die aber keinen Zweifel mehr über seine Verfassung ließen*

Es war nahezu dunkel geworden. Auf die Bitte, die Lampe anzuzünden, stöhnte er, als quäle ihn unsagbarer Schmerz: „Nein, kein Licht!" und wiederholte dann, jede einzelne Silbe betonend, daß es unschwer war, seine Gedanken zu erraten; „Kein Licht!"

In dieser qualvollen Stunde, in der es sich um Rettung oder Verlust des teuersten Freundes handelte, konnte kein Zweifel bestehen, daß nur eines helfen könne: Unbeugsame Energie. Unvermittelt fragte ich ihn: „Hast du Waffen hier?" Er schwieg. Ich wiederholte die Frage. Keine Antwort. Dann verlangte ich dringendst die Ausfolguüg der Waffe.

Wir hatten einander nie ein böses Wort gesagt. Doch jetzt, während ich in banger Sorge um ihn zitterte, jetzt zum aller" ersten Male im Leben, schrie er mich an, als wäre er mein Feind: „Du hast kein Recht, mir die Herrschaft über meinen Willen zu nehmen!" Er war aufgesprungen und stand mir gegenüber. So schmerzlich der Augenblick für uns beide war, es war ein Gebot der Notwendigkeit, jetzt unbedingt hart zu bleiben, um nicht alles zu verlieren. Ich drohte, mir die Waffe selbst zu suchen, wenn er sie mir nicht freiwillig gäbe. Da entgegnete er viel milder: „Ich habe keine Waffe!" Bald darauf erklärte er sich bereit, mich zu begleiten und die Nacht bei mir zu verbringen.

Als wir anlangten, war es fast acht Uhr. Er klagte über Kälte und setzte sich zum Ofen. Das Abendbrot wurde aufgetragen, doch er weigerte sich, einen Bissen zu essen. Vergeblich war jede Bitte, ein wenig Speise und Trank zu sich zu nehmen« Obwohl die Fenster geschlossen waren,

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das Feuer im Ofen brannte, die Hitze im Zimmer schon unerträglich war, behielt er den Winterrock an, legte immer wieder Kohle nach und kauerte neben dem Ofen. Endlich, nach Stunden, gelang es, ihn zu bewegen, doch ein wenig zu essen. Nun saßen wir einander gegenüber, seine Mienen hatten sich aufgehellt. Eine kurze Weile schien es, als sei alles wie einst, als sei wieder die Zukunft voller Hoffnungen vor uns. Doch bald kam der schmerzliche Ernst in sein Antlitz zurück. Die Krise war noch nicht überwunden.

Um der erkannten Gefahr zu begegnen, mußte ich zu er' fahren trachten, was ihn in diese Stimmung versetzt hatte.

Er gestand zu, daß er sich töten wolle. Über den Grund schwieg er beharrlich.

Die folgenden Stunden waren ein Kampf zwischen uns, ein Kampf der Willen und Energien. Immer wieder auf der einen Seite: „Ich will es wissen! Du mußt es mir sagen! Ich kann dich nicht so verlieren!" und von der andern Seite die stets gleichbleibende, dumpfe Antwort: „Ich kann es dir nicht sagen! Auch dir nicht!" Was wir beide in jener Nacht, deren ich nur mit Grauen gedenken kann, durchlitten haben, vermag ich nicht zu schildern.

Endlich, lange nach Mitternacht, gab er nach. Er stand feierlich auf und sagte mit einer Stimme, so düster, so grabest kalt, so verzweifelt und trostlos, wie ich noch nie eines Menschen Stimme gehört hatte: „Ich weiß, daß ich der geborene Ver^ brecher bin. Ich bin der geborene Mörder!"

Im ersten Augenblick schien der Gedanke nahe, daß sein edler, reicher, reiner Geist gestört sei. Er, der jeden Wurm, jeden Käfer vom Wege auflas und ihn auf ein Gesträuch oder sonst in Sicherheit trug, dieser Gütige, dieser Heilige, er sollte das Dunkel, von dem er sprach, wirklich in seiner

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eigenen Seele tragen? Er mußte irren, er mußte in einem Wahn befangen sein, anderes war nicht möglich!

Nachdem der Anfang gemacht war, vermochte er nun zu sprechen: „Ich bin in München einmal nachts im Hotel' zimmer gelegen» Ich konnte nicht schlafen. Da hörte ich einen Hund bellen. So furchtbar habe ich noch nie einen Hund bellen gehört. Es war sicherlich ein schwarzer Hund. Das ist der böse Geist gewesen. Ich habe mit ihm gekämpft. Ich habe um meine Seele mit ihm gekämpft. Ich habe in dieser Nacht aus Angst den Bettpolster zerbissen. Seit dieser Nacht weiß ich, daß ich ein Mörder bin. Deshalb muß ich mich töten!"

Otto Weinin ger, der gute, edle Weininger und solche Worte!

Was ich ihm erwiderte, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, daß ich lange zu ihm sprach, daß ich in jener Nacht diesen „Mörder" verteidigte, mit Überzeugung verteidigte, denn ich glaubte nicht an seine „Schuld". Ich weiß noch, daß ich um sein Leben bat und flehte, daß ich immer wieder bat, stunden' lang ohne Unterlaß, und immer wieder hörte: „Du kannst mich nicht überzeugen! Du kannst mich nicht zwingen! Laß mich! Es muß sein! Ich kann nicht weiter leben!"

Auf meine Frage, ob sich sein Sinnen gegen eine bestimmte Person richte, gab er keine klare Antwort.

Schon war es fast Tag geworden. Die Lampe war herab' gebrannt, ich fühlte mich erschöpft und mutlos, weil alles mißglückt war. Alle meine Energie war aufgezehrt, er war der Stärkere gewesen.

In der großen Angst, den Freund zu verlieren, und halb schon im Gefühle, von ihm für immer verlassen zu sein, sagte ich noch einige Worte von letzter Entscheidungskraft. Ich weinte und meine Erschütterung bewirkte, was meine

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Worte nicht zu erreichen vermocht hatten. Er hatte seine Hand auf meine Stirn gelegt, in seinen Augen standen Tränen. Mit tiefer Feierlichkeit sagte er dann: „Ich danke dir!" Er wolle am Leben bleiben. Doch ich möge schweigen, denn er brauche Ruhe und Alleinsein.

Es war Tag, als er von mir ging.

Über diese Nacht haben wir miteinander nie mehr gc sprochen.

Er aber begann „Geschlecht und Charakter" zu formen.

In wenigen Wochen war die letzte Fassung des Buches vollendet. Ein Wiener wissenschaftlicher Verlag lehnte es ab. Ende März 1903 schrieb Weininger, daß Braumüller es an" genommen habe. Am 29. Mai brachte er mir das erste Exemplar, das die Druckpresse verlassen hatte.

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Im Frühsommer 1903 verbrachten wir manche Stunde miteinander. Oft sprach er noch über verbrecherische Ver* anlagung, aber doch schon in einer milderen Form, die hoffen ließ, daß die Krise im Abklingen begriffen sei.

Um die Mitte Juli verließ er Wien und blieb bis in das letzte Drittel des September in der Ferne. Dann kam er, anscheinend ohne sich erholt zu haben. Daß er sich wieder mit Selbstmordplänen trug, ahnte ich nicht. Er sagte zwar bei unserer letzten Zusammenkunft: „Den einen Vorwurf wird man mir nicht machen können, daß mein Buch geistesarm sei !" Aber, daß er damit auf die Zeit nach seinem baldigen Tode an' spielen könne, verstand ich damals nicht. Auch eine zweite Bemerkung: „Du hast mir bei den Korrekturen der ersten Auflage gar nicht geholfen. Jetzt hast du keine Prüfung vor dir. Versprich mir, daß du die Arbeit für die zweite Auflage

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ganz auf dich nimmst!" konnte damals nicht als letzt willige Verfügung aufgefaßt werden.

Bei dieser Zusammenkunft sagte er auch: „Wir werden einander jetzt nicht sobald sehen!" und begründete dies mit einer Menge von Arbeiten, die der Vollendung harrten. Der Abschied war ohne Feierlichkeit, nur herzlich in gewohnter Art. Den Entschluß, seinen Plan so rasch auszuführen, hatte Weininger also damals noch nicht gefaßt. Am nächsten Abend kam er zu mir. Ich war nicht daheim. Anderen Tages erfuhr ich, daß er erregt in meinem Zimmer auf und abgegangen sei und mehrere Stunden vergeblich gewartet habe. Spät nachts sei er fortgegangen. Ich möge ihn am folgenden Tage nicht erwarten, ließ er mir sagen. Ich erwartete ihn nicht. Aber er kam wieder, blieb stundenlang, bis spät in den Abend, dann ging er. Und wieder ließ er die Nach- richt zurück, er könne morgen bestimmt nicht kommen und kam trotzdem und traf mich nicht. Das wiederholte sich durch eine Reihe von Tagen. So habe ich ihn lebend nicht mehr gesehen. Vielleicht war der Widerspruch zwischen seinen Botschaften und seinem Tun nichts anderes, als der Kampf um sein Leben. Vielleicht fürchtete er die Begegnung, weil ich ihn ' einmal schon vom Tode zurückgehalten hatte, und kam doch immer wieder und hoffte und wartete ; und glaubte darin, daß er den Freund verfehlte, einen Fingerzeig zu erkennen.

Am 4. Oktober 1903, um halb elf Uhr vormittags, starb er im Wiener Allgemeinen Krankenhaus, wohin er nachts in hoffnungslosem Zustande überführt worden war. Kurz nachher begleiteten mich zwei Freunde zu seiner Leiche.

In dem Gesichte des Toten war kein Zug von Güte, kein Schimmer von Heiligkeit und Liebe zu sehen. Auch Schmerz nicht; nur ein Ausdruck, der dem Gesichte des Lebenden

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vollkommen gefehlt hatte: Etwas Furchtbares, etwas Entsetzen* erregendes, das, was ihm die Todeswaffe in die Hand gedrückt hatte: Der Gedanke an das Böse.

Nach wenigen Stunden änderte sich jedoch sein Bild: Die Härten milderten sich, die Züge schienen sanfter und glatter. Und als ich den toten Freund zum letzten Male sah, war in seinem Antlitz nichts anderes als die ersehnte tiefe Ruhe der Ewigkeit, auf seiner Stirn nur der Abglanz seines großen Geistes.

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Aus Italien hat Weininger alles, was er an Handschriftlichem besaß, seinem Freunde Dr. Moriz Rappaport geschickt und seinem Ermessen die Herausgabe anheim gestellt. Da die Entzifferung des größtenteils stenographierten Taschenbuches unmöglich schien, wurde es in das Buch „Über die letzten Dinge" nicht aufgenommen. Vor nahezu 16 Jahren hat Herr Dr. Rappaport dies letzte Taschenbuch Weiningers in meine Hände gelegt. Die oft begonnenen Versuche, die undeutlichen und halb ver* wischten Schriftzeichen zu enträtseln, blieben stets erfolglos.

Nach schwerer Krankheit gehorchte ich der Mahnung von Freunden, nichts, was von Weiningers Geist geblieben, der Welt länger zu verbergen, übertrug das Taschenbuch und veröffentliche im Einverständnis mit Herrn Dr. Rappaport diese letzten Auf* Zeichnungen, sowie einige der im Laufe der Jahre von ihm erhaltenen Briefe, soweit sie das Bild seiner Persönlichkeit zu vervollständigen geeignet sind. Mögen einige Gedanken des Taschenbuches aus den „Letzten Dingen" bekannt sein, so ist es doch immerhin wissenswert, die Urform zu sehen, in der sie ins Bewußtsein des Denkers Weininger traten. Eine merkwürdige Stelle besteht aus vier Zeilen; Zeilen von ungeheurer Tragik, die Licht werfen auf das ganze Lebensschicksal dieses einzig* artigen Menschen. Ihre Schriftzeichen lassen erkennen, daß

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Weininger sie, wie gejagt, in rasender Hast, vielleicht in Qual und Verzweiflung, aufs Papier geworfen, daß sich, nachdem sein Stolz sich gebeugt, auch die Hand noch gesträubt hat, das zu schreiben, was der Geist diktierte:

„Wie kann ich es schließlich den Frauen vorwerfen, daß sie auf den Mann warten? Der Mann will auch nichts anderes als sie* Es gibt keinen Mann, der sich nicht freuen würde, wenn er auf eineFrau sexuelle Wirkung ausübt. Der Haß gegen die Frau ist nichts anderes als Haß gegen die eigene, noch nicht über' wundene Sexualität/'

Vergleicht man mit dieser Aufzeichnung jene zwei gründe legenden Sätze in „Geschlecht und Charakter", die soviel Aufsehen und noch mehr Widerspruch erregt hatten: „Die Frau ist nur sexuell, der Mann ist auch sexuell" und „Der tiefststehende Mann steht noch unendlich hoch über dem höchststehenden Weibe ", so erkennt man den Grad der Ver' änderung, die sich in Weiningers Stellung gegenüber dem Geschlechtsproblem vollzogen hat*

Aber mag sich in diesen letzten Worten vielleicht schon der Beginn neuer Wege, vielleicht erst der restlose Widerruf seines früheren Glaubens äußern: Im Grunde wird durch sie die große Bedeutung seiner tiefsten Erkenntnisse nicht berührt, da der Wert der ewigen Gedanken Otto Weiningers von seiner Haltung im Problem der Geschlechter sicherlich unabhängig ist.

Bei Entzifferung der Stenogramme, bei Durchsicht des Stoffes und der Korrekturen leistete mir Dozent Dr. Oskar Ewald, Otto Weiningers Jugendfreund, wertvolle Hilfe, für die ihm an dieser Stelle gedankt sei. A p

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TASCHENBUCH

Von der traurigsten, verirrtesten Zeit aus dem Leben Jesu wissen wir darum so wenig, weil er selbst darüber voll Schmerz stets geschwiegen hat bis auf die Antwort, die er dem Jüngling gab, der ihn „Guter Meister !" anredete: „Warum nennst du mich gut? Nirgends ist Güte!" *

Der Selbstmord aus Unfähigkeit, von der Krankheit Genesung zu erlangen, ist genau so fahnenflüchtig und ungläubig, wie der Selbstmord feig ist, der begangen wird, um dem Verbrechen zu entgehen«

Es kann charakteristisch dafür sein, ob ein Mensch wirklich flach oder ursprünglich tief ist, daß er den Selbstmord für je erlaubt oder stets unerlaubt hält

Ich weiß es, daß ich trotz der geringen Zahl der positiven Erkenntnisse der Begründer der allein heilenden wissen- schaftlichen Heilkunde, der allein wahren Pathologie, bin. Ich weiß es und habe wider mein Erwarten auch das Glück gehabt, einen überaus hochstehenden Menschen zu treffen, den ich überzeugt habe und der auch dasselbe glaubt. Dann müssen die kommenden Jahrhunderte es mir bezeugen.

*

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Es gibt nur Psychotherapie, freilich nicht jene nur mangelhafte Psychotherapie von außen, wie wir sie heute haben, wo der fremde Wille eines Suggestors voll- bringen muß, wozu der eigene allzu schwach ist, nicht eine heteronomische, sondern eine autonomische Hygiene und Therapie, wo jeder sein eigener Diagnostiker und damit eben auch schon Therapeutiker ist. Ein jeder muß sich selbst kurieren und sein eigener Arzt sein. Wenn er das will, wird ihm Gott helfen. Sonst hilft ihm niemand*

An -<• > Er darf meinen Selbstmord nicht als persönliche Sache auffassen, wie Du das bei F. getan hast, die Dich betrifft und zu Deiner Strafe oder als gerade Dein spezielles Unglück da ist. Du wirst auch hiezu die Neigung emp- finden. Aber glaube nicht, daß das richtig ist!

* Ich glaube, daß sicher meine Geisteskräfte derartige

sind, daß ich in gewissem Sinne Löser für alle Probleme geworden wäre. Ich glaube nicht, daß ich irgendwo lange im Irrtum hätte bleiben können. Ich glaube, daß ich den Namen des Lösers mir verdient hätte, denn ich war eine Lösernatur. &

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„Sich elend fühlen'* als Krankheit: Selbstmord aus Unfähigkeit, dem Verbrechen zu entgehen, Selbstmord aus Unfähigkeit, der Krankheit zu entgehen.

*

Meine Freude am „Pahöll" in der Gymnasialklasse ist meine Freude am Chaos.

*

Die Schuld des Menschen, dem die „Verbundenheit" Problem wird, ist eben die Einsamkeit. Der Verbrecher nimmt, wie keine Schuld, so auch keine Einsamkeit auf sich.

*

An G. über Neapel. Daß er dorthin müsse. Schreiber und Leute, die nicht schreiben können. Ferner über den Herkules Farnese. Über ihn selbst. Kraft hat er. Meine Theorie von der Krankheit.

Warum ich ihm das schreibe? Aus Pflicht, aus keinem andern Grund. *

Meine forcierte Aufrichtigkeit ist Erpressen der Freiheit, Ersetzung Gottes. *

G. (der Athlet) : Kraft als Selbstzweck, ohne ethisches Ziel (sucht den Sport und Leibesübungen); darum sündigt er, weil er gar nicht schwach ist (er darf es sich also

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scheinbar erlauben) und kann hiedurch doch stürzen. Denn Kraft ist Folge der Güte (ihr Mittel, um sich zu behaupten, sich zu finden), nie Selbstzweck.

* Für G. : Das Sichhüten vor fremdem Einfluß bedeutet, daß ihm nicht mehr an der Person liegt als an der Phantasie. Ich habe die Phantasie für mich, nicht mich für die Phantasie. Ich habe das selbe mit der Wahrheit. Originalitätsbedürfnis ist also Schwäche.

* Natur der Wissenschaften

I. Die räumlich-zeitlichen Elemente werden als Kon- stante eingeführt:

Geographie* Geschichte

II. Raum und Zeit werden geschieden

Vari abelwerden

a) der Raumelemente: Geometrie, Kosmographie;

b) der Zeitelemente: Physik.**

*

* Geographie ist sadistisch. Erzählen ist sadistisch. Der Sadist fühlt die Organe als real.

** Experimentalphysik and Zahlen^Physik.

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Das Nichts ist der Spiegel des Etwas (des Lichtes)»

*

Wie der Wille, so ist auch seine Projektion, die Be- wegung, das Kind, etwas zwischen Sein und Nichtsein.

*

Es gibt ein ganzes Reich der Projektionen. Die Er- fahrungswelt, die wir wahrnehmen, entsteht durch solche Projektionen des Etwas auf das Nichts, Projektionen des höheren Lebens.

Anmerkung zu Ewalds Ideen:

Hier liegt, was man freilich nirgends ausgesprochen findet, vielleicht das schwierigste Problem der Philosophie.

Kant hat das psychische Leben ganz so unter die Erscheinung verwiesen wie das Leben der Außenwelt. Er hat der Zeit jede Bedeutung ge- raubt. Dadurch wird aber die Möglichkeit der Ethik vernichtet. Wenn alle guten Regungen in mir auch nur zum Schein und nicht zum Sein gehören, so ist es aus mit dem Sinn meines Lebens. Denn der Sinn meines Lebens steht und fällt damit, ob ich in eine positive Beziehung zum Guten treten kann oder nicht.

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Wenn alles psychische Leben nur scheint, so kann ich mich eines ewigen Lebens in keiner Weise würdig machen* Die Idee mit dem „Progressus" (zur Heiligkeit), die Kant teilte, wird so vereitelt.

Das Transzendentale ist das Minimum an Ewigem,

Das Genie braucht die transzendentale Methode nicht,

da es für die normale Intuition Sicherheit genug besitzt.

Die Berechtigung der psychischen Methode

liegt im Schauen der Dinge in Gott! Je näher

die Anschauung dem Begriffe kommt, desto

entbehrlicher wird die transzendentaleMethode.

Hier sind die bedeutendsten Fehler Kants:

U Die Vernachlässigung des Sinnes der Zeit;

2. daß er zwischen der Realität des inneren und des äußeren Lebens keinen Unterschied macht;

3. theoretisch nichts davon wissen wollte, daß jenes eine höhere Realität besitzt.

Weil Schuld und Strafe nicht wirklich verschieden sind, darum mag man darüber beruhigt sein : Kein Ver- brecher geht wirklich straflos aus.

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Kritik der Kantischen Ethik und ihres „Atheismus".

Was ich behaupte, ist: Daß der Wille immer gut ist, und daß es gar keinen Willen zum Bösen oder bösen Willen geben kann.

Das Böse ist der Verzicht auf den Willen und das Werden des Triebes aus dem Wollen. Dies ist eben auch damit bewiesen, weil der Wille stets bewußt, der Trieb unbewußt ist. *

Die Ideen der Freiheit und Universalität müssen iden- tisch sein. Denn jede Begrenztheit ist Bestimmung von außen, hat also Unfreiheit. Wenn aber der Mensch frei ist, so muß er werden können, was er will. Dazu ist aber Freiheit der Möglichkeiten Bedingung. Die Ideen der Freiheit und Totalität sind also identischl

*

Einheit und Allheit innerhalb des Horizontes.

* Raum als das Ich.

*

Der Zufall hängt mit der Inkarnation zusammen.

* Es ist gar nicht wahr, daß alles menschliche Handeln nach der Lust geht. Alles Handeln des guten Menschen

Weininf er : Tatchenbach 3 33

geht nach dem, was man den Wert oder die Existenz oder das Leben nennen kann.

Nur die Bekennung des Lebens ist Lust!

*

Schwanken zwischen Schopenhauer und Fechner. Beide verkennen, daß das Ethische und der Weltgrund in der Reihe liegt, von welcher die „Lust Schmerz"- Reihe abhängig ist, in der Reihe „Gut Böse". Mit ihr läuft die Reihe „Lust Schmerz" parallel, aber sie ist

im Verhältnis zu jener doch sekundärer Natur.

*

Wie verhält sich die Lust zum Leben? Forderung des Lebens ist Lustl

Die Lust verhält sich zum Leben wie die Strafe

zur Schuld (wie der Schmerz zum Tod).

*

Strafe verhält sich zur Schuld wie Lust zu Wert, wie Unlust zu Unwert. *

Das menschliche Wollen geht nicht nach der Lust; es geht nach dem, was andere Wert, ich auch, Leben oder Existenz oder Realität genannt haben. Die Lust ist an den Wert gebunden und nie direkt, nur durch ihn erreichbar.

*

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Bis zur Lust reicht das Weib, aber nicht bis zum Wert. Bis zum Mitleid reicht es, nicht bis zur Achtung. Hochachtung vor dem Manne: „moralische" Behauptung männlicher Frauen?

So wie Lust und Wert, so verhält sich die Sonne zu den Sternen. ^

Lust und Wert sind im tiefsten Grunde identisch. Sie berühren sich im Begriffe des Guten. Und das Gute ist Gott! #

In der Beziehung zum Ethischen wird der Zufall überwunden.

Durch Einordnung erkennen ist noch unsittlich.

*

Die Langeweile und die Ungeduld sind die unsitt- lichsten Gefühle, die es geben kann. Denn in ihnen setzt der Mensch die Zeit als real: Er will, daß sie ver- streiche, ohne daß er sie ausfülle, ohne daß sie bloße Erscheinungsform seiner inneren Befreiung und Er- weiterung ist, bloße Form, in der er sich zu verwirk- lichen zu trachten habe, sondern unabhängig von ihm,

3* 35

und er abhängig von ihr. Zugleich ist Langeweile Bedürfnis, die Zeit von außen aufzuheben, und Ver- langen nach dem Teufelswunder.

* So wie ein widriger Lärm oder ein übler Geruch, dessen Ursache ich selbst geworden bin, mich nicht so schmerzen wie das Gleiche, wenn es ein anderer hervor- gebracht hat, so kann man auch denken, daß Gott selbst unter dem Bösen und dem Übel in der Welt gar nicht leiden müsse, noch könne, weil es nur dort ist, wovon er sich aktiv abgekehrt hat, damit aber auch schon ganz da ist ^

Durch die Gnade tritt das Zeitliche notwendig in Beziehung zum Zeitlosen, Ewigen, Freien.

Der Ausdruck dieses Beziehungsverhältnisses ist im allgemeinsten der Glaube* Durch diese Beziehung wird aber die Zeit nicht für Unsinn erklärt, sondern sie erhält einen Sinn: Und sie kann ja durch nichts anderes einen Sinn erhalten als durch Beziehung auf ein Zeitloses.

Der psychische Ausdruck dieses allgemeinen Sinnes der Zeit heißt: Mutl Er ist die direkte Wirkung der Gnade

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mit Bezug auf die Zeit (Nicht-Setzung alles anderen Zwanges), wie der Glaube die direkte Wirkung der Gnade ohne Bezug auf dieselbe ist

*

Wie in der Gegenwart, so sind auch in der Ewigkeit Raum und Zeit geschieden. Die Ewigkeit ist der Sinn der Gegenwart.

Die Gegenwart verhält sich zur Ewigkeit, wie der Anfang der Dinge (vor dem Sündenfall) zum Ende, als zum Ziel (Erlösung vom Sündenfall).

Darum hat das Kind nur Gegenwart.

Zusammenhang von Alter und Ewigkeit.

Der Greis hat nur Ewigkeit

Das Wesen des Spielers.

Der Greis, der kindlich wird : Er hat den Sinn des Lebens licht begriffen. *

Schreiten kann nur der Mensch*

*

AllesMitleiden heißt Wollen der Lust überall nd ist darum unsittlich, weil die Lust im Mit- id direkt angestrebt wird anstatt des Wertes.

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Das Mitleid ist darum unsittlich (geschweige denn Fundament der Moral), weil es eben innerhalb der „Lust Leid"-Reihe steht, nicht innerhalb der „Wert Nichts"-Reihe, an die jene funktionell geknüpft ist (Lust ist abhängig von Bedingungen, Wert ist nie abhängig von Bedingungen.) Hier wird der Schmerz direkt zwar gesehen, aber verneint; und Lust direkt gewollt, statt

daß Wert bejaht wird, wie in der Achtung.

*

Grausamkeit, das heißt: Schmerz real (zur alleinigen Wirklichkeit) machen wollen, statt daß mit „Freiheit Wert" Lust gesetzt ist. *

Schopenhauer (dessen Nirwana, als das doch allein Reale, Leid lose, Überwindung der eigenenGrausam- keit ist) und Fechner sind Gegensätze innerhalb derselben Reihe. Beide finden als Wesen der Welt immer nur Lust- und Schmerz-Elemente. Fechner ist nur der umgekehrte Schopenhauer; diesem war der Schmerz, jenem die Lust das Reale.

Alle grausamen Menschen haben ein eigentümlich schmerzliches Gesicht; weil ihr Sein eben Position des Schmerzes bedeutet. Ebenso der Asket (Pascal),

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Frech: Für Nichtscrachten des Etwas.

Mut ist das Korrelat der Wahrheit Er ist das Für- Nichts-Achten des Nichts*

Feigheit ist das Für-Etwas- Erachten des Nichts.

* Jüdisches, Gemeinheit und Dummheit Der Jude ist moralisch das, was die Dummheit intellektuell ist. Er ist die Fliege, die den Esel blutig schindet.

*

Zeit dem Raum noch übergeordnet.

*

Reisen ist unsittlich, weil es Aufhebung des Raumes im Räume sein soll.

Der Jude als Parodie des Greises.

*

Gesinnung bei allem Handeln; Zweifel beim Mord. Es gibt auch Tötung, die Recht ist (Mime).

*

Dualismus als Verdoppelung durch Extern alisation des Psychischen.

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Bübisch ist Herbeiführen des Zufalls, dessen, was bewußt Objekt des Humors wird.

* Jeder Assoziation entspricht ein Vorgang im Weltganzen.

*' Telepathie ist Apperzeption.

* Der Moral ist das Herz, dem Intellekt der Kopf zu- geordnet. ^

Krankheit ist ein spezieller Fall der Neurasthenie.

* Neurasthenie und Krankheit: Passivwerden der Emp- findung gegenüber

im Raum außerhalb des Körpers: Neurasthenie; im Raum innerhalb des Körpers: Krankheit.

* Wüste Fata Morgana Traum.

* Irrlicht: Verlust der Identität des Flusses.

* Ruhmsucht und Unsterblichkeit.

Ruhmsucht ist Verbundenheit in der Zeit und im

Raum.

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Zwischen Unsterblichkeit und Sittlichkeit kann es nichts geben» Darum werden alle Kulturen wieder hinweg- geschwemmt

* Nur das Gute ist

* Krankheit und Einsamkeit sind verwandt.

*

Der Betrüger ist dem pathologischen Lügner verwandt. Er betrügt durch seinen Körper physisch: Hochstapler.

Alles Übel ist Eines, in Zeit und Raum.

*

Der Herr des Hundes ist derjenige, der gar nichts Hündisches in sich hat. Er hält sich darum einen Hund. Er hat das Hündische von außen.

* Leichenverbrennung ist dionysisch, Leichenbegraben ist apollinisch.

Die Auferstehung des Fleisches wird durch das Ver- brennen nicht berührt.

*

tz-

Der eitle Mensch ist in gleich hohem Maße empfindlich.

Denn würde er nicht wollen, daß man ihm zusieht,

so würde man ihm auch nicht auf die Finger schauen.

* Das Genie kann keinen genialen Bruder, keine

geniale Schwester haben....

•*■ Nicht nur das Gute ist Eines in den Menschen,

auch das Teuflische. Jeder Sieg des Guten in einem

Menschen hilft allen andern und umgekehrt.

* Gott ist die Idee des Heils, die Gesundheit. Wenn

wir wollen, so ist die Idee, so ist Gott bei uns.

* Der Doppelgänger ist das Ensemble aller bösen Eigen- schaften des Ich. Alle besondere Furcht ist nur ein Teil

von dieser Furcht, der Furcht vor dem Doppelgänger.

* . Lüge ist stets Trägheit. Hat nicht der Geschichtsforscher

zur Lüge ein Umkehrungsverhältnis?

Der Spiegel ist das Surrogat für das Sichselbst- schaffen. Er hat zur Eitelkeit ein Verhältnis ebenso wie zur Individualität. ^

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Der Verbrecher ist hyperämisch (Tier), der Neur-

astheniker anämisch und grüngelb (Pflanze).

* Das Problem der Individualität ist das

Problem der Eitelkeit Daß es viele Seelen gibt, ist Folge der Eitelkeit Der Verbrecher ist eitel, denn er hat den Wunsch zur Einzig- artigkeit Man braucht den Zuschauer, das Theater, die Pose. Darum entsteht der zweite Mensch. Darum

ist der Verbrecher homosexuell.

* Das Genie ist entweder das umgekehrte Verbrechen

oder die umgekehrte Krankheit (insbesondere der um- gekehrte Irrsinn). *

Der Künstler darf eher etwas Minderwertiges schaffen als der Philosoph. Denn er ist vom Moment abhängiger als dieser. *

Wenn der Flachkopf Schiller anstatt des Wustes seiner schön klingenden, bequem-ethisierenden Phrase : „Geteilte Freude ist doppelte Freude geteilter Schmerz ist halber Schmerz!'* gesprochen hätte: „Glück kann der Mensch teilen, Schmerz niemals!" dann hätte er etwas Wahres gesagt

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Daß Goethe von Schiller viel gehalten hat, das beweist natürlich gar nichts. Denn er hat auch von Wieland, Byron und etlichen Malern seiner Zeit sehr viel gehalten, und an denen war auch nicht vieL

* Herkules ist dorisch. Dorisch und Jonisch müssen scharf geschieden werden im Griechentum* Sie verhalten sich wie Armut zu Reichtum, wie Einfachheit zu Wohlstand»

*

Das frömmste Werk der Kunst, das ich kenne, ist der „Farnesische Herkules" (im Museum zu Neapel). Er ist frömmer als die Heraklessage selbst, von unendlich ergreifender Wirkung. Der „Farnesische Stier" erscheint daneben wie ein Ausdruck von Talent

*

Daß man den rafaelischen Dreck neben Michelangelo hat nennen können, begreife ich; man wird dies wohl immer tun, denn Rafael ist ganz ohne, Michelangelo nur durch Genie zu verstehen. Jener nimmt alle, dieser gar keine Rücksicht auf den Betrachter. Völlig impotent wird Rafael, wenn er Gott, Christus, die Philosophie darstellen soll. Er hilft sich, indem er aufs Wesen von

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vornherein verzichtet; das nennt man dann Originalität und preist es als Behauptung Michelangelo gegenüber» Nie hätte Rafael gewagt, eine Gestalt ganz den Rücken zeigen zu lassen, am wenigsten je Gott selbst (wie's Michelangelo getan hat im zweiten Deckenbild der Sixtina)

Um zu wissen, wer Michelangelo und was Rafael ist, vergleiche man ein weniger bedeutendes Bild, die „Sintflut" des ersteren, mit einem der hervorragendsten des letzteren, dem „Brand des Borgo"* Diese eignen sich sehr gut wegen der inhaltlichen Homologie und weil von Michelangelo sonst keine Massendarstellungen vor- handen sind»

Rafael malt hier eine Gruppe, dort eine andere, Stück für Stück, jede mit etwas anderem beschäftigt; die Einheit fehlt ganz. Michelangelo erfaßt sofort das Wesen der Sache: er malt die Sintflut, das Ereignis selbst in seiner elementarsten Wucht, daraus ergibt sich ihm selbst alles andere, alle Rückwirkung auf die Menschen, die gerade hier jede Individuation ausschließen muß.

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Freiheit und Universalität Macht und Universalität.

Darum ist dem Neurastheniker der Anthropozentralis- mus zuwider. *

Der Neurastheniker will die Begrenzung und darum keine Macht. *

Das obere Moment ist Gott.

Einheit und Allheit sind so problematisch. Der Neur- astheniker verzichtet auf Allheit, der Verbrecher auf Ein- heit. Der Neurastheniker ist zur Allheit, der Verbrecher

zur Einheit zu schwach.

*

Der Mangel an Einheit im Meer! Allheit ist hier; aber Einheit wird hier vermißt.

Darum zersplittert sich der Verbrecher und verzichtet auf die Einheit des Bewußtseins.

* Genesen heißt: Mit dem All sich wieder verbinden. Krankheit heißt Einsamkeit.

* Der Fluß hat keine Allheit.

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Der Sumpf ist die falsche Allheit des Flusses und der Scheinsieg über sich selbst.

*

Was den Norddeutschen ausmacht, das ist vielmehr die eigentümliche norddeutsche Ebene. Der Isländer, der Norweger, der Schotte und zum Teil auch der Engländer sind dem Süddeutschen ähnlicher als dem Norddeutschen.

*

Gegensatz auch in der Natur : Die fruchtbarsten Gegenden Europas und die Vulkane daneben, die häßliche Lava der Dreck der Erde. *

Je älter der Mensch wird, desto mehr blickt er in die Zukunft, nicht nur in die Vergangenheit. Das Kind hat gar kein Verhältnis zu seiner Zukunft

*

Ist das Meer durch die Flüsse oder sind die Flüsse durch das Meer? Wer wollte das entscheiden? So verhält es sich zwischen Gott und Menschen. Das Meer will Flüsse, der Fluß will das Meer.

*

Ich habe landschaftlich am meisten Sinn für Durch- blicke und für das All, zu dem sich die Erde erweitert,

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für die Öffnung, hinter der man ins Weite sieht, für die Musik, die sich auftut (Trovatore und Lohengrin, Jubel- arien): Mündung.

*

Sonnensystem und Fixsternhimmel haben ein ver- schiedenes Verhältnis zum Räume. Die Sterne winken von der Grenze des Raumes her. Es ist wohl sicher, daß die Sterne moralischer sind als die Sonne; hier ist noch mehr (z. B. Glut, Polychromie) zum Nichts geworfen, die Position noch ausschließender, noch enger geworden; und eben darum zugleich weiter, größer,

umfassender.

*

Die Sterne lachen nicht mehr; sie haben zur Lust keine Beziehung mehr, nur mehr zur Seligkeit und Freude.

Es fehlt die Physis.

*

Erbrechen verhält sich zur Diarrhöe, wie Ekel zu Furcht. .

Unter dem Merkwürdigen am Feuer ist auch, daß es Sauerstoff braucht, um zu brennen, ganz wie sein Feind,

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das Leben. Darum sind Leben und Flamme so oft ver- glichen worden.

Die reinigende Wirkung des Feuers deutet darauf hin, daß auch dieses Element im Dienste des Guten

steht. *

Schlange und Hund haben Verwandtes.

« Die Hunds wut ist die Besch ttld ig ung, die der Hund gegen den Herrn erhebt

Die Sünde des Vogels ist Leichtigkeit, Überwindung der Gravitation ohne Setzung.

*

Der Hund ist derjenige Verbrecher, der fortwährend die andern zu widerlegen sucht, um sich zu rechtfertigen (Bellen!). Er kann das aber nur, indem er Sklave eines Herrn wird.

* Krankheit ist Abhängigkeit des Körpers Verbrechen

Abhängigkeit der Seele.

t7eininger: Taschenbach 4 49

Auch die Kurzsichtigkeit müßte sich heilen lassen, wenn man ihren Grund erkennen würde.

*

Der größte Verbrecher stirbt stets durch Herzschlag (Furcht). *

Problem des Kranken ist Problem des Raumes.

Problem des Verbrechers ist Problem der Zeit.

*

Problem der Tierpsychologie ist Problem des Zufalls, ist Problem der Externalisation; denn im Augenblicke, da das Fliegenartige in mir unbewußt wird, das heißt: ich ihm gegenüber unfrei werde, wird es die Erscheinung der Fliege, der gegenüber als Empfindung ich unfrei bin; im selben Augenblicke aber ist der Raum da*

*

Der Körper ist nicht unsittlich, aber die Haut. Sie ist die Gefahr des Körpers, die Stelle, wo er den Raum anerkennt, verwundbar, beschmutzbar, infizierbar wird.

Der Raum entsteht durch Nichtrealmachung eines Realen, ebenso die Krankheit (durch Abgabe eines Teiles des Ich nach Außen, Unfähigkeit zur Allheit).

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Die Zeit (Verbrechen) ist Realsetzen des Nicht- realen: Scheidung einer Vergangenheit, der Macht ge- geben wird, und einer Zukunft, über die keine Macht! gewollt wird, von der Gegenwart, die so nicht mehr Ewigkeit ist . . Ebenso das Verbrechen: Realsetzen, Verwirklichen irgendeines Unbewußten (eines Tieres)»

Alle Tiere sind verbrecherisch, auch das Pferd, auch der Schwan (zwecklose Schönheit, fliegt nirgends mehr hin): es gibt eine Furcht vor dem Schwan* .:

*

Der See: (Versuch des Flusses, zur Allheit zu gelangen? Dafür spricht der Kaspisee). Jedenfalls sind es Stationen des Flusses und Ruhepunkte.

Das Meer unter Wolken: Das ist der Ozean, das Schwarze Meer, die Nordsee. Nietzsches Ge- sicht: Hier sind die schwersten, schwärzesten, geradezu dunkelsten, unheilschwangeren Wolken: Unfähigkeit zur Heiterkeit,

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Der Neurastheniker sucht nach künstlicher Allheit, indem er ans Meer geht; der Verbrecher sucht nach künstlicher Einheit (Allheit von außen, Einheit von außen.)

Der Neurastheniker hat auch eine Gegenwart (zeitlich; der Verbrecher hat keine Gegenwart).

Nichts kann so schön sein, wie der Mensch; nichts so häßlich I

Die Gefahr des Flusses ist die Versumpfung. Die Gefahr des Meeres? Wasser mit Wirbel.

Eine Möglichkeit im Meer entspricht dem Irrsinn.

Sumpf und Irrlicht.

*

Die Wolken verdecken das Licht. Das Ewige um- schlingt sie*

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Violett: Unentschieden sein zwischen Gut und Böse, zwischen Lust und Schmerz.

*

Die Schlange ist eigentlich nicht im engeren Sinne häßlich* Sie ist glatt; und doch packt uns ein Ekel vor ihr: Lüge 1 ^

Jedes Tier hat ein Gesicht, in dem man irgendeinen menschlichen Affekt, einen Trieb, eine Leidenschaft ent- deckt, eine menschliche Schwachheit oder Gemeinheit entdeckt ^

Die Schildkröte macht stets einen müden Eindruck. Sie ist schief und hingestreckt am Boden, zum Kriecheri verurteilt; und dabei ungeschickt

*

Eudyptes chrysocoma* ist für mich Problem* (Ein Tier, das nicht eitel ist und sogar Schmerz kennt.)

* Der Voge! ist das apollinische Tier?

* Eine Pinguinart, die auf den Feucrlandsinscln und in Patagonien vorkommt. D. H.

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Wie sich alle möglichen Kombinationen im Menschen- reich finden, so auch im Tierreich: Fische, die fliegen; Vögel, die schwimmen; Säugetiere, die fliegen; Säugetiere, die schwimmen können»

Warum kann der Mensch nicht fliegen? Warum fliegt er im Traum?

* Fernere Übergänge zwischen Tier und Pflanze: Schwamm, Koralle. ^

Die Schlange leidet stark unter der Kälte. Tod von außen. Realisierung des Zufalls. Absolute Nacht, ohne Hoffnung. ^

Die Fische sind gekennzeichnet durch den völligen Verlust alles Ausdrucks Vermögens. „Blödsinn" und Fisch.

Das Reh : Schwäche und Feigheit. Es ist an und für sich nicht schön. ^

Schlange und absolute Sicherheit des Losfahrens.' Sie trifft sicher und geradlinig, tötet, wen sie beißt.

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Gerechtigkeitsproblem ist hier Zufallsproblem! Die Schlange ist aggressive Lüge, sie liegt auf der Lauer, schlängelt sich zwischen den Menschen durch. Sie lügt nach außen. Feige Lüge? Lüge nach innen«

*

Die Pflanze ist Krankheit. Hier ist Einheit (keine Zell wände), aber keine Allheit mehr durch Verlust von Sinnesorganen und Bewegungsfähigkeit (Intellekt, Wille); die Pflanze wird räumlich gänzlich bestimmt, das heißt: haftet am Ort, wird räumlich unfrei.

*

Die Tiere und Pflanzen sind nicht gestorbene Menschen,

sondern unbewußt Gewordenes im Menschen, denen er nun als Unfreier in den Empfindungen begegnet.

* Der Affe ist der Mensch, der sich zum Wurstel macht: Die Traurigkeit hierüber sieht man ihm an.

Neurasthenisch ist es, sich schuldig fühlen vor der Natur.

* Wenn Medikamente wirken, so ist es bloß der psychische Wille, der Glaube, die Hoffnung, die wirken.

*

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Verstopfung ist kennzeichnend für Geladensein mit geistig und körperlich Unreinem, ohne daß dieses direkt sich äußert in einem fortwährenden Schmerz. Durchfall ist das Losgehen des ganzen Unrats; er ver- hält sich zur Verstopfung wieUng lue k zu Unbehagen; er ist symbolisch für Deroute, Chaotisierung des ganzen Menschen. Darum eben kann ein künstlich herbeige- führter Durchfall (besonders durch das reinigendste Mittel Kalomel) wie bekannt vor Epilepsie schützen: Die Diarrhöe leitet auf anderem Wege ab, was sonst gestockt bliebe und das Individuum zu Fall brächte*

Fieber und Furcht: Kampf gegen Böses; da wird's überwunden.

Der Mensch ist Tier und nicht Pflanze, weil das Moralische (Gut und Böse, Schöpfung und Mord) das letzte ist; darum Blut (rot) und Himmel (blau) beim Tier die Gegensätze; nicht grün braun (Erde?), nicht Gesundheit Krankheit.

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Die Astrologie hat eine Zukunft die auf der Inkarna- tion beruht; aus der Konstellation der Sterne kann der Charakter erschlossen werden*

* Enge des Bewußtseins = Zeit = Unbewußtes: weil die Kraft zur Einheit fehlt

* 1:2:3= Form fldee, Mann): Stoff (Weih): Ding (Kind, Empirie). .

Stoff ist teilbar: das liegt in der Zahl 2. Alle Resultate, alle Synthesen sind Dreizahlen: das liegt in der Zahl 3.

*

Der Raum ist dem Chaos verwandt; sein Wesen be- steht im Setzen der Entfernung (Krankheit und Einsamkeit sind verwandt), die drei Dimensionen fliehen auseinander, der Raum hat keine Einheit, er ist die Gesamtheit aller Externalisiertheit der Empfindung, des ganzen Ich als Unbewußten.

*

Das Heimweh ist Wunsch, Kind zu sein (das heißt: die eigene Schuld als von anderen zugefügtes Unglück

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betrachten, was der Verbrecher nie tut, der sich stets schuldig fühlt)* ^

Wo die Einheit des Bewußtseins fehlt, wie beim Ver- brecher, da fehlt Einsamkeit („Das Ich fühlt sich selbst," Rappaport), fehlt Sinn der Zeit (weil die verschiedenen Bruchstücke des Ich, Irreales, Nichts, real gesetzt, ver- wirklicht wird)»

*

Der Heilige (das ist der umgekehrte Verbrecher, Christus, Augustinus, Kant) leidet am schwersten am Zeitproblem. Die Griechen kennen keine Heiligen, darum kennen sie kein Zeitproblem.

*

Die Natur ist unmoralisch, wenn der Mensch sich in die Natur auflöst, Tier, Pflanze, Stoff, Nichts wird, sowie sie also unbewußt wird; die Natur wird moralisch, ethisch, ästhetisch, sobald sie gewußt, das heißt: zusammen- gehalten wird. Dann ist Naturempfindung möglich.

*

Der Verbrecher stirbt von innen (Zeit), der Kranke von außen (Raum).

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Die Epilepsie muß ebenfalls mit der Zeit zusammen- hängen.

Wer lügt, ist nicht

Die Schlange und die Weisheit (Verehrung),

*

Wenn der eine in einem Nebel, den der andere sehr gut als solchen erkennt, eine fürchterliche Gestalt erblickt (Erlkönig), so ist dem einen das Betreffende psychisch bewußt. Und es ist schön. Er ist frei! Dem andern unbewußt ist es häßlich, freiheitbedrohend, furcht- erregend* *

Das Knacken des Zimmers ist unbewußt gewordenes inneres Zerbrechen.

Die alte Jungfer ist das Nichts, das aus dem Weibe wird, dem der Mann, der es schafft, aus ethischen Gründen nicht wieder begegnet. So entsteht kein Kind. Sie geht ganz zugrunde. *

Der Diebstahl ist Realmachung des Nichtrealen oder Einreihung von Dingen ins Ich, die. dem Ich nicht gehören.

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Die Lüge sagt schon ihrer Detinition nach am besten, was unmoralisch ist: Realsetzung des Irrealen, oder ebenso : Einreihung ins Ich, wo Einreihung nicht erfolgen darf. 4

Der Mond (Luna) ist der externalisierteTraurru Der Nachtwandler ist die platonische Idee des Träumers.

*

Die Furcht vor Mücken ist die Kehrseite der Liebe zum Vogel *

Das Merkwürdige ist: Dem Verbrecher geschieht nichts*

*

Der Verbrecher überwindet durch den Haß, nicht durch die Liebe, die Furcht. Denn auch der Haß überwindet Furcht. *

Wer den Hund liebt, nicht die Katze, der hat nichts Hündisches, das heißt: Das Hündische ist in ihm bewußt, er umfaßt es wie andere Gegenstände, liebt sie,, schafft sie neu, lebt iv. ihnen, begleitet sie.

*

Der verbrecherische Lügner stirbt durch den inneren, dergelegenÜ<chedurchdenäußeren(räumlichen)Schlangen-

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biß. Der Verbrecher hat aber dabei die Halluzination des Schlangenbisses und stirbt vor falschem Schreck.

* Das Moralische ist dem Intellektuellen stets über; denn der Zauberer kann alles erkennen, nur das Gute (Gott, die Idee) nicht *

Der psycho-physische Parallelismus wird allmählig voll- ständiger :

Mein Mangel an Kraft,

Schwache, Schwächlinge in moralischer Beziehung verkörpern schwache Kraft und Mut: Jude und Kraft, Weib und Kraft.

Hängt es mit der Kraft eines Mannes zusammen, ob er Söhne oder Töchter bekommt?

*

Man erwäge nun, welches Licht auf Hoffnungen fällt, ein einfaches Naturgesetz ausfindig zu machen, nach welchem sich das Geschlecht regelt. Sicherlich steht auch dieses unter einem ethischen Gesetz. Aber ein biologisches Naturgesetz eines Vorganges, in dem es sich entweder um die Inkarnation einer Seele oder um Entstehung eines

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flüchtigen Wahn- und Lügengebildes handelt, wie es das Weib ist, kann es nicht geben. Und am wenigsten kann es von anderen Wesen experimentell beeinflußt werden. Dies gilt wieder für den Menschen. Hier ist eine Eingriffnahme ganz unmöglich. Ebensowenig ist eine mechanische Ursache denkbar für das Überwiegen der männlichen Geburten.

Das Geschlecht: Im übrigen ist es oft nur vom Manne abhängig. ^

Mann und Weib Etwas und Nichts. Hier ist der Schlüssel für das Problem der geschlechts- bestimmenden Ursache.

Die innere Vieldeutigkeit des Juden ist nicht mit dem Chaos des Verbrechers zu verwechseln.

*

Und wer es dennoch auch jetzt nicht wüßte, was unjüdisch und was jüdisch ist, der versenke sich in den eben zum Leben erwachenden Adam des Michelangelo (in das von der Altarwand an gerechnet vierte Bild der

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mittleren Reihe in der Sixtinischen Kapelle), in jenen Menschen, in dem alles noch als Möglichkeit liegt, aber auch alle Möglichkeiten wirklich liegen mit Ausnahme der einen: des Judentums I

*

Der Jude ist von Anfang an; und doch kann er auch kein Ende bedeuten. Er ist zwischen Anfang und Ende. Anfang und Ende aber heißen „Tat"^ Der Jude kennt darum den Handel, nicht die Tat

*

Der Jude ist zudringlich gegen Christus. Christus ist nicht umsonst auf einem Esel geritten. Eselskult bei den Juden. Der Jude ist die Züchtigung des Esels; er ist gar nicht dumm. Daß die Juden sich in Deutschland gleich inkarnieren, hängt mit dem „Michel" zusammen. Der Jude hat alle bösen Eigenschaften noch in einer gewissen Form: Er lächelt wie die Dummheit, deren ethisches Korrelat er ist. Die Dummheit lächelt über die Weisheit; der Jude lächelt über Güte. Er stellt sich hiemit neben Güte. Er zeigt, wie auch noch Lächeln unsittlich sein kann.

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Es ist unsittlich, zu fragen, zu bitten»

* Heulender Sturm in Macbeth: Das Schicksal siegt

und frißt den Menschen.

*

Der Mensch, dem der Selbstmord mißlingt? Er ist der vollkommene Verbrecher, denn er will das Leben, um sich zu rächen. Alles Böse ist Rachel

*

Eitelkeit heißt: Zum Wert des Ich rechnen wollen, was nicht zum Wert des Ich gehört. Also auch die Individualität. Diese betrachtet als ihr Verdienst, was Verdienst Gottes ist. *

Je größer das Kunstwerk, desto weniger Zufall darf darin sein. *

Der Verbrecher kann keine Zeugen brauchen. Denn durch verbrecherische Art hoffte er zu siegen und ist unterlegen. Darum muß er alle Zeugen morden. Sie sind alle seine Doppelgänger.

*

Freude des Verbrechers über jedes Verbrechen.

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Der Heilige lächelt, ohne zu wissen, warum* Er lächelt unfrei. Der Heilige ist der unglücklichste Mensch, obwohl er nur das Glück sucht» .

Der Leichnam gehört Gott und nicht dem TeufeL

*

Der Teufel ist der Mensch, deralleshatohneGüte, den ganzen Himmel kennt ohne Wahrheit, während alles nur durch Güte ist

*

Jedermann schafft sein Weib, vielleicht zwei Weiber für sich: eine Dirne, eine Mutter. Ob er sie zur Mutter macht oder nicht? Es hängt nur von seiner Beziehung zum Ethischen ab. *

Das Weib sei die Sphinx? Kein kläglicherer Unsinn und Eindruck: Man will unbedingt hinter dem Weib etwas suchen, reil man auf alles andere eher wartet, als daß eben ichts da ist Und so kommt man auf den Gedanken,

:s mit der Sphinx zu identifizieren, mit der es doch

gar keine Ähnlichkeit hat*

Wcinlngcr: Taschenbuch

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Christus hat Magdalena erlöst sie war Dirne, solange er in der Wüste war.

*

Wie will ich es schließlich den Frauen vorwerfen, daß sie auf den Mann warten? Der Mann will auch nichts anderes als sie. Es gibt keinen Mann, welcher sich nicht freuen würde, wenn er auf eine Frau sexuelle Wirkung ausübt.

Der Haß gegen die Frau ist immer nur noch nicht überwundener Haß gegen die eigene Sexualität. ,

*

Die Unschuld ist Unwissenheit. Wissend schuldlos bleiben wäre das Höchste.

*

Aus den Dingen erkennt der Mensch sein eigenes Wesen. Jede Erkenntnis ist Erlösung, System und Begründung ist Sühne.

Jede Erkenntnis ist Wiedergeburt»

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Briefe OTTO WEININGERS

Wien, 8. Februar J902. Deine Karte erhielt ich.

Perche? Studio o romanzo? Lavori tu o scrivi?

Bist Du noch immer nicht in die Verfassung gekommen, zu lesen? Ich möchte nämlich gerne meine Aufzeichnungen und Gedanken über den „Peer Gynt" abschließen. Nun fällt mir das Schreiben momentan sehr schwer, und ich hätte gerne eine Unterredung darüber mit Dir dazu benützt, um meinen Gedanken die Selbstformung zu erleichtern* Wenn das nun in nächster Zeit unmöglich ist, so bitte ich Dich halt bloß um das Buch* Io ho denari, vorrei restituirtene.

*

2. Juli 1902. Lieber Artur Gerber!

Nächste Woche:

Donnerstag Haupt-, Samstag Nebenrigorosum.

Wenn Du noch hier bist, können wir uns schon am

Samstagnachmittag sehen.

Weininger.

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10. Juli J902, Chcr coquin cadet!

Habe heute die Hauptprüfung richtig bestanden

und sie haben mir in großem Wohlwollen sogar die

nicht verdiente Auszeichnung gegeben . .

Un vieux coquin.

Ischl, 25. Juli *902. Lieber Gerber!

Mir geht es gar nicht gut, inwendig. Hoffe, daß es

Dir wenigstens nicht allzu schlecht geht. Bitte, schreib'

mir nach München, hauptpostlagernd (werde von dort

erst am 4. August fortgehen), wie es in P. steht.

München (Löwenbräu), 29. Juli J902. 5 Uhr nachmittags. Lieber Freund!

Mir geht's ein bißchen besser, wenigstens tue ich so als ob. Auch macht sich bereits der sanfte, aber unwider- stehliche Einfluß des Münchner Bieres bemerkbar. München hat noch keinen großen Mann hervorgebracht: Alle angezogen, keinen gehalten.

Komme eben aus der Schack-Galerie. Dort hängt eine Kopie des großartigsten Bildes der Welt, des Jeremias von

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Michelangelo. Ich habe bisher nicht gewußt, daß es so etwas geben kann, daß von einem Bilde soviel ausstrahlen kann.

Unser Abschied hat auch auf meinen Weg seinen Schatten geworfen»

Und Du? Für Dich gilt: Bezähme Deine Leidenschaften,

sans phrase. Man hat auch so noch genug Schicksal,

wenn man wer ist. Heil Dirl _ _ _

Dein Otto W*

Nürnberg, Dienstag abends. (5. August 1902, laut Poststempel.)

Lieber, herzlich geliebter Freund I

Sei mir nicht böse, daß ich Dir damals im Löwen- bräu, wo das Bier viel schlechter ist als im Pschorr-, Hof- und Spatenbräu, eine offene Karte geschrieben habe. Ich dachte gerade an Dich und hatte eine Karte bei mir und nichts anderes. Der Gedanke ist mir freilich peinlich, daß Deine werte Frau Mutter oder Dein Fräulein Schwester den Schluß jener Karte gelesen und gesagt haben könnte: „Siehst Du, derWeininger ist doch ein vernünftiger Menschl Der hat sein Doktorat gemacht usw."

Bitte, beruhige mich darüber, daß dies nicht der Fall gewesen ist*

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Ich denke oft an Dich, aber Deine jetzige Lage macht mir dieses Denken ziemlich schmerzhaft* Und ich kann jetzt gar nichts für Dich tan ! Während Du, aus Deinem glücklichen Winkel heraus, nicht nur für meine Kleidung, sondern auch für meine Speisung Sorge trägst.

Die Salami werde ich in Bayreuth wohl essen, aber leider allein/.

Ich bleibe vielleicht nur bis Freitag abends in Bayreuth, dann Dresden.

Eins möchte ich Dich bitten: Verlang' nicht zuviel von mir über mich zu erfahren. Für mich ist's eine sehr schlechte Zeit jetzt, schlecht wie kaum je. Nicht nur große Unfruchtbarkeit, nicht nur lauter humpelnde, von mir Krücken verlangende Einfälle, und dieser wenig genug; auch ganz anderes. Vielleicht werd' ich Dir einmal davon erzählen. Ich führe neben dem Leben, das Du kennst, noch immer zwei, drei andere, die Du nicht kennst. Darauf mach' ich Dich aufmerksam; mehr kann ich Dir nicht sagen, bitte Dich aber, nicht nachzuforschen, in keiner Weise.

Über München und Nürnberg werd' ich Dir wohl einiges erzählen können, wenn Du willst. Jetzt Schluß! Leb' wohl!

Dein Otto W*

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Bayreuth, 8. August J902, tt Uhr abends»

Lieber Freund!

Ich hoffe, daß Dir die schöne Karte Vergnügen bereitet hat. Zwar habe ich noch zwei anderen Menschen dieselbe Ansicht geschickt, aber es war für mich nicht der gleiche Akt.

Die Worte, die Wagner vor sein Haus geschrieben hat, werden Deine Gedanken zu Dir selber zurückgeführt haben.

Glaub' nicht, daß ich Dein Leiden nicht voll verstehe. Nur weil ich es verstehe, kann ich Dir nichts darüber und dagegen schreiben. Ich weiß, daß für Dich im Augen- blick auch Jenseits der Staatsprüfung nichts liegt als end- loser, freudloser Nebel. Sonst würdest Du ja doch lernen können . .

Dir fehlt etwas zur vollen Größe, das ist richtig; und hättest Du dies, so würde dies allein Dich auch hindern, soviel an Deine Zukunft zu denken. Denn das ist das Unglück mit Dir. Es gibt Menschen, denen es nach den inneren und äußeren Bedingungen ebenso schlecht gehen müßte wie Dir, und die doch nicht so unglücklich sind. Was Dir fehlt, i s t eben das Religiöse oder Philosophische oder Metaphysische. Du hast in Dir

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eine furchtbare, glühende Sehnsucht, eine Sehnsucht, deren Gegenstand Du nicht kennst und nach dem Du doch verlangst, verlangst* Nach Deiner Heimat sehnst Du Dich und ahnst nicht, daß Du sie nur in Dir trägst.

Ich habe noch etwas an Dir zu verrichten* Ganz fehlt Dir das andere nicht, das weiß ich von jener Nacht her, über die wir nicht wieder gesprochen haben. Ich wäre glücklich, wenn ich nach meiner Rückkehr dazu beitragen könnte, diesem andern, dem einzigen Quell einer möglichen Gemüts- befriedigung für den Menschen, zum Fließen zu verhelfen«

Über Bayreuth und den Parsifal schreib' ich Dir nichts*

Denn das wirst Du erst dann verstehen* Morgen fahr'

ich nach Dresden* _. , ~ _

Dem O. W.

Viel zu sehen, wenig Zeit, auch wenig Lust zum Er- zählen, daher keine dicken Briefe.

Dresden, J2. August t902* Lieber Freund I

Also das Schicksal der Wurst, der ich in Bayreuth wiederholt mit lebhaftem Interesse nachgefragt habe,

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hat sich erfüllt. Sie ist reuig zu ihrem Ursprung zurück- gekehrt; War sie noch eßbar? Hoffentlich hast Du's einmal um zehn Uhr vormittags probiert 1

Um von der Wurst allmählich hinanzusteigen: Der Mann ist ein gewisser Dr. Mario C, den ich, damals noch als Philosophie-Studierenden, auf dem psychologi- schen Kongreß in Paris flüchtig kennen gelernt habe. Er ist natürlich klein, ganz schwarz, mit verhältnismäßig scharfem Gesicht, klugen Augen, die zu beobachten scheinen. Er machte mir den Eindruck eines sehr ernsten und nicht sehr glücklichen Menschen. Unter- halten habe ich mich weniger mit ihm als in seiner Gegenwart mit seinem Freunde, einem philosophierenden Mathematikprofessor aus Unteritalien, der mich in der internationalen Gemälde-Ausstellung gerade ansprach, als ich dort mich an Klimts „Philosophie" in großer Schnelle sattgesehen hatte und auf die Estrade hinaustrat.

Jetzt weißt Du alles, was ich weiß .

Bitte, schreib' mir, was es in der sächsischen Schweiz besonderes zu sehen gibt. Aber ein bißchen anspruchsvoller bin ich, als Du geglaubt hast, das bitte ich Dich, zu bedenken: In der Münchner Sezession sind drei Bilder,

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über die man sich nicht ärgert, und an Nymphenburg, das Du mir ebenfalls empfahlst, ist gar nichts» Ich weiß ja, wie schön abendlich einem Menschen, der, wie Du, viel in seiner Vergangenheit lebt, jedwede Erinnerung sich vergoldet, selbst die ärgerlichste; mir geht es ebenso; aber man soll sich hüten, den ewig unerfüllbaren Wunsch des Wiedererlebens durch andere befriedigen zu lassen : sonst kommen dann diese zurück und wollen einem alles verleiden, nicht wahr?

Ich gedenke, Dresden am Mittwoch in der Früh zu verlassen. Um zehn Uhr bin ich in Berlin (hauptpost- lagernd) und fahre am nächsten Morgen gleich weiter nach Stralsund (postlagernd) und der Insel Rügen (Saßnitz, postlagernd). Dort werde ich wahrscheinlich längere Zeit zubringen. Ich freue mich sehr darauf.

Auf dem Rückwege will ich in Berlin länger bleiben und die sächsische Schweiz besuchen, falls Du mir ernstlich dazu rätst.

Übrigens an die Natur braucht man keine Ansprüche zu stellen, sie erfüllt eben alle. Ich frage Dich nur, ob ich dort Eindrücke empfangen werde, die P. nicht gewährt. Der sächsische Enthusiasmus macht mir eine Sache immer klein.

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Ich entnehme dem Rhythmus Deines letzten Briefes mit Vergnügen, daß es Dir besser zu gehen anfängt. Du spuckst ja bereits auf die Staatsprüfung, auf Zürich!?

Mir geht es heute etwas besser ich habe jetzt die Über- zeugung, daß ich doch zum Musiker geboren bin. Noch am ehesten wenigstens. Ich habe heute eine spezifisch musika- lische Phantasie an mir entdeckt, die ich mir nie zugetraut hätte und die mich mit einem starken Respekt erfüllt hat.

Eins : Schreib' und sag' Du niemandem etwas von dem, was Dir im Kopfe jetzt herumgeht und Dich mahnt. Auch Seh. nicht und mir schon gar nicht.

Sind die B.s in P.? (Entschuldige! Eine lange Assozia- tionskette!) Und was hört man über die Frau K. und den Grafen Taugenichts? Und . . . Schreib' mir doch auch etwas über das heurige P. und Dein Verhältnis zu ihm, was Du tust, wenn Du nicht lernst. Ich habe jetzt die leibhaftige Sixtinische Madonna gesehen. Sie ist schön. Aber nicht bedeutend; nicht großartig; nicht irgendwie erschütternd. Und die Leute davor! Ich habe mich herz- lich amüsiert. Es gibt weit hervorragendere Bilder hier.

Einen hab' ich entdeckt, einen tiefen Kenner des Weibes: Palma Vecchio. Ich weiß nicht, ob Du

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dessen Bilder gesehen hast. Es interessiert mich aber, was Du über die Madonna Raphaels denkst.

jjc Servus J

(Stenographiert) 15. August 1902. Im Eisenbahnwagen nach Saßnitz.

Herzlichen Dank für Deinen Brief, der mir von Dresden nachgeschickt wurde.

Nachdem Du selbst die Rede auf das Thema gebracht hast, das ich, Deiner Stimmung Rechnung tragend, zu berühren vermied, so will ich nur bemerken, daß ich Dir hauptsächlich in einem Punkte widersprochen habe, in dem ich Recht behalten zu haben scheine . . .

Daß sie lüstern, lügnerisch, gefallsüchtig ist, daß sie sofort in Aktion tritt, sobald jemand sie weniger zu beachten scheint, daß sie den, der ihr naiv den Hof macht und sie offensichtlich bewundert, stehen läßt, ja daß sie die Prostituierte ganz in sich hat, ist mir nicht so neu, wie Du zu glauben scheinst, und hat mich auch weniger aufgeregt als meine, kurz vor meiner Abreise gemachte Wahrnehmung, daß sie unter all diesen Eigenschaften nicht leidet und sie nicht kontrolliert, sich nicht selbst niederhält»

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Von mir hast Du eine viel zu gute Meinung, das sehe ich immer wieder. Freilich ist auch dieses Bekenntnis, das ich Dir mache, von meiner verfluchten Eitelkeit wieder begleitet

Das Gefühl, nicht wieder lieben zu können, kenne ich leider auch sehr genau. Dir glaube ich es nicht ganz. Hoffentlich bist Du einverstanden mit dieser ersten Stenographie.

Das Meer

Ansichskarte Bad Alt fähr (Rügen). 16. August 1902.

Crampas, 17. August J902. Samstag, Abend»

Lieber Freund! Es freut mich sehr, daß ich Deinem Wunsche zuvor- gekommen bin. Bereits heute mittags habe ich von einem Orte der Insel, an den ich, statt in Stralsund die Ab fahrt meines Zuges abzuwarten, mich hatte übersetzen lassen, Dir eine Ansicht geschickt die beste, die zu haben war* Hoffentlich hast Du sie zur Zeit bereits.

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Ich werde Dir alles schicken, was irgend etwas sagt.

Die Post ist eine Einrichtung, der ich jetzt dankbar bin. Sie bringt mir Deine Briefe; und auch mir ist ein Telephon zu Dir ein starkes Bedürfnis.

Wie lange ich noch ausbleiben werde? Ich habe noch 55 Mark und 5 Gulden. Die Heimfahrt kostet mich höchstens 15 Gulden. Bleiben 23 Gulden* Ich rechne für den Tag hier 4 5 Mark (Zimmer zu \ Mark); ich bin also in 8 Tagen wieder in Wien, d. h. in P., wo ich, aller Mittel bar, bis tief in den September ausharren werde müssen. In dem Haus mit den 33 häßlichen unverheirateten Jüdinnen!

Deine Teilnahme an meinen kleinsten Sorgen hat mich sehr herzlich erwärmt. Denn das Wetter bleibt schlecht, drinnen und draußen. Seitdem ich fort bin, übermorgen sind's vier Wochen, keinen guten Tag.

Hast Du wirklich geglaubt, es interessiere mich, mit wem Frau K . heuer Tennis spielt? Bin ich so ein Weib? Ich wollte Dich nur zum Reden bringen, weil ich bei Deinen Briefen die Zeilen honoriere.

Frage: Hat Napoleon sich selbst gekannt und wie weit?

Hier in Saßnitz ist der Fall da, von dem Du sprichst.

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Aber nicht Touristen sind es, die hier verekeln; der gewöhnliche Tourist mit der wichtigen Miene und dem dicken Fahrscheinheft ist wenigstens lächerlich ; hier sind's Badegäste« Kennst Du das? Ich glaubte mich heute, als ich die schreckliche Kurkapelle am Strande des Meeres spielen hörte, das sie nicht sofort verschlang, an die Ischler Esplanade versetzt» Nur weniger Juden, aber dafür Berliner, Frankfurter, Sachsen. Die Männer Skatspieler, die Frauen entweder mütterliche Hyänen oder töchterliche Soi-disant-Kätzlein ; die eine Hälfte die häßliche. Die andere mit dem rückwärts quer straff ge- zogenen Rocke . . Schämst Du Dich nicht auch, wenn Dich dieser Teil des Weibes anzieht? In ihm hat die Natur die Schamlosigkeit verleiblichen wollen»

Ich wohne, Gott sei Dank, nicht mitten im eleganten Viertel, sondern im Orte Crampas im Hause eines „Schaffners". Bitte, schreib' aber wie bisher»

Mein Vater hat mir nach Bayreuth 100 Mark geschickt, die ich ihm zurückgesandt habe. Mir ist es unangenehm genug, nach meiner Rückkehr seine Unterstützung zeitweise beanspruchen zu müssen. Um Gotteswillen schick' Du mir nur nichts.

Weininger: TaschenbucL * 81

Hast Du meine Stenographie lesen können? Und wie bist Du's zufrieden gewesen? Ich kann sie nämlich selbst nicht leiden. Sie ist eine das Wort entwürdigende Erfindung, ihrem ganzen Wesen nach kaufmännisch, „modern" bis zum Exzeß. „Keine Zeit."

Meine Reise kommt mir so sinnwidrig vor. Nur geographisch ist's richtig. Aber nach dem Parsifal sollte man pilgern, lange, bis ans Ende der Erde, und dann irgendwie verschallen.

Woher Du das nun auf einmal hast, daß auch meine Zukunft trüb ist? Ich glaube übrigens, daß es so sein wird.

Ich werde den J . . . nicht mehr mahnen. Man kann übrigens einen Menschen umbringen, indem man ihn in geeigneter Weise empfiehlt, und für irgendeinen Winkelverlag bin ich mir zu gut. Allenfalls werde ich ihm das offen sagen.

Diese Reise hat mir die Erkenntnis gebracht, daß ich auch kein Philosoph bin. Wirklich nicht! Aber bin ich sonst etwas? Ich zweifle sehr daran ;

Dir möge es weiter gut gehen I

Dein

Otto W.

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Ansichtskarte aus SaßniU. (Poststempel *8. August J902.)

Ich bin eben nach einer Fahrt allein im Boote* Habe mich in den Mondschein hinausgerudert.

Der Himmel ist ein wolkenloses Auge.

Allen Kellnern der Welt in einer Nacht die Hälse umdrehen: Das möchte ich.

Fahre Montag Nachmittag nach Kopenhagen (post- lagernd). *

Ansichtskarte von der Ostsee«, 18. August J902.

Halb J Uhr nachts, zwischen Sonntag und Montag.

Ich sitze in einem Hotel am Strande und sehe vor mir das

an einer Stelle unter dem vollen Monde erglänzende Meer.

Kopenhagen, J°. August 1902, 0 , 7**2 Uhr nachts.

Servus!

Mein Vater hat mir nun jene hundert Mark nochmals zurückgeschickt. Also geh' ich doch nach Christiania» Bitte dahin postlagernd. Otto W.

Jetzt wird auf zweitägiger Seefahrt endlich ausgeprobt, ob ich seefest bin oder nicht.

*

♦6 83

Frederikshavn (NordspiUe Jütlancfs). 2*. August, Donnerstag, 10 Uhr vorm»

Lieber Freund!

Entschuldige die Karte, einstweilen spare ich nämlich, um für mich in Norwegen möglichst viel zu gewinnen, und von hier ist das Porto schon teuer* Ich habe also jetzt 14 Stunden Seefahrt hinter mir, darunter fast die ganze Nacht auf Deck zugebracht, bei ziemlichem Sturme und bis 4 Meter hohen Wellen; und bin seefest! Wie ich's von mir nicht anders erwartet hatte. Ich glaube, durch nichts kann die Würde des Menschen so leiden wie durch die Seekrankheit. Bezeichnend genug ist's, daß die Frauen alle seekrank werden*

Aus Deinen Briefen habe ich gar vieles noch nicht beantwortet. Nicht weil Du's ebenso mit meinen machst, sondern weil das ganz natürlich ist. Wir scheinen beide Diskussionen bis zu meiner Rückkehr aufschieben zu wollen (erste Septemberwoche, um die Mitte). Man macht sich eine Mitteilung von weniger wichtigen Dingen, um dem andern das Bild des Augenblicks fixieren zu helfen.

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Chfistianxa, Freitag:, 22. August J902. Heute früh 5 Uhr 48 Minuten hier angekommen. Ich freue mich sehr: Montag werde ich hier im National- theater den „Peer Gynt" sehen. Heute höre ich hier zum zweiten Male auf meiner Reise den „Don Juan". Das erste

Mal in München. O. W,

*

Christiania, 23. August J902.

Besten Dank für Deinen Brief.

Wenn Dein übermäßiges Bedürfnis, Dich zu freuen, das Du auf meine Ankunft projizierst, uns nur nicht beiden dann eine Enttäuschung bereitet ! Deinen Wunsch werde ich erfüllen : Du wirst, wie der letzte, so der erste sein. Ich werde Dich genau von Allem avisieren.

Auch zu Hause werde ich in diesem Falle freudiger empfangen, wie ich aus langer Erfahrung weiß, und das Essen ist dann paradoxer Weise sogar besser.

Ich dürfte über Bergen (Westküste Norwegens, wo die Fjorde und Gletscher) zur See nach Hamburg über Magdeburg, Prag nach Wien fahren. Bitte, schreibe jedoch jedenfalls noch nach Christiania . .

*

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Dienstag, Mittag, 26*. August J902.

In einem Tannenwalde nördlich von Christiania.

Morgen über acht Tage dürfte ich in Hamburg sein und den Sonntag darauf in P. (wahrscheinlich um halb zwei Uhr nachmittags von St» Polten kommend* Wenn Du willst, begleite mich dann von P. nach W.). Gestern habe ich den „Peer Gynt" gesehen und das Lied der Solveig gehört War die Wiener Aufführung sehr schlecht und das Publikum widerlich, so ist die hiesige trottelhaft, die Zuschauer idiotisch» Furchtbar muß Ibsen unter seiner Umgebung gelitten haben. Jetzt habe ich einen großenTeil norwegisch gelesen und staune, wie richtig Du den Text des Liedes erraten hast. Alle sieben Tage der Woche schreib' ich Dir keine Briefe. Wollt' ich das tun, so hätt' ich bald die Lust verloren. Du verstehst mich?

# Otto W.

Hamburg, Donnerstag morgens. (Poststempel 4. September J902.)

Lieber Freund!

Nun bin ich ernstlich auf der Heimreise, die solche Menschen wie Du oder ich wohl nie mit jener satten.

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eingewickelten Befriedigung antreten wie die Philister, die eben wirklich im Hause Nr. X zu Hause sind.

Dein Otto W.

Leipzig, 5. September J902, 6 Uhr nachmittags«

Lieber Freund!

Du siehst schon nahe den böhmischen Wäldern. Ich komme eben aus dem Institut für „experimentelle" Psychologie, der hohen Schule des modernen Psychologen. Mittwoch bin ich höchstwahrscheinlich in P.

o. w.

(Poststempel: J3. September J902.) Lieber Freund I Ich hätte gestern dem Dr. S. eine Lüge oder eine Beleidigung versetzen müssen, wenn ich mit Dir ge- blieben wäre.

Ich küsse Dich Otto W.

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23. September J902. Lieber Freund!

Lies den „Peer Gynt" in einem Zuge, das erste Mal wenigstens: der Wirkung wegen, an die Du lange zurück- denken wirst, wie ich glaube.

Hier wirst Du auch den Schmerz finden und die Ver- zweiflung. Und fast alle Mächte in und außerhalb des Menschen vereinigt auf einem Schauplatz.

Und wenn Du ihn gelesen hast, dann sollst Du die Staatsprüfung machen.

Ich grüße Dich herzlichst Otto W.

(Poststempel 27. September 1902.) Lieber Freund!

R. hat mir gestern alles mitgeteilt.

Ich glaube, daß es nicht soweit kommen, sondern bei der Drohung bleiben wird.*

Wenn doch, so erwarte ich von Dir, daß Du, zunächst wenigstens, bei mir wohnen und auch sons*

* Meine Familie wollte mir, dem 20 jährigen, damals entweder den Verkehr mit O. W. oder das Haus untersagen. D. H.

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mit mir teilen wirst. Ich sage, ich betrachte das als selbstverständlich.

Bitte, schreibe mir gleich! Brauchst Du Geld?

O.

4. OktoBcf J902.

Dank für Deinen Brief. Du wolltest wohl für die beiden Opern auch ein Bayreuth haben.* Immerhin ist es ein Skandal. Auch Mignon und Carmen werden so abge- werkelt.

Den Gedanken einer Abhandlung „Über den Gang eines Menschen" finde ich sehr glücklich, aber Du sollst sie schreiben, sobald Zeit und Lust da ist Mein Gefühl dafür, was der Gang eines Menschen sagt, ist verhältnis- mäßig schwach, viel weniger ausgesprochen als bei Dir, oder als bei mir z. B. die physiognomischen Eindrücke. Auch wird es Dir bei den Philistern nützen, wenn Du so ein ernstes Thema behandelst, „obwohl ..."

Schließlich hätte ich genug mit der Niederschrift dei „Propria" zu tun.

* Mascagnis „Cavalleria rusticana" und Leoncavallos „Bajazzo". D. H

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iL Oktober 1902.

. . . . Den „Gang" habe ich keineswegs verstoßen, billige es sehr, daß Du der Sache großen Wert beilegst , und interessiere mich selbst sehr für Deine Resultate. Ich kann bloß den Bewegungen der Schultern und Hände, allenfalls noch der Haltung etwas entnehmen; den Beinen selbst kaum etwas, eher noch dem akustischen Bilde der Schritte .

Wien, *8. Oktober 1902.

Besten Dank für Deine Karte, deren Optimismus mir aber sehr verfrüht scheint. Ich möchte Dich sehr gerne vor Sonntag noch sprechen, und zwar möglichst bald. Vielleicht besuche ich Dich Dietistag um 5 oder 5Vi Uhr?

Thema: Meine Einteilung der Frauen in Mütter und Prostituierte.

Hast Du Lust dazu und fürchtest Du nicht in Deinen eigenen Gedanken hierüber gestört zu werden, so antworte mir möglichst schnell mit einem Ja. . . *

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(Poststempel W). März 1903).

Deine Auffassung des B. teile ich nicht ganz. Aber gut ist, wie Du die psychische Anspruchslosigkeit gerade der Mindestwertigen charakterisierst

Zur Koitulogie:

Je mehr Verliebtheit und je weniger rein sexuelle Erregung da ist, desto anständiger wird das Kind (kein Verbrecher als Mann, keine Dirne, sondern Mutter als Frau)*

Das Geschlecht, glaube ich, entscheidet sich nicht nach dem Grade der „Erregung": Auf das größere Begehren, respektive die Liebe kommt es an, und es entscheidet die Ähnlichkeit, nicht das Geschlecht.

Bezüglich Mutter-Dirne bin ich also wieder zweifelhaft . . .

*

"Wien, 30. März J903 (In der Tramway.)

Der Braumüller druckt mein Buch! Es wird wohl spätestens Ende Mai fertig sein. Willst Du Freitag mit mir zur Düse als Hedda Gabler gehen? Wenn ja, so will ich zwei Sitze besorgen. Auch ich habe einen Monat Tag und Nacht zu tun.

* Weininger.

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23. April 1903.

Also endlich hinter Dir! Das freut mich sehr, noch mehr, was jetzt kommen wird . .

Übrigens habe ich noch fürchterlich zu tun, schwimme in einem Meer von ersten, zweiten, dritten Korrekturen und schreibe gar nicht mehr mit Blut, nur mehr mit roter Tinte (eine Antithese Nietzsches),

Dein O.W*

Rom, 23. Juli J903. (Ansichtskarte.)

Roma, Panorama dalla Cupola dt S. Pietro* (Le statue dei santi sul tetto.)

Ho dovuto passare a Roma, dove sto da ieri mezzo- giorno. Non ho mai creduto, che una cittä potrebbe produrre tal effetto su di me.

Castello S. Angelo (Mausoleum Hadrians)!

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Syrakus, JO. August 1903.

Ich wünsche durchaus zu hören, inwiefern es Dir jetzt besonders schlecht geht Deine Furcht, bei mir ein beson- deres Gefühl des Glückes oder der Gehobenheit dadurch zu stören, ist unbegründet . .

Ich bitte Dich, schreibe mir recht bald! über „Geschlecht und Charakter"; und sag' mir vor allem Deine wahre Meinung über den Wert des Ganzen; ich wäre Dir um so dankbarer, je früher es käme. Mir liegt sehr vieldaran... Und schick' mir, bitte, endlich die Kopie des sizilianischen Turiddu-Liedes. Eine Enttäuschung wird es Dir sein, daß Turiddu Abkürzung von Salvatore, (Salva) torello, ist. Das paßt nicht.

*

Reggio (Kalabrien), 22. August 1903.

Die Beilagen, außer der gewöhnlichen, aber guten Ansichtskarte (Du mußt Dir nur die Häuser ganz gelb wie Schönbrunn, das Meer vollkommen blau und absolut wolkenlosen Himmel vorstellen), sind:

Zwei Blüten einer Papyrusstaude, ein Stückchen Bast aus dem Stamme derselben, was Du dem Umstände zu-

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zuschreiben hast, daß die Schiffer des Ruderbootes, auf welchem ich den papyrus- und bambusbestandenen Fluß Anapo bis zur Quelle, der berühmten Cyane, fuhr (was ich Dir [und zwar ebenfalls im Boote] unbedingt anrate, wenn Du nach Syrakus kommst), gegen meinen ausdrücklichen Willen und ohne mein Wissen eine Pflanze abschnitten*

Die andere Ansichtskarte ist eben aus dem hier wach- senden Papyrus selbst hergestellt und bietet eine sehr schlechte Ansicht der Ruinen des alten griechischen Theaters, jener Stätte, wo der Sonnenuntergang unter allen Punkten, die ich kenne, am ehesten zu ertragen ist.

Lies endlich den „Peer Gynt", tue mir, wenn schon Dir selbst nicht, diesen Gefallen. Du könntest nämlich einiges aus ihm entwickeln lernen, was in Dir nur sehr schwach ist

Lies auch Kaiser und Galiläer! Auch hierin sind groß- artige Stellen (aber mit dem andern nicht zu vergleichen!).

Wenn Ibsen weiter so Großes wollen hätte wie im „Peer Gynt", er wäre größer als Goethe geworden; ich habe selten ein Werk kennen gelernt, wo ich im Laufe der Zeit so wenig von dem ihm gespendeten Lobe zurück- genommen hätte.

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Es verrät übrigens Schwäche, nichts lesen zu wollen, um nicht beeinflußt zu werden. Man soll stärker werden durch Lektüre, nicht das Umgekehrte.

Ich werde jetzt längere Zeit nichts schreiben. Adresse: Reggio, Calabrie, ferma in posta. Dagegen könntest Du mir endlich eine ausführliche Kritik von „Geschlecht und Charakter" schicken. In der letzten Zeit sind einige derart niedrige veröffentlicht worden, die mir der Brau- müller zuschickte, daß ich darnach etwas Bedürfnis habe.

Schreibe mir, wie's Dir geht.

Otto W,

*

27. August J903. Ansichtskarte aus Sorrento.

Ich möchte Dich nochmals auf das aufmerksam machen, was ich Dir über Beethoven und Shakespeare schrieb. Du beschäftigst Dich nämlich aus demselben Grunde mit dem Willensproblem, aus dem Shakespeare den „Hamlet" schrieb. Der Wille ist das, was der Zeit eine Richtung gibt, das heißt: Vergangenheit und Zukunft voneinander scheidet. Daher hat Shakespeare erst im „Hamlet" Sinn für den Sinn des Lebens und der Zeit gewonnen . . .

*

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28. August J903.

Ce qualchc cosa in disordine teco! (Mi dispiacc molto, ch'io non so la causa, fi la stessa, che ti proibiscc di csserc produttivo. Credo, che tu hai qualche cosa di un azzar- dista: tu vuoi troppo come dono regalato dal destino. Tu hai messo troppo e sperato troppo dall'amore di donne) ; ci vuole la solitudine piü che la fuga in societä d'altrui; e bisogna, che tu pensi piü su di te, con corraggio sempre e dovunque. Questo in italiano, perche altra gente potrebbe leggere la cartolina. Im übrigen danke ich Dir für Deinen Brief und die Kopie des Liedes. Ich habe schon Montag Kalabrien verlassen und bin heute in Neapel angekommen. (Paestum Salerno Amalfi Sorrento.)

Credi: se un uomo come tu o io non £ produttivo, non si deve aspettare il momento, che venga di nuovo, ma cercare la ragione; c'e sempre una colpa»

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Briefe

AUGUST STRINDBERGS

an den Herausgeber

Nach Weiningcrs Tod hatte ich mich an August Strindberg gewendet. Da aus den dem Gedenken an den Verstorbenen geweihten Briefen Strindbergs die tiefe Beziehung sichtbar wird, in der diese beiden großen Geister zueinander standen, veröffentliche ich sie in diesem Buche«

D.H.

Herr Doktor!

Ich habe den gestorbenen Freund verstanden, und ich danke Ihnen!

Vor einigen Jahren, da ich dastand wie Weininger und die Absicht gehegt, weiterzugehen, schrieb ich in meinem Tagebuch: „Warum ich gehe? Cato hat sich selbst den Tod gegeben, da er fand, daß er sich nicht aufrecht halten könne über dem Sumpf der Sünde. Des- wegen hat ihn Dante auch als Selbstmörder freigesprochen (Inferno). Jetzt sinke ich (August Strindberg) und ich will nicht sinken, deshalb . . . Knall!

Ich war auf dem Wege aufwärts, aber ein Weib hat mich niedergezogen . . .

Doch ich lebte weiter, weil ich zu finden glaubte, daß unsere Verbindung mit dem Erdgeist Weib ein Opfer war, eine Pflicht, eine Prüfung. Wir dürfen nicht als Götter hienieden leben; wir müssen im Kot wandeln und doch uns rein halten, etc. "

Denken Sie sich den Fall Maeterlinck!

Eben das selbe! Er war so hoch über der Materie (Le Tresor des humbles), und da kam der Erdgeist

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Er ist so tief gefallen, daß er seinen nackten Erdgeist herumführt, um ihn auszustellen und sich! Ist das tragisch!

Dr, Luther, da er sich verheiratete, schrieb an einen Freund: „Ich heiraten? Unglaublich! Ich schäme mich! Aber es scheint, als ob unser Herrgott mich als Narr halten wolle !"

Senden Sie mir die Biographie und alles! Schering schrieb mir beim Todesfalle: „Weininger hat seinen Glauben mit dem Tode besiegelt." Jawohl.

Ich war nahe, das selbe zu tun um 1880; allein mit meiner „Entdeckung". Sie ist keine Ansicht, sie ist eine Entdeckung und Weininger war ein ^Entdecker".

Das neue Säkulum scheint mit neuen Wahrheiten zu kommen; die zoologische Weltanschauung endete mit Veterinär-Psy ch ologie.

Wir Strebenden suchen wieder die unsterbliche Seele und sind deswegen religiös genannt. Ich bin's; aber eine Konfession kann ich nicht mitmachen. Nenne mich „Christlicher Freidenker", bis ich Besseres finde!

Ihr unbekannter Freund in der Ferne

August Strindberg. Stockholm, den 22. Oktober 1903, Katlavögen 40»

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Herr Doktor!

Der seltsame, rätselhafte Mensch, der Weininger!

Mit Schuld geboren, wie ich! Ich bin nämlich in die Welt gekommen mit bösem Gewissen; mit Furcht vor allem, mit Angst vor Menschen und Leben, Ich glaube jetzt, daß ich Böses getan, bevor ich geboren war. Was heißt das? Die Theosophen allein haben Mut, die Antwort zu liefern.

Ich bin auch wie Weininger religiös geworden aus Furcht, ein Unmensch zu werden. Ich vergöttere auch Beethoven, habe sogar einen Beethoven-Klub gestiftet, wo man nur Beethoven spielt. Aber ich habe bemerkt, daß sogenannte gute Menschen Beethoven nicht ver- tragen. Er ist ein Unseliger, Unruhiger, der nicht himmlisch genannt werden kann; überirdisch gewiß.

Weiningers Schicksal? Ja, hat er die Geheimnisse der Götter verraten? Das Feuer gestohlen?

Die Luft ward ihm zu dick hienieden, deshalb ist er erstickt ?

Dies zynische Leben war ihm zu zynisch J

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Daß er weggegangen ist, bedeutet für mich, daß er allerhöchste Erlaubnis dazu hatte. Sonst geschieht so was nicht

Es war so geschrieben.

Ihr

August Strindberg*

Stockholm, 8. Dezember J903.

P. S. Drucken Sie meine Briefe nicht vor meinem Tode.

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DRUCK DER

GESELLSCHAFT FÜR GRAPHISCHE INDUSTRIE

WIEN VI.

BINDrNG SECT. JUN271977

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B

3363

V53T3

Weininger, Otto

Taschenbuch und Briefe an einen Freud

1 * * §

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